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Yen. HAT e. 233
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Theologifthe
Quartalfchrift.
Qm Verbindung mit mehreren Gelehrten
beraudgegeben
von
D. v. Kuhn, D. ». Himpel, D. v. Kober, D. v. Linfen-
. mann, D. funh unb D. Schanz,
Vrofeſſoren ber kathol. Tpeologie an ber f. Univerfität Tübingen.
SREICH
€
"(BODL:LIBR)*
^
Funfundſechzigſter Jahrgang.
Erſtes Quartalheft.
Gübingen, 1883.
Berlag der 9. Lauppſchen Vuchhandlung
Prud von 9. Laupp in Tübingen.
L
Abhandlungen.
1.
Schriftſtellerthum unb literariſche feriti! im Lichte ber
fittlichen Verantworilichkeit.
Ein vergeſſenes Kapitel aus der Ethik.
Von Prof. Dr. Linſenmann.
L Das Problem.
In Alpenländern hört man zuweilen die Rebe, über
dem Setterfreuge gebe e8 feine Sünde. Damit wollen
bie Leute fagen, daß in den unzugänglihen und un-
mwirthlichen Höhen ber Gebirge Mein und Dein, Gefeg
und Herrihaft aufhöre, und daß dorthin ber Arm ber
Gerechtigkeit nicht reihe, mie von dort Feine Klage zu
den menſchlichen Wohnplägen herabdringt.
Faft ſcheint e3, als ob in unferer Zeit diejenigen,
tede als Schriftfteller auf den Höhen ber geiftigen
Belt, ald Ariftofraten des Geifte8 unb Wortführer der
Menſchheit, ftehen wollen, ebenfalls mwähnen, daß es
auf jenen Höhen feine Sünde gebe, daß e8 für das
Schriftſtellerthum feinen Richter und feine Verantwort-
1:
4 Linfenmann,
lidfeit gebe, außer etwa ſoweit die Macht eines Preß⸗
gefege8 reicht, und daß der Erfolg allein über das Recht
entſcheide. Wo e8 fij um mirtbfchaftlihe Güter des
Menſchen handelt, da fordert man firenge Rechenſchaft
unb wägt Mein und Dein mit peinliher Genauigkeit
ab; mit ben Gütern aber, bie fid) nicht meflen und
wägen laffen, wollen fie falten und walten, ohne einen
Herrn und ein Gefeg darüber anzuerkennen.
Ein vergeffenes Kapitel aus der Ethik haben
wir e8 genannt. Das ift nicht gerade ſeltſam. Man
kann e$ ja faum bem Schriftfteler zumutben, daß er
— wenn aud) mur rein akademiſch — fein eigen Hecht
erft in Frage ftelle, da er e8 bod) im nemlichen Augen-
blide ausübt, ober bap man ihm ein Bekenntniß ab-
zwinge, das feiner fid) felbft ablegt, viel weniger feinem
Lefer oder fritifer. Der Schriffteller aber, ber fid)
herausnimmt, bem andern den Spiegel vorzuhalten, muß
erwarten, daß man nun ben Spiegel aud) gegen ihn
wende; und je ernfter und idealer er feine Forderungen
ftellt, defto mehr mag e8 ihm um feine eigene Gemwif-
fenserforfhung bange werden. Wie [oll derjenige An-
bern ein Arzt fein, welcher jelber franf ift! Endlich
aber hat es feine Schwierigkeit, mit Schrifftellern eine
Lanze zu bredjen; denn biefelben gehören zu einem Erie-
geriſchen Geſchlecht und laſſen fid nicht ungerächt ha—
rangieren.
Nun ijt es aber auch nicht bie Abſicht der folgen—
den Unterſuchung, irgendwelche angemaßte Auctorität
geltend zu machen oder Splitter aus fremden Augen
zu ziehen. Unſer Verſuch, eine ethiſche Frage zu löſen,
iſt veranlaßt durch Reflexionen, wie ſie ſich heutzutage
Schriftſtellerthum und literarijdje Kritik. 5
Jedem aufdrängen, toelder fid) mit den Sitten, Ma-
nieren und Strömungen be8 modernen Schriftftellertyums
mehr al8 nur oberflächlich befannt gemacht, und welcher
aus eigener Arbeit und eigener Erfahrung etwas von
den geheimen Lebensmächten und Triebfräften ber lite-
rariſchen Welt fennen gelernt bat.
€3 wird fid) nicht leugnen laffem, daß bie moderne
Kiteratur der betrübenden Erſcheinungen mehr als ber
erfreulihen aufweist, wenn man fie vom Standpunft
einer ernften und fittlihen Lebensanihauung aus be-
trachtet; und dieß um fo mehr, je höher und idealer
man bie Bedeutung ber literarifchen Thätigfeit auffaßt
und in ihrem wahren Werthe anerkennt.
Wie immer wir die Gabe, bie menjdliden Ge—
danfen in bleibenden Denkmalen ber Schrift feftzuhalten
und fie ber Mitwelt mitzutheilen und der Nachwelt auf:
zubehalten, be8 näheren betrachten mögen, fei e8 nad
ihrem Urfprung ober mad) ihrer Wirkung, fo muß fie
ung groß und bemundernswertb, ja Manchem benei-
denswerth er[djeinem. Das Wort am fid), Ausfluß des
menschlichen Genius, ift [o edel, daß Gott felbit das
Wort wählte, um fid) den Menfchen zu offenbaren, und
daß Gottes Sohn ſelbſt Logos, das Wort, genannt
werden wollte. So ift das Wort mit dem Höchſten
verwandt, ma8 bie Menfchheit kennt. Und das Mittel
des Schriftwortes hat Gottes Sohn felbft gemählt, um
fi in ihm zu verkörpern im Evangelium und einen
Brunnen von Wahrheit und Gnade in ihm zu eröffnen.
So edel ift dag Schriftwort. Seine Macht aber und
Wirkung ift feinem Urfprung entfpredenb, unendlich.
Nah der Macht des lebenbigen Wortes von Mund zu
6 Sinfenmann,
Munde gibt e3 nichts Höheres als bie Macht ber Schrift,
der Literatur; fie bedeutet ein Sprechen in die Ferne
und ein Sprechen mit taufend Zungen; fie ift eine Herr-
ſcherin unter den Menichen, eine Leuchte für den Ocift,
ein Troft für das Herz, eine Wederin und eine Be-
fänftigerin aller Seibenfdaften. Sie ift, wie man e8
von der Schönheit gejagt bat, eine geborne Königin,
denn fie ijt jelbft ein Ausfluß der Schönheit und funft.
Sie bringt wie baa Licht in jebe8 Land und jedes Haus,
und verbreitet Kenntniffe, weckt geiftiges Leben und be=
gründet den Anfang ber Gefittung. Unter allen fünften,
die ba8 Herz des Menfchen bewegen und bem Leben
einen Reiz geben, iff bie Kunft ber Stebe bie ebelfte,
erhabenfte, einſchmeichelndſte und lieblid)fte; das Men-
ſchenwort geht über alle Reize der Farben und der Töne,
wirkt mächtiger und allgemeiner al8 Mufit und bildende
Kunft. Und mo man beginnt, das flüchtige Wort in
der Literatur feftzuhalten, da wird bieje ein Markftein
ber höheren Eultur, ein Ausbrud des geiftigen Lebens
eines Volkes, ein Spiegel der Volksfeele und ber Volls-
füte. Sie ift ein Ausfluß aus den tiefen geheimen Grün—⸗
den des Vollsthums; die Anfänge ber Literatur bet
Völker erſcheinen nicht gemacht, joubern wie höhere Dffen-
barungen dem Volke mitgeteilt; fie entfpringen in bem
Augenblide, wo die Religion eines Volkes Sprache ges
winnt; bie Literatur ift Daher religibſen Ur—
fprungs, fie beginnt mit bem Preis der Gott-
beit unb ber Schilderung bergóttliden Werke.
Und dann widmet fie fid) den hohen Aufgaben der Men-
ſchen, dem Preis der Helden, ben großen Ahnen und
den Wohlthätern der Völker und Staaten, um bie Jeht-
Schriftſtellerthum und literariſche Kritik. 7
lebenden durch Vorftellung ber Thaten ihrer Vorfahren
iu begeiftern für eigene große Thaten nah bem Sor.
bilde ber Heroen. — Im weiteren Schritte dient fie
der Philofophie, der Darftellung der Weisheit ber Wei-
defen und Beften im Lande, um ba8 Verſinken bet
menj$liden Gefelfchaft in den Dienft der materiellen
Intereſſen zu verhindern und den Sinn für das Geiftige
und Göttliche tad) zu halten. — (τῇ im weiteren und
legten Schritte dient fie dem leichteren Lebensgenuſſe
ber ebleren Art als Mufe, welche in des Lebens Grnft
und Mühen die Blumen ber Freude einftreut, bie Sorgen
vergefjen ober ertragen läßt, und bod) immer im Dei
teren Spiel der Kunft den Geift beihäftigt und erhebt.
Demnach ift das Ziel der Literatur eines Volles
das denkbar büdjfte, fie hat eine Miſſion im Dienfte
der Wahrheit und Schönheit, fie nimmt Theil an ben
höchſten Aufgaben, welche einer menſchlichen Thätigkeit
mur immer zukommen können, und τοῖς möchten mehr
als blos eine obſolete Redensart ausſprechen, wenn
wir ſagen, die Beſchäftigung mit der Literatur ſei ein
Dienſt im Heiligthum der Menſchheit, und, die ſich ihr
widmen, haben eine prieſterliche Aufgabe, und dazu ge:
höre ein priefterlicher Beruf und eine priefterliche Ges
finuung, eine lautere Hingabe an ba8 Hohe und Heilige,
ein Bewußtfein einer höheren Sendung.
Nun tritt aber zwiſchen einer idealen Anſchauung
von der Prefie, mie fie in unfern kurzen Andeutungen
gefordert wird, und ber realen Wirklichkeit unferer lite-
rariſchen Zuftände ein fo enormes Mißverhältniß zu
Tage, baf eines von beiden unumgänglich ift, eutweder
jene Anforderungen auf ein gemeines und beſcheidenes
8 Linſenmann,
Menſchenmaß herabzuſtimmen, oder die ſittlichen Defekte
unſerer Literatur einzugeſtehen, nach den Urſachen ber-
ſelben zu fragen, an bie eiternde Wunde zu rühren, aud)
auf die Gefahr Din, wehe zu tfum ober mifbeutet zu
werden, und Klage vor geredjterm Richtern, als das
geröhnlihe Publitum ift, vor Richtern, denen e8 um
Ehre und Würde ber Preffe ernftlih zu thun ift, laut
zu erheben.
Bor einem großen Theile ber Erzeugniffe der mo=
dernen Preſſe kann man nur erjóroden ftille ftehen; in
ihm erkennen wir nichts mehr von bem hohen Berufe
eines SDiener8 ber Wahrheit und Schönheit, feine Aehn—
lifeit mehr mit der Offenbarung be8 Göttlihen; es
ift beffer, von ihm bie Augen abzuwenden; bier läßt
fid von fittlidjen Gefichtspunften nicht mehr reden, ihm
gegenüber ift faum eine Hoffnung übrig, ijt felbft das
Geſetz machtlos, wie gegen andere Symptome bes Ver—⸗
derbniſſes im Schoße ber menſchlichen Gefellijaft. Was
man neueftens als Pornographie bezeichnet Dat, ift nod)
oum bie fchlimmfte Seite an diefer literariſchen Gor-
ruption; e8 gibt nicht blos eine Törperliche, fondern aud)
eine geiftige Unzucht, die Buhlerei mit den faljchen
Göttern. Bon ihr reden mit hier nicht weiter.
Einen anderen Theil der Prefie finden mir zwar
in den Händen derer, die ba8 Rechte wollen, mit einem
gewiflen Grade ber Ueberzeugung barnad) fireben und
in ihrer Art der Wahrheit zu dienen beabſichtigen. Aber
es fehlt ihnen an den ewigen und unverrüdbaren Grün:
den und Duellpunften der Wahrheit, an ben wahren
und untrügliden Leitfternen. Daher fegen fie ihre Kräfte
am unredten Orte ein, bienen ber unrichtigen Sache,
Schriftſtellerthum und literariſche Kritik. 9
zünden ihre Geiftesfadel am büfteren Feuer der menſch⸗
lichen Seibenjdjaften an, anftatt am Lichte ber göttlichen
Erfenntniß; und fo wird troß fo vieler hohen Gaben
und fo mandet gut gemeinten Beftrebungen und Ans
firengungen ihre Thätigfeit ber Menfchheit nicht zur
Wohlthat. Es fehlt ihnen am Haren und beflimmten
Bielen, daher an Einheit und Harmonie; es ift Alles
zerriffen und auseinander gezerrt, Reiner verfteht bem
Andern, Jeder möchte am liebften eine eigene Sprache
reden und eine eigene Weltanfchauung haben. Diefe
Kiteratur ift das rechte Abbild ber Welt, bie einig mur
ift im BVerneinen, fonft aber in feindliche Theile au8-
einander geht unb am Ende ben Krieg als normalen
Zuftand und Blüthe ber Menfchheitsentwicdtung bes
trachtet.
Ein jedes Volk iſt ſtolz auf ſeine klaſſiſchen Lite—
raturperioden und auf ſeine großen Schriftſteller, und
nicht mit Unrecht. Der Menſchengeiſt iſt groß, noch in
feiner Verirrung. Wir können vor manchen Erzeugniſſen
der bie Gegenwart beherrſchenden Literatur vol Bes
wunderung ftehen und aus den in ihnen aufgefchloffenen
Erkenntniffen ſchöpfen und den Reiz der jhönen Kunft
des Wortes auf uns wirken lajfjem. Wir konnen bie
verftreuten Camenfürner der göttlichen Weisheit aud)
bei denjenigen Schriftftelleen wieder finden, deren Gei-
ſtesrichtung im Ganzen wir nicht annehmen und deren
Werke wir nicht zu den Evangelien ber beglüdenden
und erlöfenden Religion zählen können. Aber im Wer
fentlihen können wir diefe Literatur nicht als bie unfrige
erkennen; fie bewegt fid) außerhalb ber fittlichereligiöfen
Ordnung, ijt fein harmonifches Element in ber Volks—
10 Linfenmann,
bildung und gewährt nur felten einen reinen und un=
getrübten Genuß. Es entzieht fid) der Berechnung, und
wir können e8 dahin geftellt fein laſſen, ob die großen
Fürften unfrer nationalen Literatur mit all ihrem Ge-
folge von Schildträgern, Jüngern und Epigonen mehr
zum Gewinn oder zum Nachtheil unferes Volkslebens,
unferer Gulturenttoid[ung und Bildung beigetragen, ob
fie einen größeren Niedergang unfrer Givilifation viel-
leicht toenigften8 verhindert, ob fie dem Geiftesleben
neue Ziele gezeigt und neue Bahnen gemiejen, ob fie
auf Schule und Volksſitte, auf die Regfamkeit in Ju—
buftrie unb Kunft belebend eingewirkt haben, ob fie an
einem wirklichen Aufſchwunge ber Nation als treibende
Mächte betheiligt feiem — oder ob fie den Volksgeiſt
burd) ihre fophiftiihen Künfte vergiftet und durch ihre
feindfelige Stellung zur Religion und der in der 9te-
ligion wurzelnden Sitte bie Volkskraft auf falfche Bahnen
gelenkt und den Adern des modernen Volkskörpers etwas
von der tödtlichen Fieberglut, an der fie ſelbſt krankten,
eingeflößt haben. — Wir gebenfen feinenfalla, und dem
jewigen feiublid) entgegenzuftellen, was einen wahren
Ruhm und Glanz der Nation begründet; aber vom
Standpunkt der fittlich religiöfen Betrachtung aus find
bie Hauptträger unfrer modernen Bildung und die Wort:
führer unfrer Haffiicden Literatur auf Sternenweiten von
uns geldieben; wir können nicht zu ihnen hinüber, fie
nit zu uns herüberfommen; wir haben ihnen feine
Vorſchriften zu geben, fie von uns feine anzunehmen;
wir ftehen in feiner Verbindung mit ijnen, wir- müffen
fie nehmen wie fie find, um von ihnen bod) Etwas zu
lernen, worin fie ung Meifter fein können, bie geiftige
Schriftſtellerthum und literarifche Kritik. 11
Technik, bie gute Form und bie Kunſt. Es bat unter
ihnen immer Solche gegeben, und gibt fie aud) jegt nod),
bie e8 mit bem, mas fie für wahr unb gut Dieltem,
eenfter genommen haben, als e8 Manche von denen thun,
welche ber beften Sache dienen wollen. Sie haben dann
bod) hohe Ideale vor Augen, ftreben nad) bem Höchſten,
was in ihrer Sphäre ihnen erreichbar ſcheint, legen fid)
Regel und Zwang auf, um burd) Beihränfung die Meis
ſterſchaft zu erreichen, und behaupten fid) auf einer Höhe
echter Vornehmheit, mit welcher fie fid) vom profanum
vulgus abfehren, um ihren reinen Gultu8 ber Kunft
nicht burd) Berührung mit bem Gemeinen zu entweihen.
€3 gibt für bieje Gattung von idriftftellerijder Thä—
tigfeit wohl Gejege, und robe Anarchie herrſcht in ihr
nicht; aber ihre Geſetze find nicht die ber Religion und
chriſtlichen Sitte, nidt Gagungen einer höheren gütt-
lihen Auctorität, fondern ſelbſtgemachte Gefege, ge-
ſchaffen bnrd) eine angemafte Autonomie des Geni
aud) mit ihnen fónnen wir und nid weiter außeinan-
derfegen.
Die Literatur, bie wir bie unfrige nennen, Tann
nur eine folde fein, welche in allen Dingen die wahren
Intereſſen des Glaubens und der Sitte, mit einem Worte
der chriſtlichen Bildung vertritt, ob fie nun unmittelbar
der Religion felbit diene, wie die Harfe Davids und
bet Griffel des Iſaias, ober ob fie mad) ben Schägen
ber Wiſſenſchaft grabe wie ein Drigenes, oder ob fie in
ben leichteren Sandalen ber Mufe einhergehe und des
Menfchenlebens Luft und Leid im Epos ober im Liebe
fige, ober ob fie auf die Arena der Politik und der
Tagesintereſſen berabfteige. — Ueber ben Werth einer
12 Linfenmann,
guten Preſſe hier uns zu verbreiten, hieße zu vielem
Belannten nur toieber Gelbftverftánblide8 hinzufügen.
Daß ε zu allen Zeiten eine jolde auf die wahren
Bele der Menſchheit gerichtete literariſche Thätigkeit
ber Guíturbülfer gegeben, und daß e8 aud) heute eine
foldje gibt, dafür braucht e8 aud) bier Feines Beweifes
und feines Lobliedes.
Schon eher fünnte e8 Gegenftand des Nachdenkens
fein, woher e Tomme, daß man überall von dem ſchweren
Stand ber guten Prefie, von der mangelnden Unter:
flügung berfelben, von den Pflichten des Publicums
gegenüber dem Angebot be8 literariſchen und publicifti-
iden Marktes mit einbringlidjen Worten redet und Ylagt.
Haben denn je in einer Zeit bie gottbegnabeten Sänger
und Poeten, bie Weifen und bie Forſcher ihre Impulfe
vom Publicum, das unter ihnen ftanb, erhalten? Haben
nicht die Edelften unter ihnen ihre Gaben einer Mit:
welt dargeboten, bie fie nod faum verftand? Wir wollen
e8 allerdings nicht ganz in Abrede ziehen, baf der Stand
der Literatur in einem Lande im Allgemeinen fid) nad) der
Situation richtet, welche ihr von den Abnehmern bereitet
toitb; aber bod) nod) υἱεῖ mehr ift e8 wahr, baf das Publiz
cum ba8 ift, wozu ε feine Wortführer in Nede unb
Schrift gemacht haben. Die geiftigen Gaben und Ta—
lente geben ber Preffe ihre Richtung und ihren Werth,
nicht der Geldbeutel, au8 welchem die Schriftfteller be-
jolbet werden, und mo e8 anders ift oder zu fein ſcheint,
ba Hage man nicht bie lefenbe Welt, fondern die Preffe
felbft barum an. Jene Gattung von Literatur, melde
man mit Geld und Reclame auf ber Höhe erhalten
muß, kann wohl momentanen Sweden dienen, wird aber
Schriftſtellerthum und Iterarifche Kritik. 13
nie eine Haffiihe Literatur werden. Gebt ung Dichter
und Künftler von Gottes Gnaben, und fie werden ihr
Publicum fdon finden!
Wir reden Niemanden zu Leid, ποῷ zu Lieb, wir
benfen nicht am Perfonen, fondern au Zuftände und Er—
fabrungen, wenn mir au bie Preſſe einmal, nicht ohne
bie Hand auf das eigene Herz zu legen, eine Gewiſſens⸗
frage ftellen. Iſt fid unfere Preffe ftet8 und überall
ihrer hohen fittlihen Verantwortlicfeit bewußt? Woher
erklären fid) fo mande widrige und wehethuende Er—
ſcheinungen in berjelbem, bie allmählig Jedermann em:
pfindet, aber al etwas Unabwendbares über fid) ergehen
läßt? Wie allgemein find nicht bie Klagen über mangeln-
den Zufammenhalt und mangelnden Gemeinfinn! Wie
wenig vermag man ein fleine8 particulariftiihes Par—
teiintereffe dem Vortheil des Ganzen unterzuorbnen!
Dft genug wird man verlegt von einem Geifte der Ver:
folgungs⸗ und Verkleinerungsſucht, der Mißgunft und
des Argwohns, ber burd) unfere Literatur geht; von
einer Eleinlichen Auffaflung der Meinungsverfchieden-
beiten unb von Qeftigfeit der Angriffs: und Kampfes:
weife, welche man wohl zumeilen als Verrätherin einer
uneblen 9eibenjdaft anfehen muß. In das Verhältniß
zwiſchen bem Auctor und feinen Leſern ift eine krank—
hafte Empfindlichkeit gefommen, bie Prefje Dat vielfach
bie guten Manieren abgelegt und e8 ift eine betrübende
Verwilderung in Beziehung auf Stil, Geſchmack und
Ton an deren Stelle getreten, Es fcheint, daß aud) bie
befjere und vornehmere Richtung ber Literatur aus ber
Berührung mit dem gewöhnlichen Troß bet niedrigern
Preſſe nicht ohne Befledung geblieben ift. Man ift lange
14 Linfenmann,
gewöhnt, mit bem „Literatenthum“ geringichäßige Urtheile
zu verbinden; e3 ift Gefahr, daß aud) fernerhin, je
mehr das eigentliche Literatentyum bei und anwächſt,
bie Literatur von ihrer fittlichen tie äſthetiſchen Höhe
berabfinfe, und nicht blos bem Dilettantenthum unge
büprlidjen Raum geben, fondern eine SBerffadung ber
literariſchen Leiftungen überhaupt herbeiführen werde;
die Folge davon wird fein, daß die beften Kräfte, an—
ftatt fid) zu concentriren, fid) zerftreuen und zerfplittern,
daß das angefammelte Bildungstapital fid verflüchtigt,
daß ernfte wifjenihaftlide Studien dem Riebergang
entgegengeben.
Es liegt uns ferne, bloße Klagen zu erheben ober
gar unverdiente Vorwürfe auf einen Stand zu häufen,
der in feiner Gefammtheit vielmehr Ehre unb Anerfen-
nung und Aufmunterung verdient, und beffen Angehörige
zum großen Theil ihre befte Kraft einjegen um jenen
Targen Lohn, ben bie materiell gerichtete Welt auf geiftige
Mühen und Thaten fept. Und toit dürfen davon feine
Gattung der Literatur ganz ausnehmen; e8 [deint
Stande, von einem höheren Standpunft aus, gering
und faft verächtlich zu fein, und e8 ift bod) nicht zu ent:
behren unb hat im Plane des Weltganzen feine beredh-
tigte Stelle. Wir können daraus, daß uns bie Zeiten
der Kirchenväter faft feine weltliche Belletriftif hinterlaſſen
haben, feine Verdammung der fog. ſchönen Wiſſenſchaften
entnehmen, und daraus, baf e8 im Blüthenalter ber
ſcholaſtiſchen Wiſſenſchaften feine Zerftreuung burd) bie
Zeitungen gegeben, feine Gründe gegen das Bedürfniß
einer Tagesprefie entnehmen; bief wäre nicht weniger
ungerecht, als wenn man aus den erzürnten Ausfällen
Schriftſtellerthum unb Iiterarifche Kritik. 15
der Auctoren gegen die Stecenjentem auf die Berwerf-
lichkeit der literariſchen Kritik ſchließen wollte.
Vielmehr teil das Interefje an allen Zweigen ber
Kiteratur ein fo allgemeines ift, liegt e8 uns nahe, über
den Stand unferer Literatur zu reflektieren und biejelbe
unter den Geſichtspunkt der ethiſchen Betrachtung zu
flellen; und wenn bie oben angebeuteten ethiſchen Ge—
breden von jedem ernfter Denkenden nicht geleugnet
werben fónmen, jo muß es ein Recht geben, biefelben
nambaft zu machen und nad) den Urſachen berfelben zu
fragen. Würde e8 uns gelingen, ein Webel in feinen
Urſachen aufzudeden, jo wäre die vielleicht ſchon ein
ſchwacher Anfang, bemfelben zu begegnen, und e8 wür⸗
den vielleiht mande befferen und gewiegteren Kräfte,
als bie unfrigen find, etwas zu feiner Heilung θεὶς
tragen.
Es wird fid für uns aber hauptfählih barum
handeln, ob fi fittlihe Geſichtspunkte gemwinnen ober
fittlihe Verpflichtungen formuliren laffen, von denen aus
auf bie Literatur Einfluß genommen werden fónnte. Als
ein folder fittlicher Geſichtspunkt erfcheint und bie Frage
des Berufs eines Schriftftellers.
I. If €óriftftellerei €ade des Berufs?
Es dürfte (diver fein, dem Schriftſteller als ſolchem
feinen rechten Plag unter bem in ber Welt als voll-
giltig anerfannten Berufsftänden angutoeijen; am ebefteu
noch etwa den Gelehrten von Profeffion, obgleih man
au von ihnen gerne jagt, daß fie nicht für diefe Welt
taugen. Bon den übrigen Schriftftelern zählen die einen
16 Linſenmann,
zu jenen bewunderten geiſtigen Größen, die über den
gewöhnlichen Kategorien der Sterblichen ſtehen, für bie
e3 feine Storm und Regel gibt, von denen man meinen
möchte, daß fie den Boden einer alltäglichen Pflicht:
erfüllung nur zuweilen wie im Zluge berühren; das
Genie ift ja an feinen beftimmten Stand im gewöhn—
liden Sinne be8 Wortes gebannt. Das find diejenigen,
deren Ehre und Ruhm ihnen eine bevorzugte Stellung
nicht fo faft unter al8 vielmehr über bem übrigen Men—
ſchen fidert. Einem anderen Theile aber wird gerabe
eine Stellung innerhalb der Berufsftände wertveigert,
weil man ihnen die Ehren eines ſolchen Standes nicht
einräumen will, Aus dem Munde be8 gemeinen Mannes
Tann man e8 hören: „Nur feine Scpriftftellerei, e8 ift
Tein rechter Beruf und fein Segen darin“. Den Kite:
raten denkt man fid als einen Berufslofen, näherhin
als einen Mann, ber feinen Broderwerb mit Schrift:
ftellerei fudjt, weil e8 ihm midt gelungen ii, einen
reiten ehrenwerthen bürgerlichen Lebensberuf zu finden,
fid) in die gewöhnlichen Sphären einer nützlichen menſch⸗
lichen Thätigfeit einzuordnen und auf bem georbueten
Wege ber Wettbewerbung in Amt und Brod zu fommen;
im beften Falle eine prefüre Eriftenz! Je mehr man
aud) in einem folhen Manne die Ueberlegenheit ber
geiftigen Begabung refpeftirt, um fo mehr ift man ge-
neigt, den Mangel einer reellen Eriftenz ibm zum fitt-
lien Vorwurf zu maden; man erblidt an ihm bie
mangelnde Energie für ernfle und ber Menſchheit nütz⸗
lide Thätigfeit, Exrtravaganz be8 Genies, das fid beu
Bedingungen des bürgerlichen Lebens nicht fügen mag,
Unbeftändigfeit und Leichtfinnige Auffaffung ber ernften
Sqriftſtellerthum unb literariſche Kritik, 17
Pflichten des Lebens. Und ba, mie man weiter fließt,
bei einer joldjem moraliihen Anlage und Haltung fid)
fein Charakter bilden fann, [o fiebt man die Feder nad)
Brod gehen und den Schriftfteller deſſen Lied fingen,
beB Brod er ipt. Man erkennt in feinen Leiftungen
nicht den Ausdrud ber Weberzeugung, höchſtens ben
Aufſchrei ber Noth, weil der Genius hienieden bod) meift
zum Darben an irdiſchen Gütern verurtheilt ift. Wer
linen Beruf hat, vertritt aud) feine Cade um ihrer
ſelbſt, fondern nur um des Effekts willen, ben et θεῖς
vorbringen Tann; er wird zum Wortfechter und Phra-
fendreher, zum Zweifler, Spötter und Sophiften, und
nad all bem zum Egoiften, der weder wahre Begeifte-
tung kennt noch fein Publitum achtet, ber weder eine
Cade nod) einen Menſchen wahrhaft liebt, ber vielleicht
in einem Zuftand immerwährender Unzufriedenheit und
be$ geiftigen und moralifhen Drudes eine Luft darin
findet, bie höhern Güter ber Menſchen in den Staub
iu ziehen, Anderen wehe zu thun und fie zu verlegen,
mit dem ſchwächeren Gegner muthiillig zu [pielen, das
Gute an den Senjden zu bemängeln, über ihre Fehler
lieblos zu Gericht zu figen, und das eigene Intereſſe
wer das bet Goterie, ber man fid) verkauft hat, über
alle Wahrheit und Gerechtigkeit zu fegen. Wenn man
πῷ in unferer Zeit eine Vorftellung von dem machen
toil, was die Alten Parafiten nannten, [o denkt man
nicht mehr an jene Charakterfiguren, wie fie ein Plautus
ſchildert, ſondern an einen berufglofen Literaten.
Das Shlimmfte an diefer Auffaffung ift mun aber
in der That bieje, daß man einem ganzen Stande da-
mit Unredt thut. Nur daß einzelne fid
Biest. Onaralfgift. 1888. Heft I.
18 Sinjenmann,
für berufslos halten, b. D. daß fie fid) feines eigent-
lichen Berufes und feiner Berantwortlichkeit für den-
felben bewußt find, das macht bie Unehre aus, bie dann
unbilliger Weiſe auf einen ganzen Stand fält. Die
Schriftſteller müffen lernen einen Beruf
zu haben, und dann werden ihnen aud) bie
Berufsehren zu Theil werden.
Wir flatuiten bie Thefe, baB Schriftftellerei Sache
des Berufs fei. Den Beweis dafür zu erbringen ex
parte rei, d.,b. in Anbetracht der hohen Sade, die
auf dem Spiel fteht, ſcheint nicht ſchwer. Gibt ε einen
Herrſcherberuf, einen Lehr: und Künftlerberuf, fo muß
e3 aud) Cade be8 Berufes fein, an einer Arbeit Theil
zu nehmen, welche fid) mit den höchſten Interefien der
Menſchheit befaßt. Wo bie ebelften Kräfte be8 menjd)-
lien Geifte8 aufgerufen werden, um im Dienfte der
Aufklärung und Bildung und geiftigen unb ſittlichen
SBereblung ber Mitmenſchen thätig zu fein, und mo es
gilt, mit der ganzen Perfönlichkeit einzuftehen für Wahr-
heit und Recht im harten Kampfe mit der Lüge und
der Gewalt, ba follte man nur von innerem Berufe bewegt
und überzeugt auf ben Plaß treten. Es ift feine Gate
tung von fohriftftelerifcher Production fo harmlos und
jo unbedeutend, daß man mit ihr ein blofes Spiel
treiben dürfte.
Anders wohl geftaltet fid) die Erwägung ex parte
persone, bie e$ ung nicht ganz leicht macht, von einem
befonderen Berufe zur Schriftftellerei zu reden. Zwar
daß bie „Berufslofen“, die weder eine fefte Lebenz-
ftellung haben erringen, nod) einen rechten fittlihen Halt
und Charakter haben gewinnen können, fid) eindrängen,
Scheiftftellertgum unb literariſche feitil 19
beweift nod) nicht? gegen unfere Thefe. Schwerer fällt
ins Gewicht bie Wahrnehmung, baB man nad) gemeinem
Urtheile nicht weniger Bedenken hat gegen diejenigen,
melde aus der Schriftitellerei fid) einen Beruf machen,
als gegen die Berufslofen. Die rechte Schriftftellerei,
fo benft man fid bie Cad, ijt bod) eigentlich mehr
Wut eine Zugabe zu einer beftimmten Berufsftellung, 3. ®.
des Gelehrten, des Schulmannes, be8 Staatsmannes
und Politikers, als daß fie für fi allein das Leben
und Wirken eines Mannes ausfüllen follte Der Schrift:
feller felbft fühlt in fid) wohl einen Drang, im einzelnen
Falle mit feinem Können an die Deffentlichfeit zu treten,
aber er anerkennt feine Verpflichtung hiezu; man will
ein Uebriges freiwillig thun und till feine Leiftung aud)
darnach beurtheilt ſehen; man läßt fid) von feinem vor:
reiben, was man eigentlich hätte Leiften follen, man
bietet eine ungeziwungene Gabe, bie das Publicum als
Geſchenk annehmen foll, ohne unzart fie zu bemängeln.
Außerdem, wie mögen alle die Beweggründe heißen,
aus denen ber Drang zum fchriftftelleriichen Verſuche
hervorgeht! Beim Einen ift e8 bie Noth und der Ge-
banfe an Gelderwerb, beim Andern bie Luft am gei
fügen Schaffen; hier bie Abficht auf Anfehen und Ehren-
fellen, dort überquellende Laune und Kiünftlerluft;
manchmal ijt e8 aud) ber Jammer ber eit und bie
Roth des Baterlandes, melde einem Manne bie Feder
in die Hand brüdt, und wieder ein andermal wird Einer
GShhriftfteller, weil e ihm zu wohl ergangen und weil
tt aud) ſolche Lorbeeren mod) zu andern bin pflüden
müde. Geſchieht bieB nun Alles aus Beruf? Und
wenn nicht, mer ſcheidet unter den Taufenden diejenigen
2*
20 Linſenmann,
aus, welche berufen ſind? Und doch muß es für eine
ſolche Ausſcheidung Kriterien geben, wenn es wirklich
einen Beruf gibt!
Daß es dieſen Erwägungen gegenüber ſchwer ſei,
von einem Berufe zur Schriftſtellerei zu reden, haben
wir zum Voraus zugegeben. Aber vielleicht iſt es nur
um ſo anziehender und lohnender, einem ſchwierigen
Problem ins Angeſicht zu ſehen.
Geſtatte man unà, unſre Leſer auf einen Augen:
blid bei einer Vorausſetzung feftzuhalten, als ob fie
nicht erft zu beweifen wäre; nehmen wir einmal als
zugeftanden an, daß Schriftftellerei Sache des Berufes
fei; vielleicht wird ung bie Vorausfegung annehmbar
burdj die Folgerungen, melde fid) aus dem proponirten
Verhältniffe ergeben.
Der Beruf, dem ein Mann angehört, zieht um ihn
einen Pflichtenkreis, den er ausfüllen und über ben er
im Wefentlihen nit Hinausgreifen [oll Der Beruf
bringt ein beftimmtes Arbeitögebiet mit fid) und übt
einen Zwang, indem er Pflichten auferlegt. Das Be-
wußtſein der Pflichterfüllung, welches jede Mühe er-
leidtert, wird mur bem zu Gewinn, toelder in den
Schranken feiner Berufspflicht bleibt; ein Hinausſchreiten
über bieje Schranken ſetzt meiften allen Erfolg der Be-
mühung in Frage. Der Beruf legt jene Beſchränkung
anf, in melder fid) ja gerade der Meifter zeigen fol.
Und darin läge ganz fiber aud ein ſittlicher Gewinn
für ben Schriftfteller, eine gewiſſe Sicherheit für ein ge-
orbneted und gediegenes Arbeiten und ein Schuß vor
den wildeften Ausfchreitungen publiciftifcher Laune.
Wäre Schriftftellerei Sache des Berufs, fo würden
Schriftſtellerthum und literariſche Kritik. 21
diejenigen nicht länger Recht behalten, welche darüber
ſpötteln, daß Jeder am liebſten von dem rede, was er
am wenigſten verſteht. Es wäre das Dilettantenthum
in engere Grenzen zurückgetrieben; es würde zwar immer
nod, neben den gereiften Arbeiten, aud) ſchüchterne Ver-
ſuche und ſchwache Aufänge geben müſſen; man muß
zuvor den Flügelſchlag probiren, ehe man kühne Flüge
wagen fonn; man muß zuerft burd) muthige Anläufe
fib ausweiſen, ob man berechtigt fei, nad) der Meifter-
haft zu ftreben. Aber es fünnte fid) bod) nicht fo zus
bringlid) die unberufene Stümperei zu Tiſche fegem, mo
die ehrliche Arbeit in den Aſchenwinkel geftoßen wird.
(8 würben hohe Aufgaben und Ziele den Einzelnen
mad) ihren geiftigen Anlagen zugetheilt, e8 würde über
den Reichthum an geiftiger Kraft, der in manchem Volks⸗
ium ſchlummert oder tobt liegt, mad) hoben Gefichts-
punkten bifponitt, und über den böfen Bufällen, melde
jet fo oft über Verſuche und Erfolge literariſcher Thä-
figfeit entjdjeiben, tofirbe eine Art von höherer Vor⸗
fehung malten.
Wäre Shhriftftelerei Sache eines beftimmten Bes
rufes, fo wäre daraus bie weitere Folgerung zu ziehen,
daß ber Schriftfteler einem großen Ganzen, einer
Gorporation oder einem Stande fid) eingliebert und in
die Verantwortlichkeit eintritt, welche Jeder für bie Ge-
fammtheit, der er angehört, auf fid) nimmt. Der An-
gehörige eines Standes trägt auf feiner Perfon etwas
von den gemeinfamen Laften und Pflichten, und muß
fif deſſen bewußt bleiben, daß von feinem Thun Ehre
oder Unehre auf feinen Stand [füllt Das Gtandes-
bewußtſein und bie Standesverantwortlichkeit Dat eine
22 LZinfenmann,
nit geringe fittlihe Bedeutung. Der Standesgenoffe
darf nicht wie ber, welcher feinem Stande angehört und
„vogelfrei“ ift, gleidgiltig und unbekümmert fein um
das Urtheil der Welt und um feine Reputation; er
darf aud) nicht bem augenblidlihen, aber weniger edlen
SBortfeil einem dauernden und foliden Erfolge vorziehen.
Ser einem größeren Ganzen als vollberedjtigte8 Mit-
glied angehören will, der muß wiſſen, daß man feine
Stimme als Manifeftation aus dem Ganzen heraus auf-
nimmt; unb [don ber Gebanfe am die Gegenfeitigkeit,
bie man verlangt und leiftet, zieht ber Willkür unb
Laune, ber felbftwilligen und felbftgefälligen Indivi—
bualitát eine werthvolle Schranke. Es wird vielleicht
in ber Beurtheilung der gelefrten und publiciſtiſchen
Thätigfeit unfrer Seil viel zu wenig beachtet, weld ein
Unterſchied ift zwiſchen denjenigen unter den Schrift
ftellern, welche das ganze Gefühl der Verantwortlichkeit
für bie Doltrin, bie wiſſenſchaftliche Stellung und bie
literariſche Ehre der Corporation, ber fie angehören,
in fid tragen und davon fid) beherrihen laffem, und
zwifchen den Andern, bie ale Rüdfichten auf eine öffent-
lide Stellung, auf collegiale Verbindlichkeit unb corpo
rativen Beruf bei Seite fegen, welche befbalb Alles
wagen zu dürfen glauben, und welche mit ihren befon-
dern Anſprüchen auf die Privilegien der Genialität fid)
über jenes Wetterkreuz ftellen, wo es für fie feine Sünde
mehr gibt.
Auf Grund feines Berufes aber, wenn e3 einen
ſolchen gibt, nimmt der Schriftfteller aud) Theil an den
Standesrechten und Ehren und an dem geiftigen und
fittliden Kapital, das Πὰν in einer zu hohen Aufgaben
Schriftſtellerthum und literarifche Kritik. 23
verbundenen Genoffenihaft anfammelt; gleid) wie er
von ber geiftigen Atmofphäre be8 Standes getragen wird
und in ihm die Wurzeln feiner Kraft nährt, und aus
feinen Brunnquellen fein eigenes Wiſſen und Vermögen
befruchtet, fo dient ihm der Stand wieder zur Schutz⸗
mehr gegen Verwilderung in Manieren, in Styl und
Sitte. Es erfordert fehon eine fittliche Erfahrung, um
zu erkennen, daß nicht Alles, was an fid) zuläffig ift,
ſich aud) wirklich ſchickt. Vol. L Kor. 10, 22. 23.
Wir haben hypothetiſch gefprodjen. Es läßt fid
aber wenigſtens dieß nicht verfennen, daß e$ manderlei
Bortheile darbieten würde, menn man Schriftftellerei als
Cadje be8 Berufes behandeln dürfte, wenn die Schrift
fteller von ben Berbindlickeiten, bie ein Beruf auferlegt,
ein recht ernftes Bewußtjein hätten, und wenn man dad
fiteratentbum ohne Beruf und fociale Stellung in die
engften Grenzen zurückweiſen fónnte.
Bleiben wir mod) einen Augenblid, ſelbſt auf bie
Gefahr bin, daß e8 eine ſchöne Illuſion wäre, bei ber
Borftellung von der Schriftftelerei als Berufsſache ftehen,
fo muß uns ein folder Beruf als ein überaus hoher
und edler erjdeinen. Ja vielleicht füllt es uns nur
darum ſchwer, an unjter Illuſion, τοῖς wir e8 oben ge-
nannt, feftzuhalten, weil die Wirklichkeit, ober bie
alltägliche Erſcheinung unfrer hohen Vorſtellung in fo
mandet Richtung widerſpricht. Der Schriftfteller müßte
nad) unfern Idealen von bem Gedanken erfüllt fein, im
Dienſte ber höchſten Güter zu ſtehen, bie e8 für bie
Menfchheit gibt. Seine Stelle wäre neben bem Apoftel
md dem Priefter, und er würde Anfprud haben an
die Ehrenrechte ber Lehrer, melde fid mit den Mar-
24 Linfenmann,
tyrern und Sungftauen in ben befonderen Ehren-
Tran; theilen. Was nut immer Großes und Hohes in
den Worten Wahrheit, Crfenntnip , Forſchung, Wiſſen⸗
ſchaft, Bildung liegt, ba8 wäre ibm Alles anvertraut;
der hohe Dienft aber erforderte eine durchaus reine
Hingabe, einen unbefteclichen, feiner Lüge und Keiner
Menſchenfurcht und feiner Gemeinheit zugänglichen Sinn.
Eine zarte Scheu, burd) eigene Unvolllommenheit das
hohe anvertraute Gut zu befleden, müßte ihn ftet3 durch⸗
bringen und mit Gorgfamteit erfüllen. Dann müßte
ihn aber aud) andererfeit3 bie erfaunte Wahrheit auf
die Seele brennen, fo lange bis er öffentlich ihr
Zeugniß gegeben; das Schwert zum Kampfe wider Blind:
beit, Ungerechtigfeit, Unvernunft und Lüge dürfte nicht
often.
Nicht weniger, als aus der Sache felbft, ergibt fid)
eine hohe Auffaffung von der Bedeutung der Aufgabe
des Schriftftellerd aus ber Reflerion über das Publi-
cum, an welches er fid) wendet. Jeder ernſte Schrift:
fteller hat einen 9tefpeft vor feinem Leferfreis, ober er
denkt fid) wenigften feinen Leſerkreis in ber Mehrzahl aus
Solchen zufammengefegt, bie er adjten kann. Wer öffent-
lid auftritt, bem liegt daran, daß er würdig bor bem
Publicum erſcheine; wer in feinem Auftreten zugleid
einen Stand oder Beruf repräfentirt, ber drapirt fid)
mit dem Gtanbesf[eib und hält felbft den Faltenwurf
ber Toga nicht für gleichgültig. So müßte auch ber
Auctor, ber feines Berufes gewiß wäre, feine Würde
vor bem publicum wahren und demfelben borum das
Befte zu bieten fuchen, was feine Kräfte vermögen. Man
muß fid immer wieder defien erinnern, zu wem das
Sqyriftſtelerthum und literariſche Kritit 25
geſchriebene Wort dringen foll; man muß darauf gefaßt
fein, daß man zu den Beften und Weifeften feiner Zeit
tedet, und man würde dann ihnen zu gefallen und fie
zu überzeugen hoffen, ober toenigften8 fie al8 feine Richter
fürhten. Wer aber gemöhnt ift, geiftige Zwieſprache
mit einem ehrenwerthen und vornehmen Leſerkreis zu
pflegen, der wird nicht leicht, in Gedanken ober Aus-
drud, zu jenen Schaaren herabfteigen wollen, welche zu
gewinnen und fortzureißen feine Ehre machte; er wird
nicht den Wahn ber Unwiſſenden ausbeuten, mod) ben
Leidenſchaften der Rohen ſchmeicheln, fondern ben Bei—
fall der Gbíen als das ſchönſte Ziel feines Wirkens
anfehen. Nur der Berufslofe, jo εἰπὲ e8 unà, würde
fid mit bem Pöbel gemein machen wollen.
Ganz bejonber8 aber müßte wieder allgemeiner er⸗
lannt werden, daß bie Gabe des Wortes in Rede und
Schrift in den Bereich ber Kunft gehört, und baf ber
berufene Schriftfteller ein Künftler fein
Toll Der fhriftlihe Gebanfenausbtud erfordert ebenfo
und nod) mehr, als das flüchtig geſprochene Wort des
Redners, eine Kunftform, fomit eine Unterordnung des
Stoffes unter eine Norm und Regel der Darftellung.
In der Literatur aller Völker geht bie Poeſie, b. i.
bie gebundene Form ber Rede, der Profa voraus; erft
von ba an, mo bie fortgefchrittene Cultur eines Volles
aud) der gemöhnlichen Rede den Styl und Schmud ber
funft zu verleihen vermag, wird aud) fie der Weber
lieferung und ber Verewigung butd) Schriftdentmale für
werth gehalten. Das geichriebene Wort fol den Cha:
tafter be8 Monumentalen haben und barum, bem ver:
ſchiedenen Bmeden ber Darftellung entſprechend, burd)
26 Linfenmann,
beftimmte SKunftregeln gerichtet und geordnet werden.
Es gibt ja freilih gar verſchiedene Stylgefege, vom
Lapidarſtyl ber fteinernen Gefegestafeln an, durch alle
Formen der Poefie, der öffentlichen Rede, der Geſchichts-
ſchreibung und der philofophifhen Abhandlung hindurch
bi8 zum Briefftyl und Zeitungsſtyl. Aber eine funfi-
form ift immer erfordert; ohne fie wäre Platon nicht
Platon und Paulus nicht Paulus geworden. Hat fid)
nun aud) in unferer Zeit, in welcher, wie einmal Herodot
von den Schthen berichtet, „Togar die Luft mit Federn
gefüllt ift", die Zahl ber fchriftftelerifhen Gattungen
oder Kategorien vermehrt, |o daß wir neben Poefie und
Hiftorie, neben ber rhetoriſchen und ber wiſſenſchaftlichen
Stebeform noch einen roniftifchen, einen journaliftiihen,
feuiletoniftifhen, vielleicht jogar einen eigenen 9tecen-
ſentenſtyl haben, fo dürfte e8 bod) eigentlich feine butd)-
aus form: und regelloje, alle Form ber Kunft negie-
ende Darftellung geben; ober, menm bief vielleicht
deutlicher ift, e8 foll feinen Dienft ber Wahrheit
geben, bem fid) nicht zugleih ein Streben nad
Schönheit zugejelt. Wer allen Sinnes für
Schönheit der Rede, für Harmonie und €ben-
maß, für Anpaffung des Stoffes an einen
boben und ſtrengen Zweck, und für Ueber
mwindung des 9toben und Trivialen ledig
wäre, der wäre fein berufener Schrift
fteller.
Die Kunft allein in der Rede und Darftellung ent:
ſcheidet freilich nicht, fie ift nicht Gelbflgmed, fondern
nur Mittel zum Zwecke. Und mas man gewöhnlich
Kunft nennt, ift nicht immer jene hohe Göttin, vor der
Schriftſtellerthum und literariſche Kritik. 27
man fid mit Recht in Ehrfurcht beugt, fondern manchmal
eine verächtliche Buhlerin; daher ift Verachtung über
fie gekommen, jo daß Manchen das Verſchmähen ber
funft gerade als ernſte Wiſſenſchaft, und das Verſchmähen
ber redneriſchen Schönheit als Liebe zur Wahrheit gilt.
Wir geben zu, baB e8 ein falfches und verächtlices
Streben nach glüngenber Darftellung und Deftedjenbem
Reize ber Rede gibt, erflürlid) das einemal aus einer
falſchen Geſchmacksrichtung, melde die Gattungen ber
Literatur nicht unterſcheidet und daher ber einen Gattung
das Stylgefeg einer andern aufzwingen will; erflärbar
aber das anderemal aus berechneter Sophiftif, deren
fünfte das einfade Wort der Wahrheit burd) Wort:
weisheit gefangen nehmen wollen, „fleiſchliche Weisheit”
nennt dieß ber Apoftel (II. for. 1, 12), bie ber Ein-
fachheit des Herzens und ber Lauterkeit Gottes zuwider
i. Aber Formlofigleit und Regellofigkeit
und — fagen wir e8 frei heraus — Zügel:
Iofigfeit bat barum πο ebenfo wenig mit
der wahren Weisheit gemein, als die rohe
unerlöste Natur ein reiner Spiegel der
góttliden Shönheit ift. Der engliſche Philofoph
Shaftesbury fagt: „Trachtet zuerft nad) dem Schönen,
und das Gute wird euch vom felbft zufallen.“ Mir
balten diefen Sat, fo patabor er flingen mag, für
innerlich verwandt mit jenem Ausſpruch des alten Weifen,
ber von bet Weisheit jagt, „daß ihm mit ihr alles Gute
zumal gefommen jei^ (Weish. 7, 11). Weisheit und
Schönheit finden fid in einer Wurzel zufammen, in der
Drbmung und Harmonie. Die Meifter, welchen Weisheit
und Schönheit im Verein ihre Offenbarungen fpenben,
28 Linfenmann,
fie find erft die rechten Paladine ber Wahrheit und Er-
lenntmiB; fie verfchaffen der Wahrheit ihre Ehre und
bewahren bie Kunft vor bem Zerfall; fie find es, welche
πα bem Worte ber Ὁ. Schrift ber Menſchheit goldene
Früchte auf filbernen Schaalen reihen (Sprüd. 25, 11).
Wir fteigern die Anfprüche, wenn mit bie literarifche
Thätigfeit in die Sphäre des Kunftberufs emporrüden,
in melde dann freilich Keiner eintreten bürfte, der nicht
von bem Bewußtfein einer hohen Sendung burd)brungen
wäre und nit einen Glauben an bie Kunft
unbibren Beruf mitbrädte. Mit der jungfrüu-
lien Scheu, womit der Maler fein erftes Bild ausftellt,
müßte der Schriftfteler feine erften Blätter prüfen, ehe
er vor bie Deffentlichfeit tritt, und menn ihm bet erfte
Wurf gelungen wäre und ihm Ermuthigung zu neuem
Streben gebracht hätte, fo müßte er bod) miffen, daß
bie Ehrenkränze, um bie er wirbt, der Lohn fanger treuer
Uebung und Hingabe find. Gewiß ftümbe e8 um unfre
Literatur in allen Richtungen beſſer, wenn biefe hohe
Auffaffung von der Aufgabe des Schriftfielerthums all-
gemeiner wäre. —
Welche Schwierigkeiten aber einer ſolchen Auffaſſung
entgegenftebem , das haben wir in ber bißherigen Dar-
ftellung vieleiht nur allzufehr felbft verrathen. In
Wirklichkeit fcheint im Weſen der Literatur felbft etwas
zu liegen, was uns verbietet, ba3 ibeelle Hecht zur
Schriftftellerei in den mang eines befonderen Berufes
oder Standes einzuengen. Mit der vulgären Bezeichnung
berufener oder unberufener Schriftſteller
iſt ohnehin nicht weiter zu kommen; die gedankenloſe
Angewöhnung des Volksmundes verbindet mit bem Worte
Schriftſtellerthum und literariſche feitit. 29
Beruf ebenjomenig einen ftrengen Begriff, wie 3. ©.
mit bem Worte Segen, ſegensreiches Wirken,
ba$ von vielen Thätigfeiten prädicirt wird, melde mit
dem Segen von oben wenig zu thun haben. Wollen
wir den Beruf al8 ein wirklich reelle8 und definirbares
Weſen fallen, fo fet er eine gemiffe Ausſchlie ß—
lidteit voraus, einen geſchloſſenen Stand, am Ende
gat eine Zunft. Und dagegen, fo fdjeint e8, müßte von
zwei Seiten Einfprache erhoben werden. Bon der einen
Seite wird man die Frage erheben, ob denn wirklich,
neben Wenigen, wahrhaft Berufenen, die Vielen, melde
auf den großen Markt unfrer heutigen Preſſe mit geiftigen
Erzeugnifien treten, Eindringlinge genannt werden müß:
ten? Coll der Beruf zur Schriftftellerei eine Aufgabe
für fich allein ausmachen und das Leben eines Mannes
ausfüllen, oder ift er nur eine Zugabe zu einer öffent:
lichen Stellung und Lebensarbeit? Sol das Genie oder
die geiftige Begabung nur da gum literariichen Ausbrud
tommen bürfen, wo zuvor eine Bunftprüfung beftanden
Ober ein Freibrief erworben worden? Läßt fid Geift
und Talent und ber innere Drang nad Offenbarung
feiner Ueberzeugungen irgend einem ber vorhandenen
Derufsftände abfpredjen und an einen anderen Stand
binden? Das freie Wort verbieten zu wollen würde ja
wohl als ein Majeftätsverbrechen gegen den Geift unfrer
Zeit angefehen werben, und e3 ift ja ſchon zum geflügelten
Borte geworden, daß nicht an wenige ftolze Namen die
Kunft gebannt fei Diejenigen, welche fid nad ber
Borftellung von einer bejonbet8 ausermählten Geiftes-
ariftofratie in erfter Linie für Berufene erachten würden,
kann man fid) faft nicht anders als mit bem Gelehrten⸗
30 Linſenmann,
talar, die Studierlampe vor dem geſchwächten Auge und
das Zöpfchen im Nacken, vorſtellen; und von dieſen
„Berufenen“, ſo ſagt man, ſeien gerade am allerwenigſten
die rechten Lichtfunken der Aufklärung und bie Meifter:
werke der Literatur ausgegangen. Es wäre ein eitle8
Bemühen, einen ariftofratifhen Bann über bie geiftige
Produktivität zu legem.
Wir anerkennen die Berechtigung diefer Ginreben,
obgíeid) wir ſchon hier zur Abſchwächung des Gewichts
derfelben einige Yegerifche Bemerkungen gegen bie liberale
Drthoborie unferer Zeit anbringen möchten. Offen ge-
fanden, wir wünſchten etwas mehr ariftofratifhe Zu:
rüdhaltung und etwas weniger demofratifche ober ochlo⸗
Tratifche Freiheit in der Preffe, mur in einem befferen
Sinne. Muß denn überhaupt fo viel gefehrieben werden ?
Je mehr Literatenthum, je mehr Tageslektüre, je breiter
der Etatsfag für den öffentlichen Bedarf am Lejeftoff,
befto mehr Abnahme ernfter Studien, defto mehr Ver-
flahung auf bet einen, Ueberfättigung auf der andern
Seite. Gewiß kann man nicht jagen, daß, wie im Haus:
halt der Natur, jo aud) im Haushalt ber menfchlichen
Gejelljdjaft jedes Ding feine Berechtigung habe. Es
gibt hier eine Ueberfülle, bie man im Ganzen für ſchäd⸗
lid) anfieht, fo febr aud) jedes einzelne und fleinfte (ὅτε
zeugniß feine Bertheidiger und Freunde finden mag.
Daß bie Maffe des Mittelmäßigen der Verbreitung ber
wahrhaft guten Literatur binderlih in den Weg trete
und daher aud) lähmend auf bie gefunde Productivität
zurückwirke; daß das Unbebeutende ſich breit aufbrünge,
den Gejdjmad der Menge verderbe und ihr Urtheil itre
führe, dieß wird nicht erft zu beweifen fein. Welches
Schriftftelertfum und literariſche Kritik. 31
wird einſtens das Schickſal aller ber Bücher in unſeren
Bibliotheken, aller der Zeitichriften, Broſchüren, Bam:
phlete und Tagesblätter fein, meldje das Studierzimmer
der Gelehrten und bie Lejezimmer ber Mufeen überfluthen
und in jede VBürgerftube bringen! Wer es verftünde,
die richtige Auswahl zu treffen, wie viel Procent der
jährlichen Production dürfte er, ein befferer Omar, ver:
brennen, daß er mod) ein Wohlthäter ber Menfchheit
genannt würde!
Muß denn überhaupt alles geſchrieben und gebrudt
merden, was man für eine neue Wahrheit oder Weis-
beit anſieht? Es gehört zu den naivften Vorurtheilen
unferer Zeit, daß man fid) einbildet, eine erfprießliche
Öffentliche Wirkfamfeit müſſe mit Literarifcher Thätigkeit
verbunden fein, und das Talent könne fid) nur auf bem
Wege der Schriftftelerei volle Geltung verſchaffen. Es
war vielleiht in den Schulen beſſer beftelt, als nod)
midt jeder Profefjor Schriftfteller fein mußte; ganz ges
wiß aber mar e8 um das Staatsweſen befjer beftellt,
als uod) nicht die Staatsmänner unter bie Schriftfteller
giengen oder bie Literaten in den Staatsrath berufen
wurden; eine glüdlidere Zeit mar e8, wo man Ruhm
und glänzenden Namen noch anders al8 mit ber Feber
fudjte; jelbft das eiferne Zeitalter ift immer πο größer
al3 das papierne; e8 ijt in.mehr als einem Sinne wahr
geworden, daß, was bie Herren vom Schwert gut ge:
macht, burd) die Herren von ber Feder wieder verbotben
worden. — Allein wir find nun einmal auf einer Gultur:
flufe angelangt, wo ber Austaufh der Gedanken vor:
herrſchend durch bie Preffe vermittelt wird, und too bem
Geifte das Hilfsmittel der literarifhen Mittheilung am
32 Linfenmann,
nächſten liegt für Auswerthung feiner Arbeit unb für
die Verbreitung von Ideen; und e$ ftebt ja nichts im
Wege, daß man bie ſokratiſche Lehrmeife mit fchriftlichem
Vortrag nad) Platons und Ariftoteles’ Beifpiel verbinde.
Da nun bod) die Literatur einen fo großen Umfang,
und die Preſſe eine jo hohe Bedeutung für unfer ganzes
öffentliches Leben und für jede Seite unfrer geiftigen
und fütlidjen Bildung gewonnen bat, fo können wir der
oben erwähnten Ginrebe gegen eine erclufive Berechtigung
weniger Berufenen zur Schriftftelerei eine beachtens⸗
werthe Seite nicht ab[predjen. Die Literatur wird ber
meunſchlichen Geſellſchaft ihre beften Dienfte leiften, wenn
fie fi möglichft frei bewegen Tann. Ob eine größere
Gefahr für das allgemeine SBefte in dem ettoaigen Miß-
braud der Freiheit liege, oder in bet Feflelung des
freien Wortes unb Unterbrüdung ber Preſſe durch irgend»
welchen politiichen ober focialen Zwang, foll an biejer
Stelle dahingeftellt bleiben; es liegt und unter allen
Umftänden näher, bie Freiheit, bie wir für uns bean-
fpruchen, aud) Anderen einzuräumen.
Nicht weniger Gewicht ſcheint ung eine Einwendung
von einer zweiten Seite Der zu haben. Nicht mur bie
Gadje, fondern am meiften bie Schriftfteller felbft müßten
darunter leiden, wenn man ihnen eine von andern Berufs:
ftänden abgeſchloſſene Sebensftellung anmiefe, eine gei-
ftige Adelspartei oder gar eine Kafte aus ihnen
machte. Der Schriftfteller „von Profeſſion“ würde erft
recht den fiheren Boden innerhalb ber bürgerlichen Ge-
fellidjaft verlieren und nirgends ein Bürgerrecht gemwin-
nen; ihm fiele bei der Vertheilung ber Erde fein $008
zu, und indem man ihn [deinbar emporheben möchte
Schriftſtellerthum und literariſche Keitit. 33
in bie Region ber höheren Sphären, würde man ihn
thatſächlich erniebrigen, und mit ihm die Literatur felbft.
Denn bie höchfte intellectuelle Anſpannung des menſch⸗
lien Geiftes ertrügt den Zwang, bie Regelmäßigfeit
und ben abgemefjenen Pulsſchlag bes Handwerks oder
der Profeffion mid; Werkftattarbeit wird immer tiefer
ſtehen als freies funftgebilbe. Den Schriftfteller zum
Zunftgenofjen ftempeln, Heißt ihn erniedrigen, fein Schafe
fen hemmen, die Literatur auf ein tiefere Niveau θεῖς
abbrüden. Die Probe davon liegt ja zu Tage, wo
Runft oder literarische Thätigkeit zur gewöhnlichen Tages-
arbeit, zur motbgedrungenen, wird. Wenn wir von
einigen befonder8 auserwählten und vorgezogenen Gei-
fern abjehen, mie Wenigen wird ber Dienft ber Muſen
überhaupt zum Lebensglüd! Und gar wenn biefer
Dienft ein ausſchließlicher, durch befonberes Menſchen⸗
ſchickſal aufgenöthigter und unabweisbarer wäre! Wie
wenig zu glüdlider Harmonie entwideln fid) fo viele
Künftlernaturen und Künſtlercharaktere! Oft idjeint es,
ba man aufhören müfle, ein normal benfenber und
normal Lebenber Meni zu fein, um wirklich bie Infpis
tationem be8 Genius zu erfahren ober das Walten jenes
Dämonion zu vermehren, von meldem ein Softates
feine Lebensführung erhielt und von meldjem ber Dichter
jubelte: Est Deus in nobis, agitante calescimus illo!
Manchem, fo fcheint e8, ift ber Götterfunke zur verzehren-
den Flamme geworden, die das Glüd und bie Freude
feines Lebens verjengt hat. Welche traurigen Schickſale
müfen vorausgehen und einen berühmten Schriftfteller
jum intereffanten Manne machen, bis man ibm — aus
Mitleid — eine Subvention votirt und — nad) bem
Sec. Qusrtalfeift 1889. Heft L 8
84 Linfenmann,
Tode — ein Denkmal jet. Wahrlich die Götter des
Parnaſſes behandeln ihre Lieblinge hienieden herb und
grauſam; bie einftens fo fröhlich angefangen, enden gar
traurig, und die fo vielen ihrer Mitmenſchen frohe
Stunden bereitet, behalten für fid) die Schwermuth,
Verlaſſenheit und Verzweiflung. Unter allen Umftänden
find fie nicht zu beneiben, bie mit der Feder ihr Brod
verdienen müflen. Pegaſus im Jodie!
Diefen Einwendungen, fo lebhaft und eindringlich
fie ausgefprochen werden mögen, wird leicht zu begegnen
fein, wenn mir und mur einmal recht verftehen. Man
fol ung nur uidjt einen falfchen Begriff vom Berufe zur
Mitarbeit in der literariſchen Welt unterftellen.
€óriftftellerei ift uns nidt €ade ber
Zunft und des Handwerks, fondern fie foll
eine berfreien fünfte fein, und unter ihnen
bie mädtigfte, wirfungsvollfte, bie veidfte
an hoben Aufgaben unb an Verantwortlid:
feit. Der Beruf, von bem toit reden, ift ein ge:
beimnißvolles, inder Hand Gottes gelegenes
Verfügen über die Einzelnen zum Wohle
des Ganzen, entipredenb den individuellen
Anlagen und Kräften, fo daß der Menid,
der feinen Beruf zum Wohle ber Menſchheit
erfüllt, damit am fiherften aud fein eigenes
Biel und Lebensglüd erreicht. Die Art und
Weife nun, wie in ber von Gott gemollten Ordnung
der Dinge jene Difpofitionen getroffen werben, wornach
Jedem ein beftimmter Platz in bem Getriebe des all-
gemeinen Menfchenlebens angetoiejen wird, ift verſchieden
je nad) den Funktionen, für welche bie Berufung ergeht.
Schriftftellertgum unb literariſche Kritik, 35
Anders wird ber Bauernjohn zur bäuerlihen Arbeit
berufen, anders ergeht ber Beruf für ben Beamtenftand,
für das Lehramt, anders wieder für das Priefterthum
und anders für das Klofter. Ye höher bie Berufsauf-
gabe oder die zugetheilte fociale Funktion, defto weniger
it bie Berufung an Naturnothwendigkeiten, an ben
Stvang des Geblüt3 und bet Abftammung oder an ben
focialen Zwang der Zunft, ber fafte ober Sippfchaft
getuüpft, um [o mehr tritt vielmehr bie eigene Wahl
und Gelbftbeftimmung in ihr 9tedjt; und dennoch rebet
man gerade bei bem höheren Aufgaben viel mehr und
richtiger von einem „Berufe“, al3 bei ben niebrigeren
ober gewöhnlichen und jelbftverftändlihen Dienften, bie
man mad) dem Gang der Dinge in ber Welt verfieht.
Es hat viel mehr Sinn, menn man von einem Beruf
pun Gelehrten ober Künftler ober Politiker redet, als
von einem Beruf zum Lohnarbeiter oder zum Sklaven !);
und gerade ba, too man ben höchſten Grad von freier
Selbftbeftimmung für bie Cntjdeibung über die Lebens-
ſtellung fordert, bei ber Cntjdeibung für ben geiftlichen
oder DOrbensftand, rebet man erſt recht von einem be:
fonderen göttlichen Berufe, ber mit ber Macht einer
moralifhen Nöthigung an den Geift ergeht, befjen Aeng⸗
fem und Bedenken überwindet und eine Bürgſchaft für
bie Befähigung zu hohen Arbeiten enthält.
DerBerufenthältinfid eine innere
1) Auch 1. Kor. 7, 21 ἢ. will nicht befagen, daß Jemand zur
Sklaverei berufen oder durch göttlichen Willen beftimmt morben;
berufen wird vielmehr ber Sklave, trot; feines Sklavenftanbes, zum
Reiche Gottes, und ber Wille Gottes ijt, daß τοῖς nicht Silaven
von Renſchen werden.
3*
36 Sinjenmann,
Nothmwendigfeitbeidem höchſten Grade
der freien Selbfibeffimmung. Das ift uns
zunächſt eine Art von Myſterium. Aber Eines ijt allge
mein anerfannt. Sagt man von einem Priefter ober
einem Künftler, er fei dieß ohne Beruf geworden, fo
brüdt man damit einen ſchweren — fittlihen — Bor:
wurf gegen ihn aus und fpridt ibm fozufagen die Gri-
fteng ab. Wenn aljo der Begriff ber freien Standeö-
wahl und ber freien funft, und der Begriff des Berufs
einander nicht ausjdlieBen, fondern einander vielmehr
zu fordern jdjeinen, fo bewegen wir ung aud) in feinem
Widerſpruch, wenn wir Schriftftellerei nicht als
Cade der Zunft oder ber Kafte, und bod) als
Gad be& Berufes bezeichnen. Gerade weil man
Dichter, Maler, Muſiker u. f. to. nicht auf jenen Wegen
wird, auf melden man Bauer, Hirte, Knecht ober Magd
wird, muß fij, wer in bie Reihen ber freien funft ein=
treten will, darüber Rechenſchaft geben fómmen, von
welchen Motiven er fih in ber Wahl feiner Lebenzauf:
gabe ober eines gewiſſen Arbeitsfeldes beftimmen lief.
Daß wir uns einer Erſchleichung des Reſultats
ſchuldig gemacht, indem wir den Schriftfteller ohne Weis
tere neben den Priefter oder Künftler oder Gelehrten
geftelt, hierüber fürchten wir einen Vorwurf nit. Nur
wäre vielleicht nod) einem weiteren Mißverſtändniſſe vor-
zubeugen. Man fónnte eine feinlidje Pebanterie darin
finden, wenn man ein beftimmtes Arbeitsfeld oder funjt«
gebiet abgrenzen will, außerhalb befjen man nur von
unberufener Arbeit reden müßte. Man müßte, jo hören
mir ung einwenden, neben bem Künftler vom Fach aud)
dem Dilettanten fein 9tedjt einräumen. Es bejdüftigt
Schriftſtellerthum und literarijdje feriti. 37
fb mancher mit Kunft, ohne Künftler zu fein, und er
fet doch in feinem Rechte. Man verdankt den Dilet-
tanten faft mehr Kunftgenüffe, al8 ben Künftlern von
Gottesgnaden; man muß ja nicht gerade Tonfänftler fein,
um ein Lied ſchön zu fingen, und vielleicht find viele
ſchöne Liederweiſen auf Erfinder von zmeifelhaftem
Künftlerberuf zurüdzuführen. Der Sinn und der Ge-
ſchmack für künftleriihe Geftaltung und folglich aud) das
Recht dazu ſcheint viel zu allgemein ausgebreitet zu fein,
ala daß man zwiſchen den Kunftverftändigen, bem ftunft-
liebhaber und bem Künftler biftatorijd) eine Grenzlinie
sieben Könnte. Ebenfo wird man mun aud) nicht gerade
Schriftſteller vom Fach fein müſſen, um einen Zeitungs-
artifel ober eine Denkſchrift zu verfaſſen; vielleicht wird
aud) bier von Dilettanten mehr geleiftet für eine ge-
funde Cnttidlung der Literatur, al8 von Berufenen,
denen von amts- und obrigeitwegen bie Verwaltung
ber geiftigen Güter der Gefellihaft anvertraut ift. — Man
follte darum nidi fagen: nur wer berufen ift, der Tann
Treiben, fondern wer e8 famn, ber ift berufen.
Wir laffen un8 duch biefe Unterjheidung zwiſchen
dem Fachmann und bem Dilettanten in unferer Beweis:
führung nicht ftóven. Vielmehr dehnen mit die 9fua-
logie nod) weiter aus. Niemand nimmt Anftoß daran,
daß man einen fpegiellen Beruf für die apoftolijde und
priefterlide Thätigfeit, für den Waffendienft, für bem
Gelehrten vorausfegt, ohne zu leugnen, daß aud) ein
Laie priefterlicder wirken könne als ein Priefter, ein
Givilift tapferer als ein Berufsfoldat und ein Ungelehrter
weifer fein könne al8 eim Schulgelehrter. Einer gewiſſen
Klaſſe von Logikern gegenüber Fönnten wir und au ber
38 Linfenmann,
SBetlegenbeit, die wir uns felbft bereitet, mit bem Hinweis
darauf retten, daß ja feine Regel ohne Ausnahme fel. Aber
toit brauchen diefen — in allen Fällen logiſch bedenklichen
— Nothbehelf nit. Wir laſſen feine Ausnahmen gelten.
Dagegen macht es logijd) einen Unterjchied aus,
ob man bei Betrachtung einer großen Erſcheinung —
lei e8 im kosmiſchen ober im geiftig-fittlichen Leben —
mehr das Große und Allgemeine ins Auge fafie und
ble groß gefchriebene Schrift der Sprache des Univerfums
lefe, oder ob man von ber Unterfuhung des Einzelnen
und Kleinen mit feinen unendlichen Varietäten ausgehe
ober gat babei ftehen bleibe. Ob mir bei Beurtheilung
eines Phänomens von weltumfaflender Bedeutung rich⸗
tiger vorgehen, wenn toit vom Großen auf das Kleine,
Ober wenn wir vom Kleinen auf das Große fchließen,
dieß hängt vieleicht je vom ber eigenthümlichen Natur
des Gegenftandes ab; im unferer Discuffion nehmen
wir wenigftens bas Recht in Anſpruch, bem erfteren
Weg einzufchlagen. Legt e8 fid) uns aus guten Gründen
bei ber Wertbfehägung ber literariſchen Thätigfeit im
Ganzen nahe, einen Beruf für diefelbe zu ftatuiven, fo
brauchen mir un in unferer Weberzeugung nicht baburdj
beirren zu laffen, daß mande Einzelerfcheinungen im
Kleinen fid) in den Begriff einer Berufsarbeit nicht fügen
mollen. Auch die Betheiligung an der Preſſe im Hleineren
Maßftab, aud) in der Form bes bloßen Dilettantismus,
ift und entweder eine berufene oder eine unberufene.
Betrachten wir aljo das Leben nad) den Beifpielen
von größeren Dimenfionen, bei melden deßhalb bie
Charakterzüge aud) Fräftiger und greifbarer heraustreten,
fo Tann ung nicht entgehen, daß das Eintreten in ein
Schriftſtellerthum unb literariſche fitit. 89
Arbeitsgebiet, wie wir e8 bier im Auge haben, ein
Hinaustreten aus ben engen Grenzen einer einfacheren
und niedrigeren ebensftellung bedeutet; es ift ein Schritt
in die Höhe, in eine erponirte Stellung, ein Wagniß, das
wit felten den Schein der Bermeflenheit ober Arroganz
annimmt, und vor welchem ber weile Siracide zu warnen
ſcheint: „Was über dir ift, darnach follft du nichft ftreben,
und was über deine Kräfte ift, ſollſt du nicht unterſuchen“
(Eti. 3, 22). Je höher das Gebiet liegt, in welchem
Jemand feine Lebensaufgabe jucht, deflo mehr ift gewagt,
wenn er feinen Beruf verfehlt], befto nothwendiger aljo
bie keuſche Scheu, che man ben entſcheidenden Schritt tout.
Was gibt mun den Muth, den innern Antrieb und
die endliche Entſcheidung zu foldem SBagniB? Der
Reiz, ber in der Sache liegt und ber von außen auf
ben Geift einmirft, reicht als Erklärungsurſache allein
nicht aus; mod) weniger die Zufälligfeiten, melde mit
der Sache verbunden find, wie Ehrenftellung, glänzende
Ausfihten. Wahrlich dem Ehrgeiz ftehen ganz andere
Mittel der Befriedigung zu Gebot! Die Entſcheidung
liegt vielmehr im tiefften Inneren, im Bewußtfein des
Rönnens, das aber getragen ift von ber Em:
pfindung des Gollens. Das erftere mag aus mir
ſelbſt kommen, das andere aber fommt aus einem anderen
Urfprung, aus jenem Urgrund, in meldjem bie Schickſale der
Menſchen von Gottes Hand befehloffen find und durch bie ent-
giltige freie Entſchließung des Einzelnen entfiegelt werben.
Damit [εἰπέ e8 wun faft, daß unfere Erörterung
auf ein nur febr allgemeines und unbeftimmtes Ergeb:
wif binausführe. Aber nicht allgemein und unbeftimmt,
fondern mur tief und geheimnißvoll wird uns bei diefer
40 Linfenmann, Schriftftellertfum und literariſche Kritik.
fBetradjtung der Beruf des Schriftſtellers. Er unter:
ſcheidet fid) in feiner Manifeftation von anderen Berufs:
arten und entzieht fid) ben vulgären Kriterien über Stan-
deswahl, und daher wird es hier ſchwerer als in anderen
Dingen, zu einer vollen Tlebergeugung vom inneren Bes
fuf zu gelangen; Täufchungen find vieleicht häufiger.
Die Ufurpation, vermittelft deren Einer fid) unberufen
eindrängt, ift ebenfowenig ein Beweis für bie Entbebr:
lichkeit eines Berufs, als umgekehrt der Mißbrauch ber
Gaben und Kräfte von Seiten eines Dodangelegten
Geiftes ein Beweis gegen bem Beruf ift.
Es würde mum aber unſre ganze Beweisführung
in ber Luft hängen, wenn wir nicht aud im Stande
mären, beftimmte Kennzeichen be8 Berufs zur ſchriſt⸗
ſtelleriſchen Thätigkeit aufguftellen; und hierin dürfte
wohl bie größte Schwierigkeit liegen. Wir ermiebern
hierauf: Nach denjenigen Seiten hin, melde ber Schrift:
ftellezberuf mit andern hohen und edlen Berufgarten
gemein bat, hat er mit biefer aud) die Kriterien des
Beruf3 gemein. So wie er fid) aber von ihnen duch
feinen befonderen Goarafter unterfcheidet, muß es für
ihn aud) befondere Kriterien geben; und fie zu ermitteln
wird die Aufgabe eines eigenen Abſchnittes fein.
Es wird ja thatſächlich oft genug über Beruf oder
Nichtberuf eines Schriftftellers abgefprodjem. Was wir
in diefer unjerer Abhandlung im Allgemeinen nadgu-
weiſen fuchten, das fpridt bie literariſche Kritik in ihren
Einzelurtheilen aus. Ob fie ein 9tedt dazu hat und
ob bie Kritik felbft vor der Kritik beftehen fónne, das
fol Gegenftand der folgenden Unterfuchung werden.
(Bortfegung folgt.)
2.
Die Katechumenatsclaſſen des chriſtlichen Alterthums.
Bon Prof. Dr. funt.
(8 ift bie vorherfchende Anficht der Kirchenhiſtoriker,
Archäologen und Liturgifer, daß e8 in der zweiten
Hälfte des chriſtlichen Alterthums oder im vierten unb
den folgenden Jahrhunderten drei Glaffem von Katechu—
menen gegeben und daß bie Mitglieder ber einzelnen
Glaffen die Namen 1. ἀκροώμενοι, audientes, 2. γόνυ κλέ-
vovzeg, genuflectentes, 3. φωτιζόμενοι, competentes oder
electi geführt haben. Ich vermeife mur auf Ducange '),
Augufti ?), Neander 5), Höfling 2), Hefele *), Zezſchwitz *).
1) Glossarium s. v. Catechumeni.
2) Denkwürdigkeiten aus ber chriftl. Archäol. VII (1825), 54.
3) f. G. 3. A. 1,587 f.
4) Das Sacrament ber Taufe I (1846), 153.
5) Conciliengeſchichte 1. X. I (1855), 402.
6) Der Katechumenat 1863 €. 108 ff. Herzogs Real-Enchklo-
pübie 2.9. VIL (1880), 576 f. Mit Ruͤcſicht auf Kanon 95 des
Quinisextum, bezw. fanon 7 der Synode v. Gonftantinopel 881
werben durch 3. ben beiben erften Glafjen außer ben Namen dxgow-
μενοι und γόνυ χλίνοντες Gud) mod) die Namen χριστιανοί und
χατηχούμενοι beigelegt. Mit welchem Recht, werben wir [püter
42 gunt,
Bona ') nimmt fogar vier Glaffem an, indem er aus
den zur Bezeichnung ber dritten Claſſe üblichen verjdjie-
denen Namen zwei Claſſen macht. Ebenfo kennt Bingham?)
vier Glafen, indem er den gewöhnlichen drei Glaffen
die ἐξωθούμενοι als vierte oder niebrigfte Claſſe voraus:
gehen läßt, und er ftügt fid) für biefe Eintheilung auf
die Verordnung der Synode von Neocäfarea c. D, ber
fatedjumene folle, menn er wiederholt fünbige, fchließ-
Tid) ausgeftoßen werden (ἐξωϑείσϑω), indem er annimmt,
bie bezüglihen fatedjumenen feien nicht ganz zu ben
Heiden verftoBen, fondern nur in den Stand zurüdver:
jet worden, in bem fie vorher waren, als fie durch
bie erfte Handauflegung Katechumenen gemorben feien,
in den Stand des Privatunterrihtes, in bem fie fid)
befunden haben, bevor fie bie Erlaubniß erhielten, bie
fitde zu betreten.
Die Annahme von vier Claſſen ift aber entſchieden
unrichtig. Das ἐξωθείσϑω im Kanon 5 von Neocäfarea
bat nit die Bedeutung, bie ihm Bingham gab. Das
Wort ift im Sinne der Ercommunication oder eines
gänzlihen Ausſchluſſes aus ber kirchlichen Gemeinschaft
zu verftehen, und die ἐξωθούμενοι find beBmegen un
möglich als eine befondere Glafje der Katechumenen zu
faffen. Ebenfo grumblo8 ift die Anfiht Bona's. Sie
beruht auf einer Verwechslung gmijden Glafen und
Namen. Die Viertheilung des Katechumenats ift bef-
ſehen. — Den- angeführten Gelehrten könnte aud) Martone beigefügt
werben, jofern aud) er (De antiquis eccles. ritibus. Rotomagi
1700. I, 29) drei Glaffen annimmt. Rur fat er bie 9teifenfolge,
bezw. Namen: 1. audientes, 2. electi, 3. competentes.
1) Rerum liturg. lib. 1 c. 16 n. 4.
2) Orig. eccles, X o. 2 82.
Die Katechumenatsclaſſen des chriſtl. Alterthums. 43
halb in der Gegenwart, fo viel id) fehe, allgemein aufs
gegeben.
Indeſſen blieb aud) bie Dreitheilung nicht unbe—
fritten. Einige Theologen glaubten nur zwei Glaffen
annehmen zu follen, die catechumeni im engeren Sinne,
aud) audientes genannt, und bie competentes oder electi,
und fie legen bementipredjenb bem Worte catechumeni
eine doppelte SBebeutung bei, eine engere und eine mei
tere, fofern es eimerjeit8 bie Katechumenen ber erften
Glafje und anbererjeit8 die Katechumenen überhaupt und
mit Einfluß ber competentes begeidjnen joll?). In
der neueren Zeit trat mamentlid) Mayer?) für bieje
Anfiht ein, und feine Beweisführung ift mad) ihrer
negativen Seite im ganzen überzeugend. Nach feiner
Darlegung fonnte jo viel als ficher gelten, daß bie
Dreitheilung auf febr ſchwachen Füßen ruht und daß
bie weitaus größere Wahrſcheinlichkeit für das Borhan-
denfein mur zweier Katechumenatsclaſſen ſpricht. Alle
Schwierigkeiten wurden aber aud) burd) ihn mod) nicht
gelöst, und fo begreift e3 fid), daß ber Thefis, bie er
vertrat, bie verdiente Zuftimmung nicht zu Theil wurde.
Hefele °) ſchenkte zwar der Erklärung Beifall, die er
von den einschlägigen Verordnungen der Synoden von
Steocájatea c. 5 und 9ticáa c. 14 gab. Ganz vermochte
inbefjen aud) er von der früheren Anſchauung fid) nod)
nicht Loszufagen, wie er mamentlid) durch bie Bemer-
Tung zu verftehen gibt, zur eit bea Nicänums babe es
10d nicht mehrere Stufen des Katechumenats gegeben.
1) 81. Wei, Altkirchliche Pädagogit 1869 ©. 100.
2) Geſchichte des Antechumenatd 1866 €. 47-66.
3) Gonc.Gejdj. 2. 9. I (1878), 246. 418.
44 gunt,
Andere, wie Brüd!), Hergenröther ?), und Kraus ®) be-
barrten völlig bei der früheren Anficht.
Die Frage verdient daher aufs neue unterfucht zu
werden, und indem ich biele Aufgabe übernehme, unter:
ziehe id) vor allem bie Dreitheilung einer erneuten
Prüfung. Diejelbe gründet fid) im mefentlihen auf
Kanon 5 der Synode von Neocäfarea, bie zwiſchen
der Synode von Ancyra 314 und ber Synode von
Sticáa 325 abgehalten wurde *), unb in diefem Kanon
Tommt insbeſondere allein in der gefammten altchriſtlichen
Kiteratur der Ausdrud γόνυ κλίνων zur Bezeichnung
eines kirchlichen Standes vor. Was fonft eta noch
zum Beweife für fie berbeigezogen werden Tann, hat
mur dann eine Bedeutung, wenn bie Dreitheilung wirt:
lid) auf jenen Kanon geftügt werden Tann. Die Unter:
fudung hat deßhalb mit biefem zu beginnen.
Der Kanon lautet 5): Κατηχούμενος ἐὰν εἰσερχό-
μενος εἷς τὸ κυριακὸν ἐν τῇ τῶν κατηχουμένων τάξει
Grp, οὗτος δὲ φανῇ ἁμαρτάνων, ἐὰν μὲν γόνυ κλένων,
ἀχροάσϑω μηκέτι ἁμαρτάνων" ἐὰν δὲ καὶ ἀκροώμενος
ἔτι ἁμαρτάνῃ, ἐξωθείσϑω. Er befaßt fi), wie fein
Wortlaut zeigt, mit der Beftimmung der Buße der fün-
digenden fatedumenen. Darüber befteht Fein Zmeifel.
1) 8.0. 2. 2. &. 101.
2) 8:6. 2. U. 1, 175. ᾿
8) 8.6. 2.9. €. 106. Proteſtantiſcherſeits kann al8 neuefter
Vertreter ber Dreitheilung angeführt werden Herzog, R.G. I
(1876), 210 Anm. 1.
4) Daß fid die drei Claſſen in ben apoft. Gonftitutionen finden,
wie Krand (RG. 2. A. ©. 106), freilich ohne nähere Bezeich-
nung ber Stelle, behauptet, ift durchaus unrichtig.
5) Ich gebe ben Text nadj Routh, Reliquiae sacrae ed. II
t. IV p. 182. gl. die textkritifchen Bemerkungen p. 191.
Die Katechumenatsclafſen bes chriſtl. Alterthums. 45
Die Frage ift nur die, wie bie fündigenden fatedumenen
beftraft wurden. Näherhin fragt fij, wie bie γόνυ
χλίνοντες und ἀκροώμενοι, in deren Reihe fie erfcheinen,
bezw. zur Strafe verjegt werden, zu fallen find, ob als
Stufen be8 Katehumenates oder als Büßerclaſſen. Erftere
Deutung ift die gewöhnliche, und ihr zufolge wäre der
Sinn des Kanons: Wenn ein fatedumene, bet bie
Kirche bereits betreten hat und in ber Neihe ber Ka—
tedyumenen fteht, fid) als Sünder zeigt, jo fol er, wenn
et unter bem fatedumenen in der Clafje der Knieenden
war, in bie Claſſe ber Hörenden verjegt werden und
hier verbleiben, fall8 er nicht mehr fündigt; fündigt er
aber aud) als Qürenber wieder, fo foll er ganz aus:
geftoßen erben.
Die Deutung ift alt. Sie findet fid [dou bei
ben. griechifchen Ranoniften des zwölften Jahrhunderts,
bei Balfamon, Zonaras und Ariftenus. Der Hauptſatz
des Gommentarà, ben ber erftere zu unferem Kanon gibt,
möge bier angeführt werben. Er lautet: Δύο τάξεις
τῶν κατηχουμένων εἰσὶν" οἱ μὲν γὰρ ἄρτι προσέρχονται
καὶ ὡς ἀτελέστεροι μετὰ τὴν ἀχρόασιν τῶν γραφῶν καὶ
τῶν ϑείων εὐαγγελίων εὐϑὺς ἐξίασιν᾽ οἱ δὲ ἤδη προσῆλθον
καὶ γεγόνασι τελεώτεροι, ὅϑεν καὶ τὴν ἐπὶ τοῖς κατη-
χουμένοις εὐχὴν ἀναμένοντες τὸ γόνυ κλίνουσιν ἐν ταύτῃ"
ὅταν δὲ ἐκφωνηθῇ τὸ Οἱ κατηχούμενοι προέλϑετε, τότε
ἐξέρχονται καὶ οὗτοι. Aehnlich [autem die Erklärungen
ber beiden anderen. Nur gibt Zonaras mit den Worten:
δύο τάξεις ἦσαν τῶν κατ. τὸ παλαιόν, ausdrüdlic zu
verftehen, was freilich fonft Dinlánglid) befannt ift, daß
die Ordnung, von ber die Rede ift, zu feiner Zeit nicht
mehr beftand, und bezeichnet er die Katechumenen ber
46 gunt,
höheren Glafje, bie seAedrepon, πιστοὶ ὄνεες. Ariftenus
fügt bei, bie Vollfommeneren feien mit ben Worten:
Οἱ κατηχούμενοι τὰς xegalog ὑμῶν τῷ κυρίῳ κλίνατε,
beim Gottesdienft zum Niederknieen aufgefordert morben.
Die γόνυ κλίνοντες und axpowueros werden aljo als
fatedjumenen gefaßt und zu einander in das Verhältniß
von τελδώτεροι und ἀτελέστεροι gelebt. Was aber bie
Zahl ber Katehumenatsclaffen anlangt, jo kennen bie
Kanoniften offenbar nur zwei, und man?) hat mit Un-
recht behauptet, fie weichen nicht von denen ab, melde
mit Hinzurehnung ber φωτιζόμενοε oder βαπειζόμενοι
drei Stufen be8 Katechumenats zählen, indem fie bie
eigentlichen Taufcandidaten nur aufer Betracht gelafjen
hätten, weil fie nicht mehr zu den Katechumenen im
engeren Sinne gehörten und weil aud) ber commentirte
Kanon ihrer nicht erwähne. Denn fie jagen ganz allge:
mein, baf e8 zwei Glaffen gebe, bezw. im Alterthum
gegeben babe, und wenn uns je nod) der Ausbrud ſelbſt
im Zweifel laſſen Könnte, fo gibt dagegen die Stellung
der Worte volle Klarheit. Die Worte gehen ber eigent-
lichen Grflárung des Kanons voran; fie find demgemäß
für fid zu faffen und ihre Bedeutung darf nicht durch
eine Rüdfihtnahme auf den Kanon abgeſchwächt werben,
wenn e3 aud) andererfeit3 als ficher gelten darf, baf
ihr Inhalt aus bem Kanon gefchöpft ift, m. a. W. daß
die Kanoniften für ihre Behauptung feinen anderen
Grund hatten als legteren. Suicer ?) und Augufti ^)
1) Höfling, ba8 Sacrament der Taufe I, 153.
2) Thesaurus 8, v. χατηχέω lit. A.
8) Dentwürbigfeiten XI (1830), 49. Gr änderte bemgemäß
feine Anficht im Laufe ber Zeit. Dal. oben ©. 41.
Die Katechumenatsclaſſen des chriſtl. Alterthums. 47
laſſen ſie ganz richtig nur zwei Katechumenatsclaſſen
annehmen. Nur irrte letzterer, wenn er meinte, die
Katechumenen der beiden Claffen ſeien areAdorepoı unb
und τελθώτεροι genannt worden, ba diefe Ausbrüde von
den ftanoniften offenbar nicht zur Bezeichnung, fondern
jut Befchreibung der beiden Stufen gebraudjt wurben.
Und beide irrten mit vielen Anderen, die in diefer Be—
ziehung mit ihnen übereinftimmen, in der Annahme, bie
Ausfage der angeführten Kanoniften habe in der vor-
liegenden Frage für uns eine höhere Bedeutung. Denn
bie fanoniften ftügen fid) für ihre Behauptung offenbar
mur auf den Kanon 5 von Neocäfarea und die Erklärung,
bie fie von diefer geben, darf um fo eher einer ernft-
lien Prüfung unterzogen werden, al8 ihre Kenntniß
von bem ftatedumenat nachweisbar eine febr ungenügende * }
ift. Ihr Verfahren beruht ja überhaupt auf einer
falſchen Vorausfegung. Sie faffen bie in unferem Kanon
erwähnten γόνυ xAlvovres und ἀκροώμενοι ohne weiteres
al3 fatedumenen, während unter benjelben zum min:
deften ebenfo leicht Büßer verftanben werben fónnen, und
in diefem Fehler befinden fid) mit ihnen zumeift aud)
die Vertreter der Dreitheilung des Katechumenats, indem
fie in jenem Kanon, ohne ihn genauer zu prüfen, Kate:
chumenatsclaſſen finden. Das Verfahren ift offenbar
unzuläffig, und [don der Umftand hätte ernfle Bedenken
gegen bafjelbe erregen follen, daß bie Namen ἀχροώμενοι
und γόνυ κλίνοντες, audientes und genuflectentes, mit
denen nad) ber fraglichen Deutung be8 Kanons von
Neocäſarea feit bem vierten Jahrhundert zwei Glafjeu
von fatedumenen belegt worden fein follen, in dieſem
Sinne außer jenem Kanon nirgends mehr in ber
48 gunt,
Literatur des Alterthums vorkommen (ber audiens ber
Sateiner ift, wie wir fpäter ſehen merben, identiſch
mit catechumenus und bezeichnet alfo den Katechumenat
überhaupt, nicht eine beftimmte Glaffe in bemjelben) ;
denn bieje Thatſache füllt bei bem verhältnißmäßigen
Reichthum an Nachrichten, bie wir über den fatedu-
menat haben, in unferer Frage nicht unbedeutend ins
Gewicht. Judeſſen fol dieſes Moment nicht einmal be:
fonder3 betont werden. Der Kanon felbft verbietet unà
bei unbefangener Betrachtung eine derartige Auffafjung.
Die Synode mil, wie toit gefehen haben, das
Bußweſen der Katehumenen vegeln. Der fraglide Ka—
non ift daher ein Bußfanon, und unter biejen Um-
ftänden ift e8 an fid) wahrſcheinlich, daß bie Stationen,
in die nad ihm die Katechumenen zur Strafe verwieſen
werden, Bußftationen find. Die Analogie bet
übrigen Bußkanones [prit ebenfo für bieje Auffaffung
wie die Natur der Sache. Denn einerjeit3 konnte man
den Fehltritt der Katehumenen — wahrſcheinlich handelt
e fid) um Fleiſchesſünden — bod) nicht ungerügt lajfen.
Auf der anderen Seite aber wäre e8 zu Dort und in
Anbetracht der Behandlung, die man in ähnlichen Fällen
ben Gläubigen angebeihen ließ, ungerecht geweſen, hätte
man fie jofort günglid) aus dem Verband mit ber Kirche
ausgeftoßen. Man fonnte aljo nichts Angemefleneres
thun, als fie analog den Gläubigen behandeln und in
die Reihe ber Büßer ftelen. Unter dem Ausdrud
ἀχροώμενος — von bem γόνυ κλένων [ei vorerſt nod)
abgefehen — ift daher offenbar ba8 aud) bier zu vet.
ftehen, was fonft mit ihm bezeichnet wird, und menu
über feine Bedeutung je nod) ein Zweifel beftehen Tönnte,
Die Ratejumenatdclaffen beB deiftl, Alterthums. 49
jo müßte er im Hinblid auf den Kanon 14 von Nicäa
ſchwinden. Diefer Kanon, ein Gegenftüd zu dem Kanon b
von Steocüjarea, lautet: Περὶ τῶν κατηχουμένων καὶ
παραπεσόντων ἔδοξε τῇ ἁγίᾳ καὶ μεγάλῃ συνόδῳ, ὥστε
τριῶν ἐτῶν αὐτοὺς ἀκροωμένους μόνον μετὰ ταῦτα sU-
χεσϑαι μετὰ τῶν κατηχουμένων. Die ἀκροώμενοι werben
bier in einen derartigen Gegenfag zu ben κατηχούμενοι.
geftellt, daß fie nicht leicht als ein Theil von dieſen
zu fafen find; denn ihr Antheil am Gottesdienft be:
idrünft fid auf das Hören, mährend diefe aud am
Gebete Theil haben. Zu ben beveit8 angeführten Mo-
menten, weldhe bei Ermittlung des Sinnes be8 Wortes
ἀκροώμενος in Betracht Tommen, bem Sprachgebraud
und der allgemeinen Tendenz be8 Kanons, gefellt fi
bier fomit nod) ein weiteres, bie beftimmtere Faflung
oder der Gontert be8 Kanons, und für bie Hörenden
der Synode von Nicäa gibt e8 ſchlechterdings nur eine
Deutung: fie find Büßer. Wenn bem aber fo ift, fo
ift aud) bie Frage entſchieden, wie ber ἀκροώμενος ber
Synode von Neocäfarea zu faflen ift. Nach ber Ana-
logie des Kanons 14 von Nicäa und aus den anderen
nambaft gemachten Gründen Tann unter bem Ausdruck
mut eine Büßerclaffe verftanden werben.
Indem τοῖς nad) Feftftellung des Sinnes des Aus-
druckes ἀκροώμενος zu dem Ausdrud γόνυ κλένων über-
geben, ijt vor allem zu bemerken, baf, fo weit mir nad)
der mir zu Gebote ftehenden Literatur ein Uxtheil mög-
τῷ ift, bezüglich feiner Deutung bie Vertreter der Zwei—
theilung des Katechumenates in ber Hauptſache mit ben
Berfechtern der Dreitheilung übereinftimmen, indem beide
heile die γόνυ κλίνοντες für Katechumenen halten, wenn
Sys. Onariafjggeift. 1889. Heft I. 4
50 gunt,
aud) bie einen diefelben näherhin mit ben Katechumenen
überhaupt identificiren, während bie anderen in ihnen
wur eine beftimmte Glafje der Katechumenen erbliden.
Letztere Auffaſſung ift hinlänglich befannt. Bezüglich
der erſteren mögen aber einige Stimmen gehört werden.
Martone z. B., der, wie wir geſehen haben, zwar drei
Claſſen zählt, aber injofern bod) auf dem Standpunkte
ber Bmeitheilung ftebt, als feine beiden höheren Glaffen
in Wirklichkeit nur eine bilden, bemerft: Genuflectentes
. erant catechumeni simpliciter dicti, qui in paenam
commissi alicuius peccati verbum Dei genuflexi audire
cogebantur !), und nad) feiner Auffaffung hätten näher⸗
bin bie in ber Strafclaffe befindlihen Katehumenen und
zwar beim Anhören des Wortes Gottes Inieen müſſen.
Mayer ?) läßt bie Katechumenen nicht bei der biblifcyen
Leſung und bei der Predigt, fondern beſſer beim Gebete
Inieen. Im übrigen find biefelben aber au ibm mit
den γόνυ κλένοντες identiſch und fie jollen biefen Namen
fogar ,befanntlid)" geführt haben. Beizufügen ift nur
mod, daß er von bem Momente ber Strafe abfieht und
demgemäß die fmiebeugenben mit den Katechumenen
ſchlechthin und nicht bloß ben ftraffälligen identificirt.
Die Anſicht verdient jebenfallà, wenn fie glei felbft
ſchwerlich richtig ift, vor der anderen den Vorzug, und
1) De antiquis eccles. ritibus I (1700), 30. Aehnlich laßt
auch Pfeuboifivor bie fafedumenen beim Anhören beB Sortes
Gottes Inieen, indem er unferen Kanon folgendermaßen überfjegt:
Catechumenus, i. e. audiens, qui ingreditur ecclesiam et stat
cum catechumenis, si peccare faerit visus, figens genua audiat
verbum, (ut) se abstineat ab illo peccato, quod fecit; quodsi
in eo perdurat, abici omnino debet. Cf. Harduin I, 284.
2) Geſch. beà Katechumenates. ©. 66.
Die flatedjumenataclaffen des chriftl. Alterthums. 51
fie wurde aud) bom Qefele !) aboptirt, indem er bei ber
Ueberfegung des ἐὰν μὲν γόνυ xMvow zur Erklärung des
Ausdrudes beifügt: Bezeichnung der fatedjumenen, weil
fie nad) der Homilie, während ber Diakon über fie betete,
tnieten. Als die erften aber, bie bie Anficht aufftellten,
lafen fid) bie oben angeführten griechiſchen Kanoniften
betrachten, indem fie bie Katechumenen ber oberen Claſſe
bei dem Gebete, das ihrer Entlaffung voranging, bie
Kniee beugen [affen. Allerdings führen fie den Namen
γόνυ κλένοντες noch nicht auf diefen Umftand zurüd.
Ihr Schweigen hat aber in diefer Beziehung nicht? zu
bedeuten. Die Gonjequeng ergab fid) bei der Auffaffung
ber Kniebeugenden αἵδ᾽ fatedjumenen von felbft, fobald
man nur einmal eine Erflärung be8 Namens verfuchte.
Allein bie Auffaffung felbft unterliegt den größten
Bedenken. Bor allem möge hervorgehoben werden, daß
der Grund, auf ben fid jene Namenzableitung ftügt,
fehr zweifelhafter Natur if. Die fatedumenen follen
γόνυ κλένοντες genannt worden fein, weil fie beim Ge-
bete vor ber Entlafjung aus bem Gottesbienft knieten,
und fie follen allein diefen Namen erhalten haben, während
bod) bie Energumenen und die Büßer bei bem gleihen
Gebete die gleiche Haltung beobadteten! Das ift ge-
toi nicht wahrſcheinlich unb bie Auffaffung ijt um fo
eher abzulehnen, als fid) der Ausdrud γόνυ κλένων in
ber alten Literatur, von unferem Kanon abgefehen, zur
Bezeihnung eines kirchlichen Standes nirgends findet.
Mayer läßt die fatedjumenen zwar , bekanntlich“ diefen
Namen führen. Er unterließ e8 aber, Belegſtellen für
1) Conc⸗Geſch. 2. 9f. 1, 246.
4 *
52 gunt,
den Sprachgebraud zu fammeln, und wenn er e3 je
verfucht hätte, fo würde er alsbald die Unmöglichkeit
der Aufgabe eingefehen haben.
Indeſſen möge jene Schwierigkeit nicht weiter betont
werben. Aber aud) der Kanon jelbft erlaubt nit, in
den γόνυ κλένοντες ftatedjumenen zu erbliden. Denn
bei biejer Auffaffung τοῦτος mit bem ἐὰν μὲν γόνυ
κλίνων daB κατηχούμενος ἐὰν εἰσερχόμενος elg τὸ κυρε-
αχὸν ἐν τῇ τῶν κατηχουμένων τάξει στήκῃ und zwar
mit anderen Worten wieder aufgenommen. Man braucht
den Kanon mur unbefangen ins Auge zu faffem, um jo-
fort die ganze Härte und Unerträglichkeit biejer Eon-
firuction zu erkennen. — Zwiſchen bem κατηχούμενος ---
στήκῃ und bem ἐὰν μὲν γόνυ κλίνων fteben mur bie
Worte οὗτος δὲ φανῇ ἁμαρτάνων, und bei biejem kleinen
Zwiſchenglied follte eine Wiederholung des κατηχούμενος
u. f. m. anzunehmen fein, und bieB, obwohl das κατη-
χούμενος mit allem Stadjbrud am bie Spige be8 Kanons
geftellt unb in den nachfolgenden Worten nod) beſonders
hervorgehoben ift, baB es fid) um eine in den ftatedju-
menat wirklich aufgenommene und in ber Reihe der fta-
tehumenen ftehende Perfon handelt? Das wäre eine
Tautologie, wie wohl in ber gefammten Literatur feine
zweite zu finden ift. Die Deutung ift daher unbedingt
abzulehnen. Sie ift ganz unerträglich, und da fie gleich
wohl bie einzige ift, welche bie Vertreter ber Zweitheilung
bes Katechumenats bisher zu geben mußten, jo begreift
e8 fid, wenn eher die ganze Auſchauung abgelehnt als
jene Erflärung angenommen twurbe.
Die Erklärung ift aber nicht die einzig mögliche,
Sie ijt nit einmal bie zunächft liegende. Es gibt nod)
Die Katechumenatsclafſen be chriſtl. Alterthums. 53
eine andere, bie näher liegt, umb es ift mur zu ver=
wundern, daß bis jegt mod) niemand auf fie gefommen
if. Wenn mir auf den Kanon gurüdbliden, jo machen
wir die Wahrnehmung, daß der γόνυ κλίνων und ber
ἀκροώμενος correipondirende Glieder find. Das dar
μέν und das ἐὰν δέ laffen darüber feinem Zweifel auf-
tommen. Daraus folgt, daß beide Ausdrücke Glafjen
derfelben Art bezeichnen, und da fidj uns der ἀκροώμενος
zweifellos als Büßer batgeftellt hat, fo ergibt fid) weiter⸗
bin, daß aud der γόνυ κλένων als folder zu faflen ijt.
Der Sinn des Kanons ift demgemäß folgender: Wenn
ein Katechumene fid als Sünder zeigt, fol er, wenn er
wegen einer Sünde bereit3 unter bie γόνυ xAlvorzeg ge
ſtellt ift, unter die ἀκροώμενοι verjegt werden; Vünbigt
er aber aud) a[8 ἀκροώμενος toieber, jo ift er gänzlich
auszuſchließen; m. a. W.: der fündigende fatedjumene
iR im erften δα unter bie γόνυ xAlvovses und im
zweiten unter bie ἀκροώμενοι zu verfegen, im britten
if er gänzlich auszuftoßen. Die Deutung unterliegt
wur einer geringen Schwierigkeit. Die Synode [egt
mad) ihr die Verweifung des fündigenden fatedumenen
in die Gíaffe der γόνυ xAlvovseg mehr voraus, als fie
von ihr redet. Alein bie Schwierigkeit ift verſchwindend
Hein gegenüber denjenigen, mit denen alle anderen Deu:
tungen zu kämpfen haben, und fie vebucirt fid) im weſent⸗
lichen auf bie VBebeutung einer prägnanten Ausdrucks⸗
weiſe. Ueberdieß zeigt eine genauere Betrachtung ber
BWortformen, daß fie nicht einmal fo groß ift, als fie
auf den erften Anblid fcheinen fóunte. Die Synode
fagt zuerſt φανῇ ἁμαρτάνων, fpäter ἁμαρτάνῃ. Ser
Wechſel in ber Form ift nicht bebeutungslos. Das
54 Sunt,
zweite Mal hat fie ed mut mit einem Fall zu tun
und bafer ba8 Verbum finitum. Das erfte Mal bat
fie einen doppelten ober zwei Fälle vor Augen, einmal
bie Sünde, bie bie Verweifung unter bie Kniebeugenden
zur Folge hatte, und fobann bie Sünde, auf Grund
deren bie Verfegung unter bie Hörer erfolgen foll, und
das Participium ift deßwegen bier ebenfo treffend an-
gebracht αἵδ᾽ dort bie beflimmte Zeitform.
Die γόνυ κλίνοντος der Synode von Neochfaren
find alfo glei bem ἀκροώμενοι Büßer, nicht fatedu-
menen, und zwar find fie offenbar ibentijj mit der
Glaffe von Büßern, bie jonft ὑποπέπεοντες heißen. So:
mohl die Verwandtſchaft ber Namen als ber Umftand,
daß beide Büßerclaflen eine Stufe höher ftehen al8 bie
ἀχροώμενοι, weist barauf hin, und der Schluß liegt fo
nahe, daß er aud) fchon früher gezogen toutbe, als über
die Bebeutung be8 Kanons 5 von Neocäfarea eine
falſche Anficht herrſchte. Wir finden ihn 3. ®. bei Höf-
ling?) und Zezſchwitz), menn fie bie γόνυ κλένοντες
als angeblihe Katechumenatsclafie aud) ben Namen
ὑποπίσπτοντες führen laſſen, fotoie bei Neander 5), menn
er umgekehrt bem ὑποπέπεοντες al8 ber dritten Glafje
ber Büßer den weiteren Namen γόνυ κλένοντες beilegt.
Nur beruht der Schluß hier auf ber unrichtigen Boraus-
fepung, das Wort γόνυ κλίνων habe in erfter Linie oder
iogar ausſchließlich eine Katechumenatsclaffe, nicht aber
eine Bußftation bezeichnet.
Erweist fid hienach die Hauptftüge für die Drei-
1) Das Sacrament ber Taufe I, 150.
2) Der flatedjumenat ©. 122 f.
8) 840. 8. X. I, 588.
Die Katechumenatsclafſen des chriſtl. Alterthums. 55
theilung be8 fatedjumenate8 als burdjaus hinfällig, fo
if diefer Theorie felbft ber Boden entzogen. Denn ber
Kanon 7 der Synode von Gonftantinopel 381, bezw.
Kanon 95 ber Quinisexta, in dem er erneuert wurde,
laun mur unter der Vorausfegung in Frage fommen,
daß bie Theorie zuvor jdon einen feften Boden hat.
€x regelt das Verfahren mit ben fid) befehrenden Qüres
tifern und verordnet bezüglich der Eunomianer und einiger
anderen Seftirer, daß fie jo wie die Heiden aufzunehmen
und bemgemüf am erften Tage zu Chriften, am zweiten
zu Ratehumenen zu maden, am dritten zu erorcificen
und endlich nad) der erforderlichen längeren Unterweifung
zu taufen feien. Der Wortlaut be8 in Betracht fom
menden Theile ift: Kal τὴν πρώτην ἡμέραν ποιοῦμεν
αὐτοὺς Χριστιανούς, τὴν δὲ δευτέραν κατηχουμένους,
εἶτα τὴν τρίτην ἐξορκέζομεν αὐτοὺς μετὰ τοῦ ἐμφυσᾶν
τρίτον εἰς τὸ πρόσωπον καὶ εἰς τὰ ὦτα αὐτῶν" καὶ
οὕτως κατηχοῦμεν αὐτοὺς καὶ ποιοῦμεν αὐτοὺς χρονίζειν
εἰς τὴν ἐκκλησίαν καὶ ἀχροᾶσϑαι τῶν γραφῶν, xal Tore
αὐτοὺς βαπτίζομεν. Zezſchwitz ) will in ihm bie drei
Ratechumenatsclaffen wieder finden, indem er meint,
unter den Chriften feien die Hörenden, unter den fate:
chumenen die Kniebeugenden, unter den Eroreifirten bie
φωτιζόμενοι zu verftehen. Allein offenbar mit Unrecht.
Die Stelle befagt nur, daß die Aufnahme in den fate:
chumenat in einem dreitägigen Ritus erfolgte, und daß
es fid) fo verhält, zeigt namentlich das καὶ οὕτως κατη-
χοῦμεν αὐτοὺς, indem e8 far anbeutet, daß ba8 im
Borausgehenden Bemerkte nur bie Bedeutung eines Wuf-
1) Der Katechumenat S. 116.
56 gunt,
mabmeceremtoniel8 Dat. Indeſſen beruht diefe Erkennt:
miB nicht bloß auf jenen Worten. Es geht aud) aus
anderen Gründen nicht an, in jener Stelle eine Drei-
theilung des Katechumenates finden zu wollen. Denn
fonft müßten wir annehmen, bie fatedumenen feien
ſchon nad) zwei Tagen in den Stand ber φωειζόμενοι
vorgerüdt, unb menu man biefe8 mit Zezſchwitz je bef-
wegen für wahrſcheinlich halten wollte, weil die Häre-
tifer durch ihr früheres Verhältniß zur göttlichen Wahrheit
als befjer vorbereitet erſcheinen konnten als gewöhnliche
Heibenprofelyten, obwohl es nad) der ausbrüdliden Be⸗
merkung, bie Aufnahme erfolge hier wie bei den Heiden,
nichts weniger als wahrſcheinlich ift, fo erhebt fid) eine
weitere Schwierigkeit. Wie die Schlußworte de Kanous
zeigen, dauert der fatedumenat ja thatſächlich Läugere
Bit, und bie Katehumenen würben alfo faft bie ganze
Bit der Vorbereitung in ber Glafje der φωτιζόμενοι,
dagegen in ber Glaffe oder, wenn man will, in ben
Glaffen, in welchen nad) ber Regel der Aufenthalt am
längften währte, nur zwei Tage zugebracht haben. Läßt
fid) eine olde Verkehrung der gewöhnlichen Drbmung
annehmen? Endlich fommen noch ſprachliche Bedenken.
Sft e8 glaublich, daß man bie Mitglieder ber erften
Katechumenatsclaſſe Chriften nannte? Ich denke nicht.
Wohl fann man fid) vorftellen, daß bie Katehumenen
im ganzen unb allgemeinen Chriften genannt wurden,
ba fie, wenn fie auch nod) nicht Chriften im eigentlichen
Sinne waren, immerhin bereit3 in dem Verbande bet
chriſtlichen Kirche ftanden, und jo erflärt fid) ber bezüg-
liche Ausdrud in unferem Kanon. Aehnlich läßt aud)
Die flatedjumenatàclafen des chriſtl. Alterthums. 57
Sulpicius Severus 1) Heiden an Martin von Tours
bie Bitte richten, ut eos faceret Christianos, und
erzählt er die Gewährung ber Bitte mit den Worten:
nec cunctatus . . cunctos imposita universis manu
catechumenos fecit. Daß dagegen einem beftintmten
Theil ber ftatedjumenen ber Name Chriften beigelegt
morden fei, ift gegen alle Wahrſcheinlichkeit. Aehnliche
Bedenken erheben fid) gegen die anderen Worte, nament⸗
lid gegen das ἐξορκίζ εἰν al8 Ausdrud zur Bezeichnung
der φωτιζόμενοι. Ich glaube fie aber nicht weiter ber:
vorheben zu follen, ba ſchon das Bisherige genügt, um
bie fraglidje Auffaflung als völig unbegründet erſcheinen
zu laſſen.
Synbeffen hat nicht bloß Zezſchwitz den Kanon mif.
verftanden. Auch Mayer ?) ift im Unrecht, menn er
meint, bie in Frage ftebenben Qüretifer werden in ihm
nicht als fatedumenen, fondern als Büßer behandelt,
weil ihnen „nur ba8 ἀχροᾶσϑαι τῶν, γραφῶν geftattet
und biefe8 das Charakteriftifum der audientes fei."
Denn das ἀχροᾶσϑαι τῶν γραφῶν ift aud) den Kate
chumenen eigen, und bier ift an bieje ganz fier zu
benfen, ba fie zweimal ganz ausbrüdlid) genannt werben
und anbererjeit8 nirgends gejagt ift, daß es ſich nur
um das Hören der Schrift handle. Die Lateranfynode
487 c. 6 kann nit αἵ Stüße für jene Auffaffung
angeführt werben. Sie verweist allerdings bie fate:
chumenen, bie fid) von Häretifern taufen laffen, auf drei
Jahre unter bie audientes "). Allein bei ihr handelt
1) Dialog. II. c. 6 ed. Halm p. 185.
2) Geſch. be Katechumenates S. 55.
3) Die fanone8 ber Synode find eine Erneuerung ber Vers
58 Sunt,
e8 fif eben um ein ergeben ber Katechumenen,
mährend ber Kanon 7 ber zweiten allgemeinen Synode
e8 mit ber Aufnahme der Häretifer in die Kirche zu
thun bat. Dort wird demgemäß ber Ausdruck audiens
an fi ebenfo mit Recht von den Büßern verftanden,
als bier eine derartige Deutung fehlerhaft wäre.
Wir könnten damit diefe Beweisführung fchließen.
Wir haben mun bie Hauptftügen für die Dreitheilung
des fatedjumenates fennen gelernt, und da fid) biejelben
als durchaus morjd) erwieſen, jo ift nicht zu erwarten,
daß bie Nebenftügen die Theorie zu halten vermögen
werben. Im Intereſſe der Vollftändigkeit follen inbeffen
aud) nod) biefe einer Prüfung unterzogen werden.
Die Mitglieder der vermeintlichen erften Glafje der
Katehumenen heißen ἀκροώμενοι, audientes, und man
glaubte biejen Namen aud) noch außerhalb des ftanons 5
von Neocäfarea zu finden. Für die Mitglieder ber
zweiten Glaffe, bie γόνυ xAlvovses, will man fogar nod)
toeitere Namen femen, bie Namen εὐχόμενοι und συναι-
τοῦντες ). Die Namen, könnte man jagen, find ein
Beweis für das Vorhandenfein ber Sache. Der Schluß
ift unanfehtbar. Aber um ſo ſchwächer ift bie Prämiffe,
da die fraglichen Ausdrücke in der altehriftlichen Literatur
entweder gar nicht vorkommen oder, wenn bieje8 ber
Fall ift, nicht die ihnen zugefchriebene Bedeutung haben.
Was vot allem die Namen εὐχόμενοι und συναι-
τοῦντες anlangt, fo wird fhwerlic jemand im Stande
orbnungen bed Papftes Selig III in Ep. 9 bei Harduin II,
832 sqq.
1) Höfling, ba8 Gacrament bez Taufe L 150. Zezſchwitz,
ber ftatedjumenat ©. 122.
Die Katechumenatsclaſſen des chriſtl. Alterthums. 59
fein, fie bis ins Alterthum zurückzuverfolgen. Sie find,
fo viel ich ſehe, erft jüngeren Urfprunges und fie wurden
von Späteren mit NRüdfiht auf bie befannte faljde
Auffaffung der fniebeugenben und ihre liturgiſche Stel-
Tung gejdbpft. Die Namen find fomit meit entfernt,
bas Borhandenfein der Katechumenatsclaſſe der γόνυ
κλένοντες zu beftätigen. Sie find vielmehr ein Beweis
für bie Wilfür, mit der man in diefer Angelegenheit
zu Werke gegangen ift, indem man für eine Sache, bie
gar nicht eriftirte, eine ganze Reihe von Namen ſchuf.
Mit den Namen ἀκροώμενος und audiens ftebt es
in biefer Beziehung allerdings anders. Diefelben fom:
men in ber altchriftliden Literatur ziemlich häufig vor,
und zwar handelt e fid), was übrigens, ba ἐδ fid) von
felbft verfteht, faum beizuſetzen ift, um Stellen abgefehen
von denjenigen, die ba8 Bußweſen betreffen. Aber fie
bedeuten nicht eine bejondere Katechumenatsclaſſe. Ter-
tulian, um mit den Lateinern zu beginnen, gebraudt
ben Ausdrud audiens in der Schrift De poenit. c. 6
dreimal, begto. viermal, wenn wir bie Form auditores
dazu rechnen. Er fpricht von auditorum tirocinia, von
audientis und audientium intinctio, uud wirft bie Frage
auf: An alius est intinctis Christus, alius audientibus?
Ebenſo bedienen fid) Gpprian und ber Verfaſſer der
Schrift De rebaptismate be8 Wortes, jener, wenn er
(Ep. 18 c. 2 ed. Hartel p. 524) [εἰπεῖ Geiſtlichen bie
Weiſung gibt, den audientes in Lebensgefahr die gótt-
lide Gnade nicht zu verweigern, oder wenn er (Ep. 29
p. 548) von einem doctor audientium ſpricht; biefer,
wenn er bemerkt (c. 14): in verbum audientibus mar-
tyribus impune aquae baptisma deest, oder weun et
60 gunt,
von einem verbum audiens an fidelis (c. 11) oder einem
haereticus vel audiens aut audire incipiens (c. 12)
ſpricht. Aber ber Zufammenhang, namentlich bie Gegen-
überftellung von intinetus und audiens, fowie von au-
diens und fidelis, zeigt mit aller Beftimmtheit, daß die
audientes bei den Lateinern nicht eine Dejonbere Glaffe
von Katehumenen, fondern die Katechumenen überhaupt
find. Zwei Väter bezeugen überdieß mit ausbrüdlichen
Worten, daß bie beiden Ausbrüde fynonyme Bedeutung
hatten. Auguſtin wendet fid) in Serm. 132 c. 1 neben
ben baptizati et fideles an ſolche, qui adhuc catechu-
meni vel audientes vocantur. Sfidor von Sevilla
ſchreibt De eccles. off. Ic. 20: Is, cui per sacerdotem
primum Deus loquitur, eatechumenus i. e. au-
diens nominatur. Der audiens ijt alfo ibentijd) mit
eatechumenus, und baf bie Lateiner den fatedjumenen
«ud) jenen Namen beilegten, tft in ben ſprachlichen
Verhältniffen begründet. Da für fie catechumenus ein
Fremdwort war, fo brauchten fie jenen Ausdrud, Tobald
fie die Sache mit einem eigenen Worte bezeichnen wollten.
Gehen wir zu bet griechiſchen Literatur über, fo
kommt vor allem bie clementinifche Liturgie in Ber
trad, in ber ber Diakon an zwei Stellen ausruft:
ἽΜήτις τῶν ἀκροωμένων. Mlein find damit die ftate-
chumenen oder gar die Ratedumenen einer beftimmten
Claſſe gemeint? Kein umbefangener Kritifer wird das
behaupten. An der einen Stelle (Constit. apost. VIII
c. 5) find unter den ἀκροώμενοι vielmehr ganz ent:
ſchieden diejenigen und alle diejenigen zu verftehen,
die dem bibaftijden Theil des Gottesbienftes unb mur
ihm anmohnen durften, bemgemáf, wie bie nachfolgende
Die Katecjumenatsclaffen be chriſtl. Alterthums. 61
Aufzählung zeigt, ſowohl bie ftatedjumenen al8 aud) bie
Energumenen, Taufcandidaten und fBüper. An ber
weiten Stelle (ib. VIII c. 12) tritt ba8 Verhältniß zwar
nicht jo flar hervor, indem die „Hörenden“ zwiſchen
den fatedjumenen und ben Un: und Jrrgläubigen ge:
nannt werden. Indeſſen Tann aud) biet fein ernftlicher
Zweifel befteben. Es ijt höchſt unwahrſcheinlich, daß
die „Hörenden“ mit ben fatedjumenen ibentijd) fein oder
eine befondere Glafje derfelben bilden jolltem. Denn in
bem einen Fall läge eine leere Tautologie vor; im
anderen würde nach bem Ganzen in überflüffiger Weije
nod) ein Theil befonders erwähnt, und das Eine ift hier
fo wenig al8 das Andere anzunehmen. Auf der anderen
Seite aber gewinnt die Stelle einen guten Sinn, wenn
wir die „Hörenden“ ebenjo deuten wie oben, und bie
Analogie ber erften Stelle nöthigt und geradezu zu
diefer Auffaffung. Der ἀκροώμενος in der Clementini-
{hen Liturgie ift alfo nicht einmal etwa ein verjdiebener
Ausdrud zur Bezeichnung der Katechumenen. Das Wort
begreift zwar die Katechumenen in fid. Aber im ganzen
ift fein Begriff viel weiter.
Aehnlich verhält es fid) mit ben einſchlägigen Stellen
bei den Alerandrinern. Die ἀκροαταί, bie Drigenes
Contra Cels. III c. 51 und In Jerem. hom. V c. 13
(ed. De la Rue I, 481; IIT, 157) erwähnt, find gar
keine Katehumenen und mod) weniger fatedyumenen
einer befonderen Glajje. An ber einen Stelle find fie
vielmehr folde, melde zwar in die Kirche eintreten
wollten, aber in ben firdjidjen Verband, zunächſt in
den fatedjumenat, nod) nicht aufgenommen waren. An
der anderen Stelle find fie Zuhörer eines chriſtlichen
62 Sunt,
Redners überhaupt; ber Ausdrud umfaßt fomit ſowohl
die Gläubigen al3 bie fatedumenen. Die Sade fteht
ſchon nad dem Zuſammenhang aufer Zweifel. An
anderen Orten wird der Begriff der ,Qürenben" über-
dieß mit ausdrüdlichen Worten flat geftellt. In Jerem.
hom. XVIII c. 8 lefen wir: Καὶ τῶν ἀκουόντων
ταῦτα, εἴτε κατηχουμένων καταλιπόντων τὸν ἐϑνεκὸν
βίον, εἴτε πιστῶν ἤδη προκεκοφότων xri, in Num.
hom. ΠῚ c. 1: Haec.... diximus propter nonnullos
eorum, qui ad audiendum nee simplici nec fideli
mente conveniunt; de quibusdam dico catechumenis,
quibus fortasse nonnulli etiam eorum, qui iam bap-
tismum consecuti sunt, sociantur !) Etwas anders
ftebt e8 mit den émafovreg, von benen Clemens v. A.
Strom. VI c. 11 $ 89 p. 785 ſpricht. Das Wort be-
zieht fid) mur auf bie ftatedumenen, von denen am ber
Stelle bie 9tebe ift. Aber für einen Glafjenunterfchied
unter ben fatedjumenen beweist aud) biefe Stelle nichts.
Das Wort ift gleid) bem lateinifhen audiens mur ein
anderer Ausdrud zur Bezeichnung ber fatedjumenen.
Die Worte ἀκροώμενοι und γόνυ xAlvovreg find nad)
bem Angeführten als Namen zur Bezeichnung von Katechu⸗
menaisclaſſen unbedingt zu ftreihen, die Dreitheilung
des fatedjumenate8 demgemäß als unridjtig aufzugeben.
Synbeffen ijt aud) bie Zmweitheilung: κατηχού-
μενοι, φωτιζόμενοι, catechumeni, competentes, nicht
haltbar. Inſofern mag fie zwar behauptet werben, als
die Nichtgetauften überhaupt und fomit aud) die Gom-
petenten im Gegenfag zu den Getauften oder „Gläubi—
1) Bol. Mayer a. a, D. ©. 81.
Die Katechumenatsclaſſen be8 chriſtl. Alterthums. 63
ga“ in einem gewiſſen Sinne als Katechumenen ſich
bezeichnen und demgemäß als eine bejonbere Gale ber
leteten fid) betrachten laſſen. Auf ber anderen Geite
aber unterliegt bie Glalfification erheblichen Schwierig:
keiten. Sie ijt ſchon ſprachlich bedenklich; denn fie fet
voraus, daß das Wort catechumenus bald zur Bezeich⸗
mung aller fatedumenen, bald zur Benennung eines
bloßen Theiles berjelben gebraucht worden fei, eine
Annahme, die gewiß wenig toabridjeinlid ift. Der
Grund ift allerdings für fid nod) nicht enticheidend.
Aber er ſteht aud) nicht allein. Denn es läßt fid) pofi-
tiv nachweiſen, daß das driftlidje Altertbum den frag:
lihen Sprachgebrauch wirklich nicht fannte, indem es
bie Competenten gar nidjt mehr als fatedumenen be-
trachtete. Drei firdjenvüter, bie freilih, fo viel ἰῷ
fehe, bisher gar nicht oder nur febr ungenügend in Bes
itajt gezogen wurden, legen dafür das beftimmtefte
Beuguiß ab.
Der eine ift der hl. Gprill von Jerufalem.
Belanntlih find die Katechefen erhalten, bie derjelbe
vor den Taufcandidaten- in Serufalem gehalten bat.
Ihre Zahl ift, bie Profatedhefe nicht gerechnet, 28,
und bie erften 18, gehalten in ber Quadrages, waren
an die φωτιζόμενοε oder die eigentlichen Taufcandidaten,
die weiteren 5, myſtagogiſche genannt unb in der Ofter-
wode gehalten, an bie Neugetauften gerichtet. Das
Berhältnig der Taufcandidaten wird hier zwar nicht ex
professo bejprodjem. Auf ber anderen Seite founte e8
aber aud) bod) nicht ganz unberührt bleiben, und in ber
Sat gibt der Kirchenvater, wenn aud) mut in gelegen»
heitlihen Bemerkungen jo beftimmten Aufſchluß über
64 gunt,
daffelbe, daß zu verwundern ift, daß feine Ausſprüche
bisher wenig in Betracht gezogen toutben ?). Er ftellt
nämlich feine Zuhörer den fatedumenen wiederholt als
einen verſchiedenen kirchlichen Stand gegenüber.
Procatech. c. 6 fordert er fie auf, zu bebenfen, melde
Gnade Gott ihnen gegeben babe; Katechumenen feien
fie genannt worden, ba fie von außen ber angelpro-
hen wurden, die Hoffnung hörend unb fie nicht verftehend
u. f w. Κατηχούμενος ἐλέγου, find feine eigenen
Worte, ἔξωθεν magınyouuers‘ ἀχούων ἐλπίδα, καὶ μὴ
εἰδὼς κεῖ. Procatech. c. 12 (und ähnlich Catech. V
c. 12) ermahnt er die Zuhörer, ben Katechumenen nicht
funb zu thun, was fie in diefen Vorträgen hören. Da:
bei bezeichnet ev den Katechumenen al8 τὸν ἔξω, ber
bieje Lehre nicht zu verfiehen im Stande fei, während
vom Taufcandidaten gejagt wird, er ftebe ἐν μεϑορίῳ.
Cr erinnert ferner die Zuhörer, um ihnen bie Pflicht
der Verſchwiegenheit vecht eindringlich zum Bewußtſein
zu bringen, daß bie Geheimniffe aud) ihnen nicht ge-
offenbart wurden, als fie nod) &atedumenen waren,
und zugleich bemerkt ev, daß fie, fobald fie bie Geheim-
niffe kennen gelernt haben, fofott aud) einfehen werden,
mie unwürdig bie Katehumenen feien, fie zu er
fahren. In bem Proslogium ber Prokatecheſe endlich
wird ganz im Einklang mit bem Bisherigen durch einen
Kibrarius (oder von wem fonft diefer Cat herrührt)
^o ἢ Im ber neueften einfchlägigen Schrift (Rochat, Le ca-
iéchuménat au IVme sidele d'aprte les catéchbees de St. Cy-
rille de Jérusalem 1875) werben bie Katecheſen Cyrill's unter
biejem Geſichtspunkte gar feiner Prüfung unterzogen. Der Ber
faffer geht vielmehr (S. 40) einfad) von ber Dreitheilung be8
Katechumenates als feſtſtehendem Ariom aus,
Die Katechumenatzclaffen des chriſtl. Alterthums. 65
bie Bemerkung gemacht, bieje für bie φωτιζόμενοι ber
fimmten Katecheſen dürfen mur bie Taufcandidaten und
bie bereit8 Getauften leſen, nicht aber bie Katechumenen
und andere Leute, bie nod) nicht Chriften feien. Die
φωτιζόμενοι werben alfo in der Profatechefe von Eyrill fo
beftimmt und fo ſcharf von den Katechumenen unterſchieden,
bof kaum anzunehmen ift, jene haben eine Gfaffe von dieſen
gebildet, und wenn nad) den angeführten Stellen je nod) ein
Zweifel über den Sachverhalt befteben follte, jo würde
derfelbe durch folgende Stellen vollends gehoben. Ca-
tech. V c. 1 weist der Kirchenvater die Zuhörer auf
bie große Würde Din, bie ber Herr ihnen verliehen
babe, da fie aus bem Stande ber fatedumenen
in den ber Gläubigen verjeßt worden feien (ἀπὸ
τοῦ κατηχουμένων τάγματος elg τὸ τῶν πιστῶν ueranı-
ϑεμένοις), und ähnlich ſpricht er Catech. VI c. 29 von
einem Austritt aus ber Glaffe der Katechumenen (σοὶ
τῷ ἐκ κατηχουμένων μεταβαλλομένῳ). Catech. I c. 4
endlich bemerkt er dem Taufcandidaten, er erhalte einen
neuen Namen, den er früher nicht gehabt habe; bisher
feier Ratedumene geweſen, von mum aber werde
er Gläubiger heißen.
Die Sade kann nad) biefen Ausſprüchen nicht zweifel⸗
haft fein. Der Kirchenvater ftellt einerjeit8 bie Tauf⸗
candibaten in einer Weile den fatedyumenen gegenüber,
daß man Leicht fibt, daß jene nicht ala Katehumenen
Ober als eine befondere Gaffe der Katechumenen ange:
fehen wurden. Anbererfeit3 fagt er mit ausbrüdlichen
BVorten, die Taufcandidaten haben den Stand ber fa:
Gumenen verlaffen, und zweimal nennt er zugleich ben
Stand, in den fie eingetreten find, den Stand der Glue
Set Quartalfgrift. 1889. Heft 1, 5
66 Sunt,
bigen. Letzterem waren fie zivar mod) nicht im vollen
Sinne be8 Wortes eingegliedert — das geihah erf
duch die Taufe — und der Kirchenvater gibt diefes
ſelbſt baburd) zu verfteben, daß er aud) ihnen nod) nicht
bie volle Heilslehre anvertraut, fondern mad) der Taufe
in ben mpftagogifchen fatedjefen einen 9tadtrag zu den
früheren Katechefen gibt. Aber immerhin mwurben fie,
wie aus dem Angeführten erhellt, dem Stande ber
Gläubigen und nicht dem Stande der fatedumeneu
beigezählt, und die gewöhnliche Annahme, bie fie als
Katechumenen faßt, fteht daher mit den beftimmten
Worten Cyrills von Zerufalem in Widerſpruch.
Gegen dieſes Urtheil legen aber meiterhin aud)
10d) zwei abendländiſche Kirchenlehrer entichiedenes Zeug:
niß ab, ber HL. Ambrofius und ber HL Augu—
fimus. Zwar find ihre Ausſprüche nicht jo umfafjend
wie ber be8 orientalifhen Kirchenvaters. Sie geben
darüber feinen augbrüdliden Aufihluß, welhem Stand
bie Taufcandidaten zugerechnet wurden. Aber fie fagen
menigftens mit aller Deutlickeit, daß biejelbem nicht
mehr ala Katechumenen galten, und das ift hier zunächſt
genug, mo e8 fid) um die Frage handelt, ob bie An-
nahme von verjdjiebenen Katechumenatsclafien überhaupt
begründet ift. Ambrofius erzählt nümlid Ep. 20 c. 4
feiner Schwefter Marcellina, er habe an einem Sonntag
dimissis catechumenis symbolum aliquibus
competentibus in baptisteriis basilicae übergeben.
Auguftinus ſchreibt De fide et op. c. 6 n. 9: Quid
autem aliud agit totum tempus, quo eatechume-
norum locum et nomen tenent, nisi ut audiant,
quae fides et qualis vita debeat esse Christiani . . . .
Die Katechumenatclaffen des chriſtl. Alterthums. 67
Quod autem fit per omne tempus, quo in ecclesia
salubriter constitutum est, ut ad nomen Christi ac-
cedentes catechumenorum gradus excipiat !), hoc
fit multo diligentius et instantius his diebus, quibus
competentes vocantur, cum ad percipiendum bap-
tismum sua nomina iam dederunt.
Die Taufcandidaten galten biernah im ber altem
fitde, näherhin im vierten und fünften Jahrhundert,
nicht mehr al8 Katechumenen. Nah Eyril von Jeru-
falem wurden fie vielmehr dem Stande ber Gläubigen
beigezählt, und fie hatten demgemäß wahrſcheinlich das
Recht, dem ganzen Gottesdienft, natürlich mit Ausſchluß
von der Kommunion, anzumohnen, während die Kate
chumenen nad) Beendigung des bibaltijdjem Theiles des
Gottegdienftes entlaffen wurden. Dieſer Annahme fteht
zwar bie clementinifche Liturgie *) entgegen, in der nad)
bet Predigt mit den fatedumenen, Energumenen und
Büßern aud) die Taufcandidaten und zwar an dritter
Stelle ober vor ben Büßern fid) entfernen. Aber fie
dürfte gleichwohl nicht zu gewagt fein, ba fid) andererſeits
feum begreifen läßt, melde Rechte die Gompetenten
mit ihrer Ginreijung in den Stand der Gläubigen er-
hielten und da mir über bie Geltung der clemeutiniſchen
Liturgie nicht? Sicheres wiſſen. Nur das läßt fid mit
Grund dagegen einwenden, baf bie Praris im biejer
Beziehung wohl nicht überall gleich und baf am einigen
Drten bie Gompetenten bezüglich ber Theilnahme am
1) So Iafen mit Recht bie Mauriner nad ben Handichriften,
während bie früheren Herauögeber excipiant haben. Gradus ift
daher Singular und Nominativ, nicht Plural und Aceuſativ.
2) Constit. apost. VIII c. 6-9.
δ᾽
68 Sunt,
Gottesdienft nod) ben fatedjumenen gleichgeftellt waren,
während fie an andern unb zwar mad) ben angeführten
Zeugen zahlreiheren Orten bereit8 als Gläubige be-
handelt wurden.
Nach dem Vorftehenden gab e8 aljo, einige Kirchen
etma ausgenommen, Feine Rangclafien im fatedumenat.
Der fatedjumenenftanb war vielmehr ein einheitlicher.
Der Unterriht mag allerdings ba und dort vor ver=
ſchiedenen Abtheilungen und aud) von verſchiedenen Leh⸗
tern ertheilt worben fein, mie wir Solches aus der
Geſchichte des Drigenes erfahren, ber nad) bem Zeug-
niß des Eufebius (H. E. VI c. 15) im Laufe ber eit,
als bie Zahl der ftatedjumenen in Merandrien fid) be-
trächtlich mehrte, biefelben in zwei Abtheilungen fchied
und bie Unterweifung ber Anfänger bem Heraflas über-
trug, bie ber Fortgefchritteneren fid) ſelbſt vorbebielt.
Allein das war troß allen Scheines feine Elaffeneinthei-
lung in dem Sinn, wie fie bier in Frage ftebt. Denn
mad) der Claffeneintheilung, um bie es fid) Handelt, foll-
ten bie einzelnen Glaffen einen verfhiedenen Rang
in der Kirche behaupten, insbeſondere eine verfchie-
dene Stellung beim Gottesbienft einnehmen, was bei
ber Glaffeneintheilung des gelehrten Alerandriners ſicher⸗
lid) nicht der Fall war. Lebtere beruhte überhaupt auf
einem mehr oder weniger zufälligen Grund, auf der
zeitweilig befonders großen Anzahl ber Katehumenen
einer Kirche, und fie fonnte und mußte daher zu anderen
Seiten und anderen Drten fehlen.
Wir haben uns bisher vorwiegend auf die Literatur
der zweiten Hälfte des hriftlichen Alterthums beſchränkt,
und toit gingen von diefer aus, weil fie ung beftimmtere
Die Katechumenatselaſſen be8 drift. Alterthums. 69
Auffhlüffe über ben ftatedumenat gibt, als bie Literatur
der früheren Jahrhunderte. Nur bei ber Unterſuchung
über die Namen und Ausdrücke wurde bereit3 auf legere
Südfijt genommen. Diefelbe ijt indeffen noch einer
weiteren Prüfung zu unterziehen. Denn wenn aud
metà angenommen wird, daß ein ganz beftimmter
Nachweis für bie Katechumenatsclaſſen erft vom vierten
Jahrhundert am zu führen fei, fo mill man in der äl-
teren Literatur mindeftend mehr ober weniger deutliche
Spuren berfelben entbeden. Der Gelehrte, ber fid) in
der jüngften Zeit am eingehendften mit der Angelegen-
heit befäpäftigt hat, meinte fogar die Wahrnehmung zu
machen, daß bei Tertullian und den Alerandrinern bie
Katehumenatsclaffen ſchon mit aller Beftimmtheit zu
Tage treten, während im apoftolifhen ftatedjumenat ein
Unterſchied unter den Katechumenen wenigftens implicite
liege ἢ). Die Sache ift nad) unjerem bisherigen Refultat
ſehr unmahrfheinlih. Denn wenn die Katechumenats-
claſſen da, wo fie bie ausgebilbetfte Geftalt haben follten,
bei näherer Betrachtung fid) in ein Nebelbild auflöfen,
fo werden fie ba, too fie mehr oder weniger nod) im
Verden begriffen fein jollen, vor einem fcharfen Auge
mod weniger Stand halten. Sehen wir imbefjen bie
einzelnen Beweisftellen näher an!
Während ber Caſſenunterſchied, jagt man, uod
gegen Ende be8 zweiten Jahrhundert? nicht ausgebildet
wat, obgleid) ſchon Juſtin leiſe auf ibm hinweiſe, wenn
er von Katechumenen rebe, bie in den riftlihen Glau-
ben: und Sittenlehren Unterricht erhalten, und von
Ὁ Probft, Lehre und Gebet S. 79-189. 386. namentlich
108.
©
70 Sunt,
ſolchen, bie nad) bem Belenntnifie, bieje Lehren zu
glauben und ihnen gemäß leben zu wollen, zum Gebete
und zum Faften verpflichtet werden, fo treten bei Ele-
mens von Alerandrien dagegen die beiden Abtheilungen
beftimmter und als förmlide Glaffen auf. Denn
dieſer Schriftfteller rede von einer erften Katecheſe (Strom.
V e. 8 p. 675). Die erfte fatedeje fee aber eine
zweite, und bie zmeite ftatedjeje ihrerfeit3 ſetze natur:
und fadgemáf zwei Glaffem von Katechumenen voraus.
In ber That erwähne Clemens nicht bloß Katechumenen,
fondern aud) 9teofatedyumenen, νεωχατηχητοί (Strom. VI
€. 15 p. 804) und νεωστὲ κατηχούμενοι (Paed. I c. 6
p.119). Zwar [εἰ von ihm mod) nicht eine jo deutliche
Sprache zu erwarten, wie von feinem Schüler Drigenes.
Aber man werde aud) nidjt die Annahme verwerfen
können, bie Einrichtung be8 Katechumenates, die biefer
als eine befiehende beſchreibe, werde jdon zur Seit
des Lehrers vorhanden geweſen fein. Es feien ja ins»
befondere die zwei Arten von Dienern Gottes, bie Gle«
mens unter den Gläubigen und Gnoftifern femme, ber
Slave und der Diener (Strom. I c. 27 p. 423), mut
auf die beiden fatedyumenat&claffen zu beziehen!). Das
find bie Stellen bei Clemens, aus denen eine Zweiheit
von Katechumenatsclaſſen hervorleuchten fol. Man braucht
fie indefjen nur unbefangen anzufhauen, m. a. W. man
braucht mur nicht vorauszufegen, was erft zu beweiſen
ift, daß e8 námlid) einen Glaffenunterfhied unter ben
fatedumenen gegeben habe, um fofort zu erfennen, daß
fie einen Beweis nicht ergeben. Was vor allem bie
1) Brobfta.a.D. €. 108—111.
Die Katechumenatsclaſſen des chriftl. Alterthums. 7
beiden Katecheſen anlangt, fo erläutert Clemens bie
Ausdrüde felbft, indem er von Milhnahrung und fefter
Speife fpricht. Folgt aber aus folder Redeweiſe bie
Eriftenz von fürmlihen Katechumenatsclafien? Gewiß
ijt. Man müßte denn nur annehmen, daß ein Fort
ſchreiten in Lehre und Unterricht in einer und berjelben
Caſſe nicht denkbar fei, mas wohl niemand wird be-
haupten wollen. Die Erwähnung von 9teofatedumenen
ſodann beweist ebenjo wenig für einen Claſſenunterſchied
unter den ftatedumenen, als man αἰ ber Rede von
Neopresbytern eine Mehrheit von Stufen im Presbyterat
wird folgern wollen. Die fragliche Beziehung der Sklaven
und Diener endlich auf bie Katechumenatsclaſſen unter
liegt um fo größeren Bedenken, als fie in Widerſpruch
mit der fonft bei Clemens üblichen Annahme von drei
firhlihen Ständen (1. fatedjumenen, 2. Gläubige, 3. Gno-
fifer) ftebt.
Nicht befjer ftebt e8 mit den Katechumenatzclaffen
bei Tertullian und Drigenes, obwohl biejer fie als eine
beftebenbe Ginritung beſchreiben fol. Ter
tullian bedient fid) zwar verfchiedener Ausdrüde zur
Bezeichnung ber Katehumenen. Außer ben audientes
und catechumeni fpridht er vom novitioli (De paenit.
ἃ θ), von accedentes ad fidem und ingredientes in
filem (De idol. c. 24) jowie von ingressuri baptismum
(De bapt. c. 20). Ebenfo erwähnt er eine intellectuelle
und fittlihe SBerjdjiebenDeit unter den Katechumenen
(De paen. c. 6). Aber was thut das, müffen wir aufs
neue fragen, zur Cade? Läßt fid) biejelbe Inſtitution
nicht mit verſchiedenen Worten bezeichnen? Gibt e8
nit aud) einen Fortſchritt innerhalb einer und berjelben
72 gunt,
Glafje? Freilich verweist man uns, indem man dieſes
einzuräumen fid) veranfaft fiebt, auf drei Untertauchungen
und Widerfagungen mit bem Bemerken hin, daß fie eine
derartige Auffaffung ausfchließen und die Annahme von
verfehiedenen Katechumenatsclaſſen nothwendig machen.
Mein aud) diefe Deutung ift nicht flihhaltig. Die
beiden erften Untertauchungen, bie fid) allein auf den
Ratehumenat beziehen können, indem bie britte bie
Taufe ift, fallen ſchon deßwegen nicht befonders ind
Gewicht, weil fie nicht eigentlich, jonbern nur allegoriſch
zu verftehen find, indem bie eine in vollkommene Gottea-
furcht, die andere in gefunden Glauben und bußfertiges
Gewiſſen gelebt wird. Was aber bie breimalige Wider:
fagung betrifft, fo ftebt fie durchaus in Frage, unb fie
aus ber bretmoligen Untertauchung abzuleiten, geht ſchon
deßhalb nicht an, weil zwei von ben Untertauchungen,
wie bereitö bemerkt, in Wirklichfeit gar nicht ftattfanden.
Zu alle dem beweist bie breimalige Widerfagung, felbft
wenn fie feftguftellen ijt, für einen Claſſenunterſchied
unter den Katehumenen nichts. Denn bie zweite fand
dann beim Eintritt in den Stand der Gompetenten ftatt,
und bieje gehörten, wie wir [dom gefehen, nicht mehr
in bie Kategorie der Katechumenen 1).
Das entfheidende Zeugniß be8 Drigenes für
bie Clafjeneintheilung der Katehumenen ſoll Contra
Cels. III c. 51 fteen, wo wir lejem: „Die öffentlich
lehrenden Philofophen treffen unter den Zuhörern Feine
Auswahl, fondern e8 findet fid) ein und hört zu, wer
ba mill Die Chriften aber prüfen vorher, fo viel in
1) Sgt. Brobft a. a. D. ©. 115—117; 151 f.
Die Ratecjumenatsclaffen des chriſtl. Alterthunis. 73
ihren Kräften fteht, die Seelen derer, bie fie hören
wollen, und unterrichten fie privatim, und wenn bie Zus
hörer (ἀχροαταί) vor ihrer Zulaffung in die Gemeinfdaft
in dem Vorfag gut zu leben hinlänglich erftarkt zu fein
feinen, dann endlich führen fie fie ein, indem fie eine
eigene Gíafje aus denen bilden, bie eben anfangen und
eintreten und das Symbol der Reinigung (die Taufe)
mod) nicht empfangen haben, ſowie eine andere aus ben-
jenigen, bie nad Kräften den Entſchluß zeigten, nichts
Anderes zu wollen, als was den Chriften gefält (τὴν
προαίρεσιν οὐκ ἄλλο τι βούλεσϑαι ἤ τὰ Χριστιανοῖς
δοκοῦντα). Unter biejen (παρ᾽ οἷς) find einige aufge:
flet, um das Leben und den Wandel ber Eintretenden
(τῶν προσιόντων) zu erforschen, damit fie ben Sündern
den Zutritt in ihre gemeinfhaftliche Verfammlung unters
fagen, die anderen aber mit ganzer Seele aufnehmen
und fie täglich befjer machen.“ Die Stelle foll das
Hauptzeugniß für die Glaffeneintheilung des ftedu-
menate8 in ber vornicänifchen Zeit fein, indem bie zwei
Glaffen von Chriften, bie hier zur Sprache Tommen,
beide als Katechumenen aufzufafien feien. Es liegt.
aber auf der Hand, daß bieje Deutung eine völlig uns
richtige iji. Origenes gibt ja, indem er die Mitglieder
der erften Caſſe al ungetauft bezeichnet, mehr als
zur Genüge zu verftehen, daß die Mitglieder der zweiten
Glafje getauft feien, und was gegen diefe Auffaffung
bisher vorgebraht wurde, um bie zweite Caſſe als
fatedyumenat&claffe anfeben zu können, ift völlig grund-
108 unb nur Ausflug des Beftrebens, beu Alerandriner
eben um jeden Preis als Zeugen für bie Katechumenats⸗
claſſen zu gewinnen. Die Mitglieder der zweiten Glaffe,
"4 gunt,
fagt man !), werben duch Drigene8 keineswegs als
Ehriften oder Gläubige im engeren Sinn, fondern nur
als vollftändig befähigt zum Eintritt in bie Reihen dieſer
bezeichnet. Die Gemeinde jelbit habe mehr als eine
προαίρεσις und ein βούλοσϑαι zum Charakteriftifum;
die Gläubigen feien vielmehr bie, melde bie δοκοῦντα
felbft befigen und mit ihrem Namen (Χριστεανοί) ποτε
mirem. Jene feien aber [o weit gebrad)t, daß fie, was
bie Chriften befigen, mun felbftftändig ermählen und im
Gegenjag zu ihrem früheren Deibuijden Stand „nichts
Anderes“ begehren. Während vorher bei ber erjten
Glajfe das legte Ziel objectiv benannt [εἰ nad) bem,
was fie überfommen (dem Symbol ber Reinigung), [εἰ
bier das Ziel fubjectio bezeichnet nad) ber für das ob.
jective Biel erlangten geiftigen Dispofition u. f. wm. Die
zweite Claſſe foll aljo nicht aus den Gläubigen, fondern
nur aus folhen (von den Katechumenen) beftehen, bie
zur Aufnahme unter die Gläubigen bereits vollftünbig
reif feien. Aber es geht ja, wie bereits angedeutet
wurde, fon aus dem Gegenfa, in ben die zweite Claſſe
‚sur erſten geftellt ift, mit aller Beftimmtheit hervor, daß
diefe Auffaffung faljd) ift, und menn durch diefes Mo-
ment je nod) ein Zmeifel zurüdgelafien mwätrde, fo müßte
berjelbe durch folgende Erwägung gehoben werden. Der
Gag ijt mit Anführung der beiden Claſſen oder Stände
mod) nicht zu Ende. Drigenes ſpricht meiterhin mod)
von PVerfonen, bie mit Prüfung des Wandels derjenigen
betraut find, bie in die Kirche aufgenommen zu werben
wünſchen, und er läßt diefe, was bie Hauptfache ift,
1) Besfhmwig, ber Katechumenat S. 111. Bol. Brobft
a. a. Ὁ. S. 118 f.
Die ftatedjumenat&claffen bes chriſtl. Alterthums. 75
aus ber zweiten Glafje genommen werden. Diefe Per-
fonen können aber nur Gläubige geivefen fein, ba Kate
dumenen ummüglid mit einer derartigen Aufgabe be—
traut wurden, und da fie, mie das Sapgefüge gang
deutlich zeigt, aus den Mitgliedern der zweiten Elaffe
gewählt wurden, fo folgt, daß bieje [εἴθ aus Gläubigen
oder Getauften beftand. Der Sinn der Stelle ift Dies
nad nicht im mindeften zweifelhaft, und wenn gleichwohl
in ber Kegel eine andere Auslegung gegeben mutbe, fo
ift das mur ein Beweis von der großen Befangenbeit,
mit ber man zur Deutung ber Stelle ſchritt. Origenes
ſpricht von fatedumenen und Gläubigen, nicht von zwei
Glafien von Katechumenen ). Und wie er biele bier
nit fennt, fo weiß er von ihnen aud) nicht? an anderen
Drten. Aus der In Num. hom. XXVII c. 1 vorfom=
menden Unterſcheidung einer dreifachen Nahrung (Mil
für bie Kinder, Gemüfe für Schwadhe unb Kranke,
ftarfe Speife für gefunde unb Träftige Perfonen),
bezw. einer breifadjen Lehre bei den Chriften folgt bei
ihm fo wenig als bei anderen kirchlichen Schriftftellern,
bie fid) derfelben ober einer ähnlichen Rebe bedienen,
ein Glaffemunterjdjieb unter den Katechumenen. Die
Stelle ift höchftens ein Beweis für das Vorhandenfein
der beiden Stände bet Katechumenen und Gläubigen,
unb wer fie unbefangen prüft, wird nicht einmal biefen
Unterſchied mit Sicherheit in ihr finden, indem bie ver-
1) Die Gtelle wurde fon von Haffelbad in bem mir
leiber nicht zugänglichen Programm De discipulorum, qui primis
Christianorum scholis erudiebantur, seu de catechumenorum
ordinibus (1839) richtig erflärt. Sol. Nebepenning, Drigenes
(1841) I, 359.
76 gunt,
ſchiedenen Eigenthümlichfeiten, bie hervorgehoben werden,
fer wohl auf die Verſchiedenheiten unter den Gläus
bigen fid) beziehen laſſen. Mit mehr Recht Könnte man
auf bie von Drigenes vorgenommene Theilung der Ka=
tedumeneu in Anfänger und Fortgefchrittenere fid) be-
rufen. Aber die Scheidung Tann, wie wir bereitö ge—
fehen, au8 einem anderen Grunde nicht in Betracht
kommen.
Unſere Unterſuchung iſt nunmehr zu Ende. Die
weiteren Stellen, bie man etwa mod) für ben Glaffen-
unterſchied unter den Katechumenen aus ber. altriftlichen
Literatur anzuführen pflegt, haben fo wenig mit der
Sade zu thun, daß wir fie nicht glauben meiter be-
leuchten zu follen, nachdem mit bie wichtigeren alle einer
näheren Prüfung unterzogen haben. Zum Schluß möge
nur nod) ba8 CrgebniB derjelben in kurzen Säßen bar:
geftelt werben.
Die Annahme eines Claſſenunterſchiedes im alt:
chriſtlichen Katehumenat ift unbegründet. Weder bie
Dreitheilung nod) die Zweitheilung, von ber Viertheilung
gar nicht zu teben, ift haltbar. Jene beruht auf einem
offenbaren Mifverftändniß be8 Kanon 5 von Neocäfarea.
Diefe ift nicht ftihhaltig, da die Taufcandidaten mad)
unzweideutigen Ausfprühen mehrerer Kirchenväter nicht
mehr zu den Katehumenen gehörten, fondern bereits
zu ben Gläubigen gerechnet wurden. Die Katechumenen
bildeten aljo im chriſtlichen Alterthum nur eine Glaffe,
und ber fatedumenat ging zu Ende, fobald feine Mit
glieder in den Stand der Taufcandidaten eintraten oder
in der Sprache der altehriftlihen Kirche φωτιζόμενοι,
Die Katechumenatsclaſſen des chriſtl. Alterthums. 77
μυούμενοι ober βαπειζόμενοι, competentes, electi oder
electi baptizandi wurden 1):
1) Der gewöhnliche Ausdruck mar in ber griedjijden
fütdje φωτιζόμενοι, wie u. a. bie Katecheſen Cyrill's unb bie apo»
ſtoliſchen Conftitutionen zeigen. Letztere gebrauchen VIII c. 8 audj
die beiden anderen Namen. In ber Iateinifhen Kirche war
ber gewöhnliche Name competentes. Wir begegnen ihm bei Am
broſius (Ep. 20 c. 4), Auguftinus (Serm. 216 c. 1; 228 o. 1;
352 c. 2. De cura ger. pro mort. c. 12. Retract. I c. 17), ber
Synode von (gbe 506 c. 13, Ferrandus von Gartbago (Ep. ad
Fulg. inter Fulg. ep. 11 c. 2. Migne, Patr. Lat. t. 65 p.378).
In ber rbmijden Kirche [deinen übrigens bie Ausdrücke electi
(Siric. ep. ad Him. ο. 3. Harduin, Conc. I, 848) unb bapti-
zandi electi (Leon. ep. 16 c. 5. 6. : Harduin I, 1757 sq.) bie bor.
herrſchenden getvejen zu fein. Die angeführte Stelle von Ferrandus
zeugt ähnlich wie bie oben €. 66 angeführten Worte des DI. Am-
broſius und be8 bL. Auguftinus, wenn aud) nicht mit der ganzen
Beftimmtheit, dafür, daß bie Gompetenten nicht mehr al8 Ratechu-
menen galten. Sie lautet nümlij: Fit ex more catechu-
menus; post aliquantum nihilominus temporis propinquante
solemnitate paschali inter co mpetentes offertur, seribi-
tur, eruditur eto. — Zu ©. 65 mag bier nod) beigefügt werben,
daß aud) ber Hl. Chryfoftomus bie Taufcanbibaten Gläubige
nennt. 9m Catech. ad illum. II (Ed. Montfaucon t. II p. 235)
bemerkt er benjelben: Πιστὸς γὰρ διὰ τοῦτο καλῇ, ὅτι καὶ πιστεύεις
τῷ ϑεῷ κτλ.
3.
Die franzöfifhe Theologie der Gegenwart.
Bon Prof. Dr. Schau.
Es gibt zwei Frankreich, hat man gefagt, und man
hätte nicht erſt bie neueſten Ereigniffe ber britten Re—
publik abzumarten gebraucht, um die Richtigkeit dieſes
Ausſpruches anzuerkennen. Es gibt zwei Frankreich
nicht bloß in politiicher Beziehung; eim monarchiſches
und republikaniſches, ein confervativeg unb Liberales
ober radicales, fondern e8 gibt aud) zwei Frankreich in
veligidfer Beziehung. Nicht die Confeſſionen find aber,
tote in unferem confeffionell gefpaltenen Baterland, bie
Gegenſähe, fondern Glaube und Unglaube ftehen einander
feindlich gegenüber, Es wäre eite Mühe, wollte id)
biefür erſt den Beweis führen. Die Lectüre der nächſten
beiten Sorift über dieſes Gebiet erbringt denfelben zur
Genuge. Θὲ gibt gläubige, tiefreligiöfe, opfermillige
Katdoliken in großer Anzadl, aber ber ungläubigen,
ſveidenteriſchen. wligiensivindlichen Nachfommen der Re
volntionän ven 1τϑ Hae ot wicht Wenige, ihre Zahl
iR demade Neuen Gr guter The der Wännerwelt
Die franzöfiiche Theologie der Gegenwart. 79
aus allen Klaſſen und Ständen zählt zu ihnen, felbft bie
Frauenwelt der großen Städte ift dabei ftarf vertreten.
Und welche Rührigkeit entwickeln nicht alle diefe Feinde
de3 Chriftenthums für ihren modernen Unglauben! Welche
Summe von Wiffen, welche Macht ber Rede und Schrift,
welche Opfer an Gelb und Gut werden nidyt aufgewendet,
um den Unglauben, den Haß gegen ba8 Chriftentbum
zu verbreiten und ins praftiihe Leben überzuführen!
Wie e8 fo weit fommen fonnte, läßt fid Diftori]d) be—
greifen. Aber man wird nicht bloß eine Seite dafür
verantwortlich madjen dürfen, fondern zugeben müſſen,
daß vielfach das Unkraut gejüet wurde, αἵδ᾽ die Leute
ſchliefen. Diefer Vorwurf trifft zum Theil aud) bie
franzöſiſche Theologie, ben Klerus. Auch hiefür difpenfire
id mid) vom Beweiſe. Es wird genügen, wenn id) bie
beiläufige Notiz eines franzöfifhen Gelehrten anführe,
welche ebenfo aufrichtig al8 wohlmeinend lautet. Hamard
bemerkt über bie Prähiftorifer: „Man muß ihnen bie
Gerechtigkeit widerfahren laſſen, daß fie für Verbreitung
ihrer traurigen Lehren unenblid) mehr Eifer entmideln
als wir felbft e8 bis jebt zur SBertbeibigung unferer
angegriffenen Glaubenswahrheiten gethan haben. Dies
ift eine beklagenswerthe Sache. Niemand oder beinahe
niemand bot von Anfang an, als e8 jo nüßlich getoefen
τοῦτο, zu interveniven, eruftliche Anftrengungen gemacht,
um den Irrthum zu entlarven und bie Verwüftungen
zu verhindern, melde er auf bie Geifter auszuüben bes
gann. (δ8 genügte nicht, mit einem verächtlichen Lächeln
zu antworten, ein ivonifhes Wort, ein einfaches Dementi
den Behauptungen entgegenzuftellen, welche fid) im Namen
und unter bet Dede ber Wiſſenſchaft prüfentittem. Das
80 Shan
Bublicum unferer Zeit ift anſpruchsvoller. Einer Lehre,
welche fid) als crujt betrachtet, gehört eine ernfte Ant-
wort, eine motivirte Entgegnung. (8 ift Licht noth-
wendig, uud, offen gefagt, wir máüffem uns defien freuen,
denn wir haben bei einer loyalen Discuffion alles zu
gewinnen. Das Terrain der 9Bifjenidjaft, der prápifto-
riſchen Wiffenihaften und der anderen, ftebt ung offen,
und e8 ift die Pflicht eines ftatpolifen, entſchloſſen in
baffelbe einzutreten, da heute das Schlachtfeld zwiſchen
ber DOrthodorie und bem Unglauben liegt. Die Augen
zu fließen bei Lehren, welche in fo birecter Weife
fBrejd)e in die Wahrheit unferer Bücher und felbft in
die Grundlagen ber ganzen Religion legen, das hieße
in den Augen ber Maflen, welche davon erfüllt find,
den Kampf fliehen, fid) zu einer Niederlage refigniven
und zum voraus dem Feind das Feld einräumen !)."
Ich hoffe, der Lefer werde es mir nicht übel nehmen,
daß id) diefe Stelle wörtlich herfegte. Denn abgefehen
davon, daß fie und einen Cinblid in die gegenwärtige
teligibje Lage der franzöſiſchen Katholifen geftattet, ent⸗
hält fie eine ernfte Aufforderung zum Betrieb der Wiſſen⸗
ſchaft, jeder Wiffenihaft, melde mit bem Gebiet des
Glaubens in Berührung kommt. Eine folhe Mahnung
dürfte aber aud) für den Klerus bieffeit8 des Rheins
nicht überflülfig fein. Bon den franzöfiihen Theologen
ift aber mit diefem Geftändnifje zugleich der Anfang ber
Beflerung gemacht. Gerade diefer Umftand hat mid) zu
den folgenden Zeilen veranlaßt. Denn id) geftehe offen,
daß ἰῷ bei allem Stejpect vor ber alten franzöfifchen
1) La Controverse I, 1, 1. Nov. 1880 p. 24.
Die franzöfiiche Theologie ber Gegenwart. 8
Theologie bie neuere nur ziemlich gering taritte. So
weit ἰῷ mir überhaupt ein Urtheil bilden konnte ſchien
fie mir an zwei toefentlidjem Mängeln zu leiden.
Die Franzofen beſchräukten fid), einzelne, nicht ohne
Anfechtung gebliebene, Ausnahmen abgerechnet, viel zu
febr auf das Alte, welches für fid gewiß gut ift, aber
für bie neueren Verhältnifje vielfach ben Dienft verjagt.
Es wird fein Katholif den hohen Werth ber Patriſtik
und Scholaftif, bie Reichhaltigkeit ber älteren eregetifchen,
dogmatifhen und moraltheologiſchen Werfe beftreiten,
aber bie Theologie verfennt ihre Aufgabe, wenn fie
glaubt, mit neuen Auflagen der Väter und des Ὁ. Tho—
mas, mit neuen Abdrüden des Maldonat, a Lapide,
Galmet, Liguori u. 9L. ben Bedürfniffen der Gegenwart
genügen zu fónnen. Und bod fand man in zahlreichen
Verzeihniffen, melde burd) Golporteute franzöſiſcher
Verleger aud) in Deutſchland verbreitet wurden, faft
mur eine ſolche Literatur. Auch neueftens ſcheint man
fid in franzöſiſchen Seminarien nod) mit einer ſchlechten
Quinteſſenz der Theologie vor 200 Jahren zu begnügen.
Denn in ber Beſprechung eines Handbuches ') bemerkt
Abbe Michel, baf für beu SBerfaffer ein Fortſchritt der
Theologie gar nicht beftehe. Schrifteitate und Väter
citate, echte und falſche, find einfach von den Alten
herübergenommen. Den Engeln find 110 Seiten ge:
widmet. Der Berfaffer weiß von denfelben, mas fie
Tennen und nicht kennen; wie fie Sprechen und wenn man
darauf beftehe, fo gebe er aud) Rechenſchaft von ihrer
Syntar. Dies ift allerdings für bie Gegenwart nüglich
1) Institutiones theologicae ad usum Seminariorum, auc-
tore A. Bonal. ed. III. 1881.
Theol. Quartalfgrift. 1889. Heft I. 6
82 Shan,
und ἰῷ muß leider hinzufügen aud) bei katholiſchen
Theologen Deutſchlauds nit unbelannt. Als ob es
fid) heutzutage lohnte, hierüber ganze Kapitel, ja Bücher
zu ſchreiben! Die Berufung auf bie Scholaftifer ent-
idulbigt nicht, denn man follte fie billigerweife nicht für
ungeſchickte Nachtreter des 19. Jahrhunderts verant-
wortlich machen ’). Man bat die deutſche fat). Theo—
logie, welche früher bie nothwendige Schwenfung voll
zogen bat, häufig angegriffen, und ε fol nicht geleugnet
werden, daß fie dag Alte oft zu geringihäßig behandelte
und fid von der philofophiihen Speculation zu ftarf
beftechen ließ, aber dies SBerbienft darf fie bod) für fid)
in Anfprud nehmen, baf fie den Kampf mit den Geg-
nern des Goriftentbum8 und der Kirche energifh auf-
genommen und bis heute unermübdet fortgeführt Dat.
Ja man Tann fi fragen, ob e8 nicht beffer wäre, wenn
fie aud) in der Gegenwart ben neuen Zeitftrömungen
in neuer Form entgegenträte.
Als zweiten Mangel in der franzöfiichen Theologie
möchte id ba8 Weberwuchern der ascetiſchen Literatur
bezeichnen, obgleich dieſelbe oft burd) eifrige Literaten
und Berleger in Deutſchland verbreitet worden ijt.
Man braucht den Werth ber ascetiſchen Literatur für
ba8 religiöfe Leben nicht zu unterfhäßen, Tann aber
1) Cfr. Duchesne, Bull. crit. 1881 N. 18 p. 352: „Alles
ift nicht in Menochius unb Allioli, nicht einmal in dem guten und
wiſſensreichen δ, a Lapide. Die Epigraphik, Numismatif, Archä-
ologie, Philologie, das birecte Studium der Väter find ohne Zweifel
Dinge, bie etwas außerhalb des gewöhnlichen Schulpenfums unferer
jungen Theologen liegen, aber mit biejen Dingen verfteht man bie
Bibel fo, baf man fid) fähig macht, fie anderen zu erflären und
zu vertheidigen.“
Die frangbfijdje Theologie der Gegenwart. 83
bod) jagen, daß fie gegenwärtig nicht das Eine ift, wel⸗
ches wotb thut. Das Stotbmenbige muß aber voran-
gehen. Nun zeigen zwar bie franzöfifchen Bücherver⸗
zeichniffe und Zeitſchriften nod) eine große Anzahl Bücher,
welche ins Gebiet ber Ascefe, Betrachtung, Legende
uf. to. gehören, aber fie weifen aud) einen bedeutenden
Fortſchritt in den echt wiffenidjaftliden Disciplinen auf
und mit biefen allein möchte id nun ben Leſer unter
halten.
(8 ift mir aber nicht müglid), bier bie zahlreiche
neuefte Literatur ber franzöſiſchen Theologie Revue φαΐ:
firen zu laſſen, denn einerfeit8 fteht mir diefelbe nur
tfeiltoeije zu Gebot, anbererjeità würde dadurch ber zu:
gemeffene Raum weit überjd)ritten. Ich muß mich daher
darauf befchränfen, eine Anzahl der neueften franzöfiichen
Beitfehriften ?) zu beſprechen und darunter diejenigen bes
ſonders zu berüdfihtigen, melde dem Charakter unferer
Zeitſchrift am nächſten ftehen und einen prononcirten
1) La Controverse, Revue des objections et des réponses
en matidre de religion. Paris. I—IIL. 1880/82. N. 1—42.
Bulletin oritique d'histoire, de littérature et de
théologie. Sécretaire de la Rédaction: M. l'abbé Trochon.
1, 1880/81 N. 1—24. Sous la direction de: MM. Duchesne,
Ingold, Lescoeur, Thódenat. II, 1881/82 N. 1—24. III, 1882,
N. 1-6. Paris.
Bulletin d'archéologie chrétienne deM. le Comm.
J.B. de Rossi, Ed. frang. p. M. l'abbó Duchesne. Troisitme
Série. VI. année. Paris 1881.
Polybiblion. Revue bibliographique universelle. Deu-
ziöme Serie. T. XV. XXXIV. de la collection. Paris 1881/82.
Les Lettres chrétiennes. Revue d'enseignement,
de philologie et de critique. T. IV. 1882. Paris.
Revue de Monde catholique. Trois. Ser. XXI. an-
née 1881/82. Paris.
6*
84 Shan,
Standpunkt einnehmen. Ich glaube damit zugleich eine
füde in diefer Zeitſchrift auszufüllen, weil fie nicht wie
viele andere Journale eine periodiſche Weberficht über
die Zeitfchriften und bie Literatur gibt. Die Zeitfchriften
fpiegeln am getreueften den Geift ab, tveldjer bie gegen-
Todrtige Generation beherrſcht, und führen buch bie
Berüdfichtigung des größten Theils ber Literatur zu⸗
glei in das ganze literarifche Leben und Treiben ein.
Ich werde mich aber bei diefer Beſprechung nicht an eine
formelle Anordnung binden, fondern bie Qauptgegen-
fände nad Gutbünfen behandeln. Dadurch wird das
ermüdende Aufzählen vermieden, eine befjere Weberficht
gewonnen und zugleich Gelegenheit geboten, ba8 eigene
Urteil zur Geltung zu bringen.
Bevor ἰῷ aber auf das Einzelne eingehe dürfte c8
gut fein, zwei allgemeine Punkte vorauszufhiden. Der
eine bezieht fid) auf bie Benügung der Literatur, ber
andere auf den wiſſenſchaftlichen und kirchlichen Stand:
punft. In erfterer Beziehung ift e8 erfreulich wahr:
zunehmen, baf fid) bie franzöſiſchen Theologen eine aus⸗
gebreitete Kenntniß der neueften Literatur des Aus—
landes, fpeciell Deutſchlands zu verſchaffen wiſſen, eine
Kenutniß, welche ſich bis auf die Zeitſchriften und
Literaturblätter ausdehnt und katholiſche wie akatho—
liſche Literatur umfaßt. Man kann ſagen, daß ſie hierin
mitunter eher zu viel als zu wenig thun, indem ſie
Elaborate berückſichtigen, welche wir lieber der Vergeſſen⸗
heit anheimfallen laſſen. Dadurch ift für den zweiten
Punkt ſchon die Vorausſetzung gegeben. Sie ſtellen ſich
damit auf die Höhe der heutigen Wiſſenſchaft, deren
ſtrenge Methode fie aud) anwenden, ohne irgendwie ber
Die franzöſiſche Theologie der Gegenwart. 85
Tatholifhen Sache etwas zu vergeben. E8 ift [εἴθ
verftändiich , daß id) hiermit nicht alle gelehrten Ver»
treter ber franzöfifchen Theologie, ja vieleicht nicht εἰπε
mal die Mehrzahl meinen Tann, aber ich conftatire ben
Aufſchwung und das Beftreben ber beften Kräfte, ben-
felben möglichſt allgemein zu machen. Gerade bie neu—
gegründeten Journale La Controverse und Bulletin
eritique dienen biefem Zwecke und beweifen, daß bie
franzöſiſche Theologie eine Ausfühnung mit ber mober-
nen Wiſſenſchaft energijd) betreibt. Sie find aber aud)
ein Beweis dafür, daß fi die franzöfifchen Theologen
weit freier bewegen, al8 man e8 mondjerort8 von ben
Mitgliedern einer großen hierarchiſchen Ordnung ver
muthen würde. Auch hiefür will id) wieder einem franzö⸗
ſiſchen Gelehrten das Wort geben. H. Duchesne richtet
in der 1. Nummer be8 2. Jahrgangs be8 Bull. cr. ein
Wort an bie Lefer, in welchem er bie Klagen bet be:
leidigten Autoren regiftrirt, den Fortſchritt des jungen
Unternehmens hervorhebt und dann bie Frage beanttoortet,
mozu überhaupt das Unternehmen gut fei. „Man hat
gelagt: das ift eine Neuerung, eure Rundſchau, abfolut
orthodor und unerbittlich wiſſenſchaftlich. — Wir wünſch⸗
ten, daß die Verbindung biejer zwei Eigenſchaften aufs
börte bie Leute in Erftaunen zu fegen. — Man bat
«ud gejagt: ihr habt ein freies Reden, das eud) [da-
ven wird; ihr feid flerifer, eure Oberen werden euch
Einhalt tun. — (δ foll bie ganze Welt e8 wohl feben
und wiffen, baf bie kirchlichen Oberen nicht enters.
tnechte find unb baB man, indem man ihnen unterworfen
ift und zugethan bleibt, mit einiger Unabhängigkeit denken
und fprehen fann; um fo mehr ba e8 am Plage ift,
86 Schanz,
e8 zu thun.” Des Weiteren fügt er mod) bei, er wifle
aus guter Duelle, daß e8 überall in Frankreich Kleriker
gebe, melde wünfhen, zu arbeiten, fid) einzuweihen in
bie neuen wiſſenſchaftlichen Methoden, fi zu erheben
über die traurigen Handbüder, bie alle Begeifterung
jerflören und allen guten Willen entmuthigen. Diefe
Bemerkung möchte id) an biejem Orte um fo mehr be-
tonem al8 bekanntlich unferer Zeitfchrift nicht felten der
Vorwurf gemacht worden ift, daß fie zu wiſſenſchaftlich
und zu freifinnig und in ihrer Kritik zu fireng fei. Auch
ift e3 mir vielleicht erlaubt beizufügen, daß ein freund:
lider Recenfent meines Commentars zum Marcuden.
allen Exnftes die Befürchtung ausgeſprochen Dat, bie
ftrenge wiſſenſchaftliche Haltung möchte feiner weiteren
Verbreitung im Wege ftehen. Leider feheinen allerdings
unfere Theologen mit ben mageren Handbüchern und
ber alten aufgewärmten fof mehr zufrieden zu fein
als mit dem was weniger Unterhaltung bietet, aber ein
ernſtes Studium erheiſcht und einen wirklichen Gewinn
verfpricht.
Die Theologie war von jeher vortoiegenb apolo-
getiſch und muß bie8 heutzutage, wo e8 ben Kampf
zwiſchen Glauben und Unglauben gilt, ganz befonders
fein. Ich werde daher mit ber Apologetif be
ginnen und fie aud) vorwiegend berüdfichtigen, teil fie
in ber franzöfifhen Theologie die größte Rolle fpielt.
Die Apologetif richtet fid) aber gegen die Angriffe von
Seiten der Naturwiſſenſchaften, der Philofophie und ber
Kritit ber h. Schriften. Ich habe ſchon bei vielen Ge-
legenfeiten auf die Wichtigkeit des erften Punktes Din-
gemiejen und Tann zu meiner Freude bemerken, ba
Die franzöſiſche Theologie bet Gegenwart. 87
gerade biefe Seite der Apologetif in ber franzöftichen
Theologie der Gegenwart jer gut vertreten if. Man
erkennt ſowohl in bem eingehenden Auffägen als in den
zahlreichen Schriften, daß bie frangbfilden Theologen
bie Naturwifienihaften mit großem Eifer und gutem
Erfolg ftudiren, um die Gegner auf ihrem eigenen Boden
befämpfen zu Tönnen. Wenn man freilich fid) pergegen-
märtigt, melden Umfang bie naturwiſſenſchaftlichen Stu-
dien in Frankreich gewonnen haben und welchen Einfluß
fie heute auf die gebildeten Klafjen ausüben, fo wird
man e8 begreiflich und notbmenbig finden, daß auf biele
Weife der eigene Heerb vertheidigt wird. Cuvier's Ans
fehen hatte bie franzöfifchen Gelehrten lange gegen den
Dorwinismus gefhügt, aber heute Tann dies bod wur
noch febr bedingt gefagt werden.
Unter den Apologeten auf naturwiſſenſchaftlichem
Gebiete wäre vor allem der Abbe Moigno, früher Mit:
glieb be8 Jefuitenordens, jet Domherr zu St. Denis,
zu nennen. Cr bat fein ganzes langes Leben diefem
Studium gewidmet, eine Reihe rein wiſſenſchaftlicher
Werke über bie Naturwiſſenſchaften herausgegeben, feit
drei Jahrzehnten die ſelbſt gegründete naturmifjenidjaft-
lide Zeitichrift Kosmos, nachher Les Mondes, beforgt
und zulegt bie reifen Früchte feiner Studien in einem
vierbändigen Werke zufammengefaßt, welches eine ber
bebeutembften Leiftungen der fatfolijdjen Theologie auf
biejem Gebiete ift). Jene Zeitichrift fällt aber theil-
1) Les Splendeurs de la Foi, accord parfait de la révé-
lation et de la science, de la foi et de la raison. IL éd.
Paris 1881. Der joeben auögegebene 5. Band ift;mit noch nicht
qugetommen,
88 Sqhanz,
weiſe außerhalb des Rahmens dieſes Artikels, weil ſie
vorwiegend naturwiſſenſchaftlich gehalten iſt, dieſes Werk
aber habe ich bereits an einem anderen Orte einer
Beſprechung unterzogen ). (δ. wird daher genügen,
wenn id) bier den Standpunkt be8 SBerfafjer8 batlege.
Er behauptet, daß bie b. Schriftiteller die Refultate
der modernen Naturwiſſenſchaften anticipirt haben, in
Folge ber Infpiration den Kenntniffen ihrer Zeitgenofien
weit vorangeeilt feiem. Moſes hatte in ben Natur-
wiſſenſchaften eine ebenfo tiefe Einficht als unfer Jahr⸗
hundert. Ueberhaupt bemüht er fid den auffallend
hohen Stand bet älteften Bildung nachzuweiſen. Re
ſtringirt er aud) öfters feine Ausfprüde, fo fommt er
doch immer wieder auf die Behauptung zurüd, daß
überall eine höhere Offenbarung vorliege, welche bie
neuefte Wiſſenſchaft anticipirte. Ich founte den Stand»
punkt (τοῦ aller Gelehrſamkeit feines Vertreters nicht
acceptirem, ja nicht einmal dem apologetifhen Intereſſe
befonders förderlich eradjten. Die Schrift ift aljo mehr
durch ihren reihen unb mannigfahen Inhalt als durch
ihr Princip und ihre Methode von Bedeutung. Streifen
auch einzelne andere franzöſiſche Gelehrte nod) an diefe
Theſe der alten Schule an, fo find fie jebenfallà weit
vorſichtiger und zurückhaltender.
Ein Antipode iſt Lenormant, ein gelehrter Mit-
arbeiter des Bull. er., der durch feine bedeutenden
Werke?) und kühne Hypotheſen Fein geringes Auffehen
1) Die neuefte Apologetit und bie Naturiviffenfhaft. Liter.
Rundſchau 1881 9. 16. 17.
2) Cf. Les Origines de l'histoire, d'apres la Bible et les
traditiones des peuples orientaux. II. éd. Paris 1880.
Die franzöfifcde Theologie bet Gegenwart. 89
in der franzöfifchen Gelehrtenmwelt gemadjt hat. Er hat
nicht nur bie elohiftifchzjehoviftiihe Hypotheſe aufge
nommen, jondern aud) ben Inhalt ber erftem Kapitel
der Genefis als vein menſchliche Weberlieferung betrachtet,
bie poetijd) und mythiſch ihre Stoffe geftaltete. Er
leugnet zwar bie Infpiration bes Berichtes nicht, bes
ſchränkt fie aber auf bie rein dogmatifchen und mota-
liſchen Lehren. Als folde erfennt er an bie Schöpfung
burd) einen perfönlihen Gott, bie Abftammung ber
SRenjden von einem Paar und den Verfall in Folge
der Sünde der erften Menfchen. In allem Webrigen
bat die Theologie, deren Gebiet von bem ber Natur
wiſſenſchaft durchaus getrennt ift, das 9tedjt der wiſſen⸗
ſchaftlichen Forſchung anzuerkennen. Damit ſcheint aud)
Trochon übereinzuftimmen, wenn er gegen 3Bigourour
bemerkt ?), e8 babe ſchon fo viele Verſuche zur Aus-
gleidjung gegeben, ganz ernfte oder vielmehr gründlich
fubierte, daß man fid vor biejer Tendenz in Acht
nehmen müffe. „Der Bericht des Moſes wird mit allen
Entdedungen und allen wiſienſchaftlichen Syftemen, toelde
nod) fommen mögen, in Webereinftimmung fein. Es gibt
dafür einen einfachen Grund, dies ift ber poetijde und
in Folge davon febr vage Charakter des Berichtes. Man
muß beweifen, daß ihm feine Wiſſenſchaft miber[predjen
wird, man bat aber Unrecht, ben Beweis zu perjudjen,
daß er mit biefer Wiſſenſchaft in Uebereinftimmung
ftebt." Diefes Journal ſcheint überhaupt die Hypotheſe
feines gelehrten Mitarbeiters mehr und mehr zu ber
jeinigen zu maden. Duchesne hat in bemjelben ?) als⸗
1) Cf. Bull. cr. I, 8 p. 148.
2) B. cr. II, 6, 119.
90 Son,
bald bie Hypotheſe Elifford’3 zur Anzeige gebracht und
zwar ausdrücklich feine entjdjiebene Stellung dazu ge-
nommen, aber bod) beigefügt, daß, wenn man aud) über
die Frage nad) den Beziehungen zur ägyptiſchen Mytho—
logie nod) getheilter Anficht fein könne, bod) bie Ver—
werfung der Tageöperioden gerechtfertigt fei. Diele
Hppothefe werde fid) zwar nod) lange in ben Hand:
büchern fort[djleppen, habe aber bereits viel an Grebit
verloren; ber midtigfte Punkt [εἰ vielmehr bie Zurüd-
meifung des Biftoriihen Charakter? im 1. Kapitel ber
Genefi3. Denn bis jet feien alle nichtrationaliſtiſchen
Eregeten anderer Anficht gewejen. Die neue Haltung
des gelehrten Biſchofs beweife, daß nad) feiner Anficht
diefe Tradition, fo einftimmig, fo impofant fie fein möge,
nicht entjdjeibenb fei. Ein anderer Mitarbeiter, Lescöur,
bemerkt?) allerdings mit Recht, daß Guvier unb Wife-
man in diefen Fragen nicht mehr Führer fein können
und Clifford den Verſuch, den Mofes zu einem Geologen
zu machen, ber er im Widerfpruch mit allen Analogien
nur burd) bie Inipiration fein fónnte, mit Grund zurück-
weile. Auf die Väter Tann man fid) meber biegegen
nod) gegen andere Hypothejen berufen ?), denn diefelben
fehen im der That mit Ausnahme be8 Schöpfungds
dogmas hierin febr verſchiedene Dinge. Sie find zwar
größtentheils, namentlich die fpäteren Griechen, der Anz
fidt, daß e8 möglich fei, dieſer ehrwürdigen Seite eine
mit ben Refultaten der Wiſſenſchaften übereinftimmenbe
Erklärung zu geben, aber bei ihren mangelhaften Natur:
DI, 14, 274.
2) Duchesne B. cr. II, 18, 351 nad; Vigouroux, La Cos-
mogonie d'aprbs les Peres de l'église, Paris 1882,
Die franzöfiiche Theologie ber Gegentvart. 91
Tenntnifjen Tonnten ihre Erklärungen weder überein-
ſtimmend noch genügend fein.
Diefe mit viel Verftändniß und Geſchick vertheibigte
Hypothefe muß in Frankreich ziemlich feften Boden ge-
faßt haben, denn ein Gegner derjelben gefteht ihr, viel-
leicht mit einiger Webertreibung, einen großen Einfluß zu.
„Die Meinung be8 H. Lenormant ift nicht eine rein
theoretiſche Speculation, fie ftrebt in bie Praris über-
zugehen und bat [don im Unterricht einen verberblichen
Einfluß ausgeübt. Unter bem Vorwand, baf die Kirche
nichts entjdjieben habe über die Ausdehnung ber In—
ipitation, hat man fid) für berechtigt gehalten zur Be-
hauptung, daß bie göttliche Infpiration fehr verſchiedene
Grade in den verfchiedenen Theilen der Bibel babe;
daß fie direct nur das garantire, was von entſcheidender
Bedeutung für den Geift unb bas Herz des Menſchen
ift, b. b. das Dogma und die Moral. Und man hat
biefe Anfiht in Büchern bruden laffen, melde für Volks⸗
ſchulen beftimmt find“ ἢ. Ja aud) auf ber Kanzel habe
fif der Einfluß ber neuen Lehre geltend gemacht. Es
fei zu befürchten, daß bieje Theorien, deren Parteigänger
bis jegt nur die Rationaliften geweſen feien, fi in ber
Kiche zum Schaden ber h. Lehre verbreiten. Caveant
consules! Aud ber Univers fürchtet foldhe Gonje-
quemgen?). Aber beide gehen in ihrer Oppofition zu
weit und fónnen borum feinen Erfolg haben. Die
ſchwarzſeheriſche Conſequenzmacherei hat mod) mie viel
1) L'abbé Rambonillet, Revoe cath. T. XII N. 72, 1881
P. 708. Zum Beiseife citirt er: Histoire sainte des écoles pri-
maires, p. M. l'abbé Bernard, p. 204.
2) L. c. p. 701.
92 Scan,
gewirkt. Man muß beim vorliegenden Fall ftehen blei-
ben und das Anfehen der D. Schrift unb das Recht der
Wiſſenſchaft gleihmäßig im Auge behalten.
Gemäßigter, wenn aud) ebenfo entſchieden gegen
Clifford ift das Inſtitutsmitglied Martin ?), welcher bie
Tagesperioden vertfeibigt und bie Woche um fo mehr
fefthält, als biefe[be einen rein jüdiſchen Urfprung habe.
Dem erften Kapitel einen literarifhen Charakter bei
legen, heiße fo viel als eim vollftändiges Dementi geben
den heidniſchen und chriſtlichen Schriftftelleen, der mo
dernen Kritik, der ganzen Tradition ber Kirche und ber
offenbaren Intention des Autors felbfl. Die wiſſen—
ſchaftlichen Vortheile ſeien gleich Null, bie religiöfen
Nachtheile febr ſchwer, denn man nehme bem erften
Kapitel ber Genefi8 feinen natürlichen Charakter und
entmuthige bie Verſuche, melde mehr und mehr glüd:
lid) feien, und bie ſchönen Arbeiten derjenigen, welche
Bibel und Wiſſenſchaft vereinigen wollen.
Die Eontroverfe bejdbüftigt fid) oft mit diefer Frage.
Sie gibt zunächft eine Ueberfiht?) über bie Hypotheſe
Elifford’3, welcher, indem er durchaus ben Eifer ber
katholiſchen Apologeten Lobe, fie bod) nicht ohne Grund
table, daß fie hinſichtlich des biblifhen Schöpfungs-
berihtes einen falſchen Weg eingefchlagen haben. Durch
Adoptirung ber verfchiedenen Tagestheorien ber Gelehrten,
welche fie bald wieder aufgeben mußten, habe bie gute
Cade gelitten. Denn die Gegner der Infpiration haben
1) Annales de philosophie chrétienne. Janv. 1882. Es
ftehen mir leider von biefer im 53. Jahrgang, bet Neuen Folge 2.,
ftehenden Zeitſchrift nur einzelne Hefte und Notizen zu Gebot.
2) 11, 20, 238 ἢ.
Die franzöſiſche Theologie der Gegenwart. 93
nicht verfehlt, ironijd) bieje bedauerliche Erfheinung von
Beränderlichteit hervorzuheben. Zum Schluß wird nod)
bemerkt: „es jdjeint außerdem, daß diefes Cpftem ben
Bortheil hat, mehrere ernfte Schwierigkeiten, welche bie
übrigen Theorien bieten, zu befeitigen, beſonders meil
es unà zur Vertheidigung ber Genefis auf ein durchaus
neutrale3 und von ben menſchlichen Wiſſenſchaften un-
abhängiges Terrain ftellt. Die Arbeit be8 ehrwürdigen
Autor beanjprud)t daher bie 9lufmerfjamfeit der θέρος
logeten." Indeß ſcheint diefer erfte Eindrud nicht lange
angehalten zu haben, denn bald nachher teftringirt
Hamard 1) bieje8 „unter allen Referven über ba8 neue
und Fühne, burd) den ehrwürdigen Autor vorgetragene
Syſtem“ ausgeſprochene Urtheil bedeutend. Dasfelbe
hatte bereit3 SSeranlafjung zu einem ftarfen Disput im
Tablet gegeben und in ben Annalen ber dxiftfiden
Philoſophie in extenso Aufnahme gefunden (Nov. 1881).
Hamard vermwirft bie Einwände gegen bie Tagesperioden
und findet unter Annahme biejer eine [olde Ueberein-
fimmung mit den Refultaten ber Wiſſenſchaft, wie man
fie überhaupt in einem fo fury gehaltenen Bericht er:
warten fónne. „In Summa, bie Gründe, melde 9.
Gliforb gegen die bis jet einftimmig angenommene
Anficht beibringt, melde im erften Kapitel der Genefis
den hiſtoriſchen Bericht — unter der Form des
Hymnus (?) oder des poetifchen (6) Gejanges ift gleich-
giltig — der Weltfhöpfung fiebt, halten feine ernſte
Prüfung aus. Wir glauben deshalb fug die Waffen
iu bewahren, meldje wir bis jegt zur Vertheidigung ber
1) II, 28, 751 ἢ.
94 Schanz.
h. Bücher benutzt haben. Die, welche man uns dafür
austauſchen will, ſcheinen uns zu ſchwach zu fein; am-
bere werden, vielleicht mit Grund, fagen, daß fie ge-
fährlich feien".
Auch gegen eine unterbefjen in ber Dubliner Review
(October) erſchienene Vertheidigung des H. Clifford führt
Hamard wieder feinen Hauptgrund ins Feld, bie trabi-
tionelle Anfiht vom biftoriihen Charakter des erften
Kapitels der Genefis. Den Einwand aus bem gali-
leifhen Prozeß gegen bie Berufung auf bie Cregeje
ber Väter will er nicht gelten laſſen, weil e8 fid) hier
in der That um eine Frage des Glaubens handle, da
bie Weltihöpfung ein Artikel des Glaubens ſei. „Con⸗
fequenterweife if e8 wenigſtens gefährlich, in ber Er-
Härung be8 erften Kapitels ber Genefis fij) von ber
einftimmigen unb conftanten Anfiht ber Tradition zu
entfernen“. Ganz am Schluß desſelben Heftes befindet
fij aud) eine Beiprehung über das meuefte Opus
Schäfer's 1), melde mit den Worten beginnt: „Der
Verfaſſer wird mehr als einen katholiſchen Leſer burg)
die Künheit feiner Exegeſe in Crftaunen jegen". Man
brauche den 5. Schriftftellern allerdings feine ihre Zeit:
genofjen überragende menſchliche Kenntniſſe beizulegen,
aber man müfje aus ihren Schriften alle wiſſenſchaft⸗
lichen Jerthümer, bie zu jener Gregefe allgemein auf:
genommen waren, außfchließen. „Was immer ba8 Ob:
ject fein möge, Dogma, Moral, Gejdjidjte, 3taturtviffen:
haften, fie find wahr in allen Punkten“.
Cnblidj fonmt bie geitijrift anläßlich einer Ber:
1) 8. Schäfer, Bibel unb SBiffenjjaft. Münfter 1881. Sl.
diefe Zeitſchr. 1882 ©. 828 ff.
Die franzöfiiche Theologie ber Gegenwart. 95
theidigung Clifford’3 gegen Martin) mod) einmal auf
bie Sache zurüd?). Die SBertbeibigung Glifforb'8 habe
ben erften Eindrud nicht verwifchen fónnen. Die Väter
feien zwar in der Gregefe ber Genefis nicht einig ge-
weſen, aber e8 [εἰ untichtig, daß ein beträchtlicher Theil
den Biftorijdjen Sinn be8 Moſaiſchen Schöpfungsberichtes
geleugnet Habe. Allegoriſch [εἰ noch nicht unbiftorijd.
Der Hauptgrund [εἰ aber der, daß man fid) nit ohne
zwingenden Grund von ber wörtlichen Gregeje entfernen
dürfe. Auch Abbe Motais habe fid) in einem bemerkens⸗
werthen Buch?) hierüber ausgeſprochen. Er gehe nicht
mit Bofizio, defien wörtliche Auffaffung den geologischen
Thatſachen durchaus toiber|predye, fondern nehme Tages⸗
perioden an, durch welche überall Webereinftimmung her-
geftelt werde, ohne daß behauptet werden wollte, daß
Gott dem Mofes eine fenntniB der geologijchen Wiffen-
ihaft infpirirt habe. Gott habe ibm fo viel von ber
Schöpfung wiſſen laſſen als für den religiöfen Zweck
nöthig gemwefen fei.
Damit iff wohl zu vergleihen was er jdjom an
einem andern Ort gefagt hatte‘). Der frenge Euvier’-
ide Artbegriff [εἰ zu mobificiren, innerhalb gemifler
Grenzen eine Entwidlung zuzugeben und für bie ein
zelnen Schöpfungstage nur die Bezeichnung ber Haupt:
Saraktere feftzuhalten, fo daß fid) die Werke an den
folgenden Tagen fortjegten. So aufgefaßt fei bie Weber-
1) Annales de phil. chr. Avril 1882.
2) III, 36, 492 jf.
3) Moise, la science et l'exégése, examen critique du
nouveau systeme d'interprétation proposé sur l'hexaméron
par Mgr. Clifton (?). Paris 1882.
4) L, 2, 88 ff.
96 Schanz.
ſicht des Moſes ganz richtig. Dies iſt allerdings das
Minimum, welches auch bei uns die Concordiſten der
Geologie concediren. Hamard ſieht ſich aber veranlaßt
in einer Anmerkung beizufügen, daß dieſes weniger ſeine
eigene als die Anſicht einzelner Apologeten ſei. Er
wife, daß dieſelbe von frommen und gelehrten Eregeten
als verwegen erfunden worden ſei. Zum Glück ſei
dieſelbe nicht nothwendig.
Auffallenderweiſe ſind wir bis jetzt nirgends (Mar⸗
tin zum Theil ausgenommen) einem ernſtlichen Verſuch
begegnet, bie ägyptiſche Baſis ber Clifford'ſchen Hypo—
theſe näher zu prüfen. Dies geſchieht aber von Fo—
ville"), ber einerſeits den größten Theil des Inhalts
auf natürliche Duellen zurüdführt, andererfeit3 Bedenken
trägt, bie Sechszahl aus Aegypten abzuleiten. Im
Uebrigen macht er aber H. Clifford viele Zugeftändniffe.
Noch genauer und mehr negativ geht ein anderer Franzos
auf diefen Punkt ein®). Er fagt, das erfte Kapitel der
Genefis [εἰ weder rythmiſch gehalten noch gegen aber-
gläubifhe Gebräuche der 9legppter geridjtet. Der Be
weis für bie erfte Behauptung ergibt fid) aus einer
Unterſuchung be8 Tertes, ber Nachweis für die andere
aus ber Thatſache, daß den Negyptern die Woche un:
befannt war, ihre Tage nicht nad) ben Planeten genannt
murden, die Monate noch feine Namen hatten. Die
Hypotheſe bebürfe aljo nod) weiterer Beweiſe. Uebri—
1) Los Jours de la Semaine et les oeuvres de la création.
Extrait de la Revue des Questions scientifiques, Janv. 1882.
Bruxelles. 388. meine Angeige in ber iter. Rundſchau 1882 Nr. 6.
2) E. Amelineau, Le premier chapitre de la Genbee.
Les Lettres chr. t. IV N. 3 (1882) p. 398—415.
Die franzöfifche Theologie der Gegenwart. 97
gens [εἰ nod) beizufügen, daß eine ganz ähnliche [don
im 17. Jahrhundert von Abbs Collier aufgeftelt wor-
den fei ?).
Demgemäß find bei ben Apologeten aud) alle Rich
tungen vertreten. Nur ift die Beſchränkung auf 6 wirk—
liche Tage und bie Zurücdführung aller foffilienhaltigen
Schichten auf die Sintflut ausgefchloffen. Auf welcher
Seite die Mehrzahl fteht läßt fid) aus bem Borher-
gehenden fließen. Doch ftellt fid) das Zahlenverhältniß
jedenfalls nicht wie bei ung. Bon ben neueren beut-
ſchen Apologeten will ἰῷ für beide Qauptridtungen nur
je einen nennen. Den Jdealismus vertritt Schäfer; den
hiſtoriſchen Charakter Geijenberger?). Segterer macht
im SBejentliden diefelben Gründe, mie bie franzöſiſchen
Theologen gegen bem Idealismus geltend. Es fei zu
befürdten, daß dadurch das Bibelwort an feinem An-
ſehen und feiner Geltung geſchädigt werben möchte,
Auch feine ein Abgehen von bet ἔτ ὦ) exegetiichen
Tradition bedenklich. In ber Kirche [εἰ ber erfte Bibel-
abſchnitt ftets Diftorijd) angefehen und erklärt worden.
Der b. Auguftinus habe feine frühere allegorijde Auf-
fafjung zurüdgenommen. Für legtere Behauptung er-
wartet aber, wer bie prinzipielle Stellung be8 b. Au:
guftinus in biejer Frage fennt?), etwas mehr al8 einen
Verweis auf ben Genefiscommentar von Pererius. Die
1) Mémoires de l’Acad. des Inscr. t. 1V p. 47. 48.
2) Der bibuſche Schöpfungsbericht (Gen. 1, 1—2, 8), 2. 9.
Freifing 1882.
8) Bgl. meinen Auffag: Ter h. Auguftinus und die Genefis.
Rat. unb Df. 1877 €. 668—688 und: Der h. Thomas unb bad
Heraemeron. Theol. Quart. S. 1878 €. 8—22.
Se. Onartalfgrift. 1888. Heft 1. 7
98 Schanz,
Berufung auf bie Väter if für beide Richtungen glei
bedenllich, wie felbft Moigno (IV, 41) gugibt. Auch
die Warnung vor ben Gonfequengen verliert ihre Wir-
tung, wenn man fid) erinnert, daß bie Antigalileiften
gerade jo gerufen haben. Nichts beftomeniger gebe ich
die Schwierigkeiten der neueſten Hypotheſe zu, obne
aber den ftreng biftorifhen Charakter gelten zu laſſen.
Die Lehre von ber Infpiration fdeint mir fein
abfolutes Hinderniß zu fein, wenn man anders bie
Decrete von Trient und dem Vaticanım nicht nad) bem
Buchftaben pret, wie e8 παπιε ὦ bie Dogmatifer
gern thun. Dies ift aud) zum Theil bei denjenigen
franzöſiſchen Gelehrten ber Fall, welche gegen Lenormant
und Clifford auftreten ?). Es ift zwar bedenklich, eine
partielle Infpiration anzunehmen und in weltlichen
Dingen Irrthümer zuzugeben. Auch iſt es richtig, daß
man fid hiefür nicht wohl auf bie Väter berufen Tann.
Denn felbft ber 5. Auguftinus Dat bie Möglichfeit eines
Irrthums ausgefhloffen. Aber man Tann beides an-
nehmen, ohne das Dogma zu alteriven. Die 5. Schrift-
ſteller mußten fid) nad) der Faffungsfraft und den Bor-
ſtellungen ihrer Zeitgenoſſen ausbrüden, wenn fie ver-
fanden fein wollten. Dadurch ift die Anerkennung ge-
wiſſer falſcher mwiffenichaftlider Meinungen ebenfotoenig
ausgeſprochen als im Judasbrief bie der Apokryphen
durch Citirung einzelner Stellen aus benjefben. Deßhalb
ift Sade und Form wohl zu unterfcheiden. Wenn z. 58.
nicht bloß Drigenes, fondern aud Ambrofus u. 4.
1) Rambouillet, Rev. cath. 1. c. p. 689 ἢ, Lamy, La
Controverse III, 33, 288 ἢ.
Die franzöſiſche Theologie ber Gegenwart. 99
gerabezu bie hiſtoriſche Auffaffung einzelner Erzählungen in
dee 8. Schrift für unmöglich erklären und zur Allegorie
ire Zuflucht nehmen), menu alles mas fij in der
h. Schrift auf das Weltſyſtem bezieht, ptolemäiſch lautet,
fo ift Dinfünglid) bewiefen, daß eine Accommodation an
irrige Vorftellungen mod) nit gegen bie Infpiration
der Ὁ. Schrift verftößt. Dabei laſſe ἰῷ es babingeftellt,
ob bie Schriftfteller perjónlid) biefe Irrthümer theilten
ober nicht, trage aber feinem Anftand, die Bejahung für
wahrſcheinlicher zu erklären. Dem Sate: „alfo ift Gott
bet Urheber ber D. Bücher, bie Menſchen thun nichts
als bie Feder halten unter der Führung des b. Geiftes“ *)
begegnen wir aud) anderwärts, mir können uns aber
von ber Richtigkeit des zweiten Theiles ebenfowenig
überzeugen als von ber Beweisbarkeit der Acta con-
ailii (Theiner) für in omnibus partibus. Ich kann aud)
bie Richtigkeit des Dilemmas: entweder ift das erfte
Kapitel der Genefis geoffenbart und dann ijt e8 Dijto-
riſch, oder e8 ift nicht Diftorij und nicht geoffenbart ®)
nicht ohne Weiteres zugeben. Denn e8 gibt in ber That
ein Mittleres, das [don concebirt ift, wenn gejagt wird,
e$ könne Diftorijd) fein ohne daß e8 bem Verf. birect
geoffenbart wurde. Dagegen füge id) bier gerne nod)
bie Notiz bei, daß bie große Mehrzahl ber franzöfiſchen
Theologen hierin ber MWiffenfchaft einen großen Spiel
raum läßt. Welche Theorie man annehmen möge, man
verlaſſe damit bie Orthodorie nit, denn man zweifle
1) 3861. Die Probleme der Einleitung bei den Vätern. Theol.
Dunt. ©. 1879 ©. 63 fi, 73 ff.
3) La Contr. 1. c. p. 291.
3) Lettres chr. 1. c. p. 404,
7*
100 Schanz,
wicht an bem Antrieb und Beiftand Gottes für Mofes.
„Die Kirche hat niemals bi8 auf diefen Tag beftimmt,
daß diefer oder jener Theil der Bibel direct geoffenbart
fei, und wenn der Autor die Thatſachen auf natürlichem
Wege Tennt, bedarf εδ einer birecten Offenbarung nicht,
fondern nur des einfachen Beiftandes. Alfo bleibt jelbft
bei der Theorie Glifforb'8 bie Infpiration intact“ !).
Die Lenormant'ſche Hypotheſe führt und aber freis
lid) bedeutend weiter, weil fie nicht wie bie Glifforb'[de
vor bem zweiten Kapitel Halt madt. Wir gerathen
damit in ein Gebiet, welches heutzutage zwiſchen Dog-
matik und Naturgefchichte heftig beftritten wird, zu ber
febre vom Urftand. Auch hierüber habe id) mid)
anderwärts bereit3 außgefprochen ?), es dürfte aber von
Intereſſe fein, auf die zahlreihen und gründlichen fran-
abfifden Arbeiten hierüber binzumeifen. Denn in biefer
Stage kommt der große Gegenfag zwiſchen bem Natür-
lichen und tlebernatürliden am ſtärkſten zum Ausdruck.
Bor allem find bie ſchönen Auffäge über bie prähifto-
riſche Arhäologie und die Bibel zu erwähnen®). Ha—
matb befämpft mit Glüd ben Tertiärmenfchen des Abbe
Bourgeois (1863), beweist, daß ber Menſch quaternär
und das fpäteft aufgetretene lebende Weſen ift. Inter:
efjant ift befonders aud) die Ausführung über bie be—
hauptete urfprünglide Wildheit ber erften Menſchen⸗
1) Lettres chr. 1, c. p. 405.
2) Die tirgejdjidite der Menſchheit und bie Bibel, Liter. Rund»
ſchau. 1882 9. 2.
3) Hamard, La Contr. I, 1. 2. 4. 6. 7. 8. La civilisation
prébistorique ibid. II, 19. III, 39. cf. Revue des Questions
scientifiques 1879.
Die franzöfiiche Theologie der Gegenwart. 101
generationen. Er beipriht bie einzelnen Gegner ber
Keihe nad) (Gartaijac, Broca, Hädel, Vogt, Schaaff:
haufen u. 9L) und fommt zu bem Refultat: „Der Menſch
ber erften Zeiten ftand nicht merklich niedriger al8 bet
gegenwärtige Menſch.“ „ES widerſtrebt und nicht, gus
zugeben, baf ber erfte Menſch die Fortſchritte ber zeit»
genöſſiſchen Indufttie und die Errungenſchaften der
materiellen Civiliſation nicht fannte. Von biefem Ges
fihtspunfte aus war er ein Barbar troß bet fider δὲς
trüdjtlidjen Summe moraliſcher Kenntniffe und boctrineller
Wahrheiten, welche ibm vom Schöpfer gegeben murbe.
Aber wenn er barbariſch war, [o bod) keineswegs mild.
Denn fonft wäre er nicht aus feinem finbbeit3guftanb
Berausgefommen. Niemals hat man, nad) dem Geftünb-
niß be8 H. Renan, eine wilde Benölferung fid ſelbſt
civiliſiren feben" 1).
Dasfelbe Thema wird mit Bezug auf einen εἶπε
zelnen, den Hauptpunft, in eingehender Weife von Hate
behandelt ?). Da er gleichfalls bie Gegner einzeln vor:
nimmt (Broca, Perier, Hädel), fo fonnte e8 freilid) an
wörtlichen Webereinftimmungen in längeren Citaten nicht
fehlen. Für uns genügt e8 hervorzuheben, daß bie bes
Tümpfte Anficht zufolge ber einleitenden Bemerkungen
in Frankreich einen ausgedehnten Boden erobert bat.
Denn wird aud) dad Dictum von den zwei Frankreich
auf ba8 allgemeine von den zwei Menfchheiten ausge:
dehnt, fo werden bod) vor allem franzoſiſche Zuftände
ins Auge gefaßt. Hats ift gegen jebe Conceffion und
1) L. c. 8 p. 841.
2) L'homme-singe et nos savante. La Contr. II, 10. 11.
12, 18, 14. 15.
102 Shan
hält ben bibliſchen Bericht fiber die Erihaffung des erften
Menſchenpaares im firengeu Wortfiun aufreht. Denn
es liege Fein wiſſenſchaftliches Datum vor, weldes uns
zwaänge, benfelben meniger wörtlich zu nehmen. Der
Transformismus fei nidjt8 al8 eine Hypotheſe und der
Darmwinismus eine Gonjectur. In mod) flärkerem Tone
brüdt ſich Belon in einem leſenswerthen Auffag aus ?).
Weſentlich anders dagegen lautet ba8 Urtheil in einer
für die Frauen gefdyriebenen Schrift”). Bei aller δε:
haltung bes theiftiihen Standpunftes fagt Biart bod) in
der Einleitung: „Dem Menſchen, einmal erſchienen,
werben wir in feinem zur Givilifation vorwärts fehreis
tenden Gange folgen. Wir werden fehen, wie er fij
ſchnell vom Thier [deibet, feine Organe vervollfommnet,
und exbíió mit der Hilfe von Jahrhunderten biefer
brauchbare Arbeiter wird, biejet gelehrte Weile, biefer
geiftreihe Künftler, melde unbeftteitbar aus ihm das
Meifterwert Gottes machen“. Der Stecenjent, dem wir
diefe Worte entlehnen®), verwahrt fid) gegen biefelben,
glaubt aber nicht, daß fie fireng zu nehmen feien, weil
der Verf. fonft feinen Standpunkt hinlänglich fenugeidje.
„Nach diefem werben wir, wenn Q. Biart die τερεῖς
mäßige und allgemeine Aufeinanderfolge be8 Stein-
Bronces und Eifenalters als unbeftritten barftellt, wenn
er aud) vieleicht die Wilbheit der erften Senjden und
ijr Alter übertreibt, ihm femen Vorwurf machen
1) L'origine du premier homme et l'enseignement catho-
lique. Conférence faite aux facultés catholiques de Lyon,
le 17. mars 1882. La Contr. III, 35.
9) L'homme et son berceau, p. Lucien Biart. Paris 1882.
9) Lesoosur, Boll. or. III, 5 p. 91.
Die franzöfiiche Theologie ber Glegentvaxt. 103
über biefe Punkte, welche noch fo lange Beit ſehr vielen
Eontroverfen Raum geben werden.”
Beim zweiten Theil der Apologetif, der Philo-
fophie, Kann ἰῷ mid) ziemlich fürger faffew. Denn
idt bloß bat bieje Wiſſenſchaft ber Wiſſenſchaften aud)
jenfeit8 des Rheins ihren Reiz verloren, fondern fie ift
wie überall auf eine enge Verbindung mit den Statut:
wiſſenſchaften angemwiefen. Ih folge aljo mit bloß
einer perſönlichen Neigung, beziehungsmweife Abneigung,
fombern befinde mid im Einklang mit der mir vot.
liegenden Literatur. Es Klingt faft melanholiih, wenn
ein mit X unterzeichneter Recenfent *) nad) einer aus:
führligen Beſprechung eines Werkes über bem Ariſto⸗
telismus in der Scholaftif ?) zu bem Concluſum kommt:
„Heutzutage weht der Wind wit für bie philoſophiſchen
Studien; er twebte ftärfer von diefer Seite in bet erſten
Hälfte des Jahrhunderts. Man hat megen ber Ohne
macht, etwas aufzubauen, in den Anftvengungen nachge⸗
lafem. Doch ob man e8 molle oder nicht, das Schidjal
der Philophie kann nicht untergehen, denn bieje Wiflen-
haft bat bie Wache über bie bebeutenbftew Probleme
des Lebens. Was [oll man alfo tbun? Zum idola.
ſtiſchen Gebanfen zurückkehren? Ja, anttoortet H. Talamo,
und nicht um auf ibm auszuruhen, jondern um ihn zu
verjüngen, zu bereichern mit allen. Errungenschaften des
modernen Wiſſens“. Valſon, Dekan ber Tatholifchen
Facultät in Lyon, beginnt einen Artikel über bew Ma-
1) Bull, er. II, 24 p. 468.
2) L'Aristotelismo della Scolastica nella storia della filo-
sofia, Studii critici del prof. Talamo. III. ed. Siena 1881.
Bol. Liter. Rundihau 1882 N. 16.
104 Shen,
terialismus in ben Wiſſenſchaften (Naturwiſſenſchaften)
mit den Worten: „ES ift immer fehr miflid) für einen
Gelehrten, das philoſophiſche Element aus feinen Unter
fudungen ſyſtematiſch auszuſchließen; aber e8 gibt nod)
einen Zuftand, der ſchlimmer ift, als feine Philofophie
zu haben, b. i. eine ſchlechte zu haben“ ?). Ich begreife
diefen Beffimismus, begreife aber ebenfo, daß die fran-
zoſiſchen Theologen trogdem fo viel gegen bie Philofophie
zu Yämpfen haben. Es gibt eben weit mehr ſchlechte
Philoſophien al8 gute und heutzutage Tann man, von
ben auf enge theologifche Kreife beſchränkten ſcholaſtiſchen
Reftaurationdverfuchen abgefehen, nur nod von einer
bedeutenden Philofophie ſprechen. Es ift biejenige,
toeldje fid) mit den realiftifhen Naturwiſſenſchaften eng
verbunden hat, bie Evolutionstheorien mehr oder weniger
als Borausfegung betrachtet und in Frankreih und
England unter bem getoinnenben Namen des Pofitivis-
mus bie gelehrte Welt beherricht. Der Materialismus,
welchen Balfon als eine „furchtbare und vetberblidje
Macht” bezeichnet, ift die Conſequenz des Poſitivismus
für bie bem Gelehrtenanftand mihachtenden Halbgebil-
deten und bie Maffe. Der Pofitivismus ift etwas an-
ftändiger, aber nicht weniger gefährlih. Er madt nicht
gerade bie Materie zum Idol, aber er verweigert es,
über die Erfahrung hinauszugehen. Das höhere Wefen
ift ihm ein Unbelanntes, mit bem man nicht weiter
. rechnen Tann, weil e8 fij jeder Erfahrung entzieht.
Die Dffenbarungen, Prophetien, Wunder find umdis-
cutitbat, weil es au jedem Mittel zum Beweis fehlt.
1) La Contr. 1, 8 p. 66.
Die franzöftiche Theologie ber Gegenwart. 105
Folglich bleibt mur das Diesfeits, mur das finnlide,
empirijde Sein Gegenftand der Philofophie. Die beften
Namen der gelehrten Welt, bie große Maſſe ber ges
bildeten Franzofen haben im Pofitivismus ihr Glaubens:
befenntniß. Ein wiederholt citirter Gelehrter ?) ſchließt
eine Stecenfion über eine antipofitiviftiide Schrift?) mit
den Worten: „Machen wir bier Halt und ſchließen wir
mit einer Reflerion be8 P. be Bonniot, melde febr
geeignet ift bie „moberne Vernunft“ zu demüthigen, bei
der eine Philofophie, gleich monftruds und bumm, bat
populär werben fónnen bi8 zu bem Punkt, daß fie im
gegenwärtigen Augenblid zu triumphiren ſcheint“. „Ihre
Kraft befteht ganz in der Schwäche des Geiftes unferer
Zeitgenofien, ähnlich jenen Krankheiten, melde fid) in
‘einer erſchöpften Gonftitution ernähren“. Ein anderer
bemerkt über denſelben Gegenftand ®): „Unter bem Nas
men be8 Poſitivismus zieht eine große Anzahl verirrter,
von Haß erfüllter Geifter, unter ben Philofophen, 380:
litifern, Gelehrten, bie Maſſen fort, indem fie ihren
böfen Leidenſchaften ſchmeicheln, erflären, daß was man
nicht ſehen, berühren, fühlen unb auf erperimentelle
Weiſe beftätigen Tann, nicht eriftirt, und daß folglid)
Gott, bie Seele, bie perfónlide Unfterblichkeit eitle Worte
find, welche bie Wiſſenſchaft verachten, der Gefeßgeber
vermeiden muß und melde bie Maffen, befreit vom reli⸗
giöfen Aberglauben, enblid) gurüdftoBen müſſen al8 bie
1) Lescoenr, Ball. cr. II, 15 p. 297.
2) Les malheurs de la Philosophie: études critiques de
phil. contemporaine, par de Bonniot, 8. J. Paris 1881. II éd.
8) Revue cath. t. XIII p. 270. gl. aud) La Contr. II,
37 p. 514.
106 Sqhanz,
letzte Spur der Herrſchaft des Klerus in den verfloſſenen
Syabrbunberten",
Hier müffem alfo bie franzöfiihen Theologen ihre
Hebel einfegen, um als Philofophen und Raturkenner
der unglänbigen Strömung entgegenzuarbeiten. Wir
können bem gleich beifügen, baf bie Schriften gegen
ben Pofitivigmus denn aud) ungemein zahlreich und oft
mit vielem Geift und Wiſſen gejdriebeu find. Der
BVofitivismus ift ſchwer zugänglich, weil er die beftehen-
ben Erfahrungswiſſenſchaften für fid) im Anfpruch nimmt
und Religion und Philofophie in das Steid) der Chimäre
verweist. Er verweigert ed, auf dem Dcean ber unficht-
baren Realitäten fid) einzulaflen, für welchen er weder
Nahen noch Segel zu haben vorgibt. Deßhalb Hilft
der Proteft ber Philofophie Diegegen midjt8, man muß,
wenn bie Gegner nicht auf unfer Gebiet übertreten, auf
das ihrige übergehen, ihre eigene Willenfchaft, 1a science,
bören. Daher ift e3 nothwendig, baf ein SBettfeibiger
ber Wahrheit zugleich Philoſoph und Naturforſcher ἐξ
und im Namen ber Erfahrungsmwifienichaften den Beweis
führt, daß die Erfahrung ebenfo motftoenbig bie Meta
phyſik verlange als bie Metaphyſik bie Erfahrung vor:
ausſetze. Dieſen Beweis hat der gelehrte Broglie et-
bracht, indem er von feinen Gegnern nichts weiter als
bie Anerkennung ber Methode »du bon sens progressif«
verlangte!). Seine Schrift bat aud) bei Gegnern Auf:
1) Le Positivisme et la science expérimentale, par M.
l'abbé de Broglie. 2 voll. Paris 1881. Οἵ: Démenstration
catholique contre le Positivieme, le Makérialismao et la Libre-
pensée de MM. Littré, Robin, Renan, Taine, Soury, About,
Moleschott, Vogt, Buchner, Darwin, Tyndall, Spenoer, Haekel,
Draper ete., par M. l'abbé Pernet. 2 vol. Paris 1881.
Die franzöftiche Theologie der Gegenwart. 107
fehen gemacht. Paul Janet brüdt fogar feine Freude
darüber aus‘), daß fid bie katholiſche Theologie mit
den hohen Problemen der fpeculativen Philofophie bes
faſſe. „Diefe Kirche vepräfentirt unter ber genaueften
und concreteften Form das religibfe Prinzip; mum ift
aber die Religion, in ihrer Idee und unabhängig von
jeder Form genommen, ber erhabenfte Ausbrud bet
Philoſophie“. Wenn Janet dabei den Tadel ausſpricht,
daß fid ber franzöfifche Klerus feit den Zeiten Gratry's
etwas von ber Philofophie fern gehalten habe und
zurücgefchritten fei, fo ſcheint er mir darin nicht fo ganz
Unrecht zu haben. Auch feine Begründung ift nicht
übel. „Die frommen Uebungen, die Werke der Charitas
und bie politifchen Agitationen haben bie kirchliche Thätig⸗
feit ganz abforbirt." Dennod kann id) mit der Gontro-
verfe übereinftimmen, melde als fdlagenben Gegen-
beweis bie fatfolijen Univerfitäten anführt. Denn
bieje Zeilen find ja gerade zu bem Bede geſchrieben,
den erfreulichen Aufſchwung ber fatfolijdjen Theologie
in Frankreich darzuftellen. Die Controverfe fteht aber
erft in ihrem dritten Jahrgang und bie fatbolijjen
Facultäten in ihrem erften Dezennium.
Damit hängt zufammen, daß bie Nothwendigkeit
be8 Webernatürlichen erwiefen oder toemigflen8 bie Be-
bauptung der Unmöglichkeit desfelben zurückwieſen wird.
Auch biefer Beweis Tann bloß auf Grund ber Natur:
wiſſenſchaften geführt werden. Dies thut denn aud
Bonniot in feinen Aufjägen über bie wiſſenſchaftlichen
1) Un eseai du róalisme spiritualiste. Revue des Deux-
Mondes. 1. Juin 1882.
108 Schanz,
Einwände gegen das Wunder 1), indem er bie Verträg⸗
lichfeit be8 Wunders mit ber Feſtigkeit der Naturgefege
darthut. Das Wunder wäre gar nicht möglich ohne
ba8 Geſetz, deſſen Ausnahme es barftellt. Wie bie
phyſiſchen Uebel eine Unordnung find, fo dient das fie
befeitigende Wunder zur Herftellung ber Drbnung. Man
muß fid) alfo eimetjeit8 von bem Vorurtheile befreien,
als ob das Wunder etwas rein Zufälliges, Capriciöfes,
Zweckloſes jei, und andererſeits bie abfolute Wirkſamkeit
ber Naturgefege dahin reftringiren, baf ein gegebenea
Agens immer biejefbe Wirkung hervorbringt, oor-
ausgeſetzt, daß e3 fid ftreng unter benfelben Bedingungen
befindet. Speciell laffe fid) dann bie ganze moderne
Erklärung ber pbpfitalijdjen Phänomene burd) Bewegung
mit bem Wunder vereinbaren. Denn einmal bringe aud
der geiftige Factor im Menſchen, die Seele, Bewegungen
bervor, fobann zwinge fid) Gott gleichfam felbft, das
Prinzip der Erhaltung ber Kraft zu refpectirem. Aehn⸗
lid láft fid) aud) gegen bem aftronomijden Pantheis:
mus be8 Flammarion operiten?), ber, fo pbantaftijd)
er fid) aud) ausnimmt, wegen des Anfehens ber Aftro-
nomie feit fopernifu8 und Kepler bod) Verbreitung und
Anerkennung findet. Aber e8 läßt fid) mur zeigen, daß
die populären aftronomifhen Anſchauungen, melde bem
alten Spftem entnommen wurden, faljd) find und babet
qud) die religiöfen Anfhauungen reiner aufzufafien find,
dagegen bie Unmöglichfeit des Theismus Tann aud) dieſe,
vom ſtarren Naturgeſetz beherrſchte Digciplin nicht erweiſen.
1) La Controv. II, 7. 8. III, 87. 38. 89.
2) III, 21. 22. 28,
Die franzöfiiche Theologie ber Gegenwart. 109
Da die Franzofen in der Regel unjeru Landsmann
Hädel mit den Pofitiviften zufammenftellen, fo fann es
nicht Wunder nehmen, wenn fie feiner weder ,mate-
rialiſtiſchen nod) fpiritualiftifchen" Philofophie eine be
fondere Aufmerkfamkeit ſchenken. Ueber feine Cellular:
philoſophie hat Alexis Arbuin eine Reihe von Artikeln
publicirt 1), in denen er eine Darftellung unb Kritik des
Syſtems gibt. Man kann e8 ihm aud) nicht verargen,
daß er zum Schluffe über biefe Lufthypotheſe feinem
Aerger einigermaßen bie Zügel fchießen läßt. Hädel
toil nämli zwar nicht bas Unbefannte, aber bod) den
geiftigen Charakter der Seele wahren. Er beginnt mit
dem Urbildner Plaſſon, aus welchem das Protoplasma
und der Sellfern hervorgehen. Derjelbe fann fid) aber in
unrebucirbare Elemente zerjegen, melde Plaſtidulen
heißen und aus ben unorganiſchen Elementen beitehen.
Diefen Plaftivulen muß man bie Lebenseigenihaften
beilegen, melde man bisher ben Zellen oder bem Proto-
plasma beigelegt hat. Sie vereinigen fid) zu Plaſtiden
oder Bellen. Jedes Atom befigt mun eine inhärente
Summe von Kraft und ifl in biejem Sinne „bejeelt“.
Daraus entfiehen Vergnügen und Mifvergnügen, Wunſch
und Abneigung, Anziehung und Abftoßung, Senfibilität
und Wille. So kommt Hädel fchließlih auf bem Wege
der fortſchreitenden Entwicklung der Zellenſeelen zur
meuſchlichen Seele. Trotz aller Verwahrung und Sophiſtik
geratpen τοῖς aber damit toieber auf den Boden des
Materialismus. .
Dies ift in legter Inſtanz bei allen evolutioniſtiſchen
1) La Contr. I, 1. 8, 4. II, 6, Cf. II, 7.
110 Schanz⸗
Theorien der Fall. Darin liegt auch der Grund, warum
auf ihrem Standpunkt von einer Moral nicht die Rede
ſein kann außer in Worten. Der Hauptvertreter der
unabhängigen Moral, der Engländer Spencer, welcher
dieſelbe vielen mundgerecht gemacht hat, fanm deßhalb
in ber neueſten Apologetik nicht fehlen). „Eine Surüd-
führung der Moral auf bie phyſiſche Ordnung heißt in
befremdlicher Weile die Wechſelwirkung mißbrauden,
melche zwiſchen beiden, weſentlich verichiedenen Gebieten
vorhanden ift, heißt bie Freiheit unterbrüdem, bie Ber-
antwortlickeit, bie Pflicht. Was haben wir aber dann
mit der Moral und ben Moraliften anzufangen? Sprechen
Sie nur von phyfitalifchen Wiſſenſchaften, Chemie, Natur⸗
geſchichte, aber bei Leibe nicht mehr von Philofophie,
bejonbers nicht mehr von Moral, dies wäre eine Ber:
fpottung". Spencer weist oft auf ben Widerſpruch hin,
in welchen fid) viele Menſchen burd) ihre Praxis gegen
ihre Theorie fegem. Und wenn e$ richtig ift, daß Fara-
day geſagt habe, er ſchließe fein Laboratorium, wenn
et fein Oratorium öffne und umgekehrt, fo ift damit
nur ein in England bejonber8 ausgebildeter Gewohn:
beitszuftand bezeichnet, welcher beweist, daß es unmög-
Tid) ift, bie Moral auf ber Phyſik aufzuerbauen.
Endlih will id nur im Vorbeigehen eine in den
legten Jahren aud) bei ung wielverhandelte philoſophiſch⸗
naturwiffenfhaftlihe Hypothefe, ben Spiritismuß,
berühren. Ein Aufiag über ben Spiritismus in Deutſch⸗
. land in ben Annalen der chriſtlichen Philofophie (1880
1) Les nouvelles bases de la Morale, d'aprés Herbert
Spencer, p. Elie Blanc. La Contr. II, 11. 12. 18. 14.
Die frangöftfche Theologie der Gegentvatt. 111
Nov.) ift eim Stejumé aus meinem Aufſatz ἢ). Aus:
führlicher Handelt über den Spiritismus Abbe Elie
Meric?), der fid) aud) mehr als andere Franzojen von
dem Einflufe der Dämonen fernhält. Er ift jer ffep-
fif gegen bie Erklärung ber fpiritiftifchen Phänomene
durch Geifter, ob fie gute oder böfe feien. Miele fog.
Experimente feien betrügertih. Außerdem offenbare fid)
die Natur, deren verborgene Kräfte unà mod) longe
nicht alle befannt feien, manchmal anf außerordentliche
und Auffehen erregenbe Weife. So in den Erſcheinungen
der Hallucinationen, ber phyſiſchen Unempfindlichkeit,
bet wunderbaren und anßerordentlihen Activität. Ihre
müdtige Wirkung Tönne in getoiffen Fällen die befremd⸗
Tien Thatſachen, welche man den verfammelten Geiftern
augufchreiben vorgibt, erklären.
Der dritte Theil der Apologetik betrifft bie D.
Schrift, bie bereit8 im Borhergehenden prinzipiell
vertheidigt worben if. Auch bier ift ba3 Gebiet wieder
ein ungemein ausgebehntes. Denn e8 erfiredt fid) von
der Leugnung des kanoniſchen Charakters und ber Offen:
borung überhaupt bis zur Beftreitung einzelner Schriften,
einzelner Theile, einzelner Erzählungen. An zahlreichen
Angriffen in allen diefen Beziehungen fehlt es in Frank—
teid) nicht, bod) konnen wir ung nad) bem Biöherigen
auf ein paar Qauptpuntte beſchränken. Gegenüber ber
pringipiellen 2eugnung des Uebernatürlichen und Wunder:
baren vom Standpunkte der Naturwiſſenſchaft und Philos
fopbie aus hat zunächſt ber theologifhe Beweis feinen
1) Liter. Rundſchau 1880. N. 10-12,
2) Revue cath. t. XIII N. 75. 76: Le Merveilleux, la
Theologie et la Science. Of. Bonniot, La Contr. III, 31—83.
112 Shan,
Werth. Wenn aljo Voltaire, Strauß, Renan, Havet
u. A. jeden Beweis gegen bie Echtheit der b. Schrift
ablehnen, weil er burd) bie Unmöglichkeit des Wunders
überflüffig gemacht fei und das einzige fidjete Datum
aus bem Leben Jeſu ber Tod Jeſu unter Pontius
Pilatus [εἰ 1), fo find zuerft bie Vorfragen zu erledigen
und ift der Beweis anzutreten, daß burd) bie Leugnung
be übernatürliden Charakters bes Chriftentbums feine
Entftehung und Ausbreitung zu einem Räthſel gemacht
werde. WIN man aber die Wunder ber D. Schrift auf
gleiche Linie mit denen anderer Religionen, namentlich
ber orientalifhen, ftelen, um fie nad bem befannten
Sage: das Wunder ijt be8 Glaubens liebftes Kind, zu
befeitigen, fo ift bie vergleichende Religionswiffenfchaft
als Bundesgenoffin beigugiebew. Gerade fie, welche in
Frankreich feit langer Zeit in Blüte fteht, zeigt, daß
Lehre, Sitte und Wunder der orientaliihen Religionen
fo jehr ben hriftlichen Dogmen und Erzählungen nad
ftehen, daß an eine Entitehung der chriſtlichen Lehre
aus ben orientalifhen Speculationen nicht zu denken
und bie Entftehung des Chriſtenthums meit über ähn-
lide religiöſe Entwidlungen erhaben ift. Eine Reihe
von Artikeln meist bie Unzulänglichkeit für beide Be
hauptungen nad. Die Sogmatit des Brahmanismus
fann mit der hriftlihen feinen Vergleich aushalten, bie
Greuel feiner Givilijation follte man aber billigermeife
nicht als Mufter für ba8 Abendland vorhalten?). Da
1) Faivre, Le rócent blasphbme de la Revue des Deur-
Mondes, La Contr. II, 12.
2) Harlez, Le Brahmenisme, sa lógislation. La Contr. I,
1.2. Civilisation qu'il produite I, 4. II, 6.
Die franzöfiiche Theologie ber Gegenwart. 118
machen fid) nod) bie Engländer butd) ihre Civilifation
verbient, obwohl ihre Motive gewiß wenig chriſtlich find.
Richt viel befier ſteht es mit dem vielbehaupteten Ur-
ſprung des Chriſtenthums aus ber perfijdjen (Zoroafter)
und indifchen Religion. Denn weder bie heitere Lebens⸗
anſchauung des Horoaftrismus, mod) bie vorgeblidje
Humanität, nod) bie Leugnung ber Ewigkeit der Höllen-
ſttafen können mit bem verjühnen, was er von buali-
ſtiſcher Weltanfhauung und peinlihem Obſervanzen⸗
weſen, ba3 and Lächerliche grenzt, aufgenommen hat).
Die Wunder, welche von ben Drientalen für ihre Lehre
borgebracht werden, find aber derartig pueril und lächer⸗
li$, daß man fie unmöglich mit denen des Herrn und
der Apoftel vergleichen fann?). Es wäre vieleicht gut,
wenn bie Franzofen aud) in ihren Legenden und Wall:
fahrten dem Sat, daß möglichite hiſtoriſche Genauigkeit
zu erftreben und ber höhere Zweck der Wunder im Auge
zu behalten ijt, mehr Rechnung tragen würden. Doch
füge ἰῷ gern hinzu, daß id) einzelne diesbezügliche (ὅτε
Hhlungen in ber Revue catholique mit Intereſſe ge:
leſen habe.
Bon einzelnen Wundern, melde immer wieder zum
Gegenftand des Angriffs gemacht werden, ift zunächſt
1) Harlez, Les prétendues origines Persanes ou Indoues
do la religion II, 23. 24. Les prétendues origines du ohristianisme,
daprds M. Em. Burnouf. IL, 26. 28. Christianisme et Zoro-
arme, prétendue supériorité de la religion de Zoroastre.
IL 14. Bracker, Em. Burnouf et Jacolliot, l'origine chrétienne
du christianisme II, 9.
2) Bonniot, Les faux miracles du Bouddha II, 15. 16.
entre Larroque. Les faux miracles d’Esculape et de Serapis.
1121.92. Les faux miracles d'Apollonius de Tyane IIT, 41. 42.
Yet Duartaljgrift: 1888. Heft 1. 8
114 San, >
die Sintflut zu nennen, menn man fie als aufer-
ordentliches Strafgericht Gottes unter biefer Rubrik
paffiren Taffen mill. Die Univerfalität derfelben ift
von ben Phyſikern ſchon lange beftritten und von den
Theologen aud) jo ziemlich aufgegeben. Sud Sean
b'Gftienne 1) dehnt diefelbe wur auf bie gefammte Menfch-
beit aus, führt aber bie in Frankreich nicht feltene Be:
férünfung auf das Centrum der Menſchheit mit Aus-
nahme der Neger an. Denn bieje haben abjolut Feine
Erinnerung an die große Flut und bieten ber Ableitung
von Noe wegen bet Kürze ber Zwiſchenzeit feine geringen
Schwierigkeiten. Er nennt ald Vertreter diefer Anſicht
Shöbel, Dmalius d’Halloy, Duatrefages, Lenormant.
Der Jeſuit Bellynd habe wenigftens ihre Verträglichkeit
mit ber Orthodoxie anerkannt. Der Jefuit Delſaulr
brüde fid üpalij aus. Das Dogma ber Crb[üube
wird felbftverftändlih davon nicht berührt. Der Berf.
ſelbſt ift weder für nod) gegen bie Theſe. Doch fei
biejelbe zu neu, jebenfallà zu unficher und zu wenig
für bie Apologie geeignet. Noch entſchiedener ſpricht fid
Hamard dagegen aus ?).
Mit dem Wunder Joſna's hat e$. eine ähnliche
fBetoanbtnip. Zwar fawa man für die mörtlide Er-
klärung anführen, daß fid) die Sonne nad) der mobet-
nen Afttonomie wirklich bewegt, aber man wird daraus
für den fpeciellen Fal wenig gewinnen. Dasfelbe würde
geſchehen, wenn man eine Arretirung des ganzen Syſtems
fupponiren wollte. Auch wenn man jagt, Gott habe
Die frangöfifche Theologie bet Gegenwart. 115
wie ben Stillftand der Erde, fo befjen Folgen verhindert,
Bt man nur bie Schwierigkeiten. Denn Gott greift
mut zu einem Wunder, wenn alle anderen Mittel zur
Grreihung feines Zweckes fehlen, und wählt gewöhnlich
diejenigen Proceduren, welche fij am tvenigften von den
Gefegen der Natur entfernen. Somit ift bie Ausdrucks-
weile eine populäre und eine einfache Verlängerung bet
Xageshelle anzunehmen’). Das Manna wunder unb
der Durchgang durch das rothe Meer feien zur Ber:
volfändigung genannt ?). Diefes Tann nicht burd) bie
Ebbe, jenes nicht durch ba8 Manna ber Tamarix
mannifera oder anderer Pflanzen erflärt werden.
Daraus Tann ſchon geſchloſſen werden, daß bie
franzöfifhen Theologen alles was bie Wiſſenſchaft zur
Aufhellung ſchwieriger Bibelftellen bietet herbeiziehen.
Sie zeigen fid) auch febr wohl bemanbert in ben neuen
für die Gregeje des 4. T. ungemein wichtigen Ent:
dedungen im Drient. Ich verweife beſonders auf bie
Erflärung der Cherubinen mad) den aſſyriſchen Aus—
grabungen ?). Trochon erhebt zwar einige Zweifel gegen
diefe Erklärung Lenormant’3, fügt aber bod) bei: „er
habe begriffen, baf in der Kirche der Glaube des Chriften
fehr vereinbar ift mit der Forſchung be8 Gelehrten“ *).
Dem N. S. fommen wir näher mit bem Ausfüh-
rungen über bie Prophetie der Jungfrau Mutter und
1) Jean Estienne II, 17. 18.
2) Vigouronz, II, 8. 9. 16.
3) Vigouroux, La vision des Chórubins du prophbte Ezé-
chil. IL, 20. 21. Cf. Vigouroux, La Bible et les découvertes
modernes en Palaestino, en Egypte et on Assyrie. Paris 1882.
4) Ball. cr. I, 51.
8*
116 Schanz,
des Immanuels), welche mit großer Erudition ge—
ſchrieben ſind. Zum Theil iſt auch die Prophetie Jakobs
hierher zu redjuen ?), und noch mehr bie prophetiſchen
Weisfagungen und die rationaliftifhe Kritike). Die
Evangelien werden gegen Courp, einen Schüler
Renan’s vertheibigt. Diefer beftreitet natürlich bie Gott:
heit Jeſu und bezeichnet ba8 Chriftenthum als eine fran
bafte Erſcheinung feines neroöfen Stifters. Suerft habe
Jeſus nur wie viele andere feiner Beitgenoffen bie An:
kunft des Meſſias verfünbigt; erft allmählich [εἰ er zur
Meinung gefommen, ec felbft fei der Meſſias. Geiftes:
krankheit, Narrheit, Tolheit, fire Ideen u. U. find die
Blasphemien, mit welchen ber Stifter des Chriſtenthums
verfolgt wird. Auch bei uns gibt e8 viele, melde eine
almählihe Entwidlung des meſſianiſchen Bewußtſeins
annehmen, aber fie halten fid) bod) in der Regel nod
mehr innerhalb der Grenzen des Anftands und der ges
funden Vernunft. Es ift natürlich unſchwer zu zeigen,
daß bie religiófe Eraltation zur Zeit Jeſu von Soury
übertrieben wurde, bie fire Idee nicht nachweisbar ijt
und die progreffive Abnahme des Bewußtſeins der Per-
ſonlichkeit mit der Darftellung der Evangelien im Wider:
ſpruch fiebt*). Der Auffag über die Authentie des
dritten Evangeliums von Fillion 5) hat unterdeſſen in
feinem Commentar zu diefem Evangelium Aufnahme
gefunden. Der Kürze halber darf ich vielleicht auf
1) Faivre, La Contr. III, 37. 38. 89.
2) Lamy, ΠῚ, 38.
3) Lamy, II, 25.
4) Elie Philippe, Les Rvangiles et M. Jules Soury 1, 1.
5) II, 21.
Die franzöfifcge Theologie ber Gegenwart. 117
meine Anzeige der Gommentare zu ben jpnoptijden
Evangelien verweifen ἡ. Da id) neueftens in der Con⸗
troberje eine Antwort auf einzelne Bedenken gegen bie
Juſpiration, namentlich aud) binfichtlic bes Blinden in
Jericho, gelefen habe, fo will ἰῷ e8 nicht unterlaffen zu
bemerken, daß hierin bie franzöfifchen Bibelkritiker fid)
wj von manchem Hergebrachten emanicipiven bürfeu.
Die Erflärung ber Heilung eines Blinden vor bem Ein-
tritt in Jericho und eines nah dem Austritt ift zwar
alt, aber burdjaus ungenügend. Mit Recht hat Fillion
bie Einheit des Wunders vertheibigt.
Auch die Vertheidigung des D. Apoftels Paulus
ift zu verzeichnen. Denn ber ſchon genannte Havet mußte
mit ber Gottheit Jefu aud) den größeren Theil bes
9. $. aus dem Kanon entfernen und Fam fchließlich
mit der Tübinger Schule zu den befannten 4 großen
Baulinen. Dagegen vertheidigt Trochon ?) in trefflicher
Beife bie Authenticität der anderen und madt nament-
ἐφ, zum Theil im Anſchluß au Sabatier, geltend, daß
es Unrecht fei a priori ben Charakter be8 Apoftels nach
den 4 Briefen zu entwerfen und biefen Maßſtab Heinz
lij an bie anderen Briefe zu legen. Da alle Briefe
Gelegenheitsichriften find, fo Tann nur aus möglichft
vielen ein Charakterbild gewonnen werben. Während
in den Briefen vor ber Gefangenidjaft der Kampf gegen
das Subentum im Vordergrund fteht, find e8 jeit der
Gefangenſchaft neue Irrthümer philoſophiſcher Art, welche
den Apoftel veranlaffen, fein Spftem erft voll zu ent
1) Liter. Rundſchau 1882, N. 18.
2) III, 34. 85.
118 Shan,
wideln. In ben Paftoralbriefen gebe er fid) Mühe,
bie Zufunft ber firde zu fihern. Im zweiten Artikel
wird das Leben und der Charakter de3 Apoftels be
ſprochen. Darin wird vielleicht bem äußeren Unterricht
zu viel zugefchrieben und werden bie Differenzen mit
den Urapofteln und Judenchriſten etwas zu niedrig
taritt. Als Guriojum fügen wir no bei, daß mad)
Havet die Theologie „eine enorme Maffe von Sub:
tilitäten und Wortkämpfen“ ift. Um Re zu conflituiven
mußte man mit bem Vermögen, Getrenntes zu vereinigen,
welches im orientalijdjen Geift ift, jenes zu argumen-
tiren, das den griechiſchen Geift charakteriſirt, verbinden.
Die bibliſche Kriik, die hohe und niedere,
ſpielt gegenwärtig eine große Rolle. Soury Dat deß—
halb auch nicht verfehlt, den Katholiken vorzuwerfen,
daß fie feit 9t. Simon hierin nichts mehr geleiſtet haben,
ein Vorwurf, den Faivre in feiner Allgemeinheit Leicht
zurückweiſen fonnte!). Freilich die „höhere“ Kritik iſt
für den fatbolifen eine faum zu verwendende Disciplin
und man kann Angeſichts ber Ungeheuerlichkeiten, melde
biejelbe ſchon zu Tage gefördert, fid) darüber faum
grämen. Da gilt e8 allerdings, baB bet Kern mehr
werth ift al die Rinde. Ein vernünftiger und mäßiger
Gebraud ber Kritik findet fi) aber bei bem fatb. Gre-
geten bis auf ben heutigen Tag. Gewiſſe Anfehtungen
müſſen fie fid) eben nicht verbrieBen Laffen, denn bie
proteftantifhen Exegeten find häufig fammt ihrem freien
Schriftprinzip nicht viel befier daran. In Betreff der
Tertkritit wird man aber freili jagen müflen, daß
118
Die franzöſiſche Theologie der Gegenwart. 119
Iatholifcherfeits hätte mehr gethan werden Tónnen. Wenn
man bie reihen Schäge Dettadjtet, melde in Italien
und Frankreich biefür aufgefpeichert find, fo ift e8 ge
wiß beihämend, daß wir nicht eine einzige gute Text:
ausgabe haben, während bie Namen Tiſchendorf, Tre⸗
gelles, Weftcott, Hort an bem großen Fortſchritt in der
Tertkritik auf proteftantifcher Seite erinnern. Man mag
über die Grundſätze bei der Feſtſtellung ber englifhen
Bibelüberſetzung vom Tatholifhen Standpunkte feine
Bedenken äußern ), aber glaube ja nicht, daß baburd)
bie Tertſchwierigkeiten befeitigt feien. Die neue enge
liſche Tertausgabe ift vielmehr eine Mufterausgabe, bie
wir nicht ignoriren dürfen ?), fo einfeitig auch unberufene
Kritiler und befangene Dogmatifer urtheilen mögen.
Man wird von mir nicht erwarten, daß ich mein
Referat in gleicher Weiſe über alle Digciplinen fort:
fege. Von Anderem abgejehen würde mid darin bie
zur Verfügung ftehende Literatur im Stiche lajjem. Es
find ja aud) im Vorhergehenden bie allgemeinen Fragen
aus der Dogmatik nnd Moral binläuglih zu ihrem
Reht gefommen. Die fpeciellen Fragen aber möchte ich
bier nicht behandeln und dies wird mir, ohne Nebenabficht
fei e8 gefagt, ber Lefer aud) gern erlaſſen. Nur bie
Kirchengeſchichte will id) noch erwähnen, meil fie in ben
Seitfepriften nicht bie legte Rolle fpielt. Die hiſtoriſchen
Zeitſchriften habe ἰῷ nicht gut Hand, aber das Bulletin
eritique beweist, wie ernft und ftreng bie neue Schule
«ud hierin zu Werke geht. Die Errungenfchaften der
1) II, 24.
2) Duchesne, Bull. cr. II, 17, 329 ij.
120 Schanz⸗
hiſtoriſchen Kritik werden gewiſſenhaft berückſichtigt und
die ſtrenge Arbeit zur Pflicht gemacht. Will ſich jemand
über bie verſchiedenen Richtungen orientiren, jo empfehle
ἰῷ ihm bie Schrift Jungmanns ?) mit ber dasſelbe
Sujet behandelnden Schrift des Jefuiten be Smebt zu
vergleichen und dazu bie Stecenfion Duchesne's zu Lejen ?).
„P. de Smebt ift vor allem Kritifer, während Jung:
mann vor allem Theolog ift. Jener ſucht zu fehen, wie
fid die Dinge zugetragen haben, biejer zu bemeifen,
daß fie gut gegangen feien. Dies heißt aber manhmal:
gegangen entſprechend ben theologischen Borftellungen
des Verfaſſers“. Die Arbeiten Gilbert’3 über Galilei
find befannt ®). Sie erreichen aber die Arbeiten Henri
de l'Épinoi8 nidt. Er geht mit Franzelin und Grifar,
bat aber die Zurückhaltung des legteren hinſichtlich der
Congregationsentſcheidungen nicht recht beadtet. Zu
erwarten wäre gemejen, daß er die Angriffe Reuſch's
gegen bie Jefuiten irgendwie berüdfichtigt hätte. Ueber
weitere biftorifche Auffäge in der Gontroberje muß ἰῷ
hinweggehen, um nicht zu lang zu werben. Die Blüte
bet archäologiſchen Studien ift ſchon bud) bie framgó-
fide Ausgabe des archäologifhen Bulletin Roſſi's be-
wiefen. Bekanntlich wurde das Martigup’fche Werk über
die Archäologie *) das Vorbild für bie Real-Encyklopädie
der chriſtlichen Alterthümer von Kraus und rühren bie
meiften Holzſchnitte von ben Clichss jenes Werkes ber.
1) Dissertationes selectae in historiam ecolesiasticam, t.I.
Regensburg 1880.
2) Bull. cr. I, 24.
8) La Contr. I, 4. II, 7. 20. 28.
4) Dictionnaire des Antiquités chrétiennes.
Die franzöſiſche Theologie der Gegenwart. 121
Die Lettres chrétiennes bej&äftigen fid zum Theil
eud) mit diefem Gegenftande. Außerdem find fie nament:
lid) für die Patrologie und bie klaſſiſche Literatur werth⸗
vol. Wie das reichhaltige Polybiblion geben fie eine
vollftändige Weberfiht über bie franzöfiihe und einen
großen Theil ber ausländiſchen Literatur.
Ueber die Revue du Monde catholique muß ἰῷ
mod) wenige Worte beifügen. Sie dient ebenfo zur
Unterhaltung als Belehrung, indem fie Erzählungen,
Romane, Steijebefd)reibungen, geograpbilde und Kultur
geſchichtliche Schilderungen, Ueberſichten über belletriftiiche
Kiteratur, Theater u, f. m. in reicher Menge bringt.
Sie will fidtlid) bie Lectüre anderer Revilen, bie un—
oder antichriftlich find, aus den katholiſchen Familien
verbrängen. (δ ift zu wünſchen, daß e8 ihr gelinge.
Auch der deutihe Lefer wird Manches mit jyutereffe
leſen. Sind aud) bie deutſchen Verhältniffe öfter mit
übertreibendem Sarkasmus dargeftelt, [o ift e8 bod
intereffant, bie eigene Angelegenheit in franzöfiihem
Spiegel zu fehen. In manchen Erzählungen erhält man
einen tiefen Ginblid in das intime Familienleben.
Ich babe e$ nicht als meine Aufgabe betrachtet,
eripöpfend zu fein ober überall den firengen Kritiker
zu fpielen. Ich weiß wohl, daß es fid vielfad) erft
um einen energifchen Anfang handelt und der Hinder-
niffe nit wenige find. Aber was id)jagte bürfte bod)
beweifen, baf aud) bie katholiſche Theologie Frankreichs
ihre Aufgabe begriffen Dat. Sollten fid) mandje deutſche
Theologen baburd) zu erneutem Eifer anfpornen laffen,
fo würde ich es mut freudig begrüßen.
IL
Recenfionen.
1.
Jakob und Gau, Typik unb Kaſuiſtik. Eine hiſtoriſch⸗
bogmatijdje Unterfuchung von P. Petrus Dil, O. S. F.
Lektor ber Theologie im Franciskanerkloſter München.
Mit Genehmigung ber Provinzialobern. München.
Drud und Verlag von Ernſt Stahl. 1881. VI und
64 €. 8.
Die hier vorliegende „hiſtoriſch-dogmatiſche“ Unter:
ſuchung über Genef. 27 fónnte mit gleichem Rechte eine
etbifde genannt werden, wie aud) die Titelbezeich-
nung „Typit und Kaſuiſtik“ anbeutet. Ihr Zweck geht
dahin, zwiſchen ber dogmatiſch⸗typiſchen und ber hiſtoriſch⸗
grammatifchen Auslegung jener bedeutungsvollen Bor:
gänge in der Familie des Patriarchen Iſaak, von melden
Genef. 27 berichtet, das richtige Verhältniß ober bie alle
Schwierigkeiten Löfende Ausgleihung zu finden. Die
exegetifchen Probleme, von denen Genel. 27 mur ein
Beifpiel ift, find urfprünglic durchweg auf bem Boden
der fittlihen Reflexion über bie Erzählungen bes 9. T.
entftanden. Der religibje Unterricht der älteften Zeit
Högt, Jakob und Efau. 123
war auf bie Einführung in ben Geift der göttlichen
Offenbarung auf dem Wege ber gefchihtlichen Betrach⸗
tung angewiefen, und dabei ftieß man auf Vorgänge,
welche bem gemeinen Bewußtjein von Sitte und Recht
Anftoß bereiteten. Diefen Anftoß zu befeitigen wurde
Aufgabe ber wiſſenſchaftlichen Exegefe, welde in zwei
Methoden oder Schulen auseinandergieng, bie dogmatiſch⸗
allegorijdje und bie biftori]de, von denen bie erftere
unter Umftänden bereit war, den Buchftaben der Schrift
geradezu fallen zu laflen, wenn nemlih anders über
die Schwierigkeit nicht hinwegzukommen war, während
die legtere im Buchſtaben ber heiligen Schriften den ges
ſchichtlichen Vorgang refpeftirte, ohne damit eine geiftige
Auslegung im Sinne der Allegorie ober der Typik
principiel ausfchließen zu wollen ). Das Verfahren
der erfteren Richtung fiügt fid) auf wirklich oder aud)
mur vermeintlih bogmatijde Gründe. Auf bet einen
Seite nemli erkannte man in den Ereigniffen, welche
bie h. Schrift erzählt, bedeutungsvolle Momente aus
ber Führung des Volkes Gottes nad) beftimmten Plänen
der göttlichen Providenz, [o daß bie handelnden Per-
fonen wur wie Werkzeuge in einer höheren Hand zur
Erſcheinung fommen; auf der andern Seite tragen bie
nad) Gottes Rathſchluß eingetretenen Ereigniffe und bie
von Gott felbft zu Typen Tommender Dinge ermüblten
Berfonen fo fehr den Charakter des Heiligen und Bor:
bildlichen, daß e8 unmöglich ſcheint, benjelbem Abfichten
und Thaten unterzulegen, welche mit bem Sittengefege
1) 891. Kihn, Ueber ϑεωρία und ἀλληγορία nad) ben bet:
Iorenen hermeneutiſchen Schriften der Antiocener. Du.Scht. 1880.
© 591 ἢ.
124 $8gt,
im Widerſpruch fteben. Bon diefen bogmatildjen Voraus:
fegungen aus gelangte man zu jener befaunten Theorie
von allegorifher Schriftauslegung, wonach man brei
Arten von Schriftſtellen unterſchied, joldje, toeldje mut
eine hiſtoriſch-buchſtäbliche, ſodann andere, melde
bie buchſtäbliche und die geiſtige (allegorifche
oder typiſche, reip. moralifche), und endlich ſolche,
melde blos bie geiftige Auslegung mit Preisgebung
des Buchſtabens erfordern oder zulaffen. In Anwendung
auf ba8 Thema ber vorliegenden Schrift num ift ganz
beſonders berühmt des h. Auguftin Eregefe von Genef.
27 geworben, wo von bem erfahren des Jakob bie
Haffiide Sentenz ausgeſprochen wird, baffelbe [εἰ nicht
mendaeium fondern mysterium. Auguſtinus tritt bem-
nad für die bogmati[de (allegoriſch-typiſche) Auslegungs⸗
methode ein, und nach feinem Vorgange fortan bie
großen mittelalterlichen Theologen, fofern fie eben über:
haupt das bogmatijóe Princip in ber Eregefe adop⸗
tierten. Nur haben weder Auguftinus mod) bie
Shholaftifer bis auf Duns Scotus fid beftimmt
barüber ausgefprohen, ob fie Genef. 27 (und ähnliche
Stellen) zu jenen Schriftterten zählen, welche eine bud:
ftáblide und eine geiftige, oder zu denen, welde blos
eine geiftige Auslegung mit Preisgebung be8 Buch
ſtabens zulaffen. Sowie nun im Laufe bet Zeit ber
nnvermeidliche Uebergang on der rein dogmatiſchen
zur hiſtoriſch-⸗wiſſenſchaftlichen Exegefe fid) vollzog, mußte
die Schwäche ber Allegoriften zu Tage treten, b. D. fie
mußten zu einer beftimmten Antwort bariüber genöthigt
werben, ob fie wirklich bereit wären, ben Buchſtaben
oder den hiſtoriſchen Vorgang als ſolchen fallen zu laſſen,
Jakob und Efau. 125
um mur den geiftigen Sinn zu retten. Durfte man bie
Geſchichte als folge nicht preis geben, fo mat man
im Interefje der Moral genöthigt, zu ben in ihr mit
getheilten ethifchen Handlungen Stellung zu nehmen unb
die Kategorien kaſuiſtiſcher Beurtheilung auf fie anzu:
menden.
€o verfteht ber gelehrte H. Verf. bie Ausdrücke
Typik und Kaſuiſtik“. Seinem Schriften felbft fdrei-
ben wir vor allem das Verdienſt zu, nicht blos eine
anziehende ethiſche Unterfuhung wieder in Fluß gebracht
zu haben, fondern in einer gelungenen geſchichtlichen
Cfige über die Auslegung von Genef. 27 die Methode
für weitere Unterſuchung angebahnt zu haben. Was
aber des Verf. eigenen Standpunkt zum angeregten
Broblem anlangt, fo möge er aus deſſen eigenen Worten
entnommen werben. Es heißt im Vorwort: „Das Re:
fultat, welches erreicht worden zu fein geglaubt toitb,
läßt fi kurz angeben: Die in Frage ftehende bibliſche
Thatfahe wurde von der Auslegung bald im ide
bogmatijdjer Typik, bald im Lichte moralijdjer Kaſuiſtik
angefehen. Die eritere SBetradjtung8tveije ift die ältere,
tiefere, ber Patriftit und Scholaftit im Ganzen eigen-
thümliche. Die legtere ift jüngeren Urfprungs, weniger
tief als faßlih, feit bem 17. Jahrhundert aber in bet
latholiſchen Schriftauslegung fo alleinherrſchend, daf ihr
gegenüber bie auguftinifche Auffaffung mie ein „„Mähr-
den aus alten Zeiten““ klingt. Beide Auslegungs⸗
weiſen ſchließen f$ aber, [o [dien mir, nicht aus
fondern ein. Das verklärende Licht, in meldes bie
Typil unfere Thatſache ftellt, muß fid) in etwas in ben
Schatten, worin bie Kaſuiſtik fie auffaßt, theilen, auf
126 5g,
daß hieraus eine objektive Wirkung entitehe*. Wie bie
gemeint fei, und in welchem Sinne ber Verf. beiden
ftreitenden Parteien zugleich Recht geben mollte, erfehen
wir aus den Schlußworten €. 63 f. Darnach „Lohnt
es fid) nicht der Mühe, das auguftiniihe Paradoron:
non est mendacium sed mysterium, im ber ftrengften
Bedeutung ber Worte aufrecht halten zu mollem. Co
geiftreih und tieffinnig es ijt, fo fommt babei bic an:
mittelbar biftorifhe Wahrheit zu fury, droht fi in
Schein aufzulöfen. Die auguftiniihe Auslegung der
Stelle ift nicht durchgebildet, greift blos bie myſtiſch
bebeutfamen Momente aus ber Handlung auf und ver:
nadhläffigt zum Theil bie pſychologiſchen und ethifchen
Seiten derfelben. Dagegen wäre die Anftrengung, mit-
telft eines tein kaſuiſtiſchen Maßſtabes und unter SBer-
Tennung aller höheren, propbetijden und probibentielleu
Züge, das Faktum in bie Niederungen gewöhnlicher
Greignif]e herabzuziehen, ober ihm gar einen Abſchuitt
in ber chronique scandaleuse, oder in ber jyntriguems
geſchichte anzuweiſen, ober e8 al8 Argument für eine
antifemitifche Bewegung vorgufefren, nod) weniger dans
kenswerth“. „Vielleicht liegt, mas id) ausführlicher zeigen
wollte, ſchon in den Worten des ἢ. «Bonaventura:
non intendebat fallere patrem sed dirigere, angedeutet.
Jedenfalls hatte bie Heine, wenn auch nicht völlig, bod)
bis zu einem gewiſſen Grade entſchuldbare Täuſchung,
in ber ἰῷ bie Züge ber Pietät unb ber Schomung nicht
verfennen Tann, fid) als Zweck die Leitung Iſaaks auf
die Wege des göttlichen Willens gefegt. Und wenn aud)
ber Zweck das Mittel nicht heiligen Tann, fo fann bod)
Gott bem weniger heiligen und gebredjlidem Thum
Jakob unb Efau. 127
ber Menjchen eine Rolle im Plane feiner heiligen und
volfommenen Weltleitung einräumen”.
Wir find mun mit bem Verf. vollftändig darin εἶπε
verftanden, baß weder bie typiſche noch bie kaſuiſtiſche
Auslegungsweiſe für fid) allein berechtigt ift. Wir ge:
ſtehen aud zu, daß über bie vom Verf. gefundene
Bereinbarung beiber Wege nit um ein Bebeutendes
wird binauszufommen fein. Do geftatte man uns
einige Bemerkungen, bie nicht fo faft zur Berichtigung
als zur Erweiterung der vom Verf. unternommenen
Studie dienen möchten.
Es fónnte nad) den Ausführungen des Verf. ſchei—
uen, als ob ſchließlich fid) ber ganze Streit darum drehe,
ob das Verfahren des Jakob, ber Rebekka u. f. tv. im eigent⸗
liden Sinne als ein ſchwer ſchuldhafte s, ober aber
als ein menjdfid) entfhuldbares, etwa als läßliche
Sünde im Sinne ber Kafuiftif, zu betrachten fei.
Gerade bier aber ſcheint uns ber kaſuiſtiſche Maßſtab
nicht auszureihen. Wenn man überhaupt einmal eine
moraliſche Makel, eine Schuld, annimmt, fo dürfte es
febr fchwer fein, jene mildernden Umftände zu finden,
welche fafuifti[d) von ſchwerer Sünde entſchuldigen; ber
Gegenftanb felbft, um welchen fid) bie Schuld dreht, ijt
eim eminent wichtiger; bie Mittel, wodurch das Biel
erreicht werden follte, ermeijen fid) dem einfachen Men-
ſchenverſtand als unefrlidje, als gemeine Lüge und Ver-
ſtellung; die Veranftaltungen werden mit Vorbedacht
getroffen, Gewiſſensbedenken ſophiſtiſch beſchwichtigt; und
von einer Noth, mie fie etma zum Begriff des Noth⸗
ſtandes ober ber Nothwehr erfordert wird, fomnte nicht
wohl geredet werben. Im beiten Falle, was war das
128 9L,
für ein Glaube, vermöge deſſen man meinte, ber
göttlihen Vorſehung duch menjjlide Arglift zu Hülfe
fommen zu müſſen! Alſo bieje Unterſuchung fcheint uns
ziemlich unfruchtbar zu fein. Nimmt man einmal eine
menſchliche Schuld an, fo ift damit im Princip für bie
biftorifche Auslegung [don ein entjdiebene8 Präjudiz
geſchaffen. Wir bedauern dabei nur, daß der Verf. aus
Gründen, bie er nur anbeutet, fid) genöthigt fab, feinen
Gegenstand etwas zu eng zu begrenzen, und baf et
nit in eine principielle Unterfuhung eines ganzen
Complexes von Darftellungen des A. T., melde nad
ihrer buchſtäblichen Interpretation fittlihen Anftoß bes
teiten, eingetreten ift. Es handelt fid um Schriftterte,
in welchen nicht etwa einfach Handlungen menſchlicher
Unvolltommenheit oder Leidenihaft berichtet werden,
fondern in welchen etbijde Afte, welche bem natürlichen
Sittengejege widerſprechen, eine Art von höherer Genef»
migung zu erhalten feinen; man benfe z. ®. am die
bem Abraham befohlene Tödtung feines Sohnes Iſaak,
an bie gepriefene That der Judith. Für die Beurthei-
lung folder Schriftterte fommen nun zwei Voraus—
fegungen vornehmlid in Betracht.
a. Die b. Schrift aud) des A. T. ift Offenbarung
religiöfer Wahrheit; mas mir im ihr fuchen, ift bie
Wahrheit ſowohl in religiöfer ober dogmatifcher, als in
ſittlicher Richtung; fie muß und darum über das Gitt-
lidjgute belehren und fann uns nicht irre führen; in
den aus ihr zu ſchopfenden fittlichen Urtheilen fann nur
unverfälſchte Sittlichkeit enthalten fein. Solche Urtheile
bilden fij aber vorgüglid) mad) dem Leben und Schid-
jalen derjenigen Perfonen, toelde in befonderer Weile
Sjatob unb Efau. 129
Träger einer Dffenbarung, Werkzeuge göttlier Heils-
plane oder Vorbilder künftiger Ereigniffe find; oder
fie bilden fid) aus denjenigen Vorkommnifien, welche
entweber unmittelbar auf Gottes Befehl zurüdgeführt
werben, ober melde fidj in den Gang ber wunderbaren
göttlihen Provibenz [o einfügen, baf fie als Ausflüſſe
göttliher SBeranftaltung erjdeinen fónnen.
b. Was im einzelnen bie Pflicht der Wahrhaftigkeit,
Sxeue und Gerechtigkeit gegen den Nebenmenfchen be-
teifft, fo muß auch hierin bte b. Schrift maßgebend fein;
was fie verbietet, das ift verboten, was fie erlaubt, das
bleibt aud) uns erlaubt; aus ihr alfo muß bie Lehre,
beziehungsweiſe die Definition der Lüge entnommen
werden. Würde bie p. Schrift 2. B. bie Nothlüge an
irgend einer Stelle für erlaubt erklären, fo wäre fie
quj uns erlaubt.
Nach biefen Vorausfegungen ſcheint von zweien nur
eines übrig zu bleiben; ba bie Geredten des 9[. T.
nicht zugleich als Lügner und Betrüger angefehen mwer-
den dürfen, fo muß man entweder ben Buchſtaben des
hiftorifchen Berichtes aufgeben, ober man muß bie in
Frage ftehenden Handlungen Tafuiftiih fo zurechtlegen,
daß fie von Sünde freigefprochen werden können. Zu
diefem Zwede erweist fid) nun als das weitaus wirkungs⸗
vollfte Mittel die richtige Begrenzung bes Begriffs ber
Rüge nach der Theorie Auguſtins, wonach zum Bes
griff der Lüge weſentlich bie Abſicht, ben Nebenmenfchen
zu täuſchen, gehört, alfo überall feine fündhafte Unwahr⸗
haftigfeit vorliegt, wo jene Abſicht fehlt, alfo 4. $8. in
ber Parabel, ber Zabel, überhaupt in ber bildlichen
Rede und in jener befannten räthjelartigen Sprud-
Veol. Ouaral($jrift 1888. Heft I. 9
130 tt,
weisheit des orientalifhen Lehrvortrags, berem fid) aud)
Jeſus uidjt felten bedient. Daß nemlid in biejer Aus-
drudsweiſe der Buchſtabe der Wahrheit an fij nicht
ganz entfpricht, ift mur ber Schein einer Unmwahrheit,
eine poetiſche Geftaltung, moburd) gerade das Auge bed
Nebenmenſchen geſchärft und fein Sinn auf bie verbor-
gene geiftige Wefenheit gelenft werden fol. Wenn
alfo etwas an bem Buchftaben bem natürlichen Rechts
betoußfein zu widerſtreben fcheint, fo ſoll bief eine An-
deutung barüber jeim, daß mir Hinter ber empirifchen
Hülle einen geiftigen Sinn zu fuchen haben. In biejem
Sinne fónnte man auf Gott felbft gewiſſe Täufhungen
ober Illuſionen zurüdführen, ja die ganze itbijde Er:
ſcheinung Chriſti felbft wird als eine Art von Täuſchung
oder Simulation dargeftellt, da Chriſtus in ber Geftalt
des fündhaften Fleiſches und des Knechtes erſchienen
ſei. So vollzieht fid) nun fpielend Leicht ber Uebergang
von. dem ſcheinbaren mendacium be8 Buchftabens zu
mysterium des verborgenen göftfichen Gedanfens. Die
Anmendung nun, melde Auguftin von biefer Theorie
fpeciell auf Genef. 27 macht, ift vollberehtigt, wenn
wir das dort Geſchehene ex parte Dei betradjten. Wir
find berechtigt, bie weiſen und gerechten Fügungen
Gottes anzuerkennen, auch wo uns die dazu eingefchla-
genen Wege unverftändlich bleiben. An dem Rechte und
ber Abſicht Gottes, auf Jakob bie Erftgeburtsrechte zu
übertragen, ift ebenfomenig zu zweifeln, al8 an bem
göttlichen Rechte, das Land Kanaan ben Jiraeliten ans
zuweiſen, menn aud) beides für unfer menfchliches Auge
nicht ohne Verlegung eines beftehenden menſchlichen
Rechtes geichehen founte. Betrachten wir aber jene Vor—
Sjatob und Efau. 181
gie ex parte hominis, b. b. vom Gtanbpuntte ber
dabei betbeiligten Perſonen, fo ift bie auguftiniihe (ὅτε
lümmg völlig unzureichend, fie weicht bem Fragepuntt
einfach aus, ber Frage nemlih nah bem fubjektiven
Antheil der handelnden Perfonen am jenen Vorgängen,
μὰ ihren fubjeftiven Abfihten, Thaten und Irrungen.
Konnte Jakob fih wirklich in feinem Gewiſſen für be-
πάρ! halten, fo wie er getban zu handeln, wenn bie
Erzählung ber BL. Schrift buchſtäblich wahr it? Gott
wollte nicht tüujden, fondern einen höheren Plan in
Gfülung geben laſſen; bier erkennen wir ba8 myste-
rum. Jakob aber wollte tüujdjen, fein ift das men-
dacium.
Erſt in zweiter Linie tritt jet bie Unterfuchung
tin, ob denn überhaupt jede Unwahrbeit, aud) mit beab-
fichtigter Täuſchung, für fündhaft erklärt werden Lönne,
(8 könnte ja vielleicht die Handlungsweiſe unter jene
Alte eingereiht merben, für melde man [eit bem D.
€prpjoftontus ben Ausdrud οἰκονομία aufgebracht
fat; unter leßterem nemlich verfteht man eine gewiſſe
fuge Technik, ein berechnetes Maphalten und Zurüds
halten im Dffenbaren und Verbergen der Wahrheit.
Denn aud) weiſes Verbergen bet Wahrheit fónne, fo
Wimmt man am, Tugend fein oder von ber Noth gefor⸗
dert werden. Kurz e8 find bie Fragen über Exlaubtheit
der Rothrebe, der Dienftlüge, der Amphibolie und Mental:
tefernation, Ablenkung ber Intention u. ſ. w., melde
hier in Betracht kommen und durch deren weiſe Applica-
tion e8 etma gelingen fónnte, einzelne ſittlich bedenkliche
Handlungen von Sünde entweder ganz zu entſchuldigen
oder fie wenigftens unter dem Geſichtspunkt ἐπὶ} dub.
9"
132 9g,
baret Unmwiffenheit in milberem Lichte erſcheinen
zu laſſen. Daß wir mur aber fpeciell auf Genef. 27
davon feine Anwendung machen können, teil e8 am
aller Vorausfegung eines Stotbftanbe8 oder eines wirk-
lid) ber guten Gadje zu leiftenden Dienftes fehlt, haben
wir ſchon oben angedeutet, wie toit überhaupt bieje
Art von Kafuiftit für faum berechtigt halten.
Am leijteften haben e8 fif mit ber in Frage
ſtehenden Schwierigkeit diejenigen gemacht, melde nad
bem Borgange des Petrus Sombarbus auf eine
göttliche Jufpiration oder Eingebung (divinus instinctus)
ecurrieren, toobutd) die Gedanken ber handelnden Per-
fonen gelenkt und moburd ihnen mitgetheilt werde, es
let eine fonft unerlaubte Handlung in diefem Falle bent
göttlichen Willen entfpredyenb, folglich ſittlich gerecht-
fertigt. Weber diefe Theorie erlaubt fidj Ref. auf fein
Lehrbuch ber Moraltheologie €. 69 ff. zu verweifen.
Gegenüber von folden Kunftmitteln der Kaſuiſtik
vertritt bie Theorie be8 Suma Scotus unb feiner
Nachfolger immer mod) beu Standpunkt ber geraberen
umd gefunberen Moral. Scotus gibt einfad) zu, daß
bie Perfonen des 9(. T. neben großen Tugenden aud)
ihre Fehler gehabt, da fie ja aud) ein weniger voll-
tommenes Gejeg und ein weniger reiches Maß von
Gnade, als wir, gehabt haben; jene Tugenden joll man
nachahmen, nicht aber ihre Fehler nachahmen ober fie
bartnädig vertheidigen. Bei diefer Annahme läßt fij
ben göttlichen Werken ber Charakter ber Wahrheit und
Heiligleit bewahren, ohne daß wir im ben Menfchen,
bie Gott zu feinen Werkzeugen wählt, vollendete fittlihe
Vorbilder erbliden müßten, und ohne daß tir mit Bes
Jakob und Efau. 133
rufung auf bie leßteren Lift und Zweideutigkeit, Lüge
und Simulation für erlaubt halten dürften.
Aber e8 bleibt bod) noch etwas zurüd, was uns
hindert, biefe Löfung als eine ganz befriedigende anzu=
leben. Es entipricht entjdjiebem nicht bem Geifte des
N. Sj. und der Art unb Weife, mie 4. 38. Paulus unb
Syacobus von bem fittliden Verhalten der Frommen
be 9f. S. reden, wenn man biefelben ganz in die Sphäre
gemeinmenſchlicher Irrungen, Leidenſchaften oder Lafter
herabdrückt. Der wahre Iſraelit muß doch ſittlich höher
ſtehen als der Heide, und unter den Iſraeliten müſſen
diejenigen ſittlich höher ſtehen als bie übrigen, zu wel⸗
den Gott in befonderer Weife fid) niederläßt, zu denen
Er redet und bie Er zu Trägern höherer Myſterien
madt. Es mag bie Ginrebe mohl im ihrem Werthe
beftehen bleiben, daß Gott, indem Er Sünder zu feinen
Berkzeugen erwählt, darin ein bejonbere8 Geheimniß
der Erbarmung und Gnadenwahl habe niederlegen wollen.
Aber e8 toibetftrebt und ebenfo, nad) gemeinmenſchlicher
Beife uns den Crgoater Iſaak in einer fo entſcheidenden
Angelegenheit wie einen thörichten Alten vorzuftellen,
der ſich in kaum glaublicher Weife von Weiberlift
dupieren läßt, als e8 uns ſchwer fällt, in ba8 erhabene
Bild einer Patriarhenfamilie fole Züge von Hinterlift
und gemeinem Betrug hineinzubenfen, tie man fie auf
gewiſſer Seite mit Vorliebe aus bem bibliſchen Bericht
herausliest.
Wir möchten vielmehr ben Buchſtaben der h. Schrift
vor einer fleifchlihen Auslegung, melde bem Abfichten
der göttlihen Offenbarung nicht geredt wird, vetten,
indem toit ihn zwar ftehen laffen, aber ihn nicht für
134 9n,
mehr nehmen, als er felbft fein will. Der biblijde
Bericht ift niht barauf abgelegt, ein Sitten
bild darzubieten. Merkwürdigerweife enthalten fid)
bie a. tl. Schriftſteller faft durchweg in ihren hiſtoriſchen
Mittheilungen ber ſittlichen Urtheile. Die Berichte find
aufgenommen, nit damit etwa eine hervorragende
Perſonlichkeit mad) ihren fittlichen Eigenſchaften in ein
günftiges ober ungünftiges Licht gefegt werde, ſondern
um als Momente in der Gefchichte des Reiches Gottes
zu dienen, 3. 9. um zu zeigen, wie fid) an ein Familien
ereigniß Folgen Tnüpften, welche in den Gang ber a. tl.
Geſchichte bebeutungsvoll eingreifen und in ihrer Art
providentiell gefügt worden find.
Man bemerkte ferner an der Darftellung, befonders
ber mofaifchen SBeridjte, bie harakteriftiihe Brevilo-
quenz, eine Art von Lapibarftyl in den chronikartigen
Erzählungen. In wenigen Verfen ift enthalten, was
einem Dichter Stoff zu einem ganzen Drama ober Ro-
man geben würde; mander Vers ber Genefis würde
einem Homer für einen ganzen Gefang genügt haben.
Für bie ΠΗ ὥς Beurtheilung mum aber eines Vorgangs
wird befanntlih nicht nur die Kenntniß des objektiven
Thasbeftandes erfordert, jonberu aud) der fubs
jettiven Momente, melde dazu mitgewirkt, ber
Motive und ber näheren Umftände; ohne genaue Kennt
niß ber Legteren läuft man ja immer Gefahr, fij) vom
äußeren Scheine tüujden zu laſſen und bielleit eine
verwerfliche Handlung zu entſchuldigen oder eine berech⸗
tigte That gu mißdeuten. Gerade für bie Beurtheilung
biejer fubjeftiben Momente aber verjagt uns ber bib.
liſche Bericht bie Anhaltspunkte; bie furge, abgerifjene,
Jakob unb Eau. 135
ein objeftive Erzählung reicht hiefür widt aus. Der
Buchftabe enthält nicht ble Elemente zur Geſchichte einer
Familie oder eines Stammes, bie biblile Erzählung
ἐᾷ nicht Gefdidte in bem auf gemeinmenſchliche Ver:
haͤltniſſe anwendbaren Sinne bieje8 Wortes. Inſofern
ſetzen wir allerdings ber τοῦ empirtfchen ober hiſtoriſchen
Ausdeutung des Schrifttvortes eine andere entgegen,
welche dem Geifte der b. Schrift beffer entſpricht, und
die deßhalb aud) eine geiftige (ϑϑωρία) heißen mag,
wenn fie aud) nicht mit der fpirituellen Auslegung ber
Megorifer zufammenfält. Unſere Anficht läßt fi) Kurz
im fölgenden Sägen zufammenfaffen. 1) Die Vorgänge,
welche in ber b. Schrift im rein objeftiver Kroniftifcher
Weiſe berichtet worden, fünnem am dem gemeinen fitt-
lichen Bewußtſein oder an unferer Auffaffung von gut
und böfe nichts ändern; e8 liegt in ihnen nichts, was
uns 3.99. anzunehmen berechtigte, e8 fei in einem Falle
Rüge und Betrug geftattet worden und könne deßwegen
allenfalls aud) unà geftattet fein. 2). Weber Die fub-
jeltive Berechtigung ber betheiligten Perfonen gu der
ihnen zugefchriebenen Handlungsweife, über Schuld unb
Sünde, Täßt fid) ein abichließendes Wrtheil nit aus:
ſprechen, da bie Schrift felbft ung nicht bie erfotber-
lichen Anhaltspunkte bietet. Es bleibt immer ber jube
jectiven Betrahtungsmeife anheimgeftellt, mie man fid)
etwa den Geſammtcharalter eines Abraham, Gau, Jakob,
Moſes, Aaron u. A. conftruiren werde. Selbſt bezüg⸗
lich ſolcher Männer, über melde bie a. tL. Geſchichte
viel reichlichere Mittheilungen und poſitive fittliche tr:
theile enthält, wie über David ober Salomon, bleibt
das Geſammtcharalterbild ein unſicheres iub fubjektives.
136 Sides,
Bir find darum gerade auf dem Standpunkt einer
wiſſenſchaftlich theologiihen Cregeje burdjaus nicht ges
nöthigt, an dem fittlidjen Charakter der in die Djfen-
barungsgeſchichte hereinragenden Perfonen Anſtoß zu
nehmen, ober gar biejelbem als Typen einer ſchwer zu
fibermimbenben fittlihen Rohheit oder einer perfiden
Politik aufgufaffen. Man muß nur nicht fei denken
von Dingen, in melden fid etwas von güttlidjer Weis-
heit und Güte ab[piegelt.
Wir glauben mit biejem Bemerkungen in voller
Uebereinftimmung mit bem bochgeehrten Verfaſſer zu
ftehen; das Schriften ſchien und einer einläßlichen
Berüdfihtigung werth zu fein.
Linfenmann.
2.
Handbuch ber theologiſchen Wiſſenſchaften in enchlopädifcher
Darftellung mit befonderer Rüdficht auf bie Entwicklungs⸗
geſchichte ber einzelnen Disciplinen in Verbindung mit
Prof. DD. Cremer, Grau, Harnad, Kübel, Luthardt,
v. Schiele, ὅτ. 38. Schuld, 9. Schulze, Strad, Bold,
v. Bezihwig, Plath, Schäfer u. a., herausgegeben von
Dr. Otte Zödler, o. Prof. b. Theol. in Greifswald
Nördlingen, Bed. 1882. 1. Halbband 288 S. M. 5, 50-
Zwei Erwägungen haben bem Berfafler den Plan
zu dem „Handbuch ber theologifchen Wiſſenſchaften“
eingegeben. Einmal [εἰ bie theologifhe Wiſſenſchaft,
melde feit mehr als zwei Menfcpenaltern bie Begrün-
dung und Ergründung ber diftfidem und evangelifchen
Wahrheit vertiefte und erweiterte, wenn aud) mod) nicht
Sanbbud) ber theol. Wiſſenſchaften. 137
an ihrem befinitiven Abſchluß, fo bod an einem Stube-
und Cüttigungspunft angelangt. Hinter bem praktifch-
kirchlichen Intereſſe ftebe heutigen Tags das tien:
ſchaftlich⸗theologiſche zurück. Der gegenwärtige Zeitpunkt
fei aber gerade deßhalb vielleicht ein geeigneter, „um bie
Refultate der wiſſenſchaftlichen Arbeit, bie hinter uns
liegt, einmal in wmfaffenber unb erihöpfender Weife zu
Duden und damit zu ihrer Sicherftellung beizutragen.“
Dazu komme zweitens, daß e8 dem in ber Paftoration
draußen ftehenden Theologen immer ſchwerer werde, das
toiffenfchaftliche Material, welches bie gläubige Theologie
während zweier Menfchenalter zufammengetragen und
aufgeftapelt Dat, zu bewältigen. Ueberdies erichwere
die immer zunehmende Spezialifirung der Wiſſenſchaft
aud) für den burdjgebilbeten Theologen die Gewinnung
einer Gejammtüberfiht und Lege ibm bie Gefahr eines
Sichverlierens in unfruchtbare Gelefrjamteit naf. Das
Handbuch fol demgemäß den ,Steinertrag" der großen
Arbeit ber teologijdjen Wiſſenſchaft ber erſten beiden
Drittel unferes Jahrhunderts für Kirche und Leben feft-
fielen, andererjeit3 aber dem Stubirenden und fanbi-
daten, dem vielbeſchäftigten Geiftlihen, bem forſchenden
Theologen bie Möglichkeit einer zuverläffigen, fachges
Vehrten Drientirung im Gejammtbereid) der theologifchen
Wiſſenſchaft verfhaffen. Seine Aufgabe befteht darin,
„auf: bem Grund der geſchichtlichen Cntmidlung ber
einzelnen theologiſchen Wiſſenſchaften eine Geſammt⸗
darſtellung der Theologie nach ihrem dermaligen Stande
aufzubauen; melde — wenn aud) in gebrängterer Faf-
fung — bod) alles Wefentliche erfhöpfen und bem Lefer
138 ttes,
für alle bebeutenderen Punkte eine fefte Directive in
die Hand geben foll".
Das Werk foll in 6 Halbbänden erfcheinen. Der
1. Band enthält bie Grunblegung und Schrift: Theologie,
der 2. die kirchenhiſtoriſche und dogmatifhe Theologie,
ber 3. Band die Ethik und praktiſche Theologie. Das
ganze Werk fol in diefem und dem nächſten Jahre
volftändig ericheinen.
Der vorliegende 1. Halbband enthält das theolo-
giſche Wiffensganze in feiner Hiftorifhen Entwidlung
und organiſchen Gliederung von Dr. Zödler und bie
Lehre vom Alten Teftament (Einleitung ins 9L 7,
Archäologie, Geſchichte unb Theologie des 9L. T.), dar⸗
geftellt von Dr. Germ. 2. Strad, a. o. Prof. ber Theol.
in Berlin, und Dr. ὅτ. 58. Schultz, o. Prof. der Theol
in Breslau. Der wichtigſte Theil ift der erfte, weil er
vollen Aufſchluß gibt über den Standpunkt der Ber-
faffer und bie leitenden Grundfäge bes ganzen Unter
nehmens. Der Name Zöckler's ijt eigentlid) ſchon ein
Programm. Denn er hat e8 tie wenige verftanden,
den gläubigen Standpunkt mit ben ftrengen Forderungen
ber fortgefchrittenen Wiſſenſchaft zu vereinigen, bie alte
Wahrheit im Lichte der modernen Wiſſenſchaft leudjten
zu laffen und das Gefammtgebiet der theologifchen
Wiſſenſchaften bis zu ben äußerften Hilfswiſſenſchaften
zu beherrſchen. Er hat and) niemals einen Hehl daraus
gemacht, daß er auf bem orthodoren, ſymboliſch⸗luthe⸗
riſchen Standpunft ftebt. Darnach ift das Qanbbud) in
der Hauptfadhe als eine Gejammtbarftellung ber Theo:
logie im Lichte des lutheriſchen Glaubens zu betrachten.
Diefer Charakter tritt um fo ſtärker hervor, als e8 fid)
Handbuch der theol. Wiffenfchaften. 139
nicht um eine Cncpfíopübie nach Art der von Herzog
oder Weger und Welte, beziehungsweife Kaulen handelt,
fondern um ein von bemfelben Geift getragenes Werk,
welches bem ganzen Organismus der Theologie metbo-
diſch behandelt. Wie demgemäß bie Beuriheilung ber
tatholifhen Lehre und Theologie größtentheils ausfallen
muß, braudt faum bemerkt zu werden. Zöckler hat
eine beſſere Kenntniß ber katholiſchen Theologie ala bie
meiften feiner Glaubensgenoſſen. Er gibt fid) au Mühe,
ba und dort bie guten Leiftungen anzuerkennen, aber
prinzipiell muß er fid gegen bie katholiſche Theologie
errem, wenn ber coufejfionelle Charakter zur Sprache
kommt.
Nur in ihrer Beſtimmtheit als evangeliſche
leiſtet die Theologie das (hier) Geforderte. Das nor⸗
male Verhältniß zwiſchen h. Schrift und kirchlicher
Tradition beſteht nur für ſie. Der Katholicismus hat
eine ſchädliche Entzweiung zwiſchen Schrift und Trabi
tion einteißen laſſen, fraft deren bie legtere mehr unb
mehr in einen Zuftand des Wildwachſens und der
Emanzipation von den gottverorbneten bibliſchen Nor—⸗
men geraten ift. Doch ift Zödler aud) nicht blind
gegen bie Ertravaganzen auf proteftantijder Seite und
zeigt wenigftens ein veblidje8 Streben, ein richtiges Ver⸗
fünbniB vom Katholicismus zu erlangen. „Wo bie
Forderung der Evangelizität mit Einfeitigfeit betont
wird, unter gänzliher Verdrängung und Berpönung
aller Katholizität, da reſultirt jener nur negative Prote⸗
Rantismus, bem der Vorwurf fauatijder Intoleranz
und Erflufioität ebenfomwohl gebührt, wie bem ſchroffen
evaugeliumfeindlichen Katholizismus oder Ultramontanis⸗
140 Bitter,
mus“, „Die echte evangeliſche Theologie wird in ent-
fptedjenber Weife bie Beftimmtheit ihres Glaubenaftanb-
punktes mit meitherziger Milde und Beurtheilung der
nihtzevangelifhen Erſcheinungsformen des Chriſtenthums
paaren müffeu. Wie fie e8 an römiſchen Theologen zu
tadeln berechtigt ift, menn fie jedes verftänbnißvolle
Eingehen auf evangeliſch-kirchliche Anſchauungen und
Beftrebungen hartnädig verweigern, ebenfo wird aud)
fie ihrerfeitö ein möglichſt eindringendes unb umfaffen-
be8 Verftändniß der römiſch-kirchlichen Lebensformen
fid verfhaffen müfjen. Luthern und ben übrigen 9te-
formatoren gemeine egoiftifhe oder unfittliche Motive
unterlegen, der Reformation alle Greuel der Revolution
und alle Verirrungen be8 modernen Unglaubens ins
Schuldregiſter ſchreiben, ift gemiß ein Uebel; aber nidt
minder tadelnswerth ift e8, vom Standpunkte eines
krankhaft überreigten Proteftantismus aus mur Ver
merfliches und Häßlihes im katholiſchen firdjentbum
erbliden zu wollen unb zumal gegenüber ben vielen
herrlichen Erſcheinungen des mittelalterlihen Katholizis-
muß, fotoie den mandherlei edlen Beftrebungen und tüdj-
tigen Leiftungen einzelner fatfolijder Theologen und
Laien ber Gegenwart, aus ber Tampfbereiten Stellung
des Borghefiichen Fechters nicht heraustreten zu fónnen."
(S. 11 f)
Es ift eben ſchwer, ben eigenen Menfchen, der burd)
Erziehung und Bildung ein beftimmtes Gepräge erhalten
bat, auszuziehen oder aud) nur zu mobificiren, e8 ift
befonders ſchwer, wenn bie veligidfe Weberzeugung ind
Mitleiden gezogen wird. Ich will nicht unterfuchen, wie
viel hierin durch abfichtliche Pflege und Förderung hand»
Handbuch der theol. Wiffenfchaften. 141
greiflicher Vorurtheile gefündigt wird, obwohl mir viele
Beifpiele bekannt find, aber vom größeren ober gerin=
geren Grade abgefehen wird e im Weſentlichen leider
immer fo bleiben. Der Verf. befennt fid) mit Recht
ganz offen zu ber Anfiht, daß an eine Aufhebung bet
die einzelnen proteftantifchen Bekenntniſſe trennenden
Schranken nicht zu denken ift. „Ja, e8 muß bie Mei-
nung, als ob jemals eine Rückkehr zu diefen früheren
Ginpeit&- und Einfachheitszuftänden möglih werben
würde, überhaupt αἵδ᾽ ein unpraktifcher Wahn vermorfeu
werden“. An eine Union zwiſchen fatbolifen und Pro—
teftanten ift ohnehin nicht zu denken. Die diesbezüg-
liden Beftrebungen des Altkatholicismus find faum ber
Erwähnung wert. Diejenigen Katholiten, melde ben
deutſchen Proteftantismus wegen ber negativen Theo-
logie, be8 crafjen Unglaubens und be8 meitverbreiteten
Indifferentismus demnächſt zu den Todten legen tollen,
täufchen fid) ebenjo febr als ber Philoſoph des Unbe—
wußten mit feiner gerfegung be8 Chriſtenthums. Die
confeffionellen Gegenfäe bleiben beftehen, jo weit menſch⸗
liches Urtheil überhaupt gelten Tann, und die Aufgabe
der wahren Gbriften Tann mur bie gemeinfame Arbeit
gegen den Unglauben fein. Dan follte fid) gegenfeitig
vertragen und ben Feinden nicht das Schaufpiel des
Kampfes unter gläubigen Chriften bieten.
Ein näheres SBerftünbniB ift bloß auf hiſtoriſchem
Wege müglij. Die Gefdidte muß ben beften Beweis
erbringen können, wenn e8 fid) um Qyuftitutionen handelt,
welche mit der Stiftung be8 Chriſtenthums zufammen-
hängen. Ich billige es deßhalb burdjaus, daß bie Verff.
des fanbbud ber hiftoriihen Entwidlung große Aufs
142 8 αϊεν, .
mertjamfeit geſchenkt haben. Für bie Eregefe 3. 88. ift
dies um fo nothwenbiger, al8 man bei der Lectüre protes
ftantifcher Arbeiten Häufig zu der Vermuthung fommen
önnte, als ob bie Cregele erſt mit ber Reformation
begonnen abe. Einen Fehler hat H. 3. bier aud
nit vermieden. Er ftellt bei ber Beurteilung ber
proteftantiihen Exegeſe das proteftantiihe Material:
prinzip viel zu ftark in bem Vordergrund. Wohl haben
freilich diefe Arbeiten baburd) an Einheit unb Gonje-
quen gewonnen, aber nicht ebenfo an Objectivität. Man
darf ja zu dem Ende nur an bie Geſchichte des Jakobus⸗
briefes bis in die neuefte Seit herein erinnern, um bie
Voreingenommenheit vieler proteflantijder Eregeten zu
eonftatiren. Die mittelalterlihen Exegeten tagire ἰῷ
gerade aud) nicht zu θοῷ. Sie haben bie leidige Ge-
mohnheit gehabt, das mas fie von ben Vätern, von
melden fie größtentheils lebten, entlehnten, in bie fdo-
laſtiſche Zwangsjacke zu fteden. Aber Maldonat, ber
ältere Janfen, Solet, Lucas Brugenfis u. A. dürfen fid)
ganz wohl neben ben anderen zeigen. Wenn Maldonat
ben Eontroverjen einen großen Raum geftattete, fo war
er durch bie damalige proteftantiihe Cregefe, melde
offenfin vorgieng, hinlänglich berechtigt. R. Simon mag
manchmal in feinem Urtheil zu ftreng fein, aber er hat
bod) bie Methode gut gekennzeichnet, welche gerade das
Materialprinzip der alten proteftantijden Gregeje vor-
geſchrieben hat.
Die Geſchichte felbft verdient eine befondere Berüd-
ſichtigung. Ih bin mit bem Verfaſſer ganz einver-
ftanden, menn er bie Kirchengefchichte mit der biblifchen
Wiſſenſchaft boranftellt. Wenn dies bei den katholiſchen
Handbuch ber theol. Wiſſenſchaften. 148
Methobilern. nicht [o entſchieden hervortritt, fo liegt ber
Grund jedenfalls nicht in der Vernadläffigung der
Kirchengeſchichte. An Diefiger katholiſcher Facultät be
flebt feit einem halben Säculum die Cinridjtung, daß
mad) den philofophifhen Vorftudien mit der Cregeje und
firdjengeld)idote begonnen wird. Die Dogmatik und das
Kirchenrecht treten erft im dritten Studienjahr ein, wäh-
rend die Moral und bie praftifhe Theologie dem 4.
Eurfus refervirt find. In der Behandlung der Kirchen:
geſchichte ift freili auf beiden Seiten aud) nit alles
zu loben. Haben fid) Tatholiihe Polemiker vom Eifer
oft zu weit Dinreifem laſſen, jo leidet das Werk des
Flacius, die Magdeburger Genturien, jedenfalls aud)
mod) an Anderem als an feiner „Formloſigkeit“. Eine
halbwegs objective Geſchichte über die Reformation war
vor ber Publication der zahlreihen Quellen gar nicht
möglid. Die Quellen bieten aber ein wenig ſchmeichel⸗
fafte8 Bild von ber Moral und Politit im Lager bet
lutheriſchen Fürften und ihrer geiftlichen Helfer. Das
neben ift die aud) hier wieder vorgeführte Jefuitenmoral
mit ihrem Probabilismus und ihrer Cafuiftif ein un:
ſchuldiges Ding.
Ueber die eregetifche Theologie bemerfe id) nur, daß
bie Verff. fid große Mühe gegeben haben, ihre Dar-
ſtellung auf dem Standpunkte der neueften Wiſſenſchaft
zu halten. Sie haben bie meueften Hypotheſen über
das 9. T. durchgehends berüdfichtigt, aber freilich bie
Sectüre einigermaßen erſchwert. Dies gilt namentlich
von ber Einleitung, welche einen ziemlich eingemeihten
Leſer vorausfegt. Die anderen Theile dagegen leſen
fij leicht und angenehm. Die Fatholifche Literatur ijt
144 Mäler,
wenigſtens theilmeife verzeichnet. Zur SJtalaliteratur
vermißte ἰῷ Dit, ber in Fledeifens Jahrbücher gegen
Biegler geſchrieben hat, zur Bulgataliteratur wäre neben
Kaulens Handbuch der SSulgata deſſen Gejdidte ber
Bulgata zu erwähnen geweſen. €. 188 hätte der Gober
Teplenfis genannt merben follen.
5 Shanz
3.
1) Göttliches SBiffen und göttliche Macht bes Johanneiſchen
Chriſtus. Ein Beitrag zur Löfung ber Johanneifchen
Frage. Won Dr. theol. Karl Müller, Gymnafial«, Reli-
gion$- unb Oberlehrer in Breslau. Freiburg. Herder.
1882. 143 ©.
2) Kurzgefaßter Gommentat zu den Bier heiligen Enangelien.
Von Dr. Sram; X. Plögl, o. b. Prof. der Theologie
an ber f. k. Univerfität zu Graz. Im bier Bänden.
Dritter Band. Grjter Theil. Kurzgefaßter Commentar
zum Evangelium des 5. Johannes mit Ausſchluß ber
Leidensgeſchichte. Graz. Styria. 1882. XLIX u. 228 ©.
M. 3,20.
3) Die Entftehung ber Apotalypſe. Ein Beitrag zur Ger
ſchichte des Urchriſtenthums bon Dr. phil. Daniel Bölter,
Repetent am evangeliſch⸗theologiſchen Seminar in Tü-
Bingen. $reiburg und Tübingen 1882. Mohr (88. Sie
bed). 72 €. M. 2.
Die Johanneiſche Frage ift wie bie parallele ſynop⸗
tiſche Frage eine Frage ohne Ende. Schon bie Art wie
fie aufgeworfen wurde beweist, daß e8 fid in legtet
Inſtanz um philofophifhe und dogmatiſche Gegenfäge
Johanneiſcher Chriſtus. 146
handelt, welche in das Urchriſtenthum zurückverſetzt wer⸗
den und ben hiſtoriſchen Unterſuchungen vielfach präfu-
biciren. Andererſeits ift aber zuzugeben, daß namentlich
die Behandlung Baur’3 zur hiſtoriſchen Auffaſſung der
Evangelien viel beigetragen hat. Man wird heutzutage
Tein Evangelium, aud) ba8 be8 Johannes nicht, befrie-
bigend zu erflären im Stande fein, wenn man nicht
bie hiſtoriſchen Vorausfegungen einer genauen Unter:
ſuchung unterzieht. Diefe wird bann von felbft dazu
beitragen, bie eigenthümlichen, tief einfchneidenden Diffe-
renzen be8 4. Evangeliums zu den ſynoptiſchen Evan-
gelien, begreiflih, ja nothwendig erſcheinen zu laffeu.
Es if hierin aud) in neuerer eit fo viel gearbeitet
worden, daß man wohl bie Diftorije Frage bei den
gegenwärtig zu Gebot ftehenden Hilfsmitteln für bei
nahe erihöpft betrachten muß. Die Arbeiten von Gobet
und Luthardt einerjeits, von Weizfäder und Beyihlag
andererfeit3 verfolgen bie Frage bis zu ihren äußerften
Gonjequengen. Katholiſcherſeits ift freilich feit Hug und
Maier nichts Bebeutendes mehr in biefer Frage geleiftet
worden. Der neuefte Commentar zum Evangelium von
Haneberg-Schegg fonnte ſchon wegen be8 befannten
„katechetiſchen“ Standpunktes die hiſtoriſch⸗kritiſchen Fra⸗
gen nicht weſentlich fördern. In der Erklärung wird
man aber Haneberg nicht Unrecht thun, wenn man ſagt,
daß er durchaus auf altem Boden ſtehen geblieben iſt.
Manchmal glaubt man gar, Tolet ſpreche zu uns. Der
Herausgeber konnte daher unmöglich einen ganz be—
friedigenden Commentar daraus machen, ſo hoch auch
ſeine Mühewaltung anzuſchlagen iſt. Es bleibt alſo für
Theol. Quarialichrift. 1888. Heft I. 10
ἀπὸ Niler, Johanneiſcher Chriſtus.
katholiſche Theologen in dieſer Frage noch win ziemliches
Arbeitsfeld übrig.
1) δ. Müller gibt [don im Titel feines Buches
ben Zweck und Inhalt defielben ziemlich vollftändig an.
€x behandelt im erften, mehr worbereitenden Theil beu
geſchichtlichen Charakter des Johannesev., feine Gegner
und Vertheidiger. Im zweiten Theil wird das göttliche
Wiſſen und die göttliche Macht des Johanneiſchen Ehriftus
an ber Hand der einſchlägigen Stellen und Grgüblunpen
des Evangeliums und unter forimährender polemifcher
Berüdfihtigung der Gegner und halben Bertheidiger
nachgewieſen. (8 ift alfo nur etu Theil ber Johannoiſchen
Frage, ipeciell bie innere fiti, melde ber Verf. ber
handelt. Er fucht nachzuweiſen, daß die Zuvückführung
ber ebangelijden Erzählungen auf eine Idee, welche im
Prolog ausgeſprochen fei, unftatthaft fei. Dies thut ες
mit vielem Geſchick und großer Gelehrſamkeit, obwohl
er meines Erachtens in der Vertheidigung zu meit ‘geht.
Beat faft er den Prolog nicht ‚gang hiſtoriſch, weil es
unmöglich ijt, aber bod) urgirt er den biftoriihen Cha-
after zu ſtark. Wenn er ſchon V. 5 nicht bloß über
haupt hiſtoriſch, fondern aud) Kriftlich deutet, wenn er
bie vorhergehenden ἦν in biejem Sinne premirt und ben
Evangeliſten Thatſachen eigener Erfahrung und Erinnes
rung mit metapbpfifchen Debuctionen verflechten läßt,
fo läßt fid) dies bei bem Gegenja, die Geſchichte in
bet bee aufgehen zu laſſen, begreifen, aber eine be-
friedigende ‚Einfiht in den Prolog des Johannes wird
man baburd) nicht erlangen. Dazu wird man .gegen
Baur und feine Schule genau auf die Diftorijie Situa-
tion der Schrift einzugehen haben. Beſſer ift was über
Böll, Connnentar zum Johanuaden. 447
bie Johanueiſchen Wunderberichte gefagt mirb. Diefelhen
werben genau analyfirt und gegen die vorgebliden Un⸗
wahrſcheinlichkeiten, Widerſprüche, mythologiſchen Bil-
dungen u. X. vertheidigt. Daß fie im Organismus bes
Evangeliums παῷ 20, 30. 31 einen weſentlichen Factor
bilden, kann füglid) nicht beftritten werden. Nur muß
auch 12, 37 ff. genau berüdfictigt werben, um die
Tendenz be8 Evangeliften zu erkennen. Daraus mirb
dann aud) klar, warum Johannes ftatt ber ſynoptiſchen
Todtenerwedungen die des Lazarus aufgenommen bat.
Ein Recurd auf bie geringere Schulung der Synoptiker
als Biographen ſcheint mir weniger am Plate zu fein,
wenn bod) ber Hauptgrund „in ber wejentlich verfchiedenen
Anlage und Defonomie ber Euangelien zu ſuchen“ ift
(6. 138). Barum das Moment ber Steigerung in der
Auferwedung des Lazarus beftritten werden fol, kann
wur aus dem Gegenjag zu Baur erklaͤrt werden. Denn
daß Johannes nicht bloß bei diefem Wunder, fondern
bei feinen SBunberberidjten üherhaupt bieje8 Moment
berüdfidtigt hat, ift eine Thatſache, welche bei der Auf-
fafjung des Evangeliums wohl im Auge behalten met.
den muß.
2) Der erfte Band dieſes Evangelicommentars wurde
1880 €. 658 ff. angezeigt. Der zweite, dad Marcus:
und Lucasev. umfaflende Band flet nod) im Stüdftanbe,
weil der Verf. ε mit Rüdfiht auf die SBebür[nifje ber
Theologie-Studirenden für angezeigt gehalten hat, zuvor
das Zohannesevangelium zu commentiren. Der vor-
liegende erfte Theil enthält neben einer verhältnißmäßig
langen Einleitung die fieben erften Kapitel des Evans
geliums. Nad bem Zwecke feiner Arbeit mar e8 nicht
10*
148 Böll, Commentar zum Johannedeb.
feine Aufgabe, „neue Refultate der Bibelforfhung zu
Tage zu fördern“, fondern nur „die fiheren Ergebniſſe
der Schriftforſchung zu acceptitem, zu erläutern und zu
begründen”. Doc joll der Gommentar „Leine einfache
Ercerpirung und LZufammenftelung von Erklärungen
anderer Cregeten fein. Vielmehr vindicirt er feiner
Arbeit „mit vollem Bewußtſein jenen Grad von Gelb.
fändigfeit, wie er Schriften von diefem Umfange unb
Zwecke überhaupt eigen ἐπ". Legteres [oll wohl bie
Antwort fein auf einen Angriff gegen bie Selbftändigfeit
bes Verf. im erften Band, ben bie Z/beologijde Literatur-
zeitung gemacht hat. Ob e8 in biefem Falle nicht beſſer
gewefen wäre, die Stellung zum Meyer'ſchen Commentar
überhaupt klar zu machen, will id) dahingeſtellt fein
laſſen, aber wenn katholiſche Eregeten jo häufig Meyer’
Gommentate benüßen, fo follten fie ihre Selbftändigfeit
in einem Hauptoorzug berfelben befunden. Meyer ijt
fid in der Auffaffung und Methode vom Anfang an bis
zum Schluß glei und liefert, wie man feinen Stand-
punkt fonft beurtheilen mag, etwas Driginelles und
Einheitliches. Die katholiſchen Eregeten müſſen aljo
darnach fireben, daß fie nidjt mur Kapitel für Kapitel
erklären, fondern dem Ganzen den eigenthümlichen Cha—
rakter aufprägen und daburd bie eigene Gebanfenaxbeit
zeigen. Andernfalls bleibt man bei einer mehr ober
weniger guten Reproduction und Zufammenftellung des
Alten. Diefe Anforderung ift aber m. Er. aud an
einen furggefaBten Commentar zu ftellen. Auch bet
Studirende faun nur auf diefe Weife in den Geift einer
Schrift eingeführt werden. Deßhalb hätte id) gewünſcht,
baf der Verf. bie einleitenden Fragen über das Vers
Volter, Apotalypſe. 149
hältniß zu den ſynoptiſchen Evangelien, ben geſchichtlichen
Charakter des Johannesev., bie Echtheit, die Gegner
ber Echtheit mehr vere und zum Theil zuſammengear—⸗
beitet unb bem für bie eigene Auffaſſung entſcheidenden
8 über Beranlaffung und Zwed eine größte Ausdehnung
gegeben hätte. Die Eintheilung des Prologs V. 1. 2,
3—13, 14—18 ift unzutreffend und zwar um jo mehr,
wenn der Zufammenhang zwiſchen dem Prolog und ber
evangelijden Gefchichte ein febr enger if 5, 1 ent
ſcheidet fid) der Verf. für das Paſſafeſt. Im Uebrigen
bat fid) der SSerfaffer febr häufig an Maldonat und a
Lapide angefchloffen und zwar mitunter fo eng, daß er
bie patriftifhen Irrthümer berjelben reprobucirt; 4. B.
4, 27 ben 5. Eyprianus citirt, obwohl die Schrift de
singul. clericorum ſchon von ben Maurinern al unter-
ſchobene bezeichnet wurde. Den beiten älteren Gom
mentar von Tolet jdjeint ev nicht zu Nathe gezogen zu
haben. Die Erklärung ift mehr periphraſtiſch als ftreng
philologiſch⸗ δἰ ποτῷ, genügt aber bem vorgefegten
Sed, [αἴ man überhaupt den Stubirenden mur den
weſentlichen Inhalt, nicht aud) die harakteriftiihe Form
vorführen mil. Dies dürfte gegenwärtig bie Anficht
vieler Fatholifhen Theologen fein, toelde vor fireng
wiſſenſchaftlicher Cregefe einen gewiſſen Horror haben.
Als einen gefunden Zuftand fünnen wir biefen aber
gewiß nicht bezeichnen.
3) Nicht den geringften Einwand gegen die Johannei-
ſche Auffaffung des vierten Evangeliums bietet bie Apo-
talypfe dar. Denn ifr ſprachlicher Charakter wurde ja
ſchon von Dionyfius von Merandrien in ſchroffen Gegen-
fag zu dem Evangelium gefet und die kritiſche Schule
150 Bölter,
bat nur eine andere Gonfequenz gezogen, indem fie
gerade in ber Apokalypſe den echten Donnerzfohn er-
kannte. Sie ift im Ganzen darin einig, daß nur bie
Apofalypfe vont Apoftel Johannes herrührt umb vor
bem 3. 70 verfaßt ij. Die Bweifel an der Einheit
der Schrift haben zwar auch nicht ganz gefehlt, aber fie
waren vereinzelt und haben wenig Zuftimmung erhalten.
Dagegen unternimmt e8 mun ei junger Gelehrter
nachzuweiſen, daß die Apofalypfe nichts meniger als
eine einheitlihe Schrift fei. Diefelbe habe vielmehr
folgende verfchiedene Beftandtheile: 1) Die Urapofalypie
des Presbyters Johannes aus bem J. 6b ober 66:
1, 4—6. 9. 4, 1-5, 10. 6, 1—17. 7, 1-8; c. 8. 9.
11, 14—19. 14, 1—3. 6. 7. 18, 1-20. 19, 1—4
14, 14—20. 19, 5—10, 2) Die im 3. 68 entftandene
Weisſagung deſſelben Berfaflers: c. 10. 11, 1—18.
c. 17. 18, 21—24, 3) Die erfte größere Einfchaltung
unter Antoninus Pius zwilchen 140—150: 11, 15. 18.
e. 12. 13. 14, 9—12. c. 15. 16. 17, 1. 19, 11—21, 8.
4) Die zweite fleinere Cinjjaltung unter Antoninus
Pius um 150: 1, 7. 8. 5, 11—14. 6, 16. 7, 9—17.
14, 1.4. 5. 21, 9-22, 5. 6. 8—11. 14. 15. 5) Die
legte Einfhaltung unter Marc Aurel um 170: 1, 1—3.
1, 10—3, 22. 5, 6. 14, 18. 16, 15. 19, 10, 22, 7. 12.
18. 16—21.
Die Gründe für diefe gründliche Zerſchneidung des
großartigen, aber febr ſchwer verſtändlichen Wertes find
theils bogmatijder, theils und vorwiegend hiſtoriſcher
Natur. Die erfteren tarire id ganz gering. Denn weder
bie Anlehnung ber Vorftellungen von Gott und Chriftus
an bie altteftamentligen Bilder und Begriffe in ber
Apolalypfe. 161
ujptüsgltden Apodalypfe, uod) die Auffafſung der Perſon
SHrifte als einer durchweg menſchlich⸗hiſtoriſchen, nod)
hie monarchiauiſche Chriſtologie in vorgeblich ſpäteren
Theilen iſt in einer apokalyptiſchen Schrift von Bedeu—
tung. Die Ausdrücke find derartig, daß fie unſchwer
mit denen in den andern Theilen in Lebereinftimmung
gebracht werden Tonnen. Ein Wechſel hierin ift aber
duch den häufigen Scenenwechlel im ganzen Buch Teicht
erklärlich. Mehr Beweiskraft haben allerdings bie hilto-
riſchen Gründe. Man wird wohl nie dazu gelangen,
eine ganz befriedigende Erklärung für diefe Punkte zu
geben. Der beutlidjjte Beweis dafür if bie Zuflucht
nenerer Gregeten zur endgefchichtlichen Erklärung. Sollen
die Verfolgungen, Martyrien, häretiſchen Erſcheinungen
u. A. vom zeitgeſchichtlichen Standpunkte aus erklärt
werden, ſo reicht die Neroniſche Verfolgung nicht aus.
Anders ift es aber ſchon wenn man bis zum Ende bes
1. Jahrhunderts herabgeht und, was die Schrift abfolut
verlangt, bem prophetiichen Charakter nicht außer Acht
läßt. Wie aber aud) die Erklärung hierüber ausfallen
mag, fo ift e8 bod) hiſtoriſch unmöglich, bie legte 9te-
daction [o tief ins 2. Jahrhundert herab zu verlegen.
Die Apokalypfe ift [o gut als irgend eine fanonijde
Schrift bezeugt, denn bie fpäteren Zweifel find bog.
matijdew Urfprungs amd das Verhalten des Eufebius
beweist nieht, daß er für fie Feine genügende Bezeugung
vorfand, jondern daß er zu wenig hiftoriihe Daten gegen
fie zur Hand hatte. Anders wäre ihre Stellung unter
den ὁμολογούμενα und νόϑα gar nicht begreiflih. Sie
hätte unter ben ἀντιλεγόμενα ihren Platz finden müſſen.
Für bie erfte Stelle ſpricht die Bezeugung, für bie
152 Bölter, Apolalypſe.
zweite bie Neigung be8 Cujebius. Als eine Mißachtung
aller hiſtoriſchen Beweisführung muß id e8 aber be-
zeichnen, wenn ber Verf. e8 plaufibel madjen will, daß
bie legte Einfhaltung ber Apofalypfe dem Juſtin um
160 und den Gemeinden von Lyon unb Vienne in dem
vieleicht von Jrenäus verfaßten Schreiben an bie Ge-
meinden Afiens und Phrygiens um 177 nod) unbekannt
war, aber bem Irenäus bei der Abfaſſung feines Haupt:
werks vorlag, jo daß bie Apofalypfe in ihrer heutigen
Geftalt ber gallifchen Kirche um 180 befaunt wurde.
Denn bie Zumuthung, baf fid) Irenäus innerhalb eines
halben Dezenniums unvermerft eine fo weſentlich ver⸗
änderte famonijdje Schrift habe in bie Hände fpielen
lafen, ift fo flarf, daß jedes Wort darüber zu viel
wäre. Es ift gewiß eine naive Beweisführung, wenn
ber Verf. meint, fo große Einſchaltungen ſeien möglich
gewefen, ba bie Apofalypfe nicht ſowohl meil fie nicht
apoftolijd als vielmehr weil fie von ben Ereigniflen
raſch überholt war, weder eine weitere Verbreitung nod)
ein größeres Anfehen erlangt hatte, fondern bald in
Vergeſſenheit gerathen war! Und doch nennt Juſtin beu
Namen des Verfaſſers und wagt e8 bet heftigfte Gegner,
Dionyfius von Merandrien, nicht, ihr ben infpirirten
Charakter abzufprehen. Das Buch mit den fieben Sie-
gel wird aljo nad) mie vor weiterer Aufklärung be
dürfen. Diefe Art der Behandlung der neuteftament-
lien Schriften dürfte heuzutage faum mehr als eine
vorübergehende Beachtung finden.
Shanz.
Fleifchlin und Wicht, Monat:Rofen, 153
4.
RonatsRofen. Organ und Eigenthum des Schweizerifchen
Ghubentenbereinà umb feiner Ehrenmitglieder. Redigirt
von Bernhard διε απ und g. Wicht. XXV. Jahrg.
1880— 81. XXVI. Jahrg. 1881—82. Luzern. Drud und
Expedition ber Buchbruderei I. Schill. 488. 548 ©. 8,
Die „Monatrofen”, eine von bem Verein der katho—
liſchen Schweizer Studenten herausgegebene Zeitſchrift,
von welcher ung bie oben verzeichneten zwei Jahrgänge
in je 9 Heften vorliegen, verdienen es aus mehreren
Gründen, daß wir fie der freundlichen Beachtung unferer
Seler empfehlen. Die als Vereinsorgan: dienende perio-
diſche Publication bat zwei verſchiedenen Aufgaben zu
genügen, von denen wir bie eine bie literarifche, bie
andere die gefhäftlihe nennen fónmen. Ob e8 gmed-
mäßig fei, in einem und bemfelben Organe beide Zwecke
miteinander zu verbinden, ober ob bie gejchäftlichen
Angelegenheiten des Vereins, 3. 9B. bie Mitgliedervers
zeichniſſe, Semeftralberichte der einzelnen Sectionen,
Referate über Vereinsfeſte, Mitteilung ber an bem lege
teren gehaltenen Reben und Trinkſprüche, und enblid
Berfonalnotizen verjdjiebener Art, vielleicht beſſer von
dem literariſchen oder wiſſenſchaftlichen Theil der Publis
tation abgetrennt würden, bieB ift eine Frage, melde
in erfter Linie aus ben Bebürfniffen und Erfahrungen
des Vereins felbft heraus zu beurtfeilen ift unb über
die wir bier hinweggehen können. Immerhin geben aud)
biefe geſchäftlichen Mittheilungen einen nicht unintereffan=
ten Einblid in ein Stüd öffentlichen, kirchlichen und
politifchen Lebens der Fatholifhen Schweiz. Dem Namen
nad nemlich befteht zwar ber Verein zunächſt aus
154 Fleiſchlin und Wicht,
Studierenden an den höheren Klaſſen ſchweizeriſcher
Mittelſchulen ſowie an beu Hochſchulen in und außer
halb der Schweiz, in der Weiſe, daß je die an einer
ſolchen Schule ſich befindenden Schweizer Studenten ſich
zu einer Section vereinigen und durch dieſe mit dem
Geſammtverein zuſammenhängen; in Wirklichkeit aber
bleiben diejenigen unter ihnen, welche ihre Studien ab-
folvirt haben, als Ehrenmitglied dem Vereine verbunden,
und auf bieje Weife fließen dem Vereine und beffeu
Organ verſchiedene Quellen geiftiger und materieller
Subfiftenzmittel zu, und ba8 Gange veprüjentütt nicht
etwa blos den „Staat der Zukunft“, ober dad heran-
wachſende Geſchlecht, ſondern faft in fij) einen Kreis
von in Amt und Brod und Würden ftehenden Männern,
melde mit bem Centrum verfchiedentlih, 3. 8. burd) bie
gemeinfamen geftverfammkungen, bie Sectionsverſamm⸗
lungen, und ganz befonders burd) die „Monat:Rofen“
in Verbindung fteben; e8 gibt fi barum in dem Ber
einsorgane nicht bloß ber ſchäumende Jugendmuth einer
aufftrebenden und für ideale Ziele begeifterten Ctubenteu-
ſchaar Fund, fondern auch das Dichten und Trachten ber
Alten, bie Anjhauungen und Grundfäge, welche von
den gereiften Männern in ihren verſchiedenen Lebens:
Treifen vertreten werden.
Unter allen Umftänden kann e8 nur einen guten
Eindrud machen, daß der Verein von Studenten feinem
Namen Ehre zu machen beftrebt ijt durch bie Früchte
feiner Studien, bie ben Haupttheil der Zeitſchrift bilden.
Es läßt fid) gar wit ermefjen, wie viele nützliche Ans
regung in den einzelnen kleineren Kreiſen gegeben wird
durch wiſſenſchaftliche Vorträge unb Beſprechungen, durch
Monat-Rofen, 155
Darbieten von literariihen Aufgaben und burd) bem
Neiz der Publicität, welche bem aufftrebenden Talente
aufgeſchloſſen wird; freilich ift auch die Gefahr nicht zu
überfshen, daß etwa die Luft zur Schriftftelerei vor:
zeitig ſtimulirt werde, baf die Mittelmäßigfeit fid) breit
made, und daß, menm aud) in verkleinertem Maßftab,
die Schattenfeiten be Literatenthums, 3. B. das Haſchen
uad) Effekt und Phraſe, Eiferfüchtelei, pevjóntide Empfind-
lichkeit, Zank und Streit, fij einftellen. Es ſcheint
jebod, baf ein edler Patrivtismus biejen Gefahren zu
begegnen weiß; wenigſtens haben bie Monat-Rofen be=
reits ihren 26. Jahrgang in Ehren vollendet, und zwar
dur das Zuſammenwirken der beutjd)en und franzöfis
iden Gectiomen, in der Weile, dab aud) ba3 SBereind:
organ zweiſprachig erſcheint, b. D. unter je einem deut⸗
fien (Fleiſchlin) und einem franzöfiihen Stebacteur
(Wit) Auffäge und Berichte in deutſcher oder [rame
zöſiſcher Sprache aufnimmt.
Da der Berein Studierende aller Fächer umfaßt,
fo if m ben Monat-Rofen aud Raum gewährt für
Abhandlungen aus den verſchiedenſten Gebieten, Philo-
fopbie, Theologie, Gejdbidte, Rechtswiſſenſchaft, Naturs
kunde, Aeſthetik, giteraturgejdjid)te, Biographie; felbft
die Lyrik ift nicht ausgefchloffen. Die Arbeiten treten
durchweg in einer anſpruchsloſen Form auf, mie fie
auch in ber Regel aus ben eigentlichen Studentenkreifen
hervorgehen; fie find felbftverftändlih, wiſſenſchaftlich
angefehen, von verſchiedenem Werthe, zeugen aber durch
weg von einem ernften Streben und von einem nobeln
und warmen Zuge, δὲς durch deu Verein hindurchgeht.
Bon Arbeiten, die und pier bejonders intereffizen,
156 Fleiſchlin und Wict,
möchten wir im erftet Linie nennen die Abhandlung von
bem jegigen Rebacteur ber beutjdjen Abtheilung „Aus
ben Annalen des Gymnafiums zu Luzern; eim Beitrag
zur Geſchichte der Tatholifchen Schweiz". Sie befteht in
einer Reihe von Artikeln, die erft fpäter ihren Abſchluß
finden werden und denen als Hauptquelle eine hand⸗
ſchriftliche Chronik bes Jeſuitencollegiums zu Luzern,
»Series Historiae Collegii Societatis Jesu«, zu Grunde
liegt. Die „Annalen des Gymnafiums zu Luzern“ er-
meitern fi thatſächlich nicht mur zu einer Geſchichte des
gelehrten Schulwefens zu Luzern überhaupt, welches mit
dem Collegium ber Jefuiten ungertrennlid) verknüpft ift,
fondern zu einer Geſchichte Luzerns felbft, ja der fatbo-
lichen Schweiz innerhalb von zwei Jahrhunderten, jomie
ber religiöfen und kirchlichen Reform in ber fatbolijden
Schweiz feit dem Tridentinum. Sind aud) die hand»
ſchriftlichen Mittheilungen nur al8 Berichte ber einen
Partei aufzufaffen, jo ift bod) durch den Verf. ber Ab:
handlung Licht und Schatten möglihft gerecht vertheilt
und die fenntniB von bem Zuftänden jener eit und
von ben in ihr einflußreihen Männern um vieles ge-
fördert. — Eine weitere recht inftruftive Arbeit ijt von
Th. Holenftein „Die Reception des römiſchen Rechtes“
(Sabrg. XXV ᾧ. VII—IX); ferner von dem Kanoniker
Eug. Gros »Martyre de la légion thébéenne« (XXV
$. II—IV). Von literargeſchichtlichen Arbeiten hat
ung beſonders gefallen eine Studie über „Annette von
Drofte-Hülshoff“ (zweiter Theil Jahrg. XXV... I—III)
fotoie ber Efjay über » Voltaire a Fernex« (XXV $.1—II).
Gut orientierend ift ber Auffag über „Das Alter des
Menſchengeſchlechtes“ von G. Thüring (XXVI ᾧ.
Monat: Rofen. 157
V—VI). Andere werden Anderes befonders hervor-
zuheben finden; wir müfjen uns bier um des Raumes
willen beſchränken.
Eine geſteigerte Bedeutung erhalten nun aber fortan
die „Monat-Rofen“ dadurch, daß bie Akademie des D.
Thomas zu Luzern feit 1882 beſchloſſen hat, diefelben
für einen Theil ihrer Bublicationen zu benügen, zunächſt
für Arbeiten von mehr philofophiihem Charakter. Der
legte Jahrgang verdankt demnach ber 9(fabemie ſchon
zwei Vorträge, nemlih von Nic. Kaufmann „Be
weis be8 b. Thomas für den ,,etften Beweger““ ©.
183 ἢ. und von C. Alb. Kaifer „die Diftorijden
Entwicklungsgeſetze ber chriftliden Kunfl“ €. 355 ff.
Bir haben hier wenigftend Anfänge, bie zu ſchönen Hoff:
nungen berechtigen.
Wenn nun aber bie Zeitihrift immer mehr über
die Bedeutung einer blojen Vereinscorrefpondenz hinaus-
wächst, [o möchte Ref. in freundſchaftlichſter Weife bie
Frage nahe legen, ob die Redaction nicht in Bezug auf
den gefchäftlichen Theil ber Monatshefte, auf Sections:
berichte, Feftreden, Stefrofoge für Studierende u. f. w.,
einen ftrengeren Mapftab anlegen möchte, damit ber
Verein um fo fiherer jedem Einzelnen aud) eine Schule
bes guten Geſchmacks und ber Erkenntniß des wahrhaft
Maßvollen und Schönen werde. Denn aud) bief ift
ein Moment zur SBertoitflidjung des hohen Zweckes, den
fij der Verein gejegt Dat: „Tugend, Wiſſenſchaft und
Freundfpaft, nad) Sitten und Glauben der Väter, im
Sinn unb Geift der fatfolijden Kirche zum Frommen
des Vaterlandes”.
Rinfenmann.
158 Gebhardt und Harnack
b.
Texte und Unterſuchungen zur Geſchichte der akichriſtlichen
fiteratut von Ὁ. von Gebhardt und A. Germ. 3. Band.
Heft 1 und 2. Die Ueberlieferung ber griechiſchen Apo-
fogeten beà II. Jahrhunderts in der alten Kirche und
im Mittelalter von U. Harnad. Leipzig, Hinrichs.
1882. VII, 300 ©. Preis 9 M.
Das verdienſtliche Unternehmen, von dem einft-
weilen ein Doppelheft vorliegt, oll nad) bem Profpect
als Archiv für altchriftliche Literaturgeſchichte bringlide
Vorarbeiten zu einem Handbuch biejer fiteratur um
faſſen und einerfett8 Texte enthalten, theils ungedruckte,
theils auf Grund ſchlechter Handſchriften gebvudte ober
nur im Ueberfegungen bekannte u. |. w., anbererjeits
Unterfuhungen, auf alle Fragen fid) erfüredenb, bie
innerhalb einer Literaturgeſchichte zu ‚behandeln find, mit
Bevorzugung derjenigen Probleme, welche in einem Hand»
bud) nur in Kürze erörtert werben Tönnen, wie ber
Ueberlieferungs- und Tertesgeſchichte u. dgl.
Das vorftehende Heft enthält zwei Unterfuchungen.
Die erfte (1—97) handelt von ber haudſchriftlichen Ueber⸗
Vieferung der Apologien im Mittelalter, und als ijr
wichtigſtes Ergebniß wird €. 85 ff. Folgendes hervor:
gehoben. 1) Aus bem byzantinischen Zeitalter (10.—14.
Jahrh.) find uns drei von einander weſentlich unab⸗
bängige Sammelwerke überliefert worden, deven älteſtes,
914 von bem gelehrten EB. Arethas von Gájavea zu:
fammengeftelt, ein Corpus Apologetarum ber älteften
Zeit bis auf Eufebius enthält (Par. 451). Es ift zwar
nidt ohne Fehler gefchrieben; bod) fdeimt ber Tert
nirgends abſichtlich entftellt zu fein. Die beiden anderen,
Zur Geſchichte ber altchriftlichen Literatur. 459
febr viel jüngeren, die verlorene Straßburger Handſchrift
und Cod. Paris. 450 v. J. 1364, ftellen fih a8 Samm⸗
lungen ber Werke Juſtin's bar. In jener, welche aus
telatio befjerer Ueberlieferung ſchöpfte, aber febr ſorg⸗
loà gefchrieben ift, ſcheint nur bie zweite Hälfte eines
Instrumentum Justini enthalten zu fein. Dieſer bietet
eine große Anzahl „juftiniiher” Werke, bezeugt aber
eine ſtark getrübte Weberlieferung, fomohl was die Aus:
wahl bet Stüde ald was ihren Tert anlangt. 2) Alle
Handſchriften ber apologet. Werke des 2. Jahrhunderts
(ausgenommen Theoph. ad Autol. fowie Hermias, bet
überhaupt nicht in Betracht fommt) gehen auf bie drei
genannten Sammlungen zurüd, fo jebod), baf der meit-
aus größere Theil berfelben mittefbar ober unmittelbar
aus dem Arethascoder ftammt. 3) Der Arethascoder
ift (saec. XI vel. XII), als et fid) noch im Drient, bezw.
in ber Heimath feines erften Beſitzers befand, mehrere:
male theilweife ausgeſchrieben worden, und brei
folder Apographa befigen wir nod) (Par. 174, Mutin.,
Mareian. 343). Die Abſchriften, melde in 15. Jahr:
hundert wahrſcheinlich über Eypern nad) Venedig und
fo nad) Wefteuropa gelommen find, find bie Grundlagen
für eine Reihe jüngerer Gobice8 des Renatflancegeitalters
geworden, von denen fieben allein aus der Feder des
Regularkanonikers Balerian von Bologna geflofien find.
Der Verf. war nicht in ber Lage, bie wichtigeren
der in Betracht fommenben Handſchriften aufs neue ein:
zuſehen. Seine Studien fußen vielmehr zum größten
Seil auf ben Beſchreibungen ber Handſchriften burd)
andere Gelehrte, namentlich durch v. tto. Diefer Um⸗
fand iſt wohl in Erwägung gu ziehen. Die Haupt:
180 Gebhardt und Qarnad,
ergebniffe zwar, zu denen er gelangt ift, mögen richtig
fein. Aber im einzelnen erſcheinen feine 9fufftellungen
vorerft nod) als fraglich und eine volle Sicherheit wird
erſt bei ermeuerter Unterfuhung der Handſchriften zu
gewinnen fein. Die bisherigen Befchreibungen von Hands
ſchriften find nad) den Erfahrungen, bie ich felbft auf
diefem Gebiete gemacht habe, felten völlig gureidjenb.
Enthalten fie aud) bie wichtigeren ber Lesarten, fo
übergeben fie bod) Häufig olde Dinge, melde zwar
unmittelbar zur Tertesrecenfion nichts beitragen, aber
für bie Ermittelung des Filiationsverhältniffes ber Hand»
fáriften febr bedeutfam find. So möchte id) nad) unferer
bisherigen Kenntniß der Handſchriften nicht fo unbedingt
behaupten, als e8 €. 23 und 67 geſchieht, daß nicht
Par. 174, fondern nur eine mit ihm nahe verwandte
Handſchrift der Archetyp der drei dort erwähnten Vale:
Tiancobice8 fei, und ebenjotig, baf feiner diefer drei
Codices aus dem anderen abgefchrieben jei. Ih war
zwar mod) nit in der Lage, bie Eigenthümlichkeiten
biefet Handſchriften jo genau zu verfolgen, um ein Ur-
theil nad) ber entgegengefegten Seite bin wagen zu
fónnen. Aber ſchwerlich dürften bie Auffaffungen des
Verf. ſchon völlig gefidjert fein.
Die zweite Unterfuhung (98—298) ift der Kennt:
niß unb Beurtheilung ber Werke ber Apologeten im
Hriftlihen Alterthum und Mittelalter gewidmet und
fomit weſentlich literarhiftorifher Art. Die Männer,
um bie e8 fid) handelt, find Duadratus, Ariftides, Arifto
von Pella, der mabrideinlide Verfaſſer der Schrift:
Jaſon's und Papiscus' Disputation über Chriftus,
Juſtin, Athenagoras, Tatian, Apollinaris von Hierapolis,
Zur Geſchichte der alichriſtlichen Literatur. 161
Melito, Miltiades, Theophilus. Den größten Raum
nehmen die Erörterungen über Juſtin, Tatian und Melito
ein. Bezüglich des erſteren wird bie, fo viel id) ſehe
werft von Zahn aufgeftellte, Anficht vertheidigt, daß bie
beiden Apologien, die wir von ihm befigen, urſprünglich
ein Werk bildeten, indem die kleinere fid) al8 bloßer
Rachtrag zu der größeren, nod) vor Veröffentlichung der=
felben hinzugefügt, barftelle, und dargethan, da man
das Werk (fpäteftens im 7. Jahrh.) zunächſt in zwei
Theile und Dermad) (im oder vor bem 14. Jahrh.) in
wei Werke zerlegte, wahrſcheinlich weil man bie zweite
von Eufebius erwähnte Apologie midt mehr befaß
(€. 145, 171 f). Außerdem wird nachzuweiſen ver.
fujt, Zuftin habe eine zweite Apologie überhaupt nicht
verfaßt; bie von Cujebius ibm zugeſchriebene εἰ nichts
Anderes als die Schugfchrift des Athenagoras und ber
Bater der Kirchengefchichte fei baburd) zu feinem irrigen
Berihte gefommen, daß man [don im dritten Jahr⸗
hundert den Namen be8 Autors in ber Infcription ber
Iepteren getilgt und die Schrift fefbft ben Werken Juſtin's
beigefelt Habe. Bei Tatian wird hauptſächlich auf bie
neueſte Unterſuchung von Zahn Stüdfidt genommen und
defien Chronologie (196) eine andere gegenübergeftellt
(212). Die Belehrung wird insbefondere auf das Jahr
150 angefegt, ein Jahr, das inbeffen aud) Zahn (For:
ungen 4. ©. b. n. f. I, 283) fid) gefallen läßt, wenn
tt gleich als mittlere Zahl 155 annimmt. Der Leber:
tritt zum Chriſtenthum erfolgte in Rom. Nach demfelben
ſoll T. die Hauptftabt auf längere Zeit (c. 152—165)
derlaffen Haben und fpäter mod) einmal in fie gurüd-
gelehrt fein. 172/73 habe er mit der Kirche gebrochen.
Be, Quartalfgrift- 1889. Heft I. 1
162 Gebhardt und Harnadl,
Beit und Drt feines Todes feien völlig unbekannt.
Doc ftehe widt8 der Annahme entgegen, ba er bis zu
feinem Ende in Rom geblieben fei. Zahn dagegen läht —
ihn von feiner erften Ankunft bis 172/78 in Rom ber. |
weilen, c. 165 ober bald nad) bem Tode Juſtin's aus |
ber Kirche austreten und endlich mad) SRe[opotamien
zurückkehren. |
Der Verf. will für diefe Gonftruction Feine Sicher: |
beit beanfprudjen, und dieß mit Recht, da Sicherheit
bier überhaupt nidt mehr zu gewinnen (jl. Doch wird
bie 8abn'ide Chronologie für völlig unwahrſcheinlich,
bie Daniel'ſche für jedenfalls falſch erklärt. Die mid.
tigfte Frage ift, ob bie Oratio in Rom entftand und
in welche Zeit demgemäß bie von Epiphanius berichtete
Neberfiedelung von Rom nach Mefopotamien zu verſetzen
ift. Diefe Frage i aber ſchwerlich jo fider zu ent
ſcheiden, als ©. 198 f. angenommen wird. Was für
bie auswärtige Entftehung ber Schrift angeführt wird,
beweist wmenigftens nicht jo viel, al8 man gemöhnlid
glaubt. Man hat mur ernftlih im Betracht zu ziehen,
daß X. βῷ den Römern gegenüber als Hellene fühlte
and mit feiner Schrift fi in erer Linie an Freunde
und Bekannte unter den Hellenen menbet.
Noch weniger famm bie Ausführung über Juſtin
und Athenegoras auf Beifall vedymen. €3 ift nit ein-
zuſehen, daß bie Inſcription ber Schugichrift des leg:
teren verftümmelt fein fol. Der Scholiaft vermißte in
ihr allerdings ba8 χαίρειν (184). Dasfelbe fehlt in:
deſſen auch bei Juſtin. Und was ben vom Verf. ver:
mißten Namen bed Autors anlangt, jo läßt fi fein
Sehlen hinlänglich erklären. Man braucht mur an das
Bur Geſchichte ber altchriſtlichen Literatur. 163
eine zu benfen, baf Athenagoras mit Nennung feines
Namens der Gefahr einer Anklage fid) ausfegte. Was
€. 184 vorgebracht wird, εὖ fei ſchlechterdings undenk⸗
bar, widerſpreche auch allen Regeln einer Adrefle, veip.
einer Eingabe, daß ber Autor fid) nicht genannt habe,
wird nur auf diejenigen Eindrud machen, bemen bie
quverfichtliche Sprache allzufehr imponirt. Andere wer
den fib davon um fo weniger überzeugen, al8 aud) ber
angebliche Gorrector durchaus feinen Anftand nahm, bie
Apologie in einer folden vermeintlich unbentbaren Form
ausgehen zu laſſen. Die Hypotheſe, bie bie brüdenbften
Rathſel [Ofen foll, welche über ber zweiten 3(pologie
Juſtin's und über ber Schutzſchrift des Athenagoras
fütweben (186), ift demgemäß als unbegründet abzu-
lehnen, und mit ihr erweist fid) aud) die Behauptung,
be Juſtin eine zweite Apologie überhaupt nicht ges
fürieben babe, daß ihm vielmehr eiue folge und zwar
ſchon in ber voreufebianifhen Zeit fälſchlich beigelegt
worden jei, fowie bie daran gefwiüpfte Folgerung als
hinfällig, daß möglicherweiſe auch nod andere von
Eufebins als juſtiniſch aufgeführten Werke nicht von
dem Apologeten herrühren (189). Auch mit der Frage,
ob bie jet f. 4. zweite Apologie ibentij) ift mit
der von Eufebius erwähnten, dürfte e8 mod) etwas
anders ftehen, al8 €. 143 ff. behauptet wird, und
imar um fo eher, je weniger bie Hypotheſe be8 Vers
jaſſers zu befriedigen vermag. Denn fo iff der Thate
beftand folgender. Juſtin hat nad bem ausgeſproche⸗
nen und ſchwerlich auf SXipoerftánbniB beruhenden
Zeugniß des Eufebius zwei Apologien verfaßt. Euſe—
bins nennt H. E. IV. e. 18 ausdrücklich zwei mit
11*
162 Gebhardt unb Harnach
Beit und Drt feines Todes feien völlig unbefannt.
Doc ftehe nichts der Annahme entgegen, baf er bis zu
feinem Ende in Rom geblieben [εἰς Zahn dagegen läßt
ihn von feiner erften Ankunft bis 172/78 in Rom ver-
weilen, c. 165 oder bald nad) dem Tode Juſtin's aus
ber Kirche austreten und enbli nad) Mejopotamien
zurückkehren.
Der Verf. will für dieſe Conſtruction feine Sicher:
heit beanfprudjen, und dieß mit Net, da Sicherheit
bier überhaupt nidjt mehr zu gewinnen ifl. Doc wich
bie Zahn'ſche Chronologie für völlig unwahrſcheinlich,
die SDanie [de für jedenfals falfch erklärt. Die tid
tigfte Frage ift, ob bie Dratio in Rom entftand und
in welche Beit demgemäß die von Epiphanius berichtete
Ueberfiedelung von Rom nad) Mefopotamien zu verfegen
ift. Dieſe Frage if aber ſchwerlich fo fider zu ent
ſcheiden, als ©. 198 f. angenommen wird. Was für
bie auswärtige Entftehung ber Schrift angeführt wirb,
beweist menigftend nicht fo viel, al3 man gewöhnlich
glaubt. Man hat nur ernftli im Betracht zn ziehen,
daß T. fid) den Römern gegenüber als Hellene fühlte
und mit feiner Schrift fi in erfter Linie an Freunde
und Belannte unter ben Hellenen wendet.
Stod) meniger Fann die Ausführung über Juſtin
umd Athenegoras auf Beifall rechnen. (8 if nit eur
zuſehen, daß bie Infeription ber Schugiärift des Leg-
teven verftümmelt fein fol. Der Scholiaft vermißte in
ihr allerdings ba8 χαίρειν (184). Dasfelbe fehlt ἐπ’
befien auch bei Juſtin. Und was ben vom Berf. ver:
mißten Namen bed Autord anlaugt, jo läßt fi fein
Fehlen Hinlänglich erklären. Man braucht mur an das
Zur Gejdidite ber alichriſtlichen Literatur. 163
eine zu benfen, daß Athenagoras mit Nennung feines
Namens der Gefahr einer Anklage fid) ausſetzte. Was
©. 184 vorgebracht wird, ε fei ſchlechterdings undent-
bar, widerſpreche auch allen Regela einer Adrefle, velp.
einer Eingabe, daß der Autor fij) nicht genannt habe,
wird mur auf diejenigen Eindrud machen, denen bie
zuverſichtliche Sprache allzufehr imponirt. Andere wer:
den fid) davon um fo weniger überzeugen, als aud) ber
angebliche Gorrector durchaus feinen Anftand nahm, bie
Apologie in einer ſolchen vermeintlich unbentbaren Form
ausgehen zu laſſen. Die Hypotheſe, bie die brüdenbften
Räthjel Löfen fol, melde über der zweiten Apologie
Juſtin's und über der Schupihrift des Athenagoras
ſchweben (186), ift demgemäß als unbegründet abzu-
lenem, und mit ihr erweist ſich aud) bie Behauptung,
daß Juſtin eine zweite Apologie überhaupt nicht ges
ſchrieben habe, daß ihm vielmehr eine jolde und zwar
ſchon in ber voreufebianifhen Beit fälſchlich beigelegt
worden fei, ſowie bie daran gefnüpfte Folgerung als
hinfällig, daß möglichermeife aud nod) andere von
Eufebius als juftinii aufgeführten Werke nicht von
dem Apologeten herrühren (189). Auch mit der Frage,
ob die jet ſ. 4. zweite Apologie ibentij ift mit
ber von Gujebius erwähnten, dürfte e8 nod) etwas
anderd ftehen, al3 €. 143 ff. behauptet wird, und
zwar um fo eher, je weniger bie Hypotheſe des Ver
faſſers zu befriedigen vermag. Denn fo ift der That
beftand folgender. Juſtin hat nad bem ausgeſproche⸗
nen und ſchwerlich auf Mißverſtäudniß beruhenden
BeugniB des Eufebius zwei Apologien verfaßt. Eufe-
bius nennt H. E. IV. c. 18 ausdrücklich zwei mit
11:
164 Gebhardt und Qarnad,
dem Beifügen, bie eine [εἰ an Antoninus Pius, feine
beiden Söhne und ben römifhen Senat, die andere an
Antoninus Verus (oder Mark Aurel) gerichtet worden.
Er ſpricht ferner zweimal (II c. 13; IV c. 17) von
προτέρα ἀπολογία, einmal (IV c. 16) vom δεύτερον
ὑπὲρ τῶν xa9' ἡμᾶς δογμάτων βιβλίον. Daneben redet
er allerdings aud) von einer Apologie oder von X. über-
haupt (IV c. 8. 11) und er bringt in diefem Zufammen-
bang ſelbſt (IV c. 8) ein Gitat aus unferer zweiten
Apologie (c. 12). Ya er führt einmal (IV c. 17) fogar
ein Citat aus pol. II c. 2 al8 aus ber προτέρα
ἀπολογία herrührend an. Aber das ijt m. C. alles
noch fein hinreichender Grund, um bie beiden Apologien
in eine aufgehen zu laſſen. Eufebius fonnte fid) bod)
viel eher in ber Bezeichnung der Stüde als über bie
Zahl der Apologien táujd)en oder verjebem, und erfteres
ift um fo eher anzunehmen, al8 er bei bem Citat aus
dem δεύτερον βιβλίον in ber That aus unferer zweiten
Apologie (c. 3) ſchöpft und je leiter eine bezügliche
Verwechslung war, wenn in feinem Exemplar, mas
angefiht3 ber Codd. Paris. 450 und Ottob. gr. 274 gar
nicht unwahrſcheinlich ift, bie zweite Apologie vor ber
erften ftand. Die äußeren Zeugnifje find alfo der frag-
lichen Thefe nicht günftig. Und mit ben inneren Grün-
den fteht e8 nicht viel anders. Allerdings weist Zuftin in
ber zweiten Apologie mit προέφημεν ober ox zug. brei-
mal (c. 4. 6. 8) auf bie erfte zurüd. Ebenfo ift richtig,
daß ähnliche Verweiſungen in der erften Apologie felbft
(c. 21—23. 26. 48. 45. 54) vorkommen, und e8 mag
auffallen, daß in der zweiten nicht deutlicher auf jene
als eine [don früher übergebene Schrift Dingemiejen
Zur Geſchichte ber altchriftlichen Literatur. 165
wird. Allein bei ber Schreibart Juſtin's und befonders
bei der erregten Stimmung, bie fid in der zweiten Apo-
loge funb gibt, kann das nit allzu febr befremden
und ift der Schluß nod) nicht gerechtfertigt, bie zmeite
Apologie fei bloß ein Beftandtheil ber erften.
Der Raum geftattet nicht, weiter auf bie Arbeit
einzugehen. Nur die Art und Weife, wie der Verf. mit
Eufebiug umgeht, fol nod fura beleuchtet werben.
Derfelbe wird bald ber abſichtlichen Täufhung (138),
bald ber Gewiſſenloſigkeit (141), bald ber Erfindung
und Faͤlſchung (142), bald einer Heinen Täuſchung (142)
oder Teichtfertigen Gombination (196) u. f. το. bezichtigt,
das eine Mal, weil er H. E. IV c. 11 ein Gitat aus
Juſtin's Schrift gegen Marcion in Ausſicht ſtellt und
ein foldes aus Apol I. c. 26 bringt, ba8 andere Mal,
weil er ib. c. 16 eine Stelle aus Tatian's Oratio uns
tihtig wiedergibt. Ich bin nicht gefonnen, derartige
Anlagen von dem Vater der Kirchengeſchichte zum vor:
aus als unbegründet abgutoeijen. Wohl aber verlange
i$, daß fie, wenn man fie erheben will, genügend ber
gründet werden, und bie vermißt man in ber bor:
liegenden Schrift. Denn bezüglich des erften Falls darf
man wohl fragen, ob hier zu einer abſichtlichen Täuſchung
überhaupt ein vernünftiger Grund denkbar ift, und wenn
man bieje Frage nicht wird bejahen wollen, fo wird
man eher an ein Verfehen denken oder annehmen, Juſtin
babe die betreffenden Worte eben doppelt gejchrieben,
ſowohl in der Schrift gegen Marcion als in der Apo-
logie. Auch im zweiten Fall toirb man eine derartige
Frage aufwerfen müffen, und wenn aud) hier fein zu
teichender Grund für eine Fälſchung wahrzunehmen ift,
166 Gebharbt u. Harnack, Zur Geſchichte der altchr. Siteratur.
fo wird wiederum eine andere Erklärung den Vorzug
baben. Der Ser. bemerkt zwar, baf mad) ben Aus:
führungen Zahn's an einen bloßen Irrthum nicht zu
denken jei. Aber ift denn die bloße Bemerkung, bie
bezüglide Tertesänderung [εἰ von Eufebius entweder
ſchon vorgefunden oder, mas weitaus wahrſcheinlicher
Tei, erft vorgenommen worden (Zahn a. a. D. ©. 275),
ein Beweis, ober ijt ettoa, wenn ber Verf. je über feinen
Gewährsmann fid) getäufcht hätte, in ben leeren Behaup:
tungen von Dembowski (Quellen ber hr. Apol. I, 60)
ein folder zu erbliden? Sein unbefangener Kritiker
wird dad behaupten wollen, und man könnte [omit den
Vorwurf ber Täufhung, mit bem ber Berf. fo leicht
gegen Euſebius bei ber Hand ift, gegen ihm felbft erheben,
ba er eine Sache, bie er nicht beweifen kann und bie
überhaupt nicht zu bemeijen tft, für bereit3 bewieſen
erklärt unb den Lefer, um ihn nicht fo fehnell zur Ein-
fidt Tommen zu laffen, von fid) ab an einen anderen
Autor weist. Indeß will id) ben Verf. keineswegs mit
dem Maßftab meflen, den er jelbft an Andere anlegt,
ba id) nicht gewöhnt bin, Hinter jedem Irrthum fofort
Betrug zu mwittern. Ich will vielmehr bie mildefte Er:
Härung zulaſſen und das Verfahren auf eine da und
dort hervortretende Leichte und burſchikoſe Art des Verf.
zurüdführen, ber meint mit Worten zu erfegen, was an
Beweiſen abgeht, und id) würde aud) das nicht hervor:
heben, ba id) mir wohl bewußt bin, wie aud) ber ge:
wiſſenhafteſte Forſcher in einzelnen Fällen fid) irren kann,
wenn ber Verf. mit bem Vorwurf ber Leichtfertigfeit
nicht Alten und Neuen gegenüber ebenfo freigebig wäre
wie mit bem Vorwurf ber Täufhung.
Keen, Buddhismus und feine Gejgichte in Indien. 167
Zum Schluß fei nod) bemerkt, daß bie Annahme,
das Edict Qabrian'8 an M. Fundanus [εἰ ächt, feines:
wegs jo grundlos ifi, als €. 101 mit Verweiſung auf
Dverbed behauptet wird. Vgl. Duart.-Schr. 1879 ©.
108—128.
gunt.
6.
Der Buddhismus und feine Gefchichte im Indien. Eine
Darftellung ber Lehren und Geſchichte ber Bubbhiftifchen
Kirche von Heinrih Kern, Profeſſor an ber Hochſchule
zu Leiden. Vom Verfaſſer autorifirte Ueberfegung bon
Hermann 3atobi, Profefjor an ber Vifabemie zu Münfter
in Weitfalen. Erfter Band. 1. Theil. Leipzig, Otto
Schulze. 1882. VIII und 356 ©.
Mit erneuten und vervielfältigten Kräften find bei
vermehrten Quellen und Erkenntnigmitteln die nter»
ſuchungen über die großen Religionsfyfteme des Oſtens
wieder in Angriff genommen worden, und es ftellt bie
Schulze'ſche Firma biesfalls neben und nach bem hier zu
befpredjenben Werk, das baldige Erſcheinen verwandter
Arbeiten fiber bie Religion ber Sikhs, ben Rigveda, bie
ältefte Literatur ber Inder (im zweiter umgearbeiteter
Auflage von fügi), über Mohammed und den Mo:
bammebanismus, Zorvafter und bie Religion des alt-
tranifhen Volkes in beitimmte Ausſicht. Eine neue
Wiſſenſchaft, die vergleichende Religionsgeſchichte ift in
rajdem Entftehen begriffen, zahlreiche Baufteine find
ſchon Berbeigefdjafft und werben fort und fort durch
rüftige Kräfte bei allen Culturvöllern gehoben, um ben
168 Keen,
großen monumentalen Geiftesbau vorzubereiten. Ob
derfelbe ba8 Zeichen des Erlbſers tragen werde, ober
ein mit größtem Kräfteaufmwand gethürmtes Babel in
Ausſicht ftehe? betrachten wir nod) auf lange hin als
müßige Frage, ba bie Vorarbeiten, melde das Roh—
material beifhaffen unb auffdidten, für mande Theile
des Baues in gründlich umfafjender Weife erft begonnen
haben. Weniger inbeffen gilt Lepteres von bem Glauben:
ipitem, über das uns H. Kern und fein gewiſſenhafter
Tleberjeter Jakobi von zum Theil neuen Geſichtspunkten
aus orientiven wollen. Weber Buddha, Buddhismus
und Nirvana fcheint, wie Manche glauben, nicht eben
gerabe viel Neues mehr gejagt werden zu Tönnen !), na=
mentlich da die Philofophie in unferen Tagen nad) bem Bes
Eenntniß mancher ihrer nampafteften Vertreter im βτεὶδε
lauf beim Nirvana angefommen ift. Andererfeit3 madjen
fid), nachdem gleihlaufend mit der philofophifchen €pecu-
lation mwieberholt aud) ſchon vorgeblid) praftijdje Rüd-
fidten für beffere Werthſchätzung und felbft Gleidjftellung
des oſtaſiatiſchen Glaubensſyſtems mit dem Chriftenthum
geltend gemacht morben find, meueften8 Europa's unb
des Chriſtenthums müde Ruſſen im Bunde mit Yankee's
bie Verbreitung eines durch fie gereinigten Buddhismus
als ber univerjalen Sufunftéreligion zur Aufgabe. Diefe
feltfamen Miffionäre, Theofophen und Hierophanten, wie
fie fid nennen, ftellen fidj im bemußte Oppofition zum
Chriſtenthum unb zu ben riftlichen Miffionären und
1) 9. ftern gefteht dieß in ber Vorrede felbft ein, meint aber
damit nur bie [egenbarijdjen Beftanbtheile an fij, bie er in ber
Folge völlig, ohne einen geſchichtlichen Riederſchlag zu belaffen, in
Mythe auflößt. Dieß it das Neue in feiner Behandlungsweiſe.
Buddhismus und feine Geſchichte in Indien. 169
gedenken Bekehrung auch der Chriften zum buddhiſtiſchen
Seibentbum zu betreiben, Zu diefem Zweck hat ba8
Haupt ber blafitten, getauften Buddhomanen, Colonel
Henry Dlcott einen bei Trübner in London erfchienenen
Katehismus verfaßt, melher Genehmigung und Im—
primatur des buddhiſtiſchen Oberpriefters der Inſel
Eeylon erhalten hat und in den Schulen bieje8 Gentral-
punktes ber füdlichen buddhiſtiſchen Kirche, melde bie
ältere ift und zuverläffigere Traditionen zu befigen be—
bauptet, eingeführt if. Der Katechismus thut fid) natür-
lid viel auf den ftatiftiihen Nachweis zu gut, daß
Buddha nad) 5 Monaten feiner Wirkfamkeit ert 60 Jün-
ger zählte, heute aber feine Anhänger fid auf 500
Millionen, ftarf ein Drittheil des ganzen Menjchen-
geihlehts, belaufen; ferner darauf, daß feine Priefter
midt Vermittler zwiſchen den Menſchen und Gott
fein wollen, fondern die Menſchen Selbfterlöfung und
Selbftvergeltung, ^ ba8 Buddhawerden in einer Art
teflerionsmäßiger und zugleich moralifch asketiſcher Ver-
abfolutirung des Ih lere, daß er feine Schöpfung,
überhaupt feine Wunder braude, keine Götzen zu ver-
ehren, jonbern nur Buddha's Bildern als Erinnerungen
en ihn Ehrfurcht zu erweifen, bie Wiflenfchaft zu bes
treiben und zu ehren, ba8 Böſe mit Gutem zu vergelten
mabne. Im Gegenfag zu Hartmann und Schopenhauer
wäre aud) nah unferm Gemwährsmann das Nirvana
mad) echter buddhiſtiſcher Lehre keineswegs als Ber-
nidtung ſchlechthin zu betrachten, fondern ein Zuftand
vollfommener tvedjjellofer Ruhe, des Aufhörens aller
Begierden, Empfindungen, Hoffnungen und Befürchtungen,
Freuden und Leiden, ein Abthun alles diezfeitig Natür-
170 Kern,
liden des Menſchen. Damit haben wir [don bie Auf-
gaben berührt, melde das Buch des Dollinbijden Ge—
lertew im weitern Verlauf feiner Unterfuhungen zu
behandeln gebenft. Denn bie vorliegende Hälfte be
erften Bandes, toeldjem in Bälbe ein zweiter folgen foll,
gibt bie legendariſche Gedichte des Lebens und ber
Thaten Buddhas mit Fritiihen Betrachtungen über diefelbe
und einem Schlußcapitel über „Buddha in der Dogmatik”.
Aeußere und innere Geſchichte des Buddhismus, oder
mie e$ gewöhnlich heißt, der buddhiſtiſchen Kirche, find
den folgenden Theilen vorbehalten.
Im Buche herrſcht eine ganz verſchiedene Ausdrucks-
weiſe in Betreff der Perſon des Religionsſtifters. Wir
haben anfangs keinen Grund, daran zu zweifeln, daß
er biejelbe für völlig hiſtoriſch Hält, wie bisher alle, bie
über bem Buddhismus geſchrieben, gethan haben. Denn
es beißt, daß ber Stifter feine ganz neue Lehre ver:
kündigt habe, wenn er aud) in Oppofition zu einzelnen
in feiner Zeit herrſchenden Satzungen geriet; daß ber
Inhalt feiner Lehre wenig verſchieden von der feiner
Beitgenoffen war, wie fie befonders im den Upaniſchads
lautet (Untermeifungen, Abhandlungen über fpeculative
Vhilofophie, die als Theile ber h. Schrift galten und
aud) SBebanta: Endziel, Kern be8 Seba DieBen) Im
gleiden Sinn einer hiftorifhen Perſönlichkeit Buddha's
beißt e8 von ihm: bie große That Buddha's beftand
darin, daß er lauter und beftimmter als Andere feiner
Zeitgenoffen und Vorgänger ausſprach, wie Jeder, gleidj-
gültig von welchem gefelihaftlihen Range ober von
toeldjer gelehrten Bildung, darnach ftreben könne und
müfje, das höchſte Heil zu erreichen, und daß feine
Vuddhismus und feine Geſchichte in Inbien. 171
Steuerung in der Bopularifiung ber metaphyſiſch ethiſchen
Lehren der Schulen beftanden habe. Faft unmerklich
verliert fid) bieje Ausdrudsmeife in der Erflärung und
ben kritiſchen Deutungsverfuchen ber legendariſchen Lebens⸗
beſchreibung des alten Religionsſtifters, welcher mit
Vorzug bie Weberlieferung ber in der Palifprache abge:
faßten heiligen Bücher ber füdlichen Buddhiſten (Singha=
lejen, Birmanen, Siam, Annam) zu Grunde gelegt ijt.
Als Vorbild, aus beffen Gigenjdjafteu bie Idee Buddha's
als Erlöfers gewoben worden wäre, tritt mehr und mehr
der Sonnengott heraus, den Indern „der große Erlöfer
der Welt, der Ueberwinder der Finfterniß, die geöffnete
Pforte der Erlöfung, das leuchtende Mufterbild für bie
Menſchheit, alle Finfterniß, Unreinheit und Schmutz, aud)
des Geiftes und Gemüthes, zu entfernen“. Es wird
mit Scharffinn zu zeigen geſucht, daß aftronomijde und
aſtrologiſche Vorftelungen der Inder ber Legende vom
Buddha zu Grunde liegen, in ihr geſchichtlich verkörpert
und zu Perfonen und deren mannigfaltigen Beziehungen
und Berhältniffen untereinander verwandelt worden feien.
Einige Beifpiele werden das Verfahren, bem es feines:
wegs an Methode und fdarfem Eindringen in ben Stoff
fehlt, verdeutlichen. Der Königsfohn Buddha bettelt
nad) ber Legende als Mönch um Nahrung; der Vater,
bem man e8 berichtet, ſchlägt den Mantel um und eilt
ſchnell herbei, macht dem Sohne Vorwürfe, wird aber
zuletzt mod) bes dritten Grades ber Heiligkeit (be8 eines
Anagamin, b. Ὁ. ber nicht wieder fomunt: auf Erben
geboren wird, fondern in einem ber höchften Himmel,
100 et fid) auf das Nirvana vorzubereiten hat) getoütbigt.
Der Bater, Qubbfobana, ift, vernehmen wir ©. 130,
172 Kern,
bag reine Fluidum, ber Nether, wie VBaruna-Wodan,
und fein Mantel Wodans Mantel. Nach dem Mahl bei
Hofe famen fodann fümmtlide Damen, um ben Mönd
gewordenen Königsfohn zu begrüßen; nur feine Gemahlin
blieb in ihrer Kammer. Dabei follen wir bebenfen, daß
die Erde damals al8 unbeweglic gebadjt wurde, und
ber Sonnengott vielmehr fie zu befuchen fommt, nicht
umgelehrt. Der Meifter geht mit bem bornehmiten
Schülerpaare mirflid) in den Saal feiner von ihm längſt
verlafienen Gemahlin, bie ibm huldigt; dabei werden
mir an ein Geftivnpaar be8 Widders und daran erinnert,
daß ſchon einige Jahrhunderte vor Chr. die Sonne am
21. März diefelbe Länge tole jene Sterne hatte (€. 132).
Wenn jobann ber fünftige Thronfolger Nanda auf Zus
teben des Meifters, feines Bruders, ben geiftlihen Stand
ergreift, gefegnet und mitgenommen wird, fo „ſcheint
diefer Sohn des Himmels der Mond zu fein während
be8 Lenzmonates oder des Mai” (S. 188), um fo eher,
als er aud im Mahabharata einer ber Genofien des
Skanda (δε Marjchierenden), des ſchnelllaufenden Jahres⸗
gottes ijt, und unfer eigenes Wort Jahr urfprünglich
Marih, Lauf bedeutet. Der junge Prinz Rahula,
Buddha's Sohn, verlangt darauf auf Zureden ber
Mutter fein Erbtheil vom Vater, ba er Weltherrfcher
werben will, begleitet diefen und wird zulegt ebenfalls
zum Geiftlichen ordinirt. Hier erinnert Verf., daß ber
Knoten (der Schnittpunkt der Bahnen be8 Mondes unb
der Sonne), als fi) mitbemegenb gedacht wird. Das
Klofter von Jetavana, das ein überaus reicher fauf-
manı an Buddha und feine fünftige „alumfaffende Ge—
meinde" jdenfte und burdj Goldſchätze ohne gleichen
Buddhismus unb feine Gefchichte in Indien. 173
ſchmückte, ift ba8 Mondhaus ober bie Sonnenherberge
Magda, bie Cdjagfammer im Löwen, in bet Zeit als
bie Plejaden nod) mit bem Drt der Sonne am 21. März
zufammenftelen. Zudem ift das Wort dafjelbe mit ſans—
kritiſchem Dmaitavana: Zwielichtwald, Schattenreich,
deſſen Beherrſcher Plutus (der reiche Kaufmann S. 140)
mühelos das Geld reichlich wie einen Nibelungenſchatz
ſchaffen konnte. Daſſelbe Ereigniß hatte fid) in der Ver—
gangenheit unter fünf anderen Buddhas ſchon zugetragen.
In ſolcher Art wird die überaus reichhaltige Le—
gende Buddha's fort und fort, öfters wie mir dünkt
ſehr gewaltſam, dafür in Anſpruch genommen, eine
aſtronomiſche, ſodann auch mythiſche Grundlage ihr
abzugewinnen, welche ſich ſpäter in Perſonen und
einen zuſammenhängenden Verlauf ihrer Lebensgeſchichte
verdichtet haben ſollte. Der Buddha der Sage loft fid)
in ein mythiſches Gebilde auf, wer immer aud) ber ober
die Stifter und Fortbildner des nad) feinem Namen
benannten Religionsſyſtems getoejen fein mögen. Die
mythiſche Perfönlichkeit des Buddha, heißt e8 ©. 298
ohne Umfchweife, ift der höchſte der Götter, mie er jelbft
von fid) ausfagt; daß er menfhenähnlich bargeftellt wird,
geihieht bei allen Göttern. Er ift Menſch und Gott
zugleich, wie alle andern Götter. Jeden Tag, jedes
Jahr, jede neue Weltperiode wird die Sonne geboren
und ftirbt. Aber von bemjelben Gotte glaubt man, daß
ex e$ immer getan habe und mod) thun werde. Die
Buddha's find unzählbar. Inſofern ift das göttliche
Weſen unfterblih. Seine Erſcheinungsformen find zahl⸗
los, fein Wefen ift eins. Die Zeit ift ewig, aber jeder
Theil der Zeit ἐξ enblid), oder wie bie Inder jagen,
m. gem,
bie Gotiheit ift ewig, aber ihre Avatara's find endlid.
Ein folder Avatar und amat des Sonnengottes und
Zeitmeſſers Viſchnu, ift der Buddha, τοῖς den Judern
jer mobi befannt ift. Nur ift in ber Sage an Viſchnu⸗
Kriſchna ber übermenſchlich ftarke Held, Herakles, an
Buddha die Weisheit des Sonnengottes, Apollo, haupt:
ſächlich geblieben.
Ob fid) alle, aud) bie bisher allgemein für gefehicht-
lid) gehaltenen Momente aus bem Leben Bubdhas in
Mythus auflöfen laffen, ift aber febr fraglid. Daß bas
Leben des Meifters, bie Entftehung und Weiterbildung
feiner Anftalt mit Legenden und Mythen faft bis zur
Unbkenntlichkeit überfponnen ijt, berechtigt am fid) nod)
keineswegs zu bem bier eingehaltenen radikalen Ver
fahren. Hat man unter allen Umftänden einen Haupt-
fifter ber aſiatiſchen Glaubensgemeinfhaft mit ihren
Hunderten von Millionen Anhönger anzunehmen, jo
ſcheint es natürlicher, ble ung einftimmig überlieferte Per-
fönlichfeit Gautama'8, als die jenes Stifter, des Königs⸗
fobu8 von Kapilapaftu aus dem Geſchlecht der Qafpa
unangetaftet zu laſſen, welche bie fruchtbare aber allezeit
vegellofe Phantafie des iubijdjeu Volkes zum Wunder:
thäter und Gott, ſchließlich zum oberſten Beherricher
eines unermeßlihen Pantheond umgeftaltet hat. Denn
bie Anficht Köppen's (Die Religipn des Buddha ©. 481:
„Die Thatſache der Menſchlichkeit Catpamunt'a ftebt [o feft,
ba felbft bie pütefte Legende und Scholaftif e8 nicht
gewagt bat, ihn zum Gott zu fteinpeln") ift unhaltbar,
und e$ läßt fid) nur jagen, daß die Spuren ber Menſch⸗
heit Buddha’ nie völlig verwiſcht werden fomnten, unb
bier bie Natur ber Sache bie befte uud ſtärkſte Neigung
Buddhismus und feine Geſchichte in Indien. 175
gum Gegentheil ftet3 wieder bemeifterte. Unfer Buch
findet im Gegentheil einen mythiſchen Sonnengott in
Buddha, ber vermenſchlicht worden ift (Higig in ber
Auffaſſung Hiobs ift hierin vorangegangem), aber mit
Beibehaltung feiner göttlichen Natur. Es weiſt die Ent-
Hebung ber mythiſchen Beftandtheile in fehr alte, bie
Ausbildung der Lehre in febr fpäte Zeit und muß offen
befemuen (&. 324), daß bann das einzig Gemilje ift,
daß der Buddhismus als geiftfider Orden mit feiner
Laienkirche im dritten Jahrh. Ὁ. Chr. beftand, wir aber
mod) nit mifjen, wann und wie et fid) dazu entmidelt
hatte, wenn er aud) in anderer Form, als Volfsreligion
ſchon lange vorher beftanden hatte. Ein geringer Erſatz
für bie ung zugemuthete Preisgebung aller pofitiven
Daten aus bem langen, ahtzigjährigen Leben des Reli
gionsftifters bünft es uns, wenn (S. 325) nicht geläugnet
wird, daß der Drben von einer hochbegabten Perfon
geftiftet worden ift, „wie aud) immer man fid das
benfen mag", und daß ſchon vor 300 v. Chr. Jemand
auftrat, ber durch feine Weisheit und Hingabe an bie
geiftigen Intereſſen feiner SRitmenjden einen ſolchen
Eindrud gemacht, daß einige feiner Zeitgenoffen ihn mit
einem [don anerfannten Ideale von Weisheit und Güte
verglihen (dem Sonnengott) und bie fpäteren Gene-
rationem ihn vollftändig damit identifizierten. Damit
nähert Verf. fid) aber wieder auffallend der oben von
und geltend gemachten Anfhauung, melde nur meit
einfader ift, indem fie ben Meifter zum Gott gemacht
und nicht aud) nod) zuvor den Sonnengott in ben Men-
ſchen und dann erft wieder einen fpäter lebenben Mens
iden in den Sonnengott verwandelt werben läßt.
176 Neem, Buddhismus und feine Geſchichte in Indien.
Unter dem mafjenhaften legendariſchen Stoff, ber
febr gut mit Auswahl des Bedeutenderen zufammengeftellt
ift, findet fid) manderlei Auffallendes, wie bie wunder:
bare Empfängniß und Geburt des Buddha, bie frühe
Kundgebung feiner außergewöhnlichen Anlagen, und bes
ſonders bie Verſuchung beffelben burd) Mara, den Böfen,
als er von der Welt fid) abwandte, um Mönch zu wer
ben. Im Luftraum ftehend rief der Satan: Berlaßt
bod) Euer Haus nidi, um al8 Monch umberzumandeln.
Heut in 7 Tagen wird Cud) bie Herrſchaft über bie
ganze Erde mit ihren 4 Welttheilen unb 2000 Inſeln
zu theil werben. Der Prinz fagte: Verfucher, ich weiß,
daß die Weltherrfchaft mir beftimmt ift, aber id) begehre
ihrer nicht; id) mill unter dem Zujauchzen der ganzen
Welt ein Buddha werden. Bon da lauerte der Böfe
auf ihn, ſchlimme Gedanken unb Gelüfte in ipm zu
erweden und folgte ihm tie fein Schatten.
Himpel.
Theologiſche
Quartalſchrift.
In Verbindung mit mehreren Gelehrten
herausgegeben
D. v. fiubn, D. v. Simpel, D. v. ober, D. v. £infen-
mann, D. Funk unb D. Schanz,
Vrofeſſoren ber kathol. Tpeologie an ber ft. Univerfität Tübingen.
Fünfunbfeigigfter Jahrgang. OFEN.
c Eu
ATS 5e
Zweites Quartalheft.
Tübingen, 1883.
Berlag ber 9. Laupp'ſchen Buchhandlung.
Sud von ᾧ. Laupp in Tübingen.
L
Abhandlungen.
1.
Schriftſtellerthum und literariſche Kritik im Lichte der
ſittlichen Verantwortlichkeit.
Von Prof. Dr. Linſenmann.
Zweiter Artikel.
IH. Gibt e8 entſcheidende Reungeiden des
Berufes zur Shriftftellerei?
Mag man e8 nod) fo uachdrücklich für eine gemagte
Behauptung erklären, daß zur Schriftftellerei ein befon-
derer Beruf gehöre, wir fónnen una immerhin auf jene
unbewußte Logik be8 gemeinen Menfchenverftandes be:
rufen, welche das große Weltprinzip der Ordnung aud)
für dieſes Gebiet menſchlicher Thätigkeit geltend madjt
und fid nicht ſcheut, gegen einen läftigen und aufdring-
lichen, aber geift- und formlofen Schreiber den Vorwurf
unberufener Arbeit zu ſchleudern. Eine Thätigkeit, melde
in das Menfchenleben mit feinem Grnft und Scherz, mit
feinem Schmerz und feiner Freude, — denn aud bie
12*
180 Sinfenmann,
tedjte Freude ift eine gar ernfte Cade!) — fo tief
eingreift, mie bie Gabe des Wortes und der Schrift,
dürfen wir unmöglid dem blofen Spiele menfchlicher
Willkür und Laune überlaflen; gerade weil mir fie fo
body ſchätzen, nennen wir fie Sache bes Berufes, felbft
auf die Gefahr hin, daß ung bie feriti, bie wir ber:
ausfordern und bie unfere Beweisgründe vielleicht für
unannehmbar erklärt, unfern eigenen Beruf, im biejer
Sache mitzureden, abſpreche. Verfaſſer biejer Abhand-
lung fümpft nidt für feinem eigenen perjóntiden Beruf;
er bat von Erfolgen ber Schriftftellerei nicht viel zu
boffen, und wenn er fchließlih aud) zu denen gezählt
Toürbe, welche nad) Wolle ausgehen und felbft geſchoren
mad) Haufe kommen, fo hätte er aud) davon nicht viel
zu fürdten. Aber er möchte eintreten für bie Ehre und
Würde der Literatur, melde von den unberufenen Ein
bringlingen am ſchwerſten geſchädigt wird.
Man hat ber Reihe nad) gegen jeden Stand, wenn
er allmälig innerhalb der Geſellſchaft eine gebieteriſche
und bevorredjtete Stellung errungen, das Grfenme bid
jelbft ! ausgerufen, ift feinen Anſprüchen entgegengetreten,
bat feine Anmaßungen ber öffentliden Meinung denun⸗
citt und für die Rechte der anderen Stände Raum und
Achtung verlangt. Man hat darauf aufmerkfam gemacht,
baf ein Stand innerhalb einer beftimmten Entwidlungs:
periode der menjdliden Gejellihaft eine probibentielle
Aufgabe Hatte, daß biejer Aufgabe eim gewiſſes Maß
von Auftorität und Herrfchaft, von Auszeihnungen und
Begünftigungen billigerweife entſprach, weil von biefet
1) Res severa est magnum gaudium,
Seiftftelertfum und literariſche fitit 181
moralifhen Zulage der Erfolg des Wirkens bis auf
einen getoiffen Grad mitbedingt mar, daß aber dann
almälig ein Mißverhältniß zwiihen ber angenommenen
Euperiorität und der wirklichen Bedeutung, zwiſchen ben
beanspruchten Ehren und Vorrechten und den wirklichen
Reiftungen fid) ergeben, baf man mit ber fortfchreitenden
Entwicklung der Dinge das wirkliche Schwergewicht des
öffentlichen Lebens nicht mehr in den früher bominiren-
den Ständen finden fünne, daß vielmehr der Leuchter
von den alten Ständen hinweggerüdt werde, neue Kräfte
in Funktion treten, und daß biefem nun, mie fie bie
Herrſchaft angetreten, fo audj bie Inſignien der Herr
ſchaft, Freiheit und Spielraum, Ehre und Anfehen und
Glanz, gufommen müflen. Es löfen fi in der Herr:
ſchaft ab der Adel und das bezahlte SBeamtentfum oder
bie Bureaufratie; bie Herren vom Schwerte und bie
von ber Feber; unter den legteren felbft wieder ber Lehr-
ftanb oder das Profeſſorenthum mit feiner in Zunft und
Zopf eingezwängten Gelehrfamkeit, mit feinem pebanti-
ſchen Allüren und bem Formenzwang feiner 9[fabemien,
und amdererfeit3 bie freie Wiſſenſchaft und Preſſe, bie
ungebundene Demokratie der Literaten und der Künftler.
Es ift nahe daran, daß bie Herrſchaft der freien Preſſe
über alle anderen Mächte im Staate proflamirt werde.
Welche Gebiete hat die Preffe fid) nicht erobert! Wie
viele Mittel der Puhlicität, ber Belehrung und Auf
Härung, der Communication zwifchen den Organen ber
Staatsmaſchine werden nicht heute durch bie Preſſe er-
fet unb außer Dienft geftelt! Selbft das Gotteswort,
welches an eine kirchliche Ordnung gebunden ift und in
biſchoflichen Hirtenbriefen, auf der Kanzel und in ber
182 Linfenmann,
Katecheſe fid) vernehmen läßt, fol almälig fid) der Herr:
ſchaft und ben Gewohnheiten ber Tagezliteratur unter-
werfen; an bie Stelle der Chriftenlehre tritt bie Zeitung!
Das ift nun nicht aufzuhalten; mir haben nur bie
Folgen aus den Prämiffen zu ziehen. Rückt bie Preſſe
ein als Macht neben den andern Öffentlichen Mächten
ober gar über ihnen, jo entfteht damit ein neuer Stand
neben oder über den anderen Ständen. Der Kampf
gegen bie alten Stände ift bod) nur müglid und hat
nur dann eine verhältnigmäßige Berechtigung, wenn dies
jenigen, melde bie alte Herrſchaft ftürzen, felbft wieder
zu einem Stande erftarfen, um mit ben Anfprüchen eines
Standes auftreten zu können. Gewöhnlich ſchließen fid)
diejenigen, welche bod) bie Ariftofratie eines in fid) ge-
ſchloſſenen Standes als eine Anmaßung abmeijen, jo
bald als möglich zu einer engeren Körperſchaft zufam-
men. Während man das mit Amt und Rang ausge—
ftattete Gelehrten und Profeſſorenthum zerpflüdt unb
fid an ben Präceptoren für den mang unb bie Plage
ber Schulftube mit literariſchen Nadelftihen rächt, fot-
bert man in literarifhen Verbänden, Schriftftellervereinen,
auf SJournaliftentagen u. ſ. w., die Anerkennung und
Rechte eines eigenen ſchriftſtelleriſchen Standes und richtet
Schranken ber Ausſchließung auf. Ja gerade diejenigen
Zweige ber Titerarifchen Produktion, melde fij am
menigften einer Berufsftellung unterorbnen und irgend:
welche Schranken anerkennen möchten, die „freien fünfte",
pflanzen fid) jegt al8 Stände auf. Die „freie Wien:
ſchaft“ und die „freie SBrefje" ift jet [don daran, zwi-
{hen Berechtigten und Unberedhtigten unter ihnen felbit
zu unterfeiden; es bildet fid) von felbft die Zunft;
Schriftſtellerthum unb literariſche Kritik. 183
nur eben mit:der Folge, daß überall da, wo man nidt
die höheren ethifhen Kriterien für das Vorhandenfein
der Berechtigung und des Berufes anlegt, die Ausſchei—
bung παῷ niedrigeren egoiftifhen Motiven, nah Rück—
fihten auf Partei und Tendenz, oft genug auf bem
Wege des Terrorismus, fid vollzieht. Vielleicht
gibt es jegt [don ein höheres Jntereſſe
ber menjdliden Geſellſchaft, fid gegen eine
Herrihaft des zunftmäßigen Literaten
tbums ober Journalismus vorzufehben und
zu ſchützen, und bie 9tedte und das Anſehen
der übrigen Stände nidt preiszugeben.
Mit dem Begriff de3 Standes fommen wir aber
zu bem des Berufes gurüd. Im tiefften Seelengrunde
will der Schriftiteller jelbft und till der Stand ber
Schriftſteller ben „Beruf“ nicht verleugnen. Wenn wir
nun nicht bei ber im fi widerſpruchsvollen Annahme
ftehen bleiben wollen, daß es zwar einen Beruf gebe,
berjelbe aber an feine wahrnehmbaren ober berechen⸗
baren Bedingungen geknüpft fei, jo merden mir mit
Iogifher Nothwendigkeit dazu geführt, daß es, fo ſchwer
durchdringlich uns bieje8 Gebiet ift, bennod) Kennzeichen
des wirklichen Berufes geben müſſe, unb daß es ſchließlich
auch eine über bem fubjeltiven Ermefjen des Einzelnen
flehende Auftorität geben müſſe, welcher ein Urtheil über
den Beruf zufteht. Man braucht aber bei diefer Auf-
torität nicht fogleid) an Genjuren, feien e8 nun Schulen
furem oder bureaufratijdje Inquifitionsproceffe mit Cin«
fujroerbot ober VBücherverbrennung, zu denen.
1) Unter den Anzeichen des Berufes, nad) denen
wir mun forjdjen möchten, Laflen wir und gerne an erfter
184 Linfenmann,
Stelle jene innere Flamme gefallen, von welcher Wärme,
Luft und Kraft zum Schaffen ausgeht, bie innere Bes
gabung und Begeifterung, melde mit Naturgewalt zur
Dffenbarung drängt. „Wer inneres eignes Leben in
fid) trägt, der athm' e8 aus und frage feinem Richter”.
So fagt man. Das Talent fhafft fid) Bahn, fudt
fid einen Wirkungstreis und wird duch das Schaffen
felbft immer aufs neue befrudtet. Es find Gaben von
oben, welche burd) die Bildung ber Zeit und buch bie
Gunít ber Verhältniffe geweckt werden. Diefelben kün-
digen fid zumeilen mit folder Energie und Klarheit an,
daß man den von ihnen Erfülten wohl einen Schrift
fteller von Gottes Gnaben nennen mag. Seinen Lehr:
brief braudjen wir nicht weiter zu prüfen; fein Können
zeugt für ihn, und too er fid) naht, da erwedt er Freude,
wie einer, der frohe und fröhliche Botſchaft bringt und
wie e8 ber Apoftel von ben Boten des Evangeliums
fagt (9tóm. 10, 15). Solche Männer find ja wirklich
Boten Gottes, bie mobltbuenb duch das Land gehen.
Ihre Spuren find leuchtend. Sie fragen nicht, ob fie
teben dürfen, fondern ob Jemand fei, der fie höre und
verftehe, und ber gutem Botſchaft würdig fei. Sie bie-
ten Schäge aus, von melden bie Mitwelt iüberrajdt
wird. Cie tragen das Bewußtſein ihrer Sendung in
fid) fe[6ft und machen fid) geltend, mag aud) das Publi-
fum fid fpröde und ablehnend dagegen verhalten oder
gar eine höhere Gewalt ihre Thätigfeit hemmen und
ihre Schriften unterdrüden. Man hat ehebem die θεῖς
ligen Schriften der Chriften aufgeſucht, um fie zu zer
ftören; feitbem haben in manden Feuerbränden Bücher
gelodert, bie man durch Henkers Hand glaubte unter:
Schriftftelertfum unb literariſche Kritik. 185
drüden zu können; tbatjád)lid) hat man weder bie guten
mod) bie fehlechten Bücher baburd) wirkungslos machen
tönnen. Das wahre Können, das edte Talent,
fireitet nit erft mit ben Mächten der phy—
fildeu Gewalt um feine Beredtigung.
Sollte nun aber damit gefagt fein, daß bet wahre
Beruf fid) vom felbft offenbare in ber von der Natur
verliehenen und durch Uebung und Studium verboll-
kommneten Gabe be8 Schaffens, fo wären wir bod) in
unferer Frage nod) nicht weit gefördert; ja mir wären
nicht ganz vor dem Vorwurfe fidet, daß wir über eine
biofe Redensart ohne beftimmten greifbaren Kern nicht
binausgefommen. Am Können zweifelt ja Keiner, wenn
et ber Mitwelt feine Dienfte barbietet. Es gibt, wie
viel zu boe, [o aud) zu niedrige Anfprüdhe an dad
Talent, und e8 ijt ftaunenswerth, mit wie unbedeutenden
Leiftungen fih ein Theil ber Mitwelt zufriedenftellen
läßt. Schon anders urtheilt das fpätere Geſchlecht. Um
vor den umerbittlihen Richtern einer andern Generation,
deren Urtheil nicht mehr von menſchlichen Zufälligkeiten
Beftodjen wird, als berufen zu gelten, muß man etwas
Nechtes geleiftet haben und zu leiften vermögen, etwas
das ber Menfchheit zu Nutzen ift und fie fördert, das
Ideen mie Fruchtkeime ermedt und geiftige Bedürfniſſe
hervorruft, um fie befriedigen zu fónmen. Und dabei
entjdeibet nicht die Größe allein, nicht einmal bie voll⸗
endete Meifterfchaft. „Iſt es nothwendig“, fagt Biſchof
Dupanloup, „Meiſterwerke hervorzubringen, um die
geiſtige Arbeit zu rechtfertigen? Nein, Gott bewäſſert
die kleinen Blumen ebenſowohl wie die großen Bäume;
die kleinen Blumen geben weniger Schatten, aber mehr
186 Linfenmann,
Wohlgeruch“ ἢ. Zum Blüthenfrühling gehören aud
Heine und unfheinbare Blüthen, unb zur Garbe gehören
taujenbe von Kleinen Fruchtlörnern; aber eines vom bei-
den muß fein, Blumen, melde ba8 Auge erfreuen und
bie Luft mit Wohlgeruch erfüllen, Blüthen, meldje Früchte
anfegen, und enblid) ba8 reife Korn. Oder um ohne
Bild zu fpredjen, das Können zeigt fid) darin, daß man
entweder etwas Neues zu jagen weiß, ba8 einen Werth
für die Menfchheit bat und das Andere nicht ſchon zuvor
befler und wahrer gefagt haben, ober daß man das Alte
in neuer angemefjener Form fagt und dadurch der alten
aber geſchmähten und veradhteten Weisheit burd) den
Reiz ber Neuheit und durch fünfilerijde Faſſung der
alten Juwelen erneuerte 9fufmerfjamfeit zumendet und
Ehre erweist. Auch nicht in ber Fülle der Produktion,
in vielen und großen Bänden, liegt dad Merkmal ber
Auserwählung, mod) viel weniger in ber autem Auf:
dringlichkeit. Gleichwie nah einer ſchalkhaften Bemer:
tung Lihtenberg’3 „in ber Kirche diejenigen am
lauteften fingen, bie falſch fingen“, fo maden fid) vor
bem großen Publitum gar oft diejenigen am lauteften
bemerklich, welche nicht gottgelenbete Propheten find.
Semnad) ift aud) die Driginalität nod) fein Zeugniß für
das Talent; denn originell find aud) bie, melde „falſch
fingen". Wenn Jemand ber Mitwelt vergeffene und
verſchüttete Werke aus älterer Zeit wieder aufſchließt,
jo wollen wir nicht darüber mit ihm rechten, ob er de
Eigenen genug geleiftet, um feinen Namen mit Ehren
genannt zu fehen, noch aud) darüber, ob die neue Form,
1) Die Mädchenerziehung. Deut ton SRoftbaf. Mainz
1880 ©. 77.
Schriftftelertfum und literariſche Kritit. 187
unter welcher alte Ideen oder Bücher neu erftehen, ab:
fefut beffer oder Fünftlerifcher fein müffe ala das Alte.
Ser mit gebildetem Geihmade die Ilias des Homer
oder das Lied der Nibelungen in unfere moderne itera:
tutfpradje überjeßt, überbietet unmöglich den äfthetifchen
Werth des Driginals und leiftet bod) der funft ber
SYegtgeit einen Dienft. Wer eine alte Chronik in urkund⸗
lid getreuer Form zum Abdrud und zur Kenntniß ber
Forſcher bringt, hat weder nad) Yuhalt noch nad) Form
etwas objektiv Neues geidjaffen, und. doch liegt Werth
und Bedeutung darin, baf die Publikation etwas ſub⸗
jektiv Neues ift, bei welchem am Ende gar ber Haupt:
werth auf ber Beibehaltung der alten Form liegt. Hier
ift alfo allerdings alles relatio; aber bie allgemeine Auf-
ftellung wird baburd) nicht umgeftoBen werden; bevu-
fen zu fhreiben ift, mer etwas Rechtes zu
fóreiben weiß, fei es nun daß es nad [εἰς
nem Inhalte oder nad feiner Form für bie
Menſchheit in engeren oder weiteren
Kreifen einen ibeellen Werth hat.
Aber aud) in diefer Faſſung ift unfer erftes Kriterium
od) viel zu allgemein und fördert una nod) zu wenig in
der Erfenntniß befjen, was man ſchriftſtelleriſchen Beruf
nennt. Was für bie Menſchheit einen ibeellen Werth
habe, ba8 läßt fid) nicht einzig darnach beftimmen, daß
ἐδ von bet Site und Nachwelt aufgenommen wird, in
ihr zur Wirkung fommt, Beifall findet, Spuren hinter
läßt. „Der Baum ber Menſchheit vergibt des ftillen
Gärtners, der ihn gepflegt in der Kälte, getränft in der
Dürre und vor jdübliden Thieren geſchützt hat; aber
er bewahrt treulid) die Namen, bie man in feine Rinde
188 Sinjenmann,
unbarmberzig eingeſchnitten mit ſcharfem Stahl, und er
überliefert ſie in immer wachſender Größe den ſpäteſten
Geſchlechtern“. Der dieſe Worte ſchrieb, H. Heine, hat
freilich ſelbſt am wenigſten verſtanden, ſich unter die
Wohlthäter der Menſchheit, unter die pflegenden Gärtner
des Baumes der menſchlichen Cultur einzureihen; er lehrt
uns vielmehr durch das, was ihm fehlte, dasjenige et-
Tennen, was den wahrhaft berufenen und gottbegnabeten
Schriftſteller ausmadt, bie fittlide Seite des
Könnens, die etbifhe Verantwortlichkeit
be8 Talents. Was einen wahren Werth für bie
Menſchheit haben fol, muß ethiſcher Art fein, und ba-
rum muß aud) ba8 Können, von toeldjem wir als einem
Kriterium des Berufes vebem, nicht blos ein intelleftu-
elles, fonberm aud) ein ethiſches fein, ein Können und
ein Leiſten innerhalb ber Bahnen, welche in der Richtung
des ewig Wahren und Guten liegen. Die Ablenkung
von biefen Bahnen Tann nit im Willen der höheren
göttlichen Vorfehung liegen; und wer bie falfdeu
Bahnen gebt und Andere auf fie führt,
Tann feiner göttlihen Sendung tbeilpaftig
fein.
Um nicht am unrechten Drte in Gittenvidterei zu
verfallen, wollen wir ſchon ganz im allgemeinen zwiſchen
Männern zweier Richtungen wohl unterfheiden. Zu der
einen gehören diejenigen, welche vermöge ihrer geiftigen
und fittlichen Tendenz zwar in mandjen Dingen von ber
Bahn, bie wir für die vedjte halten müffen, ablenfen,
aber bod) den eigentlichen Pol im Auge behalten, aus
ber mandherlei Jrrungen be8 Lebens bod) den Glauben
an bie ewigen göttlichen Grunblinien der Weltordnung,
Schriftſtellerthum und literariſche Kritik. 189
an bie Wahrheit und Tugend retten und barum bod)
zur Belehrung und Veredlung der Menfchheit beitragen,
wie wir ja einen Platon und Ariftoteles, einen Homer
und Sophofles al8 bie Vertreter einer ethiſchen Welt:
anfhauung zu ben größten Geiftern zählen dürfen;
zur anderen Richtung rechnen wir diejenigen, melde nad)
ihrer ganzen Bildung und Geiftesverfaffung centrifugal,
bem feften Mittelpunkt einer unverrüdbaren fittlihen
Ordnung abgetenbet, Tebiglich fid) jelbft Geſetz und Gott-
heit find. Ob e8 unter ihnen Männer gibt, denen um
eines göttlichen Berufes willen die fieblidje ober ſchreck⸗
lide, befruchtende oder verfengende Gabe ber Sprade
und des Styls verliehen worden, wer will bie bejahen
Ober verneinen? Gewiß gibt e8 Berufene vermöge ihres
Talentes und vermöge be8 Bebeutenden, was fie durch
dasfelbe hätten leiften können, bie aber ben feften Boden
ber fittlihen Pflicht nicht immer gefunden haben. Wer
möchte einen Leſſing, Wieland, Goethe, einen Heine oder
Gutzkow unberufen nennen? Aber mie ganz anders hät:
ten fie, und Viele neben ihnen, große Männer und Wohl:
thäter unferes Volkes werben fónnen, wenn fie ihre Gaben
vol unb ganz in den Dienft der riftlih-fittlihen Welt:
ordnung geftellt, wenn fie von ihr aus ihre Probleme
fid) gebildet hätten, und wenn fie von der Gnadenfonne
ber von Chriftus geoffenbarten Religion beftrahlt und
befrudjtet worden wären. So aber befteht ein Mißver-
hältniß zwiſchen dem, was nad) göttlihem Berufe hätte
geleiftet werden fónnen, und dem, was bie Menſchen aus
den Gottesgaben gemacht haben, ein Mißverhältniß, das
fi) ung vielleicht am beften erklärt im Lichte des Bibel:
wortes: Viele find berufen, aber Wenige auserwählt.
190 Sinfenmann,
Nah al bem müſſen wir daran fefthalten, daß e8
ethiſche Eigenſchaften find, die wir für das echte Können,
für den Beruf zur Schriftftellerei fordern müſſen. Unter
ihnen, von denen wir jedoch feine einzige Tugend bes
chriſtlichen Katechismus ausſchließen, nennen wir Dei.
ſpielsweiſe al8 erfte den Sinn für Wahrheit. Das
ift keineswegs fo etwas Gelbftverftändlihes! Viele
haben diefen Sinn für Wahrheit nicht, da fie nicht wahr
fein und belehren, fondern mur glänzen, überraſchen,
blenden wollen. Wer feine Feder in den Dienft von
Einzelintereflen ftellt, wer Anderen zu lieb oder zu leid
tebet, wer Anderen nachſchreibt, ohne ihre Glaubwürdig⸗
Teit jelbft zu prüfen, wer Geſchichte ſchreibt wie einen
Roman, wer Dramen fchreibt blos für den Bühneneffekt,
wer eine Sentenz formulirt nicht wie die Logik, fondern
wie ber Reim es fordert, wer das Hohe und Heilige
zum Gegenftand ber Komik mad, der hat ihn ebenfalls
nit. Dagegen erbliden wir den Sinn für Wahrheit
und ben Beruf fie mitzutheilen da, wo einer über ben
Trug und die Lüge der Welt erröthet und den Muth
bat, ben faliden Schein daran zu geben um ber bitteren
Wahrheit willen; wo e8 ihn drängt, das erkannte SBeffere
zum Gemeingut zu machen, unbefümmert um bie mög-
lien Folgen, und to er ben faljjen Göttern diefer
Welt den Muth der eigenen Weberzeugung entgegenftellt.
Der Sinn für Wahrheit bedeutet ung aber mehr als
blofe Liebe zur Wahrheit. Letztere kann blofer Affekt
bleiben, ber im der Freude an bem erfannten Befferen
und in der Trauer über die Schidfale ber Wahrheit in
unferer Menſchenwelt befteht; der Sinn für Wahrheit
aber lehrt und der Wahrheit nadjfpiren und fie finden,
Schriftſtellerthum unb literariſche Kritik, 191
mo fie verborgen ober entftellt war; er gibt ung bie
JBünjdelrut9e in die Hand, mit deren Qülfe mir ben
wrjjütteten Quellen nachgraben; er läßt dem Geifte
nicht Ruhe, bis er von einer entbedten Wahrheit Bots
ſchaft geben Tann.
Mit biejem Wahrheitsfinn oder diefer geiftigen
Spürkraft muß fid als zweite ethiſche Eigenfchaft unb
ala Probe des Berufes eine rechte Mannhaftigkeit
verbinden. Denn das Apoftolat der Wahrheit hat jein
Martyrium. Wir verftehen aber unter Mannhaftigkeit
nicht blos den Muth im gewöhnlichen Sinne Zum
Opreden und Schreiben gehört ja in unferer Beit im
ganzen wenig Muth; oft mehr zum Schweigen. Man
fibt ja unter dem Cdjuge ber Preßfreiheit, unter bem
Schuge der Partei, und, wenn man will, der Anonymi-
tät. Wohl zuweilen visfirt eine Iterarifche Läfterzunge,
baB fie — mit vornehmer ober gemeiner Waffe — zur
Rechenſchaft gezogen werde, ober e8 risfirt ein Ange:
ftellter, daß er vom derzeit regierenden Minifter bie
wänfhenswerthe Beförderung nicht erlangt oder von
einer weltlichen oder geiftigen Behörde einen andeutenden
Wink erhält. Aber im Gegenteil find e8 ja viel eher
die Schriftfteller, vor denen man fidj fürchtet, ift es bie
"efle, vor welcher die Regierungen felbft ihre Maß—
tegeln rechtfertigen oder ihre Mißgriffe beihönigen. Wer
die Feder zu führen verfteht, macht Garriere, wenn er
εὖ wur will. Auch in der Richtung auf bie entidjeibenbe
Stage, ob eine Titerarifche Leiftung werde für vollwichtig
erfannt werben oder nicht, legt unfere heutige Leſewelt
dem Schriftfteler wenig Wagniß auf; man fauft ja bie
Spreu theurer als das Korn, und derjenige Schriftfteller
192 Sinfenmann,
ift ber beliebtefte, teldjer bem Lefer am wenigſten durch
Gedankenarbeit Beſchwerde macht.
Wir aber verſtehen unter Mannhaftigkeit ben Muth,
nidt zur Majoritätzu gehören, fid den
Forderungen des Pöbels oder der Bar-
tei nöthigenfalls entgegenzuftellen, den
Muth, vornehm zu fein Wir halten εὖ nicht,
tie jene Philofophen, melde ihre beffere Weberzeugung
für fid) behalten und im übrigen bie Sprache ber Menge
reden‘), Martyrium bedeutet Zeugniß,
Belenntniß, Einfegen bereigenen Per
fon für die verfolgte und verfannte Sade.
Und nod) einen andern Muth gibt e$, den wir ala Probe
des Berufes fordern, ben Muth, fid Correk—
turen und Kritiken gefallen zu lafjen,
der Belehrung von anderer Seite fid zu
unterwerfen, einen Irrthum zu befennen
und zurüdzunehbmen, und ε zu ertragen,
wenn man nidterreidt, was manerrer
den wollte Der Mißerfolg, das Ausbleiben bet
fBilligung und des SBeifallà, aud) von Seiten der Cblen
und Urtheilsfähigen, darf den Mann im Glauben an
feinen Beruf nod) nicht irre machen. Wie ber inbijdje
Weiſe fagt, baf die Flamme ber gefenftem Fackel fid)
bod) ſtets emporrichte, jo muß ber feines Werthes be:
mußte Mann, aud) wenn er niebergebrüdt wird, bie
Richtung des Geiftes nach oben behalten und nicht um
des leichteren Erfolges willen feinem wiſſenſchaftlichen
Gewiſſen untreu werden.
1) Loquendum cum multis, wapiendum cum paucis.
(Geulinx)
Schriftſtellerthum unb literariſche Kritik. 193
Wir nennen unter bem fittlihen Cigenfdjaften des
Schriftftellers von Gottes Gnaben meiter bie Fähig—
feit, fid an das Gange hinzugeben, das
Wohl und Wehe der Menfchheit in der eigenen Bruft
mitzufühlen und Opfer zu bringen. Das Gegentheil
hievon ift bie Selbſtſucht, die Ausnügung der bewußten
Meberlegenheit der eigenen Kraft zum zeitlichen Vortheil
oder zum eitlen Ruhme; vielleicht gehört hieher ſchon
eine gewiffe Sorte von Reclame; ganz gewiß aber jene
Agitation um jeden Preis, jenes Berühmtwerdenwollen,
bem fein menſchlich erlaubtes Mittel zu gering ijt, jener
Appel an bie große Menge, in meldem man fid) nicht
ſcheut, den unzufriedenen und begehrlihen Maſſen zu
ſchmeicheln. Die wahre Hingabe an das Ganze beftebt
nit darin, daß man fid aus der rohen Mafje ein Fuß:
geftel bildet für feine Perfon, fondern in einem edlen
Gemeinfinn, ber zuerft an das Ganze denkt unb bem
unter Umftänden der Schmerz und der Zorn um das
Gange die Feder in die Hand drüdt. Facit indignatio
versum. Der Gemeinfinn erzeugt fodann eine hefondere
Sorm der Geredtigteit; er verlangt gleiches
Recht für Alle, läßt aud bem Gegner Gerechtig-
leit widerfahren und lehrt und, wie man fid) in den
Gebanfenfrei8 einer fremden Anſchauung Dineimbenfen
und ihm eine beredjtigte Seite abgewinnen müffe. Die
Selbftfuht ift unduldfam und verfteht feinen Wider-
ſpruch; der Gemeinfinn weiß zu [donen und
iu erhalten, umniht das gefnidte Rohr
gat zu gerbreden unb ben glimmenben
$odt nidt aus zulöſchen. (Matth. 12, 20.)
Und endlich gibt e8 aud) eine Tugend, bie fid) auf
Sie. Quartaliggeift. 1883. Heft IL. 13
194 Linfenmann,
bie Form ber Darftellung bezieht. Wie mad) einem
Worte von Alban Stolz eine lejerlid)e Handſchrift For:
derung ber Humanität ift, mas ihm gewiß die Schrift:
feßer bezeugen werden, fo möchten wir jagen, e8 fei aud)
eine gute und edle Formgebung eine Forderung
ber Humanität; bod) meinen wir damit an dieſer Stelle
nicht ſowohl ben Styl, fondern eine Eigenſchaft der Rede,
wie fie ber Pjalmift meint, mo er vom Worte Gottes
jagt: „des Herrn Worte find keuſche Worte,
Silber in Feuer bewährt“ (Pf. 11,7. Nicht
Alle verftehen e8, was reiner feufdjer Ausdrud fei und
mas e8 heiße, das Erz des rohen Gedankenausbruches
im Schmelztigel zu läutern;; e8 ift nicht blos ein äftheti-
fer, fondern ein fittliher Bartfinn dazu nothwendig;
meil e3 hieran fo vielfach fehlt, darum entfteht au8 ber
gegenfeitigen Berührung ber Geifter in ber literariſchen
Slugeinanberjegung fo viel Unfriede und fo viel Nergerniß.
Doch, tie viele geiftige Fähigkeiten und ethifche
Eigenſchaften wir aud) noch aufzählen wollten, fo wären
ale nod fehr fubjeltive Zeichen der Legitimation für
den Schriftftellerberuf. €8 kann ein Mann fie alle zu—
ſammen befigen, und er braucht bod) nit Schriftiteller
zu werden, um feine Gaben und Kräfte zur Wirkung
Tommen zu laffen. Viele wären fähig gut zu ſchreiben,
und bod) ift e8 gut, daß fie nicht Ale fchreiben, weil
wahrlich ſchon zu viel geſchrieben wird.
2. Schon näher zur Sache fommen wir, menn wir
die große Erfahrungsthatſache ins Auge fallen, daß nicht
der Menſch fid felbft in feiner Berufswahl beftimmt,
fondern daß er von außen beftimmt wird. Unfer Schid-
fat liegt ja nicht in unferer Hand allein, jondern geftaltet
Sqhriftſtellerthum und literariſche Kritif. 195
fid duch Fügungen von oben und von außen; e8 ift
abhängig von den Lebensbedingungen, melde in den all
gemeinen Weltzuftänden gegeben find.
Man wird Cdriftfteller, weil nun einmal der gei—
flige Verband der Menſchen untereinander bie literarifche
Mittheilung verlangt, weil in bie von den Vorfahren
ſchon begonnene Arbeit junge Kräfte eintreten müffen,
weil ein Bedürfniß nad) fchriftlihem Gedankenaustauſche
beftebt. Und dann wird man Schriftfteller, weil bie
Schriftftellerei gemiffe Reize Dat, weil man butd) fie zu
Aemtern, Ehren und Brod, zu Anfehen, Macht und Eins
fluß gelangt. Es ift Arbeit für Viele vorhanden, Grof-
und Kleinarbeit; e8 gibt literariſche Handlanger, teil
es Meifter, und Epigonen, weil e8 Heroen gibt.
Das Schriftſtellerthum unterliegt gewiſſen Entwid-
lungsgeſetzen, wie jede andere Form des öffentlichen
Dienftes oder der gejelljjaftlidjen Funktion. Wie auf
einem üppigen und gut gepflegten Boden reihlihe Frucht,
jo wächst die Schriftftellerei unter der Gunft ber mos
dernen Zeitverhältniffe üppig auf. Wenige werben fid)
von Anfang an darüber Rechenſchaft gegeben haben, von
welchem Geifte getrieben fie zur Feder gegriffen haben ;
Zeit und Umftände haben e8 mit fid) gebradht.
Bon ben Berfaffern der Bücher der heil. Schrift
heißt es, daß fie vom heiligen Geifte infpiritt geſchrie—
ben haben. Bon ben Prieftern unferer Kirche anderer
ſeits fagen wir, daß fie durch innere Einſprechung, durch
eine gewiſſe innere Mittheilung der göttlichen Abfichten
berufen werden; wir ſetzen bei beiden übernatürlidhe
Alte der göttlichen Vorfehung voraus; aber aud) biefe
übernatürliden Einſprechungen be8 göttlichen Gedankens
13*
196 Sinjenmann,
oder Willens vollziehen fid in Gemáfbeit jener großen
Weltordnung, nad) welcher die göttliche Vorfehung Jedem
feinen Plag beftimmt und Jedem feine irdifhe Aufgabe
gumeift. Wenn wir nun aud) nicht für bie fchriftftelle-
rijde Thätigfeit im allgemeinen ein übetnatürlide8 do-
num vocationis im theologifhen Sinne vorausfegen, To
find e8 immbin die verborgenen Führungen ber
göttliden Sorfebung, in melden eine befondere
Bürgfhaft für den Beruf zu finden ift, Wie wenige
unter una, bie wir unà nun einmal zur Mitarbeit an
bem geiftigen eben ber Zeit berechtigt glauben, haben
von Anfang an ihr Abfehen auf eine ſchriftſtelleriſche
Tätigkeit geworfen! Den Meiften haben in den Jahren
ihrer Jugendentwwidlung ganz andere Ziele vorgeſchwebt,
und ganz anders haben fie fi ihr Arbeitögebiet für
bie Zukunft vorgeftelt, a8 e8 ihnen dann zu Theil gez
worden ijt. Man mußte fie in SBertrauenaftellungen be-
rufen, mußte ihnen Aufgaben ftellen, fie zu ſchriftſtelle—
riſchen Verſuchen ermuthigen, mandmal faft πιοτα
nöthigen; e8 ift nicht ihre Wahl gemejen, daß fie in
Lebensſtellungen eintraten, im melden Anfpornung und
Gelegenheit zur DVeröffentlihung von Erftlingsarbeiten
gegeben oder pofitive Proben fhriftftelleriichen Geſchickes
gefordert werden, oder in melden gar wiſſenſchaftliche
Forſchung und Verwerthung der gewonnen Erkenntniſſe
auf dem Wege der Deffentlichkeit zur Amtspflicht wird,
Der Beruf geht in folhem Falle, die zeigt wenigſtens
der Augenschein, von ben Menfchen aus, in deren Händen
unfer Schickſal liegt und die für ung bie Stelle ber Vor—
fehung einnehmen und ung einen Pla in ber mend
liden Geſellſchaft anweiſen. IR bie fo, liegt in ber
Schriftftellertfum und literariſche Kritik. 197
Berufung duch bie Menſchen bie legte praktiſche Ent-
ſcheidung, fo ftehen mir allerdings al8balb wieder vot
einer unabjehbaren Schwierigkeit. Denn was Menſchen
thun, darin herrſcht der Irrthum und der falſche Schein,
Selbſtſucht und Parteilichkeit, zum mindeften Willkür,
Laune, Zufall. Es ift ſchwer zu fagen, baB man Diet-
auf feinen Beruf bafiren fóume; man wird bod) wohl
wit fagen wollen, daß bie Dispofitionen, melde bie
Menfhen untereinander treffen, jedesmal der volle Aus:
bud ber Weisheit und Gerechtigkeit ſeien, daß alle
Empfehlungen, Berufungen und Anftellungen jeweilig
hen Tüchtigften zu Theil werden, und daß an Allen,
welchen auf foldjem Wege die Gunft des Sdjidjala fid)
zugeneigt, eine höhere göttliche Führung unb Berufung
fichtbar geworben.
Und bennod) muß aud) hierüber gefagt werben, daß
der äußere Anfchein, bie empirifhe Erfahrung, nicht ent:
fájeibet, und da wir der menschlichen Willfür, ber Irrung
und dem Zufall jene eben bezeichnete Rolle nicht ein-
tüumen; der Schein trügt, wie überall. Zwar unter
ſcheiden fid) bie Gefege der geiftigen Welt von denen
der Natur dadurch, daß jene ber Freiheit des Menſchen
Spielraum geben und daher zahlveihe Ausnahmen zu=
laſſen, und daß die Ausnahmen fid) auffülliger und em-
pfindlicher machen αἴ die Negel, jo daß man bie Aus-
nahmen mehr beachtet, von ihnen redet umb gegen fie
teagirt, woburd mum eben ber Schein entftebt, als fei
Alles hienieden auf Zufall, Glüd und Gunft geftellt.
€3 wäre thöricht zu leugnen, daß Sander feinen Stand
und feine Berufsftellung durch die Nachhilfe jehr menjd-
liber Mittel gefunden, durch Bevorzugung auf Grund
198 Linſenmann,
ſeiner Geburtsanſprüche, durch Protektion, Kriecherei
u. dgl. Aber was vermag dieß Alles gegen die Ver—
bältniffe im großen, too der Mann feinen Pla fid) er⸗
ringen muß burd) Talent, Arbeit, Selbftüberwindung
und Wagniß, manchmal unter ſchweren Entbehrungen und
Demüthigungen und unter Opfern an körperlichen und
geiftigen Gütern. Es ijt daher weder weiſe nod) geredit,
in bem Gange der Dinge in biejer fublunaren Welt
überall nur das Kleinlichmenſchliche, das Zufälige und
Störende beroorzufehren und darüber die großen nnd
gemeingiltigen Gefege ber fittlihen Weltordnung, das
Walten einer höheren Hand, zu überfehen. Bon biejet
höheren Betrachtungsweiſe haben wir nun aud) 9Intoen-
dung zu machen auf diejenigen, welche durch einen εἶπε
faden Gang ber Dinge, durch die ihnen zugefallene
Sebensftellung, vielleidjt aud) dur wechſelnde Schickſale
verfchiebenfter Art, dazu geführt werden, unter bie Schrift
fteller zu gehen. Es ift, wir wiederholen e8, bei Vielen
nit ihre eigene Wahl gemefen. Die Jagd nah bem
Glüd oder der gemeine Drang nad) Amt und Brod kann
e8 nicht fein, was zur Schriftftellerei führt; denn felbft
wenn man bie legtere von ihrer glängendften Seite be=
tradjtem wollte, jo gibt e8 bod) feinen andern Beruf,
welcher wie der des Schriftftellers verbunden ift mit
Aengften und Sorgen, mit Furt vor Mißerfolgen und
SBeranttoortungen, ber fo reid ift an Enttäufhungen,
Unbilden und Tüden jeder Art, und ber fo febr wie
ein verzehrendes Feuer im Lebensmarke figt und in bie
Seele brennt.
Go fteht aljo über der Wahl des Einzelnen eine
höhere Macht, bie wir mun zunächſt Schidfalsfü-
Schriftſtellerthum unb literariſche Kritik. 199
gung nennen wollen und melde den Einen über feinen
Beruf zur Titerarifchen Arbeit aufklären, den Anderen
beruhigen mag. Wer duch fie in eine Lage verjegt
worden ift, in melder er feine Kenntnifje mittheilen,
feine Talente literarifh fruchtbar anlegen, in den öffent:
lien Angelegenheiten ein Wort mitfprehen unb im
Ernſte ber Profa oder im Deiteren Spiele der fröhlichen
Mufen ber Menſchheit nügen Tann, der möge fpreden
und fingen, wie e8 ihm eim Gott gegeben. Wir bannen
wiederum das Net dazu nicht an einen oder mehrere
ber geſellſchaftlichen Berufsftände, fondern überlaffen es
den bejonberen Verhältniſſen, darüber zu enticheiden.
Der Eine politifirt oder bidjtet, weil ibm Muße gegeben
ift; und daß fie ihm gegeben ift, kann ein Zeichen des
Berufes fein. Ein Auderer forſcht unb unterjudjt und
ſchreibt, weil darin fein Officium befteht, unb aud dies
mag al3 Zeichen des Berufes gelten. Wir können aud)
nicht jagen, daß gerade immer bie objektiv Tüchtigften
in ben verfchiedenen Zweigen der öffentlichen SDienft
Teiftung nun aud zur literarijdjen Vertretung der Qyu-
tereffen ihres Dienftes berufen. feien; e8 find vielleicht
nicht immer bie vortrefflihften Aerzte, denen neben ihrer
Prarxis fo viel Muße gewährt ift, um aud) nod) ἠῴτί
ftellerijd) aufzutreten, und e8 find ſicherlich nicht immer
die bebeutendften Theologen und Prediger, melde bie
Predigtliteratur bereichern; und bod) Fünnen jene wie
bieje berufene Schriftfteller fein.
Aber was und mum auch bei diefem Verſuche, dem
Berufe zur Schriftftelerei beizufommen, Schwierigfeiten
macht, das find bie Ausnahmen von der Regel; denn
fie fpringen in die Augen und möchten erklärt fein.
200 Linfenmann,
Wenn bie Shidjalsführung allein eine Bürgihaft für
ben Bernf gibt, wie Tann man dann pon Unberufenen
teben? Und wenn e8 unter Taufenden nur einen Unbe-
rufenen gibt, wer jagt mir, daß ich nicht diefer eine bin?
8) Es ift nothwendig, die Führungen des Schickſals
oder ba8 Walten ber göttlihen Vorſehung concreter zu
faffen, indem mir ung burd) die Betrachtung ber com-
creten Vorgänge im Leben orientitem. Die Schidjale
der Einzelnen werden im Menfchenleben beftimmt durch
beftebenbe Einrihtungen, melde mit bem
gefellidaftliden Bedürfniffen einer
Beit im Ginflange ftehen; burd fie wird bie
Erfenntniß ber eigenen Befähigung gewedt, bie Kraft in
Thätigfeit gefegt, ber Beruf geprüft, ber Funke des
Genius angefadjt.
Man könnte eine vieleicht ſchmerzliche Reflerion
darüber anftellen, wie viele Geiftesgaben und Talente
unentwidelt und ungenügt bleiben, weil ber niebrige
Gulturftanb eines Volkes ihrer Entfaltung entgegenfteht.
Man fragt fid) unwillkürlich, ob in den fráftigen Völkern
einer unenttoidelten Culturepoche fid) nicht ſollten Geiſtes⸗
anlagen gefunden haben, melde zu glänzenden Werken
ber Wiffenfaft und Kunft befähigt hätten. Wir glau-
ben nit, daß man aus bem Mangel 2. B. an fünft-
lerijdjen Leiftungen eines Volkes den Mangel an der in
ber Natur angelegten Fünftlerifchen Begabung erſchließen
dürfe; e8 ift nicht jo unbedingt richtig, daß das Talent
Ober ba$ Genie fid) felbft Bahn breche. Es Tann zwar
ein Aufblühen der Kunft nicht gedacht werden, ohne jene
höheren Gaben, melde man nicht in ben Schulen er-
werben Tann und melde von ben Aufträgen der funft-
Schriftſtellerthum und literariſche Kritik. 201
mäcene unabhängig find; aber es ift bod) aud) nicht
möglich in einem Lande, in welchem e8 an bem gefell-
ſchaftlichen Vorausfegungen für Cntmidlung, Studium
und Berwerthung ber Kunft fehlt. Die Gaben, melde
auf niedrigeren Stufen der Gultur eines Volles latent
bleiben, werden auf der höheren Stufe als ein geiftiges
Kapital erkannt, mit welchem man wuchern muß, indem
man ihm Gelegenheit gibt, fid zu befruchten und nüg-
lid zu machen. Die Geſellſchaft gibt gewiffermaßen ihre
Mandate, ſchlägt die verborgenen Quellen an, leitet fie
in die rechten Gefilde, und nimmt fie in ihren Dienft;
ja fie nimmt bie Kräfte.in ihre Ordnung und Zucht, und
ift dafür aud) in einem gemiflen Grade verantmott-
lij. Es klingt parabor, daß bie menidlide Geſellſchaft
einen Beruf ertheile oder ibm wenigſtens zu Hilfe komme,
und bod) Liegt eine Wahrheit darin.
Gà liegt nahe, den Beruf für den geiftlihen Stand
zur BVergleihung berbeizuziehen. Wie groß in einem
Rande bie Zahl der nad) geiftigen und fittlihen Anlagen
jum geiftliden Stande Befähigten fei, entzieht fij) aller
Berechnung; aber deutlich ift erkennbar, daß bie wirkliche
Berufung zu demfelben im engften Zuſammenhange ftebt
mit denjenigen Einrichtungen in der Kirche eines Landes,
melde die Heranbildung eines Klerus fowie die redjt-
mäßige Verwendung ber in den Lehr: und Erziehungs-
anftaften gewonnenen neuen Kräfte bedingen. Wer über
ba8 Geſchick und die Mittel verfügt, um einen tüdtigen
Merus heranzuziehen und bemjefben bem rechten Geift
einzuflößen, ber wird baburd) zum Organe, durch welches
die göttliche Vorſehung den Beruf an Viele ertheilt.
So hängt ja auch auf anderen Gebieten der focialen
202 Sinfenmann,
Arbeit bie Verwendung ber im Volke jhlummernden
Gaben und bie Vertheilung der Kräfte von den öffent:
lien Einrichtungen ab, von den Schulen, in denen bie
Anlagen entdedt, die Neigungen gemedt und geleitet
werben, von ben Lebensausfichten, melde bem Geifte bie
Richtung zu geben pflegen, unb von ben lohnenden Ge-
legenheiten zur Webung und Erprobung der Kräfte. Auch
bieB ift eine Art von Schickſal, welches über ben Beruf
enticheidet.
Gibt e8 mum aud) fole gejellidaftlide Einrich-
tungen, melden ein Einfluß auf ben Beruf zum Schrift:
ftellertbum zufommt? Wir glauben ſolche allerdings
bezeichnen zu können, und zwar ſolche mit pofitiver, und
folde mit negativer Bedeutung.
Zu ben erfteren Tönnten wir (don ben Fall zählen,
daß ein Mandat ertheilt und aus Gehorfam gegen beu
Befehl zur Feder gegriffen würde; bie ſittliche Berech⸗
tigung eines Autor3 läge dann in bem Gehorfam
gegen eine höhere Stimme unb Auftori-
tät. Und zwar madt ung bie Frage fein großes Be—
denen, ob e8 denn ein Recht gebe, ein joldje8 Mandat
zu ertheilen, und ob eine durch Befehl erzivungene
Schriftitellerei aud) eine berufene fei. Gehorſam ift nicht
nothwendig Zwang; es können gang wohl Befehlende
und Gehorchende einander auf halbem Wege begegnen,
indem bie erfteren mad) kluger Auswahl Befehle ertheis
len und die anderen mit Bereitwilligfeit auf bie Befehle
warten. Die menſchliche Geſellſchaft verlangt die Dienfte
derer, denen fie in ihren Einvihtungen die Mittel dar-
geboten bat, um ihre Talente auszubilden, und denen
fie Stellungen bietet, in welchen ihr Wort Gewicht haben
Schriftſtellerthum unb literariſche Kritit. 203
kann. Im kleineren Kreife läßt fid) vielleicht anſchaulich
machen, wie wir dieß meinen. Die Obern einer Ordens⸗
genofienihaft verfügen über bie leibliden und geiftigen
Fähigkeiten und Fertigkeiten der Mitglieder des Ordens,
indem fie dem einzelnen Mitgliede die naturgemäße Ent-
faltung feiner befonderen Anlagen ermöglichen und bie
entwidelten Talente dann in entſprechender Weile ver:
merthen. Die Genoffenfhaft al8 fold legt ein Bil:
dungsfapital an in Schulen, Bibliothefen, Archiven,
Kunſtwerken, Sammlungen ver[djiebener Art. Bon ba
beginnt ein Wechfelipiel von Geben und Empfangen, von
Dienft und Gegenbienft, bie beiderfeit3 gerne geleiftet
erden. Denken wir uns nun, daß bie Abſicht bet
Dbern auf ein großes wiſſenſchaftliches Unternehmen,
fagen wir etwa auf eine größere, weit außgreifende
hiſtoriſche Arbeit gerichtet fei, [o werden bie tüchtigeren
füngeren Talente dafür ausgewählt und ausgebildet und
endlich mit beftimmten Aufträgen bedacht werben, Jeder
mad) Maßgabe feiner fpeciellen Befähigung, über melde
oft ein verftändiger Vorgefeßter weit richtiger urtheilt,
a8 wer nur fid) felbft mißt und wägt. Go vertritt der
Dbere in feiner Art die Vorſehung und entjdjeibet über
den Beruf zum Gelehrten oder Künftler, zum Prediger
oder Schriftfteler. Man möge dabei nicht unnöthiger
Weiſe von einer Vergewaltigung der berechtigten Eigen-
art und Celbftünbigfeit oder von einer Verkröpfung des
Talents burd) den Zwang in feiner Entwidlung reben;
im Gegentheil zeigt fid) darin — wir benfen an ver-
nünftige und tooblbebadjte Einrihtungen — nur bet
Segen einer rechten Leitung und Zucht des Geiftes. Wie
Mancher fehnt fid) und firedt bie Hände aus παῷ Auf:
204 Kinfenmann,
gaben, Problemen und Aufträgen, und ift glüdlih, wenn
man ihm ein rechtes Thema flellt und Vertrauen zeigt;
ja Mancher verliert fid) in die Irre und Tann zu einer
rechten Eriftenz nicht gelangen, weil e8 ibm an Man-
daten fehlt; er gleicht dem Pferde, das wild der Frei
heit genießt aber verhungert, während das Pferd, wel⸗
ches den Sattel trägt und dem Sporn gehorcht, genährt
und gepflegt, geſchmückt fogar und geliebfost wird. Man
geht ſicherer, wenn man fid) unter den Gehorfam ftellt.
Bon den Mandaten hängt oft genug die georbnete und
erjprieBlide Leiftung ab. Ein ausbrüdlide8 Mandat
von Gott hatten, wie fie felbft berichten, mehrere SBet-
faffer der bibliihen Schriften, z. B. ber Apokalypſe;
eine jedenfalls beachtenswerthe Annahme ift e3, daß bie
Verfaſſer unferer Evangelien einer Art Auftrag von Sei—
ten ihrer Brüder und Mitapoftel nachgekommen feien.
Aber bie menſchliche Gefelihaft ann ihre Mandate in
verſchiedener Form ertheilen; manchmal ift es ein beut-
liches Wort, manchmal nur ein unausgeſprochenes Be:
bürfniß, das man belaufen kann. Die menſchliche Ge—⸗
fellidaft hat nicht blos Einen Obern, fondern fie hat
viele Herren, welche Dienfte anweifen und Aufträge er
teilen; Herren oft, denen man dient, ohne zu merken,
daß man fid) der Freiheit begeben hat.
Ein weiteres Moment in dem Einfluß der gefell-
ſchaftlichen Einrihtungen auf die Erfenntniß des Berufs
erbliden mir in pofitiven SBeranftaltungen, vermöge deren
die Einzelnen fid) freimilig der Prüfung unb Controle
unterftellen. Zwar gibt ε glüdlicher Weife nod) keine
Schriftſtellerſchulen, wie e8 funftjulen unb bald aud)
Schauſpielerſchulen gibt. Dichterſchulen laſſen fi, wie
Schriftſtellerthum unb literarifche Kritik. 205
einften8 die Prophetenſchulen, nicht vom Staat beftellen.
Dagegen benfeu wir an bie gelehrten Gefellihaften, bie
Akademien, literarifhen Clubs, in gewiſſem Sinne ge-
hören bieher aud) Kleinere Unternehmungen, wie Zeit
ſchriften. Die Art und Weile, wie diefe Societäten,
Gelehrtenrepublifen im Kleinen, Arbeitskräfte und Hilfs—
truppen an fid) ziehen, wie fie die Aufgaben vertheilen,
der Individualität zugleih Spielraum gewähren und
Grenzen ziehen, die Arbeit Vieler einem Princip unter:
ordnen, alle Mitarbeiter mit einem Corpsgeiſt erfüllen
und ſchließlich aus den Leiftungen der Vielen das Brauch⸗
bare und Dauernde erlefen, wirkt erziehend, anregend,
fördernd, wehrt Ginbringlinge ab und läßt die Beten
und Auserwählten zur Geltung fommen. Wenn man
bod) einmal von einer Gelehrtenrepublif redet, fo madıt
fid) gerade von ihr bie alte Erfahrung geltend, daß
Stepublifen nur beftehen burd) einen hohen Grab per-
Tóntider Tüchtigkeit ihrer Bürger und burd) einen Geift
edler Ariftofratie, der duch alle Schihten ber Bevöl—
terung und durch alle öffentlichen Einrichtungen gebt.
Daß aud) folhen Inſtitutionen, wie wir fie angedeutet, bie
Keime zu Entartungen nicht fehlen, faun ihre Bedeutung
am fid nicht abſchwächen. Vom Pythagoräerbunde an,
von meldem die nicht ber Wiſſenſchaft der Zahlen Kun:
digen ausgeſchloſſen wurden, bis auf unfere Tage haben
bie wiſſenſchaftlichen und literariſchen Gefellihaften ben
etbijden Werth, daß fie bie Ausſchließung von Unbes
Tufenem anftreben. Freilih aud) nur ein Moment unter
ben mehreren, bie in Betracht fommen.
In einer anderen vorherrfhend negativen oder vers
bindernden Weife wird in bie Angelegenheiten des Schrift-
206 Linfenmann,
ſtellerthums und in die Scheidung der Berufenen von
ben Unberufenen eingegriffen burd) bie verſchiedenen ge:
fegliden Cinvidtungen, bie wir unter bem
Gemeinbegriff der Cenſur gufammenfaffen, bie eigent:
lid) nur mod) ber Geſchichte anzugehören [deinem und
über deren Berechtigung bie Anfihten der heutigen Welt
weit auseinandergehen. Hieher gehören Approbation
oder Reprobation literarifher Werte,
bie Einrihtung von eigentlidhen Genfur
bebürben, Grtbeilung von Privilegien
für Drud und Verlag, Maßregeln zur
Verhinderung ber Verbreitung von Shrif
ten, bie einmalvon ber Genfur betroffen
find, Berdammungsdecrete der Parla
mente und Index librorum prohibitorum.
Für bie Veurtheilung der genannten Einrichtungen
fei mum vor allem gefagt, daß wir uns durch Zeitftrö-
mungen und burd) Vorurtheile des Zeitgeiftes, wodurch
bie Gefihtspuntte verrüdt und die Urtheile gefälſcht
werden, nicht dürfen beirren laffem. Sodann wiſſen wir
zu unterſcheiden zwifchen dem gemeinjamen Gebanten,
der zu jenen Inſtitutionen geführt hat, und der zufälli-
gen, unoolfommenen und vergängliden Form, melde
biejelben in der Erfheinung angenommen haben. Die
Formen tragen das Geprüge ber Zeit ihrer Entftehung;
fie entſprechen einem Bedürfniſſe, welches fid) mad) dem
Grade ber Eultur der menſchlichen Geſellſchaft richtet,
fowie nad) dem Umfange der Macht, melde zur Durd:
führung der Anorbnungen zu Gebote fteht; fie können
und müſſen aber fallen, wenn fie entweder ihren Zwed
erreicht haben und gegenſtandslos geworden find, ober
Schriftftelertfum unb literariſche Kritik. 207
wenn berjelbe Zweck burd) andere, beffere Mittel erreicht
werden fann und menn bie Nachtheile ihrer Aufrecht-
erhaltung größer geworden find als die Vortheile. Fer:
wr muß davon abgejehen werden, daß bie beften ge:
ſehlichen Einrihtungen zeitweilig in die Hände unge
ſchidter und nicht fompetenter Organe gegeben werden;
denn wir mifjen, daß ber Mißbraud, den bie legteren
vielleicht mit bem Gejege treiben und welcher baéjelbe
Dbio$ unb oft wirkungslos macht, nod) feinen Beweis
gegen bie innere Berechtigung folder Gejege ober Ein-
tihtungen abgibt. Endlich fei daran erinnert, daß ſolche
Einrihtungen, wie wir fie im Auge haben, nicht für fid)
allein, jonberm nur im Zufammenhange mit vielen au-
deren Faktoren wirkſam find, daß man von einer ver:
ainzelnten Anordnung nicht einen vollen Effekt erwarten
darf, fo[glid) aud) aus dem Mißerfolg mod) feinem un—
günftigen und ent|deibenben Schluß auf ben Charakter
und Werth einer Maßregel im allgemeinen ziehen Tann.
Schon Platon ſchreibt in feinem Buche vom Staate bem
Sokrates die Worte zu: „Halte id) e8 bod) für ein ge
tingereß Vergehen, unborjüglid) an Jemanden zum Mör:
der zu werben, als Hinfichtli des Schönen, Guten und
Gefegmäßigen einen Menfchen irre zu führen”. Wenn
es nun eine Pflicht der Obrigkeit ift, die Bürger des
Staates gegen jene materiellen Gefahren und Angriffe
zu ſchützen, fo fdeint e8 nur folgerichtig zu fein, gegen
ein Uebel, welches ſchon bie alten Weifen richtig für ein
υἱεῖ größeres gehalten haben, den Bürgern ebenfalls
einen Schuß zu gewähren, und mur über bie beite Art
dieſes Schuges kann man verſchiedener Meinung fein.
Dieß ift der Standpunkt, den bie Fatholifhe Kirche mit
208 Linfenmann,
ihren Bücherverboten, und bie Staaten mit ihren Genfur-
gefegen eingenommen.
Gin Index librorum prohibitorum ijt ung daher
πο burdjaus fein verbrecheriſches Attentat auf bie Rechte
und Freiheiten des menſchlichen Geifte8; aber wir haben
an diefer Stelle aud) fein Interefje daran, für irgend
eine biftorifche Form, 3.8. ber ftaatlihen Büchercenfur,
einzutreten. Ueber den mirflihen Erfolg folder ber
Geſchichte angehörenden Einrichtungen mad) gerítreuten
und fragmentarijden Weberlieferungen ein Urtheil zu
ſprechen, ift ebenjo wohlfeil als leichtſinnig. Es läßt fid)
ſchlechterdings nicht mehr ermitteln, mie viel eine Gen:
furanftalt genügt und wie viel fie etwa geichadet habe,
wie viel fie zur Verhinderung ſchlechter Literaturerzeug⸗
niffe beigetragen, oder wie viel fie der Verbreitung beà
wahrhaft Guten im Wege geftamben; ob vielleicht bie
Behörden mandhmal beim beten Willen fehlgegriffen, ob
die Genfur die Raben fliegen laffen, aber bie unfchuldi-
gen Tauben mißhandelt habe, all dieſes kann ja nichts
entſcheiden, wenn e8 nur zufällig und nicht mejentlid)
mit der Genjur verbunden ijt. Wenn mir heute Genjur
und obrigkeitliches Eingreifen in das Gebiet der geiftigen
Produktivität al8 Anachronismus und als unzuläfjigen
Eingriff in bie Dódften geiftigen Güter brandmarfen
mollten, fo würden wir bereits felbft einem Anachronis:
mus verfallen; denn es ergeht ja ſchon wieder mit immer
machfender Energie der Ruf nad) Preßgefegen unb nad
Ueberwachung, beziehungsweife Unterbrüdung gewiſſer
Gattungen von Erzeugnifjen der Literatur und Kunft.
Alſo bod) fol es ein Recht geben, die Produktion zu
überwachen, und demgemäß eine Auftorität, um zu unter:
Schriftſtellerthum und literariſche Kritik. 209
ſcheiden und zu richten! Wir geſtehen es, wenn man
irgendwo in dieſen Sachen an die Auktorität appellirt,
da fühlen wir uns heimatlich angemuthet. Denn das
it es ja, was bem ernſter Denkenden überall vorſchwe—
ben muß, daß „ein Richter wieder auf Erden” fei, daß
über bem fubjeftiven und gerfabrenen
Steinen, Negieren unb Zerfiören ein Feſt—
Rebendes, Unantaftbares und Heiliges
fei, worüber eine Auftorität qu maden
und zu walten berufen ift. Wilde unb zuchtloſe
Anarchie muß aud) für bie geiftige Tätigkeit, und für
fie erft recht, als fchädlich erfannt werden, und e8 muß
zu ben Aufgaben ber Obrigkeit gehören, aud) bier ein
Oberhoheitsrecht geltend zu maden. Es ift Feine
Dpiumvergiftung, gegen bie man Gefege
madt, jo verberblid für Leib und Seele,
ala bie Vergiftung des Volkslebens burd
tine zügellofe Preffe unb eine unfitt
lide Literatur.
Wir fteben wieder bei unferem Grundgebanfen; e8
muß einen Richter geben, welcher ſcheidet zwifchen be:
rufener und unberufener Schriftftellerei, jo ſchwer es
«ud fein mag, in diefen Dingen gerechtes Gericht zu
üben. Daß mir bie Aufftelung einer auftoritativen
Gewalt in unferer Angelegenheit nur da mit Fug und
Recht genehmigen, mo biefelbe zugleich eine höhere als
gemein menſchliche Sanktion hat, daß wir zu Genforen
und Richtern in legter Inſtanz nicht Polizeipräfidenten
und Bureaubeamte acceptirem, bie ift mur eine Gon-
fequenz aus ben Vorausfegungen einer hriftlichen Welt:
anfhauung. Beraltete Inftitutionen einfach neu aufgue
Test. Duartaffgrift. 1889. Heft IL. 14
210 Sinjenmann,
legen und für neue Verhältniſſe zu empfehlen, müre
thöriht; man muß aus den Fehlern der Vorfahren
lernen, anftatt fie zu erneuern. Ein Syſtem von ftaat:
lider Genfur und bureaufratifher Benormundung gehört
nit zu unferen Wünfden. Wit müffen aber in ber
Sybee, mit Vorbehalt ber von der Gegenwart erforberten
Modifikationen, bie Berechtigung der kirchlichen Geſetze
auf bem bier berührten Gebiete aufred)t halten und
Tonnen, ftreng genommen, nur innerhalb der Kirche jene
Auftorität finden, von der wir gefprochen haben. Den
idealen Werth eines höhern, mit wirklicher Auftorität
ausgeftatteten Areopages oder Richterftuhles über Ber:
geben gegen bie höchſten Güter ber Menfchheit wird man
anerkennen müffem, aud) menn man an ber Verwirk⸗
lichung dieſes Gebanfens für bie Gegenwart verzagen
müßte. Man müßte fid aber zuvor über den Gedanken
ſelbſt Mar werben, und dürfte vor allem einem ſolchen
Gerichte nicht mehr zumuthen, al8 e8 feiner Natur nad
Teiften Tann, und ihm feine größere Wirkung zufchreiben,
als es jelbft für fid) beanfprucht. Es entgeht ung nicht,
welche Einwendungen aud) von ftreng religiös und kirch⸗
lid) gefinnten Männern gegen die heutige Bedeutung oder
Handhabung bes kirchlichen Inder der verbotenen Schrifs
ten gemacht werden. Noch neueftens ſchreibt P. Curci
in feiner Schrift: Das neue Jtalien und die alten e:
Toten: „So ift die einzige ernfthafte Bedeutung, ble
heutzutag ber Inder zu haben feheint, bie, in den Hän-
ben der Zeloten ein febr bequemes Werkzeug zu fein,
um Männer und Bücher zu bi&crebititem, welche ihnen
unbequem find; mie ein Damobklesſchwert über ben
Schriftſtellern allein hängend, welche ber firdje ergeben
Schriftſtellerthum unb literariſche Kritik, 211
find, tar und ift er eines ber wirffamften Mittel, um
in gewiſſen praktiſchen Punkten bie Anfiht vieler Katho—
lem auf dem falſchen und verberbliden Wege zu et-
helten, auf den fie von ben eloten geführt find.” Man
febt, e8 find Worte eines aufgeregten Parteimannes,
die ba8 Weſen ber Gad nicht treffen; ob faktiſch feine
Beobachtungen richtig feien, berührt und gar nicht, weil
fie auf 9tebenjád)lidje8 und Zufäliges gehen. — fein
Eenfor aber und fein Mitglied der Indercongregation
lebt heute in dem Wahne, durch das Verbot eines Bu-
ches die Verbreitung ber in bemjelben erhaltenen Lehren
verhindern zu Tönnen; infofern trifft ein verwerfendes
Urtheil mehr die Perfonen al8 die €adje; aber dieß ift
niht wider den Zweck; bie Berfonen find e8 ja, welche,
berufen oder unberufen, bie Dinge machen. Ein Urtheil
darüber aber, ob ein Auftor berufen gemejem, in einer
€ade mitzuſprechen, ftebt mir höher, wenn e8 von einer
Stelle ausgeht, toeldje eine höhere Berechtigung reprä—
fentirt, als wenn es felbft vom gemifjenhafteften Recen-
fenten ohne Auftorität erlaflen wird. Ja wir münidten
etwas weniger entſchiedene Machtſprüche von Stecenjenten,
welche fid) oft mit einer angemaßten Aultorität umklei-
den, unb würden dafür gerne einige Urtheile ber wirt:
lien Auftorität hinnehmen; letzteres allerdings unter
der Borausfegung, daß befolgt würde, mas eine Synode
von Aachen a. 817 ben kirchlichen Vorgefegten vorſchreibt,
περ fie follen bedenken, daß die Kirche der Taube
gleiche, welche nicht mit Krallen, fondern nur mit fanfs
tem Flügelſchlage ftraft.
Um Mißverftändniffen vorzubeugen, als ob wir
werthvolle Errungenſchaften preisgeben und Verrath an
14*
212 Sinjenmann,
einer Cadje, bie wir bisher zu vertreten flolj waren,
begehen Tönnten, nemlid) an einer vernünftigen Freiheit
der miflenfchaftlihen Forſchung, fei hier nod) Folgendes
zur Erklärung beigefügt. Wenn wir von Gefegen und
Einrichtungen, [εἰ e8 innerhalb ber ftaatlidem ober ber
kirchlichen Rechtsordnung, ſprechen, jo jegeu wir nidt
blos ein loyales Verfahren im Aufftellen unb im Hand⸗
haben ber Gejege voraus, jonbern wir verlangen vom
Gefege, daß es in fid gut und vernünftig, fomie bap
εὖ feinem mede wirklich entiprechend fei. Wenn mir
oben Attentate auf bie geiftigen Güter ber Menſchheit
mit Vergehen gegen körperliche oder materielle Güter in
Vergleich gebrad)t haben, jo wollen wir burd) den Hin
weis auf die Aehnlichkeit Teineswegs den geneigten Leer
über den großen Unterfchied zwifchen beiden hinwegtäu—
ſchen, fonberm mir fegen die Gabe der Unterſcheidung
bei ihm voraus. Es können darum aud) bie zur Auss
übung einer Genjur über literarijdje Leiftungen gewähl-
ten Mittel, wenn fie dem Zwecke entſprechen follen, nicht
mad) den gewöhnlichen Normen des polizeilichen Schutzes
oder Zwanges eingerichtet werden. Wo man in der
Aufrichtung oder Handhabung einer Cenſuranſtalt oder
eines Inder ber verbotenen Bücher dieß faktifh über—
ſehen hatte, da hat ſich der darin gemachte Fehler bitter
gerächt. Die das Geſetz hätten vollziehen ſollen, ſahen
ſich machtlos, weil ihre Maßregeln den Dienſt verſagten;
der Macht⸗ und Hilfloſigkeit folgte das Odium, weil von
dem Gejeg Einzelne muglo8 und unverftändig verit
wurden; dem Odium folgte die Lächerlichkeit und der
Hohn, welche ber Colb für oftentative vergebliche Kraft:
anftvengung zu fein pflegen; unb endlich folgt bie Selbſt⸗
Schriftſtellerthum unb literariſche Kritik, 213
Hilfe, bie man dem Gefegcábrude entgegenftellt und wo⸗
duch das Gefeg illuforiih gemacht wird. Daß butd)
verbietende Maßregeln mandmal erft recht bie Luft am
Verbotenen gereizt wird, ift ohnehin befannt. Ebenfo
befannt aber find bie Mittel ber Selbfthilfe gegen ein
underftändiges Preßgeſetz und ein geiftigeB Schutzzoll⸗
fohem Wir nennen unter ben wirkſamſten und ein-
greifendften nur bie geheimen Verbindungen
oder Gefellfhaften mit bem beftridenden Reize
ihres Geheimniſſes, ihrer eſoteriſchen Weisheit, ihres
myſtiſchen Symbolismus, und mit ihrer alle Schlöffer
und Riegel fprengenden Ausdehnungskraft. Man hat
über bie Schlagbäume gefpottet, womit man geglaubt
hat, ben Büchern und den Ideen den Eingang in ein
Land verfperren zu können; allerdings, Schlagbäume
find nicht geeignete Mittel, um eine neue Geiftesftrömung
und ein burd) bie Beitliteratur verbreiteteg ſittliches Con⸗
tagium von einem Lande abzuhalten. Aber daß es nun
gar feine Maßregeln geben folle, um bie geiftige Atmo⸗
fpbáre eines Volkes vor bem Fäulnifgifte zu bewahren
ober dem Geiftesleben eine normale Richtung zu geben,
darf daraus aud) nicht gefolgert werden.
Es ift ungerecht und nicht folgerichtig, wenn man
bei bem Namen Genjur oder Inder in erfter Linie an
Geiftesprud und abſichtliche Verdummung des Volles
ober gar an mittelalterliche Folterfammern und Scheiter
haufen denkt. Der Idee nad bedeutet Genfur
Schutz, nidt ünterbrüdung, einen Schuß, ben
wir fo gerne und unwillkürlich für ung felbft anrufen,
den wir aber nicht dulden wollen, wenn ihn Andere ges
gen und in Anſpruch nehmen. Wenn bie im Dienfte
214 infenmann,
ber kirchlichen Sache ftebembe Preſſe in ihren Mitthei-
lungen ober ihrem Tone den Gegnern unbequem wird,
fo fordern diefe, bie fid) gewöhnlich liberal nennen, das
Einſchreiten ber kirchlichen Behörden; die Liberalen for
dern die Genfur! — Der Schuß, den bie Perſonen für fid)
beanfprudjen, foll aber eigentlih um ber Cade willen
gefordert und gewährt werben. Wer ift es denn eigent:
lid; — mir fegen geordnete Zuftände eines civilifirten
Landes’ voraus —, der die Genjur fürdtet? Doc wohl
nit der, ber einen reden Glauben an die Wahrheit
und Geredtigfeit feiner Sache hat! Nicht ala ob nie
mals die Wahrheit verfannt und bie Gerechtigkeit ver-
legt worden wäre oder werden könnte, ober al8 ob mie-
mal3 neuen Cntbedungen und Ideen ein unberechtigtes
Mißtrauen entgegengebraht würde. Aber der rechte
Glaube an bie Güte einer Cad würde bem Auftor,
aud) wo er Wiberftand findet, nur zu um fo intenfiverer
Arbeit anfpornen in der Hoffnung, daß die Wahrheit
ſchließlich bod) zur Anerfenntniß gelangen müffe, wenn
e8 wur erft gelungen fein würde, fie in überzeugungs-
voller Weife darzuftelen und annehmbar zu maden.
Sprechet eure Gedanken und Cntbedungen fo aus, daß
fie dem Publitum in die Augen leuchten, legt nicht an
ehrwürdige und theure Weberlieferungen den Feuerbrand
an, ehe ihr an deren Stelle etwas Befleres zu ſetzen
wißt, prüfet eure Hypotheſen, ob fie mit demjenigen
übereinftimmen, was Allen für fittlih unb unverletzlich
gilt, gebet nicht blofe Meinungen für neue Glaubensfäge
aus, dann werden euch Inderxurtheile nicht fürchterlich
werden. Andererjeitd wird aber aud) bafür geforgt
werden fónnen, daß bie Genforen mur über [olde Dinge
Schriftftelertfum und literariſche Kritik. 215
zu richten haben, über melde ihre Auftorität in ber
Form unb in der €adje eine fompetente ift. Wir Könn-
ten una wenigſtens einen Zuftand vorftellen, in welchem
Eenforen, die nicht nothwendig Dunkelmänner fein müß-
ten, der menſchlichen Geſellſchaft wirkliche Dienfte leiſte—
ten duch eim zielbewußtes, auf reife Studien und Er-
fahrungen gegründetes und von fittlichen Geſichtspunkten
geleitetes Eingreifen in die Literatur mit ihren mannig-
fajen Strömungen. Wohin wir biejem Areopag ver-
Legen, welche Organiſatirn wir ihm geben, melde Com:
petenz ihm zutheilen möchten — das wollen wir hier
lieber nicht verraten; man founte an unferer eigenen
Competenz zweifeln. —
Bas wir mun im bisherigen über bie Kennzeichen
des ſchriftſtelleriſchen Berufes theils ausgeführt, theils
wut angebeutet haben, macht nicht ben Anſpruch, jeben
Anftand zu befeitigen und eine glatte Zöfung einer fdjtoie:
tigen Frage durch eine bequeme Formel zu ver[predjen ;
unfere Bemweismomente haben nicht die Bünbigfeit eines
unantaftbaren fertigen Schlußverfahrens, oder einer, Ziffer
für giffer nachweisbaren, Abrechnung. Die einzelnen
Kriterien, wenn man jedes für fid) nimmt, entfprechen
nur annähernd und fozufagen nur gelegentlich ber von
uns ihnen zugemutheten Aufgabe; fie fóunen unter Um:
fünben gerade in ber Hauptfache unwirkſam bleiben, in
allen Fällen bleiben febr erhebliche Ausnahmen von ber
Regel beftehen.
Allein nun müflen wir uns daran erinnern, baf
bir in die Unterfuhung über die Kennzeichen des ſchrift⸗
Relleriichen Berufes unter bem Eindrud eingetreten find,
daß e8 aus ganz ſchwerwiegenden Gründen einen bejon-
216 Linfenmann,
dern Beruf dafür geben müſſe und baf e8 für bas Wohl
ber menſchlichen Gefellihaft von ganz eminentem Werthe
wäre, wenn bie Unberufenen ausgefchieden werben könn—
ten. Sodann glauben wir, von bem einzelnen bisher
befprodenen Kriterien den Nachweis erbracht zu haben,
daß fie zu unferem Zweck wenigſtens in einer nahen
Beziehung ftehen und daß jedes für fid) [don jedenfalls
in ber Richtung liege, welche e8 geeignet macht, um auf
unfern med Einfluß zu üben. Faſſen wir fie aber in
richtiger Verbindung miteinander, jo erhält je eines ber-
felben feine Verſtärkung burd) das andere; fie erflären
und befeftigen einander gegenfeitig, ja fie können am
rechten Orte ftellvertretend einander erſetzen. Endlich
aber haben wir darauf aufmerkſam gemadt, daß wir
bie Frage mad) einem Berufe für eine fhriftftelerifche
Thätigfeit mur bis auf einen getoiffen Punkt hin nad
ihrer Aehnlichkeit mit anderen Berufsfragen behandeln
Tonnen, baf vielmehr der ganz eigenartige
Charakter diefes Berufes fid aud an
ganzeigentbümliden Symptomen werde
tund geben, dunkel zwar und myſteriös, aber darum
nit weniger real.
4) Es liegt aber das, wornach wir fuchen, im innern
Marke des Schriftſtellerthums felbft, ift ein Glied von
ihm. Das ShriftftellerthHum trägt eine
Gorreftur feiner felbft iu fid; wir met
nen die literarifhe Kritik. In ihr kommt
ein altes und edles Rechtsprincip zur
Geltung, mornad Jeder nur bon Seine
gleiden und Ebenbürtigen geridtet zu
werdenden Anſpruch hat. Wir reihen demnach
Schriftſtelerthum und literariſche Kritif. 217
die Funktion der literariſchen Kritif, das Recenfenten-
thum, unbedenklich unter die Kriterien des fchriftftelleri-
iden Berufes ein; erft dadurch wird, wie toit glauben,
die Kette derfelben richtig geſchloſſen.
Indem τοῖς aber der literarifhen Kritik bieje Aufs
gabe zumeifen, haben wir auf einmal bie ganze hohe
tide Bedeutung derfelben ausgeſprochen unb fühlen
und für bie Folgerungen hieraus vol verantwortlid.
Wir weifen bem Kritiker oder Recenjenten eine wohl be-
tehtigte und verantwortungsvolle Stelle an auf bem
Arbeitsgebiete der Wiffenfhaft und Kunft; tiv erbliden
in ber Kritif nicht etwa ein Paraſitengewächs auf dem
Felde der Gefammtliteratur, nicht ettoa nur den unver
meiblihen Einſchlag von gemeinmenfd)lider Streitluft und
Tadelfuht in bem Gewebe der miflenihaftlihen und
lünflerifdjen Produktion, bie magenbe Weſpe an ber
füßen vollen Frucht, die perjonificitte Scheelſucht gegen-
über dem Talent und der Arbeit; fie ift vielmehr eine
Meifterin von hohem Beruf und Amt, zu urtheilen und
zu richten, Einlaß zu gewähren und auszuſchließen.
Haben wir hiemit angedeutet, was die Kritik nad
ihrem principiellen Rechte leiften Tönnte und folglich aud)
follte, fo ift damit freilich nod) nicht behauptet, daß fie
es aud) thatſächlich überall vermöge und wirklich leifte.
Bir fómmen im Gegenteil zugeben, daß bie Rritif, je
höher, ivealer und ethiſcher wir ihre Aufgabe anfegen,
um fo weiter oft in ber Wirklichkeit hinter derſelben
zurückbleibe. Auch bief ift zunächft aus allgemeinen Er-
fahrungen des Menſchenlebens erklärlich; aber nur wer
felbft der ecclesia militans auf bem Gebiete der Litera-
tur angehört, Kann bie ganze Fülle von Schwierigkeiten
218 Linſenmann, Schriftſtellerthum unb literariſche Kritik.
ermefjen, welche fid) zwiihen dem 9[uftor und bem Ari:
tifer auffbürmen und von denen jede Fiber der Per:
ſönlichleit auf beiden Seiten in Bewegung verfegt wird.
Wären unfere literarifche Verhältniffe durchweg ger
funde oder normale, fo ließen fid) aus bem einzelnen
Erſcheinungen auf dem Gebiete ber geiftigen Produktion
die leitenden Gedanken und Kegeln leiht ableiten, und
εὖ wäre ung leicht, aud) über bie berufsmäßige Aufgabe
der literariſchen Kritik einfadje Wahrheiten aufzuftellen
und aus bem Leben heraus zu illuftriren; die Kritik
wäre eim leidenfhaftslofer Gedankenaustauſch, bei wel-
dem beiderfeit3 ein freunblidje8 Geben unb banfbare8
Empfangen wäre. Die Kritif müßte dann in ben beften
Händen fein, und fie fónnte nie ba8 wahrhaft Gute
bemmen und das entſchieden Unberechtigte gut heißen
und fördern.
So aber, wie bie literavijdjen Verhältniffe in Wirk:
lidfeit find, too bie geiftigem Organismen ebenfo an
ihren Zeitkranfheiten leiden, wie die menſchlichen Körper
an Neroofität und mangelhafter Blutmifhung, mag e8
allerdings zweifelhaft erfcheinen, ob die literarifche Kris
tif aud) mur halbwegs in einer folgen Verfaſſung fid)
befinde, daß man fie fo Dod) ftellen und ihr fo hohe
Aufgaben, wie wir e8 vorhin gethan, zumeifen Fönnen.
Nun wohl, e8 ift wenigftens ein Problem, einer eigenen
Unterſuchung werth! !
(G&tuf folgt.)
2.
Zur Chronologie Tatiau’s. .
Bon Prof. Dr. Zunt.
Früher wurde allgemein angenommen, die Apologie
Tatian’3 [εἰ erft mad) Juſtin's Tod, fomit erft nad) den
Jahren 163—167 entftanden, in welche diefer mad) ben
neueften Berechnungen fält. In jüngfter Zeit wurbe
aber bieje Annahme, da bie eigenen Worte Tatian's
(Orat. c. 19) Juſtin nicht als todt, fondern im Gegen-
theil nod) al8 lebenb erfcheinen laſſen, energifch beftritten
und das Schriftftüd bis gegen bie Mitte des zweiten
Jahıhunderts hin vorgerüdt. Zahn Ὁ) meinte, weil Tatian
ebenfo wie Juſtin be8 Cynikers Crescens gebenfe, fo
tönnten bie Apologien beider Männer ziemlich gleiche
zeitig gefchrieben fein, alfo etiva um 150. E3 würden dann
die 9tadjftellungen, welche Crescens gegen Tatian, den
bereits Bekehrten, alfo Kurz vor Abfaſſung ber Griechen-
tede richtete (Orat. c. 19), mit denjenigen, deren Ziel
Yuftin tar (Apol II c. 3), zeitlih zufammenfallen,
was fer natürlich wäre. Doch fol die Möglichkeit nicht
iu beftreiten fein, daß jene 9tadjftellungen zeitlich aus—
1) Tatian’3 Diatefjaron 1881 S. 274—280.
220 unt,
einander fallen, und jo würden fid) für bie Abfafungs-
zeit die Jahre 150—161 ergeben, da biefe8 Jahr, das
erfte des Lucius Verus als Mitregenten des Kaifers
Mark Aurel, wegen der in der Rebe vorfommenden
Alleinherrſchaft als terminus ad quem zu gelten habe.
Harnad?) glaubte bie Apologie auf 152/3 anfegen zu
follen und er ftügte fi, von ber aus der Erwähnung
des Crescens folgenden zeitlichen Zufammengehörigkeit
der Apologien Tatian’3 und Juftin’3 abgefehen (bie des
legteren werden ober vielmehr wird, ba bie zmei in
Wahrheit nur eine fein follen, παῷ der Chronik be
Eufebius, bezw. Julius Africanus, dem Jahr 152 zus
gewiefen), auf bie Erwähnung des Cynikers Proteus
(Or. c. 25), indem er aus ben lebhaften Farben, mit
denen Tatian desfelben gebenft, fließt, der Apologete
babe befjen Treiben mit eigenen Augen und zwar zu
Rom um 152 gefeben, ba derfelbe um bieje Zeit aus
der Reihshauptftadt ausgewiefen worben fei.
Ich führte kürzlich (€. 161 f.) diefe Chronologie an,
ohne fie weiter zu prüfen. Als id) bald darauf Ge:
legenbeit erhielt, mid) näher mit ihr zu befaffem, fliegen
mir fofort die gewichtigſten Bedenken auf, und fie be
treffen nicht bloß bie bereit früher beftrittene Anficht
über die zweite Apologie Juſtin's als einem bloßen Nach⸗
trag zur erften, fondern aud) die übrige Beweisführung.
Zahn und Harnad betrachten ben Sext der einſchlägigen
Stelle der Tatian’chen Apologie, fo wie er in den Hand:
ſchriften vorliegt, ohne weiteres al unantaftbar und be:
sihtigen Eufebius, der uns einen abweichenden ert
1) Die Ueberlieferung ber chriſtlichen Apologeten des zweiten
Jahrhundert? 1882. ©. 196—213.
Zur Chronologie Tatian’s. 221
überliefert (H. E. IV c. 16), ber Fälſchung. (8. wurde
bereit3 früher bemerkt, daß diefe Beſchuldigung nicht ge-
rechtfertigt ijt. Bei genauerem Nachſehen dürfte fid) der
eufebianifhe Tert fogar als ber beſſere herausftellen.
Unterziehen wir ihn deshalb einer näheren Prüfung.
Indem wir ben Tert nad) ber zweiten Ausgabe
von Otto in ber Weife folgen [affem, daß wir die in
Frage ftehenden Worte mit gefperrter Schrift geben und
bie Lesart des Eufebius in Klammern beifegen, lautet
der in Betracht kommende Sag (Or. c. 19) folgender:
maßen: Κρίσκης οὖν (γοῦν) ὁ ἐννεοττεύσας τῇ μεγάλῃ
πόλει παιδεραστίᾳ μὲν πάντας ὑπερήνεγκεν, φιλαργυρίᾳ
δὲ πάνυ προσεχὴς ἦν. Θανάτου 0) € καταφρονῶν
txazaggoveiy συμβουλείων͵ οὕτως αὐ v ὃν (αὐτός) ἐδεδίει.
τὸν ϑάνατον, ὡς xol ᾿Ιουστῖνον καϑάπερ καὶ ἐμὲ ὡς
(μεγάλῳ) κακῷ τῷ ϑανάτῳ περιβαλεῖν πραγματεύσασϑαι,
διότι κηρύττων τὴν ἀλήϑειαν λίχνους xal ἀπατεῶνας
τοὺς φιλοσόφους συνήλεγχεν (τοὺς φιλ. καὶ dr,
ἐξήλεγχεν). (ὃ handelt fid) aljo, da die erfte Differenz
ebenfo wie bie legte auf fid) beruhen fann, vor allem δα:
vum, ob Tatian καταφρονῶν oder καταφρονεῖν συμβουλεύων
ſchrieb, und e8 ift einzuräumen, daß hier eine Entſchei—
dung [dimer ift. Die Lesart der Handſchriften ift präg-
mantet als der euſebianiſche Tert und fie ſcheint infofern
bie Präfumption der Urfprünglickeit für fid) zu haben.
Aber ba$ καταφρονεῖν συμβουλεύων läßt ben Gegenjag
ziifchen ber Lehre unb dem Verhalten des Cynifers
ftärfer hervortreten. Es findet zudem eine gewifie Be:
ftátigung an dem furg vorausgehenden λέγοντες ϑανάτου
καταφρονεῖν, und dürfte vielleicht infofern den Vorzug
verdienen. Doc [εἰ dem, wie ihm wolle. Bon größe
222 gunt,
rer Bedeutung ift bie Differenz nicht, und eine idet.
heit ift faum zu gewinnen, ba bie Gründe für bie beiden
Lesarten fid) fo ziemlich das Gleichgewicht halten.
Aehnlich verhält e8 fid) mit ber zweiten Stelle.
Beide Lesarten laffen fid) rechtfertigen. Das αὐτόν dient
zur Verſtärkung des Gedanfens, daß e8 gerade der Tod
mar, den Erescens zu verachten lehrte, den er anderer-
feit8 wieder [o fehr fürchtete. Nehmen wir dagegen
αὐτός, jo wird ber Umftand in ein ftärkeres Licht ge:
rüdt, bab derfelbe Mann, ber den Tod verachten
wollte, vor bem Tod Dinmieberum eine fo große Furdt
empfand. Die Entfepeidung ift aud) hier ſchwierig. Dod)
möchte id) mit 9tüdfidjt auf die Stellung das Iavarov
am Anfang des Sages den Handſchriften gegen Eufebius
den Vorzug einräumen.
Anders dagegen dürfte in bem dritten Fall zu ent-
ſcheiden fein. Die Handihriften bieten hier nicht einmal
einen le8baten Tert. Sie enthalten nämlich ble oben
ftehenden Worte felbft nicht. Wir Iefen vielmehr καὶ
ἐμὲ οὕς (ftatt ὡς), und ihr Sert ift fo unmöglid ganz
beizuhalten. Wir miffen ung vielmehr eine Emendation
erlauben, um ihn ertrüglid) zu machen, und biejer Um:
fand dient ihm gewiß nicht zur Empfehlung. Dazu
fommt, daß das μεγάλῳ aus inneren Öründen vor ber
anderen Lesart ganz entſchieden den Borzug verdient.
Der Stadjbrud in dem Gafglieb liegt offenbar auf dem
κακῷ, und bie Voranftellung be8 μεγάλῳ ftellt fid) daher
ebenfo als angemefien dar, als das καϑάπερ καὶ ἐμέ
wie eim überflüfjiges und fchleppendes Einſchiebſel aus:
fiebt. Hier dürfte alfo über ben urfprünglichen Text
Tein ftarfer Zweifel obwalten, unb mit der Sicherheit,
Bur Chronologie Tatian’s. 223
die überhaupt zu gewinnen ift, wird zu Gunften des
Euſebius zu entſcheiden fein. Die Worte, mad) denen
zur Zeit ber Cntjdeibung der Tatian’ihen Apologie
Juftin ποῷ al8 lebend erfceint, Tommen bemmad) in
Begfall.
Synbeffen follen aud) nod) die folgenden Worte des
Schülers für das fortbauernbe Leben des Lehrers geu-
gen. Im unmittelbaren Anſchluß an das oben Ange:
führte fährt námlid) Tatian fort: Τίνας δὲ ἂν καὶ διῶξαι
τῶν φιλοσόφων el um μόνους ὑμᾶς εἴωθεν; und man
betont, daß e8 εἴωϑεν heiße, und nicht εἰώϑει, und daß
εἴωθεν die Bedeutung be8 Präfens, nicht des Präteri-
tums habe. Laffen wir biefe8 zunächft auf fid) beruhen,
fo ift einzuwenden, daß Juſtin gar nidt, wie Zahn
wollte, als Subject in dem Gage zu benfen ift, fondern
vielmehr Erescend. Wäre ber Otto'ſche Tert richtig, fo
würde freilid) jene Annahme zuläffig fein. Aber das
ift fchwerlich anzunehmen. Das Wort, daß bier den
Ausſchlag gibt, das ὑμῖν ftebt allerdings in den Hand:
ſchriften. Allein e8 ift nichts weniger al8 haltbar, und
bie gelebrten Franzofen Gotelier (Eccl. gr. Monum. III,
678) und Maran haben in ihm mit Recht ein Beifpiel
ber häufig in ben Handſchriften vorkommenden Verwechs⸗
lung der zweiten Perſon mit der erften gejehen. Man
braudt, um bie Richtigkeit dieſes Urtheils zu erkennen,
die Stelle wur genauer ins Auge zu faſſen. Ih mill
nicht bie Frage aufwerfen, ob wohl Tatian feinem Lehrer
Öffentlih ein Verfolgen von Perfonen zugefhrieben
haben würde, wenn fid) berjelbe bieje Handlung je hätte
zu Schulden fommen laffen. Die Worte S,atian'8 felbft
zeigen mit aller Beftimmtheit, wer als Verfolger anzu:
224 Sunt,
jeben ift. Bon Juſtin wird wohl bemerkt, daß er, indem
et die Wahrheit verfündigte, die Philofophen der Leder:
baftigfeit und des SBetruge8 überführte. Bon Gre8-
cen aber wird ausgeführt, daß er damit umging, ben
Apologeten dem Henker zu überliefern. Das
διῶξαι kann bei diefem Sachverhalt nur auf den Cyniker
bezogen werden !).
Es it aljo zweifellos ἡμᾶς ftatt ὑμᾶς zu lefen, und
unter dem „wir“ find entweder die Chriften überhaupt
oder, wenn das in Frage ftehende καὶ ἐμέ urſprünglich
fein ſollte, Juſtin und Tatian gu verftehen. Letztere
Auffaſſung legt fid infofeın nahe, als die ἡμεῖς im
Sage einen Theil der Philofophen bilden und Juſtin
und Tatian wirklich Philofophen waren. Daß aber aud)
jene Deutung zuläßig üt, zeigt die Ausführung Tatian’3
in c. 32. 33, wo die Chriften überhaupt al8 Philofophen
erſcheinen. Wie e8 fid) aber damit verhalten mag: bie
Lesart ἡμὸς ijt außer Zweifel, und demgemäß fällt aud)
der aus biejem Sage gezogene Beweis für das [orte
dauernde geben Juſtin's in fid) zufammen.
Freilich fónnte man einwenden, daß Syuftin, wenn er
auch nicht der SBerfolgenbe fei, bod) alà Verfolgter nod)
am Leben geweſen fei müffe, und gegen biefe Argus
1) Higenfeld, der in „Zeitſchr. f. miff. 25." 1888. ©. 38—43
bie Frage nad) ber Entftehungszeit der Tatian'ſchen Apologie eben:
falls einer genaueren Prüfung unterzog, weißt ©. 41 inàbejonbete
darauf Hin, daß ba8 ὑμᾶς, wie ed bod) nach der fraglichen Aufs
faſſung fein folte, gar nicht auf bie Gynifer gehen fann, ba bie
Gynifer vorher gar nicht genannt werden, ert c. 25 burdj die An-
ſpielung ὦ ζηλῶν ἄνθρωπε τὸν κύνα berührt werden, und ba8
ὑμεῖς in der ganzen Schrift Tatian's Lediglich auf die Qellenen
geht.
Bur Chronologie Tatian’s. 225
mentation ift am und für fid) nidjt8 zu erinnern. ber
fie hält wenigftens hier nicht Stand, weil das εἴωϑεν
an unferer Stelle überhaupt feine Präfensbedeutung
haben kann ober, wenn das Wort je nicht anders zu
m deuten wäre, die Form nicht aufrechtzuerhalten fein
wire‘). Man eriväge nur, um fid davon zu über
zeugen, wie Tatian von Crescens durchweg im Präteri—
tum ſpricht, indem er bemerkt, er babe bezüglich ber
Nuabenliebe alle übertroffen (ὑπαρήνεγκεν), ex fei durch-
aus gelbgierig gewefen (ἦν) unb er Habe ben Sob
fo ſehr gefürchtet (ἐδεδίει). So ſpricht man ſchwerlich
von einem Lebenden, e8 müßte denn mur fein, derfelbe
wäre im Laufe der Zeit ein anderer Menſch geworden,
was aber im vorliegenden Fal ſchlechterdings nicht am«
qunehmen ift, und demgemäß mar zur Zeit der Ent
ftehung ber Apologie Tatian’3 aud) Crescens nicht mehr
am eben. Die Herausgeber bet Apologie haben diefen
Sachverhalt wohl gefühlt. Sie überjeten das δἴωϑεν
ebenfo mit Recht mit solebat (nicht solet), al8 der Tadel,
den Zahn über diefe Ueberfegung ausſprach, umgeredjt-
fertigt ift. Nach dem Vorausgehenden ift eine andere
Ueberfegung gar nicht möglich. Fraglich Tann nur fein,
9b die Form δἴωθεν b Io B eine Präfensbedeutung hat
und nicht bisweilen aud) in der Bedeutung des Präteri-
tums vorfommt. Die Frage mögen diejenigen entjchei-
den, bie fid) dazu für Tompetent eradjtem. Für bie bot»
liegende Aufgabe hat fie nicht viel zu bedeuten. Denn
wenn fie je im erfterem Sinne zu eutſcheiden ift, fo ijt
1) Diefen für unfere Frage nicht untvichtigen Punkt hat aud)
Hilgenfeld überfehen, beffen Ausführungen aber im übrigen mit ben
borftehenben in ber Qauptjadje übereinftimmen. B
Kool. Quartalfärift. 1888. Heft IL. 15
226 gunt,
ftatt εἴωθεν eben εἰώϑει zu lejen. Die Emendation ift
fo leidjt zu wagen und zugleich jo unbedingt nothwendig,
daß fie feiner Beanftandung unterliegen Tann.
Mit biejem Ergebniß haben wir endlich einen feften
Anhaltspunkt in unferer Frage gewonnen. Ich erklärte
mid) zwar fchon oben für bie Anficht, daß aud) Juſtin
gut Zeit ber Tatian’ihen Apologie nit mehr unter den
Lebenden gemeilt Habe, unb id) neige mid) biejer An-
fit um fo mehr zu, als aud) bie Worte Tatian’s c. 18:
Kai ὁ ϑαυμασιώτατος Ἰουστῖνος ὀρϑῶς ἐξεφώνησεν
ἐοικέναι τοὺς προειρημένους λῃσταῖς, iof ber Gegen
bemerfungen Harnad’3 auf mich den Giubtud machen,
ber Apologete, werde bur) fie ebenfalls ald tobt vor-
ausgefegt. Aber ἰῷ räume ein, daß, von biejer Stelle
ganz abgejefen, aus bem SBerpültnif der beiden Texte,
des handſchriftlichen und des eujebianijden, eim hin
veichender Beweis nod) nicht zu führen if. So viel
qud) für die Urſprünglichkeit des lepteren Textes ſpricht,
fo if bod) die Möglichkeit nicht zu beftreiten, daß aud
ber erftere au8 der Feder Tatian’3 hervorgegangen fei.
Hier aber bleibt nicht einmal ein folder Zweifel übrig.
Crescens war zur Zeit ber Apologie Tatian’3 unleugbar
todt, und fo ift ba8 fjauptargument nichtig, das Zahn
und Harnad für die zeitliche Zufammengehörigfeit ber
Apologie Tatian’3 mit der (zweiten) Apologie Juſtin's
vorbrachten. Crescens wird wohl in beiden Schriftftüden
erwähnt: Aber in bem einen erfcheint er al8 lebenb,
in dem andern als todt, und bieje Art der Erwähnung
nöthigt uns, bie beiden Schriftftüce nicht zufammenzu:
rüden, fondern auseinanderzuhalten. Das Maß, um
das das fpätere über das frühere herabzurüden ift,
Zur Chronologie Tatian's. 221
bleibt dabei freilich unbeftimunt. Immerhin aber wird
& nicht bloß auf ein paar Jahre zu beichränfen fein,
und jo wirft unfer Ergebniß aud) auf die ältere An-
nahme ein günftiges Licht zurüd, mad) ber Zatian feine
Apologie erft mad) dem Tode feines Lehrers im Chriften-
tum ſchrieb. Iſt diefelbe auch nicht über jeden Zweifel
erhaben, fo darf fie toenigíten8 bie Wahrſcheinlichkeit
für fid in Anſpruch nehmen, unb wenn Juſtin zur Seit
der Apologie feines Schülers je mod) am Leben mar, jo
muß er bod ganz nahe am Ende feiner Tage geweſen
fein. Wir dürfen daher, ba ja ein genaues Datum
ohnehin nicht zu gewinnen ijt, ben Tod Juſtin's bei ber
Beitbeftimmung der Tatian'ſchen Apologie ohne Anftand
als terminus a quo betrachten.
Harnad glaubt bie Schrift nod) aus einem anderen
Grund ziemlich gleichzeitig mit der (zweiten) Apologie
Juſtin's entftehen laſſen zu follen. Er meint, daß Tatian
um 152 ba8 Xreiben be8 Gonifer8 Proteus in Rom
gejehen haben müffe. Allein diefe Annahme ift durchaus
wilfürlih. Ein Mann, der fo viel auf Reifen war wie
Tatian, konnte bem Cyniker aud) anderswo αἵδ᾽ in Rom
and zu einer anderen Beit al8 um 152 begegnen, und
Zahn verzichtete mit Recht darauf, bieje8 Moment zu
einer [o knappen Zeitbeftimmung zu benügen. Ya e8
befteht nicht einmal ein Dinreidjenber Grund zu der An-
nahme, daß Proteus zur Zeit der 9[pologie mod am
Leben geweſen, bieje aljo jedenfalls vor 165 entftanden
fei. Tatian konnte allerbing8 c. 3 und 19 aud) des
Todes bieje8 Gpnifer8 gedenken. Da er aber in era:
Tüt und Anararchus ſchon bedeutende Nepräfentanten
eines auffallenden Todes, bezw. philoſophiſchen Gelbft-
15*
228 gunt,
mordes batte, founte er Proteus ganz wohl auf fid
beruhen laſſen, und fo bietet ung bie Nichterwähnung dieſes
Mannes an den fraglichen Stellen lediglich feinen Stüg-
punkt zu näheren hronologiihen Schlüffen. Webrigens
mag, mem e8 beliebt, mit Zahn immerhin fo viel feft:
halten, daß ber Tod des Proteus, wenn bereit erfolgt,
von Tatian hätte erwähnt werden müſſen. Die Sache
wird baburd) nicht wefentlich geändert. Jener Tod er«
folgte 166. Juſtin's Tod füllt in die Jahre 163—167.
Die beiden Annahmen, daß Proteus zur Zeit ber Tatian’-
ſchen Apologie nod) gelebt habe, Juſtin aber bereits ge-
ftorben geweſen fei, ſchließen fid) aljo keineswegs aua.
Der Tod Yuftin’3 hat aljo bei bet Zeitbeftimmung
ber Apologie Tatian’3 a[8 terminus a quo zu gelten.
Der terminus ad quem Tann aber jenem Zeitpunkt nicht
gar ferne liegen. Da Tatian von den Alten?) als
Schüler Juſtin's bezeichnet wird, fo muß er nod zu
deſſen Lebzeiten das Chriftentbum angenommen haben
ober wenigſtens in nähere Beziehungen zu demſelben
getreten fein. Diefer Webertritt Tann aber nicht allzu
lange vor Juftin’3 Tod erfolgt fein. Denn bie Apologie
Tourbe, wie allgemein angenommen wird, bald nad der
Belehrung geldyrieben; fie ſollte ja zum Theil zur Recht⸗
fertigung derfelben dienen. Zwiſchen Apologie unb Be—
kehrung liegt alfo mur ein Heiner Zeitraum, und ba in
diefen der Tod Juſtin's fält, fo ijt diefe in die [egtem
Lebenstage Juſtin's zu verlegen, jene der nächſten Zeit
nad bejjem Tod gugutpeifen.
Verhält e8 fid) fo, jo kann Tatian gerade in der
1) Iren. Adv. haer. I c. 28, 1 ed. Stieren.
Bur Chronologie Tatian’s. 229
Bett, in die παῷ ben fiherften Berechnungen ber Tod
Juſtin's fält, in ben Jahren 163—167 ebenfowohl das
Chriſtenthum angenommen als feine Apologie geldyrieben
haben, und ba tir jenen Tod nit näher beftimmen
linnen, fo dürfte e8 am angemefienften fein, gerade bei
bien Zahlen aud) für Tatian ftebem zu bleiben. Bon
einer Geburt um 110, wie Zahn fie behauptet und
Hamad fie annehmen muß, wenn er ba8 Datum aud
nijt ausdrücklich angibt, fann hienach feine Rede mehr
fein. Tatian erſcheint in ber Apologie wohl als reifer,
zugleich aber aud) nod) als junger Mann, und wir haben
den Verfaſſer der Schrift etwa al8 einen angehenden
Bierziger zu benfem. Er ift demgemäß ſchwerlich oot
120, vielleidjt erft um 125 geboren. Gbenjo ijt bei bie-
fem Sachverhalt ein allzu langer Aufenthalt in Rom
παῷ ber Belehrung nicht anzunehmen. Nach Epiphanius
(8. 46 c. 1) febrt Tatian nah bem Tode Juſtin's in
den Drient gurüd und fällt bort der Qürefie anheim,
und die Wahrſcheinlichkeit Spricht dafür, daß er jenen
Schritt bald nad bem Hingang feines Lehrers that,
wenn er zuvor auch nod) bie Apologie fchrieb. Die
Gründung einer Sefte erfolgte nad) demſelben Gewährs—
mann um da3 12. Jahr des ft. Antoninus Pius. Diefes
Datum Tann ziar nicht richtig fein. €8 widerfpricht ſelbſt
der meiteren Angabe be8 Epiphanius, mad) der Tatian
«ft nad) dem Tode Juſtin's im den Orient gurüdge-
lt iſt. Doch ift e8 nicht ganz werthlos. (8 beruht
wohl auf einer Verwechslung des f. Antoninus Pius
mit Mark Aurel, da das Auftreten Tatiau's als Häre—
iier in ber Chronik des EufebiussHieronymus bem 12.
Jahre diefes Kaifers oder dem Jahre 172 gugemiejem
230 Funk,
wird‘). Die Angabe darf in Ieterer Form als glaub⸗
wilrdig gelten. Da aber Tatian wahrſcheinlich nicht
unmittelbar πα feiner Ankunft im Drient eine Sekte
ftiftete; ba er wohl einige Seit fid) bemühte, feine Son=
derlehren innerhalb der Kirche zur Geltung zu bringen,
fo ift feine Abreife von Rom etwas früher, etwa auf
170 anzufegen. So viel dürfte fid) mit der Sicherheit
behaupten laſſen, die bier überhaupt zu gewinnen ift.
Wie lange aber Tatian nad) feinem Ausscheiden au8 ber
Kirche nod lebte, darüber wird uns von ben Alten
lediglich nidjt8 mitgeteilt. Wir können uns [omit über
die Zeit feines Todes nur in allgemeinen Bermuthungen
ergehen, und ba fid) diefes Vergnügen jeder ohne größere
Mühe felbft erlauben fann, fo verzichten wir hier auf
dasfelbe. Nur das ift nod) zu bemerken, daß ber Tod
wahrſcheinlich da erfolgte, wo mir Tatian zulekt ans
treffen, b. i. im Orient. Dieſes wurde zwar von Qat-
nad beftritten und behauptet: die 9tüdfebr Tatian’ in
die Heimath habe allerdings bafb mad) feiner (um 150
erfolgten) Bekehrung ftattgefunden; aber fpäter (um 165)
habe fid) derjelbe wieder nad) Rom gewendet, fei hier um
172 wegen feiner Irrlehre aus der Kirche ausgeſchieden
worden und wahrſcheinlich bis zu feinem Tode dafelbft
verblieben. Allein der zweite Aufenthalt in Rom ift nur
haltbar, wenn Tatian ſchon um 150 zum Chriftentbum
übertrat, und ba'bieje8 zweifellos nicht der Fall mar,
fo ift er hinfällig. Er miderfpriht aud) bem Bericht
1) Die Gage findet fij aud) im Chron. pasch, I, 486 ed.
Bonn., jofern bier bie Tatian'ſche Härefie unter bem Jahre 171
fteht, und fie darf deshalb für eujebianijd) gelten, wenn fie auch in
ber armeniſchen Weberfegung fehlt.
Zur Chronologie Tatian's. 231
be3 Epiphantus, und bevor Harnad für feine Behaup⸗
tung, daß bdiefer auf einer bloßen Gonftruction berufe,
Glauben beanspruchen Tann, wird er vor allem feine
eigene Conftruction beffer begründen müffen. —
Das zweite Werk, das dem Namen Zatian'8 eine
größere Berühmtheit verfhaffte, δα Diateffaron,
blieb bisher ganz unberüdfihtigt. Seine Abfaflungszeit
Tann überhaupt nicht näher beftimmt werden, fondern
εὖ Tann fid) bei ihm bloß darum handeln, ob e ber
latfolijd)en oder ber häretifhen Periode des Verfaſſers
angehört. Auf Grund des einfchlägigen Berichtes von
Theodoret, welcher (Haer. fab. I c. 20) nidjt bloß er⸗
wähnt, daß Tatian bie Genealogien und alles Andere
toeggelafjen habe, was den Herrn al3 aus dem Samen
Davids mad) dem Fleiſche geboren erſcheinen laſſe (ὅσα
&x σπέρματος Δαβὶδ κατὰ σάρκα γεγεννημένον τὸν κύριον
debovow),jondern aud) von τῆς συνθήκης καχουργία ſpricht,
wurde bisher ba8 Leßtere angenommen. Durch Zahn's
Forſchungen wurde aber bie Anfiht in Frage geftellt.
Das Urtheil Theodoret’3 ward geradezu für bornirt er⸗
Hört. Bon einem häretiſchen Geifte, der in ber Ginfled)-
tung apokrypher und ber Sonderanfiht des Compilators
günftiger Zufäge ober in ber Ausmerzung Heiner ober
großer Stüde, welche der häretiſchen Auffaffung unbequem
waren, oder endlich in einer Umformung ber ebangeli-
ſchen Texte fid) zeigen fünnte, wodurch bieje eine bet
widerkirchlichen Anfiht günftigere Geftalt erhielten, [εἰ
in dem Werk nad) den gefammelten Fragmenten nichts
zu verfpüren. Die Befeitigung der Genealogien fei
nit eine antifatbolijde, fondern hyperkatholiſche That,
ba fie für Tatian’3 Anſchauung bedeutungslos gemejen
232 Bunt,
und von den Häretifern (Epiph. H. 30 c. 14; 51 ο. θ)
dazu gebraucht worden feien, die bloße Joſephsſohnſchaft
Sefu zu beweiſen). Harnad ftimmte zu, und daß bie
Zahn'ſche Auffaffung möglicherweiſe richtig ifl, werden
alle zugeben müſſen. Schon die große Verbreitung, die
ba8 Diateffaron audj in ber katholiſchen Kirche in Sy—
tien fand, beweist bie hinlänglih. Daß die Auffafiung
aber unbedingt richtig [εἰ und das Diateffaron von dem
Häretifer Tation gar nicht herrühren könne, ift meines
Erachtens nod) nicht bemiejen. Es läßt fid ja bod
wohl benfem, daß Tatian aud) mad) feinem Austritt aus
ber Kirche fo viel heilige Scheu vor den ſchriftlichen
Urkunden der chriſtlichen Religion bewahrte, daß er fij
an bem Inhalt derjelben, von den befannten Auslaf-
fungen abgefehen, nicht weiter zu vergreifen wagte, wenn
er demſelben aud) eine eigentbümlide freie Bufammen-
ftellung gab. Daß feine apokryphen Zufäge gemadt
würden, hätte gar nicht betont werben follen. Tatiau
wollte ja laut bem Titel feines Werkes in diefem gar
nichts Anderes bringen, als was in bem vier Evange
* lien ftebt. Man fónnte nur jagen, baf er als Häretiker
fid) diefe Schranke gar nicht auferlegt haben würde, m.
a. 98. ein Diateffaron gar nicht hätte verfaflen fónuen.
Diefe Behauptung wird aber wohl ſchwerlich gewagt
werden. Sie würde im weſentlichen auf eine bloße
petitio principii binauslaufen. Zudem dürften mad
den Nachweiſen Hilgenfeld’3?) die Genealogien bod)
nicht fo gar umfonft ausgelaffen und die ſpätere Au—⸗
1) Zatian’8 Diatefjaron €. 263—207.
2) Zeitſchrift f. mij. Theol. 1883. ©. 122 j.
Bur Chronologie Tatiand, — ^ 233
ſchauung Tatian's von ber Ehe nit fo gar verborgen
fein, als man mad) den Behauptungen Zahn’3 glauben
könnte. Es bleibt aljo die Möglichkeit nieht ausgeſchloſſen,
daß atiam das Diateflaron nad) feinem Bruch mit der
Kirche zufammenftellte, und die Möglichkeit wird zu einer
gewiſſen Wahrſcheinlichkeit, ſobald man in Erwägung
sieht, daß der Aufenthalt des Mannes in der firdje
nit, wie Garnad will, fid) auf zwei Decennien erftredte
ober gar, wie Zahn 1) annimmt, gar nicht aufhörte, ſon—
dern mur etwa fünf Jahre dauerte.
1) Tatian’3 Diateffaron €. 284 jf.
3.
Die Lehre von der Auferftehung des Fleiſches, nah
1 or. 15, 13—53.
Bon Joſebh Holl, Pfarrer und t. Difr.-Schulinfpektor in Hopferau
bei Züffen, Bayern.
908 ber b. Paulus vor dem hohen Rathe in eru
falem ftand, ba rief er aus: „Männer, Brüder! ἰῷ bin
ein Pharifäer, wegen der Hoffnung ber Auferftehung ber
Todten werde ich gerichtet” ?). Darüber entftand ein
Streit zwifchen den Pharifäern unb Sadduzäern; „denn
die Sadduzäer fagen, e8 fei feine Auferftehung, weder
Engel noch Geift, bie Pharifäer aber bekennen beides“ °).
In ber That hätte ber b. Paulus bie Gegenfäge beider
SBarteien nicht ſchärfer bezeichnen fónnen. Durch heib:
nijde Ginffüffe, namentlich bie epikuräiſche Philoſophie,
irregeleitet, vertoatfen bie Sadduzäer fogat bie Unfterb:
lidjfeit ber Seele; natürlih mußten fie mod) vielmehr
die 9fuferftebung läugnen, wie au8 den Evangelien be:
Tannt. ift ®).
Dagegen gehörte nicht bloß bie Unflerblichfeit ber
1) Aps. 28, 6.
2) Apg. 23, 8.
8) Matth. 22, 28, Mark. 12, 18, Sui. 20, 27.
J. Hol, die Lehre von der Auferftehung bes Fleiſches. 285
Seele, wofür fid) [don bei Mofes Anhaltspunkte genug
finden Ὁ, fondern aud) die Auferftehung des Fleiſches
zu den Hauptlehren des alten Bundes. Beides ift ſtets
in den engſten Zufammenhang gebracht, wie an vielen
Stellen ber 5. Schrift ausgeſprochen ift. Belannt find
die Worte Jobs: „Denn id) weiß, daß mein Erlöſer
lebt, und id) werde am jüngiten Tage Ji^) von ber
Erde auferjteben und werde umgeben werden mit meiner
Haut und in meinem Fleifhe werde ἰῷ meinen Gott
ſchauen“ ?). Ebenfo lautet die Verheißung Daniels:
„Pie Menge derer, bie im Staube ber Grbe ſchlafen,
werden aufwachen; einige zum ewigen Leben, einige zur
Schmach, um fie ewig zu fhauen“°). Und bie makka—
bäifhe Mutter und ihre Söhne ließen mit bem Belennt:
niß ber Auferftehung auf den Lippen fid) hinrichten *).
Daher fonnte Chriſtus ben Sadduzäern mit Recht be:
merken: „Ihr kennet meber die Schrift mod) bie Kraft
Gottes" 5).
In der That bot ſchon die Lehre, daß die fihtbare
Welt vom wahren höchſten Gotte (nidt einem Demiur-
gen) geſchaffen und der Leib des Menfhen von Gott
felbft gebildet wurde, fomie das ganze moſaiſche Geſetz
eine paffenbe Unterlage zu dem in Iſrael ) allgemeinen
Auferftehungsglauben und ein heilfames Gegengift gegen
einen zur Läugnung verleitenden Spiritualismus.
Daher ift aud) ber mit ber Meffiashoffnung zus
1) Haneberg, telig. Alterthiimer, 2. Aufl. ©. 195.
2) Job, 19, 25. 26.
8) Dan. 12, 2.
4) 2 Macc. 7, 9. 14. 15.
5) Matth. 22, 29.
6) 3l. Joh. 11, 24.
236 Joſeph Gott,
Tammenbángenbe Auferftehungsglaube ben gläubigen Su:
ben in fpäterer Zeit verblieben und in ba8 von Jai
monides verfaßte, nod) jebt in den jübtidjen Gebetbüchern
enthaltene Glaubensbefenntniß übergegangen. Hier lautet
nämlih ber 13. Artikel: „Die Todten wird Gott be:
leben nah ber Fülle feines Erbarmend. Gepriefen fei
in alle Ewigfeit ſein lobwürdiger Name“ 1).
Dagegen fand das Evangelium unter den Heiden
wenig Auhaltspunkte für den Auferftehungsglauben:
eher bei den öftlihen Völkern in Afien?), weniger im
Abendlande bei Griehen und Römern. Hier treffen wir
wohl das Gefühl von der Fortdauer der Seele und von
ber Verantwortlichkeit nadj bem Tode, aber wenig von
einer Auferftehung. Die viel verbreitete SBorftellung der
Pythagoräer und Platoniker, als fei der Leib nur der
Kerker der Seele und deren Austritt aus ihm ber Ein
gang zur wahren Freiheit und Geligfeit, war direkt
gegen bie Auferftehungslehre?), So finden wir e8 be
greiflih, warum ber b. Paulus mit ber Auferftehungs:
lere foviel Anftoß fand. Zu Athen wurde er verladt‘)
und in allen feinen Briefen an Griechen, in Korinth,
Philippi, Teffalonifa muß er auf biefe Lehre bejonders
hinweiſen ). Die τινὲς ἐν ὑμῖν zu Korinth, melde bie
Auferftehung lüugnenb, bieje8 metfmürbige 15. Kapitel
veranlagt haben, mögen wohl in ähnlichen Vorurtheilen
1) Haneberg, I. c. S. 117.
2) Dölinger, Heidenthum und Judenthum €. 380.
8) Auch die Cffüer und Samariter follen dieſelbe geläugnet
haben.
4) Upg. 17, 32.
5) Tertull. de resurr. carnis cap. 39.
Die Lehre von bet Auferſtehung des Fleiſches. 287
befangene Heidenchriften geweſen fein, welche burd) etwa
zu grob⸗ſinnliche Vorftellungen der Juden nod) gereizt
wurden.
Indem ber Apoſtel dieſe Läugner widerlegt, ver⸗
ἤιει er auf bie von Apologeten gegen Heiden und
Häretifer au8 der Idee bea Menſchen !), feiner Stellung
im Univerfum, der Würde des menfchlichen, Seibe8 und
feinem Zufammenhang mit der Seele oder von ber Ge-
rechtigleit und Allmacht Gottes Dergenommenen Beweiſe.
Sein Verfahren iſt viel einfacher, er ſtellt ſich mitten in
das Evangelium hinein und beleuchtet von da aus, wie
dasſelbe in feinem fern eine Auferſtehungslehre fei.
Bon ber Thatfache ber Auferftehung Jeſu Chrifti aus—
gehend, beweist er als notwendige Folge bie Aufer-
ſtehung Aller in Chrifto und corrigirt zugleich zu rob.
ſinnliche Vorftellungen, indem er das Unverwesliche und
Geiftige be8 Auferftehungsleibes darlegt und daraus
Folgerungen zieht für das Schickſal derer, melde bie
2. Ankunft des Herrn erleben werden. Diefe 3 Punkte
wollen wir genauer befpredjen.
I Bnfammenhang der allgemeinen Auferftelyung der Gobten mit
der Auferfteung Seu Chriſti und mit der Erlöſung.
Ueber diefen Punkt lehrt der Apoftel 3 Stüde:
1. Auferftehung Chrifti und allgemeine Auferftehung
— beides fteht und fällt miteinander, V. 12—20.
1) Sehr ſchön fagt 3. 8. Zertullian: „Weber bie Seele für
fid allein ift der Menfch, nod) auch der Leib ohne bie Seele. Das
Vort Menſch ijt gleichfam ber Ritt für bie 2 verbundenen Gub»
Ramgen" 1. 6. cap. 40.
238 Joſeph Hol,
2. Chriſtus ift im Gegenfage zu Adam ber Stamm:
vater eines neuen Geſchlechts; daher feine Auferftehungs-
natur folgerichtig auf feine Jünger übergeht, V. 20—22.
3. Die allgemeine Ueberwindung be8 Todes und
allgemeine Anferftehung ift, madbem fie in Chriftus
prinzipiell vollbracht wurde, geradezu Zweck und Endziel
der ganzen Erlöfung, (8. 23—28.)
Ad 1. Nachdem ber Apoftel erzählt hat, daß er
zu Korinth unter den Kauptpunften (ἐν πρώτοις) beu
erlöfenden Tod Ehrifti und feine Auferftehung geprebigt
babe und nachdem er bie Beweiſe für bie Auferftehung
Chriſti fury in's Gedächtniß zurüdgerufen — bie Er:
ſcheinung an Kephas, die Eilfen, 500 Brüder, Jakobus,
ipn felbft — fährt er weiter: „Wenn aber Chriſtus gepre-
biget wird al8 ber, [o von den Todten auferftanden ift,
tie fagen einige unter eudj, e8 fei Feine Auferftehung von
ben Todten? Wenn eine Auferftehung der Todten nicht
ift fo ift aud) Chriftus nicht auferftanden“. Sofort
führt ber Apoftel die Folgerungen an, bie dies mad)
fi) zöge:
Predigt und Glaube find eitel (14),
bie Apoftel find Lügner und Verbrecher (15),
dann gibt e8 feine Sündenvergebung (17),
bie in Chriſto Entſchlafenen find verloren (18),
bie Lebenden, bie auf Chriftus hoffen, elender als
alle Menihen (19).
Dan fieht, bier fagt ber Apoftel, wie von andern
Lehren des Evangeliums, fo befonders von ber &obten-
erftehung, daß fie mit ber Auferftehung Jeſu ftehe und
falle. Stande Ausleger meinen, ber Apoftel habe hier
den Beweis vom Aehnlichen (Induftionsverfahren) ges
Die Lehre von ber Auferftehung des Fleiſches. 289
braucht, wie etwa: bie Seele be Petrus ift unfterblid,
daher find alle Seelen unfterblih. Dieſe Auslegung ift
offenbar faljd. Der Schluß vom Individuum aufs
Allgemeine fonnte am allerwenigften bei Chriftus an:
geben, ba eine ihm al3 dem Würdigſten gewährte Aus-
zeihnung nicht ohne Weiteres auf alle übertragen wer:
den fonnte. Der Gedanke des Apoſtels bewegt fid)
vielmehr im einfachften Syllogismus. Seine Gegner
ftellen den Sag auf: Resurrectio mortuorum non est:
Eine Todtenerftehung gibt e8 nicht, ift nicht möglich, ift
ein Unding. Mochten fie nun bieje8 Urtheil auf Er-
fahrungs: oder fpefulative Gründe zu fügen fuden, in
jebem Fall traf diefes allgemeine Urtheil aud) bie Auf-
erftehung Jeſu. Aus dem Mittelfag: Chriſtus ift aud)
geftorben und begraben worden, folgt von felbft, aljo
ift aud) Chriftus nicht auferftanden. Der Gedanke des
Apoftels ijt ähnlih, wie man aus der Behauptung:
Wunder find unmöglich, die Heilung des Blingeborenen
ober Erwedung ber Lazarus oder ein anderes Wunder
der Bibel, ala unmahr ableitet.
Der Apoftel will den Eorinthifchen Läugnern be:
greiffid) machen, daß e8 nicht angehe, in Weisheitsdünkel
aus bem Evangelium eine ber gewöhnlichen Erfahrung
entgegenlaufende Lehre mie bie Todtenerftehung heraus:
zureißen und zu läugnen. Er mill zeigen, daß biefe
Läugnung, wie fie aus dem unerlösten Qeibentbum
ftammt, das ganze Heil in Chrifto nieberreiBe und in's
Heidenthum troſtlos zurüdführe. Merkwürbig hiebei ijt,
daß fid) der Apoftel ein glüdliches Leben der Seele im
Syenfeit8 ohne Auferftehung gar nicht benfen Tann, ſogar
deren Fortdauer [djeint ibm ohne Auferftehung undenk⸗
240 Joſeph Hol,
bar!) Jedenfalls müßte fie ohne Günbembergebung
verworfen werden, und fónnte fie, bie zum Leibe gehört
und mad) befien Vereinigung ftrebt, ohne dieſe Hoffnung
und beren einftige Erfüllung nit wahrhaft glüdlid)
fein. Diefe Anſchauung entfpricht durchaus der h. Schrift.
So liegt alfo dem Apoftel in der Auferftehung des
Herrn die Vollendung und Befiegelung des ganzen Er:
lüfungstoerfe8. „So wenig eine öffentliche Urkunde ohne
Siegel Kraft unb Geltung anſprechen Tann, fo wenig
würde alles Lebens- und Leidensverbienft Chrifti für
uns ohne die nachfolgende Auferftehung Nuten ober auf
unfern Glauben Anſpruch haben" ?). Erft in der Auf
erftehung zeigt fid) die Thatſächlichkeit der Erlöfung,
weil bie Wegnahme der Sünde und deren fühlbarfter
Folge, des Todes, damit bewieſen ifi. Daher bauten
bie Apoftel als Augenzeugen der Auferftehung auf dieſe
Thatſache das ganze Chriſtenthum ®).
Die firde gibt diefer hohen Bedeutung ber Auf:
erftehung Chrifti flet baburd) Ausdruck, baf fie das
Dfterfeft als das höchſte aller Fefte feiert und ba fie
an jedem Sonntage bie wöchentliche Nachfeier ber Auf:
erftehung begeht. Deshalb ift e8 eine wichtige Aufgabe
für den GSeelforger, in Predigt und Katecheſe auf dieſe
Grundthatſache gehörig aufmerffam zu machen und auf
ihren Zufammenhang mit allen Wahrheiten des Glaubens,
namentlich bie allgemeine Auferftehung, hinzuweiſen. Wie
bet Apoftel den die Möglichkeit bezweifelnden Grüblern
die große Thatſache und Wirklichkeit entgegengeftellt hat,
1) 8. 19 vgl. 8. 32.
2) Dr. Seifenberger Abhandlung über dieſes Kapitel ©. 55.
8) 8. 9. Apg. 2, 24. 8, 15 x.
Die Lehre von der Auferftehung bed Fleiſches. 241
fo follen wir namentlich beim apologetiichen Verfahren
ſtets diefe Methode Gottes und feiner Zeugen handhaben!
Ad 2. Der Mpoftel fährt in Vers 20 meiter:
„Nun ift aber Chriftus erftanden von den Todten —
ber Erftling der Entfchlafenen; denn da burd) einen
SRenjden der Tod ift, fo aud) burd) einen Menſchen
Auferftehung der Todten; denn wie in Adam alle fter:
ben, jo werden aud) in Ehrifto alle belebt werden“. Hier
nimmt ber Apoftel das Faktum ber Auferftehung Jeſu
als bewieſen an und zeigt bem tiefern realen Zuſammen⸗
hang zwiſchen ber Auferftehung Jefu und der allgemeinen.
Er fließt von der Perfon Chrifti auf das Allgemeine,
aber nicht indem er Chriftus blos als Glied der menſch⸗
lien Geſellſchaft auffaßt, jonberm indem er Chriftus
als Stammvater ber Kriftlihen Menſchheit im Gegen-
fage zu Adam darftelt. Wie biejer Stammvater des
alten fündigen Geſchlechts ift, jo Chriftus der Stamm:
vater eines neuen fündelofen. Kinder aber tragen natut-
gemäß das Gepräge ihres Vaters am fid. Als Kinder
Adams haben mir alle bie Sünde, den vermesliden,
ſchwachen Leib und theilen alle den Tod. Als Kinder
Chrifti haben wir aus bem Glauben Heiligkeit und
Gerechtigkeit und zugleih das Unterpfand eines unver
weslichen geiftigen Auferftehungsleibes. Wie Sünde und
Tod eine Erbſchaft find, [o aud) Rechtfertigung und
Auferftehung. Der Zufammenhang beruht alfo bier auf
bem fog. myſtiſchen Leibe Chrifti, deflen Lehre der Apoftel
jo gern zur Grumblage feiner Erörterungen macht.
(Std) einen Geift find mir alle zu einem Leibe getauft,
fuedte ober Freie?)... Ihr feid der Leib Chrifti und
1 Cor. 12, 18.
Ses. Quarialſchrift. 1889. Heft IT. 16
242 doſeph Holt,
Glieder unter einander“ Ὁ — fo ruft ber Apoftel beu
gleichen Korinthern zu. „Gott hat ihn zum Haupte über
bie ganze Kirche gelebt, melde fein Leib iſt“?). AS
Miterben und Miteinverleibte find wir aud) Mitgenoflen
feiner Auferftehung®). . . Chriftus iff das Haupt bes
Seibe8 ber Kirche, et ift ber Anfang und Erfigeborene
aus den Sobten: wir find durch bie Taufe mit ihm
begraben und dur) ben Glauben an bie Macht Gottes
ber ihn von ben Todten aufetmedt hat, aud) auferftan-
den" *). Auf diefen für das chriſtliche Bewußtſein fo
wichtigen Zufammenhang zwifchen Chriftus und ben Sei-
nigen baut der Apoftel aud) bie allgemeine Auferftehung.
Indem er Chriftus den „Erftling ber Entſchlafe—
nen“ 5) nennt, fpielt er auf die altteftamentlichen Grft-
lingBopfet an®). Dadurch, daß Chriftus als ber Grfte
nad Zeit und Würde bezeichnet wird, if aud) ber Zu—
fammenhang mit Nachfolgern in ber Auferftehung an«
gedeutet. Cum primitiae referantur ad ea, quorum
primitiae sunt, consequitur et alios mortuos e terra
surrecturos esse"). Wie bie Erſtlingsfrucht ber Crnte
bie Ernte überhaupt anhebt, fo involvirt dieſe Bezeidh-
nung von felbft die nachfolgende Auferftehung der Uebri—
gen?) In ber Auferftehung Chrifti ijt aud) die Weihe
zur Auferſtehung ber andern gegeben; denn, „wenn ber
1) 1 Cor. 12, 27.
2) Eph. 1, 22.
3) Eph. 3, 6.
4) Gol. 1, 18.
5) Apg. 26, 28, Gol. 1, 18.
6) Rum. 15. Deuteron. 26.
7) Estius ad huno locum.
8) Djf. 1, δ.
Die Lehre von ber Auferftehung bes Fleiſches. 248
Erftling beilig ift, fo ift e8 aud) bie Maffe und wenn
die Wurzel heilig ift, fo find es aud) die Aeſte“ ?).
Ferner hat der Apoftel hier ein befonderes Interefle,
darauf hinzuweiſen, baf ber Tod von einem SRenjden
verſchuldet ift und daß er, vom erflen Stammvater ans
bebend, fid) in feinen 9tadfommenu al8 Sündenitrafe
auswirkt. Diefer im Nömerbrief?) weiter ausgeführte
Gedanke dient dazu, um darzulegen, daß der Tod nicht
etwas von Gott Gemwolltes und Erſchaffenes jei — ſonſt
hätte man einwenden können: menn Gott eine bleibende
Verbindung von Seele und Leib beabfidtigt, warum
bat er den Tod überhaupt erſchaffen? — Danıı will
ber 5. Paulus dadurch, daß er die Urſache und Aus:
dehnung des Uebels angibt, darlegen, mas der von Gott
gelandte Heiland als 2. Stammbvater zu leiften hat: fo
„erden aud) in Chrifto alle lebendig gemadjt werden“.
An und für fid) fteht die Stelle nicht entgegen, fie aud)
auf die Böfen zu beziehen. Doc zeigt ber folgende
SBer8 und ber Tenor be8 ganzen Kapitels, baf ber
Apoftel zunähft die Geredjten im Auge gehabt Habe.
In Chrifto werden die Gläubigen auferftehen, b. i in
feiner Gemeinjdjaft, ala Glieder feines Leibes, durch bie
Taufe in fein Geſchlecht eingefügt, duch das heiligfte
Altarsfaframent von ihm genährt. — Es leuchtet von
felbft ein, wie wichtig es ift, daß ber Seelforger nament-
lid bei ber Gnaden- und Saframentenlehre auf dieſen
Zufammenhang aufmerkfam made. Eine febr geiftreihe
zum Theil überſchwängliche Betrachtung enthält Deu:
tinger3 Johannes-Evangelium IL ©. 121 ff.
1) 5m. 11, 16.
2) Röm. 5, 12. B
16*
244 Joſeph Hol,
Ad 3. Den Verlauf diefer Auferftehungsvermitt-
lung durch Chriftus befereibt nun der Apoftel in groß:
artigen Zügen: „Ein jeder aber in feiner Ordnung; ber
Erftling ift Chriftus: fodann bie, welche Chrifto ange:
bören bei feiner Ankunft '); dann ift das Ende, wenn
er das Reich Gott (und) dem Vater übergeben und jede
Herrſchaft, Macht und Gewalt vernichtet hat... . . ber
legte Feind, der vernichtet wird, ift der Tod... Wenn
ihm alles unterworfen fein wird, dann wird fih auf
der Sohn jelbft dem unterwerfen, der ihm alles unter:
worfen bat, damit Gott fei Alles in Allem“ ?).
Mit diefen Worten bringt der Apoftel feine Dar:
legung des Zufammenhanges ber Auferftehung Chriſti
mit ber allgemeinen Auferftehung und dem Weltende
zum Abſchluß. Chriftus als der Erftling ift bereits be:
lebt worden; in ihm ift ber Tod bereits überwunden.
Einen herrlihen, unverweglichen, ftarfen Auferftehungs:
leib hat er angenommen. So ἐξ er im Himmel und
übt zur Rechten des Vaters feine meſſianiſche Herrſchaft
(Reknum) aus. Bermöge berfelben ſucht er alle in ber
Belt gottentfremdeten und feindfeligen Mächte zu vet
nidten. Solange bieje8 wicht gelungen ift ), dauert bie
gegenwärtige Weltperiobe 9. Wenn e8 aber gejdjefen
fein wird, dann kommt das Ende ber jepigen Dinge
(finis). Der Herr wird beim Aufgebot, bei ber Stimme
de3 Erzengel3 und bei der Pofaune Gottes vom Himmel
berabfteigen 5) (parusia), Mit feinem Erſcheinen wird
1) Vulg. bie an feine Ankunft glaubten. —
2) ἐν πᾶσιν als Neutr. gefaßt.
3) τὸ χατέχον.
4) 2 Thefl. 2, 6.
5) 1 Teff. 4, 15.
Die Lehre von ber Auferftehung des Fleiſches. 245
verbunden fein, baf diejenigen, bie ibm angehören, wenn
fie entſchlafen find, belebt werben, wenn fie mod) Leben,
eine Umwandlung erfahren. SDabutd) wird ber Tod
als legte feindliche Macht vernichtet werden. Es ift
das Ende, toeldjem die ganze Entwidlung des Reiches
Gottes entgegenftrebt und fid) entgegenfehnt, erreicht, bie
Feinde find burd) das Gericht fämmtlihe zum Schemel
der Füße gemacht. Die irdifhe Kirche ift mit ber himm⸗
liſchen völlig Eins geworden. Das Königthum Chrifti,
fofern e8 in ber Unterwerfung des Böfen und Aufhebung
der Folgen der Sünde beftand, wird aufhören. Sofern
wird er alfo das Reich, welches er bisher zur Ehre des
Later? und mad) jeinem Willen geführt hat, dem Bater
übergeben und fid) ihm unterwerfen. So wird dann
Gott der Dreieinige Alles in Allem fein. „AS Meufh
wird Chriſtus eins mit den Seligen, deren Haupt er ift,
an beffen Leibe fie die Glieder find, dem Vater unter
worfen, al8 göttliher Logos aber bem Vater wejend-
fiij fein. So wird die Herrlichfeit der Geligen bie
ihres Hauptes fein und die Herrlichkeit Chrifti wird bie
feines Vaters fein; in ihm wohnend fraft feiner ewigen
Geburt vom Vater wird fie feiner menſchlichen Natur
und burd) fie den ihm einverleibten Geligen fid) mit-
teilen, und fo wird Gott in jedem Wefen ohne Bes
ſhränkung ober Erlöfchen der Individualität Alles fein
— Mes burd) bie mun einzig auf ihn gerichteten, burd)
ihn gefättigten beiden Grunbfrüfte des Menſchen, Vers
ſtand und Wille — Alles aud) burd) bie felbft bie Sei
ber burdjleudjtenbe göttliche Glorie“ ").
1) Dölinger, Chriſtenthum und fire. 1. Aufl. ©. 269.
246 Joſeph Hol,
So ftelt ber Apoftel ben Läugnern dev Auferftehung
neben den gähnenden Abgrund des Todes und ber Trof-
lofigfeit bem hohen Berg des Reiches Gottes !), darauf
das himmlische Jerufalem ftebt, wie e8 ber Auferftehungs-
glaube erbaut. Die Auferftehung Chrifti macht er zum
Ausgangspunkt einer Bewegung, melde erft ihren Ab:
ſchluß findet, wenn Gott „Alles in Alem“ ift; er macht
fie zum Grundftein, auf welchem das Reich Gottes auf
gebaut ift; er madt fie zum Samenkorn, aus welchem
fij ber große Baum be8 Lebens entjaltet. — Resurgendo
Christus vitam reparavit und zwar das Leben im vollen
Sinne, ba8 Leben der Gnade, das Leben ber Aufer:
ftehung, ba8 Leben der Verjöhnung be8 Univerfums und
der PBalingenefie der Schöpfung?). Die korinthiſchen
Süugner ftellt ber b. Paulus vor die Wahl, ob fie das
ganze Gbriftentfum mit feiner herrlichen Hoffnung feft:
halten, oder mit der Auferftehungsläugnung Alles ver-
lieren wollten.
Faßt man diefen Zufammenhang in'8 Auge, bann
findet man e8 begreiflih, warum ber Apoftel, deſſen
Leben in Chriſtus und in der feligen Erlöfungshoffnung
aufgegangen ift?), von ber Auferftehung ber Böfen und
ihrem Schickſale nichts erwähnt; er mollte eben fein
Kompendium ber gejammten Eschatologie ſchreiben. Man
findet e8 aber aud) unbegreiflih, wie mande Erklärer
feft jedes Wort werdrehen mochten, um mas nicht darin
ftebt bineinzubringen. Weder eine pantheiftifche 4) Welt:
1) Off. 21, 10.
2) App. 3, 21.
8) Phil. 1, 21.
4) Tub. theol. Quartalſchrift 1876. ©. 79.
Die Lehre von ber Auferftehung des Fleiſches. 247
anfauung, nod) eine originiftiihe Apofataftafig noch
einen mehr oder weniger feinen Chiliasmus ) wollte er
lehren, bod) Tann man all bieje8 und πο mehr in den
großartig angelegten Entwurf des Apoſtels hineinzeich—
en, wenn man nämlich mit einiger Kunftfertigfeit ver
führt und diefe Stelle aus dem Zufammenhang und der
Bibel überhaupt herausreißt! —
NB. Set ἢ. Thomas?) bemerkt, von dem Grunde
ber Auferftehung handelnd, Chriftus felbft habe feiner
menſchlichen Natur nah alle Gnade zuerft von Gott
erhalten, bie Menſchen erhalten fie durch Vermittlung
der Menſchheit Chriſti. Sofern ift Gott bie prima et
quasi aequivoca causa; bie Auferftehung Chriſti ift
bie proxima et quasi univoca causa. Divina virtus me-
diante Christo ad similitudinem resurrectionis Christi
faciet nostram resurrectionem. Das Werkzeug ift der
Wille Chrifti, feine Stimme; bie Trompete bezeichnet ben
Befehl, das Signal des großen Feldheren. Sofern bie
Seele mit der Gubftang be8 Leibes wieder verbunden
wird, ij e8 das Werk Gottes; bei der Ummandlung ber
Körperwelt tritt dazu ber Dienft der Engel, —
lL Möglicjkeit der allgemeinen Auſerſtehung und Beſchaffenheit
des Auferſtehungsleibes.
Nachdem der Apoftel nod) weitere Beweiſe für bie
Auferftehung angeführt hat — nämlich die Taufe für
die Verftorbenen und die vielen Gefahren des Apoftel-
1) Dr. Geijenbesget 1. o. 76.
2) 8. theol. Suppl. qu. 76.
248 Sofeph Hol,
amtes, welche nur ber Auferftehungsglaube erträglich
madt — nachdem er nod) vor den verderblichen fittlichen
Folgen ber Läugnung gewarnt hat; — handelt er von
bem Wie ber Auferftehung. Damit will er bie Läugner
vollends zum Schweigen bringen, ba es ftet8 bie Eigen-
thümlichfeit der Ungläubigen ift, das zu läugnen, wovon
fie das Wie nicht einfehen. „Aber ed wird Jemand
jagen, wie werden bie Todten ertoedt, mit welcherlei
Leib fommen fie zum Vorſchein?“ — Der Apoftel fept
bier vielleidt Emmendungen voraus, wie fie von trivialen
Gemeinvorftellungen gegen die Auferftehung ftet3 erhoben
wurden: ber ewige Fluß der hemifchen Uxftoffe in der
organiſchen Welt; daß ber im Grabe vermobernbe Leid:
nam Pflanzen unb Thieren zur Nahrung diene, die fpäter
wieder andern Menſchen materielle Stoffe zuführen, zu
geſchweigen von Anthropophagen u. dgl. Vielleicht bad
ten mande, iie Tertullian die Gegner fagen Yäßt:
„Natürlih e8 geben die Flammen, bie Wogen, bic
Wänfte ber wilden Thiere, bie Kröpfe der Vögel und
die falbaunen ber Fiſche ba8 verzehrte Fleiſch wieder
ber“ '). Darauf ſcheint wenigftend ber jdjarfe Ausruf:
O stulte zu deuten. Seine Tendenz geht jedenfalls ba:
bin, roh⸗ſinnliche SSorftellungen zu befämpfen und zu
zeigen, daß e8 fid) nicht um eine einfache Wiederbelebung
des Körpers, ſondern um eine Tod und SBermejung völlig
dberminbenbe Umgeftaltung des Leibes handle. Der
Apoftel beantwortet bie vom ihm gedachte ober wirklich
erhobene Frageeinwendung, indem er:
1. Das Wie ber Auferftehung an verfchiebenen
Gleichniſſen aus der Natur erörtert (®. 86—42).
1) Tertull. 1. c. cap. 4, fiberj. v. Kellner IL, 232.
Die Lehre von ber Auferftehung des Fleiſches. 249
2, Die beftimmten Eigenihaften bezeichnet, worin
fih der Auferftehungsleib vom jegigen unterfcheibet.
(8. 42—49.)
Ad 1. Da wir uns über die Weife ber Aufer:
Refung und die Beichaffenheit ber zufünftigen Leiber
kine adäquate Vorftellung machen können, fo liegt e8
nahe, die Möglichkeit burd) Analogien aus bem Natur:
leben zu begründen. Das tfut aud) der Apoftel. Das
von bem Herrn jelbft gebrauchte Gleichniß aus bem
Mlanzenreiche wendet er an, indem er fagt: „Du Thor,
mad du fäeft, wird nicht belebt, wenn e8 nicht zuvor
fibt. Und was bu aud) jáeft, jo ſäeſt du nicht ben
Leib, meldet werben fol, fondern bloßes Korn, etta
Baizen oder einen ber übrigen Samen. Gott aber gibt
ihm einen Körper, tie cr mill und einer jeden Samen:
art ihren befondern Körper”. Auf bieje8 Bild legt der
Moftel ein befonderes Gewicht mie man fieht, ba er
aud unten in demfelben fortfährt: Gefäet wird ein
verweglicher Leib ac.
Wohl gibt e3 für bie Auferftehung andere Bilder:
Das Abbrechen des irdifhen Wohnhaufes und das Auf:
bauen eines neuen, das Ablegen eines Gewandes und
Belleidung mit einem herrlicheren'), das Hinfterben des
Tages und fein Wiedererftehen am Morgen, der Wechfel
der Jahreszeiten, des Mondes, das Neuaufleben ber
Bäume im Frühling, die Sage vom Vogel Phönir 5),
die Entwidlung des Schmetterlinge. Doc ſcheint das
Gleihnig von dem Samenforn das pafjenbfte, weil e8
ba8 Andersfein be8 neuen Körpers und ben innigen
D2Co.5,1f. Joh. 2, 19.
2) Tert. 1. c. cap. 12.
250 Joſeph Gott,
Zufammenhang mit bem alten in gleicher Weile aus:
brüdt. Daher ijt aud) von daher der Name „Önttes:
ader" fo ſchön gewählt.
Die BVergleihungspuntte, welche der Apoftel her⸗
aushebt find 3: a) Beim Samenkorn ift ba8 Sterben
und Vermefen fein Hinderniß, fondern gerade bie Be—
bingung für dag Neuaufleben. So (ergibt fi) ift auf
beim Menſchen das Sterben und Verweſen der Weg zur
Auferftehung. Ὁ) Beim Gamenforn ift das, was aufs
gebt, verihieden von bem, was gefäet wird, fo ift aud)
ber Auferftehungsleib anders al8 der ins Grab gelegte.
€) Dem Samenkorn, das in die Erde gelegt wird,. gibt
Gott einen Leib, wie er will und zwar jeder Samenart
ihren befondern; fo ift aud) der Auferftehungsleib nad
dem Willen Gottes geftaltet und jedem Menſchen ange-
mefjen. Durch legtern Gedanken deutet der Apoftel nicht
bloß an, daß Gott in ber Natur fortwährend wirkfam
ift und eine Entwicklung der Natur ohne Gott midt
eriftirt, fondern aud, δαβ aus bem Samenkorn bes
begrabenen Leibe ein mannigfaltiger Aufer
ftehunggleib entfteht.
Diefen Gedanken führt er weiter aus in Folgen
dem: „Nicht alles Fleiſch ift basjelbe Fleiſch, ſondern
ein anderes ijf ba8 ber Menſchen, ein anderes ba8 bet
vierfüßigen Thiere, ein anderes ba8 bet Vögel, ein
anderes ba8 bet Fiſche. So gibt e8 himmlische Körper
und irbijde Körper, aber ein anderer ijt der Glanz bet
himmliſchen Körper und ein anderer ber der trdifchen.
Anders ifi ber Glanz der Sonne, anberà ber Glanz beà
Mondes, anders der Glanz der Sterne; denn ein Stern
unterjheidet fid) von dem andern an Glanz. So ver
. Die Lehre von ber Auferftehung des Fleiſches. 251
hält e fih aud) mit der Auferftehung ber Todten“. —
Indem ber Apoftel hier eine [oldje Reihe von Körpern
anführt, indem er das Pflanzenteih, bie thierifhen Or—
ganiàmen, bie Grbfüórper und Geftirne burdjgebt und
bei jedem Einzelnen bemerkt, daß er anders jei al8 der
andere, hat offenbar fein Gedanke den Zweck, darzulegen,
daß der Auferftehungsleib nicht mothwendig die Eigen—
ſchaften des jegigen habe und ihm nicht vollfommen
glei) fein müfle. Wenn e8 bie verſchiedenſten Organis-
men in Bezug auf Eigenfchaften und Arten gibt, bie
einen höher und prächtiger al8 die andern, fo kann und
darf angenommen werben, baB die Kraft Gottes aud)
den Auferftehungsleib anders, als den gegenwärtigen
bilden faun. Mit Recht hat man von jeher audj bemerkt,
daß ber Apoftel hier andeute, Jeder werde einen feinen
Berdienften angemefjenen Auferftehunggleib erhalten. Und
wenn man unter der Sonne Chriftus, unter bem Monde
die fide (oder Maria), unter ben Sternen den Samen
Abrahams (ober den übrigen himmlifhen Hof) ver:
Randen bat), fo war das jedenfalls eine fdóne Anz
wendung. —
Man hat zum Theil im Anflug an biefe Gleich
niffe des D. Paulus, theils aus anderen Prämiffen
Schlüſſe gezogen, im wie weit ber Verweſungsleib das
Subftrat zum Auferftehunggleibe fei, und in tie weit
zwiſchen beiden Identität beftehe. Zur Beleuchtung der
folgenden Lehre über bie Beichaffenheit ber Auferfteh:
ungsleiber wollen wir die Meinungen von 3 hierin her⸗
torragenben Theologen furg anführen: Tertullian, Ori—
genes, b. Thomas.
1) Teri. 1, c. cap. 52.
252 Joſeph Hol,
Tertullian fagt, e8 gehe [dm aus ber Analogie
des Samens hervor *), daß fein anderer Leib lebendig
wird, ala eben ber, welcher geftorben ift. . .. „Niemals
bricht, wenn Waizen gejäet wird, Gerfte hervor... .
„Gott gibt ihm einen Leib, wie er will“ — fidet, bod)
eben dem Korn, wovon er fagt, daß e3 (πα!) gejüet
murde. Alfo ift aud) das gefidjert, „dem Gott einen
Körper zu geben vorhat“. .. Bleibe alfo bem Gleichniſſe
treu und halte e8 al3 Spiegel für das Fleiſch feft, in-
bem bu glaubft, daß eben dasfelbe Frucht bringen wird,
e3 felber, wenn aud) vervollftändiget, nicht ein anderes,
wenn aud) in anderer Weile zurückkehrt“. Alle feine
Beweiſe für bie Auferftehung zielen auf diefe Identität
ab; der Leib, melden der Menjch jegt trägt, ift von ber
Hand Gottes erſchaffen und baburd) geadelt, wie bet
olympifche Zeus nicht durch das Elfenbein, fondern die
Künftlerhand des Phidias ?); ber Leib, den wir jegt tra
gen, ift ber Angelpunft des Heils (caro est salutis
cardo); denn ber Leib wird abgemajden, damit bie
Seele von ihren Fleden rein werde 2c.°), Dem Leibe,
den wir jet haben, gehören alle guten und böfen Werke
gemeinjdjaftlid) mit der Seele an‘), Aus folden Be
Toeijem und dem Auferftehungsleibe Chrifti zieht er den
Schluß, daß der Auferftehungsleib mit dem gegenmärtigen
nidt bloß-identifch fei, fondern, daß er alle einzelnen
Drgane mur mit andern Zwecken und Verrihtungen
1) L. c. cap. 52.
2) Cap. 6.
3) Cap. 8.
4) Cap. 15.
Die Lehre von ber Auferftehuug des Fleiſches. 253
von Törperlihen Gebrechen und Unfällen befreit im vere
Härter Geftalt an fidj haben werde !).
Biel ſpiritualiſtiſcher ift bie Lehre des ibealifirenben
Drigened. Vom Gleihniß be8 GCamenforn8 hebt er
das Andersfein hervor. Er jagt: „Wir behaupten nicht,
daß bie frühere Beichaffenheit wieder zurüdfehre, ebenfo
wenig, al ba8 verfaulte Samenkorn wieder zu einem
Korn wird. Wie vielmehr aus dem Korn ein Halm
wird, [o ift aud) dem Leibe irgend eine Kraft eigen,
welche nicht wermodert, fondern bewirkt, daß der Leib
in Unvergänglichkeit erſteht“. Diefe Kraft, die Subftanz
des Körpers, ein den Pflanzenäderchen ähnlicher Bil—
dungstrieb, das über dem Stoffwechſel erhabene Seins:
und Lebensprincip be8 menjdjlidjen Leibes wird von
Tod und Verwefung nicht berührt; Fleiſch und Blut
lejren unabfonderbar in die Elemente zurüd, mie wenn
man eine Maß Milh oder Wein ind Meer fchüttet.
Crflere8 wird als urfprünglicher Anfag zur Auferftehung
am jüngften Tage auf Gottes Geheiß in einer geiftig
ätherifchen Timfleibung erftehen. Dieſer Auferftehungs-
körper theilt mit dem jegigen nicht: Fleifh und Bein,
Gefihtsbildung, Glieberbau, und Bebürfniffe; ev bat
nijt mehr die Dichtigkeit des Fleiſches, das Flüſſigſein
de3 Blutes, die Stärke ber Nerven, bie Geflechte ber
Adern, die Härte ber Knochen. Er wird nicht mehr mit
Füßen wandeln, mit Augen fehen, mit Ohren hören,
mit Händen arbeiten, fondern ganz eben, hören, arbei—
ten, wandeln. Den feinen Luftlörpern ber Engel
ähnlich, wird in ihm kein Unterfhied mad) Alter und
1) 8. fatfolif. Jahrgang 1860. €. 299 ἢ.
254 doſeph Hol,
Gejdfedt, fondern mut mad) dem Tugendgrade be—
fteben ?).
Beſſer ift bie vom Dogma geforderte Identität
beim b. Thomas gewahrt. Diefer ift, geftüßt auf baa
Ariom: anima est forma corporis, vor allem der Mei—
nung entgegen, daß ber menfchlihe Leib mad) bem Tode
in einer unfiditbaren Monas forterifiirem merbe?) Es
bleiben nur bie materiellen Elemente übrig, welche eine
natürlide Inklination zur Seele, mit bet fie verbunden
waren, nit haben. Aus biefem Weberreften (cineres)
wird ber Auferftehunggfeib gebildet; denn ejusdem est
surgere et cadere, Dies folgert der b. Thomas [don
aus dem Worte „Auferftehung“ °), weil es fonft bie
Annahme eines neuen Leibes wäre. Der Auferftandene
ift mumeri[d der gleiche Menſch, weſentlich die gleiche
Seele und ber gleiche Leib *). Ja es ift fogar wahr:
ſcheinlich, daß fid) die tvefentlidjen und organischen Theile
be8 Auferftehungsleibed bilden aus den bezüglichen
Theilen ber Weberbleibfel®). Der 5. Thomas meint
nämlich, der Leib werde auferftehen mit allen Gliebern,
Haare und Nägel 5) nicht ausgeſchloſſen, aud) den flüffi-
gen Theilen ſammt allem was »de veritate humanae
naturae« ift"). In Bezug auf diefen ſchwankenden Be-
geiff meint er, daß ber Auferftandene von ber im be-
fländigem Fluß mwechfelnden Materie nur foviel aufs
1) Frei nadj Dr. Kraus, Regensburger Ctubienprogramm 1859.
2) In B. theol. Suppl. qu. 78, III.
3) qu. 79, I.
4) qu. 79, II.
5) qu. 79, III.
6) qu. 80, II.
7) qu. 80, III.
Die Lehre von bet Auferftehung des Fleiſches. 255
nehme, als zur Bildung des Auferftehungsleibes paßt.
Im übrigen findet er e8 angemeflen, daß alle Menſchen
in Zugendfrifche, in der Mitte zwiſchen Cutmidlung und
Verfall auferftehen, und daß (normale) Natur und ge
ſhlechtliche Verſchiedenheit bleiben ").
Die Lehre der Kirche hat neben ber Univerfalität
be Auferftehung und der Verſchiedenheit zwiſchen ben
frberm der Guten und Böfen fpeziell über diefen Punkt
mr ausgefprodhen: Omnes cum suis propriis resurgent
torporibus, quae nune gestant, ut recipiant secundum
opera sua sive bona fuerint sive mala. Conc. Lat. IV ?).
Daß bie Verſchiedenheit der Geſchlechter bleibt, ift ge-
möhnliche theologifhe Annahme). In neuefter Zeit
dagegen Döllinger Gfriftentbum und Kirche. I. Aufl.
€. 266. Neuere Theorien über die Identitätsfrage
enthält P. Leo feel, die jenfeitige Welt IIT, 229—237,
deſſen Buch über Fegfener Hölle und Himmel febr viel
brauchbares Material für Seelforger enthält.
Ad 2. Kehren wir nad) diefer Digreflion zur Lehre
des 5. Paulus zurüd. Diefer baut feine ganze Dar-
legung auf bie Identität, wenn er fie audj nicht au8-
brüd(id) hervorhebt. Ohne Fragen zu beantworten,
tede mehr ber Neugierde als ber Erbauung dienen,
gibt er 4 Eigenfchaften an, welche die bleibende Ver—
herrlichung ber auferftanbenen Leiber bilden. Er fagt:
»Gejüet wird er (der Leib) in Verweſung, auferftehen
in Unverweslichkeit; gefäet wird er im Unehre, aufets
ftehen wird er in Herrlichkeit (Glanz); gefäet wird er
1) L. c. qu. 78-81.
2) Denzinger, Enchiridion No. 956.
3) Jungmann tract. de novissimis pag. 216.
256 Joſeph Hol,
in Schwachheit, auferftehen wird er in Kraft; gejüet
wird ein thieriſcher (pſychiſcher, animaliſcher, ſeeliſcher)
Leib, auferſtehen wird ein geiſtiger Leib. Man ſieht,
daß der Apoſtel auf das Bild vom Samenkorn in dem
4 mal wiederholten σπείρεται zurückgreift; ſowie daß
er in 4fadem Gegenfag ben Unterſchied zwiſchen bem
jebigen und Auferftehungsleib durchführt.
a. Verweſung (Verweslichkeit) — Unverweslichkeit.
Die Verweslichkeit des jetzigen Leibes zeigt fij
ſchon in den vielen Leiden, Krankheiten und Unfällen,
welchen er ausgeſetzt ift, ein ganzes Heer von Kranl:
beiten, wovon fein Alter, Fein Stand, fein Glied des
eibe8 ausgenommen ift?) Darin zeigt fid) bie Un:
ordnung, die Auflehnung der Materie gegen den Geift,
wovon bie gänzliche Löfung des Bandes im Tode mur
bie legte Erſcheinung ift »in rebus corruptibilibus forma
non perfecte dominatur supra materiam«?). Daher fagt
ein finniger Schriftfteler: Unfer Leben ift eim Leichen:
zug, wo jeder auf eigenen Füßen feinem Grabe zugeht;
nur bie paar legten Schritte noch wird er getragen“).
Sofern man das: „Gefäet wird, ins Grab gelegt wird“,
bejonber8 betont, ift zunächft bie Verwefung des Leid:
nams, die Auflöfung in feine Elemente gemeint. Dieſes
nun, Verweslichkeit und Hinfälligkeit, ift am Auferftehungs:
leibe wieder befeitigt, wie e8 vor der Sünde nicht ge:
weſen ift. Auch ifi diefer nicht mehr bem Leiden aus:
geſetzt. Beides verfteht man gewöhnlich unter Umper:
weglickeit und faßt e8 in das Wort impassibilitas
1) Man bene an Job cap. 18 und 14.
2) S. Theol. 1. c. qu. 82, 1.
3) Alban Stolz.
Die Lehre von ber Auferftehung be3 Fleiſches. 257
zuſammen. Die 9. Schrift fagt uns dasſelbe in den
Borten: „Gott wird abwiſchen alle Thränen von ihren
Augen; ber Tod wird nicht mehr fein, mod) Trauer, mod)
Mage, nod) Schmerz wird mehr fein“ !). Die Poefie
ſhildert unà biefe Eigenihaft unter bem Bilde emiger
Jugendfrifhe und Lebenskraft. Als deren Urſache be:
zihnet der Ὁ. Thomas, daß dann bet Leib vollftünbig
der Seele unb bieje Gott unterworfen ift und er findet
in ber Fortdauer der Sinnesthätigkeit fein. Hinderniß ?).
b. Unehre — Herrlichkeit (Glanz).
Diefe Unehre ift hier natürlich zunächft ein phyfi-
ſcher Begriff, die Folge ber Verweslichkeit. Man mag
dabei gunüdjft an das Häßliche und ab[djredenbe Aus—
ſehen des tobtem Leibes, an deſſen widrige Farbe und
Geruch denken; dann an das Entftellende von Leiden
und Krankheiten, dann an bie niedern Bebürfniffe und
Bufünbe, ba8 Erdartige be8 jegigen Leibes, lauter
Dinge, worin ber jepige Leib ba Geprüge ber Sünden-
ſchmach trägt. Dem mum ift entgegen die Herrlichkeit,
die Dora bet Auferftehung. (δ ift der Lichtglanz, mel:
der von ber Seele, bie nun in Gott weilt, und feine
Anfgauung genießt, aud) auf den Leib übergeht (quae
daritas a gloria animae in corpus redundabit ὅ). „Es
wird ber fürperlidye Grundftoff durch Mitteilung himm⸗
liſcher Herrlichkeit verfeinert und verklärt, wie ein ſolches
der Beftimmung und ben Bedingungen des Lebens in
einer höhern Weltorbnung unb verherrlihten Umgebung
1) of. 21, 4.
2) L. c. qu. 82, 1.
3) 8. Theol. 1, c. qu. 85, I.
Sie. Quarialſqrift. 1885. Heft II. 17
258 Joſeph Hol,
angemefien ift!) Es ift ein Bug bet h. Schrift, Gott,
das Göttliche, Wahrheit und Tugend, unter dem Bilde
bes Lichtes darzuftellen; e8 find bie Engelserſcheinungen
gewöhnlih mit Lichtglang begleitet); wir leſen von
Mofes, im Leben der Heiligen?) von einem geheimniß-
vollen $idte, in bem fie feudjteten: im höchſten Maße
nun nad Graben unterjchieden — wird ein folder Lit:
glanz ben Auferftehungsleib durchftrahlen. „Man wird
nicht mehr bebürfen des Lichtes der Comme; Gott der
Here wird fie erleudjtem *). Das Vorbild diefer Ber:
Härung ift Chriftus auf Sabor; er felbft jagt von ben
Gerechten: „Sie werden leuchten, tie die Sonne im
Steide ihres Vaters“. Im Phil.Brief wiederholt ber
h. Paulus, „Chriftus wird den Leib unferer Niedrigkeit
umgeftalten, auf daß er gleichgeftaltet [εἰ dem Leibe
feiner Herrlichkeit“ ). Die kürzefte Darftellung dieſes
Gegenfages ift Eece homo — neben bem Auferftehungs:
Chriſtus.
e. Schwachheit — Kraft.
Die Schwäche drückt ſich aus in dem Unvermögen,
ber Verweſung Widerſtand zu leiſten; bamm πο mehr
in bet völligen Ohnmacht des in's Grab geſenkten Leibes.
Man Tann aud) denken an bie vielen Schwächezuftände
und deren Neußerung im den Bebürfniffen von Nahrung,
Schlaf, in der ſchweren Beweglichkeit. Dem fteht mm
entgegen bie Kraft, welche folder Unterftügung nicht
1) Dollinger 1. c. ©. 266.
2) 3. 88. Sut. 2, 9.
3) Biele Beifpiele bei Reel, ©. 259 ff.
4) Of. 22, 5.
5) Phil. 8, 21.
Die Lehre von ber Auferftehung be8 Fleiſches. 259
mehr bebarf, Stärke der Sinne, namentlich Beweglichkeit
nad dem Willen des Geiftes. Der b. Thomas nennt
bie bezügliche Eigenſchaft agilitas und leitet fie ab von
der Unterwerfung unter bie verherrlihte Seele. „Für
die SBereitmilligfeit, mit bet fij bie Seligen hier auf
Erden ber göttlichen Herrſchaft unterwarfen, finden fie
in ihrem Leibe biefelbe SBereitmoilligteit, fid) der Herr-
ſchaft der Seele gm unterwerfen. — 8 wird die Kraft
der Seele butd) bie enge Verbindung mit Gott und bie
Theilnahme an feiner Macht unglaublich erhöht und
fo theilt ber Wille in feiner Vollendung dem Körper
jede beliebige Bewegung mit aller nur denkbaren Schnellig-
keit mit“ ). „Die auf den Herrn hoffen, erneuern ihre
Kraft, heben die Schwingen mie die Adler, fie laufen
und werben nicht müde, fie gehen und werden nicht
matt“ 3).
d. Der thierifche Leib — ber geiftige.
Die Schwierigkeit, melde bie Auslegung diefer Bes
zeichnung und der fid daran reihenden SBerje bietet, zeigt
fi fhon darin, daß man das σῶμα ψυχικόν im beutz
ſchen nicht adäquat geben Tann, daher man e8 verſchieden
überfegt: thiertich °), ſeeliſch *), manche laſſen den Vul—
gata-Ausdrud animalif 5), mande den griedijden
pſychiſch. Gemeint ift unter ψυχή das ben irdiſchen Leib
befeelende und belebende Princip, wodurch derjelde wahr:
nimmt, fühlt, empfindet. In biefem Sinne. hat aud) das
1) Wilmers Lehrbuch. 2. Aufl. IT. 961.
2) 3j. 40, 31.
8) zumeift, aud) Allioli.
4) Bißping, Seiſenberger.
5) Döllinger.
17*
200 Joſeph Hol,
Thier eine Pſyche. Es ift das febr. δ, jenes Prin⸗
cip, welches fid) bem Körper wie ein Gewand webt und
burd) denfelben auf die Außenwelt wirkt. Diejes gab
dem aus Lehm Gebildeten Leben, e8 herrſchte nad) der
Sünde faſt ausſchließlich und ftammt in uns Mlen vom
1. Adam ber. Dagegen ift Pneuma das höhere un
mittelbar von Gott fommenbe Princip, welches das
höhere Leben, bie CrfenntuiB und Liebe Gottes vermit:
telt. Es wird uns verliehen durch Chriftus, den novis-
simus Adam. Wie fid) nun bie Pſyche ihren Leib bildet,
fo wird fih aud) das Preuma fein Gewand bilden, ben
Auferftehungsleib; das ift unter dem geiftigen Leibe zu-
nächft gemeint. Durch bem erftern find wir irdiſch wie
Adam, butd) ben legteren werden wir himmliſch, erfterer
wird gefäet, ins Grab gefenft, diefer wird auferftehen.
Darnach ergibt fi von felbft das SBerftünbniB der mei-
teren Verſe: „Wenn e8 einen thieriichen Leib gibt, fo
gibt e8 aud) einen geiftigen, wie geſchrieben ftebt: ber
erfte Adam ward zur lebenden Seele — ber legte Adam
zum lebendig madenben Geifte. Das Geiftige aber ift
nicht das Erfte, fondern das Thierifche, dann das Geiftige.
Der erfte Menſch aus Erde ift irdiſch, der zweite Menſch
vom Himmel ift himmliſch. Wie ber Irdiſche, jo auf
die Irdiſchen, und wie ber Himmliſche, fo aud) die Himm-
lichen. Gleichwie wir aljo das Bild des Irdiſchen ges
tragen haben, fo follen ?) wir aud) das Bild des imm:
liſchen tragen". Es leudjtet vor Allem ein, daß unter
dem geiftigen Leibe nicht ein in Geift verwandelter Leib
gemeint ift — fo daß feine Subſtanz eine andere ge:
1) Shaft zu φορέσομεν und φορέσωμεν.
Die Lehre von ber Auferftehung des Fleiſches. 261
worden wäre, fondern ein folder, der vom Geifte aus
den Elementen des pſychiſchen gebildet, dem Geifte an-
gemeffen ift und ihm als Organ dienen wird, wie das
Fleiſch jet der Pſyche. Deshalb wird der Leib nicht
aufhören ein materielle8 Weſen zu fein, wenn aud) das
Grobftoffliche, das ber Thätigkeit der Seele Dinberlid)
if, abgeftreift fein wird, „Hineingetaudt in ben Strom
be göttlichen Lebens und der göttli—hen Liebe wird ber
Geift gottähnlich, der Leib geiftähnlic. Wie der Geift
duch die Gnade und Glorie hinausgehoben wird über
die Grenzen alles Menſchlichen und Greatürlihen zur
Aehnlichkeit und Vereinigung mit Gott, jo giebt er aud)
den Leib mit hinauf in eine höhere Dafeinzftufe, wo bie
natürl. Eigenſchaften ber Materie ſchwinden, das Dunkle
Licht, das Verwesliche unverweslich und Teidensunfähig,
das Materielle ätheriſch, δα Schwere behend wird ?).
Auch in dieſem Stücke iſt der Auferſtehungsleib des
Hertn das Vorbild; denn von ihm wird Beides erzählt,
ſowohl daß er „Fleiſch und Bein ?)" Hatte, αἴ aud) daß
tt bei verſchloſſenen Thüren gefommen und fo ber Herr
plöglich in der Mitte ber Jünger geftanden fei ®).
Die Schultheologie nennt diefe Geiftigfeit dos sub-
tilitatis und verbindet damit namentlid) bie Fähigkeit,
jen Gegenftand ohne Mühe zu durchdringen, wie jegt
bon fein materieller Gegenftand unferm Gedanken ein
undurchdringliches Hinderniß wird.
Wie bem Apoſtel fol aud) ung bet Auferftehungs-
leib des Herrn als Vorbild in diefer Lehre vor Augen
1) €» Hettinger, Apologie II. ©. 358.
2) Zul. 24, 39.
3) Joh 20, 19. 26.
262 Joſeph Hol,
ſchweben, denn hierin ift wie bie Thatſache fo aud) bie
Art und Weile ber Auferftehung begründet. Wie bet
b. Paulus roh⸗ſinnliche Vorftellungen befämpfend neben
Gleichniſſen mur bie weientlihen Eigenihaften des Auf:
erftehungsleibes mitteilt, fo fol aud) der Geelfotget
mit Weglaffung der Schulmeinungen biefe Lehre behan-
deln und namentlih bei Einfhärfung gewiſſer ſittlicher
Tugenden von diefer bogmatijdjem Grundlage ausgehen,
mehr als dies gewöhnlich gefchieht.
1II. Kehre des Apoftels Über das Schickſal jener, welche die
weite Ankunft Sefu Chriſti erleben.
Was ber hl. Paulus hierüber im fraglichen Capitel
lehrt, ift eigentlich in einem einzigen Worte enthalten,
πᾶπι ὦ) ἀλλαγησόμεϑα 1) = immutabimur, toit werden
verändert, verwandelt werden. Ueber das Wann und
Wie fanm 1 Theſſ. 4 unb 2. Cor. 5 zur Beleuchtung
dienen.
Seine Grunbanjdauung über ben Auferftehungsleib
faßt ber Apoftel fchließlih in die Sentenz zufammen,
melde er aud) zum Ausgangspunkt für das Folgende
madt: „das aber fage ἰῷ, Brüder, daß Fleiſch unb Blut
das Reich Gottes nicht erben können, nod) aud) wird dad
Verwesliche die Unverweslichkeit erben“. Da bieje Sen:
ieng von ben Gegnern ber Auferftehung des Fleiihes
als Hauptwaffe und Parole gebraucht wurde, jo wird
fie von den Kirchenlehrern eingehend behandelt. Sertul-
liam bezeichnet fie als „Fleiſch und Blut feiner ganzen
Unterfuhung“ und behandelt fie in 4 Kapiteln ?), Er
1) Fut. 2 pass. von ἀλλάσσω von ber Wurzel ἄλλος.
2) cap. 48—51. .
Die Lehre von ber Auferſtehung des Fleiſches. 263
meint mit Recht, Fleifh und Blut begeidjme bier das
Gleiche, was im vorigen Vers „das Bild des Irdiſchen“;
wenn er jebod) bem Begriff blos etbifd) auffaBt unb
vom „alten Wandel“ verfteht, jo ift ba8 in biejem Zu:
fummenhang zu eng genommen. Es iſt vielmehr ber ᾿
ganze unerlögte von Adam ftammende Menſch gemeint,
und fordert ba8 Thema der Erörterung und ber im Pa:
tallelismus wiederholte Gedanke, befonder3 an beffen
Ürperliche Befchaffenheit zu denken. Der Körper in
feiner jegigen groben Stofflikeit, in feiner Schwäche
und Hinfäligkeit Tann das Reich Gottes nicht erben;
diefe muß erft abgelegt werben, wie bie Sünden als
Berke des Fleiſches. Damit ift eine Auferftehung, wie
fie mande Juden fid) vorftellten und jegt nod) die Mu:
hamebaner haben, mit Ernährung und Fortpflanzung,
allerdings vom Reiche Gottes ausgeſchloſſen ?).
In fofern enthält ber Saß bereits einen negativen
Aufſchluß über das Schickſal derer, meld die 2te Ans
kunft Gorifti erleben. Somie fie jet auf Erden man:
deln, gleichfam stante pede, kann Niemand von ihnen
ἐπ Bürger be8 Reiches Gottes werden. Erſt muß eine
Veränderung eintreten, welche? befagen bie folgenden
Verſe:
„Siehe ein Geheimniß melde ich euch, alle werden
wit zwar nicht ſchlafen, aber alle werden wir verwandelt
werden ?). Plötzlich, in einem Augenblicke, bei ber legten
Poſaune — denn erfhallen wird die Poſaune, werben
1) cf. 1 Gor. 6,13.
2) Nach ber wahrſcheinlichſten Lefeart. Vulg. „Ale werben
τοῖς goat auferftehen, aber nicht alle berfvanbelt werben. Siehe
Betins zu diefer telle.
264 Joſeph Gott,
ſowohl bie Todten unverweslih auferftehen, αἵδ᾽ aud)
τοῖς werben vertandelt werben; denn dieſes Verwesliche
muß anziehen bie Unverweslichkeit, und diefes Sterbliche
die Unfterblicgfeit". — Soweit bie Lehre δε Apoftels
bier; denn im folgenden Triumph ob des Ciege8 über
ben Tod ijt auf ähnliche Gedanken mie in Vers 26 gu-
rüdgegriffen.
Der Apoftel beginnt hier damit, daß er bie fto-
rintfer aufmerffam macht, e8 handle fi; um ein Ge-
beimniß, ba8 er nod) mittheilen wolle. Dieſes befteht
darin, daß nicht alle Geredte — um biefe handelt e8
fid) hier allein — den Schlaf des Todes, Grabesruhe
und Verwefung durchmachen, wohl aber bie Berwand-
lung eine allgemeine fein werde. Natürlich, weil Fleiſch
und Blut das Reich Gottes nicht erben können, müfjen
alle erft das Verwesliche abftreifen, bie einen, indem fie
als ἄφδαρτοι erftehen, bie andern, indem fie ohne
Grabesruhe vertvanbelt werden.
Beide Theile hält ber Apoftel ftreng auseinander.
In gleicher Weile jagt er, Auferftehung und SBermanb-
lung werde
a) Plöglih, febr ſchnell geſchehen (in momento,
in ictu oculi),
b) Bei bem Schall ber legten Poſaune geſchehen ?),
€) Parallel neben einander vor fid) geben (et-et).
Das gleidje Stefultat, ein unverweslicher, früftiger
und geiftiger Auferftehungsleib wird bei ben einen
durch resurrectio, bei den andern durch immutatio θεῖς
beigeführt. Denn bei beiden Theilen — fo wiederholt
1) dff. 10, 7; 11, 15.
Die Lehre von ber Auferftehung des Fleiſches. 265
er den Gedanken von Vers 50 pofitio — muß biefea
Verwesliche bie Unverweslichkeit, diefes Sterbliche bie
Unfterblichfeit anziehen. Da bem Apoftel in ber Bifion
die fallende Pofaune und bie Schaaren ber Aufer-
ftanbenen vor Augen (deben, faßt er zum Ziele eilend
fid) und bie, an welche er fchrieb, in feiner lebhaften
Weiſe unter bie Weberlebenden — im Momente be8
Schreibens waren fie e8 ja — ohne damit hier gerade
fagen zu mollen, daß er die Ankunft Chrifti wirklich
für fo nahe halte.
Große Aehnlichkeit hat diefe Stelle mit jener aus
bem 1. Briefe an die Tefjaloniter, toeldje wir in ber
Beerdigungsmeffe fo oft Iefen. Nos qui vivimus etc.
„Wir, bie wir leben und übrig bleiben bis zur Ankunft
- be8 Herrn, werden denen, bie entſchlafen find, nicht zu:
vorkommen; denn ber Herr felbft wird beim Aufgebot,
bei der Stimme des Grgengelà vom Himmel herabfteigen
und die Todten, bie in Chrifto find, werden zuerft aufs
erftehen, dann werden mir, bie mod) leben und übrig
geblieben find, zugleih mit ihnen entvüdt merben in
Wolken Gorifto entgegen und fo werden wir immerfort
bei dem Herrn fein“. Vieleicht ift [jon mandjem, wenn
er am Altare diefe Epiftel las, bie Frage gefommen:
„Ja werden dann diefe Webriggebliebenen mit bem Fleiſch
und Blut, wie fie auf Erden wandelten, in Himmel
auffahren?" — Das wohl niht! Zwiſchen resurgent
primi und deinde rapiemur (πρῶτον und ἔπειτα) ift
zu ergänzen aus 1 Kor. 15, 52 et nos immutabimur,
fo daß der Gedankengang folgender wird: Primum mor-
tui, qui in Christo sunt resurgent, et nos, qui vivimus,
qui relinquimur, immutabimur. Deinde simul cum illis
266 Joſeph Hol,
rapiemur etc. Warum aber hat ber Apoftel dieſes
Mittelglied hier ausgelaffen? Der Grund ift leicht cin
äufeben; er wollte bie Teſſaloniker wegen ber Ent-
fchlafenen ?) tröften, er wollte ihnen darlegen, ba biefe
bei ber Ankunft be8 Herrn nicht verkürzt feien und jene
feinen Vorrang haben, welde al8 lebenb?) befunden
werben. Diefen Zwed bat er jehr gut erreicht, ba er
fagte, daß erft bie Auferftehung ftattfinde, dann wer—
beu beide Theile zugleich °) in bie Wolfen entrüdt. So
erſcheinen alfo jene nicht verkürzt und bieje nicht bewor-
zugt. In diefem Zufammenhang, wo der Apoftel wegen
ber BVerftorbenen tröften und nicht über die Beichaffen:
beit bes Auferftehungsleibes unterrichten mollte, hatte
er feinen Anlaß, von ber Verwandlung zu reden. So
wird eine Stelle burd) bie andere beleuchtet.
Werfen wir mod) einen Bli auf 2 Kor. 5, 1—4.
Hier fehreibt der b. Paulus: „Denn wir wiflen, daß,
wenn unfere irbijde Zeltwohnung aufgelöst wird, wir
einen Bau von Gott erhalten, ein nidjt von Händen ges
machtes ewiges Haus in ben Himmeln. Und eben darin
ſeufzen wir, vol Verlangen, mit unferer himmlischen
Wohnung überfleidet zu werden, objdon toit je aus:
gezogen *), nicht al8 nadt erfunden werden. Denn wäh:
vend wir in bem Zelte find, feufzen wir gebrüdt, weil
toit nicht entfleibet, fondern überfleidet werden wollen,
damit das Cterblide vom Leben verjdlungen werde”.
Hier vergleicht der Apoftel bem Leib als Hinfällige und
1) 1 Theſſ. 4, 12.
2) 1 Theff 4, 14.
3) ἅμα.
4) ἐκδυσάμενοι ftatt ἐνδυσάμενοι.
Die Lehre von ber Auferftehung bed Fleiſches. 267
vorübergehende Wohnung der Seele mit einem Zelte,
das heute aufgeſchlagen und morgen niebergeriffen wird;
den Auferftehungsleib bezeichnet er al8 einen unver
güngliden himmliſchen Bau. Und menn er aud) weiß,
daß durch bie Auflöfung die gerechte Seele zu Chriftus
Tommt?), fotoie baf bem Tod immerhin bie Auferftehung
felgt?), fo Tann er bod nit umbin, bem natürlichen
Drang nad) unmittelbarer Weberfleivung Ausdrud zu
geben. Die vielen Drangfale, denen er eben ausgefegt
war, mochten dazu beitragen, bie Wiederfunft des Herrn
ala nahe bevorftehend zu wünſchen. Der Apoftel lehrt
aljo bier über das Schickſal derer, melde bie zmeite
Ankunft Chrifti erleben, daß fie fofort überfleidet
werben (supervestiri, ἐπενδύσασϑαι, von ἐπενδύω
eigentlich das Oberfleid anziehen).
€o flat nun ber Apoftel an den erwähnten Stellen
von deren Umwandlung, Ueberkleidung und Cntrüdung
tebet, jo wenig haben wir Anhaltspunkte, wie diefer
Umwandlungsprozeß vor fid) gehen fol und in welchem
Verhältniſſe er namentlich zur Reinigung ber Welt durch
ba$ Feuer und zum allgemeinen Gejege des Todes ftehe
Es haben mande gemeint, „wenn bie Himmel mit
großem Krachen vergehen, bie Elemente vor Qige auf:
gelöst und die Erde und ihre Werke auf ihr verbrannt
werden“ 5), fo werden im Zufammenhang mit diefer Reis
nigung und Erneuerung ber Erde aud) der Tod und
die Umwandlung ber gulegt Lebenden erfolgen. Doch
toiffen wir über bie Zeitfolge bieje8 Weltbrandes nichts
1) Sit. 1, 23.
2) 8. 8.
8) 2 Betr. 8, 10. 2 jeff. 1, 8.
268 Joſeph θοῦ,
Beftimmtes; man nimmt aus ben Worten be Apoftels!)
getoóbnlid) ab, daß bie Verwandlung der Leiber der
Sebenbigen fo bligfchnell gefchieht, daß fie fid) der Be:
obachtung entzieht und feine Dintembreintommenbe Re:
flerion das Geheimniß zu ergründen vermag). Die
Blitzesſchnelle fdjeint felbft ben Tod auszuschließen.
In ber That ift dies aud) bie Meinung vieler
Theologen; fie wird von Gbrpfoftomus8 angenommen,
Epiphanius fagt geradezu: Wer entrüdt wird, ift nod)
nit geitorben; aud) Drigenes und Tertullian vertheidi-
gen fie*). Selbſt Hieronymus fagt, die Verwandlung
geldebe sine morte, qua corpus ab anima deseratur.
Daß übnlide Anſichten in der apoſtoliſchen Seit nicht
ganz unbelannt waren, ſcheint audj das Johannes-
Evangelium angubeuten *).
Doch die Rückſicht auf viele Schriftftellen, in welchen
die Allgemeinheit be8 Todes für bie gefammte SRenid-
beit ausgeſprochen ift ®), hat die größere Zahl der Theo:
Togen zu der Annahme beftimmt, daß aud) bie gulegt
Lebenden jämmtlihe evft bem Tode unterworfen feien,
efe fie überfleidet werden. Sie ſuchen dann mit den
Worten des Apofteld fo zurecht zu kommen, daß fie
fagen, ein menn aud) rajd) fi vollziehender Umtmand:
lungsprozeß jchließe den Tod nicht aus. So ſchon Am:
brofius und Auguftinus; erfterer jagt geradezu cum
tollentur, morientur: während ber Cntrüdung werden
1) 1 Cor. 15, 52.
2) bei teet III, 208.
3) Tert. 1. c. cap. 41 unb 42.
4) Joh. 21, 23.
5) Röm. 5, 12, 1 Gor. 15, 22.
Die Lehre von ber Auferftehung des Fleiſches. 269
fie fierben. Unter den neueren Theologen nimmt D3:
wald an, daß der Tod und bie Schreden des Todes
allerdings aud) diefe Menſchen ergreifen, jebod) jo, „daß
an einen eigentlichen Todeszuftand und an eine Beit-
dauer in Anſpruch nehmende Auflöfung und SBermejung
des Leibes ſchwerlich zu denken fein möchte” '). Wirklich
ift eine Umwandlung des irdifchen zum Verklärungsleibe,
fo ba das Gterblide vom Leben verſchlungen, aljo
günjid) abgethan und befeitigt wird, ohne ein bem
Sterben ähnliches Moment nicht wohl zu begreifen.
Daher neigt fid) aud) die Lehre ber Kirche zur zweiten
Anſicht Hin®), ohne bie erftere als häretiſch auszu—
ſchließen.
Der h. Paulus bemerkt nicht umſonſt: Ich ſage
euch ein Geheimniß; ein ſolches mag dieſer Punkt
immerhin bleiben; um ſo mehr als deſſen Enthüllung
für unà zum Heile nicht nothwendig iſt. Ueberhaupt
liegt es in der Natur der aufs Zukünftige gehenden
Glaubenswahrheiten, daß ihnen mehr Dunkles anhängt
als den übrigen. Es geht hier dem betrachtenden Geiſte
ähnlich wie einem Wanderer, der eine Gebirgskette von
entfernter Ebene aus betradjtet: viele Berge [deinem in
andern Formen und näher beifammen, als fie es in
Wirklichkeit find. Daher bleibt hierin doppelt wichtig,
uns genaueftens an das zu halten, was von ben Höhen
göttlicher Offenbarung mitgetheilt wurde. Zudem ges
hören diefe Wahrheiten zu den michtigften; beum wie im
irdiſchen geben, fo müßte nod) mehr im religiöfen Leben
alles erjchlaffen, wenn nicht mehr der hoffnungsvolle
1) Dewald, GBdjatologie ©. 18.
2) Jungmann, 1. c. Seite 214.
270 Joſeph Hol, bie Lehre v. b Auferftehung bed Fleiſches
Ausblid in die Zukunft bie Segel ſchwellte. Gerade in
unferer Zeit ſcheint eine Vertiefung des veligiöfen Lebens
mad) biejer Seite in mehrfacher Beziehung geboten. Die
centrale Bedeutung der Auferftehung Chrifti und bie
darauf gegründete Hoffnung ins rechte Licht zu fegen,
dazu bietet die Geelforge fo vielfachen Anlaß, an ben
kirchlichen Feſten ebenfo wie an den Gräbern unferer
Eutſchlafenen. Nach diefer Seite anregenb zu wirken
ift der Zweck biejer Abhandlung, was ihre Veröffent:
lichung in diefer Zeitfchrift rechtfertigen möchte.
4.
Der Kanon XXXVI von Elvira.
Bon Prof. Dr. Funt.
Der Kanon XXXVI der Synode von Elvira: Pla-
cuit pieturas in ecelesia esse non debere, ne quod coli-
tur et adoratur in parietibus depingatur, hat zu ben
vielfachften Verhandlungen Anlaß gegeben und bie ver:
ſchiedenſten Deutungen erfahren. Gam3!) nennt bie
Zahl feiner Erklärer Legion, unb e8 waren hauptſächlich
confeffionele Rückſichten, wodurch die Aufmerffamfeit fo
häufig auf ihn gelenkt wurde. Die Proteftanten beriefen
fi$ auf ihn, um ihre Stellung zur SBilberfrage zu recht⸗
fertigen, und bie Katholiken fahen fid) baburd) zur Unter:
hung veranlagt, ob er denn wirklich die Bilderver⸗
ehrung jo unbedingt verbiete, als jene behaupteten. Wir
führen, bevor ivit ben Kanon einer erneuten Prüfung
unterziehen, zunächft bie bemerfensmwertheften ber biß:
berigen Erflärungen an.
Die wie e8 [djeint ältefte Deutung, zu ber fid) u.
1) 8-6. von Spanien IL 1,95 . Eine fehr eingehende, wenn
auch nicht richtige Erklärung gibt Mendoza in ber Schrift De
tonfrmando concilio Mliberitano, abgebrudt von Manfi, Conc.
Coll. IL, 57—897. Die Erklärung unſeres Kanons fteht p. 265—281.
272 Sunt,
a. aud) ber Garbinal Bellarmin ?) bekannte, ift folgende.
Indem man bie Worte in parietibus bejonber8 betonte,
erflärte man, die Synode habe nur bie Wand ge—
mülbe verboten, fei e8 damit nit dur das Ab—
brödeln der Wände bie den heiligen Bildern ſchuldige
Verehrung Noth Ieide, fei ed, damit fie nicht zur Zeit
ber Verfolgung den Heiden zum Gefpötte dienen, da fie
bet Natur der Sache παῷ nicht entfernt werden können;
Safelbilber aber feien duch ihr Verbot nicht be-
rührt worden.
Die Erklärung wird ſchon burd) Baronius (Ann.
57, 124) berüdfibtig. Sie ſcheint ihn aber nicht be-
friedigt zu haben, und fie ift in ber That ſchwerlich
ftihhaltig. Der erfle Sag be8 Kanons fehließt in feiner
allgemeinen Faſſung ebenfo die Tafelbilder wie bie
Wandgemälde au8?). Der große Kirchenhiſtoriker fuchte
deßhalb bem Kanon auf eine andere Weife beizufommen.
Gr erklärte ihn für eine fpätere Fälſchung, näherhin für
das Product eines Schülers des ikonoklaſtiſch gefinnten
Biſchofs Claudius von Turin. Doc befriedigte ihn audj
bieje Löfung nicht ganz, ba er beifügte: Sed esto, absit
fraus et impostura; ecquam tandem fidem meretur
tam paucorum episcoporum canon, quem totius catho-
lieae ecclesia usus contrarius continuo abolevit, immo
antequam nasceretur exstinxit?
Eine andere Deutung, bei ber das Hauptgewicht
auf ba$ adoratur gelegt wird, geht dahin: e3 feien wohl
bie Bilder des unfihtbaren Gottes, nicht aber bie
1) De imagin. Il. c. 9.
2) Of. Natal Alex, H. E. Saec. ΠῚ, Dies. XXI. Ed.
Paris 1677 p. 688 sq.
Der Kanon XXXVI von Elvira. 273
Bilder Chriſti und der Heiligen verboten worden. Sie
beruht aber auf mangelhafter fenntnif des althriftlichen
Sprachgebrauchs, fie ift aud) nicht einmal mit dem Wort-
laut des Kanons zu vereinbaren und deßwegen jo uns
haltbar als bie erfte?).
Nah einer britten Deutung ?) hat bie Synode ben
Gebrauch der Bilder wohl überhaupt verboten, aber
nicht, weil fie etwa geglaubt hätte, biejelben feien nicht
ju verebrem, da fie ihre Verehrung mehr vorausfegt
als unterfagt, fondern weil biefe Uebung der chriftlichen
Religion in jener Zeit mehr jhädlich als nützlich geweſen
τοῦτο, wenn fie in allen Kirchen Eingang gefunden hätte,
indem fie ben Heiden zum Glauben Anlaß geben fonnte,
bie Chriften hätten die Götterbilder eher gewechſelt als
verlaſſen.
Am Anfang des vorigen Jahrhunderts endlich wurde
die erſte Deutung durch Burnarotti etwas modificirt.
Es wurde geltend gemacht, in den gottesdienſtlichen
Localen über der Erde ſeien die Wandgemälde ver—
boten worden, weil fie bier den Heiden lijcht zugänglich
und jo ber Zerftörung und Verunehrung preisgegeben
waren, nicht aber aud) in den fehler zugänglichen und
dor Profanation geſchützten fatafomben, und zur Be-
gründung dieſer Erklärung morb neuerdings auf bie
von be Roſſi gemachte Beobachtung bingetoiejen, baf
aud in Rom bie über der Erde gelegenen Dratorien
1) Οὗ Natal Alex. 1. c. p. 698. Die Deutung ijt eben-
fal ſehr alt. Bereits Bellarmin a. a. D. erwähnt fie. U. a. ver-
tat fie aud) Aubefpine in feiner Erklärung bec Kanonen von Elvira.
BL. Manft II, 46.
8) Natal. Alex. 1. c. p. 691 sq.
XjeL Duartalfägrift. 1889. Heft lI. 18
274 Sunt,
und Gellä feine ſymboliſchen, bibliſchen oder liturgiſchen
Gemälde, jonbern nur einfaches Drnament, allenfalls
Weinranken, als Dekoration erhielten). Die Deutung
fand, feitbem fid) aud) der große ftatatombenforidjer ber
Gegenwart ihr zuneigte, großen Anklang und fie wird
gegenwärtig ziemlich allgemein als die allein richtige
angejehen ?).
Aber ift die Erklärung ebenfo richtig, als fie all-
gemein ift? Wer ben Kanon unbefangen betrachtet,
wird bie Frage ſchwerlich bejahen. Er fol mut bie
Bilder in ben unfideren überirdiſchen gottesbienftlichen
Localen verboten haben. Man fünnte dagegen gunüdjft
fragen, ob denn ber Ausbrud ecclesia damals fo
fiher und unbedingt auf diefe mit Ausſchluß ber unter
irdiſchen Locale fid) bezogen habe. Indeſſen foll biejes
Moment nicht weiter betont werben. Die Deutung
erſcheint nod) unter einem anderen Gefidtspuntt als
unbaltbar. Das Motiv der Verordnung [ol fein, eine
Provocation der Heiden oder eine Verfpottung ber Bil-
ber butd) bieje zu vermeiden. Aber davon enthält ber
Kanon eben aud) nicht ein Leije8 Anzeichen. Das Motiv
lautet vielmehr: e8 foll verhindert werden, baf das,
mas Gegenftand der Anbetung und Verehrung ift, auf
1) al. fraus, Roma Sotterr. 2. Aufl. ©. 221 f.
2) So bemerkt Kraus a. a. D., indem er auf be Roſſi's
Roma Sott. IH, 475 verieißt. Unter denjenigen, welche bie Er—
riarung aboptirten, if audj Hefele, Gonc.Gejd. 2. 91. I, 170.
Er bezieht fid auf Roma Sott. I, 97. Ich bemerke inbeffen, bafi
an biejem Orte faum von ber Sache bie Rebe ift. Der Kanon wird
wenigftend gar nicht genannt. An ber auberen Stelle wird bet-
ſelbe allerbing8 erwähnt. Aber eine eingehenbere Erörterung vers
mißt man aud) dort.
Der Kanon XXXVI von Elvira. 275
bie Wände gemalt werde. So heißt e8 wörtlich. Die
Faſſung iff allerdings nicht ganz glücklich. Das darf
aber bei der Sprache ber Synode von Gloira nicht
befremden, und immerhin if der Sinn des Kanon
far genug. Man darf mut aus bem Finaljag einen
Gaufalfag machen, und der Anftoß ijt gehoben. Die
Synode verordnete aljo näherhin, e8 follen feine Bilder
in der Kirche fein, ba das, was verehrt und angebetet
werde, nicht auf die Wände gemalt werden folle, und
der Kanon ijt, ſobald man ihn an und für fid) betrachtet
und in der Erklärung fid) nicht burd) anderweitige Mo—
mente beirren läßt, jo fíar als mur möglid. Die An-
fertigung von veligiöfen Bildern wird überhaupt ver-
boten. Der Wortlaut be8 Kanons läßt darüber feinen
Zweifel auffommen. Jene Deutung ift daher unbedingt
abzulehnen. Sie ift durchaus grundlos und es ſtehen
ihr ähnliche Schwierigkeiten entgegen wie ber erſten,
deren bloße Modifikation fie ift. Baronius würde fid)
ſchwerlich mit ihr mehr befreundet haben al8 mit diejer.
Die Frage ἔαππ nur bie fein, m ie die Synode zu
ihrem Verbote fam, und in biefer Beziehung läßt fid)
allerdings mit ber oben in britter Linie angeführten
Deutung an bie Rüdfihtnahme auf die Heidenmelt ober
an pädagogiſche Motive benfen. Doc) ift diefe Deutung
feimeBtoeg8 fiher. In bem Kanon ſelbſt ift fie nad)
feiner Seite hin angedeutet. Die Worte ne quod coli-
tur etc. legen im Gegentheil bie Auffaffung nahe, daß
die Synode die Anfertigung von religiöfen Bildern in
der Kirche nicht bloß als gefährlich, fondern vielmehr
deßwegen verbot, weil fie in ber Bilderverehrung an
fij etwas Unzuläfiiges jab, und man wird fid) bieler
18*
276 gunt,
Deutung um fo weniger entziehen können, als die Stel
lung, bie bie fpanifhen Biſchöfe mad) ihr zur Bilder:
frage einnahmen, in ber alten Kirche keineswegs etwas
Vereinzeltes war.
Es darf als feftftebenbe Thatſache gelten, daß es
in ben erftem drei Jahrhunderten feine Statuen von
Heiligen gab. Gemalte Bilder gab e8 zwar, wie bie
Ausgrabungen in ben Katafomben zeigen. Aber dad
bloße Vorhandenfein von Bildern ift noch keineswegs
ein Beweis für bie Verehrung derjelben. Nach bem,
was τοῖς aus ber altriftlichen Literatur erfahren, ἐξ
legtere für jene Zeit nichts weniger als wahrſcheinlich,
und wenn fie je am einigen Orten vorhanden war, fo
war fie jedenfalls feine allgemeine Uebung. Die ein-
idiügigen Ausſprüche des Alten Teftaments umb bie
Stellung ber Chriften mitten in ber Welt des bilber-
anbetenden Heidenthums waren nicht geeignet, eine Bil-
derverehrung auffomunen zu laſſen. (δ laffen fij ja
auch in der fpäteren Zeit, als bie SBerpültuifje fid) be—
teit8 zu ändern angefangen hatten, nod) Stimmen gegen
die Bilder vernehmen. Es [εἰ nur an drei Fälle er-
innert. Als bie Kaiferin Gonftantia den Biſchof €uje-
bius von Güjarea um ein Bild Chrifti bat, exfláxte
biejer ihr Verlangen für verkehrt unb für einen Rückfall
in den Gügenbienft des Heidenthums, von bem τοῖς bod)
burd) das Blut des Erlöfers befreit worden feien. Bon
Chriſtus fei weder nad) feiner göttlichen, noch nad) feiner
menſchlichen Seite ein Bild zu gewinnen, in jener Be-
ziehung nicht, weil nad) feinen eigenen Worten (Matth.
11, 27) den Vater niemand al8 der Sohn und ben
Sohn niemand ald der Vater würdig erkenne, in diefer
Der Kanon XXXVI von Elvira, 277
nicht, weil die menfchliche Geftalt von der Herrlichkeit
der Gottheit burdjbrungen und in ein unbefchreiblices
ud unausſprechliches Licht verwandelt fei. Auch von
Wt in bie Gottheit noch nicht verwandelten Geftalt fei
kin Bild anzufertigen, ba Gott im Gefege (2 Mof. 20, 4)
verordnet habe, man folle durchaus Fein Bild maden
weder von dem, was im Himmel broben, nod) von dem,
mas auf der Erde unten je. Er habe daher, als er
bei ‚einer Frau angebliche Bilder des Apoftels Paulus
und bes Erlöfers angetroffen habe, ba8 Gemälde ge-
nommen und bei fid) behalten, bamit es nicht ben An-
deren befannt werde und mir nicht πα Art der Göpen-
biener unferen Gott im Bilde umberzutragen fcheinen !).
Achnlih erklärt e8 ber DL. Epiphanius für [drift-
widrig, in der Kirche ein Heiligenbild aufzuhängen, und
durchdrungen von biefer Anſchauung zerriß er das Bild,
das er in Anablatha in Paläftina antraf?). Der Hl.
Auguftin endlich ſpricht einmal?) tadelnd von pictu-
raum adoratores und erblidt im der Bilvderverehrung
näherhin eine superstitio. Darf e8 unter biefen Um-
fänden befremden, wenn die Väter von Elvira eine
gleiche Mißbilligung ausſprachen, und bürfen mir und
beftimmen Laffen, in ihrem Ausſpruch etwas anderes
finden zu wollen, als was nad; dem Wortlaut allein in
im liegt? Die Frage ift ſchwerlich zu bejahen. Die
firenge Stellung, bie die Synode zur Bilderverehrung
1) Wir erhalten einen Auszug von bem Brief des Euſebius
an Gonftantia durch Nicephorus, Antirrhet. c. 9. Bol. Pitra,
Spicileg. Solesm. I, 888—886. Harduin IV, 406.
2) Ep. ad Joann, Hieros. inter Hieron. ep. 51 c. 8.
8) De mor. eccles. cath. I. c. 84 n. 75.
278 unt, ber Kanon XXXVI von Elvira.
einnahm, ift um jo weniger im Bmeifel zu ziehen, als
diefelbe ja auch in anderen Dingen fehr firenge, um
nicht zu jagen überftrenge Grundfäge hatte. Daß man
an manchen Orten damals [dou $eiligenbilber hatte,
würbe dagegen aud) dann nichts beweifen, wenn bie
Verehrung berfelben für jene Zeit ficherer zu erhärten
wäre, als e8 thatſächlich der Fall ift, da die Praris in
biejer Beziehung unbeftreitbar verfchieden war. Der
Kanon fet ja felbft für einige ſpaniſche Kirchen bereits
bie Anfertigung von Heiligenbildern voraus, ba er fonft
ſchwerlich erlaffen worden wäre. Aber er zeigt aud)
zugleich, daß bie Mehrzahl ber ſpaniſchen Biſchöfe mit
der Neuerung niit einverftanden war ?).
Wenn der Kanon aber aud in der angeführten
Weife zu erflären ift, fo ergibt er bod) keineswegs, wie
er früher vielfad) in Anfpruch genommen wurde, einen
Beweis für den angeblichen Kunfthaß der alten Chriften.
Denn er verbietet nicht die funft Aberhaupt, fondern
nur das Anbringen von Gemälden in der firde. Er
legt überbieß nur für die Praxis ber fpanifchen Kirche
BeugniB ab, und melde Stellung man in Rom zu der
Kunft einnahm, zeigen zur Genilge die verſchiedenen πο
in bie vorconftantinifche Zeit gurüdreidenben Bilder in
ben dortigen ftatafomben.
1) Diefe Auffaffung vertrat, wie e [djeint, früher aud) Hefele.
gl. Conc.-Befd. 1. 9. I, 141; III, 886 und Rirdenlerilon 1. W.
II, 519 f.
II.
Recenfionen.
1.
Die Philoſophie des HI. Auguſtiuus, von Dr. 3. Storz. Mit
Approbation be8 hochw. Herrn (b. v. Freiburg. Herder
1882. VI und 206 4.91. ᾿
Stuguftinus, zu den größten Denkern aller Zeiten
gehörig, ift ein Geift, in welchem hundert andere wohnen.
Einer der objeftivften und ſcharfſinnigſten Literarbiftorifer
jagt von ihm: ſcheinbar entgegengefebte Eigenſchaften
vereinigte Auguftinus in fid, Ueberſchwänglichkeit ber
BVhantafie und [dueibenbe Verſtandsſchärfe, leidenſchaft-
lide Rüdfichtslofigfeit und gemüthvolle Zartheit, Weit:
herzigkeit und Zelotismus, Auftoritätöglauben und Dri-
ginalität, Eifer für die Einheit der Kirche und inbibi-
buelle Frömmigkeit, Romantit und Scholaſtik, die Bes
gabung des Dichters mit ber des Philofophen. Durch
ba8 eigene heiße Blut in SBerirrungem bineingezogen,
verjenkte fid Auguftin in bie Geheimniſſe be& Seelen-
lebens und Dat er ba8 Dogma, nachdem e8 durch bie
Drientalen in unfrudtbaren Spekulationen über tfeo-
280 Story,
logiſche und chriſtologiſche Fragen bineingeführt war,
wieder der Betrachtung des Menſchen zugewandt, auf
deſſen inneren Zuftand und bie Mittel zu feiner Er
Löfung und Befeligung bingelenft *). In ähnlicher Weile
fagt der Verfafler der vorliegenden Schrift, einer erſt⸗
maligen Gejammtbarftellung ber auguftinifden Philofophie
in beutíder Sprache, ganz zutreffend: zufolge feiner
intellektuellen Entwidlung gewann Auguftins Geift eine
Univerfalität ber Erfahrung und des Gefühls, melde
ihm das Verſtändniß für alle Seiten be8 Daſeins et:
ſchloß und ihn nicht abftraft, [onberm aus bem Leben
heraus benfem Tieß (€. 4). Dagegen läßt Storz mit
Unrecht den Schatten im Charafterbilde des größten bet
Kirchenlehrer nad) der wiſſenſchaftlichen Seite hin fo
gut wie ganz fort. Wenn er ©. 3 ſchreibt: Auguftins
Verftand verlor fid) nidyt (nie?) in leere Spekulation, in
falſche Spigfindigfeit und abftraften Formalismng —
fo brauden wir biejen, in feiner Allgemeinheit durch
Auguſtins Retraktionen felber widerlegten Sag nicht zu
accentuiren gegen bie „gemüthlofe Dialektif” der fpäteren
Scholaftifer, um bod) das harmoniſche Zufammenmirken
von Gemüth und Verftand in Auguftins Denkrichtung
principiell fefthalten zu können. Wir müffen wohl das
„Pathos des Rhetors“ neben ber „Silbenftecherei bed
Grammatifers“ in der Zeichnung be8 genannten iterat:
hiſtorikers ftehen laffen, fo febr mir die Einheit von
„Schwärmerei und Sophiſtik“ in bem chriftlichen Philos
phen al8 eine Verzeichnung an feinem Bilde bedauern.
1. Dr. Storz führt und gunüdjft den geiftigen Ent
1) 39. ©. Teuffel, Geſch. der röm. Literatur. 8, 9. ©. 1099.
Philofophie des HL. Auguftinus, 281
widlungsgang des hl. Auguftinus vor, tie et in zartefter
Kindheit von feiner gottinnigen Mutter mit den Wahr-
beiten ber Erlöfung befannt gemacht, in feinem 19.
Rebensjahre aus ber finnlich-heidnifchen Berſunkenheit
burd) Gicero'8 Hortenfius zum Studium der Philofophie
aufgerufen wird, bie bL. Schriften der katholiſchen Kirche
ungenießbar findet, fid) in dem Gewebe ber pantheifti-
fen und phantaftiihen Ideen des Manichäismus ver:
fängt, von beffen gaufelnden Trugbildern meg bem Glepti
cismus ber neueren Afademie verfällt, von ber ſchwanken
Smeifelfucht zum Spiritualismus der (neu⸗)platoniſchen
Philoſophie fortfchreitet, durch deren Idee von der Gott-
beit al8 der abfoluten immateriellen Wefenheit für
die tiefere Erfaffung des Chriftentbums vorbereitet und
endlih burd) den hl. Ambrofius in dasfelbe eingeführt
wird. Auf ber Höhe ber religiös-geiftigen, der rift-
lihen Weltanſchauung entmidelt nun Auguſtinus die
Grundfragen des philofophiihen Denkens. Gegen bie
Irrthümer des Senfualismus und Skepticismus, denen
fein Geift felber fid) entrungen, vertheibigt er die 9teali-
tät der inneren geiftigen Erfahrungsmelt und verfidt er
namentlich bie Thatfache einer evften unmittelbaren
Gewißheit im Selbitbewußtfein des Geiftes. Nach
diefem Gewißheits⸗ und formalen Wahrheitskriterium
legen fid) dem Denken zwei Hauptprobleme vor, das
der Selbſterkenntniß und das der Gotteserfenntniß; fie
find das Eine Endziel des philofophiichen Unterfucheng,
und ein nicht unumgängliches Mittel hiefür ift aud) bie
Welterkenntniß. Was fo bie Philofophie ſucht, ohne
doch αἰ eigener Kraft zur Vollendung des Wiffens
gelangen zu Tönnen, ba8 gibt das Chriftenthum, ver-
282 Story,
mittelt ber Glaube an ben menfchgemorbenen Logos
des Ewigen. — Die Erkenntnißlehre Auguftins begründet
vor allem bie Gemißheit des Selbftbewußtfeins und
ſchafft jo bem philofophifchen Denken eine fidere Unter:
lage, bie von bem unphilofophiihen Dogmatismus der
pantheiſtiſchen und fenfualiftifhen SRanidjüer weſentlich
verſchieden und zugleich bie Schutzwehr gegen bie unver⸗
nünftige Skepſis ift. Einbildungen (phantasmata) fón-
nen nidt bie Wahrheit fein, fofern fie unfijer find;
unfiher aber Tann nicht alles fein, fofern minbeftens
ba8 fidet ifi, daß id, der Zmeifelnde, Fragende,
Suchende, Nichtwiffende unb Wiffenwollende bin. jf
aber dieſe Eine Wahrheit naturnothwendig fier, fo
muß bie Wahrheit fein und erkennbar fein; (neque
enim) ullum verum nisi veritate verum est (de ver.
relig. c. 39), Wirklich erkannt nun wird die Wahrheit
zunächſt burd) bie Sinne, deren Gegenftaub bie finnlide
Erſcheinung ift. Iſt aud) bie Crfenntui ber Außenwelt
nicht unmittelbar gewiß (für bie pbilojopbildje Reflexion
im Unterſchiede von der unmittelbaren Wahrnehmung),
fo ift fie bod) garantirt gemifjermaßen butd) das oberfte
Wahrheitskriterium. Denn eine abfolute Sinnentäuſchung,
mie bie Akademiker meinen, Dat nicht flatt: nicht bie
Sinne täufhen den gefunden Menfchen, fondern fein
vorſchnelles lirtfeilem über die Meldungen der Sinne
trügt oftmals. — Weber allen ftet der Gemeinfiun
(sensus interior), welcher Richter und Norm ber Außen-
fume ift. Er felber unterfteht mit feiner Tätigkeit ber
geiftigen Urtheilskraft be8 Verflandes (ratio), be8 eigent-
lien Erkenntnißmittels: ego ratio ita sum in menti-
bus, ut in oculis est aspectus (Solilog. 1. 1). Das
Philoſophie be8 HL Auguftinus. 283
Ertennen näherhin ift ein doppeltes, sentire und intelli-
ger. Das geiftige Wahrnehmungsvermögen ift bie
Vernunft (intellectus). Ihr Gegenftand iff das In-
telligibile (Begriff, Zahl, — numerus quo numera-
mus, im Unterfhied von bem numerus quem numera-
mus — Geſetz, Idee). Die Frage nah bem Urſprung
der intellektuellen Erkenntniß gehört zu bem fehwierigften
philofophifchen Unterſuchungen. Auguftinus läutert dies⸗
bezüglich bie platoniſche Ideenlehre im Sinne des Chriften-
thums; fein Thema lautet: veritas foris admonet,
intus docet. Die Frage über das Verhältniß von Glau-
ben und Willen hat 9L zwar nicht endgiltig gelöst;
aber zu deren Löfung hat er den allein möglichen Weg
gezeigt, ben der pſychologiſchen Sisfufion der Bes
griffe Glauben, Meinen, Denken, Wiffen, Erkennen. Der
Grundgedanfe biejer Erörterungen, deren gujammen:
faſſende Wiedergabe wohl beu gelungenften Abſchnitt bei
Storz bildet (€. 85—101), ift ausgefprochen de prae-
dest. sanct, c. 2: Ipsum credere nihil aliud est quam
cum assensione cogitare; non enim omnis qui
cogitat, credit, cum ideo cogitent plerique, ne credant;
sed cogitat omnis, qui credit: credendo cogitat et
cogitando credit.
Die Hauptflärke ber auguftin’ihen Spekulation
liegt in ihrer Piychologie. Sie erweist die Symmateriali-
tät, Einfachheit und Unſterblichkeit der Seele au8 ben
Innenzuftänden des ſelbſtbewußten Geiftes (Leben, Er⸗
tennen, Wollen). Die Einheit von Leib und Seele ergibt
fib daraus, daß legtere das Form: und Geftaltgebenbe,
der Leib aber Subſtrat und Organ be8 Geiftes ii:
homo substantia rationalis constans ex anima et cor-
284 ton,
pore. Die Art ber Wechſelwirkung zwiſchen Leib und
Seele gehört nah A. zum Wunderbaren und Unbegreif-
liden. Daß zur Löfung diefer Frage feine aprioriftis
iden Theorien (3. B. bie harmonia praestabilita u. &.),
Sondern nur pſycho⸗phyſiſche Forſchungen beitragen können,
bat der tieffte Kenner des menichlihen Herzens Har
durchſchaut. Die Unterfcheidung zwiſchen „Seele“ und
„Geiſt“ ift durchaus gegen ben manichäifchen, aber aud)
gegen den modernen (güntherianifhen) Trichotomismus;
bie Eine natura spiritalis im Menden ift zugleich
anima und mens. Die Vermögen ber pars inferior
in ber Seele find sensus und appetitus sensitivus, bie
bet pars superior find intelligentia und voluntas ?);
beide Arten find verbunden durch bie memoria. Das
Charafteriftiihe des höheren Strebungsvermögens ift bie
Freiheit bea Wollen: und des Wählens. Diefelbe ift
aber nit ba8 aequilibrium voluntatis des Pelagius;
denn damit bie Willensentſcheidung nicht dasſelbe fei,
was blinde zufällige Thätigkeit, muß fie ihre vernünftig
beurtbeilbaren Motive haben; ber pelagianijdje jubes
terminismus ift nicht weniger falſch als der manichäiſche
Determinismus.
Sym vierten und legten Theile behandelt Storz bie
pefulative Theologie des Hl. Auguftinus, indem bie
vielen und allenthalb in den auguftinijdjen Werken zer-
ftreuten Gedanken über die Gotteserfenntniß und ben
1) Was dad Gefuhls leben ber Seele anlangt im Unter-
ſchiede bon bem Git ie bleben, fo fagt Storz ganz richtig (S. 136 fT),
daß biejer Unterſchied bem Hl. X. nicht unbefannt geblieben fel.
Die intereffante und tvidjtige Frage hätte e8 aber verdient, viel
genauer bißfutirt zu erben,
Philoſophie des HI. Auguſtinus. 285
Gottesbegriff, über bie Ideen Gottes und deren Ver:
bältniß zum endlichen Sein fleißig zufammengetragen
werben. Der Akt des göttlichen Schaffens, der Ver:
wirklichung ber Ideen zu dem zeitsräumlichen Dafein,
ift ewig; die Schöpfung felber aber muß zeitlich fein,
weil fie, im Unterfchiede von ber Weſens zeugung des
göttliden Sohnes, in einer freien Willensthat Gottes
begründet if. Was bie Erſchaffung der Menſchenſeelen
anlangt, fo vermirft U. jede Art von Präeriftenz und
die „aller gefunden Vernunft Hohn fpredenbe Lehre
von ber Seelenwanderung“; ob aber ber Generationis⸗
mus oder ber Sreatianismus anzunehmen fei, mill er
nicht entjdeiben. Gegen den erfteren ftehen mehr philo:
ſophiſche Gründe (Materialismus), gegen den anderen
mehr theologifhe (Crbjünbe). Die Schöpfung in ihrer
Gefammtheit endlich ift ſchon unb gut, tro der Sünde
und de3 llebel8 in der Welt. Denn daß das Webel
ba ift al3 bie unmittelbare Strafe der-Sünde, gehört
zur Vollkommenheit ber Weltordnung durch die Offen»
barung ber Idee der Gerechtigkeit. Daß aber die Sünde
jelber da ift, hat feinen Grund in feiner Wirkurfache,
tToeber in mod) außer Gott; das Böfe, weil es fein jub-
ftanzielles Sein, fondern eine Verderbniß am bem ſub⸗
ftanziellen Sein ift, hat feine causa efficiens, fonbern
mur eine causa deficiens. Die Möglichkeit berjelben
aber, baà posse peccare mußte Gott ποῖ menbig
fegen, wenn et freie Weſen mit bem posse non peccare
ſchaffen wollte.
τ 2. Wir haben im Vorftehenden möglichft bie be-
faunten Sbeen des hl. Auguftinus nad) ber uns vor.
liegenben Schrift zufammengefaßt, um baburd) bie Grunb-
286 Storz,
tenbeng be8 Verfaſſers zum Ausdrude zu bringen. Dr.
Storz läßt fid nicht ober faft gar nicht (f. €. 208 f.
gegen Dornerd unrichtige Auffaffung bes auguftinifchen
Schöpfungsbegriffes) im bie Kritif ein, teil fonft bie
Hauptoorzüge feiner Schrift, bie Klarheit und Faplichkeit,
gurüdgetreten wären. Man muß in ber That dad Be
fireben als berechtigt anerkennen, die unerſchöpflichen
Gedanken eines fo gewaltigen Geiftes, mie Auguftinus
ift, mögliäft in ihrer ungetrübten Urfprünglicpkeit und
ungemijdt burd) fremde Meinungen fid darlegen zu
lafen. Uber vergefien darf nicht werden, baf eine
foldje Behandlung viel ſchwieriger ift, als jene andere,
melde bie ſämmtlichen kritiſchen und exegetiſchen Hilfs:
mittel befrägt (gl. Vorwort). Völlig gelingen fóunte
die freie Darftelung nur einem ber auguftinijdjen Denk⸗
kraft fongenialen Geifte. Darum wird für ge
wöhnlich, zumal in unferer „Eritiihen“ Beit, bie um
fafjenbe kritiſch-ſpekulative Darftellungsweife bod) mohl
eher zu empfehlen fein. Was Dr. Storz beigezogen bat,
ift gemwifjenhaft angegeben (Huber, Bindemann, Gangauf
— aber nur die „metaphufifche Pſychologie“, nicht aud)
bie philoſophiſch bedeutendere „Ipefulative Lehre von
Gott dem Dreieinigen“ —, Dorner, van Endert). Die
Citationsweiſe jedoch im ber nadten Formel „wie NN.
jagt”, kann nicht gebilligt werden, namentlid) wenn ziem-
lid untergeordnete Autoren gemeint find. Auch ver
fteben wir e8 nicht redit, wenn S. 166 eine Reminis-
ceng, deren Duelle einen Tadel gegen Auguftinus ent
hält, in ein Lob umgebildet wird. Es handelt fi) um
den ſpecifiſch auguftinifchen Gottesbeweis (de libr. arb.),
und fagl.Storz, wie be8 öfteren v. Enbert: in ,edt
Philoſophie des HI. Auguftinus. 287
vlatonijder" Weiſe bypoftafirt Auguſtin den Begriff
„Wahrheit“ und nennt Gott bie Wahrheit u. f. m.
oder bie Wahrheit Gott. Das ift entſchieden mangel-
haft, wie Ὁ. Crnbert (ber Gottesbeweis in der patrifti-
fben Zeit mit befonberer Berüdfihtigung Auguſtins)
auch hervorhebt. Auguftin „bypoftafirt” eigentlich bie
Denknothwendigkeit unb folgert: entweder bie
bem Denkgeifte ſchlechthin als Norm und Regel über-
geordnete Wahrheit ober deren Grund ift Gott. Diefe
Folgerung aber aus bloßen Denkbegriffen, welde nur
bie Gefegmäßigfeit meines Denkens umjdreiben ober
platoniſch „hypoſtaſiren“, ift aber noch Fein Beweis,
daß Gott ift, der Gegenftanb und der Urheber meiner
Denkkraft. Es ift logiſch unftatthaft, bie Idee, wor:
nad) ἰῷ urtheile (nil nisi veritate verum est), in das
Sein umzubilden, das id) beurteilen, erweiſen foll.
Hier find Auguſtins Gedanken zum minbeften unfertig:
richtig beginnt er mit der Gottesidee, um auf der Sand:
bank des ontologifchen Gottesbeweiſes figen zu bleiben.
Diefe eine Bemerkung ftatt vieler führt uns auf
einen anderen Punkt, ben u. €. Dr. Storz mehr hätte
iu feinem Recht kommen lafjen dürfen, nämlich, neben
der ausgedehnteren fritijden Verwerthung ber Darftel-
lungen über auguftinifhen Philofophie, bie Kritik dieſer
Bhilofophie ſelber. Sicherlich ift eine olde, geübt mit
ernfter, Lediglich der Sache gewidmeter Bejonnenheit, von
der Pietät gegen ben tiefften chriftlihen unb gegen einen
ber bedeutendften Denker aller Zeiten nicht verboten,
fondern gefordert. Das gereinigte Gold iff ba8 merth-
vollſte. Schon Auguftinus felber hat fid) retraktirt, und
feitdem ift bie Seit nicht ftehen geblieben. Die dies:
288 Sion,
bezüglihen Stanbgloffem, welche bie wiederholte Lektüre
von Ctory anregender Schrift mur vermehren dürfte,
füónnen nicht jümmtlide vorgeführt werden. Zudem
müßte einem befcheidenen Zweifel gegen gemifje augufti-
niſche Säge jofort ein gelinder Zweifel gegen deren
Faſſung dur ihren Darfteller und wieder gegen befjen
Auffaffung burd) den Lefer u. f. f. madfolgen. Nur
weniges [εἰ angemerkt. Der Begriff der „Idee“ ift bei
Auguftinus „et platoniſch“ im guten Sinn, aber nod)
unentwidelt. Dr. Storz behandelt das noetiſche und
metaphyſiſche (theologiiche) Moment der intellektuellen
Erkenntniß (vgl. €. 59—85 mit €. 156—178) faft
mod) unterjdiebslojer al8 Auguftinus felber gethan.
Namentlih wäre ſchärfer auf den eigenthümlihen Sinn
ber auguftinijdjen memoria zu adjten, was Storz ziem-
lich farblos mit (nieberem und höherem) „Bewußtfein“
gibt. Die memoria (vgl. namentlich bie begeifterten
Schilderungen berjelben in ben Confessiones) ift bie Ber:
innerungd- und Erinnerungskraft der Seele, dann aber
Gud der Fundus und ber Habitus ber been (sensus
intimus, Vernunftfinn). Dadurch gerade bekommt ber
auguftinifhe intellectus feine eigenthümlihe Färbung
gegen bie ratio (Verfiandesvermögen) und ratiocinatio
(Berftandesbemwegung). Die oft miederfehrende, ganz
Torreft gemeinte Bezeichnung einer „unmittelbaren“ Er:
fenntnig Gottes durch den menſchlichen Geift dürfte trot
der Verwahrung gegen ben neueren Ontologismus (©.
66 f.) nidt ganz von aller Mißdeutbarkeit befreit fein.
Auguftinus felber mar zu febr Noetifer, um bei feinen
vorwiegend theologiſch⸗poſitiv gehaltenen Schilderungen
ber „unmittelbaren“, gnadengewirkten Einigung be gött-
Philoſophie be8 HI. Auguftinus. 289
lien mit bem menſchlichen Logos vergefien zu können,
daß alle GotteBerfenntmiB, aud) jene auf Grund ber
immanenten Gottesidee, burd) das bioleftijde Denken
vermittelt ift, wenn aud) nicht immer bie Vermitt:
lug ins Bemußtfein tritt. — Im allgemeinen halten
bit dafür, daß in einer wiſſenſchaftlich volllommenen
Darftellung ber auguftiniihen Philofopie eine pilo:
ſophiſch erafte Geſchichte und Würdigung der auguftini
fen Schriften nicht fehlen darf. Es ift unerläßlich,
um beu von Dr. Storz fo gut ſtizzirten Gedanfenfort-
ſchritt bei Yuguftinus beurtheilen zu fünnen, daß bet
Inhalt und Charakter jeder Einzelfehrift und womöglich
der Einfluß, unter bem fie entftanben ift, Kurz gefenn-
zeinet werde. Sonft läuft man Gefahr, daf, wenn
«u$ den verſchiedenſten Schriften bie Stellen ganz gleich:
werthig neben einander geſetzt werden, gerade ber med
folder erit wieder zu begründender Belege verfehlt wird.
Dber wie hat fid) a. 9B. der Theolog Auguftinus, welder
im Rampfe mit den Pelagianern und Semipelagianern
die freie Selbftbeftimmung des Menfhen hinter der
„unfehlbaren" Gnadenwirkſamkeit gurüdtretem läßt, zu
dem „Meiſterſtück“ des Philofophen Auguftinus, zu der
Entwicklung be8 Freiheitsbegriffes (Storz 188 ff) ge-
felt? Diefe febr Schwierige, wiſſenſchaftlich aber prius
cipielle Frage ift von Dr. Storz ganz ungenügend bes
Tüjtt (€. 146 f), und zwar in bem Sinn, als ob es
niemals eine Kontroverfe über bie Jrrefiftibilität der
Gnade bei Auguftin gegeben hätte: „bie Gnade wirkt,
ebenſo wie die Motive überhaupt, nit neceffi-
tirend, fondern bloß bewegen, antegenb" (dasfelbe?).
Test. Quartalfggrift. 1889. Heft I. 19
290 Siegfrieb,
Und gerade hier find die Belege aus Auguftind Schrif⸗
ten ganz unzulänglich gegeben.
Vieleicht jdjenft ber verehrte H. Bf. biejen Punkten
bei einer etwaigen neuen Auflage feine Aufmerkſamkeit.
Stud) dürfte e8 fid dann empfehlen, bie metaphyfi-
Shen Probleme, (Begriff von Materie, Raum, Zeit,
Subftanz u. ſ. m.), deren Erörterung jet an zer:
freuten Orten eingeflochten ift, ſowie namentlid) bie
etbijden und religionsphiloſophiſchen Fragen, in einem
eigenen Abſchnitte und präcifer zu behandeln. Mir
wünſchen bem ſchönen Werke, dem erfreulidjen Erzeug:
mif ber ernften Muße eines Geeljorger8, ber feine Be:
rufsarbeit mit gediegenen Studien zu würzen mußte,
aufs wärmfte den verdienten Erfolg.
Repetent Dr. Braig.
2.
Aftenftüde, betreffend ben preußifgen Culturkampf, nebft
einer geſchichtlichen Einleitung. Von Rikolaus Siegfried.
Freiburg i. B. Herder 1882. CX, 441 ©. 8.
Mehr als ein Decennium ift nunmehr verffoffen,
feitbem das Vorgehen ber preußiihen Regierung in
kirchlichen Dingen die Geifter in Deutſchland aufregt
und trennt. Es war baher ganz angemeffen, bie beu
Kirchenſtreit betreffenden Aktenſtücke zu fammeln, und das
vorliegende Werk fommt wirklich einem SBebürfnif ent-
gegen. Die Sammlung befteht aus 198 Numern. Die
legte Numer enthält eine Statiſtik der preußifchen Did-
cefen vom Januar 1881, bie vorlegte das Gefeg vom
Culturkampf. 291
14 Juli 1880 betreffend die Abänderungen der früheren
firhenpolitiichen Gefege. Den Maigefegen des Jahres
1873, ber Hauptgrundlage des Guíturfampfe8, voran
sehen 89 Numern. In ber 92 Seiten zählender Ein-
kitung wird eine kurze Gefchichte des Culturfampfes
überhaupt, im Anhang (€. 408—428) ein geſchichtlicher
Ueberblick über ben Gulturfampf in der Diöcefe Trier,
entnommen der Trierifhen Landeszeitung, gegeben. Ber
Verf. widmete fid) feiner Aufgabe geraume Zeit, und
die Sammlung läßt daher etwas annähernd Vollſtän—
diges erwarten. Die Reihenfolge ift nicht ſtreng ὥτοπος
logi. Die Dokumente folgen fid) vielmehr in der
Drbnung, in ber fie in der geſchichtlichen Einleitung zu
fehen fommen. Der Herausgeber empfand bie Anord⸗
nung felbft al8 einen Webelftand und fügte, um bem-
felben möglihft abzuhelfen, am Schluß vor bem Per-
fonen- und Sachregiſter ein chronologiſches Verzeichniß
aller mitgetheilten Aftenftüde bei. Noch befjer wäre e8
gewefen, die Dokumente felbft in diefer Folge zu geben-
Der geſchichtliche Weberblid wäre baburd) keineswegs,
wie €. V behauptet wird, beeinträchtigt worden. Denn
wenn aud) in ber Sammlung der hier allein angemefjene
Sronologifche Gefihtspunft befolgt ward, jo mußte bie
geſchichtliche Einleitung nod) keineswegs rein chronologiſch
gehalten werden. Der Verf. konnte den Stoff im Gegen-
theil mit gleicher Freiheit nad) ſachlichen Gefihtspuntten
gruppiren. Die in den Tert zur Bezeichnung der Alten
füde eingefegten Numern würden dann allerdings nicht
fortlaufender Art fein. Aber was hätte das gemacht?
Jedermann weiß ja, mo er in einer Sammlung bie
Rumer 139 aufzuſuchen hat, wenn er fie in einem Gitat
19*
292 Siegfried,
qud) vor ber Numer 138 findet, und ebenfo leicht hätte
ber Verf. 189 vor 138 fchreiben Fünnen. Eine derartige
firenge Chronologie erwartet man in Abhandlungen
nicht, wohl aber in Sammlungen von Aftenftüden.
Was bie gefdjidtlide Einleitung beſonders anlangt,
fo wird fie bem Lefer gute Dienfte leiften. Sie wird
ihm einen Weberblid über ben Verlauf des Eulturfampfes
gewähren und das Verftändniß ber Aftenftüde vermitteln.
Daß ber Verf. dabei den fog. ftreng kirchlichen Stand-
punkt einnimmt, braucht faum gejagt zu werden. Ein
gemüfigte8 oder vermittelndes Urtheil hat ja einerfeits
in unferer Literatur leider kaum einen Platz. Anderer:
feit find bie Maigefege derart, daß fie jegt almälig
in den tveiteften Kreifen als ein Unrecht gegen die Kirche
und als ein politischer Mißgriff angefehen werben, und
ihre Ausführung mar vielfach von einer Härte und Rüd-
fihtslofigfeit begleitet, daß man in das Detail bes
Eulturfampfes nicht ohne ftarfen Widerwillen eindringen
Kann, felbft wenn man duch andauernde Beſchäftigung
mit ber Geſchichte gelernt hat, etwas zu ertragen und
mid bei jedem Vorkommniß feine Ruhe und feinen
Gleihmuth zu verlieren. Wieberholt muß man fid ba
fragen, wie denn bergleiden Dinge in unjerem 19.
Jahrhundert mod) vorkommen fonntem, und ob e8 denn
Mangel an SBerftanb oder Mangel an jeglihem Gered-
tigfeitägefühl fei, mas gemiffe Vorkommniſſe gefdeben
ließ? Und die Frage drängt fid) auf, felbft wenn zu—
zugeben wäre, daß bie jüngften kirchlichen Ereigniffe für
den preußifchen Staat ein Grund maren, feine Stellung
zur fatfolijden Kirche zu ändern; denn in allen Fällen
ift das mirklide Vorgehen desfelben nicht zu billigen.
Gulturtampf. 293
Daß bem fo üt, braucht heutzutage für mur halbwegs
Billige und verftändige Leute nicht weiter bemiejen zu
nerden. Die Geſchichte hat bereits den Beweis geliefert,
und ich fann mid) daher enthalten, näher auf den Punkt
einzugehen. Ich führe das nur an, um zu zeigen, wie
der Standpunkt des Verf. begreiflich ift.
Auf der andern Seite kann id) aber bod nicht
unterlaffen hervorzuheben, ba ber Berf. in feiner Gin-
leitung mehr als Anwalt, denn als Hiftorifer auftritt.
Er verräth dieß nicht bloß durch ben nicht immer wiffen-
ſchaftlichen Ton feiner Darftelung, fondern nod) mehr
dadurch, daß er bie Sache fo behandelt, alà ob die fei-
tens be8 preußiichen Epiffopates gegenüber den Mai-
geſetzen thatfächlich eingenommene Haltung die einzig
mögliche und beilfame gemejen fei. Ich begreife zwar
qud) bieje8 Verfahren und bin meit entfernt, e8 befon-
ber8 zu tabeln. Les extrémes se touchent. So lange
t8 Leute gibt, welche den Gulturfampf als eine preufi-
ſche Großthat verherrlihen — und leiber find biefelben
wur nod) allzu zahlreih — wird der Eifer aud) auf ber
anderen Seite fo aufgeregt werben, daß man am fid)
felbft nod) feine Kritik übt, fondern einfach alles ſchön
und gut findet, was eben geſchehen ift. Aber zu billigen
ift ba8 Verfahren gerade bod) nicht, wenn bie Samm-
lung ber Aftenftüde neben ber Wiſſenſchaft nicht etiva
Tod anderen Zwecken dienen fol. Die Frage nad) ber
Nichtigkeit der Taktik war m. (δ. nicht völlig zu über
gehen, und wenn fie vieleicht aud) im ganzen bejaht
werden wollte, jo fonnten bod) bezüglich einiger Ein-
zelnheiten Bedenken auffteigen. Die Darftellung des
Verf. jelbft ift fo angetan, fie manchmal mit einer ge-
294 Siegfried, Eulturfampf.
ioiffen Nothivendigfeit Hervorzurufen. So lejem mit |
begüglid) ber Vorlage ber preußifhen Regierung be:
treffend bie Vermögensverwaltung in den Fatholifchen
Kirchengemeinden €. LXXIV zunähft: „Der Erzbiſchof
von Köln wandte fij Namens ber übrigen preufijden
Biſchöfe mit einer Gegenvorftelung am den Landtag,
in ber er u. a. hervorhob, der Gejegentwurf verletze
nit mur die göttlihen!) und ftaatlid) anerkannten
Rechte der Kirche, fondern enthalte gewiſſermaßen eine
Säcularifation des Kirchenvermögens, indem er als
Eigenthum ber Kirchengemeinden behandle, was fomohl
mad) dem fanonijden aí8 bem Allgemeinen Preußifchen
Sanbredt Gigentjum ber Kirchen felbft fei", und einige
Zeilen fpäter, madjbem das Buftanbefommen des Ge
fege8 erwähnt ift: „Im Auſchluß an das vorgenannte
Geſetz erließen bie Biſchöfe nad) gemeinfchaftlicher Weber:
einkunft ein Schreiben an den Klerus bes Inhaltes,
ba8 neue Gejeg verlege zwar wichtige Rechte der Kirche
und fei einjeitig vom Staat erlaffen; nachdem e8 aber
publicirt fei, fónme e8 von ber fire tolerirt wer
den, damit nicht das ganze Kirchenvermögen in Feindes⸗
band gerathe; denn bie won den Gläubigen geforderte
Mitwirkung enthalte nichts, was abjolut mit bem Ge:
wiſſen unvereinbar fei". Mit dem zweiten verglichen
erjdeint das eríte Schreiben ſchwerlich in einem günfi-
gen Lichte, zumal wenn man erwägt, daß ber fraglide
Gefegesentwurf in den Kammern nicht gemilbert, ſondern
vielmehr nod) etwas verfhärft wurde. Ich bim natürlih
aud) bier weit entfernt, gegen den Verfaſſer besfelben
1) on bem Referenten unterftrichen.
Pflugk · Harttung, bie Urkunden ber päpftlichen Kanzlei. 295
einen Tadel aus[preden zu wollen. Die an fi zu
migbilligenden Ausbrüde in dem Schreiben erflären fid)
hinlänglich aus ber Hitze be8 Streites. Aber bie Sache
bar anzuführen zum Beweis, daß der Anwalt in bem
Berf. bod) allzu fehr über bem Hiftorifer die Oberhand
behauptet, bezw. baf wir eine wiſſenſchaftiche Darftellung
bes Eulturfampfes in der ber Aktenſammlung voran-
geſchickten Einleitung nicht zu erbliden haben.
Sunt
Die Urkunden ber püpfüliden Kanzlei vom X.—XIIL Jahr-
hundert. Bon I. t. Pilugt-Harttung, Privatdocenten
in Tübingen. Münden, Adermann 1882. 76 ©. 8.
Die päpftlichen Urkunden, bie in biefer dem Carb.
Hergenröther gemibmeten Schrift, einem Separatabdrud
aus der Archiv. Zeitſchr., zur Beſchreibung fommen, zerfallen
in 4 Klaſſen: Bullen, Breven, Judicate, Spnodalien.
Innerhalb der einzelnen Klaffen werden wiederum unters
ſchieden: 1) feierlihe Bullen, Mittelbullen, unfeierliche
Bullen; 2) feierliche und unfeierlihe SBrepen; 3) reine
Syubicate, Syubicatbullen und Judicatsbreven ; 4) Syno=
balbullen, Synodalzuſchriften und Synodalakten. Ber
züglic ihres Charakters werben bie Schriftftüde folgen-
dermaßen unterihieden: „Sind bie Bullen feierliche
Alten auf großen Bergamentftücen ausgeführt, fo treten
und die Breven als Heine, unſcheinbare Schriftftüde
entgegen. Jnhaltlich ergibt fid) als Girunbgug ber Bulle,
namentlich in ihrer Hauptart, im Privilegium, bie Rich:
296 Pflugl-Harttung, bie Urkunden ber päpftlichen Kanzlei.
tung auf das Allgemeine, das allfeitig, ewig Verbindende, |
weßwegen in ber burdjgebifbeten Kanzlei bie Adreſſe |
qud) regelmäßig mit ber Verewigung, mit »in perpetaum«
ſchließt. Das Breve dient mehr bem bejonderen Falle,
das Judicat ift Gerichtsakt, ift ein Protofol über Ver:
bandlungen vor bem päpftlihen Gerichte, das Synodal
eine Darlegung von Synodalbeſchlüſſen. In den Bullen
pflegt etwas gewährt, in den Breven befohlen, verboten,
verlangt, mitgetheilt, erörtert, im Judicate und Syno—
bale einfach berichtet zu werden ohne Ge: und Verbote.
Wurde die Bulle in der Regel nur auf Anſuchen aus:
geftellt, fo diente ba8 Breve bem unzähligen Vorkomm-
niffen des Tages“ (©. 2).
Der Verf., aud) in theologiſchen Kreifen, namentlih
burdj feine Acta pontifieum Romanorum inedita, be
Tannt, ift auf bem Gebiete, ba8 er hier bearbeitet, vor:
züglih bemandert. Das ihm zu Gebote ftefenbe Ma—
terial berechnet er nad) ungefährer Schägung, von ander:
mweitigen Notizen abgefehen, auf etwa 1000 Beſchrei⸗
bungen von Driginalien, ungefähr 500 Paufen und 300
Ciegelabbrüde. Die Zahl ber von ihm eingefehenen
Driginafurfunben dürfte 2000 erreichen, bie der heran
gezogenen Archive 100 überfhreiten. Unter diefen Um:
ftänden lie fid eine tüchtige Arbeit erwarten. Die
Darftellung ijt im allgemeinen Har und bündig. Ju
einzelnen wenigen Fällen verleitete ba8 Streben nah
Kürze fogar zu Heinen ſprachlichen Incorrectheiten.
Sunt.
Schneemann, thomiftifh-moliniftiiche Controverſe. 297
4.
1. Die Entftehung und weitere Entwidlung ber thomififd-
molinififgen Gontroverje. Dogmengeſchichtliche Studie
bon 6. Schneemann, S. J. Mit den authographen Auf-
zeichnungen Pauls V. über die Schlußfigung der Congre-
gatio de auxiliis, in Lichtdrud. $reiburg, Herder
1879/80. I. ᾧ. 160, II. $. 230 ©. 8.
2. Controversiarum de divinae gratiae liberique arbitrii
concordia initia et progressus enarravit G. Schnee-
mann, S. J. Friburgi, Herder 1881. VIII, 491
Seiten 8.
Jeder Theologe weiß von dem heftigen Streit, der
von den Dominifanern und Jeſuiten vor 2 Jahrhunder⸗
ten über die Gnadenlehre geführt worden ift. Die vor=
liegende Studie will mun diefen Streit nicht aufs neue
anfahen. Sie toil vielmehr bie Gnabenlehre ber Ge-
ſellſchaft Jeſu gegen bie Angriffe vertheidigen, bie von
verfchiedenen katholiſchen Theologen Deutſchlands gegen
fie gemacht wurden, damit nicht fortdauerndes Schweigen
zu der Meinung Anlaß biete, al8 feiem jene Anklagen
gegründet. Die Auflagen werden ©. 1 f. ber beutjden
Schrift mitgetheilt. Die Gegner werden dagegen nicht
näher bezeichnet, und der Verf. unterließ wohl die 9(m-
führung ihrer Namen, um aud) den Schein zu vermeiden,
als ob ihn ein anderes als eim ſachliches Intereffe Leite.
Das Verfahren verdient infofern gewiß Billigung. Doch
wäre e8 amberjeit8 für mande Lefer erwünſcht getvefen,
bie Kläger näher fennen zu lernen. Der Verf. hätte
auch fo rein fachlich vorgehen fünnen, unb e8 märe ihm
298 Schneemann,
ver Vortheil erwachſen, nidt bloß jenem Bereditigten
Wunſche zu millfahren, fondern aud) unter Umftänden
feiner Ausführung ein größeres Gewicht zu verleihen,
da vielleicht [don die Nennung von Namen genügt hätte,
um bie Anklagen als wenig oder nicht begründet erfcheis
nen zu laffen. In der Vorrede zur Iateinifhen Aus:
gabe lejen tit zwar einige Namen oder erhalten wir
toenigften8 ſolche Andeutungen, daß mir bie Perſon Leicht
errathen fónnen. Aber zwei von ben genannten Männern
gehören nicht Deutſchland an, und von dem dritten, bem
gegenwärtigen Profefior der Dogmatik in Bonn, gingen
jebenfall8 die aufgeführten Klagen nicht aus.
Die Vertheidigungsſchrift erfchien zuerft deutſch in
ben Ergänzungsheften zu den „Stimmen aus Marias
aad". Auf ben Wunſch von einfihtsvollen Männern,
fie weiteren Kreiſen zugänglid zu maden, wurde fie
aud) Lateinisch veröffentlicht, und bie Weberfegung beforgte
ber Ordensgenoſſe des Berf., B. Gietmann. Die latei-
nifhe Ausgabe ift indeffen nicht eine bloße tleberfegung
der deutfchen. Sie enthält auch verfchiedene Aenderungen,
bezto. Berbefferungen und außer einigen anderen Doku:
menten zwei mod) ungebrudte Abhandlungen, bie Re-
sponsio P. L. Lessii ad Antapologiam ven. Facultatis
S. Theol. Univ. Lovan. (869—462) und einen Aufſatz
von 9. fleutgen über bie Inſpirationslehre be8 Leſſius
(463—491). Die Arbeit zerfällt in zwei Theile. Der
erſte Theil handelt von der Entftehung der Gontroverje
zwiſchen ben Thomiften und Moliniften, indem klarzulegen
verſucht wird, welches bie Lehre ber Thomiften über
bie flreitigen Punkte war, bevor fBaneg und SRolina
mit ihren Syſtemen auftraten. Im zweiten wird ein
Thomiſtiſch⸗moliniſtiſche Gontroberfe. 29
hiſtoriſcher Abriß ber weiteren Entwidlung ber Gontto-
verje gegeben.
Die Frage, um bie fid bie große Gonitoverje
drehte, war bie, worauf fid) ber unfehlbare Zufammen-
fang ber gratia efficax mit ber aktuellen Buftimmung
de3 freien Willens gründe, und biefe Frage wurde aufs
geworfen, teil die Unfehlbarfeit der Gnade mit ber
Freiheit (und demgemäß Fehlbarkeit) des Willens in
Widerſpruch zu ſtehen ſchien. Die Sefuiten leiten biefe
Unfehlbarfeit ber wirkſamen Gnade von ber scientia
media ab, die Thomiften von der physica praedetermi-
natio, bezw. im legten Grund von ber untiberftebliden
Wirkſamkeit der göttlichen Allmacht. Sene laflen fie
demgemäß von außen kommen, bieje leiten fie au8 bet
inneren Beichaffenheit der Gnade ſelbſt ab. Der Gegen:
fag ift alfo ein weſentlicher. Die Löfungen ſchließen
fib, wie ber Verfaſſer (L 40) mit Recht betont, noths
wendig aus und fie laſſen ſich jo wenig vereinigen wie
Waſſer und Feuer. Die Vermittlungsverſuche, bie bis-
her angeftellt wurden, find nichtig, ba fie entweder auf
Umgehung be8 eigentlichen Fragepunktes beruhen oder
im Grunde genommen eben auf eine Seite fid) ftellen.
Der Verf. tritt für das moliniftiihe Syſtem in bie
Schranken, und e8 begreift fid) das nicht bloß aus feiner
Zugehörigkeit zur Gefellfhaft Jeſu, fondern aud aus
den Borzügen, die dasfelbe vor bem anderen hat. Aber
gleichwohl mird ihm nicht jeder beiftimmen, aud) wenn
er πίῶ! zu der Schaar ber Thomiften gehört. Die
seientia media, der 9[mgelpunft der moliniftifchen Lehre,
it (darin werden bie Thomiften Recht behalten) eine
Halbpeit, ein falſches juste milieu, und fie leiftet nicht,
300 Schneemann, .
was man von ihr erwartet. Sie verlegt in Wahrheit,
wenn aud) die Worte anders lauten, den Schwerpunft
im Heilsproceß von ber göttlihen auf die menſchliche
Seite, und von einer unfehlbaren Wirkjamkeit der
Gnade fan befbalb ernftlich bei ihr nidjt bie Rede
fein. Auf der anderen Seite ift e8 aber ebenjo ſchwer,
eine physica praedeterminatio anzunehmen, teil neben
berfelben die Freiheit des Willens mehr mit Worten
als in Wahrheit fid) behaupten läßt.
Wenn e3 fid) aber fo verhält, menn jedem Syſteme
bie gewichtigſten Gründe entgegenftehen, legt fid) dann
nicht bie Frage nahe, ob ihre Vorausfegung richtig und
Db wirkli eine unfehlbare Wirkfamkeit der Gnade zu
behaupten ift? Die Moliniften dürften ſchwerlich Ur—
fade haben, fid) der Verneinung ber Frage zu wider
fegen, ba bie Annahme ber scientia media im Grunde
bereit3 bie Negation der Unfehlbarkeit der Gnade ent-
hält. Auch dürfte dogmatiih ber SBerneimung nichts
entgegenftehen. Wohl aber fpreden anbererjeit8 ge-
nügende Gründe für fie. Es fei nur einer erwähnt.
Der Urjprung der Idee ber Unfehlbarkeit ber Gnade
ift bei Auguftin zu fuden. Nur ift der Ausdrud bei
bem Bilhof von Hippo ein anderer und zwar fhärferer.
Er faßt den göttlichen Gnadenmwillen als „ftet3 unbe:
zwungen“ (Enchir. e. 102 n. 26). Er läßt feine Wirk—
famteit invietissime und indeclinabiliter et insupera-
biliter eintreten (De corr. et gr. c. 12 n. 38). €t be
hauptet geradezu, daß ber menſchliche Wille ber Gnade
nicht etwa mur nicht widerftehe, fondern auch nicht miber-
ftehen fóune (ib. c. 14 n. 45), unb er lehrt fomit eine
ivrefiftible Wirkfamkeit der Gnade. Diefe Ausfprüde
Thomiſtiſch⸗ moliniſtiſche Controverſe. 301
find aber nicht etwa gelegenheitliche Uebertreibungen,
fondern fie entfpredyem vollftändig der Lehre, mie wir
fie bei ihm feit bem Jahre 418 antreffen. Man Tann
fie deßhalb nicht etwa mit der Bemerkung entkräften
oder abſchwächen, daß fie nicht gar oft in feinen Schrif⸗
ten vorkommen. Wenn man nun aber bem Sirchen-
lehrer nicht fo meit folgen und mit ihm eine irrefiftible
Wirkſamkeit der Onade annehmen mill, menn man fein
Bedenken trägt, auch andere unerträglich ſcheinende Här—⸗
ten in feinem Spftem aufzugeben, was nöthigt unà
bann, eine unfehlbare Gnadenwirkfamfeit anzuneh:
men, eine Annahme, die zwar im Ausdrud milder ift
als jene, bie aber dem denkenden Geifte nicht geringere
Schwierigleiten darbietet und bie, fo viel aud) bie Do—
minifaner und Jefuiten mit ihrer Begründung fid) ab-
gegeben haben, noch feine8meg8 genügend erklärt und
gerechtfertigt ift? Doch ich greife damit über bie Grenzen
meiner Aufgabe hinaus. Vielleicht erhalten wir von
berufener Seite in Bälde Aufſchluß über bie Cade.
Kehren wir zu unferer Unterfuhung zurüd, fo ift
anzuerkennen, daß fie mit viel Fleiß und Umficht vet-
anftaltet wurde. Insbeſondere wird ber zweite Theil
banfbare Lejer finden. Aber id) fürchte faft, daß bem
Bf. bie erforderliche Unbefangenheit fehlte. In dem
Abſchnitt über bie auguſtiniſche Gnadenlehre wenigftens
brüdt er fid) fo aus, daß eine derartige Beforgniß nur
allzufehr begründet ifi. Er bringt zweimal (I, 49 f.)
die Behauptung, daß es im ganzen Hl. Auguſtinus feinen
einzigen Satz gebe, welcher, richtig verftanden, ber Gna-
denlehre der Geſellſchaft Jeſu widerſtreite. Wie Tann
man fo etwas behaupten? Lehrt denn bie Geſellſchaft
302 Scäneemann, thomiſtijch⸗moliniſtiſche Controverje.
Jeſu eine irrefiftible Wirkfamfeit der Gnade? Oder
wenn man je einwenden wollte, daß das eben aud) nicht
Auguftin’8 Lehre fei, nimmt denn die Gefelligaft Jeſu
einen bloß particularen Heilswillen Gottes an? Denn
diefer liegt bei dem Bifchof von Hippo in feiner fpäteren
BVeriode (Ausſprüche aus der früheren Periode fommen
biegegen nicht in Betracht, ba fie für Auguftin burd) bie
Fortentwicklung feiner Lehre ihre Bedeutung verloren)
fo Har und fo ausgefprodhen war, daß man ihn nicht
in Abrede ziehen Tann, wenn man nicht etwa abfidjtlid)
feine Augen verfeließen will. Es fei nur auf De corr.
et gr. c. 13 n. 39 und De praedest. sanct. c. 8 n. 14
verwiefen und, was nodj mehr in's Gewicht fällt, an
bie drei befannten, zwar völlig vergeblichen, aber bie
Sache jelbft mehr als alles Andere beftätigenden Ver—
fude erinnert, die fraglide Lehre mit dem ausdrücklich
ba$ Gegentheil enthaltenden Schriftwort 1 Timoth. 2, 4
in Einklang zu bringen. 3861. De corrept. et grat. c.
14. 15 n. 44. 47. Ep. 217 c. 6. Hat denn ber gelehrte
Vf. al das überfehen, oder glaubt er etwa, die Sache
felbft megdemonftriren zu fónnen? Das ift ſchwerlich
anzunehmen. Uber der Mangel iff in allem Fällen zu
bedauern, und zwar um fo mehr, je weniger ein eigent:
lider Grund vorlag, bie jefuitifhe Lehre mit bem An:
Teben des Kirchenlehrers zu beden. Die auguftinifche Lehre
ijt ja, wie I, 44 ff. ganz mit Recht betont wird, mod)
nicht als jode aud) ſchon Kirchenlehre. Die Kirche fab
fi) im Laufe ber Zeit im Gegentheil veranlaßt, gewiſſe
von Auguftin aufgeftelte Säge, namentli die Lehre
von bem particularen Heilswillen Gottes, freilich ohne
Nennung be8 großen Kirchenlehrers zu cenfuriren. Es
Sitgog, Kirchengeſchichte. 808
liegt alfo aud) gar Fein Grund zu bem Verſuche vor,
ba Unmöglihe möglich unb Auguftin zu einem Moli-—
uifte zu madent.
Sunt.
5.
Handbuch ber allgemeinen Kirdengeiiäte von Dr. Joh.
Alzog. Behnte Auflage, neu bearbeitet von Dr. ὅτ. €.
Kraus. Mit zwei djronologijden Tabellen und drei
kirchlich⸗ geographiſchen Karten. — Brei Bde. Mainz,
Kupferberg. XVI, 869. VII, 892 ©. 8. Preis 14 M.
Bei der Bearbeitung bet 10. 9L ber Alzog’fchen
8.6. wurde mit 9tedt von ber Vorausfegung ausge:
gangen, daß bie ejer im toefentlid)en ben alten Alzog
wiederzufinden münjden. Die Aufgabe des Hg. be-
ſchränkte fid) demgemäß auf bie 9tadjtragung der über-
fehenen oder jeit 10 Jahren Dingugefommenen Literatur,
auf Verwerthung ber neueften Forfhungen, auf die Aus:
merzung offenbarer Fehler und Irrthümer. Auch waren
einige 88. new zu bearbeiten. Sie werben in der Vor:
tede aufgeführt. Fünf, nämlich 93, 141, 201, 282 und
983 find indeflen zu ftreichen, da fie keineswegs als
neue Arbeit gelten können. Ob bie formale Weber:
arbeitung, bie in der Vorrede ebenfalls betont wird, am
Blage war, ideint mir zweifelhaft; denn das Wert
Rreifte bie ibm urſprünglich anhaftenden formalen Mängel
und Härten im Laufe ber Zeit im mefentlihen ab und
erlangte almählig eine befriedigende Geftalt, und an
304 Alzog, Kirchengeſchichte.
eine Arbeit, die neun Auflagen hinter ſich hat, ſollte
nur da die Hand angelegt werden, wo es wirklich noth⸗
wendig iſt. Indeſſen macht ſich, ſo viel ich ſehen konnte,
die formale Hand des Hg. glücklicherweiſe nur wenig
bemerkbar.
Wie die Vergleichung der vorliegenden Auflage mit der
vorausgegangenen zeigt, hat ſich der Hg. ſeiner Aufgabe mit
Fleiß und Umſicht gewidmet. Doch laſſen ſich immerhin noch
manche Fehler in der Darſtellung und Lücken in dem Litera⸗
turverzeichniß wahrnehmen. So blieb insbeſondere der
ſchon in ber 9. A. veraltete 8 93 faſt unverändert ſtehen.
Ueber den Diognetbrief ift fein Wort weiter gefagt, als
bereit3 in ber 9. 9L fteht, obwohl feitbem. jo viel über
ihn verhandelt und fo verſchiedene Urtheile über ihn
ausgeſprochen wurden. Bei ber Frage nad) dem Autor
der Nachfolge Chriſti ift, von anderen Arbeiten abgefeben,
bie treffíide Monographie von Spitzen nicht erwähnt.
Beim Montanismus fehlt die Monographie von Bon:
wetſch, bei ber Synode von Liftinä bie Unterſuchung
von Nürnberger (Qu.Schr. 1879). I, 274 ijt Hippolyt
unter ben Gegnern ber fepertaufe zu ſtreichen. I, 272
war ber ver[djiebeme Standpunkt Mayer’3 in ber Frage
nad der Zahl ber Katechumenatsclaſſen kurz zu erwähnen.
I, 269 Anm. war zu bemerken, daß bie alte Datirung
des Glemensbriefes jegt fo ziemlich aufgegeben ift, u.
f.m. Doch id) will in diefer Aufzählung nicht alzumeit
geben. Indem ich noch hervorhebe, daß bie neue Auf:
lage ihre Vorgängerinnen bezüglih der Ausftattung
um ein Beträchliches überragt, fehließe ich bie Anzeige
mit ber Vorrede: Und fo möge Alzog's Werk aber.
mals hinausgehen und verjuhen, ob es in feiner
Bonweiſch, Montanismus. 305
neuen Geftalt zu den alten Freunden fid neue hinzus
gewinne!
Funk.
6.
Die Geſchichte des Montanismus von G. R. Bonweiſch, Docent
der Theol. in Dorpat. Erlangen, Deichert 1881. VIII,
210 S. 8.
Dieſe Monographie zerfällt in drei Theile. Der
erſte zählt die Quellen der Geſchichte des M. auf. Im
zweiten wird das Weſen, im dritten die Geſchichte des
M. dargeſtellt. In der Einleitung werden die bisherigen
Auffaſſungen namhaft gemacht. In den zwei Beilagen
am Schluß werden die Ausſprüche der neuen Propheten
zuſammengeſtellt und das Verhältniß des Paſtor Hermä
jum M. — ganz im Anſchluß an bie Zahn'ſche Auf:
faſſung — beſprochen. Aehnlich Tieß aud) Ritſchl in
ſeiner „Altkatholiſchen Kirche“ der Geſchichte des M.
eine Erörterung ber Form und bes Inhaltes ber neuen
Dffenbarung vorangehen, und bie Dispofition liegt ziem⸗
τῷ nahe. Auf der anderen Seite führt aber das Ver—
fahren zu manchen Wiederholungen und läßt aud) bie
geſchichtliche Entwicklung nicht zum vollen Ausdruck fom:
men. Die beiden Seiten, Inhalt unb Geſchichte, wären
m. €. beſſer in ihrer natürlichen Verbindung belaffen
worden. In einem zufammenfaflenden Gapitel konnte
ba8 Weſen und der Grunbdjarafter des M. nod) immer
überſichtlich dargeftellt werben.
Die Arbeit zeugt von Fleiß, Geſchick und Gelehr-
Veel. Ousrtaffärift. 1889. Heft II. 20
806 Bonweiſch, Montaniamus.
ſamleit. Doch fehlt e8 nicht aw mehreren ſchwachen
Seiten. Wenn die Unterſuchung im ganzen auch eine
ſtreng quellenmäßige ift, fo läßt fid) der Vf. bod) bis:
weilen verleiten, die Grenzen zu überſchreiten, die unſe—
tem biftorifchen Wiffen geftedt find, oder er übergeht um-
gekehrt Punkte, bie in einer Monographie nicht fehlen
dürfen. So vermißt man Seite 174 eine genauere
Darlegung be8 Verhaltens ber römifchen Kirche zum M.,
bezw. be8 Verhaltens bet praecessores be8 Papſtes, bet
mad) Tertulian (Adv. Prax. c. 1) auf Grund der Mit:
theilungen be8 Prareas feine Stellung änderte. Sofa
ie8 wird €. 148 ohne meiteres den 9tovetiauerg bei
gezählt. €. 150 und 203 wird als fidjet angenommen,
daß zur Zeit des SBaftor Hermä Presbytercolegien bie
römiſche Gemeinde leiteten, während bie8 bod) aud) ein
proteftantifcher Hiftoriter idjmerlid) behaupten kaun, fo
bald er den Urfprung bet bezüglihen Schrift mit dem
Muratori’ihen Fragment in die Mitte des zweiten Jahr:
hunderts verjegt. Auch vermißt man ba unb dort bie
erforberlihe Genauigkeit bei ben Gitatem. &. 96 if
einfad) von des Hieronymus Brief an die Marcella bie
Rede, während der ftitdjenvater an bieje Frau bod) eine
ganze Reihe von Briefen ſchrieb.
Am Shluß des dritten Theiles finden toit einen
Abſchnitt mit ber Ueberſchrift: Montaniſtiſches in ber
Kirche. Der Bf. fucht hier nachzuweiſen, daß bie Reform,
bie burd) Montanus verſucht worden, fpäter in ber
Kirche auf andere Weile angeftrebt wurde, daß aber er
Luther das begüglide Problem zu loſen und bem m
Montanismus Berechtigten feinen Platz anzuweiſen ver ⸗
flaub, indem er die Forderung wahren Chriſtenthums
Freiburger Dibeeſan⸗Archiv. 307
an alle Chriften und nicht bloß an den Stand der fieri:
ler und Mönde geftellt habe. Der Vf. hätte diefen
Abſchnitt demgemäß aud) überfchreiben fónnen: Monta-
nus, ein Verläufer Luther’3, und e8 wäre biefe8 υἱεῖς
lift fogar beſſer geweſen. Denn bie Weberfärift hätte
ihn wohl einfehen laffen, wie fchief und einfeitig bie
einfehlägigen Ausführungen find, und ber Abſchnitt wäre
baun wahrſcheinlich umgearbeitet oder einfah — ohne
Schaden — geftrihen worden.
Sunt.
7.
Greiburger Didcefon-Argin. Vierzehnter und fünfzehnter
Band. Freiburg, Herder 1881, 1882. XVI, 304;
XVI, 308 ©. 8.
Es liegen unà wiederum (Qu.⸗Schr. 1881 €. 823 ff.)
imei Bände des Freiburger Didcefan-Arhives vor. Sie
enthalten verſchiedene wichtige Publicationen. Ermähnt
werben mögen hauptſächlich: Catalogus Rhenaugiensis,
Fortfegung und Schluß zu 80. XII; Geſchichtliches aus
€t. Peter, 18.—18. Jahrhundert, mitgetheilt von Dr.
Baumann, Aufzeihnungen von Abt Peter Gremelspach
+ 1512, bezw. von Abt Berthold I. (1192—1220), da
bet Bericht über die Anfänge des Kloſters vermutblid)
von ihm herrührt; die Kataloge ber Aebte von Ettenheim=
münfter, Schuttern, Thennenbah und St. Georgen aus
beu Monumenta historico-chronologica be8 38, Gallus
Mezler (Manufcript v. 3. 1798) herausgegeben von
Mayer, fowie Beiträge zur Geſchichte be8 erítgenannten
20*
308 Freiburger Dibceſan · Archiv.
Kloſters (Abt Johannes Ed 1710—1740 und tto.
logien 1779—1801) von Kürzel; bie Anniverfarbüder
ber Klöfter Beuron und Gorheim (Schnell); Rotulus
Sanpetrinus (Weed); Anweiſung des Abtes GBL. Qet:
mann von €t. Trubbert (1737—1749) an bie die Kloftere
pfarreien beforgenden Gonventualen (König); Nekrologien
der Klausnerinnen zu Munderlingen (Scyöttle); Mit:
theilungen über die Gefchichte des Münſters von Freiburg.
Unter den Auffägen ift für einen weiteren Leferkreis
die Abhandlung fünig'8 über Walafıied Strabo und
fein vermeintliche S/agebud) von Jutereſſe ala Beweis,
wie aud in unferer vielfad) hyperkritiſchen Zeit fij
literargeſchichtliche Mythen bilden können, indem ein vor
25 Jahren verfaßtes Libell bei vielen Zeitgenofjen ſeit⸗
dem als Schrift des berühmten Mönches von Reichenau
im neunten Jahrhundert gegolten hat und ποῷ gilt.
Der SBerfaffer hatte zwar don 1868 (Diöcefan-Archiv
III, 360 Anm.) auf ben Irrthum aufmerffam gemadit.
Aber die Notiz blieb zumeift unbeadjtet unb ber Irr⸗
thum verbreitete fid) feitbem in einer Reihe von Werken
weiter. Die Sache ift folgende. Dem Jahresberichte
ber Erziehungsanftalt Maria-Einfiedeln über das Stubien-
Sjabr 1856—57 mar als literarifdje Beilage eine Ab:
handlung beigegeben mit der Weberfchrift: „Wie man
vor taufend Jahren lehrte und letnte, bargeftellt an
einem Zeitgenofien be8 bL. Meintad, Walafried Strabo".
Das Wörthen „an“ zeigt bereits jur Genüge an, dab
Strabo nicht der Autor ber Mittheilungen ift. Zudem
mird bieB in der Schrift felbft febr deutlich erklärt.
Nachdem der Verfaffer nämlich bemerkt, daß er Strabo
jelbft vedend einführen wolle, fügt er bei: Die Geſchichte
Holgmann-Zöpffel, Lexikon für Theologie. 309
desfelben fei nirgends im Zufammenhange aufgezeichnet,
fondern erft mühſam aus feinen und feiner Zeitgenoſſen
Schriften Zug für Zug zufammenzufuchen gewefen. Allein
ber erſte literariſche Berichterftatter (im Katholit 1857
Dit) überfah bief. Er hielt bem bloß al8 rebenb εἰπε
geführten berühmten Walafried Strabo felbft für den
Berfaffer be8 Berichtes, und ba mur ber von ibm ver:
anftaltete Abdruck, nidt aber das Driginal in weitere
freie gelangte, fo erklärt fid) die weitere Verbreitung
be Irrthums. Der Berf. führt 14 Autoren, bezw.
Schriften auf, bie ihn annahmen. Der wirkliche Verf.
des Berichtes ift aber P. Martin Marty, geboren 1834
in Schwyz, feit 1879 Biſchof von Tiberiad und apoftoli-
ſchet Vilar von Dakota,
Sunt.
8.
Reriten für Theologie uud Ktircheuweſen von Dr. $. Holtz-
mann und Dr. R. Zöpffel, o. Prof. an b. U. Straß-
burg. Vehre, Geſchichte und Kultus, Verfaffung, Bräuche,
Weite, Selten und Orden ber hriftl. Kirche, das Wich⸗
tigfte aus bem übrigen Religiondgemeinfchaften. Leipzig,
Vibliograph. Inſtitut 1882. VI, 728 ©. 8.
Vorftehende Schrift bildet einen Band in der Reihe
der Meyer'ſchen Fachlexika. Ste nimmt für die Lectüre
weniger Theologen, wenn dieſe aud) keineswegs ausge:
ſchloſſen find, als vielmehr Laien in Ausfiht, melde
πᾷ für kirchliche Dinge intereffiren. Vermöge einer
fnappen und überfihtlih gehaltenen Darftellung wird
810 Holgmann-Böpffel, Seciton für Theologie.
ein febr veichliher Stoff geboten. Ein Firchlich-theologi-
ider Standpunkt foll zwar laut ber Vorrede nicht zur
Geltung fommen. Aber das ließ fid) leichter ausſprechen
als ausführen, indem einzelne Punkte fid) gar nicht be:
handeln laſſen, ohne daß eine beftimmte Partei genom-
men wird. Ich zweifle bafer, ob verfchiedene Artikel
nicht aud) Proteftanten unbefriedigt laſſen werben, fo
der Artikel über Petrus, beffen römifcher Aufenthalt ein-
fad) als Sage bezeichnet wird, der Artikel über Sygnatius
von Antiochien, deſſen Briefe in allem Recenfionen ohne
weiteres für eine Fiction erklärt werden, um von anderen,
wie dem Artikel Chriftentbum, gar nicht zu reden. Daß
Katholiken mit zahlreichen Artifeln nod) weniger einver⸗
ftanden fein können, braudt unter biejem Umſtänden
kaum bemerkt zu werden. Selbft die Auswahl des
Stoffes ἐξ vorwiegend für proteftantijde Leſerkreiſe be:
meffen. Während foft ſämmtliche proteftantijd)e Theo:
logen Aufnahme fanden, werden nur fer wenige katho⸗
lijde erwähnt. Neue Refultate darf man bei ber An-
lage und dem med ber Arbeit nicht erwarten. Doch
finden fid nit wenige DVerfehen und Incorrectheiten,
bie die Verfaſſer bei größerer Sorgfalt wohl hätten
vermeiden fónnem. Ich verweiſe nur auf bie Artikel
9,656, Arnobius, Audientes, Barnabas, beziv. bie Be
metfung über bie neueften Ausgaben des Barnabas:
briefes, Bafilides, Bußftationen, Hippolytus, Katechu⸗
menen, Conzil, Dftern, «Papias.
Funk.
I. Sheffold, 8. Geſchichte b. Landkapitels Amrichshauſen. 811
9.
Bur Geſchichte des Landkapitels Amrichshauſen. Bon 3.
Sqeffold, Pfarrer in Kupferzell. Heilbronn, Schell
1882. X, 202 ©. 8.
Zahlreiche Geſellſchaften und Vereine fegten fid in
den legten. Jahren in faft allen Gauen Seutidjlanb bie
Erforſchung ber Heimathgefchichte zum Ziel. Auch auf
bem Gebiet der kirchlichen Localgeſchichte ift jon man-
ches Tüchtige geleiftet worden. Es jet nur an die muſter⸗
giltige Gefdjidjte des Augsburger Bisthums von bem
Herrn Erzbiſchof Steidjele von Münden, früher Dom-
lapitular und Domprobft in Augsburg, erinnert. Es
wäre zu wünſchen, daß ähnliche Arbeiten aud) an anderen
Drten unternommen würden. Freilich gehört dazu, von
ber erforberlihen Begabung ganz abgefehen, eine aus:
geſprochene Liebe zu hiſtoriſchen Forſchungen und ein
Eifer und eine Ausdauer, wie fie fid) nicht gar häufig
finden. Wem es indeffen nicht gegeben ift, feine Studien
über εἰπε ganze Didcefe auszudehnen, ber ift vielleicht
in ber Lage, den Boden der Gefchichte in einem kleineren
Kreife zu bebauen. Eine derartige Arbeit lieferte auf
Anregung des H. Dekans Bierlein der Verf. ber vot:
Hegenden Geſchichte des Landfapitels Amrichshauſen.
Die Schrift zerfällt im zwei Theile Im erften und
allgemeinen Theil wird und das ganze Landkapitel nad)
feiner äußeren und inneren Geſchichte vorgeführt. Der
weite und befondere Theil ift den einzelnen Pfarreien
gewidmet. Die Arbeit zeugt von großem Fleiß; bie
Dispofition bes Stoffes ift jachgemäß, bie Darftellung
Tat und durchſichtig, bie Sprache vein und edel Bu
312 Röhm,
wünſchen wäre nur geweſen, ber Verf. möchte die nicht
feltenen Einſchiebſel in Klammern vom Terte abgetrennt
und in Noten unter dem Striche verwiefen und am
Anfang ein alphabetiſches SBergeid)ni feiner Duellen
und Hilfsmittel gegeben haben, fo daß er dem Titel ber
citirten Schriften nicht immer zu wiederholen brauchte
und ber Lejer leichter in ber Lage wäre, fi über bie
benügte Literatur zu orientiven. Indem mit dem Verf.
und dem Landfapitel zu der Arbeit Olüd wüuſchen,
geben mir der Hoffnung Ausdrud, der Vorgang möchte
bald in anderen Kapiteln Nachahmung finden.
Sunt.
10.
Aufgaben ber proteftantifhen Theologie. Bon 3. 8. Röhm,
Domcapitular zu Paſſau. Augsburg, Huttler 1882.
237 Geiten.
Dieſes Werk, das in den Bereich der ſymboliſchen,
zum Theil der apologetifchen Studien gehört, ift infofern
von durchaus neuer Anlage, ol8 bier nicht eine zu
Jammenfaffenbe Darftellung der proteftantiichen Theologie
verſucht, fondern einfad) die Lehren der Hauptdogmatifer
und Wortführer der proteftantiichen Theologie über die
brennendften Gontroperápunfte zufammengeftellt werden.
Soviel möglih mit den eigenen Worten der proteftan-
tijden Theologen bringt der Verf. zur Darftellung bie
proteftantifhe Lehre über das Formalprinzip
(Glaubensquelle, Lehramt), über das Sozialprinzip
(firdenbegrif, über ba8 Materialprinzip (Ur
ftand, Erbfünde, 9tedjtfertigung). In einem weiteren
Aufgaben ber proteftantifhen Theologie. 313
Kapitel wird die Xoleranzfrage beſprochen und das
Schlußkapitel ftellt ben Feftfhriftftelleen aufs Jahr 1883
eine Reihe höchſt intetefjanter, noch nie behandelter
Themate.
Auffalen möchte, marum ber H. Verf. grundfäglih
die Namen feiner vielen Gewährsmänner nidjt nennt.
Ex bemerkt uns, daß er die Namen ſämmtlich in feinem
Manufcript ad marginem genommen babe und jedem,
ber fid) weiter dafür intereffirt, fundgeben molle. Im
Bud aber nennt er fie nicht, um bie möglichfte Objektivi-
tät zu wahren und um zu verhindern, daß irgendivie
bie Discuffion vom Sadlihen aufs Perfönlihe abge:
lenkt werde.
Gegen die Methode des Buchs wird ſich nicht viel
einwenden laſſen. Es wird bekanntlich in ben ſymboli—
ſchen Verhandlungen ſtets von beiden Seiten die Klage
über Niptverftändniß und unrichtige Auffaſſung erhoben;
dem Tann vielleiót dadurch einigermaßen abgeholfen
werben, daß man gat feine eigene Darlegung ber frem⸗
den Lehre verjucht, fondern fie aus dem Munde bes
Gegners nimmt, unb ba man aus den Zahlen, melde
bie Gegner felbft angeben unb anfchreiben, lebiglid) bie
Summe zieht. Der Verf. hat wohl aud) beabfichtigt,
einen Dienft, melden die proteftantiihe Theologie feit
langem ber Tatholifchen leiftet, burd) einen Gegenbieuft
zu erwiedern und ba8 hartgetretene Streitfeld zur Ab:
wechslung mit einem andern zu vertaufhen. Ton und
Form feiner Schrift ift burdjau8 zu loben. Mit voller
Seelenruhe und Leidenſchaftsloſigkeit find alle Materien
befproden; mit ebenfoviel Müheaufwand als Liebe zur
Sade, mit unerbittlihem ‚Ernft und ruhiger Befonnens
314 Rleinermennd,
heit, mit vühmlicher Irenik, durch bie mur bie und ba
eine feine und mwohlerlaubte Ironie bligt, führt er feine
Aufgabe zu Ende; dafür muß man ihm in Deiben Lagern
banfen. Das Nep ber wiſſenſchaftlichen Dog
inatik wird büben unb brüben fleter Ausbeflerung be:
dürftig fein; fo möge benn jeder wenigſtens ein Auge
für fein Neg und. beffen Mängel offen behalten; das ift
ber Wunſch des Q. Berf. und er möchte offenbar mit
feiner Schrift bas Wort Matth. 7, 3 aud) auf biejem
Gebiet in Erinnerung und Empfehlung bringen.
Gonnftatt. Keppler.
11.
Der HI. Petrus Damiani, Mönch, fBijdjof, Cardinal, Kirchen
lehrer. In feinem Leben und Wirken nad; beu Duellen
dargeftellt von Dr. theol. Joſeph Kleinermauns, Prieiter
der Erzdiöcefe Eöln. Steyl. Drud und Verlag ber
Mifjionsbruderei 1882.
Wie der Titel obengenannten Werkes befagt, febt
fid der SSerfaffer vor, ben DL Petrus Damiani als
Mönch, Biſchof, Garbinol, firdjenlerer bem Lefer vor
Augen zu fielen. An's Vorwort fließt er zunähft
eine „Überfichtlihe Zufammenftellung der Schriften von
und über Damiani”, wobei die letzteren, namentlich die
neueften von Gapecelatro, Wambera und Neukirch einer
kurzen Kritif unterworfen werden. SRadjbem bet Ber
faſſer fobanm einen Blick auf den traurigen Zuftand ber
Kirche zu Damiani's Zeit geworfen und bie wenigen
Nachrichten über feine Jugendzeit und feine Wirkſamkeit
Petrus Damiani. 315
als Lehrer zufammengeftellt, führt er uns ins Kloſter
von Fonte-Avellana, gibt und ein Bild von ber Regel
und bem ascetiſchen Geift, ber in jener Zeit be8 Ber:
derbens in biefem Klofter herrſchte, und ſchildert ung
dann, wie Damiani biejem Geift der Abtödtung und
Ascefe in fid) aufnahm, mit tiefer Gelehrſamkeit verband
und defhalb bald im Klofter eim fo großes Anfehen er:
langte, daß er mit der Reform anderer Klöfter beauf:
tragt und zum Prior gewählt wurde, in welcher Eigen-
ſchaft er mehrere neue Ordensniederlaffungen gründete.
Unter feinem Priorat verbreitet fih von Fonte-Uvellana
aus die Verehrung des bL. Kreuzes, die Sitte, täglich
das Dfficium der allerfeligften Jungfrau zu beten, den
Freitag der Erinnerung an das Leiden Chrifti, dem
Samftag der Verehrung ber alerfeligften Jungfrau zu
weihen, in immer weiteren freijen. Zugleich ſehen wir
beu Heiligen aber auch ſchriftſtelleriſch für die Her—
ftellung des fanonijden Lebens unter den Geiftlichen
und gegen bie beiden Grunbübel jener Zeit, Simonie
und Nikolaitismus, eifern. Er zieht al8 Bußprediger
burd) Jtalien, eine Reihe von Streitigfeiten beilegend.
Bald tritt er aud, um feinen Reformbeftrebungen ben
nöthigen Rückhalt zu geben, mit den KHäuptern ber
Kirche und bes Staates, SBapft und faijer, in Verkehr.
In kurzer Zeit fteht er mit an der Spige der Reform
beivegung und arbeitet unter den Päpflen Gregor VI.,
Klemens? IL, Leo IX, Viktor IL, Stephan X. (nit
Stephan IX. mie Kleinermanns €. 113 fagt), der ihn
gegen feinen Willen zum Kardinalbiſchof von Dflia et-
nannte, unter Nikolaus II. und Alerander IL raftlos
mit feinem Freunde Hildebrand duch Wort und Schrift
316 aleinermanns, Petrus Damiant.
für bie Abftelung der Mipftände. Bor feiner Mühe,
Teinem Opfer fchredt er zurüd. ym Auftrag des Papſtes
sieht er mad) Mailand, um den Streit der Patariner
und ber Lombarbijden SBijdjófe zu fehlichten und bem
fimoniftiihen Treiben zu feuern, geht nah Frankreich,
um zwiſchen bem Klofter Glugnp und bem Biſchof Drago
von Macon zu vermitteln. Im Schreiben an bie fran-
zöſiſchen Biihöfe nennt ihn Alerander IL. „unfer Auge
und be8 bl. Stuhles unbemegbare Gtüge". Nach
Deutſchland wird er im hohen Greifenalter gefandt, um
einrid IV. wegen feiner beabfichtigten Ehefcheidung zu
Rede zu ſtellen. Mit flammender Berebtfamfeit, in theil:
weiſe nad unfern Begriffen faft zu derber Schreibmeile
vernichtet er bie Gegenpäpfte SBenebift X. und Honorius IL
(Kadalous).
Bon diefer ganzen reihen Wirkſamkeit unferes Hei:
ligen entwirft Kleinermanns ein lebensvolles, überficht-
liches Bild. Und wenn er [don während der Dar:
ſtellung wiederholt auf feine hervorragende Gelehrſam⸗
Teit, bie ihn zum doctor ecclesiae gemacht, und auf feine
heroiſchen Tugenden zu fpreden kommt, fo gibt er zum
Schluß nohmals einen Weberblid über feine Studien
und Werke, feine literarhiſtoriſche Bedeutung (dies im
Anſchluß an Werner), fein Tugendleben. Dabei führt
er möglichft oft den Heiligen felbft redend ein und gibt
uns fo Gelegenheit, feine edle und phantafievolle, dabei
aber friihe und Eräftige Gprade zu bewundern. So
hat er gewiß erreicht, was et in der Vorrebe als fein
Biel bezeichnet, „zur Verehrung bes Heiligen und zur
richtigen Würdigung feiner Verdienfte beizutragen“.
Auffallen muß jedem Lefer, daß ber Verfaffer eine
Hartmann, bie Selbfizerjegung 2c. des Chriſtenthums. 317
Reihe von Vermuthungen bezüglich ber Thätigkeit Da=
mianis aufftellt, um ihm bei allen mwichtigeren Begeben⸗
heiten jener Zeit einen hervorragenden Antheil zuzu⸗
mweifen, ohne daß fij in den Duellen ein Anhaltspunkt
dafür findet. So liegt 4. 8. für bie Anmwefenheit Da-
miani's in Sutri im Jahre 1046 feine Nachricht vor.
€. 80 ift fie als möglich begeid)net, ©. 84 aber ala
gewiß vorausgeſetzt. Aehnliche Hypothefen finden fid)
€. 78. 79. 110. 118. 173. 174. 181. 191. Drudfehler
notirten wir €. 76 geile 10 v. o. das ftatt baf,
€. 140 B. 11 v. u. ent-durch umb 8. 9 v. u. bof flatt
das. ©. 163 3. 17 v. o. wss flatt mas. €. 197
B. 6 v. u. verbeitete ftatt verbreitete. ©. 216 8. 8
Ὁ. D. Mikrosmus ftatt Mikrokosmus u. a. Die Aus:
flattung macht der Mifjionsdruderei alle Ehre.
Tübingen. Dr. Schmid.
12.
1. Eduard ν. Hartmann, die Gelbfizerfekung des Chriſten⸗
ilum unb die Religion der Zukunft. 2. Aufl. Berlin,
Dunder. 1874. XVI und 122 ©.
2. €buarb ν. Hartmann, bie Kriſis des Chriſteuthuus in
der mobernen Theologie. Berlin, Dunder. 1880. XVI
und 115 Geiten. u
3. Eduard v. Hartmann, das religidfe Bewußtſein ber
Menfägeit im Gtufengang feiner Entwidlung. Berlin,
Dunder. 1882. 627 ©.
Vorftehende Schriften des ,unbemuften" Philofo-
phen an der Spree gehören zufammen. Hartmann till
318 Hartmann,
in ben beiden etften negativ und in dem legten pofitio
den „Beweis“ führen für die Nothwendigkeit einer neuen,
auf „indultio-fpefulativer” Grundlage ruhenden Religion.
Seine Zuverfiht ift dabei fo fiegeögewiß, fein Verfahren
fo breift, fein Urtheil jo vefolut, daß, mer mit religions⸗
philoſophiſchen Fragen und den wiſſenſchaftlichen Mitteln
zu deren Löfung weniger vertraut ijt, Leicht fij impo
miren laſſen könnte. „ES ift mur Ein Abfolutes, das
‚Unbemußte‘, und Hartmann ift fein Prophet; auch
Buddha, Cdelling-Qegel und Schopenhauer waren ‚ab-
iolute* Gefandte; aber größer als alle ift Hartmann!“
Das ift das Grundthema, welches der Philofoph bes
Peſſimismus in unzähligen Wendungen unermüdlich
varürt, daß bem Lefer leidjt die „Befinnung ftoden"
mödte. Darum und weil Hartmann entidieben bie
jämmtlichen Vertreter be8 Antichriftianigmus weit über-
ragt, was bie mephiſtopheliſch ägende Schärfe feiner
„Argumente“ betrifft, darf die hriftliche Apologetik nidt
an ihm vorübergehen. Vieleicht feine ber taufend und
abertaufend Negationen, welche gegen das Chriſtenthum
aufs und neben demfelben wieder untergetaucht find,
ftürmt fo rüdfihtslos wider die legten Gründe alles
SBeftebenben und Poſitiven in ber religiöfen und ftaat-
lien Ordnung der Menfchheit an, wie die „Philoſophie“
des ,fonfteten" Pantheismus, des „PBanmonotheismus”.
3980 immer eine Religionsform etwas enthält, das einiger
maßen bent theiftifchen Gotte3gebanfen, aljo ber Wurzel
ber Auftorität, üfnlid) fiebt, da mirb uns vou
Hartmann mit einem eigentlihen Fanatismus unb mit
einer Ueberfüle von Morten verfiert: alle und jede
denkbar mögliche Borftelung von einem jenfeitigen
Die Selbftzerfegung ᾿ς, bed Chriſtenthums. 319
Gotte ἐξ „Irreligion“ und führt zu ber „Pſeudo—
moral“ ber „Heteronomie", if unnöthig, unnüg, ver⸗
derblich, gottlos für ein echt, ,lonftet" veligiöfes Ge-
πᾶ. — ,9[utonomie" be8 vom „Fluche beà liberum
arbitrium" entledigten Geiſtes — das ift allein das
löſende Wort, und in demfelben find die jämmtlichen
teligiög-ethifchen Merkmale des Zukunftsglaubens gu-
fommengefaßt. Dieſe „Selbftheit“ aber, melde nur
ihren „unbewußten“ Impulfen und Inftinkten folgt und
zu folgen hat, um „Sittlickeit" zu fein, ift deshalb zu
fordern, meil fein Menſch metaphyſiſch ein Selbſt ift,
meil überhaupt fein Wefen eine Eigen: und Sonder:
exiſtenz hat, weil alle Dinge nur „Sonderſtrahlen“ find
aus dem aud feim Selbft, fondern die Gejammtbeit
bildenden Allwejen und Allwillen und Allwirken bes
„Unbemwußten“. Zwar ift das „Unbewußte” in bem
Urmotiv feines Seinwollens „völlig ſinnlos“ und ,boben-
loà unvernün[tig". Aber, nachdem ber leere, blinde
„Wille“ zu fein in das Sein felber hervorgebrochen und
jo ein „Urdummheit“ begangen ift, welche bie Urquelle
alles matürlideu und moralijden Uebeld in ber Welt
darftellt, da konnte fid) dad Unbewußte nicht anders mehr
belfen, als dadurch, baB es mittelft feines ,, unbetouften",
blöden „Vorfellens“ Ordnung in ben Strom feines
Billensdranges, daß e3 das Wiefein in das Daß des
Dafeins hineinbrachte. Der Endzweck biejer Ordnung
beftept darin, bem erften Schritt be blinden Willens,
herauß aus bem unbewußten Ueberjein des Abjoluten,
wieder zurüdzutfun, das „Elend be8 Daſeins“ aufzu:
heben und das Abfolute von ber „Dafeinsqual“ zu
nerlöfen“ in das Nirwana feines ur[prünglideu Richt⸗
320 Hartmann,
dafeins, feines „nichtathmenden“ Anſichſeins. Das ift
die „Xeleologie” der Weltentfaltung, die „göttliche Bro:
videnz“ des Weltlaufes. Den ganzen Entwicklungsproceß
von bem Nochnicht des Anfanges bis zu dem Nichtmehr
be& Endes in al’ feinen Stabien und in feiner inneren
Nothwendigkeit durchſchauen, das ift ſpekulative, meta-
phyſiſche CrfenntniB, das Willen ber legten Principien,
ber σπέρματα be8 Geienben. Im legten Punkte muß
bie Metaphyfit „myfterids“ fein; denn fie beichäftigt
fib aud mit ber ,unvernünftigen" Wefensfeite, bem
alogifhen Wollen im Ahfoluten. — id) felber wiſſen und
empfinden als eine Wefensfulguration des Abfoluten,
und mit bem Gemüthe „reagiren“ auf biefe theoretiſche,
metaphyſiſche Erkenntniß, fo daß ber menſchliche Wille
den vom unbemuften Vorftellen vorgefepten Zweck des
Allwillens, nicht mehr fein zu wollen, zu feinem Sonder:
zwecke madjen, daß der menſchliche Wille ben „Egoismus“
in feiner ontologifhen Wurzel ausfchneiden will — dad
ift das „religiöfe" und „fittlihe” Bewußtſein des Men-
iden, und beffen Bethätigung in der Gejdidjte ift die
Religion” und „Sittlichkeit“. Die einzelnen Religions
formen find bie von ber unbewußten Teleologie, aljo
mit ber Stotbmenbigfeit bes Abfoluten gefegten Ent:
widlungsftufen des religiöfen SBemuftfeina. — Weil fie
Stufen find von einem unvolllommenen, principiell nod)
unwahren Anfang aus, barum ift je bie folgende bit
Verneinung ber vorhergehenden, melde, ein „Wider:
ſpruch“ gegen bas religiöfe Grunbbemuftfein, jemeilig über
fid „binausweist“ und verſchwindet, wenn bie höhere
Stufe erftiegen ijt. Die höchſte Stufe der Religion ift
bie Negation aller Vorftufen, auf welchen fie aber
Die Selöftzerfegung ac. des Chriſtenthums. 821
bod) ftehen muß, um ſich halten zu können. Das ift bie
alle Entwidlungsformen des religiöfen Bewußtſeins in
fih „aufhebende“ Religion des ,fonfreten Monismus“,
bes „Panmonotheismus“ im Unbewußten.
Damit haben wir in engftem Rahmen bie Grund:
liem ber ganzen ,unbemuBten" Weltanfhauung ge-
zeichnet, welche, völlig „neu“, bie ,tiefften" vernünftigen
und gemüthlichen, philoſophiſchen und veligiöfen Bedürf⸗
niſſe des Geiftes befriedigen fol. Noch ift diefe philofo-
phiſche Religion aus ihrem Ueberfein in das Dafein nicht
berauögetreten. Aber indem Hartmann in unferer namen-
108 zerfahrenen und endlos zerflüfteten, religious: und
fittenlofen Gegenwart die Baufteine der Zufunftsreligion
zuſammenträgt, will er der „unermeßlihen Gefahr“ einer
Teligion3lojen Sufunft vorbeugen — der Mann ber
„Providenz“! Wahrlih, nicht in ber Stärke feiner
Gründe — denn ber Grund alles SDajein8, folglid) aud)
Denkens ift die „myſtiſche“ Grunblofigfeit be8 abfoluten
Willens zu fein — liegt die Gefährlichkeit Diefer „Zufunfts=
religion", fondern ganz anderswo, völlig außer bem Be-
teid) des Wiſſenſchaftlichen. Ausgehend von einer naturas
liſtiſch unwürdigen Vorftellung des geſchlechtlichen Gegen-
fages in der Welt unb Menſchheit, denkt fid Hartmann
in gnoftifch-unfauberer Weife das Abfolute als Zwitter,
αἵδ᾽ bie hermaphroditiſche Einheit bes „Willens“ und
der „BVorftellung“. Die „Zufunftsreligion® ift von
dem Dämon be8 „ſpecifiſch Geſchlechtlichen“ inſpirirt.
Daran lag und liegt heute mod) bie dämoniſche Zugkraft
der „Philofophie des Unbewußten“ für gewiſſe Kreife.
& ift ein wiffenfhaftlider Schwindel —
dies Wort fommt feinem ernften Kritifer bec Reli
Se Quartalfrift: 1889. Heft 11. 21
322 Hartmann,
gionsphilofophie be8 Unbewußten zu hart vor — es ift
eim Shwindel, wenn Hartmann von ber „reinen“
Sittlicpkeit des „autonomen“ religiöfen Bewußtſeins redet.
Das Princip des Pantheismus ift als Princip gott:
und fittenlos, und wenn Hartmann von ber Nothmendig:
keit ber Selbftverleugnung fpridt, der ethiſchen
Grunbpfíidt, fo haben feine Worte einen fpecifiich unfitt-
liden Sinn. Selbftverleugnen fol fid) ber Menſch, weil
alles Streben nad perjönlicer Glüdfeligfeit illuſoriſch
ift, weil die Glüdjeligleitstriebe des Menſchen mur die
Mittel find in der Hand des „Unbemwußten“, den Welt:
zweck, die Erlöfung vom Sein zu erreihen. Darum
Kann bie ,autonome" Gelbftverleugnung midt8 anderes
fein als die Selbfthingabe an den unbewußten Weltzwed,
als das „ethiſche“ Sichgehenlaſſen des in „ſubjeltiver
Einſchränkung“ als Menſchengeiſt erſcheinenden objektiven
Abſoluten. Das ift der ſpekulativ auftorifirte Rihilis⸗
mus des Sittlichen, die Metaphyſik der Paſſionen, welche
für all ihre Aeußerungsformen eine endgiltige Ent:
ſchuldigung haben an bem nicht trivial, fondern onto:
logijó gemeinten Gage: ἕν καὶ πᾶν — Alles ift Eins,
und am beften wäre Nichts. Ober ijt es nicht der Hohn
be8 Cynismus, wenn ber Pefimismus bie Vorſcrift
gibt: fei „moniſtiſch“ religib8 und ſittlich; denn mens
bu bid durch Unſittlichkeit zu Grunde vichteft, fo hat
das feinen Werth für die „allgemeine“ Sittlichkeit, für
die Surüdbringung des Seins in das Nichts?! Religion
und Sittlichkeit find „objektiv“ nothwendige Räder in
bem Entwidlungsgetriebe be8 Alls, und basfelbe treibt
unaufhaltſam bem Auseinanderfallen zu; darum ift ὦ
„zweckwidrig“ und „unfittlih", wenn ein. „autonomes"
Die Selbftzerfegung ac. des Chriſtenthums. 323
Rad aus. dem Getriebe herausfällt und fo eine Ver:
Iongfamung bes „Erloſungs“-Proceſſes berbeiführt!
Darin aljo, daß Hartmann principiell alles, mas
Metaphyſik und Ethik heißt, verneinen muß, liegt nicht
bie Stärke feiner Gründe, fondern in ben längft vor
der heutigen Form des Peſſimismus von ben Paffionen
des menfchlichen Herzens „unbewußt“ gezogenen Folger-
ungen aus ben „neuen“ Principien bed „autonomen
Unbewußten“. Dazu kommt die Schwäche be8 heutigen
wiſſenſchaftlichen Proteftantismus, welche (nament-
Τῷ im Norden) eine große Verbreitung der „Philofophie
des Unbewußten“ ermögliht und theilmeis eine be:
geifterte Jungerſchaft der , Sufunftéreligion" erzeugt hat.
Nah biejer Seite hin ift bie modernfte Religionsphilo:
ſophie bejonber8 beachtenswerth für bie hriftliche Apolo-
getil. Eine Cnbblüte des Subjektivismus, mas
Hartmannd ,autonome" Denkrichtung ift, meist mad,
be bet theologische Subjektivismus in feiner. fon:
fequenten Form, als „liberaler Proteftantismus“ näm-
Tib, uuchriſtlich, konfeſſionslos unb religionslos tft (Selbft-
jerſetzung 2c. SS. 01/91). Auch Strauß hatte das
ſchon gejagt, ohne jebod), mie Hartmann richtig betont,
felber aus ben auögetretenen Geleiſen des liberalen,
vulgären Rationalismus herauszukommen. — Der fpe:
lulatioe Proteftantismus“ mit Hegel’ Stirnzeichen
(Biedermann, D. Pfleiderer, Lipfius), jagt Hartmann
meiterhin, ift aud) unchriſtlich; denn er Bat, tro aller
gegentheiligen Rettungsverſuche, das chriſtliche Gentral-
bogma von der Menſchwerdung Gottes zerfegt und über-
haupt bie ganze Gotteslehre, trot feiner theiſtiſch Klingen-
den Terminologie, in ben Pantheismus umgedeutet (Krifis
21*
324 Hartmann,
des Chriſtenthums in ber modernen Theologie). Soweit
ber heutige Proteftantismus Wahrheit hat, ift er un
Griftlich, verneint er ba8 mit ber modernen Kultur ab.
folut unverföhnbare Chriſtenthum, (Selbftzerjegung
©. 17 ἢ); ſoweit er noch chriſtlich fein möchte, weicht
er von ber Wahrheit, von bem Pantheismus ab.
Legterer fließt von felber au8 dem „religiöfen Grund:
phänomen“ be8 Geiftes, aus feinem Sicheinswiſſen mit
bem Abfoluten, dem Gubjelte feines und aller einzelnen
„Bewußtſeine“ (Krifis €. 100 ff.) Abgeſehen von ben
chriſtlich infonfequenten Anhängfeln, hat der Proteftan-
tismus feine geſchichtliche Aufgabe erfüllt, hat er das
'fdon vor ber Reformation tobte Gyriftentjum be
ftattet (Selbftzerfegung €. 7 ff). Hier mum treibt
ber „Philoſoph“ am ber Spree eine Sophiſtik, wie fie
ungeheuerlicher faum die Geſchichte aufmeifen dürfte: bad
Chriſtenthum ift tobt, nadjbem es feinen Tobtengräber,
ben Proteftantismus geboren; bie einzige hiſtoriſch
edte unb fonjequente Form des Chriftenthums,
bet Katholicismus, bat fidj gugleid) bod) „in
ſtaunen⸗ unb [dytedenertegenber Gewalt“ (Selbftzerfegung
©. 2) erhoben, um die gefammte moderne Kultur, welche
bem Chriſtenthum durchaus beterogen, aber au 8 bem:
felben getmorben ift, zu verſchlingen. Ob ber „Ring:
kampf auf Leben und Tod“ fid) für den ,tobten" Ka—
tholicismus ober für bie allein Iebensfähige Zukunftö-
religion entſcheiden werde, bleibt πο ungewiß; das if
ber „Vorſehung“ zu überlaffen (frifi& €. XIII f).
Alſo wär e8 „wiſſenſchaftlich“ völlig motivirt, biefem
Zweikampfe zuzufehen, die Hände im Schoß. Dod um
ipm neue und immer neue „Motivationskräfte“ zuzus
Die Selbftzerfegung 2c. des Chriſtenthums. 325
führen, ift es nod) „wiſſenſchaftlicher“, den „Stufengang
be religiöſen Bewußtſeins“ im ber Menſchheit nachzu⸗
zeichnen, aufzudecken, wie bie religiöfen Ideen in bem
„Nenſchenthiere“ des Naturalismus an ber Naturbe-
trachtung fid) entzündet haben, ähnlich wie das „relis
gibfefte" Thier, ber Hund, den „Begriff“ be8 Geiftes,
von bem er im fid nicht das leifefte Bewußtſein Dat,
außer fi, im Menſchen, ,entbedt" (Relig. Bewußtſ.
€. 1—100). Das im Princip durhaus „moniſtiſche“
Gottesbemußtfein zerftel mun theils in Polytheismus;
theils erfuhr e8 eine äſthetiſche, juridifche, ethiſche Sev:
geiftigung bei den Griechen, Römern und Germanen
(a. a. D. 109—181); theils ward es theologifch [Ὁ ἢ e—
matifirt bei ben Aegyptern und Parfen (190-—262).
So aber gerieth es ſchließlich in eine „Sadgaffe“, um
fid einen neuen Ausweg fuden zu müffen im Supras
naturalismus bei den Brahmanen und Buddha,
fotie in dem jüdiſch-chriſtlichen Theismus (271 bis
Ende). Solange jebod) das „religiöfe Bewußtſein“ nicht
ganz unb voll, rein und ,fonfret" pantheiftiich fid)
felber verftand und verfteht, findet es fid) überall „ges
prellt“,
Dies ift das Stefultat der hartmann'ſchen Religions»
philoſophie, deren „Wiſſenſchaftlichkeit“ ganz beſonders
durch den Umſtand in ein blendendes Licht geſtellt wird,
daß Hartmann bie Cntmidlung des religibſen Bewußt⸗
ſeins in der ganzen Menſchheit geben will unb dabei,
neben einigen anderen „Verſehen“, gleich bie ganze weit:
lije Halbkugel unferes Planeten unberüdfichtigt läßt.
Freilich ift für ben Peſſimismus biefer unfer Grbfürper
ur eine „Hägliche Verſuchsſtation“ der Statut. Darum
326 Kalter,
könnte die „Philoſophie“, welche ihren Blick ja auf das
Welt ganze richtet, von bem Boden, auf welchem fonft
aud) bie „Philoſophen“ fußen müſſen, gleich ganz ab:
feben, und fie bliebe bod) mod) bie „Philofophie des
Unbewußten". —
Stepetent Braig.
18.
Routab son Marburg unb bie Inquifition in Deutſchland.
Aus ben Quellen bearbeitet von Dr. Balthafer Raltner.
Prog 1882. Tempsky. IX, 198 €. 8. Pr. 4 S.
BVroteftantifcherfeits hat das Leben und Wirken
Konrad's von Marburg wiederholt eine Bearbeitung
gefunden. Eine Reihe von Unterfuhungen liegt über
ihn vor. MS bie befte läßt fid) die von ente (1861)
bezeichnen. Selbft zum Vorwurf des Romans (6. v. 393.
Ein Suder ber féger unb ein Mehrer des Chriften
glaubens. Bilder au8 bem XIII. Jahrhundert von
Louiſe Guno 1877) und be8 Dramas (9. Wollf 1881)
wurde ber beut[dje Stegermeifter neueſtens gemacht. Ju
ber vorliegenden Schrift erhalten wir endlich aud) eine Be:
arbeitung aus Fatholifcher Feder, und biejefbe unterſcheidet
fi von den früheren nicht bloß durch ben confeffio:
nellen Standpunkt des 3Bj., fonbern fie empfiehlt fid) aud)
duch Gründlichkeit und Umſicht der Forfhung und Ob⸗
jectivität be8 Urtheils. ine tüchtige Vorarbeit lag für
fie in der Schrift von Henke vor. Der 3Bf. holte mit Recht
etwas weiter aua. Um den Mann richtig zu würdigen,
mit beffeu Namen die Inquifition auf beutjdjem Boden
Konrad von Marburg. 3%
ungertrennlih verbunden ift, indem fie, wie f. ebenfo
kurz als treffend bemerkt, durch fein Eingreifen erftarkte,
duch feine Fehler erlahmte und mit feinem Tode er-
lof, mußten aud) die juridifchen Grundlagen der Inqui—
ftion zur Sprache kommen und bie Lehre und die 9[u8-
breitung der Kegereien bargeftellt werden, gegen melde
biefelbe gerichtet war. Nur auf biefem geſchichtlichen
Hintergrund erhielt das Bild Konrads feine rechte Bes
leujtung. Die Arbeit von Sy. Fider über die gefegliche
Einführung ber Todesſtrafe für fegerei (Mittheilungen
bes Inftituts für öfterreih. Geſchichtsforſchung 1880 I,
177—226) leiftete ihm in jener Beziehung treffliche
Dienfte. Bezüglich ber Ketzergeſchichte vermißt man
die Benithung einiger neuerer Literariicher Erſcheinungen.
Aud die Thätigkeit, die Konrad als Beichtvater und
Gewiſſensrath ber HI. Elifabeth von Thüringen ent-
faltete, fonnte nicht übergangen werben, ba fein eigen:
iümlidjer Charakter bier nicht weniger deutlich hervor⸗
tritt als in feinem Wirken als Inquiſitor. Dagegen
wurden bie Gtebinger mit Recht bei Seite gelaffen.
Deren Kämpfe berühren weder das Leben Konrad's
noch bie Geſchichte ber Inquiſition in Deutfchland, indem
jener weber perjönlich unter ihnen thätig war, nod) aud)
ih feinen Berichten von ihnen ſpricht, mie Raynald und
im folgend andere fäljhlih angenommen haben (vgl.
€. 164), und Inquiſitoren nie unter ihnen auftraten,
da der Gtreit ber Stedinger mit dem EB. Gebhard II
von Bremen in erfter Linte überhaupt nicht ben Glauben
betraf. Die Arbeit verdient, wenn fie aud) von Schwä⸗
Gen nicht frei ift, bod) großes Sob.
Funk
828 Loofs,
14.
1. Antiquae Britonum Scotorumque ecclesiae quales
fuerint mores, quae ratio credendi et vivendi, quae
eontroversiae cum Romana ecclesia causa atque vis,
quaesivit Friederiens Loofs, Lic. Theol. et Dr. Phil.
Lipsiae et Londini, Fock et Nuit 1882. 120 ©. 8.
2. Bonifatius, ber Berftörer des columbanijden Kirchen⸗
tums auf bem Feftlande. Won Dr. Auguſt Ebrard.
Gütersloh, Bertelsmann 1882. VIII, 258 ©.
1. Die fonderbarften Beftrebungen machten fid in
ber legten Seit auf bem Gebiete der altbritifchen ftitden-
geſchichte geltend. Der Pfarrer und Gonfiftorialtat$
Ebrard in Erlangen glaubte nachzumeifen (zuerft in
ber Zeitſchr. f. b. Dift. Theol. 1862/63, dann in ber
Schrift: bie iroſchottiſche Miſſionskirche 1873, an bie
fih 1882 al8 Nachtrag bie oben angeführte Schrift an
ſchloß), daß die alten chriftlichen Briten nicht bloß in
teiner Verbindung mit der römiſchen Kirche geftanden
haben, fondern aud) in Lehre, Disciplin und Verfaffung
weſentlich von derſelben abgewichen feien, daß fie insbe⸗
fonbere nicht die vömifche oder altkirchliche Hierarchie,
nicht bie Mönchsgelübbe und bem Gölibat, nicht bie Qe
ligen⸗ und Reliquienverehrung, umgekehrt aber bie Lehre
von ber Rechtfertigung buch bem Glauben allein und
ohne bie Werke gefannt, mit einem Worte im wefent-
lichen bie proteftantifche Lehre gehabt haben, baf bit
Herrſchaft diefer Lehre nicht auf bie britiſchen Juſeln
fid beſchränkt, fondern über einen großen Theil de
Feſtlandes, namentlich über Deutſchland fid) erſtreckt habe,
Ant. Brit, Scotorumque ecclesia. 329
bis endlich Bonifatius fid) gegen fie erhoben und bet
tümijfen Lehre ben Weg gebahnt habe. Die Auf-
fellungen, menn aud) nicht ganz meu, ba Aehnliches
ſchon die Magdeburger Genturiatoren und neuerbings ein
gewiſſer Heber (Die vorkarolingishen Glaubenshelden am
Rhein 1868 2. A. 1867) behauptet hatte, erregten großes
Aufiehen, da fie, wenn aud nicht gerade immer in toiffen:
ſchaftlichem Tone, fo bod) mit einem gewiſſen wiſſenſchaft⸗
liden Aufpug vorgetragen wurden, und e8 fehlte nicht an
Proteftanten, bie fid) freuten, ba& nun ihr Stammbaum
mit Sicherheit in das chriſtliche Alterthum zurüdgeführt
fe. Doch gab e8 anbererfeità aud) foldje, melde bie
Haltlofigkeit der Ebrard'ſchen Behauptungen im vers
ſchiedenen Punkten nachwieſen, und jelbftverftändlich ge:
ſchah dasfelbe auf fatbolifdjer Seite. Insbeſondere war
man bemüht, an die Stelle be8 Zerrbildes, das Cbrarb
von bem HI. Bonifatius entworfen hatte, wieder bie
geſchichtliche Wahrheit treten zu laſſen. Weniger forgs
fältig umb allieitig ging man auf Phantafiegebilde ein,
welde €. auf dem Boden ber altbritifhen Kirchenge—
ſchichte errichtet hatte. — ier mar alfo burd) bie Wiflen-
ſchaft immer nod) eine Aufgabe zu Löfen, und fie murde
in der vorliegenden Schrift in Angriff genommen. Bald
mad unb zum Theil gleichzeitig mit dem Verf. hat audj
der Referent die einſchlägigen Punkte einer Unterfuhung
unterzogen, und feine Abhandlung (Hift. Jahrb. 1883
€, 5—44) war im mejentlidjen vollendet, als ihm deſſen
Schrift gufam. Beide Unterfuhungen find jomit unabs
hängig von einander entftanden, und ε ἐξ um fo
günftiger für bie Sache, daß fie in ber Hauptſache
völlig zufammentreffen. Beide ergänzen aud) einander
330 Loofe,
in einer getviffen Beziehung, indem id) mid) vorwiegend
auf bie Fragen ber firdjliden Disciplin unb SBerfaffung
beſchränkte und fie dementſprechend ausführlicher bes
handelte, mährend Loofs aud) bie übrigen ftreitigen
Punkte, ſowie bie Geſchichte der britiichen und ſchottiſchen
Kiche berüdfichtigte und zugleich fenntniB von einigen
bebeutfamen Werken der englijdem Literatur hatte, bie
mir unzugänglic blieben.
Was nun die Schrift ſelbſt anlangt, jo zerfällt fie
außer Einleitung und Schluß in zwei Theile. Der erfte
handelt von ber britifchen Kirche und zwar zunächſt von
ihren Anfängen, ſodann von der Periode 450—597,
ferner von ben britifchen Kirchen in Gallien und Spanien,
enblid von bem Zeitalter 597—800. Der zweite und
größere (€. 29—114) ift der iriſch-⸗ſchottiſchen Kirche
gewidmet.
Bezüglich der Frage πα dem Uriprung des Chriſten⸗
thums in Britannien ſchließt fid) der SBerf. mit Rüdfiht
auf den verwandten Ritus der beiden Kirchen denjenigen
an, meldje bie neue Religion von Gallien, von ben Ges
meinden Lyon und Bienne aus mad) ber Inſel fommen
lafen. Doc geht er nicht näher auf bie Sache ein, ba
e8 ihm genügt nachzuweiſen, baf bie britiſche Kirche in
ihrer erften Zeit durchaus orthobor mar. Den gleichen
Beweis erbringt er für bie zweite Periode aus Gildas.
Er thut inabejonbete bat, ba das Mönchthum Gelübde
und namentlich ba8 Gelübde ber Keufchheit hatte, dab
wahrſcheinlich aud) ber Höhere Klerus Enthaltfamteit
übte; daß, wenn aud) ber Berfehr mit der römifchen
Kiche feit dem Einfall der Angelfachien unterbroden
war, bod nichts weniger als ein Haß gegen biefelbe
Ant. Brit. Scotoromque ecclosia. 831
anzunehmen ſei. Seine Anſicht über bem Gólibat findet
er burd) einen von Gregor von Tours (H. F. IV c. 4)
erwähnten Fall in der Bretagne beftätigt. Als Eigen:
thümlichkeiten ber britifchen Kirche gegenüber der römi⸗
ſchen läſſen fid daher für bie ältere Zeit mut bie pete
ſchiedene Dfterbereinung und bie Form ber Tonfur
nachweiſen. Jene und bie Taufe (mie e8 fdeint, hatten
die Briten nur eine Untertauchung) bildeten befanntlid)
bie Streitobjekte, αἵδ᾽ feit bem Ende des 6. Jahrhunderts
die römifhe Kirche in Folge ber Miffton unter ben
Angelfachfen mit der britiihen in nähere Berührung
fam. Man hat gefragt, welches bie eigentlichen Motive
ber Ablehnung ber römifchen Forderungen feitens ber
Briten getoefen feien. Der Verf. macht mit allem Grund
geltend, daß e8 nicht Abneigung gegen Rom, baf es
vielmehr allein der Haß gegen bie Augelſachſen war,
denen bie Briten gemäß bet britten Forderung bes
Abtes Auguftin fortan gemeinfam mit den Römern das
Evangelium verfünbigen follten, was bie angeftrebte
nähere Verbindung nicht zu Stande kommen lief.
Die ſchottiſche Kirche wurde befonders behandelt, weil
fie wohl bie gleiche Dfterberedjmung, bie gleiche Tonfur und
einen ähnlichen Ordinationsritus hatte wie bie britifche,
aber einen verfchlebenen Meßritus, eine andere Taufform,
eine eigenthumliche hierarchiſche SBerfaffung und ein ganz
anderes BVerhältniß zu den Angelſachſen. Ihre Anfänge
find faft mod) dunkler als die der britiihen Kirche. Ins-
befondere ift e8 fraglich, in welchem Verhältniß Palla-
dius und Patricius zu einander fichen. Der Verf. hält
mit Recht die Angabe be8 Prosper von Aquitanien über
bie Sendung bes eriteren burd) Papſt Galeftin gegenüber
332 Loofs, Ant, Brit. Scotorumque ecclesia.
den modernen Anfechtungen aufrecht. Er kommt ferner
zu dem Refultat, bag Patricius in Italien und in Ber:
ler mit der römiſchen Kirche tar, und erklärt daher die
Dicta Patrieii im weſentlichen für ächt (€. 50), während
er ben bem Apoftel Irlands gewöhnlich beigelegten
Spnobalftatuten einen andern Urfprung beimiBt (&. 40).
Auf der anderen Geite glaubt er aus verjdjiebenen
Gründen annehmen zu follen, Palladius ſei identiſch mit
Patricius (51). Die Vermuthung wurde bereits burd)
Schöll (De eccles. Brit. Scotorumque historiae fontibus
1851 p. 77) ausgelptodjem, ſpäter (Herzog, 9t. €. 1.
A. XI, 209) aber wieder. verlaffen, und fie dürfte in
ber That, fo mondes aud) für fie ſpricht, ſchwer Dalt-
bat fein.
In bem Gapitel über den Abt Golumba von Hy
(€. 53—73) beſchäftigt fid) ber Verf. mit ber Ber:
faffung und Hierarchie ber ſchottiſchen Kirche und er tritt
u. a. nidt bloß den Behauptungen €brarb'8 über den
Epiſkopat unb Diakonat entgegen, fondern er bezweifelt
«ud bie Behauptung von Todd und Gfene, baf alle
Kleriker in der irofdottijden Kirche Mönche geweſen
feien. In der Unterfugung über die Kirche Northumber:
lands (€. 73—89) fommt er näher auf bie Firchlicen
Drdines zu fpredjem und weist er den Ebrard’fchen Ein:
fall von ber Möndgehe und von bem großen Gegenſah
zwiſchen der ſchottiſchen und römifchen Kirche kurz zurüd.
Der Abſchnitt über Gofumbam oder Golumba b. j. gibt
ipm Gelegenheit, die Anerkennung des römiſchen Pri⸗
mate8 burdj bie ſchottiſche Kirche nachzuweiſen, die
Ebrard'ſchen Aufſtellungen über bie Stóndj8- und Prieſter⸗
ehe einer erneuten Prüfung zu unterziehen und näher
Ebrarb, Bonifatius. 888
auf bie ſchottiſchen Klöfter oder bie columbaniidje Regel
einzugeben. Der Schluß enthält eine Vergleihung zwi⸗
hen Gofumban und Bonifatius.
Dies ber tidtigite Inhalt ber trefflichen Unter
fudung. Die chronologiſche Anordnung bedingte, wie
aus bem Bisherigen hervorgeht, Wiederholungen oder
Behandlung berjelben Sade an verſchiedenen Drten.
Es wäre daher wohl gmedbienlidyer gemefen, den Stoff
mehr nad fachlichen Gefichtspuntten zu gruppiren, und
dies namentlih in dem Abſchnitte über bie fchottifche
fide zu thun, menn aud) bie beiden Kirchen je bes
ſonders behandelt werden wollten. Der Eindrud müre
fiderlid) ein ftärferer geworden und das Grundlofe und
theilweiſe Ungeheuerlihe ber Ebrard'ſchen Aufftellungen
wäre mod) deutlicher zu Tage getreten. Oder wenn ber
Verf. bei feinem Plane bleiben wollte, fo wäre ein ge=
naueres Inhaltsverzeichniß am Plage gemejem, damit
bet Leſer fid) leichter über bem Stoff orientiren könnte.
2. Den Anlaß zu ber zweiten Schrift gab bie
Fiſcher'ſche Monographie über Bonifatius (Qu.-Schr.
1882 €. 656 jf), in ber bie Ebrard'ſchen Aufftellungen
vielfach beftritten und berichtigt wurden, und fie ift in
fo fern eine Ctreitjdyrift. Andererfeit3 nimmt fie aud)
eine pofitive Bedeutung für fih in Anfprud, indem C.
die Quellen nod) einmal durcharbeitete und „den ges
fammten Schag aller vorliegenden Urkunden in deren
fortlaufendem Zufammenhang fórmlid) eregetijd) durch»
forfchte unb prüfte". Nach bem bereit Angedeuteten
amm id) zu ber Arbeit mur einem durchaus ablehnenden
Standpunkt einnehmen, wenn id) aud) nicht umhin kann,
bie Geleprjamteit anzuerkennen, bie der Verf. an einzelnen
384 Θάπείδες,
Drten an ben Tag legt. Das columbanijde Kirchen⸗
thum bat fo mwenig einen geſchichtlichen Boden als die
Culdeer⸗ und irojdottijdje Miſſionskirche, von denen eà
nur burd) den Namen unterfchieden ift, und es ijt daher
eim verfehrtes Unternehmen, Bonifatius zu einem jer
ſtörer desſelben zu ftempeln.
untl
15.
Der neuere Geifterglanbe. Thatfahen, Täufhungen und
Theorien. Bon Dr. Wilelm Schneider. Paderborn.
Drud und Verlag von Ferdinand Schöningh. 1882.
8. VII und 430 ©. Pr. M. 4. 50.
Die reihe Literatur über den Spiritismus, von
welcher wir hier nur bie Arbeiten von katholiſcher Seite,
von Shneid, Gutberlet, Shanz, Hagemann,
&nabenbauer, Wiefer, Dippel u. 9L im Auge
haben, hat einen neuen Zuwachs butd) bie obengenannte
Schrift erfahren, welche bereit3 von competenten Beur:
theilern eine fo anerfennende Aufnahme gefunden, bof
ung eigentlih mur übrig bleibt, aud). unfererjeits bit
rückhaltsloſe Zuftimmung zu jener Anerkennung auszu⸗
fpredyen. Faft möchten wir erwarten und münchen,
daß nun eine Pauſe einträte und fid) bie lefende Welt
an ber Fülle von Schriften über den heutigen Stand
ber wiſſenſchaftlichen Frage bezüglich des modernen
Geifterglaubens genügen ließe. Das vortrefflich gt.
ſchriebene Buch be8 geehrten Seminarlehrers in Rüthen,
M. Schneider, fónnte als ein tüchtiger vorläufiger
Der neuere Geifterglaube. 335
Abihluß gelten, jo lange nicht wieder neue Incidenz⸗
punkte eintreten und neue Thatſachen vorgebracht met:
ben, melde neue Aufflärungen bringen ober neue (ὅτε
Härungen verlangen. Freilich wird die ſpiritiſche Bes
megung, menm aud) wifßenfchaftlih überwunden, nod
midt zur Ruhe kommen, weil fie ebenfoweuig vor ben
ein wiſſenſchaftlichen Widerlegungen ftille ftehen wird,
ala fie aus einem rein wiſſenſchaftlichen Intereſſe her
vorgegangen ifi; biefelbe Dat viel weniger eine philo:
ſophiſche ober apologetifche, ala eine ethiſche Bedeutung,
und fo muß aud mit etbifden Mächten gegen fie ans
gelümpft werben; dazu bedarf e8 aber vieler und manig-
fader Kräfte. Es ift ein Kampf um die drijtlide
Religion und um bie fittliche Weltanſchauung gegen neues
Heidentbum und neuen Aberglauben; und in biefem
Kampfe können ε der Mitarbeiter wie zu viele fein,
fofern fie mur nidt*gu jenen gehören, um berentmillen
wir ffeben müflen, Gott möge und vor unferen Freun-
deu bewahren.
Der Werth der vorliegenden Schrift num liegt vot:
nehmli in zwei Dingen. Sie bietet exftemà eine lift:
volle Drientirung über den Urſprung und die gefchicht-
lide Entwidlung be8 Spiritismus und über bie θέτε
ſchie denen Metamorphofen, melde ber univerjelle Glaube
an bie Fortbauer der Beziehungen zwifchen ben 9[bge-
ſchiedenen und den Hinterbliebenen, ſowie ber Glaube
an das Geifterreih innerhalb der verfhiedenen alten
und meufeibnilden Religionen durchlaufen; meiterhin
‚dann eine Weberficht über den heutigen Stand der Frage
und eine gemwiflenhafte Unterfuhung des Thatſächlichen
an den bog ben Anhängern des Spiritismus producirten
836 Sqhneider,
Phänomenen, welche ihrer Erklärung harren und auf
welche bie „neue Religion“ gegründet werden fol. So—
fern ber Spiritismus eine neue Phafe eines in ber
Geſchichte der Völker immer wiederkehreuden Wahn:
glauben barftellt, hätte vielleicht ber Frage etwas näher
getreten werden fünnem, ob für jein Entftehen, ba er
bod) einmal feinen Urfprung in ber neuen Welt Dat,
nicht ähnlich wie für das Mormonenthum aud) befondere
Erklärungsgründe in bem genius loci Amerikas, in ben
bejonberen Nachwirkungen altamerifanijden Heidenthums,
das fid) bem modernen Gejammtleben des merfmürbigen
transatlantifhen Volkes mehr oder weniger deutlich auf:
prägt, gefunden werben lünntem. Bol. Hepworth
Diron, Neuamerifa. 1868. ©. 43.
Das zweite Hauptmoment aber liegt in bet Stellung,
welche H. Schneider zu bem fpiritiftiichen Beweismaterial
nimmt, indem er bemüht ift, ba8 SBovgeblidje und Schein:
bare vom Thatſächlichen auszufceiden und auf Grund
der dxiftliden Weltanihauung bie Erſcheinungen auf
ihre wirklichen oder möglichen Urſachen zurüdzuführen.
Gr läßt zunächft bie verſchiedenen bis jegt aufgewendeten
SBerjudje, bie ſpiritiſtiſchen Erſcheinungen zu erklären
und nad ihrem wahren Werthe zu beftimmen, vor
unferem Auge vorübergehen, wobei zwiſchen bem be:
rechtigten Zweifel und ber gläubigen Zuftimmung über:
al mur die ſtreng objektive Prüfung ber einzelnen That
ſachen entidjeiben fol.
Die Erklärungsverſuche felbft ober bie verſchiedenen
zur Ermittlung des Weſens des Spiritismus aufge
bradjten Theorien werden ber Reihe mad) in ber Art
beiproden, daß jeber Theorie madjgemiejem wird, was
Der neuere Geifterglaube. 337
fie leiften und mas fie nicht leiften Tann; jede derjelben
bat memlid) in bem großen Wirrwarr des fpiritiftiichen
Treibens eim Gebiet für fij, in welches fie ein gewiſſes
fibt Dineintrügt; jebe aber läßt eine Reihe von anderen
Gebieten unaufgellärt.
Zuerſt bie Betrugstheorie. Es ift ja leicht, auf
die maucherlei Tajchenfpielerfünfte hinzuweiſen, womit
man die große und bie Heine Welt betrügt; aber es ijt
nicht Philofophie, ſondern nur Blafirtheit und theilmeife
Frivolität, wenn man alles, was über den Bereich ber
gemeinen Sinneswahrnehmung hinausgeht, lebiglid) als
Betrug und Blendwerk wegwirft; auf ſolche Weiſe laſſen
ſich die Räthſel des Lebens überhaupt nicht löſen. Nicht
beſſer ſteht es um bie Hallucinationstheorie oder um
die Annahme von blos ſubjektiven Sinnestäuſchungen.
Man müßte an der Realität der finnlichen Erſcheinungen
überhaupt und an der Möglichkeit einer wirklichen Er-
tenntniß des Wefens der Dinge irre werden, wollte man
fij bei ihr beruhigen. — Von größerem Werthe find
die Theorien, welche fid) auf die Borausfegung von
mechaniſchen, vitalen und pſychiſchen Kräften aufbauen.
Es find ung in dev That burd) Forihung und Prüfung
auf diefem Gebiete ſchon mande Aufihlüffe über Lebens-
vorgänge zu Xheil geworben, bie auf einer früheren
Stufe ber Phyſik, Anthropologie und Pſychologie uner-
launt blieben und bem Aberglauben veichlihe Nahrung
gaben. Aber wir gefteben mit bem Verf., daß unfere
bisherige fenutni nod) nicht ausreicht, fämmtliche Phä-
nomene be8 Spiritismus zu erklären, ja daß man bod)
ſchließlich mit incommenfurabeln Größen rechnet und
daß man, top fefte Begriffe mangeln, zu Hypotheſen
Xe. Quartalfgrift. 1888. Heft II. 22
338 Schneider,
greift, welche nicht viel mehr Bedeutung als leere Worte
baben; bie8 gift namentlid) won ber Theorie ber mag
{hen Kraft“, mit ber nichts gefagt und nichts erflärt
iſt. Aehnlich urtfeift der Verf. audj über gewiſſe Ber-
mittlungsverſuche, melde mit bem Appell an „unbe
kannte Naturkräfte” ende; er hält die Berufung auf
„ewig verborgene Naturfräfte” für werthlos und ftatuit
unverrüdbare Grenzen alles Naturwirkens, jenjeit8 deren
das 9teid) ber geiftigen oder intelligenten Sträfte liegt.
Nachdem er dann bie fpiritiftifhe Theorie im engeren
Sinne, b. D. die Annahme einer burd) bie Medien und
den menſchlichen Willen vermittelten Manifeftation bet
Seelen Abgeſchiedener in unferer Menfchenmelt, ſowie
endlich bie Hypotheſe von den „vierdimenfionalen Weſen“
einer ſcharfſinnigen Kritik unterworfen, fteht er vor ber
eigentlich brennenden Frage der „bämoniftifhen Theorie‘.
Es bat fid) dem Verf. bei der Prüfung der früher
genannten Theorien ergeben, daß nicht mur jede einzeln
für fij, fondern aud) alle zufammen genommen ποῷ
einen unerflärten Reſt von Erſcheinungen übrig Laffen
und daß dabei namentlid) ba8 Hereinragen von Kräften |
^ intelligenter Art fupponirt werben müſſe; immer aber,
bemerkt er ©. 14, [εἰ die kühlſte Referve, felbft Stepfis
idt bloß ein Gebot ber Klugheit, fondern aud) eine
religiös ſittliche Pflicht. Er fühlt fid) nicht gemöthigt
ober geneigt, in allen ben Phänomenen des Spiritigmus,
deren Thatſächlichkeit füglid) nit runbmeg beftritten
werden Tann, mur Teufelsfpud zu erbliden. „Self
die fatomofogijde Erflärungstheorie muß folde (umet:
forſchte Natur) Kräfte zu Hilfe nehmen, da nad) allge
meiner Annahme bie Machtſphäre der Dämonen nijt
Der neuere Geifterglaube. 839
Aber die in ber Natur thätigen Potenzen binausreicht,
mithin bümonijóe Manifeftationen nichts anderes find
als Effekte natürliher Urſachen, berem Erifienz ober
Wirkungsweiſe dem Menſchen unbekannt ift. Auch eine
bümomijde Ingerenz erklärt nod) nicht alles, was in
feinem erfichtlihen Zuſammenhange mit einer rein natür:
ligen Caufalität ftebt. Ohne Zweifel ift e8 eine Täu-
fjung, zu glauben, daß bie mwiffenidjaftlide Begründung
ber fpiritiftifhen Phänomene auf's befte beforgt ei,
wenn biefelben in Bauſch und Bogen zu infernalen
Brobuctionen -geftempelt werben. Aber nidt nur bie
Wiſſenſchaft, fondern aud) die Religion hat ein Intereſſe
daran, daß ungewöhnliche und unbegreiflih ſcheinende
Thatſachen nicht voreilig dämonifhen Einflüffen zuge—
ſchrieben werden. Sowohl bie principielle Uebertreibung
der diabolifhen Macht, als die leihtfertige Zulaſſung
derfelben bei der Löſung gemifler Räthſel ijt fündhafter
Aberglaube” (©. 16 f.).
Andererjeitd darf aber aud) bie Möglichkeit eines
bämonifchen Eingreifens nicht abgemiefen werden, und
es muß zu folder Annahme der Recur offen ftehen
bei Erfheinungen, toelde fid jeber anderen mit einer
gefunden Philofophie und Theologie vereinbaren Erz
Hörung entziehen; und folde feinen denn bod) vot.
handen zu fein. Wie aber immerhin das Einzelne et^
Hört werben möge, heißt es ©. 421 f., fo „müflen wir
den Spiritismus als ein Wahnſyſtem verurtheilen und
als eine geiftige Cpibemie fürchten, deren Entftehung
und Ausbreitung burd) ſchadenfrohe Lug: und Trug⸗
geifter moralii angeregt und gefördert ward. Selbſt
wenn al” bie feltjamen Begebniffe der Seancen fpäter
22 +
340 Schneider,
entweder αἵ Wirkungen natürlicher Kräfte oder als
Producte von Trug und Täufhung fid) herausftellen
follten: der moderne Spiritismus als Inbegriff theoreti-
ſcher Verirrungen und abergläubifher Praktiken bleibt
mit dem Mal des Grund: und Urböfen gebrandmarkt.
Bir erbliden darin bie Spur einer gefährlichen, mit
dem verkehrten Beitgeifte auf's innigfte vertrauten In—
telligenz, einen in feiner Art großartigen Erfolg teufli-
ſcher Verfuhung im großen Stil“.
Stef. kann fid) der ebenfo theologiſch correften wie
wiſſenſchaftlich vorfichtigen Bemeisführung des Berf.
mur anſchließen, felbft auf die Gefahr hin, bap Gut
berlet 9teót bebielte, to er (Liter. Rundſchau 1883
n. 1 Sp. 12) meint, daß bie von Dr. Sch. gegen ben
weitergehenden Ctanbpuntt € d) n eib 8 geltend gemachten
Gründe conjequent allen Einfluß der böfen Geifter
befeitigen würden, was fid δοῷ wohl mut auf ben
direkten finnenfälligen, nicht auch auf ben moraliſchen
oder, wenn man will, aud) myſtiſchen Einfluß ber Dü |
monen beziehen wird.
(8 hat bem Ref. ſchon Lange fo vorfommen toller, |
daß, menn man von bem fpiritiftiihen Erfcheinungen
alles abzieht, was fid) entweder auf Betrug und Täw
ſchung oder auf Vitalkräfte irgendwelcher Art oder υἱεῖ
leicht aud) auf einen immerhin möglichen Bufammenhang
mit abgeſchiedenen Seelen u. ſ. m. zurüdführen läßt,
mur mod) ganz weniges überbleibt, mas ung etwa nöthi⸗
gen Tönnte, zur dämoniſtiſchen Theorie unfre Zuflucht
ju nehmen, unb von bem wenigen wäre immer nj
etwas abzuziehen, wovon ſich nad) den bisherigen (τ:
fahrungen hoffen ließe, daß e8 aud) mod) eine natürlide
Der neuere Geifterglaube. 341
Erklärung bei einer fortgefährittenern Erkenntniß ber in
der Schöpfung liegenden Kräfte finden werde. Denn
wer gibt uns das Recht vorauszufegen, daß nit aud)
in ber Zukunft mod) meitere natürliche Erklärungen fid)
ergeben fónnen? Auf eine „ewig verborgene Natur
kraft“ wollen wir nicht recurriren, teil dies einen Wider⸗
fprud) enthält, aber menigften8 auf Kräfte, bie uns jebt
ſchon aus ihren Wirkungen ihre Natur ahnen lafjem,
menn wir uns berfelben aud) nicht fomeit bemädhtigt
haben, daß wir fie zum Erperiment gebrauchen fónnen.
Bas una heute erft Ahnung ift und wofür wir ein
Bort fudjem, das kann der nahlommenden Generation
eine Crrungenfdjaft werben.
Gejebt aber, e8 bleibe wirklich ein Reſt von Er»
ſcheinungen übrig, welche beftimmte Spuren des Dämo-
nismus verrathen, was ifi bamit gewonnen? Und um-
gelehrt, wenn wir auf alle dämoniftifhe Erklärung
verzichten, was ift bann verloren?
Man fünnte, wenn man auf gewiſſe Stimmen in
theologifchen Kreifen achtet, wirklich meinen, e8 gebe ein
Tüigibfe8 oder dogmatiſches Intereffe, fid) bie im Spiris -
tismus und ähnlichen Vorkommniſſen liegenden Beweiſe
für das BVorhandenfein und ber Macht des dämoniſchen
Sides nicht entgehen zu laffem. Hiegegen muß ent:
ſchieden vom Standpunkt der hriftlichen Glaubens und
ber Theologie Verwahrung eingelegt werben.
Schon wenn τοῖς bie Thatſachen rein empirijd)
uchmen, welche eine andere al3 dämoniſtiſche Erklärung
nicht zuzulaſſen feinen, fo find fie jo nichtsſagend als
möglih; über bie Natur des bümonijden Reiches und
über fein Wirken erfahren wir jo viel wie nichts; und
342 Säneiber,
es bat in ber That, wenn man einmal bei bet bümo-
niſtiſchen Hypotheſe fteben bleiben will, mehr Goujequem
zu jagen, baf das ganze Getriebe und ber ganze
Apparat be8 Spiritismus, des animaliihen Magnetis-
mus u. f. w. Manifeftation der Dämonen feien; auf
bieje Weife würde denfelben bod) eine großartigere Auf:
gabe gugemiefen, al8 wenn man fie nur für einzeln
Experimente in Anſpruch nimmt.
Was aber den Glauben am bie Realität und boi
Hereinragen be8 bümonijden Reiches in unfre Siuner
welt anlangt, jo beftreiten wir, daß ber wirklich then
logijde Glaube am ben fpiritiftiihen Phänomenen be
ifeiligt ijt. Hängt unfer theologifher Glaube vom ba |
ganz gemeinen Spuckgeſchichten ab, oder nicht vielmehr
von der diftlijen Offenbarung? Iſt e8 ein theolog:
ider Glaube, der duch den Anblid einer ſpiritiſtiſchen
Manipulation erzeugt wird? Stehen fole Mai |
feftationen ſataniſcher Wirffamkeit in ihrem Beweiswerthe
in gleidjer Linie mit ben göttlichen Wundern? Wer in
allen ſchwer verftändlihen Vorkommniſſen des Natur:
und Geelenlebens an bümowijde Einflüffe glaubt, der
bat nod) [ange nicht den theologifchen Glauben bezüglid
des Reiches der gefallenen Engel, fondern ἐξ viel ehr |
des Aberglaubens verbädhtig; und umgekehrt fans ber
theologiſche Glaube bezügli des bümonijdyem Std |
ober bie rüdhaltslofe Annahme aller in ber h. Scrit
und ber kirchlichen Ueberlieferung gelegenen Lehen
darüber beftehen, wenn man aud) nift eim eimi
Phänomen aus bem Nachtſeiten des Menſchenlebens, wit
Somnambulismus, Hyſterie, Geiſteskrankheit, Spiritis
Der neuere Geifterglaube. 343
mus, auf direkte und finnenfällige dämoniſche Einwirkung ,
wurädführt.
Man fagt, und glaubt damit ein proftijd) ent
ſcheidendes Argument auszufprechen, am liebften fei es
dem Teufel jelbft, meum man an ihn nicht glaube.
Darauf erwiedern wir, daß wir unterſcheiden zwiſchen
glauben und glauben. Den tjeologilden Glauben for:
dern wir durchaus; aber wir unterſcheiden non ihm ben
Glauben, der erzeugt wird burd) dämoniſche Mirakel-
geſchichten; in legterer Beziehung jagen wir vielmehr,
ba man, felbft bie dämonifche Marifeſtation voraus—
geſetzt, bie Abſichten Satans am fiderften vereitelt,
wenn man feinen Werken keine 9fufmerfjamteit, feinen
Blendwerken feimeu Glauben fdenft; er wird machtlos,
mo man ihn ignorirt, dagegen gewinnt er Spielraum
und Gewalt, wo man fid) non ihm imponiren und fid
burd bas Auffehen, ba8 er erregt, verwirren läßt.
Und wie erfi, wenn doch ſchließlich, was ja immer
πο möglich ift, die ganze Vorausfegung ber bämonifti-
iden Theorie hinfällig würbe?
Was ift denn überhaupt burd) bie bámoniftijje
Hppothefe erklärt? Bleibt nicht alles im der Luft
hängen? Muß man nicht bod) wieder auf Naturkräfte
iurüdfommen, von deren Ausdehnung und Wirkungskreis
wir nichts wiſſen? Weber die Frage, wie Satan fi
verförpern und wie er zugleich als intelligentes SBejen
auf unfer Geiftesweien einwirken könne, geben uns alle
ſpiritiſtiſchen Experimente. feinen Aufihluß, und ber
Recurs auf den Dämonismus ift miffenigaftli um
keinen Grab befier al8 das Geftänbniß beà ignoramus
& ignorabimus.
344 aleutgen,
Daher bleiben mit vorerſt, wie H. Sch., bei ber
Tüplftem Stepfis; daß fie nicht ſchaden Tann, glauben
wir erwiefen zu haben; baf fie aber aud) Pflicht und
Nothwendigkeit wird, möchten toit allen denen zu bes
denken geben, melde nicht ganz vergefien, baB e8 aud
jet noch einen Aberglauben und Wahnglauben zu be
Tümpfen gibt, und daß überall, wo man bem bümoui
ſchen Wahne bie Zügel gelaffen, und gegen bie Auf-
Härung auf biejem Gebiete Partei ergriffen hat, man
den mahren Glauben unb die Sache der Religion und
Kirche compromittirt hat.
ginfenmann
16,
1. Das Evangelium des HI. Matthäus nad) feinem inneren
Bufammenhang, auch für gebildete Laien zur anbächtigen
Betrachtung des Lebens unjere8 Heilandes, in Kürze
erflärt von Joſeph Rleuigem, Priefter ber Geſellſchaft
Jeſu. Nebft einer Abhandlung über ba8 Wunderbare.
Mit Gutfeifung ber Oberen. Freiburg i. Br. Herder.
1882. 286 ©.
2. Das Rene Tefigment, überjept bon Carl Weizſäder, D.
Th. Zweite, neu bearbeitete Auflage. Freiburg i. Br.
Sitabemijdje Verlagsbuchhandlung bon I. (δ. $8. Mohr
(Bau! Giebed). 1882. 406 ©.
3. Die exegetiſche Theologie ober Schrifttheologie (Wiffen-
ſchaft von berf. Schrift). 2) Die Lehre vom Neuen
Teftamente insbejonbere (neutejtamentlide SDigcipli-
nen) bargeftellt von Dr. 8. Säule, o. Prof. in Ro-
Matthäußevangelium. 845
food uub Dr. W. Qr. Gran, o. Prof. in Königsberg.
Bweiter Halbband des Handbuchs ber theologiſchen
Wiſſenſchaften von Dr. Ὁ. Zöckler. Nördlingen, Bed.
1883. G. 339—684.
1) Diefe Schrift wurde ſchon im Jahre 1833 ὑεῖ:
faBt und wird jegt ohne SBerüdfidtigung beffem, was
feitbem über bie Gompofitiot des 1. Evangeliums ge⸗
férieben worden ift, abgefehen von unweſentlichen Ver—
änderungen und einigen Zufägen, in ihrer urfprünglichen
Geftalt veröffentlicht. AS Grund wird ber erbaulidje
Zweck angegeben, der gelehrte Polemik und unpopuläre
Erörterungen ausſchließe, aber mit wiſſenſchafticher Exegefe
wohl verträglich ſei. Obwohl mir biefe8 ohne Weiteres
zugehen, fo hätten wir bod) gewünſcht, daß ber H. Df.,
ohne auf eine Polemik einzugehen, feine Arbeit nod)
einmal auf Grund ber neuen Verhandlungen über dad
Matthäusevangelium umgearbeitet hätte. Denn mir
find überzeugt, daß er feine Anfhanungen über den
Plan de3 Evangeliums einigermaßen modificirt und im
Intereſſe des beſſeren BVerftändnifles erweitert haben
würde. Aber aud) jo tole die Schrift nun vorliegt, ver:
dient fie unjere Beachtung. Sie ift ein Beweis dafür,
daß zwar bie Smedbeziehung des 1. Evangeliums von
den Alten ungenügend beftimmt worden ift, diefelbe aber
wur im Anſchluſſe an bieje Beſtimmung richtig erfaßt
werben Tann. Darüber, ba man überhaupt πα feinem
ſchriftſtelleriſchen Plan fragen darf, glaube ἰῷ far nicht
mehr fireiten zu jollen.
Dem ganzen Evangelium be8 ἢ. Matihäus feine
folgender Gedanke zu Grunde zu liegen: „Das Reich
Sefu Gpriftt tft nit von dieſer Welt; tit wer-
346 fileutgen,
ben in ihm nicht vom Ungemach bieje8 Lebens befreit,
fondern vielmehr durch dieſes zu bem geiftigen Gütern
und bem ewigen Reihe in ben Himmeln geführt: nichts
beftoteniger ift Jeſus Chriftus jener
Meffias, der ben Vätern verheißen und
von den Propheten vorherverfündigt
wurde". Indem ber Verf. mod) beifügt, daß bieje
Wahrheit ſowohl in fid) felbft vorgelegt und erläutert,
als aud) burd) den Gegenjag ber Gefinnung der Phari-
ἴδεν, bie ihr toiberfirebem, und des Volkes, dad fie
nicht faBt, gehoben werde, hat er in der That beu
Grundgedanken des Evangeliums richtig dargeftellt. Nur
hätte er bie ſchon im ber Kindheitsgeſchichte fichtbare
und bis zu bem legten Ctreitreben, ja bis zum Schluß
des Evangeliums zu verfolgende Strafandrohung Jeſu,
bas Rei) den Juden zu nehmen unb den Heiden zu
verleihen, beſſer berückſichtigen follen. Danır hätte et
die zahlreichen univerjaliften Stellen und Erzählungen
befier würdigen und mit den particulariften in beften
Einklang bringen fónnen. Denn jene dienen nicht etwa
blos „zur Reinigung ber Idee, toeldje fid) bie Juden
vom Meſſias gemacht hatten“ (S. 65), unb diefe mochten
nit nur „der Vorftellung, welche die Juden von bem
Meſſias fij gebildet hatten, entſprechen“ (S. 75), fou-
bern beide im Verein Demeijem, baf Matthäus Jeſus
als firengen Meſſias der Juden barftellen wollte, bet
erit burd) bie Unempfänglichkeit der Juden von feinem
Bolt mweggedrängt wurde und deshalb bem Juden bie
Strafe anbrobte, ben Heiden das Heil in Ausſicht ſtellte.
Von biefer Wahrnehmung aus erhält aud) ber 4. Theil,
welcher von ber Unterweifung ber Jünger handelt, mehr
Matthäusevangelium. 847
fidt. Die Zweifel über bie Adreſſe, melde nothwendig
auf eine Unſicherheit in der Zweckbeſtimmung ſchließen
laffem, fallen dann toeg. Man verweist nicht nur mit
Grund darauf, baf Matthäus, nad) ber übereinftimmen-
ben Angabe ber ülteften Kirchennäter, zunächft für bie
zum Chriſtenthum befehrten Juden ſchrieb (S. 2), fon-
dern man Tann aud) unmöglich eine andere Beftimmung
gelten lafjen. Alles Andere ift fecundär, mie man ja
überhaupt von ben h. Schriften in gewiſſem Sinne jagen
laun, daß fie für weitere Kreife, für alle Chriften ge-
ſchrieben feien. Der Verf. hat diefe Inconfequenz aud)
wohl gefühlt. Denn während er €. 2 von den Juden
fpricht umd Seite D zunächſt für bie Juden ſchreiben
läßt, fügt er bod) bei: „Mag e8 immer fein, baf er,
wie bie übrigen Evangeliften, viel mehr bie Befeftigung
and Erbauung der Gläubigen, als bie Belehrung der
Ungläubigen im Auge hatte: aud) bie [don gläubigen
Juden bedurften ganz gewiß immer nod) des Schutzes
wider ein Vorurtheil, welches das hauptſächliche Hinder-
niß ihrer Belehrung gemejen war“. Auch bie „Eins
ſchaltuugen“, toeldje der Verf. nad) bem Grundjag:
exceptio firmat regulam für feine Darftellung bes
Blanes zugibt, möchte ἰῷ nicht ohne Weiteres als ſolche
anerkennen. Sie kommen zum Theile daher, daß er mit
andern Eregeten bie fachliche Anordnung des 1. Evan:
geliums zu ſtark premirt.
Den Hauptinhalt ber Schrift madjt bie in großem
Sorud gegebene Ueberfegung nad ber Vulgata aus,
welche giemlid) am Allioli erinnert. Der Anmerkungen
unter bem Terte find wenige, dagegen folgt jedem Ab»
ſchnitt eine kurze unb genaue Darlegung des Zufammen-
348 Veizfäder,
banges in Verbindung mit praktiſchen Anweiſungen. In
dieſem durchgehenden Beſtreben, den Plan des Ganzen
überall nachzuweiſen, wie man es ſonſt in derartigen
Schriften nicht zu finden gewöhnt ift, liegt das Haupt⸗
verdienſt der Schrift.
2. Schon im Jahre 1875 hat H. Weizſäcker eine
Weberfegung des Neuen Teftamentes herausgegeben,
welde den heutigen Anforderungen ber eregetijden
Wiſſenſchaft gerecht wurde und aud) fpradjlid) fid) im
Unterſchiede von der revidirten lutheriſchen Ueberſetzung
dem Gebrauche der Gegenwart anſchloß. Muß man
qud) in den Bibeln für das Volk jdjon megem bes litur
giihen Gebraudes auf die hergebrachte Form möglihft
Rüdfiht nehmen, fo fónnen bod) bie Gebilbeten, welche
die 5. Schrift im Urtert nicht Iefen Tönnen oder wollen,
nur durch eine tertkritiſch fidjere und ſprachlich genaue
Ueberſetzung annähernd in ben urfprünglichen Sinn und
Bufammenhang berjelben eingeführt merben. Einem
doppelten Vorwurf wird freilich ein ſolches ſchwieriges
Unternehmen nie ganz entgehen. Dem Worte ber ἢ.
Schrift wird gleihlam das ehrwürdige Gewand, mit
welchem e3 feit langer Zeit von Jugend an gelernt und
ins Herz aufgenommen wurde, abgeftreift und bie Arbeit
eines Einzelnen Tann fid) nie bie Auctorität, mit welcher
eine Kirchliche Weberfegung außgeftattet ift, verfchaffen.
Legterer Punkt ijt für bie Katholiken viel wichtiger ald
für bie Proteftanten, während ber andere weniger für
fie ins Gewicht fällt, weil bie Vulgata der officielle,
allgemeine Text ift und die Ueberſetzungen in die Lande:
ſprachen nur Privatarbeiten mit oberhirtlicher Appro:
bation find. Aber es ijt immer zu beachten, daß εὖ
Neues Teftament. 349
fid) um eine fireng wiſſenſchaftliche Weberfegung für
das richtige Verftändniß handelt, melde eine andere
nit ausſchließt.
Die uns vorliegende zweite Auflage hat innerlich
und äußerlih eine neue Geftalt befommen. Sie ijt
handlicher, überfihtlicher, brauchbarer geworben. Das
Format ift etwas Kleiner, die Kapitel und Verſe find ganz
aus bem Texte vertoiejen, um alle Störung des Leſers zu
entfernen, dagegen find fie in der Ueberſchrift angegeben,
um das Auffuhen und $Bergleiden zu ermöglichen.
Einige Schwierigkeiten werden babei freilich fo immer
vorhanden fein. Dagegen trägt e8 mejentlid) zur Ueber:
fihtlicgkeit bei, daß im Drucke dreierlei Abtheilungen
be8 Textes angewendet find, durch Abſchnitte mit Strich,
durch neue Zeilen und duch Zwiſchenraum innerhalb
der Zeilen. Demfelben Zwecke dienen die verjdjiebenen
Schriften. Die fette Schrift Debt diejenigen Worte θεῖς
vor, in melden dad Thema eines einzelnen Abfchnittes
enthalten ift. Die gothiſche Schrift ift für bie afttefta-
mentlichen Gitate angewendet. Die Heine Schrift zeichnet
alles dasjenige aus, was man fonft nod) mit Anführungs-
zeichen verfieht (4. 99. Magnificat, Benedictus). Endlich
wird ber Gebrauh nod) weſentlich erleichtert burd) ein
febr reichhaltiges Regifter.
Ber die großen Schwierigkeiten einer ſolchen Arbeit
ennt, wird dem H. Verf. für feine mühevolle und ges
lehrte Arbeit dankbar fein. Selbft ber Fachmann wird
fie oft mit Nugen gebrauchen, denn er wird an ben
ſchwierigen tertkritiſchen und exegetiſchen Stellen ftets
den gewiegten Kritifer und Eregeten erkennen. Er wird
fih auch bei einer Vergleihung mit der erften Auflage
350 Beizfäder, Neues Teftament.
Veicht überzeugen können, baf eine toefentlid) umgearbeitete
und vielfach verbefferte Arbeit vorliegt. Ich vermeile
beifpielshalber auf Marc. 1, 4. 11, 8, 14, 72, Joh.
6, 22. 7, 10. 2 Joh. 1. Epbef. 1, 1. Ueber bie
Nichtigkeit folder Verbefferungen wird man natürlid
immer ftreiten können, e8 ift aber bier nicht der Drt,
darauf einzugehen, weil fid) ber Weberfeger dabei immer
im Nachtheil befindet, da er feine Anficht nur aufftellen,
nicht aber bemeifen Tann (€. XI). In ber 1. A. hatte
fid) ber Verf. im Wefentlihen an bie ed. VIII von
Tiſchendorf angeſchloſſen, dieſes Mal hat er mod) mehr
dem eigenen Urtheil Raum gegeben und insbejondere
aud) bie trefflihe Ausgabe von Weftcott und Hort zu
Rathe gezogen. Durch bieje wurde er wahrſcheinlich
«ud zu der Hervorhebung der Gitate und Anführungen
veranlaßt. Die Eintheilung des Magnificat, Benebictus,
Nunc Dimittis, Ephef. 5, 14, 1 Tim. 3, 16 ift gleid-
falls dieſelbe. Auf biejelbe Rechnung ift wohl aud
das ,Dber" (ἄλλως) am Scdhluſſe des Marcusevange:
liums zu [dreiben. Daß die Stellung für Job. 7,
53—8, 11 beibehalten worden ift, Tann nur gebilligt
werben. Beide Abſchnitte find übrigens mit Tiſchendorf
unter ben Seri verwiefen. Der Hebräerbrief ift entgegen
ber Tiſchendorf'ſchen und englifhen Ausgabe, welche mit
demfelben die Gemeinbebriefe fließen, an den Schluß
ber paulinifchen Briefe geftellt, dagegen ftehen bieje wie
dort hinter den katholiſchen Briefen.
8. Diefe Schrift bildet den zweiten Halbband zu
dem Handbuch der theologiihen Wiſſchenſchaften von
D. Bödler, befjem erften Halbband mir €. 186—144
bejproden haben. Die Einleitung ins N. T. und bie
Schulze u. Grau, Handbuch ber theol. SBiffenidjaften. 351
bibliſche Geſchichte des N. Ts. ift von Dr. Schulze, bie
bibliſche Theologie des N. Ta. von Dr. Grau dargeftellt.
Die Grundſätze find die dort bezeichneten der pofitiven
proteftantifchen Theologie. In Folge biefe8 Stand»
punlts ift die Schrift vielfach apologetijd) gehalten und
berührt fid) namentlih im den erften Xheilen häufig
mit der fatbolijóen Behandlung diefer Gegenftünbe.
Der neuteftamentfihe Kanon wird feinem ganzen Um—
fange nad) vertheidigt und das Leben Jeſu als das des
Gottmenidyen auf bem richtigen Grund aufgebaut. Ziem-
lid anders verhält es fid mit dem dritten Theil, in
welchem dem Thema zufolge das confeffionelle Element
weit mehr zur Sprache fommen mußte. Ich behalte
mir vor, bei einer anderen Gelegenheit dieſen Gegen:
fand eingehend zu behandeln, bemerfe aber ſchon bier,
daß ber Verf. zu einem ziemlich abweichenden Stejultate
hätte Tommen müſſen, wenn er bie Gonjequeng feines
Standpunkts ftreng gezogen hätte. Die Wiſſenſchaft
ſcheint ihm eigentlich im Gegenjag zu ber 9. Schrift zu
Reben. „Se breiter im Mittelalter der Strom kirchlichen
Lebens und fo auch ber Theologie, meldje alle Wifjen-
haften umfaßte, fid) ergoß, befto mächtigere Fluten
natüzliden Wejens — Deibnijdjer Philoſophie und hierar⸗
chiſchen Streben verſchlangen immer mehr bie ftillgeben-
den Duellwafler des Wortes Gottes; bis endlich Gott
auf das Schreien ber bürftenden Seelen mit ber Onaben:
that -ber Reformation antwortete" (€. 550 f.). Die
Reformatoren find mächtige religiöfe Genien, nicht
Männer der Wiflenfhaft. Sie find Propheten. „Je
weniger alfo ein Luther wiſſenſchaftliche Zwecke im Auge
hatte ‚und wiſſenſchaftliche, b. i. ſyſtematiſche umfaflende
352 Säule und Grau,
Form, befto größer erſcheint er al8 Prophet und kirchen⸗
gründende Perfönlichfeit. Die Größe Luthers als eines
SBropbeten und Reformators und die heroorragende Ber-
wandtſchaft feiner Theologie mit ber Theologie bet b.
Schrift gegenüber Bmingli und Calvin, ja aud) gegen-
über Melanchthon, hängt aufs Innigfte zufammen mit
bem unfpftematifchen Charakter feiner Schriften, melde
mad) Inhalt und Form aus bem paulinijden Briefen
oder aud) den Palmen herausgeboren find“ (S. D51).
Iſt aber damit idon bie Loslöfung von ber Gemein-
ſchaft und bie Einfeitigfeit zugegeben, 1o mird bet
Widerſpruch nod) größer, wenn bie orthodoxe Dogmatik
des 17. Jahrhunderts vertheidigt wird, meum aud) bet
Glaube an bie Identität ihrer Dogmatik mit der Schrift
lebre nur „an feinem Theile“ berechtigt war (€. 552).
Wird nun vollends gegen Beck's fubjectiviftiicde Glaubens»
lebre entſchieden Front gemacht, weil fie eine ſchwär—
merifche Verirrung ift, „welche nicht weit von der τεῖοτε
mirten Seftenbilbung abliegt, bie eben daraus entipringt,
daß ein einzelnes gläubiges Individuum der p. Schrift
fid gegenüberftelt und feine fubjeftive Schriftauffaflung
als ben weſentlichen Schriftinhalt zum Fundament einer
Glaubensgemeinſchaft meint maden zu können“ (S. 557),
fo find wir ja wieder glüdlid) zu der anfangs verpönten
Kirchengemeinſchaft aurüdgeleprt. Schützt vor folder
Berirrung nur ber wahrhaft firdlide Zufammenhang
mit ber allgemeinen Entwiclung des Reiches Gottes, fo
ift, wenn nit ein „Strom kirchlichen Lebens“, bod) ein
Surrogat dafür nothwendig. Gewiß ift e8 „eine hoch⸗
müthige Gelbftüberpebung des Individuums, Tosgelöst
von jenem Entwidlungsgang fij für den adäquaten
Handbuch ber theol. Wiſſenſchaften. 858
Spiegel zu halten, ber ba8 Wahrheitsbild der h. Schrift
wiedergäbe“ (€. 668), obwohl id) diefe Anklage gegen
Θεά trotz des befannten Urtheils Hofmanns über den
Standpunkt desſelben nicht hätte erheben mögen. Dies
it eine glückliche Inconſequenz zwiſchen Theorie und
Praxis, toeldje die Tradition und ba& Glaubensleben
in der Gemeinjdaft mit ber Gemeinde und der Kirche
erjegen muß. Aber man made uns bann unjer frd
lide8 Leben nit zum Vorwurf unb made uns nicht
glauben, daß der Sujammenbang mit der „allgemeinen Cnt-
toid(ung" fo bedeutend beffer [εἰ al8 mit einer vom Geifte
Gottes geleiteten apoftolijden und katholiſchen Kirche,
Der Berf. fdeint von der „großen Lebensbewegung
des feinem Siele zuwachſenden Reiches Gottes“ große
Hoffnungen zu hegen. Wir geben „einer gewaltigen
pode bieje8 großen Werdeganges entgegen, in welcher
auf Grund der Errungenſchaften des ſechszehnten Jahr:
hunderts für eine große Mannigfaltigkeit von Fragen
die Antwort gefucht werben fol“. „ES gilt eine Ans
eigmung ber 5. Schrift, wie fie in ber kirchlichen Ent-
wicllung bis jegt nicht vorhanden gemejen ift Denn
der in nicht gar ferner Zeit alle Völker ber Erde um
fpawnenben Kirche werden weit mannigfaltigere und
umfaffendere Lebensfragen geftellt werden“. Ich will
nun die Slufionen des Verf. nicht zerftören, aud) gerne
glauben, daß er bie Zeichen ber Zeit in unferem Norben
beſſer ectemnt als ich, aber fehr nüchtern bleibe id) bod)
bei ſolchen Ergüffen und nehme fein Wort von bem
zuräd, was ἰὼ in ber vorigen Anzeige zum Theil im
Anfhluffe an den ruhigen Zockler gejagt habe. Da ber
Berf. zum Schluſſe feiner geſchichtlichen Wendt feinen
Veel. Ouaraljórit. 1888. Heft IL
964 Gute unb Bau,
Führer für diefe Zufunftsweltreligion nemnt, fo muß
id bod an ein Ereigniß aus ber legten Vergangenheit
erinnern. Als Zödler auf einer Eonferenz die bibliſchen
Arbeiten Hofmann's der biftorii - Fritiichen Richtung
gegenüber als Mufter aufftellte, entgegnete ihm Zeitungs:
berichten zufolge ein Baftor, daß dieſelben gar nicht mehr
auf hriftlihem Boden ftehen. Der SBorfipembe faud εὖ
für nöthig, die weitere Discuſſion darüber zu fuspendiren.
$. Schulze vertheidigt die pebráijdoe Abfaſſung des
Matthäusevangeliums, ſchreibt aber bie griechiſche Weber:
fegung dem Matthäus felbft zu, um bie Schwierigkeit
der griechiſchen Originalität zu befeitigen. Die Bmed:
beftimmung dürfte beftimmter lauten, Denn daraus, bo
Matthäus das Evangelium auf Bitten feiner (judenchrift⸗
lien) Gemeiube ſchriftlich verfaßte, Iaffen fid) bie antijübi-
ſchen Stellen nicht erflären, mie id) ſchon zu Nr. 1 bes
merkt habe. Unrichtig ift zu Marcus angegeben (€. 886),
daß er uad) Euf. 2, 16 in Alerandrien gewirkt und ca.
61 als Biſchof geftorben fei, beun mur erſteres wird
daſelbſt erwähnt und ετῇ 2, 26 (27) wird bie Nachfolge
bes Anianus im 8. J. beà Nero ohne Angabe des
Todes genannt, Im Webrigen bin ἰῷ mit ber Cha:
tafterifirung beà 2. Evangeliums einverftanden, obwohl
id) trog der fireugen Einheit die SBeuügung des Mat
thäusenangeliums annehme. Doc gibt ber Verf. dies
nachher (S. 394) menigitens für die Anordnung ju.
Die Abfaffung des Lucasevangeliums wird zwar häufig
ἐκ bie Beit vor 64 verlegt, aber m. ©. mit Unrecht.
Quca8 hat dad Marcusevangelium benügt. Dem law
man sicht mit ber Unterjchiebung von Marcusaufzeihs
sungen (€. 390) außweiden. Wird die Srenäusftele
Sanbbud) ber theol. Wiffenfchaften. 855
für bie Beitbeftimmung ber beiden erften Evangelien
benügt, fo muß fie aud) für das dritte gelten. In Ber
treff des Johannesevangeliums muß id) aud) geftehen,
baf die gewöhnliche Annahme ber Ergänzung der Syn,
optifer mir immer problematifcher wird, bie Voraus:
fegung derſelben ift freilich felbftverftünbíid. Anderer:
feità möchte ἰῷ aber aud) den bogmatilden Zweck, „die
Meflianität ber hiftorifhen Perfon Jeſu burd) eine ge-
ſchichtliche Darftellung aus ber reihen Fülle feines Lebens
zu erweifen“ (Θ. 396), nicht fo eng fafjen.
Für die Eintheilung ber paulinifhen Briefe ift bie
hiſtoriſch bezeugte zweite Gefangenfdjaft, welche der Verf.
wiederholt gut vertheidigt (€. 386. 388. 411. 541), ent-
féeibenb. Die Gefangenfdjaft8briefe verlegt er mit Recht
ſchon wegen des Philipperbriefes nad) Rom, bie Paſtoral ⸗
briefe in die Zeit παῷ ber erften Gefangenfhaft. Bei
beu Korintherbriefen negirt ber Verf. nicht mur ben
von vielen neueren Cregetem vorausgefegten verloren
gegangenen Brief gmijden unferem 1. und 2., fondern
aud ben unferem erften vorangehenden, indem er 1 Kor.
5, 9 aus bem Briefftil erflärt. Der Römerbrief hat
den Zweck, die Reife nad) Spanien vorzubereiten. Der
Hebräerbrief ift von Apollo gefchrieben und nad) eru:
ſalem adreffirt. Der erfte Petrusbrief ift wirklich in Babys
lon verfaßt worden. Jakobus, ber Verfaſſer des fatpoli-
den Briefes, ift ein wirklicher Bruder des Herrn und nicht
ibentijd mit bem Jakobus Alphäi. Der Brief ift erſt
vor ber Zerftörung Jeruſalems gefchrieben worden. Die
Apokalypfe fällt in bie Lepte Regierungszeit des Domitian.
Der Abſchnitt über die Ueberſetzungen ift etwas kurz
ausgefallen. Die SBulgata wurde aber von bem Concil
356 Schulze und Grau,
zu Trient nicht im Gegenſatze zu den Proteſtanten „als
ber allein gültige, in allen Unterfuchungen, Disputationen,
Predigten zu gebraudjenbe Text“ hingeftellt, fondern für
bie editio authentica erflärt, ut nemo illam reicere
quovis praetextu audeat vel praesumat. Dadurch wird
bem Grungtert nicht berogirt, fondern nur bie Vulgata
als authentiſches Aequivalent bezeichnet. Die deutſche
Ueberfegung Luthers wird gewiß mit Recht bod ges
werthet, doc ift e8 unrichtig, da ſämmtliche voran:
gehenden beutfden Ueberjegungen „nah ber Vulgata,
unbehülflich, fehlerhaft, nicht volfsthümlich find“. Die
Anordnung und der Umfang der Bulgata find allerdings
beibehalten und im Wefentlihen aud) der im kirchlichen
Gebrauch befinblide Tert zu Grunde gelegt, aber ber
Grunbtert wurde bod) zu Rathe gezogen. Wenn man
3. B. ben Gober Teplenfis, welcher wahrſcheinlich beu
älteften Druden zu Grunde liegt, mit ber Weberfegung
Luthers vergleicht, fo findet man, daß mande deutſche
Ausdrüde, melde von ben Eregeten als Eigenthum Luthers
aufgeführt werden, auf ältere Rechnung zu fegen find.
Die Literaturangaben find fleißig gemacht, zeigen
aber begreifliherweife mande Lücden und Ungenauig:
leiten. So fehlt zum Hebräerbrief Bill, zu den Petrus:
briefen Hundhaufen, zum Leben Jeſu I. Grimm. Kuhn's
Leben Jeſu ift mit Adalb. Kuhn eingeführt, Sepp’3 2.4,
bat die Jahrzahl 1859, Keim’s hat 4 Bände u. A. Aug
in der Chronologie be8 Lebens Jefu wäre €. 483 größere
Genauigkeit zu wünſchen, aber bei bem umfangreichen
Stoff find [olde Dinge unbermeiblid. Im Ganzen wird
fid gewiß das Buch als funbigen Führer erweiſen.
Shanz.
Verzeichniß ber feit Juli 1882 bei der Redaktion ein.
gelaufenen unb nod nicht bejprodjenen Bücher.
att, ©. Leitfaden für den Refigiontunterzict | in ben oberen Klaſſen
höherer Schulen. Jena, 9. Dabiß 1
Barbenhewer, Ὁ. Die pleubos aiftoteliige Schrift Über dad reine
gute ac PAR scd Herber 1882.
ie Wiſſenſchaft betet, Brebigt. teiburg, Gerber 1882.
$4 eren des Brieſes an Diognet. Freiburg, Herder 1882.
Vascotti, Clari, Institutiones historiae ecclesiasticae. Edit. IV.
emendata et aucta a M. Hiptmair. Tom. L II. Vindob.
Mayer et Comp. 1881.
Male, : Die innere Entwidlung be8 Pelagianismus. Freiburg,
erber 1882.
BBruber, Pet. St. Rupertusblichlein. Dülmen, Baumann 1882.
Bist ber Kirdenväter. 371—882 Qefden. fempten, Köfel.
. Die Sürforge ber Kirche für ben Unterhalt bet Geift«
κε de Paderborn, Schöningh 1882.
Süiner halbäiiche Grammatik für Bibel und Targumim. 3. Aufl.
vermehrt burdj eine Anleitung zum Studium de Midraſch
unb Talmub von Dr. Bernhard Fiſcher. Leipzig, Barth 1882.
Breviarii Romani editio nova Tornacensis 1882 collata Va-
ticanse Urbano Papa VIII evulgatae 1632. Tornaci Ner-
viorum, Desclóe, Lefebre et Soc. 1882.
€djmibt, βατί, Jus primae noctis, Eine gefchichtliche Unterſuchung,
reiburg, Qerber 1881.
, P. Angelo, Die Größe ber Schöpfung. Βιοεὶ Borte
us bem Italieniſchen von G. Güttler. Leipzig, Biber 1i
Ωρ, Job. Qanbbud) ber allgemeinen hir d Ar CM 10. Stuff.
meubeatbeitet von ὅτ. 58. Mai Rupfer
berg 1882.
τ ine. aer D Sabes Fi LM i Hii Eos
nero -} jahrg. I 88r;
burg, Lue iu $ 5 i i
Int. Anti wareſe. Heraudgegeben mit einem Xı
von "Peter Knoodt. Wien, Braumüller 1883. dans
Bernd. Tagebuch ber unglüdlidjen Schottenkönigin Maria
Smart während ihres Aufenthalts zu Θίαδροίυ bom 23.—27. Jan.
1567. Ründen, Lindauer 1882.
Steichele, Y. v. Das Biethum Augsburg, hiſtoriſch u. ſtatiſtiſch 31. 9. |
Siugébutg, Schmid 188:
Corpus scriptorum ἌΤΑΝ icorum latinorum eto, vol. VIII.
Salviani opp. ed, Pauly. Vindob. Gerold 1883.
Grifar, Hartın. Galileiftubien. Hiftorifchetheologifhe Unterfuchungen |
über bie Urtheile ber römihen Gongregationen im Galilei
proce. Regensburg, Buftet 1882.
Hentrahe, G. Th. Rea ismus ober SbealiBmu8? Eine erfenntnik
Xa Stubie zur Begründung bed Letzteren. Leipzig |
feifcher, 1883.
Stecher, Chrift. S. 3. Deutiche Dichtung für bie hriftliche Familie
und Schule. 23—25 Q. Der Erlöfer ober neue Evangelien
Sacmonie, umgedichtet bon Eprift. Stecher. Gray, Styria 1882.
Sipfug, Rich. Adalb. Die apofryphen Kpofteigeffichten und Spo |
legenben. Gin Beitrag zur altchrif pot Literaturgeſchichte I.
Braunfgtmeig A. Schtwetige und Sohn 1883.
Apberger, 9. Die Znfonduicteit eim, Biftozifdjebogmatijd bar.
seite. —— Stahl 1888.
KRatholiiche Religionslehre für die ftubierenbe Jugend an ben Gm. |
nafien unb anderen höheren Unterricht8anftalten, mit Sue
fegung beB Stablbaur’fhen Sebrbudj bearbeitet. 8. Aufl
Dünen, im tgl. Zentral-Echulbücherverlag 1883.
Eihultze, lictor, Der ibeofogifdje Ertrag ber Katafombenforfäung |
Zur Drientitung und zur Abwehr. Leipzig, Jul. Dreſcher 1882.
Braig, Carl, Tie Zutunftsreliglon des Unbeivußten und bad Prim
Cip de8 Subjeftiviamus. Freiburg, Herder 1889.
Brüll, Andreas, Der Hirt be8 Oerma8, nad) Urfprung und Inhalt
amterfudjt. Freiburg, Gerber 1882.
Monat Aofen. Organ und Eigenthum des Schweizerifchen Studenten:
vereind, Ned. von 5B. Fleiſchlin u. Jean Devaud. XXVIL 9b.
I—IV $. 2ugern, Schill.
Schriften Rotgers unb feiner Schule. Herausgegeben von Paul
Piper 1.8. 1, Lief. Einleitung. Vontius. an 2 Soafanitten.
Freiburg und Tübingen, Mohr (Paul Ciebed) 1882.
Die Tatoitiäen Mitfionen. Süujtritte Monatfrift. Freib, Herder
Jungmann, Berat, Dissertationes selectae in histor, eoclesisst.
tom. III. 1888 Ratisb. Pustet.
μὴ [1 Mehenreit, beraußgegeben von Dove und Fried:
—2 9. Freiburg u. Tübingen. Mohr
ΓΝ po —S
Lederer, Steph. Die Katechismusfrage der kath. Kirche und ihre
inde Löfung. Qetau&gegeben bon Karl Leberer. Seh:
SBirmininsbote, Kath. Volkskalender für 1888, Verlag von fui
Leberer. dead
Schueider, Ceslaud, Natur, Vernunft, Gott. Abhandiung über
bie natüclide Ertenntniß Gotte&, nadj ber Lehre be8 5. Thomas
τ. Aquin. Regensburg, Manz 1888.
Biber, 3. Die fanonijden Ehehinderniffe nach bem geltenden ge
meinen firdjenredjte. ben furatfleru8 in Deutſchland,
Öfterreich unb ber Schweiz praktifch bargeftelt. 8, Aufl.
Freiburg, Gerber 1888.
Dereta authentica sacrae songregationis indulgentiis sacris-
[e reliquiis propositae ab. a. 1668 ad a. 1882 edita.
tisbonas, Pustet 1883.
Theologiſche
Quartalſchrift.
In Verbindung mit mehreren Gelehrten
beraudgegeben
von
D. », Auhn, D. v. Himpel, D. v. flober, D. v. £iuftu-
mann, D. Funk unb D. Zchanz,
Vrofeforen ber kathol. Theologie an ber ft. Univerfität Tübingen.
Fünfundfechzigfter Jahrgang.
Drittes Ouartalfeft.
Tübingen, 1883.
Berlag ber 9. Laupp'ſchen Buchhandlung.
πιά von . Laupp in Tübingen,
I
Abhandlungen.
1.
Schriftſtellerthum unb literariſche Kritik im Lichte ber
ſittlichen Verantwortlichkeit.
Von Prof. Dr. Linſenmann.
Schlußartikel.
IV. Rechte und Pflichten ber literariſchen
Kritik.
Vielleicht ſcheint es, daß wir nach den voran⸗
gehenden Erörterungen eine Genugthuung an die Schrift⸗
fteller jdyulbig wären, von denen mir Ausweis über ihren
Beruf verlangt. Die Billigfeit mwenigftens könnte e8
fordern, daß mir mun aud) für bie Ehre und bie
Rechte der Auktoren eintreten gegenüber von zwei feind-
lichen und unberedenbaren Gewalten, bem Publicum
nemlich und den Stecenjenten. Die ebelften Geifter ber
Nation fegen ihr beftes Wiffen unb Können daran, um
ihrer Mitwelt Schäge darzubieten, und fie ſehen fid)
24 *
360 Sinjenmann,
einem Publicum gegenüber, ba8 wohl für Stich und
Hieb und jede leije Verlegung ber Volfsmajeftät ἐπι:
pfindlich, aber für das Edle unb Gute fo wenig empfäng-
τῷ, ja in Saden des äfthetiichen Urtheils fo gar un—
zuftändig ift; einem Publicum, weldes wie ein Tyrauu
fid) feiner Macht bewußt ift, feinen Widerſpruch erträgt,
geſchmeichelt fein mill, und, mas man ihm bietet, als
ſchuldigen Tribut anfieht, wofür e8 feinem Dank gibt.
Wenn das Publicum nur menigftens bem Auftor eben-
bürtig wäre! Aber ε ift ja urtheilsunfähig, fteht tief
unter ihm, ift ein ſchwer beweglicher Koloß, befjeu Bafis
und Schwergewicht der Pobel ausmacht; e8 Dat feine
Grundfäge, feinen. Geihmad, jondern nur Launen; e8
erhebt und preist das Mittelmäßige und Gemeine, und
verfhmäht das Edle und Große, unb rubet nift, bis
e8 aud) bie hochftrebenden Geifter verborben und ermie-
miebrigt hat, daß fie ihre Sachen ſchlechter maden, als
fie fónnten. Lope de Vega äußerte fid) einmal über
feine fehlerhaften Komödien: „Ich weiß und befenne,
daß meine Stüde Fehler tiber die Regeln haben; aber
id made fie defienungeadtet jo, weil man jegt gute
Werke ausziſcht und ſchlechte erhebt.“
Und in biefem Publicum befteht num mod eine
eigene Zunft, melde e8 barauf ablegt, dem Schrift-
fteller ba8 Leben ſchwer zu machen, das find die Res
cenfenten, von denen man noch milde rebet, wenn man
fie nur mit jenen Gäften vergleicht, meldje wohlleben an
der Tafel des freigebigen Gaftfreundes und, wenn fie
gejättigt find, mit Tadel und Spott lohnen. Welcher
Schriftfteler hätte fij micht über bie 9tecemjentem zu
beklagen! Sollte man nicht eher bie Auftoren in Schuß
Schriftſtellerthum und literariſche fitit. 361
nehmen, anftatt gar.-den Recenſenten einen Pla über
jenen anzuweifen? Sollen wir biejenigen, welche im
Bewußtſein ihres Könnens und ihrer Pflicht zur Feder
greifen, an bie Saunen be Publicums und feiner Worts
führer, der Recenfenten, ausliefern?
Aber bie Auftoren können e8 ja faum erwarten,
bis fie Recenfenten finden, fie bewerben fid) um bie
Gunft derfelben; fie zürnen, wenn fie fid) nicht zeigen
wollen. Und leicht wird den legteren ihr Gefchäft aud)
nicht gemadjt! Das ift fein Amt, das man blos aus
müffiger Laune treibt; hart geldymiebet wie ein Ambos
muß der fein, der am gewerbsmäßigen Recenfiren Freude
bat; er muß gefeit fein und eine Drachenhaut haben,
um alle die Pfeile oder Stöße unbefriedigter Auftoren
und ihrer Parteigänger auszuhalten.
Das SBerbültni zwiſchen Schriftftelern und ihren
Kritikern bietet mande belehrenden Einblide in das
verborgene Seelenleben bar. Warum begegnet man mehr
jüngeren als älteren Stecenjenten? Warum find bie
älteren im allgemeinen ſchonender und milder, die jünge-
ten genauer unb fivenger? Dieb erklärt fid) daraus,
daß e8 immer noch günftiger ift, Auftor,-ald Recenſent
iu fein; der Auktor findet fchließlich immer nod) einen
wohlwollenden und billigenden Recenjenten ; ein ftrenger
Kritiker aber erhält den Autor jelbft, alle beffen Freunde,
und im ganzen aud) das große Publicum zu Feinden.
Denn diejenigen, welche die öffentliche Meinung machen,
wollen feine vollendeten Werke und find leicht mit Waaren
äufrieden geftellt, welche ein gründlicher und fachmänniſch
gebildeter Beurtheiler nicht billigen Tann; bie große
Menge erblickt Vorzüge, wo das geübte Auge be8 Kenners
362 Linfenmann,
duch Mängel verlegt wird. Die Menge läßt fij im-
poniren von der Maſſe des Dargebotenen und fhägt
mehr die Quantität als bie Qualität; das Publicum
ift im allgemeinen von gröberer Eonftitution und erträgt
vieles, wogegen ein empfindliches kritiſches Gewiſſen
teagitt. Dieß trifft befonders zu, too das äfthetiihe
Empfinden in Frage kommt; bie große Menge wird von
Geſchmacksurtheilen beherrſcht, die bem feiner gebildeten
Sinne Zwang anthun. Wie wenig wird bod) auf un
ſerem heutigen literariſchen Markte bie eigentliche Schön⸗
heit ber Rede, der Geſchmack der Darftellung, bie Fein-
beit der Geftaltung, bie Bornehmbeit ber Form geſchäht
und gewürdigt! Der Kritifer, melder im biejer Be
ziehung Anfprüde macht, verfält dem Scherbengeridt,
weil man bei der allgemeinen Verwilderung des Styls
feine Forderungen nicht mehr verfteht.
Im Smeifelfalle ift die Stimmung zu Ungunften
des Recenfenten, weil man e8 ibm übel nimmt, wenn
er ettoa8 befjer wiſſen will, und weil, mie man zu fagen
pflegt, ba$ Tadeln immer Leicht ift. Der Mahner und
Tabler, der Anderen Fehler nachrechnet, wird geflohen
wie bas böfe Gewiſſen, und ftebt bod) immer brofemb
im Hintergrunde,
Wenn dann ettoa bem Stecenjenten jelbft ein Irr⸗
thum begegnet, er ein Wort zu viel jagt ober gu wenig,
fein Auge ihn getäufcht oder eine literariſche Notiz ihn irre
geführt hat, fo fallen die Schläge, Reclamationen, Anti
kritiken, Streitfchriften fo wuchtig gegen ihn herein, dab
die Stellung deſſen, ber von Berufswegen Kritiker ifi,
von Keinem beneibet zu werben braucht. Wer in biejem
Felde ſchon gedient und feine Erfahrungen gefammelt
Schriftftelertfum und literariſche Kritik 363
und feinen Lohn von ben Auftoren eingeerntet Dat, bet
fent fid) früher, als es jonft im Berufsleben zu ge-
ſchehen pflegt, nad dem Stubeftanb, legt ben Rothſtift
nieder, und überläßt bie Aufgabe jüngeren unb muthi-
geren Kräften; ober wenn er mod) zumeilen eine Klinge
[lagen möchte, fo gibt es flache Hiebe. Die Biene hat
den Stachel eingebüßt und ift zahm geworden.
Aus dem Gefagten erklären fid) mancherlei Klagen
über ba8 Recenfionswefen, bie an fid) nicht ganz unber
rechtigt find. Es ift auf bem erſten Blick ein Mifver-
hältniß, wenn, toie e8 oft genug der Fall ift, der Schüler
über denMeifter, der Anfänger über den gereiften Mann
zu Gericht fit, und temm Dilettanten oder literariſche
Streber den Männern von Fach und Beruf vorſchreiben,
maß fie hätten leiften ſollen; e8 jcheint dann wirklich
fo, als ob bie jugendlichſten, unveifften und unerfahren-
fen Kritiker die anſpruchvollſten und unbejdeibenften
Tadler wären; und von da aus füllt Unehre auf den
Stand der Kritiker überhaupt.
Go wenig wir nun folgen Klagen jebe Berech⸗
tigung abſprechen und jeden Fehlgriff im Siecenjenten-
weſen — in eigener oder fremder Gad — leugnen
oder beſchönigen möchten, fo wenig Tönnen wir unà bod
einfeitig nur auf den Standpunkt der Auftoren ftellen und
über bie ganze Angelegenheit nur mit dem gewöhnlichen
bie Recenfenten verurtheilenden Achſelzucken hinweggehen.
Vielmehr behaupten wir auf das entſchiedenſte, daß,
fo wie unfere ſchriftſtelleriſchen Verhältniſſe beſchaffen
find, die Kritiker ben Auktoren gegenüber im Nachtheile
ſtehen und um ihr Recht und ihren oben Beruf ftreiten,
und darum gilt unfere fernere Unterfuchung in erfter
364 Linſenmann,
Linie dem Rechte, und erſt hernach den Pflichten
der literariſchen Kritik.
1.
(δ endet ſelten ein Prozeß, in welchem beide Par⸗
teien mit dem Spruche bes Richters zufrieden find; ber
Berlierende will nicht Unrecht haben, eher Unrecht leiden.
So glaubt jeder Schriftfteller, aud) too er weiß, daß er
Viele gegen fid hat, im Rechte zu fein, meift ohne zu
beachten, daß er, gerade indem er feine Gebanfem und
Studien publiei juris gemacht, nun eben aud ber
Sejetoelt ein Recht eingeräumt hat, bie ihr bargebotene
Frucht zu verfuhen und ſchmachaft oder unfhmadhaft
zu finden. Und das Sprachorgan ber Lefewelt, das
find bod) bie Kritiker, ob fie mun höher ftehen mögen
als bie große Menge oder nicht.
Dbne Kritik verfehlt bie fhrifftelleri
ſche Arbeit ihres erften Bieles, bet Deffent
lidfeit Was dem Maler bie Kunftausftellung, das
ift bem Schriftfteller das Tritiiche Journal. Den Dienft,
ben einem 9[uftor der Stecenjent leiftet, Tann ihm in
gleicher Weife oder mit gleicher Wirkung feine andere
Art der Publicität, nit bie Infertion und nicht bie
buchändlerifche Reclame, leiften. Durch ben Recenfenten
ετῇ fommt ber Name bes Schriftitellers zur Geltung;
dieß wiſſen bie legterem wohl, und räumen bamit fe[bft,
ſtillſchweigend, toibermillig, mit flopfenbem Herzen, bem
Kritiker fein Recht ein.
Sodann ift ja der Verfaſſer eines Schriftwerkes in
feiner Art felbft aud) Kritiker; er weiß Befleres als
bie Anderen, als bie Früheren, er fegt fi) mit ihnen
Schriftſtellerthum und literariſche Kritik, 365
auseinander, ftellt Meinung gegen Meinung, Gründe
gegen Gründe, man muß bagu die Erlaubniß gegen-
feitig erbitten und gewähren. Er fordert jelbft auf, daß
bie Schiedsrichter fid) melden, um zu ſcheiden zwiſchen
ihm und den Anderen. So erhält die Kritik ihr objef-
tives Recht.
Endlich iſt nun einmal nicht zu beſtreiten, daß die
in einem Werke niedergelegten Ideen, Anregungen oder
Andeutungen ihre rechte Wirkung erſt erhalten durch die
Discuſſion oder literariſche Erörterung, wodurch erſt eine
allſeitige Betrachtung eingeleitet, der dunkle Ausdruck
richtig geſtellt, bie Gefahr ber Täuſchung und des Miß-
verftändniffes zerftreut und aus bem Wirrfal der Worte
ber rechte Kern erhoben und herausgefhält wird. Die
Kritik muß mandem neuen Gedanken erft auf bie Beine
helfen und bem Auftor zu meiterer Erplication Anlaß
und Gelegenheit geben; hat fid) einmal eine Stimme laut
vernehmen laſſen, jo werden al3bald wie beim Erwachen
des Morgens im Walde weitere Stimmen tad; ein
Ruf wet den andern und gibt ihm Antwort, fo ent
ftebt Schall auf Schal dur die Welt Din, in welcher
der Auftor vernommen werden will; wahrlich biejer
verbanft oft einem Stecenjenten mehr al8 er weiß und
mehr als er verdient!
(8 gibt freilich überall Schriftfteller, bie e8 am
liebften mit Jean Paul hielten, der einmal den Bor:
ſchlag machte, e3 follte „eine Compagnie waderer Autoren
von einerlei Grundfägen und Lorbeerkränzen zufammen-
treten und fo viel aufbringen, daß fie fid) ihren eigenen
Recenſenten bielten, ihn ftudiren ließen und falarirten,“
matürlid) unter ber Bedingung, daß derjelbe nun alle
366 Linſenmann,
ſeine Brodherren „ſtreng aber unparteiiſch“ beurtheilte.
In der That beſtehen ſolche Gelüſte da und dort, und
man fünnte von Leibrecenſenten mie von Leibſchneidern
und von Leibhufaren reden. Doch mollen mir bier
nicht auf die weniger ehrenvollen Seiten unferer moder-
nen Preffe eingehen, fondern trot allem und allem das
Beflere glauben und der fritif ihr Recht wahren; mir
halten immer noch dafür, daß bie Zahl derer, bie e&
ehrlich meinen, größer [εἰ als derer, bie in gröberer ober
feinerer Weife ihre Federn den Auftoren oder Verlegern
Tüuffif machen.
Daß e8 Kritiker gibt, dieß hält, wie bie Erfahrung
lebt, die Schriftfteller nicht ab, zu arbeiten und zu
ſchreiben; aber bie Rüdfiht auf die Kritiker, oder, was
daſſelbe ift, wenn man es ſchon anders nennt, bie Scheu
vor ber Deffentlichkeit nöthigt ihnen Behutſamkeit,
Orünblidfeit und menigftens leiblid) gute Form auf,
ſchärft das Gewiſſen und läutert den Gejdjmad; oder
too von beidem Feines zutrifft, da waltet bie Kritik ihres
hohen Amtes, wenn fie ben Schriftfteller moraliſch mund⸗
tobt madt und feinen Werken ein Grab gräbt. Den
Kritikern tout ſolches zuerft wehe, unb erft Detnad) beu
Auftoren. (δ ift feine Luft, Bücher zu lefen, bie nicht
gut find, und mod) meniger verwerfende Urteile zu
Tpredjen, welche ihre Spite ebeujo rüdwärts auf den
Richter als vorwärts gegen den Gerichteten kehren; „wer
auf Geifter ſchießt, trifft fij"; man follte darum bie
Männer ehren, melde den moralijden Muth haben, der
Wahrheit aud) in biejer Form Öffentliches Zeugniß zu
geben und dafür einzuftehen. Wenn man aber einmal
bie Einrichtung als folde mil, fo darf man fie nidt
Sqriftſtellerthum und literariſche βίη, 367
wieder verwerfen um folder Mängel willen, melde von
menſchlichen Einrichtungen mum einmal nicht ganz zu
trennen find.
Wie nun aber, wenn man fid) wohl das Ge-
rift, aber nicht den Richter gefallen läßt? Wenn bet
Shriftteller wohl das Recht ber Kritik im Grundfage
anerkennt, aber gerade dieſen ober jenen unter feinen
Richtern ablehnt? Muß nicht der einzelne Kritiker vor
allem fein Recht bocumentiren, damit man fij feinem
Urtheil unterwerfe?
Die Antwort, welche auf foldje Fragen am nächſten
iu liegen jdjeint, erweist fid) in Wirklichkeit felten als
ganz zutreffend und entjdjeibenb. Man möchte nemlich
vorausfegen, daß Keiner ein Richter in einer Sache fein
könne, in meldet er fid nicht eine fidere Weberlegen-
heit über dem gegnerifchen Theil zufchreiben bürfe; denn
nur wer bie Sache wirklich beſſer weiß, foll corrigiren.
Es ift ja ganz natürlich, daß ber Verfaffer eines Buches
verlegt wird burd) eine feriti, mo er fid jagen darf,
daß gerade er und Fein Anderer jene Forihungen und
Detailarbeiten aufgemenbet, welche über einen Gegen-
fand neues Licht verbreiten fóunen. Hatte ex vielleicht
manches Jahr feines Lebens daran gefept, um neue
Quellen anzubohren, ba8 verworrene Material zu fichten
und das Gange zu einem Kunftwerfe zu geftalten, fo
ift es ihm ſchwer, fid) unter einen Stecenjenten zu ftellen,
der vielleicht erft durch ba8 eben gelefene Buch von dem
Gegenftand der Abhandlung Kunde empfangen hat. Das
Werk von Jahren und Jahrzehnten fol derjenige zer⸗
lagen dürfen, ber faum in den Anfängen [teft und
noch bie Schalen be8 Gie8 an fid) trägt, aus meldem
368 Linfenmann,
ihn bie künſtliche Wärme der Schulftube ausgebrätet!
Es ift ja gewiß wahr, daß ber Verfaffer felbft und
vielleicht allein die befte Erflärung feiner geiftung geben
Tann, und daß er e8 mit Vorbedacht und aus guten Grün:
ben wird getan oder unterlafien haben, wo ber Stecen-
Tent etwas zu viel ober zu wenig findet. Unter zwan⸗
sig Einmwürfen, jagt Leffing, wird ber Auktor fij
von neunzehn erinnern, fie während der Arbeit fid) felbft
gemadt zu haben. Er felbft Dat mit fchärferem Auge
geſchaut, al8 jeder dem Gegenftand ferner Stehende.
Alfo mur wer ivirklic etwas Befleres zu fagen weiß,
wer ein wirklicher Kenner ift und 9[uftoritát Dat, follte
richten dürfen!
Die Forderung hat gewiß ihre Berechtigung, bof
fid) ein Kritiker über feine guftánbigfeit, in einer Frage
mitzufprehen, ausmeife, und darum erjegen meilt
jüngere Recenfenten burd) ausführlihere Nachweifungen,
was bie älteren an wiſſenſchaftlicher Auftorität und an
Gewicht ihres bloßen Namens voraus haben. Aber jene
Forderung darf nicht zu meit geben, wenn nicht das
ganze literariſche Weſen in Stilftand fommen foll; das
Höchfte läßt fid) nun einmal, fo wie bie Dinge zwiſchen
Auftor und Publicum beſchaffen find, nicht erreichen;
und e8 ift aud) nicht nothwendig. Der Schriftfteller
felbft feßt ja gerade burdj feine Arbeit den Genfor in
ben Stand, fid) ein Urtheil zu bilden; er bietet ihm
Nahrung, damit er davon fofte, er führt ihm felbft zu
ben Quellen und in die Werfflätte des Forſchens und
Prüfens, und fegt ihn in den Stand, feinen Wegen
nachzugehen, zwar geführt oom Auftor, aber nicht noth:
wendig geblenbet bom bem neuen Glanze, in melden
Schriftſtellerthum unb literariſche Kritik, 369
dem Verfaſſer felbft feine Cntbedungen ftrahlen; und
endlich drückt der Schriftiteller auf ben von ihm beherrſch⸗
ten Stoff den Stempel feines Styles, unb e3 muß er-
laubt fein, denfelben zu prüfen. Um eine Münze zu
prüfen auf Echtheit oder Fünftlerifhen Werth, braucht
man nicht felbft Goldſchmelzer oder Alchymiſt zu fein;
der Verfertiger Dat die Arbeit vorgethan, bie Anlegung
be8 lapis lydius ift von der Technik des Münzmeifters
unabhängig.
Zum Glüd Dat fid) bie Kritit nod) nie babutd) ab-
ſchrecken laſſen, daß bie Schriftfteller mit vorne)mem
Selbftgefühl bie Gompeteng der fritifer anfedjten. In
Wirklichkeit Tann fid) bie Kritif nach zwei Richtungen
bin geltend machen. Im einen Falle weiß fie eigentliche
Fehler aufzuweilen, wie irrthümliche Angaben, Süden
im Beweismaterial, mangelnde Bündigfeit im Schluffe
vom Großen auf das Kleine oder vom Kleinen auf dag
Große oder vom Allgemeinen auf ba8 Befondere und
umgefehrt. In biejer Hinfiht ſchützt den vornehmſten
Verfaſſer eines Werkes weder Fleiß mod Scharffinn
mod) die Zuverſicht in feine Geſchicklichkeit oor thatſäch—
lihen Irrthümern, und es hat fdjon manchmal ein ganz
gewöhnlicher Bachkiefel wie jener au8 ber Schleuder des
Hirtenknaben David einen ftolzbewehrten und gepanzer
ten Rieſen niedergeftredt. Die Detailarbeit unb bie
fortgefegte ausfchließliche Beſchaͤftigung mit einem Gegen⸗
ftanbe ſchützt nicht immer gegen Ginjeitigfeit und Vor⸗
eingenommenheit, und Mander ſchon hat bei dem Stre⸗
ben nad allen Höhen und Tiefen das Nächſtliegende
nicht gefehen; einem fonderbaren, vielleicht geiſtreichen
Einfalle zu lieb werden Quellen mißhandelt, Thatſachen
370 Linfenmann,
verzerrt; die Luft am Widerſpruche gegen die Leiflungen
der Vorgänger verleitet oft zu einem gemagten Spiele,
und indem der Verfaſſer eines Buches mit Fingern bar
auf hindeutet, wo er glaubt, Neues oder Großes ge-
leiftet zu haben, macht er e8 bem Stecenjenten. vieleicht
mebr al8 bequem, bie verwundbare Seite zu entbeden
und die Sonde anzulegen.
In einem anderen Falle aber handelt e8 fid) beiber-
feitig um fubjeftioe Urtheile, Meinungen und Anfichten,
Fragen des Geſchmacks oder ber perſönlichen Neigung
und Stimmung; in foldem Falle will dag Urtheil Feine
Verurtheilung fein, es werden Meinungen gegen Mei-
nungen geftellt und Gründe gegen Gründe oder Empfin-
dungen gegen Empfindungen; mehr will der Kritiker
nicht, als die Discuffion in Fluß bringen und bas End»
urtheil Anderen, einem weiteren Freundes⸗ oder Lefer:
kreis anheimftellen.
Damit kommen mit auf einen anderen Punkt, der
über bie Rechte beider Parteien gleihmäßiges Licht zu
verbreiten unà geeignet bünft.
Das Urtheil über eine Schrift, fo wie
baffelbe fid in ber Deffentlidfeit enbgil
tig feftíegt, hängt nie von einem Manne
allein ab. Wir meinen dieß nicht blos in bem Sinne,
daß e8 ber Kritiker, berufener ober unberufener, viele
find, fo daß in mandem einzelnen Falle Einfeitigfeiten
fid) ausgleichen und bie Urtheile fid) ergänzen; auf einen
bitteren Kelch, ben der Eine bem Verfaſſer zu fofteu
gibt, folgt auch wieder eine füße Gabe, auf den Aerger
ein Troft; eine Erſcheinung, bie darum nichts am ihrer
Bedeutung verliert, daß fie dem Recenſententhum mit
Schriftſtellerthum unb literariſche Kritik. 371
immer zur Ehre gereicht. Was wichtiger ift, das liegt
darin, daß regelmäßig der Stecenjent ſelbſt nicht blos
feine einzelne Perfon und fein ſubjektives Dafürhalten
einzufeßen bat, jondern daß er eine Dedung hat, indem
er wohl momentan aus ber Reihe eines größeren Gans
gen bernortritt und für baffelbe dag Wort führt, bie
Berantwertung aber mit bemjelben theilt. Iſt e8 ja
bod) ein altes Herfommen, daß fij der Einzelne unter
bem €dug ber Anonymität fielt, nibt wie wenn
et aus einem Hinterhalte treffen wollte, fondern weil
er nicht mit bem Anfprudy auf perſönliches Anjehen aufs
treten mag.
Man kann gegen ben Brauch, ſchriftſtelleriſche Ar-
beiten und beſonders kritiſche Referate mit Verſchweigung
des eigenen Namens zu veröffentlichen, mancherlei ge
wichtige Bedenken erheben, und im allgemeinen geht ber
Zug der Seit in Sachen des fehriftftelleriihen Verkehres
und Rechtes dahin, baB man nit mit gefchloffenem
Viſir gegen einander trete, jondern ben Muth be8 per-
ſonlichen Wagnifjes habe. Es läßt fid) namentlich nicht
beftreiten, daß e8 etwas Unangemeffenes und Unbilliges
bat, wenn auf ber einen Seite die Perfon des Schrift:
ſtellers dargegeben wird, während die Perfon des Geg-
ners fid) dem Angriff entzieht und fid) Hinter einen All⸗
gemeinbegriff ohne verwundbare Korperlichkeit zurüd-
sieht; es ift ein ungleiher Kampf; uns [dint bie grs
fere Chrenhaftigkeit auf Seiten derer gefunden zu wer:
ben, deren Devife lautet: Hostibus haud tergo, sed
forti pectore notus. Die Träger der Bildung follten
nicht hinter den Tartaren zurüdftehen, von denen man
erzählt, baB fie auf ihre Pfeile ihren Namen ſchreiben,
372 Linfenmann,
damit man toiffe, von mem fie abgejenbet feien. An fi
aber hat der Gedanke mod) immer eine gemifje 3Bered)-
tigung, daß für bie Bedeutung einer Publication und
namentlich einer fritijdjen Arbeit nichts au dem Namen
bes Einzelnen, alles vielmehr an bem Anfehen derjenigen
gelegen fei, melde dem Einzelnen zum Ausbrude ver-
belfen, ihm bie Spalten eines publiciſtiſchen Organes
öffnen und damit bie Verantwortlickeit für feine Arbeit
übernehmen. In foldem Falle erhält der Namenlofe
Anfehen von ber Körperfhaft, deren Stimme er zu
führen ermächtigt wird. Der Kritiker ift alfo nicht
Einer allein.
Eine andere Gepflogenheit, bie in ähnlicher Weiſe
wie die Anonymität Manchen aus ber Lefewelt [don
Aergerniß bereitet Dat, liegt in bem fohriftftelerifchen
„Wir“, welches fid fo großmächtig aufpflanzt, too bod)
mut Einer fij ausſpricht. Ein Majeftätsplural wird
das bod) nicht fein wollen, denn zu foldem Stolze be.
rechtigt und wahrlich nichts; was wir leiften, ift bod)
wohl immer nod) weniger al8 toa8 wir find, und um
das auszudrüden, was wir find oder ung zu fein bünfen,
bebarf e8 Feiner Mehrzahl, Andere nennen den Ge-
braud) be8 „Wir“ Beicheidenheit und ziehen e8 dem
anfpruchsvollen und fury angebunbenen „IH“ im Munde
des Schriftftellers vor. Die Wahrheit ift, daß felten
ein Schriftfteller ganz allein ſtehen und nur feine fub.
jeftive Eigenart und Weberzeugung ausfprechen will;
alle anderen fühlen fid) als Glieber eines Ganzen, als
Mandatare einer Partei ober einer Richtung Es ift
Beſcheidenheit und ein Gefühl ber Sicherheit zugleich
in dem „Wir“ enthalten, vorausgejegt, daß man wirklich
Schriftftelertgum und literariſche fitit. 373
ein Recht habe, im Sinne oder im Namen von Meh-
teren oder Vielen zu fpredjem. Der Plural, oder bie
Deckung des Einzelnen durch eine Mehrheit, kann eine
reale oder eine mur ibeelle Größe fein. Im erfteren
Falle lehnt man fid) an eine Körperihaft, ein mit ge-
wiſſem Anfehen ausgeftattetes Organ, eine Zeitung oder
Beitidrift, am eine gelehrte Societät an, im andern
Falle fühlt man fij als Vertreter eines Standes und
feiner Ehren und Interefien, und ſchöpft von ba aus
ein Urteil, welches ins Gewicht fällt, meil e8 einen
feften Standpunkt vorausfeßt. Viele Dinge laffem eine
ganz verſchiedene Betrachtung zu je mad) bem Stand-
punkte, von bem aus fie in das Auge gefaßt, oder je
mad) ben Bweden, denen fie bienflbar gemacht werden
jolen; e8 ftehen fid) gegenüber die Betrachtungsweiſe
des Philofophen und bie be8 Theologen, des Moraliften
und des Juriften, des Theoretiter3 und des Praktikers,
des Jpealiften und des in Amt und Brod ftebenben
ober batum vingenden Stealiften. In biejer Divergenz
der Standpunkte Liegt nicht etwa ein Ausſchließungsrecht,
fondern vielmehr gerade ein Recht, aud) vom entgegen
gejegten Poften aus ein Wort mitgureben; ber Realift
foll dem Sjbealiften, der praftiihe Schulmann dem Ctuben-
gelehrten, der Geſchichtsforſcher dem Staatsmanne von
feinen Anfichten und Anfprüchen reden dürfen; und δας
raus folgt, daß e3 nicht immer nur bet ebenbürtige
Fachgenoſſe fein muß, der befähigt ift, zu recenfiren
und kritiſche Winke zu ertheilen; das „Wir“ fällt in
das Gewicht.
Im ganzen aber geftehen wir e zu, e8 folle
Keiner fid über ben Andern zum Genfor
Spe. Ouartalfigeift. 1889. Heft IIL 25
514 Linfenmann,
aufmerfen, berfid) nidt bar&ber ausmweifen
Tann, baf er aud) felbft etwas gu leiſten ver:
mag, was fid der Öffentlichen Beurtheilung
preisgibt; bie hierin liegende Gegenfeitigkeit entipriht
ber Gerechtigkeit, ber humanen Sitte und Mäßigung in
den Smfprüden; man lernt den Gegner befier achten
und Fehler leidter verftehen und ent[djulbigen, wenn
man bie fchriftftelerifche Arbeit mit al ihren Paffionen
und Aufregungen, ihren Tüden und Jlufionen aus
eigener Erfahrung fennen lernt.
Doch begegnet und hier eine Klippe, auf melde
aufmertjam gemacht werden muß, weil fi aus ijr
Uebelftände im ſchriftſtelleriſchen Gebanfenaustaujde et:
geben, melde fi gang fchreiend bemerklich machen, zu
deren SBejeitigung aber Alle fid) ſcheuen Hand anzulegen.
Die Gegenfeitigleit, von ber wir oben [pradjem, erzeugt
eine Art von Gollegialitát, aus teldjer Sympathie oder
Antipathie, freundſchaftliche ober feindfelige Nebenbuhler-
ſchaft entfteht, fo baf bas Urtheil entweder burd) Liebe
oder durch Haß beftoden und gefüljdjt wird. Fir das
ſchreiendſte Unweſen auf biejem Gebiete kann man Ad
die Augen nicht mehr verfchließen;; e8 gibt Bündniſſe
zu Shug und Trug, gobajfecutangem, um
andererfeits ἔτ εἰ ὦ ἐ Hinrihtungsftätten. Aber
qud) im Heineren Maßftabe begegnen uns monde ft
lich bebenflide Erſcheinungen. Da haben wir einen
Schriftſteller, der e$ motpmenbig hat gelobt zu toerben,
und darum muß e8 einen anderen geben, welder ihn
lobt, denn man muß leben und leben laſſen. Ange:
hörige einer Gorporatiou oder Congregation, Mitarbeiter
an einer Zeitſchrift vecenfiren, b. h. fie loben fid) gegen:
Schriftſtellerthum und literariſche Kritik. 375
ſeitig und erzwingen fomit als eine geſchloſſene Macht,
von welcher man Widervergeltung zu fürchten hat, aud)
von Anderen und ferner Stehenden Anerkennung oder
wenigſtens Stillſchweigen; fie erzeugen künſtlich, was
mon öffentliche Meinung und [doriftftelleriide Reputation
nennt, unb zwingen am Ende aud) bie SBiberfirebenben
in ihren Bann, weil e8 immer nur Wenige gibt, bie
bem Baal das Kniee nicht bengen und welche fid) nicht
burd) bie jeweilig gebietende Macht imponiren lajfen.
Aber mit blos burd) Liebe, fondern aud buch
Haß wird das Urtheil beftoden. Die Gelehrten ver-
zeihen einander ihre Fehler am alleriwenigften, und wenn
das Auge durch Haß und verlegte Eitelkeit geſchärft
nah Fehlern fpäht, ba taucht fid bie Feder in Galle
und bie Rede toirb bitter. Die Waffe bes verlegten
Gelehrten ift eben ber Rothftift und bie Feder; und
tud im Haffe macht fid) die Macht der Partei geltend,
die fid) ein Schriftfteller zur Feindin gemacht hat.
Aber alle bieje Mibftände, bie im einzelnen zu
ſchildern nit unfere Abſicht fein Tann und bezüglich
derer wir nur jagen können, daß innerhalb und aufet-
halb bet Mauern Ilions gefündigt wird, Tönnen bem
geundfäglichen Rechte feinem Eintrag thun. Das Recht
ber Gegenwehr ſteht ſchließlich aud) dem ungerecht Ge-
kränkten zu. Daraus daß die Kritik nicht unfehlbar und
mit immer unparteifch ift, folgen zwar viele Uebel in
ber literariſchen Welt und berechtigtes Mißtrauen gegen
ausſchweifendes Lob wie gegen allzu herben Tadel; aber
wir müffen diefe Ercefie doch immer nur zu ben Aus-
nahmen rechnen. Die Kritil leitet ihr principielles Recht
«u$ unverrädbaren Principien ab, und mer ein be:
25 *
376 Linfenmann,
rufener ober unberufener Kritiker jei, ba8 kommt zeitig
genug an ben Tag.
2.
Auf breiteren Spuren fóunen wir wandeln, wenn
wir num im weiteren von den Pflichten ber literati
ſchen Kritif veben. Denn wo es gilt, den Stebenmeniden
ihre Pflichten vorzutragen und madjgutoeijeu, da wird
bie menjdlide Zunge doppelt beredt. Nur fürchten wir,
daß e8 auch hier vielerlei Zungen und vielerlei Geift
gibt, und daß eine Angelegenheit, im welcher gar fo
Viele das Wort ergreifen, baburd) nicht am Klarheit
gewinnt. Was Dielen felbftverftändlich ſcheint, das ift
darum uod) nidjt das Richtige, unb wenn zu einem
Biele ein breiter Qeermeg führt, jo folgt daraus mum
bod) nit, daß Alle bie dorthin kommen wollen, nur
auf bem breiten Wege behaglih und bequem wandern
müſſen, und daß e8 feine erlaubten Geitentege und
fürgenbe Fußpfade gebe. olde Gedanken fließen dem
Verfaſſer biejer Blätter auf, als er bei einer Umſchau
nah dem, was mohl berufsmäßige Schriftfteller und
fuitifer von ben Principien und Obliegenheiten bet
Kritik zu fagen müßten, eine Abhandlung zu Geſicht
befam, die ihm ganz aus der Seele geſprochen war und
die dennoch, afabemijd) correft wie fie ift, in der Ans
wendung auf bie thatſächlichen Verhältniſſe mehrfache
Einſchränkungen erleiden muß.
Der angefehene frangófilde Gelehrte Uly ſſe Che—
valier, auf deſſen unten verzeichnetes Schriftchen 1)
1) De l'utilité et des conditions de la critique d’erudition.
Schriftſtellerthum und literariſche Kritik. 377
τοῖς hiemit Bezug nehmen, hat im engeren Sinne bie
wiffenfhaftlide SBevidterftattung im Auge,
Lettre à M. Cazajeux, Directeur des Lettres chretiennes, par
Ulysse Chevalier, chanoine honoraire de Valence. Lille-
Bruges 1880. — Der Auffag erſchien zuerſt in ber Zeitſchrift
Lettres chretiennes, 1880, 1. $. als eine Art von Programm
über bie Grunbfäge, welche für ben fritijjen Theil ber Zeitſchrift
maßgebend fein folle. Ὁ. Chevalier beginnt mit ber Frage:
Behauptet inmitten ber toiffenjdafttiden Thätigteit, toeldje unferer
Bit (in Frankreich) eigentbümfid) ift, bie katholiſche Welt wilrdig
iren Platz? Iſt man genötigt, ernſtlich mit ihr zu vechnen in
allen Stveigen dev gelehrten Arbeit? Machten wir, oder machen
τοῖς jet, Jeder in feinem Wirkungskreiſe, jene Anftrengungen, um
unfeen Anteil zu ber gemeinfamen Summe ber Forſchungsergeb⸗
niffe beizutragen? Er will als Antwort auf bieje Fragen in lauter
füage ausſprechen, was im ftillen viele feiner Mitbrüber benfen:
»Il y a bien des points faibles et des lacunes dans notre vie
intellectuelle (pag. 4). Es gibt mande ſchwache Punkte unb
Süden im unjerem geiftigen Leben! Man fei, meint Ch., zurück-⸗
geblieben, indem man fid daran genügen laſſe, bie Werke ber Alten
aufzufriſchen; neu [εἰ daran in ber Regel nur bie oratorijde Am⸗
Hifiention. Was kirchliche Wiſſenſchaft betrifft, [o ift Ch. geneigt,
unfere Zeit das Jahrhundert der „Wiederabdrude” zu nennen;
und zwar fo, baB bie von Katholiken veranftalteten SBieberabbrude
wenige ober gar feine Zuſätze und feine ober bedeutungsloſe Ver⸗
befferungen enthalten. Selbft 9556 3Rigne, bejfen SBerbienfte in
hoöchſten Ehren bleiben, biete in feinen hunderten von Bänden bei—⸗
nahe feine nicht zuvor ſchon herausgegebenen Zerte, unb geftehe ed
offen, daß e8 ifm eben an intelligenten unb ffeiBigen Mitarbeitern
hiezu gefehlt Habe. Einen Hauptgrund aber des Niederganges ber
Yatholiichen Gelehrjamfeit findet Ch. in der Grjdeinung, daß unter
der Flagge der Drthodogie das Mittelmäßige, ja
die werthlofe unb [αι ὅς Waare ungeprüft hin
genommen wird. Zu ben Bemühungen um Hebung ber fo»
tolifchen Literatur umb Gelehrtenarbeit gehört daher vor allem,
daß bie Nothwenbigteit und bie Vebeutung ber wiſſenſchaftlichen
Kritik erkannt werde, Denn biejelbe ift, toie ein anderer Vertreter
der katholiſchen Prefie Frankreichs, M. Ch. Dejace, fij ausbrüdt,
378 Linfenmann,
wie biejelbe von einer kritiſchen Zeitſchrift gu Leiften ift.
Nah feiner Theorie muß bie Verichterftattung zwei
Theile enthalten, bie er Analyfe und Discuffion
nennt. Was den erften Theil anlangt, fo darf man
nicht leidt vorausfegen, daß bet Lefer im SBefipe des
zu beiprechenden Buches und daß er über deflen Gegen:
fand auf dem laufenden ſei; man muß ihn deßhalb mit
bem Gegenftand und Plan des Werkes, mit feinen ver:
fchiedenen Beftandtheilen und mit ber SBerfettung ber
Ideen bekannt machen; zuweilen wird man Bemerkungen
über den Stand ber Wiſſenſchaft in der fraglihen Ma-
- terie vorauszuſchicken haben, jet e8 zur Empfehlung des
Buches, [εἰ e8 um auf Fehler beffelben aufmetffam zu
maden. Die Analyfe wird ausführlicher fein müſſen
bet joldjen foftipieligeren Publicationen, welche wegen
ber bejdyrünften Auflage oder des ſehr hohen Preifes
bem großen Publicum fo gut mie unzugänglich bleiben.
Die Erörterung (discussion) aber ihrerjeit8 muß mo
möglich in eine ernfte und abftrafte Form gekleidet fein.
Das Vertrauen, welches man ber Zeitſchrift ſchenkt
bijpenfirt den Mitarbeiter nicht von der Pflicht, für feine
Einwendungen Beweife beizubringen. Niemals erſcheine
die Anführung einer Stelle ohne Beleg, niemals werde
eine Vermuthung ausgefproden, bie jeder Bewährung
eine wahrhaftige Macht, teil fie über dad Anfehen eines Schrift
ftelers entjdjeibet, auffeimenbe Talente ermutigt, die Auswahl ber
feftüre diktirt unb bie Anſchaffung von Bücern beftimmt. Nade
bem Ch. über bie Beziehungen beà Kritilers zu ber Perfon bed
Auftord fid zu dem unverbrüchlichen Grundfage bekannt: ni om
meraderie ni hostilitó systématique, geht er auf bie toejentliden
Erfordernife der kritiſchen Berichterftattung über, wovon τοῖς im
Xexte reden.
Schriftftelertgum und literariſche Kritik. 379
entbehrt; jede Fritiiche Bemerkung muß unmittelbar ge:
rechtfertigt und der Leer in den Stand gejegt werden,
felbft zu controliven ?). Die S8eridjterflattung hat an
jedem Werke das hervorzuheben, mas bafjelbe für bie
Wiſſenſchaft Neues bringt, ſodann aber aud) bie Fehler
und Lücken aufzudeden. Bei jedem Verfaffer hat man
darnach zu fragen, ob er für feinen Gegenftanb burd)
feine bisherigen Studien gemügend vorbereitet geweſen,
0b er bie vor ihm vorhandenen Specialarbeiten über
feinen Gegenftand gelaunt unb benügt, ob er, mo es
fid um Veröffentlihung oder Ueberfegung von Texten
oder Documenten handelt, ber erforderlichen Sprachen
binlänglih mächtig geweien, ob er alle Handfchriften
gefanut und menigftens bie beften verwerthet habe. Auf
folde Weile wird ein boppelte8 Ziel erreicht, eine ge
börige fenntui der Principien wird verbreitet und deren
Anwendung felbft vervollkommnet ?).
1) Jamais d'allégation dénuée de preuve, jamais surtout,
@insinuation qui ἀδῆθ toute verification. Chaque observation
critique doit ótre immediatement justifie et le lecteur mis
en état de contröler lui-méme. Ces conditions sont indispen-
sables pour légitimer au début notre sévérité et y accutumer
le publie. L. c. pag. 7.
2) Les points sur lesquels nous appelons l'examen special
de nos collaborateurs, sont les suivants: a) l'auteur était-il
suffisamment préparó par ses études antérieures à traiter la
matibre qui fait l'objet du livre en question? b) a-t-il connu
et mie en profit les trevaux déjà publiós sur le sujet spécial
qui l'a occupé? c) lui a-t-il appliqué la móthode veritable-
ment scientifique? d) pour la publication ou la traduction
des textes ou documents, a-t-il possédé suffisamment la langue
dans laquelle ile sont écrits? e) en a-t-il connu tous les ma-
nuscrits, a-til au moins utilisé les meilleurs? C'est ainsi
que nous parviendrons à répondre la connaissance des prin-
cipes, à en perfeotionner l'application. L. c.
380 Linfenmann,
Da e8 fid) bei diefer Betrachtung des franzöfiihen
Gelehrten um die Kritik von Werken ftreng wiſſenſchaft⸗
liden Charakters mit pofitiven Refultaten handelt, und,
mie er felbft fagt, das Genre ber leichten Literatur
außerhalb feiner Biefe liegt, fo find natürlich aud
bie entfpredemben Aufgaben des Berichterſtatters bie
benfbat ftvengften und fegen fachmänniſche Beherr:
ſchung des Gegenftandes fowie eigentliche eigene Arbeit
voraus, wofür e8 oft genug Teinen andern Lohn gibt,
als das Vergnügen, die Wahrheit zu fagen, und das
Bewußtſein, ein gutes Werk zu tbun ?).
Da aber die eigentlich wiffenfhaftlihen Werke mit
Ergebnifien erafter Forſchung meitaus nicht bie Haupt:
mafje der literariſchen Production ausmachen, ba viel
mehr die fubjektive Stefferion, das perſönliche Meinen
und Abſchätzen, oder die rein Afthetiiche Betrachtung der
Dinge über die gelehrte Forſchung ſichtlich vorherrſcht,
fo fónnen bie genannten Kennzeichen einer wiſſenſchaft
liden Kritik nicht überall in gleicher Weiſe angelegt
werden; e8 tollen nicht alle iteraturmerfe mit bem
Maßſtabe ber Nittzlichkeit gemeſſen werden; atat etwas
von geiſtigem Nutzen bezwecken, ſelbſt da wo man die
Abſicht leugnet, auch die Poeten und die Schöngeifter,
beſtehe nun der Nutzen in Bereicherung des Geiſtes mit
1) Les articles que la revue attend de ses collaborateurs
ne sauraient donc rentrer dans le genre de 18 littórature fa-
cile: outre qu'ils demanderons toujours pour étre compétente,
des connaissances spéciales, ils exigerons d'habitude un vrai
travail. Sans rapporter à leurs auteurs une notoriété propor-
tionnée, ils jleur attireront plus d'une difficulté ; et en óchange
d'un surcroit d'efforts on n'aura souvent que le plaisir de dire
la vérité et la conscience d'une bonne aotion.
Schriftſtellerthum und literariſche Kritik, 381
Kenntniffen und Gedanken, oder des Gemüths mit an-
genehmen Gefühlen; aut prodesse volunt, aut delectare
poetae. Ein ganz anderes JIntereſſe als bie ſchöngei—⸗
fige Literatur, nehmen wieder Erbauungsiäriften und
erbauliche Volksſchriften für fid) in Anſpruch; aud) fie
wollen mien burd) Belehrung, aber für ihre fitit muß
εὖ andere Kriterien geben. Doc wir können uns kurz
faflen. Jedes Merk will beurtheilt fein nad) bem Zwecke,
bem e3 dienen fol; aber e8 muß fid) der Berfafler aud)
gefallen laffen, daß über Zweck und Mittel Verſchiedene
verſchieden urtheilen; denn bieje8 muß bod) unerſchütter⸗
lid) feftftehen, daß ein Schriftfteller der Welt verant-
wortlich ift für das, was er ihr anbietet, und daß er fid)
nicht einzig mut a8 den Spender einer Gabe betrachten
darf, meldje man mit Dank und geziemender Beſcheiden⸗
beit entgegenzunehmen hätte. Wenn bie Schriftfteller
aufdringli find, auf den öffentlichen Markt treten, in
die Pofaune ftoßen, ihre Waaren, die Niemand gefordert
noch beftellt, feil bieten, wenn fie jelbft den Markt und
ben Preis machen, die öffentlihe Meinung leiten, den
Geſchmack erzeugen, dem geiftigen Leben ihrer Mit:
menfchen Richtung und Stellung geben wollen, fo dürfen
fie fid) nicht über den 9tumor wundern, ber um ihret⸗
tollen entfteht, und über einige kritiſche Köpfe, melde
nad ber Urſache diefes Rumors fragen. Die Poeten
und Philofophen beftimmen über Religion und Sitte
einer Zeit, bie Geſchichtsſchreiber lenken die Politik; e8
ift daher mur folgerichtig, daß man fie aud) vor bet
Deffentlicfeit zur Verantwortung zieht.
Und werm mun die Art der fchriftftelerifchen Thätig-
teit e3 jo mit fid bringt, daß fie fid an weite Kreije
382 Sinfenmam,
wendet und bie Intereffen aller iu Mitleivenihaft zieht,
fo fdrünft fid) aud) das Recht der Kritik nicht auf einen
engen Kreis von Fachgenoſſen ein, wie bei einer ftreng
gelehrten Arbeit. Einen viel größeren Kreis von Ur-
theilsfähigen geht bie Frage an, mas mit einem Buche
genügt oder gejdjabet fei für das Ganze, ob ein guter
oder ſchlimmer Einfluß auf bie SDenfmeije, die Sitten,
ben Geſchmack der jeitgenofjen ausgeübt werde. Ob
man im fahmännifhen Sinne ein Philoſoph fein müſſe,
um gewifle Werfe von philoſophiſcher Richtung, etwa
populãrphiloſophiſcher Art, zu beurteilen, wollen wir
babingeftellt fein laffen; gewiß aber braucht man nidt
felbft in der Verſekunſt geübt zu fein und Romane oder
Tragddien geſchrieben zu haben, um über den geiftigen,
füttlichen und äfthetiihen Werth eines Dichterwerkes ein
Urtheil abzugeben.
Kehren mit aber zu der eigentlichen Gelehrten
arbeit zurüd, von melder U. Chevalier redet, fo
find wir der Anfiht, baB aud) auf diefem Gebiete bie
Keitit fid nicht ausfhließli im den von bem Manne
der Gelehrfamfeit vorgezeichneten Wegen bewegen müfje
und könne, obſchon toit feine Vorſchläge ala eine Art
von Ideal feftbalten. - Auch in diefer Richtung hat, fo
ideint e8 uns, bie firifte Gebundenheit au akademiſche
Regeln einen Beigefhmad von Pedanterie und erzeugt
eine Schwerfälligkeit, über melde der raſche Schritt ber
ſchnell Iebenden und fchreibenden Menihen hinwegeilt.
Wollten wir aud) wur bie gewöhnliche Erfahrung au.
rufen, fo wide fie uns zeigen, daß bie Berfafler von
gelehrten Werken wohl felbft am menigften damit zu:
frieben wären, wenn nit früher ber Ruf von ihrem
Schriftftellertfum unb literariſche Kritik. 883
Namen und ihren Werken an die Deffentlichleit dränge,
als bis ein vollftändig ebenbürtiger und fachmänniſch
auàgerüfteter und mohlgewappneter Gelehrter fid) eines
Buches bemächtigt hätte, demfelben auf allen feinen
Gängen von ber erften Quelle an bis zum legten Aus:
fluffe nachgegangen wäre, eine ausführlihe Inhaltsan-
gabe davon gemadt, über jeden Fehler mit Nachweis
aus bem gelehrten Apparat Buch geführt hätte und
endlich über jede Meinungsverſchiedenheit in gründliche
Erörterung eingetreten wäre. Dieß wäre unter Um—
fänden nicht allein eine ſchwerfällige und langfame, fone
bern nit einmal immer eine geredjte umb objektive
Kritik; gleichwie vielmehr felten ein Arzt bem anderen
anerkennt und lobt, fo füllt e8 aud) gerade bem Fach:
mann in der Gelehrtenarbeit oft am ſchwerſten, bie Lei-
Rungen feines Fachgenoſſen unparteiiih zu prüfen. Der
Eine freilich ift dankbar für das Neue, mas er beim
Anderen gelernt; ein Anderer aber wieder iſt eiferfüch-
tig auf ben Ruhm bes Genoflen und hat ein befto ſchär—⸗
fere8 Auge für beflen Fehler, und wieder ein Anderer
ift vielleicht beides zugleich, dankbar gemieBenb und bod)
eiferfüchtig und mißftimmt, und es ift ſchwer berechen⸗
bar, melde von ben wechſelnden Stimmungen in ber
Recenfion vorherrſchen werde. .
Die gefagt, wir halten an der Forderung ber εἰπε
läglichen Analyfe und Discuffion wie an einem Ideale
fet, müffen aber für Ausnahmen Erlaubniß erbitten,
fon barum, teil jene Forderung nicht allgemein burd*
führbar ift, wenn man e8 nicht für wünſchenswerth hält,
daß jedem Buche ein zweites, vielleicht ebenſogroßes
oder größeres, entweder gut Belobung oder zur Wider:
384 Zinfenmann,
legung an bie Seite geftellt werde. Wie groß müßte
ber Artikel einer kritiſchen Zeitfhrift werden, menn eine
in das einzelne gehende Discuffion für unerläßlich er-
achtet wirde, und wie gründlich müßte bie Auseinauder⸗
fegung werben, bis bet vecenfirte Auftor und die Lefe:
toelt felbft befriedigt wäre! Eine Discuffion würde eine
weite, eine Kritik eine Antikritit hervorrufen fo fider
als Berg und Thal einander fordern. Nun gibt es
unbedingt Bücher, meldje eine Erörterung ihres Inhaltes
in mäßigen Grenzen zulafien, und Recenfenten, welde
mit firemgem Gerechtigfeitsfinne fo viel Geſchick und
Taft verbinden, um allen billigen Anforderungen einer
fahmännifhen Auseinanderfegung im Rahmen einer
Necenfion oder Ctreitjd)rift zu genügen; wir benfem εὖ
ung aud) möglich, daß es wiſſenſchaftliche Organe gebe,
die programmmäßig nur Referate nad) ben obengenannten
Ornndfägen aufnehmen. Aber wir behaupten, daß es
auf bem Gebiete ber literarijden Kritik mede gibt,
welche nicht volftändig erreicht werden würden, wollte
fid bie Kritik auf jene afabemijde Form und auf bie
dafür beftimmten kritiſchen Organe bejdyrünten.
Wir möchten ferner jagen, daß dem erften Grfor.
derniß aller Kritik, nemlid) ber Gerecht igkeit gegen
SBublicum und Auktor, aud) nod) in anderer Form
genügt werden Tann.
Bum Beweiſe des Gefagten möchten wir einmal
vorschlagen, Bücher wie Kunftiverfe zu betrachten. Denn
ein Meines Kunſtwerk jollte bod) jede literariſche Publi-
cation fein, menn aud) nicht jedesmal ein großes. Nun
Toll e8 ein Wort von dem großen Meifter Cornelius
fein: An meinen Gemälden fol man nicht ſchnüffeln,
Schriftftellertfum und literariſche feitil. 385
bie Farben find ungefund! Gr wollte jagen, man muß
fij in eine gewiſſe Entfernung ftellen, um bie Wirkung
eines Bildniſſes richtig aufzufaflen und zu genießen.
Ein Kunſtwerk will aud) nicht wie ein Stüd Beug be-
bandelt fein, am bem man mit der Lupe bie Fäben
zählt und Seide von Wolle und Baumwolle unterfcheidet.
Ein Kunſtwerk ift eher mie eine Blume, deren höchſten
Preis nicht derjenige am geredteftem würdigt, der bie
Staubfäden zählt oder gat bie Blätter abreißt, um fie
unter das Vergrößerungsglas zu legen und etta bie
Beſchaffenheit ober Dauerhaftigkeit des Farbenpigments
zu unterfuchen. Die Arbeit des Botaniker und Pflanzen⸗
anatomen muß freilich aud) geſchehen, aber fie ift nicht
bie höchſte. Auch au Büchern aljo fol man nicht ſchnüffeln,
fondern fie von einer richtig gemählten Entfernung aus
betrachten; man muß die Prüfung nicht mit einem klein⸗
lien Handwerksgeiſte vornehmen.
Vom eigentliden Kunftwerke jagt mau, daß mur
derjenige e8 zu würdigen wife, ber dem Künftler con
genial fei, was freilich ein etwas unfiderer Begriff ift,
weil über Genie und Genialität gar oft bie melde fie
wirklich befigen anders denken, als bie melde fie zu
befigen glauben. Keinenfalls aber ift die Gongenialität
an bie Gleichheit ber Kunftübung oder Richtung geknüpft;
man will eben ausbrüden, daß im Geifte eines bod
angelegten und edel gebildeten Mannes etwas enthalten
fei, das ihn befähige, das Große und Echte aud in
ber fremden Erſcheinung zu entbeden und anzuerkennen,
ein gewiſſer ficherer Blick für bas Rechte und Meifterhafte.
Co muß es nun aud) für die Beurtheilung literariſcher
Reiftungen einen geübten und ficheren Blid geben, fo
386 Linfenmann,
gewiffermaßen von bem erhöhten Standpunkt bet Vogel⸗
{hau aus, eine durch Philofophie und Aeſthetik gebilbete
Beobachtungsgabe, welche den Kritiker befähigt, an einem
Buche den gelungenen Wurf und bie Kunft ber Com:
pofition ober bie Angemefjenheit ber Darftellung zu
entbeden und dafür, ohne weitläufige Analyfe, ben ber
zeichnenden Ausdrud zu finden. Auch zur Ausſprache
des fritijdjen Gebanfens gehört ein Gejdjid ; man kann
ja nicht wieder mit den Worten be8 Auktor reden,
fondern muß künſtleriſch veproduciren, muß zu biejem
Zwecke umbilden, verkürzen, umſchmelzen fónnen.
Soll der Recenfent über den Inhalt einer Shrift
Mitteilung madjen, fo Tann dieß bod) mur mit Aus:
wahl geſchehen; unb aud) zur richtigen Auswahl gehört
ein feiner Sinn, bier reicht blos mechaniſche Arbeit ober |
pedantiſche Loyalität nicht aus; ber Leer erhält ja bod
kein völlig richtiges Bild von bem Inhalte und bem
Werthe εἰπε Buches, menn man defien Inhalt im
Stelett oder in Regifterform herausſtellt, ebenfo wenig
al3 wenn man ein andermal auftatt ber tragenden und
verbindenden SBauglieber blos Theile ber Füllung ober
Decorationsmufter herausheben wollte, um bem Lejer
eine Vorftellung von bem Charakter des Werkes zu geben.
Da nun aber einmal eine Auswahl zu treffen ift, fo
läßt fid) wiederum nicht vermeiden, baf man eben auf
bie Discretion be8 Recenfenten angemiejen ift;
derfelbe" muß fid) bod) ſchließlich von fubjeftiven Ein
brüden, bie er von einem Buche empfangen bat, in
feiner Behandlungsweife leiten laſſen, und entſcheidend
wird bald ber fubjektive Gejhmad, bald bie Vertraut⸗
beit des Recenfenten mit dem Gegenftand ber beſprochenen
Schriftſtellerthum und literariſche Kritik. 887
Shift, bald bie Rüdfict auf ben Leferkreis des Re:
cenfenten, am Ende gar noch auf den ber Kritik ver:
flatteten Drudraum werden. Ob man aus einem Bude
wirklich eimas Neues gelernt und geiftige Anregung
und Befriedigung erhalten, oder ob man entäufcht und
dur Inhalt oder Form abgeftoßen worden; ob man
in einem Buche eigene Anfchauungen wieder findet, ober
einen Gegner vor fid) fieht, vieleicht der Art, ba man
fib mit befjen Methode und Beweismitteln unmöglich
ſcheint verftändigen zu können; ob man etwa geradezu
in eigener Cade und Perfon angegriffen und verlegt
worden, oder ob man bem Verfaſſer geiftig unb perſön⸗
lid) verbunden fei: alles biefe8 wirft auf bie Stimmung
und auf ben Ginbrud, den ber Recenſent von einem
Buche empfängt, und wird fij bemmad) aud) in bet
Berichterftattung geldend machen.
Dieß find einfache pſychologiſche Nothwendigkeiten,
über bie man nicht mit alademiſchen Regeln hinmeg-
kommt. So gewiß fein Schriftfteller feinem Gegenftanbe
ſelbſt ganz felbitlos gegenüber fteht, fondern “Jeder
etwas von feiner Perfönlichkeit, von feinen Seelenftim-
mungen und Neigungen aud) in der rubigften und leiden
ſchaftsloſeſten Darftellung mitllingen läßt, fo wenig aun
man vom Stecenjenten erwarten, daß er vollſtändig fid)
feiner felbft entäußere und feinem Style eine Farblofig-
teit und feinen Gebanten eine Kälte aufnöthige, bie mit
allem Intereſſe des Schreibenden am feinem Gegenftande
in Wiederſpruche ftünben. Einen vollftändig ἐπε
tereffelofen und Fühlen Kritifer mürbefaum
ein Auktor lieben. Man möge fid aljo nidt
mit unmöglihen Forderungen plagen, und
388 Sinfenmann,
fid nuidt daran ftoBen, menn bet Kritif ein
Beigeihmad von fubjeltivem Wohlgefallen
oder Mißfallen anklebt.
Daher muß man aud) darauf verzichten, in einer
kritiſchen Berichterftattung eine abfolut richtige,
von feiner menſchlich-eigenthümlichen
Klangfarbe afficirte Würdigung zu erwar-
ten. Was müßte das entmeber ein Meiſterwerk —
Ober eine ganz gewöhnliche Pfufcherarbeit fein, welche
auf Leſer verfchiedener Anlage, Stimmung, Bildung und
Fachkenntniß nicht aud) wieder verſchieden einwirkte und
daher eine verjhiedene Aufnahme fände! Daher Tann
jede Würdigung einer fremden Leiftung, und zwar um
To mehr, je höher und idealer fie ift, nur eine annähernde
fein, und e3 ift unweife von dem Berfafjer eines Werkes,
vom Steceujenten zu verlangen, daß er überall baffelbe
empfinde wie ber 3Berfafjet ſelbſt, und baf er durchaus
nur mit liebendem Auge die Vorzüge jdüge und bie
Gebreden unb $üdeu beſchönige.
Man liebt in ber wiſſenſchaftlichen Darftellung bie
Kürze, und hat allen Grund dazu Recenſionen
follen aud die Lectüre eines Sudes nidt
erfparen. Es ift nicht mehr ſchriftſtelleriſcher Brauch,
in Streitſchriften den ganzen Juhalt ber gegneriſchen
Schrift mitaufzunehmen ; genug daß er einmal gebrudt und
ihnen zugänglich ift, bie fid barum kümmern. Man
muß deßhalb dem Stecenjentem eben zutrauen, baf er
jo viel jagen wollte, ald er von feinem Standpunkte aus
für recht und erſprießlich hielt. Ja mir fehließen dieſe
Auseinanderfegung über ba8 Recht ber Subjekt ivi⸗
tät in der Kritik mit dem Sage: Einem Recem
Schriftſtellerthum und literariſche Kritik. 389
fenten von Namen und Beruf muß man aud
etwas auf8 Wort glauben und nidt für
jebe Bemerkung, jedes Lob oder jeden
Tabeleine meitläufige unb detaillitte
Begründung mit gelehrtem Apparat ver-
langen. Man fol eine Recenfion bod) nicht wie ein
landgerichtliches Urtheil mit bem ganzen Tenor ber
Entieidungsgründe auffaffen. Wenigftens find bie Ge:
bräude innerhalb ber Gelehrtenwelt andere geworben,
und wir fónnen die nicht unbedingt tadeln. Die Schrift:
fteller Können fid) ja aud) wieder ſchützen gegen Recen-
fenten, von denen fie fid) beeinträgtigt fühlen, und oft
genug kommt e8 vor, daß ein Auktor mit irgend welchen
Mitteln bas lejenbe Publikum zum voraus fo für fij
ju fimmen wußte, daß es einem gewifjenhaften 9tecen-
fenten ſchwer genug füllt, mit feiner mahnenden und
warnenden Stimme in bem Chorus ber beftellten Kory⸗
banten oder Thyrſusſchwinger einzufallen; er wird ent-
weder gar nicht gehört, ober zerriffen.
Es bieße Eulen mad) Athen tragen, wollte man
eft darauf aufmerfjam machen, baf Gerechtigkeit bie
erfte Pflicht des Kritikers ift, ber ja bod) aud) ein Richter
fein will und bem deßhalb das Wort im Buche ber
Weisheit (1, 1) gilt: Liebet die Gerechtigkeit, bie ihr
Gericht übet auf Erden! Aber für bieje Gerechtigkeit
gibt es mod) ein anderes Kennzeichen und eine andere
Bürgſchaft, als bie, mie wir nachgewieſen haben, that
Tádjlid) undurchführbare abjolute Objektivität. Auch nicht
einmal die Forderung, daß man gleiches Maß für Alle
haben miüffe, genügt uns, fofern fie nemlid vorauszus
fegen 1deiut, daß man fij aller Sympathie oder Antis
Sol. Quartolf$rift. 1888. Heft III. 26
890 Linfenmann,
patbie entihlage, was unmöglich ift. Dagegen verlangen
wir bie mit fleigender Bildung fid) fteigermbe Fähig—
feit, fid mit feinen Gebanfenauf beu Stand:
punit des Gegners zu vetjegen unb nad
bem zu fragen, mas man von jenem Stand:
punkt aus billigerweife verlangen könne.
Der glüubige Katholik 2. B. braucht feiner perfönlichen
Weberzeugung nicht zu vergeben, wenn er fid) einen
Augenblid in die Möglichkeit Dineinbenft, daß er durch
irgend melde Schidjale und Zufälle des Lebens in bie-
ſelbe Lebenzftellung, fittlihe Stidótung oder Gonfeffion
bineingeführt worden wäre, auf welcher nur diejenigen
Reben, bie er als Andersgläubige unb Andersdenkende
anfieht, unb wenn er fid) darüber Gedanken macht, wie
et in biejem Falle glauben und denken, wie er feine
Studien einrichten, wie bie geſchichtlichen Ereigniſſe auf
fid) einwirken laffen würde. Iſt e8 denn unfer Ber-
dienft und nicht vielmehr Gnade, wenn wir unfern
tichlihen Glauben bewahrt haben? Die Gerechtigkeit
verlangt zum menigften von ung, daß wir auch ben
Andersgläubigen bie gute Meimung zufrauen, das
Wahre zu erfennen und ba8 Gute zu wollen, (o lange
als nidt für das Gegentbeil Beweilg vor
liegen. Für die Beurtheilung eines Menfchen, feiner
Senf: und Handlungsweiſe, alfo aud) feines ſchrift⸗
ſtelleriſchen Charakters, fommt e3 viel darauf an, ob
man fij in defien Lage, Gebanfem- und Bildungskreis
verfegen Tönne ober nit. Nun darf man fij aud
darüber nicht täufhen, als ob ber Kritifer nur bie
Bücher und bie Meinungen, nicht aber aud) die Berfon
bes Verfaſſers treffe oder treffen molle. Der Ser
Schriftſtellerthum und literariſche Kritik. 391
faſſer legt ſeine Seele in ſeine Werke, und
wer dieſe antaftef, taftet feine Seele an.
Bir dürfen nach den Intentionen ber Verfaffer fragen,
aber eben darum ihnen nicht Abfichten unterlegen, bie
fie auf ihrem Standpunkte nicht haben können.
Wir können barum das Verfahren derjenigen nicht
billigen, welche bie Gefammtbeit ber Menſchen und ber
Säriftfteller zum voraus in zwei Mafjen theilen, bie
Gefegneten und bie Verfluhten, und barmad) ihr fri.
tiſches Verdikt fprechen. Nicht al8 ob mir e8 ums gu
mutbeten, ſchwarz mit weiß, Irrthum mit Wahrheit für
ibentijd) zu nehmen oder bie Gegenſätze zwiſchen Glauben
und Unglauben, Pofitivismus und Liberalismus u. f. v.
du ignoriren. Aber man muß aud) dem Gegner eine
bona fides zutrauen fónnem und darf fie ihm erft ab-
ſprechen, wenn er fid) diefes Vertrauens pofitiv unwür⸗
big erweist. Daraus daß wir bieje Art von Geredjtig-
let nicht immer von Seiten unferer Gegner erfahren,
daß man 4. 39. literariſchen Arbeiten von ausgeſprochen
tatholifcher Färbung zum voraus mit grundſätzlicher
Seindfeligfeit begegnet, folgt für un8 fein Recht, unet-
läßlihe Attribute ber Gerechtigkeit umb Billigkeit zu
fufpenbiten. Crproben wir das Vertrauen auf unjere
eigene Sache darin, baf mit felbft gegen ben Ungerechten
gerecht find! Und wenn e8 uns zumeilen ſchwer vor-
lommen will, an der guten und ehrlihen Meinung des
Vertreters einer falſchen Richtung zu glauben und feinen
Aufftellungen einen guten Sinn abzugewinnen, fo ver:
gefien wir nit, baB e8 bem Gegner ebenfo mit uns
ergeht und bof mir e8 ihm auch nicht immer leicht
machen, unfere — wir meinen bie lirchlichen — Lehren,
26 *
392 Sinfenmann,
Anfichten, Gebrüude unb Uebungen zu verſtehen, unfere
Bemweisführungen zu würdigen ober unfere Forderungen
zu billigen! Woher fümen fonft unter una felbft jo viele
Mißverftändniffe, ſchulmeiſterliche Zurechtweiſungen, Saut
und Streit um Worte und Meinungen im eigenen Lager!—
Sol nun aber, zum richtigen Abſchluſſe, aud) nod)
von ben Pflichten der literarifhen Kritik
in Hinfiht auf Form unb Tom geredet werden,
fo fühlte man fid) faft verfucht, das Inftrument neu zu
befaiten und in eine andere Tonart umzuftimmen. Denn,
toir müſſen e8 uns offen gefteben, c'est la guerre, es
gebt nicht anders; Aultor und Kritifer unb ber beiber.
feitige Anhang fteben zu einander auf dem Kriegsfuß,
und was wir als etfijde Forderung auf biejem Felde
anſprechen fünnen, ift mehr oder weniger in bem Worte:
humanes Kriegsrecht enthalten. Der Sybealift wird
aud) bier vom Stealiften befiegt, in freier Luft erftidt wie
von Heralles ber Rieſe Antäus. Und gleihiwie wir
für das Kriegsrecht viel greifbarere Anhaltspunkte im
mofaifhen Gejege der Furcht, al8 im evangelifchen ber
Liebe finden, fo ift e8 auch für beu literarifhen Ber:
kehr viel leichter, einen Dekalog von Pflichten unb 9tüd-
ſichten aufzuftelen, bie ſchon den natürlichen Menſchen
verbinden, als eine Application vom chriſtlichen Gebot
der Liebe zu machen. Der Delalog hat nemlid) bie
verbietende Form: Du folft nicht; und das nun Tann
man ziemlich deutlich fagen, was ber Recenfent nicht [01].
Unfer SDefalog würde etwa fo lauten: Du fol
nidt ben Gögen biejer Welt huldigen und bem Mächtigen
nicht ſchmeicheln; dem guten Willen und Streben die
verbiente 9tnerfemmung nicht vorenthalten; den ſchüchter⸗
Schriftſtellerthum und literariſche Kritik, 393
nen Anfänger nicht entmuthigen; das wahre Verbienft
nicht um ber fremden Farbe willen verkleinern; ben
Gegner nicht erbittern, mod) ihm ohne Noth mebe thun.
Du folft nicht ohne Grund des Anderen Abfihten ver
bidtigen unb ihm feine Fehler in das Gewiſſen fehieben.
Bo ber Zweck mit fanften umb gehaltenen Worten er:
teiht wird, ſollſt du nicht herbe und ftrafende gebrauchen;
ſollſt nicht den Titerarifhen Brauch und Anftand ὑεῖς
leen; follft bir nicht eine ungehörige Auftorität an
maſſen; und endlich jol[ die Sonne nicht über deinem
dorne untergehen! (Ephef. 4, 26).
Sollen aber nun nad) bem evangeliſchen Sprude:
was ihr tollet, daß bie Leute eud) thun, das thuet
auch ihr ihnen (Matth. 7, 12), pofitive Vorſchriften auf»
geftelt werden, fo ift daran zu erinnern, daß bie Regeln
fi$ nad) der Situation zu richten haben, meldje immer
bieder mad) der Natur des Gegenftandes eine wechſelnde
iſt. Jede Gattung der fehriftftellerifhen Production, wie
fie ihre eigenen Anſprüche macht, erzeugt aud) ihren
eigenen Ton und eigenen Kriegsruf.
Wir rechnen auf allgemeine Zuftimmung, menn
bir fordern, daß ber Kritiker jedem ehrlichen
und gutgemeinten Streben liebevoll ent
gegentomme und bereit fei, ba8 Geleiftete aud) ba
anzuerkennen, wo man eB erſt aus ben Trübungen
mancher Irrthümer oder Formgebrechen herausholen muß.
Denn ohne Rauch brennt feine irdifhe Flamme; es ift
oftmal3 genug, wenn uns der Rauch menigften8 an-
deutet, wo ein Feuer glüht.
Nicht viel weniger allgemein wird man zuftimmen,
wenn wir bie Beſcheidenheit eine befondere Zierde
394 Sinfenmann,
be8 Kritilers nennen, melde bie Milde ber Strenge
vorzieht unb zum Maßftabe bie Mäffigung nimmt. Dem
bie Mäffigung in bem Anfprüden und in ber Form if
ein Beweis ber eigenen Bildung und eigenen fittlihen
Werthes; fie muß daher aber aud), mie jede Tugend,
fittlich errungen werden und ift vielmehr eine Frucht de
gereiften Alters, als eine angeborne Eigenſchaft des
Statutell8; und zwar fo febr, ba man bem feurigen
Blute der Jugend einigen Mangel betfelbem aud) muß
verzeihen können um anderer Vorzüge millen.
Iſt aud) die fritif mit bem Kriege verwandt, fo
muß bod) menigftens aud) für fie gelten, daß ber
Btwed des Krieges der Friede fein müſſe;
bie Kritik foll belehren, gewinnen, vereinigen, nidt ent:
zweien. Es ift etma8 Unfittlihes um das Duell mit
friegerijden Waffen, und bod) liegt mod) etwas vor
Größe darin; wie midrig aber wird oft der Kampf mit
ber Feder, wenn er zum Duell ausartet, in meldem
die ganze Pointe in der Verwundung ober Tödtung
ber literatijden oder moraliſchen Griftem gelegen if!
Es ift traurig, daß ber Streit überhaupt Leidenschaften |
aufregt; vor eigentlicher 9tobbeit aber follten die Schrift:
fteller ſchon durch ihre höhere Bildung geſchützt fein;
über allem literarifchen Hader follten bod) niemals bit
guten Formen beà gejelligen Verkehrs verlegt merben.
Nur möchten wir bieB aud) wieder nicht im Sinne jene
morgenlánbijdjen Sprichwortes gemeint haben, welches
fagt: Küffe dem Feinde die Hand, bift bu fie abpu⸗
bauen nicht im Stand! Eine männliche Haltung
erwarten τοῖς von jedem Krieger; bie toeibijdem und |
feigen, bie falſchen und heuchelnden vetadjtet alle Welt. |
Schriftftelertgum und literariſche fitit. 395
Dogegen ift wieder Großmuth und Edelfinn ein
Garaltermerkmal der wahren Männlichkeit, welche lehrt,
perſönliche Erlebniſſe zu vergefien und Gefühle ber Rache
und Gelüfte unedler Wiedervergeltung zu unterdrüden.
Und wie wir zu ber Gabe des Wortes und ber Dar-
ftellung immer aud) eine Zugabe von Anmuth, Bart:
heit und Grazie münfdten, jo möchten wir aud) für
bie Kritik entidjieben bie 9Inmutb unb Vornehm—
beit unb fefbft im Wige bie geinbeit unb in
ber Strenge das attiſche Salz als Grforber-
aiß der Humanttät aufftellen ἢ).
Das lieBe fid) mun Alles vom Standpunkte bes
Jealismus aus nod) weiter ausführen; aber da das
Kriegsrecht fid) nicht von bem Idealiſten diktiren läßt,
fo ift e8 vielleicht gut, einen Augenblid auf den realen
Boden ber Erfahrung herabzufteigen, melde uns be-
lehrt, ba eben in ber Regel der Ton der fritit
fh nad den Sitten der Auftoren ſelbſt richtet,
und daß aus bem Walde es zurückhallt, mie man in
benfelben bineingerufen hat. Wohlgemerkt, wir con-
Ratiren blos, ohne unfere Billigung auszuſprechen.
Es ift aber aud) ganz natürlich, baf fid) der Ton
der Rede nad) ber Perſon bes Angerebeten ober des
von ber Gegenrebe Betroffenen richtet, und e8 bedarf
nur einer angemefjenen Steigerung der natirlihen Tugend
ber Klugheit zur fittlichen Cigenjdjaft ber Befonnenheit
und des Maßes (σωφρονύνη), um einem Schriftfteller
den rechten Ton anzugeben. Denken wir ung, daß ein
1) Quelque aménité doit se trouver möme dans la critique ;
sie elle en manque absolument, elle n'est plus littéraire.
Goubert) .
396 Linfenmann,
jüngerer Mann als Recenjent einem älteren Schriftfteller
von Namen und erprobter Tüchtigkeit gegenüber ftehe,
fo wird [don die Klugheit ihm eingeben, mas das
Sprihmwort jagt: Wer über fid) haut, bem fallen die
Späne in die Augen. Der riftliden Weisheit aber
tónt'e8 aus ber ἢ. Schrift: „Einen Älteren folft du
nieht anfahren, fondern ihn gemahnen wie einen Vater,
Jüngere aber wie Brüder“ (1. Tim. 5, 1).
Mehr Gewicht jedoch als auf die Perfon bea Autors
müdten wir darauf legen, ob der Ton des Buches
ſelbſt für fid) ein maßvoll bejdyeibener, oder ein anmaßender,
füffifanter und herausfordernder fe. Beſcheidenh eit,
bie befondere Zierde des echten Verbienftes, nimmt von
felbft ein und entwaffnet den firengften Kritiker; aber
ja nicht jene Art von Beſcheidenheit, bie fi oft in
Vorreden fo breit und aufdringlid macht und bie fo weit
geht, daß, wenn man fie für wahr nähme, fie bem
Auftor hätte verbieten follen, am bie Deffentlichkeit zu
treten. Rein wir meinen die Beſcheidenheit, deren
fid nidtber 9 uftor rühmt, fondern bie der
Sejer bon felbft entbedt, bie Beſcheidenheit cines
Schriftſtellers, der in ſchüchternem Verfuche feine Gabe
darbietet, bem Vöglein gleih, das zum erften Fluge
bie Flügel Lüfte. Einen ſolchen bejdjeibenen Mann foll
man nicht rauh anfaffen, ſchüutteln und fieben, bis am
Ende nicht Eigenes von ihm mehr übrig bleibt. Wir
geben ja Ale aud) mur wieder, was wir empfangen
haben, -ber Eine mehr, der Andere weniger, ber Eine
in originiller, der Andere in gewöhnlicher Faffung. Eine
Heine Gabe, freunblid) dargeboten, Tann ja willkommen
und werth fein.
Scheiftftellertjum und literariſche Keitif. 397
Wer aber mit ftedem Schritte einherteitt, fid) mit
fremden Federn ſchmückt, ohne denen zu banfem, von
denen er gelernt oder entlehnt, wer felbft feine Krallen
überall einfchlägt, nichts neben ſich gelten läßt, jeben
Gegner oder Vorgänger verkleinert, wer vollends mit
bervorftechender Arroganz eigene Unfähigkeit verbindet,
der möge nur einem muthigen Genfor im bie Hände
fallen, welcher eine kräftige Geißel führt und bie fried-
lichen Tauben gegen ben krächzenden Geier ſchützen Tann.
(8 ift genug, daß überhaupt das oberfládjlidje Wiſſen,
die fabe Nichtigkeit der modernen Weltbildung einen fo
breiten Raum beherrſcht und man genöthigt ift, in das
ſtagnirende Sumpfwaffer von Zeit zu Zeit ein paar
Träftige Steine zu toerfen. Wenn aber dann gar bie
gleißende Nichtigkeit auf den Thron gehoben wird und
der Literatur Regeln und den Sitten Befehle geben
mil, da bedarf e8 eines Gegenftoßes, der ſtark genug
ift und laut genug, um fi den Beſſeren in der menſch⸗
lichen Geſellſchaft vernehmlich zu machen, unb ba bedarf
es aud) ftarker und firenget Worte,
An ftarker Rede braucht man fid überhaupt nicht
fo febr zu floßen. Ehemals erkannte man bie wahren
Propheten vor den faljden daran, daß jene herbe und
ſtrenge vebeten, bieje aber janft und ſchmeichleriſch. Der
Herr fefbft machte hart bie Stirne Ezechiels, und wie
Diamant und Kiefel fein Angeſicht, ,bamit er nicht bie
unbeugfamen Stirnen des Haufes Iſrael fürchte” (Ezech. 3,
7—9). Und welch firenger Beurtheiler war nicht Goriftua
gegen bie SBiffenidjaft und Cafuiftif der Schriftgelehrten
und Pharifäer! Wahrlih, Er hat harte Worte nicht ges
part! 3561. Matth. 15,3 ff. 23, 13 ff., 305. 8, 88 ff. u
398 Sinjenmann,
Ganz bejonberà aber muß bier aud) davon geredet
werben, dab Ton und Methode ber Kritik nicht unbe
rührt bleiben Tann bon bem Ton und dem ganzen Ges
babren der Reclame, womit fehriftftellerifche Arbeiten
in bie Deffentlichfeit eingeführt werden, weil e8 oft vor
allem nöthig ift, der inneren Unwahrheit der mit raffi—
nirten Mitteln arbeitenden Empfehlung zur Ermedung
und Beftehung des öffentlichen Intereſſes mit Nachdrud
und mit einem Aufgebot von fittlihem Grufte entgegen-
zuwirken. Der Kritifer hat nicht blos einen offenen
und ehrlichen Kampf mit bem Auftor zu beftehen, ſondern
ud) nod) einen anderen mit unfihtbaren Mächten, melde
das Urtheil irre führen möchten.
(8 ift in einem Theile unferer Prefle bereit? kaum
mehr ba einem Schriftfteller gebührende und aufrichtige
Lob von ber gewöhnlichen Reclame — oder jollen wir
es Marktfchreierei nennen? — zu unterſcheiden, da man
zuweilen wirklich nicht weiß, ob eine fog. Recenfion nicht
aus einer vom Verleger verfendeten Anzeige abgebrudt
ift und ungefähr auf gleicher Linie fteht mit jenen
„Runftnotizen“, welde reijenbe Virtuofen vor fid) ber
enden. ᾿
Nicht daß wir die Steclame an fid) verwerfen wollten,
denn fie ift zu einer Stotbmenbigleit im Kampfe ums
Dafein geworden; mod daß τοῖς dem Scpriftfteller ein
wohlwollendes unb wohlthuendes Lob mißgönnten; im
Gegentheil wir fordern vom Stecenjenten, daß er aud
feine Anerkennung vor jeder wirklichen und ernften Leiftung
ausfprede; wir haben ja ſchon bie Geredtigleit als
Pflicht der Kritik genannt, und brauchen bem bier nichts
hinzuzufügen. Aber e8 gibt ein Lob, vor welchem bie
Schriftftellertjum umb literariſche Keiti, 399
Sefer erröthen, und vor welchem ber Auftor ſelbſt zumeift
erröthen müßte, wenn nicht die, welche Anderen Weisheit
lehren, ſelbſt mandmal jehr unmeife wären. (8. gibt
ein Lob, das burd) Webertreibung fid felbft aufhebt, und
es gibt verfhämtes Lob, auf das bie Worte Rüderts
gehen:
„Bon 2ob und Tadel hängt mit nidjten ab bein Abel;
„Doch eh’ als halbes Lob toünjd! id) bir ganzen Tabel.“
Wiſſen denn bie Schriftfteler nicht, daß man bie großen
Männer miBt nad) ihren Haffern, wie die Thürme nad)
ihrem Schatten? Was Tann uns ein falſches, eitles
Lob bedeuten, ein Lob von bem wir wiſſen, daß e8
lebiglid) conventionel ijt? Wo alles gelobt wird, ver:
liert ja das Lob allen Werth, unb wo das Geringe mit
Sobfprüden erhoben wird, bleibt ja nichts mehr übrig,
um das mirflid) Gute auszuzeihnen, und [o wird man
ungerecht gegen bie wirklich lobenswerthen Bücher und
gegen das publicum, dem man geringe Waare für
gute anpreist.
Nun denken wir nicht fo febr an abfichtliche Fälſchung
des Urtheils, al8 an eine einfeitige Voreinge—
nommenheit für beftimmte Leiftungen. Hie—
ber gehört eine mehr ober weniger ausſchließliche 3B e-
founberumng be8 Fremden und Ausländiſchen,
welche ja pſychologiſch wohl erklärlich ift, aber eben
gegen das Einheimiſche unbillig wird. Wenn aus der
Ferne der Klang eines Namens oder der Glanz eines
Ruhmes bis zu uns dringt, fo ſcheint ſchon in diefer
Fernwirkung bie Bürgihaft für den Werth eines Mannes
zu liegen, während bod) die tägliche Erfahrung und be«
lerem fóunte, mit welchen Mitteln man einem Namen
400 Rinfenmann,
Klang und einem Buche Renomme verihafft, überdieß
in einer Zeit, wo alle Entfernungen und nationalen
Schranken für literariſche Aneignungen bedeutungslos
geworben find und fo viele müßige Hände darauf warten,
um mit Weberfegungen Brod zu erwerben. Aber ber
Ruhm bat diefes an fih, baf er in bie Ferne heller
ſtrahlt als im der Nähe; in der Nähe erfcheint Jeder
Hein, nicht weil man ihn mit dem gewöhnlichen Maße
mißt, fondern weil man die menſchlichen Gebrechen, das
Kleinlihe an jedem Menſchenweſen, deutlicher erfennt.
So fpriht uns aud) eine Landſchaft viel Liebliher au
aus einer gehörigen Entfernung, al8 wenn mit auf
Schritt und Tritt von der rauhen Wirklichkeit derfelben,
von al ihren Unebenheiten und SSerfrüppelungen, θὲς
rührt werben.
Das günftige Vorurtheil für eine literarifche Leiftung
ſcheint aber zuweilen einen ganz bem bisher genannten
entgegengefegten Grund zu haben, nemlid eine falſche
Vorliebe für das Einheimifche, einen beſchränkten
Localpatrivtismus Das ausSjdlaggebenbe Mo:
ment dabei ift aber nicht das Eigene im örtlichen
oder beimatLiden Sinne, fondern im geiftigen
Sinne, dad ma8 ber eigenen Rihtung, Ten
benz oder Partei angehört. Hier gibt es aller-
dings einen bejdyrünften Standpunkt, von toeldem aus
man nicht die wirkliche Leiftung, fondern mur die „gute
Gefinnung* oder „correcte Richtung“ abjhägt unb um
diefer willen aud) das Mittelmäßige erhebt und bem
Unbedeutenden befte Empfehlungen mitgibt. Wer baun
an fold) mittelmäßigen und geringen Leiftungen Mängel
entbedt, der gilt ala Feind ber guten Richtung, wird
Schrjftftellertfum und literariſche feitif. 401
in feiner Gefinnung verdächtigt und entweder waffenlos
gemacht oder von bem offenen Bekenntniß der Wahrheit
abgefhredt. Daher kommt ein falſcher Ton in unfer
Schriftweſen.
Wäre dieſer Ton blos durch bie begreifliche Vor⸗
liebe für die Vertreter einer guten Sache biftitt, ober
mürde er mur die größere Schonung und einen Fort
ſchritt zur Humanität bedeuten, fo hätten wir an ihm
nichts auszufegen; e8 könnte die Anerkennung be8 von
unfern Freunden Geleifteten eine gerechte Genugthuung
werden für bie Mißachtung, womit ihnen aud um
ihrer Gefinnung willen von anderer Seite begegnet wird.
Aber in Wirklichkeit ift bie Parteiprefie der verſchiedenen
Richtungen bei Zuftänden angelangt, meldje man gerade-
zu als unheilvoll bezeichnen muß. Um ber Gefinnung
willen begünftigt man bie Mittelmäffigkeit, befördert
das Maulheldenthum und bie Hypokriſie, fet burd)
das Lob des Schlechten den Werth des Guten herab,
täufcht bie Leſer, corrumpirt bie Schriftfteller jelbft, denen
man einen falfchen ‚Begriff von ihren Leiftungen θείς
bringt, und drüdt das Niveau unferer Preſſe herab, teil
es eitel ift nad) bem Höchften zu ftreben, wo der Mittel:
mäßigfeit Kränze dargereicht werben, und weil ba3 wahre
Verdienft fih nicht mit ber aufbringlihen Anmaflung
in den Wettlauf einlafjen mag.
So ift bie Lage verſchieden, in welcher ber Kritiker
fib befindet; fo verfchiedener Art ift feine Verantwort⸗
lichkeit, fo verſchieden find feine Bmede, und mad) bem
Bede müffen fij die Mittel richten. Wo bie Arzneien
nicht helfen, jagten die Alten, da muß das Eifen helfen;
und wo das Cijen nicht hilft, da muß das Feuer daran.
402 Sinfenmann,
Wo bie gelinden Mittel und Formen der ſchriftſtelleriſchen
Auseinanderfegung nicht wirken, ba muß man zu if.
figerem greifen. Dem Humor fónnen wir wieder mit
Humor begegnen, auſpruchsloſer Treuherzigfeit mit freund:
licher Belehrung; die geipreizte Eitelfeit reizt zum Lädeln
ber Sronie, gegen freche Simmafung muß man auf
bie Geifel der Satyre ſchwingen fóunen; was aber foll
man tun gegenüber von mattherziger Mittelmäßigfeit,
bie ben Fräftigeren Geift antibert mie laues Waſſer? —
€3 handelt fid), jo Hein aud) die einzelne Perfon
und ihre Leiftung innerhalb des Weltganzen erſcheinen
mag, bod) um die höchſten Güter der Menfchheit. Je
höher die Anſprüche ber Preſſe fteigen, um fo ernfter
werden audj bie Pflichten. Die Kritik Dat einen hohen
Beruf, und wenn fie ihrer Aufgabe nicht immer gereht
wird, fo verdient fie ebenjo wohl mie jedes andere
ideale Streben die Cntjdjulbigung: In magnis voluisse
sat est. Die feriti muß fid) aud) ihrer Grenzen bewußt
werden; unb an bem Grenzgebiete liegen zwei Dinge,
deren bier mod) zum Schluffe gedacht werden muß, das
Urtheil über den fittlichen Charakter eines Schriftftellers
und das Urtheil über den reinen und unverfälichten
Glauben, bie Gittenridterei unb bad feger
gericht.
Schon dieſe Worte haben etwas gemüthlich ſo
Wehethuendes in fid), daß wir uns gerne auf das Wort
des Apoſtels zurüd ziehen möchten: „Wer bift bu, der
bu einen fremden Knecht richteſt? Seinem Herrn ſteht
er ober fällt er" (9tóm. 14, 4). Die Sittenlehre bei
Evangeliums warnt einbringlid) genug davor, über bad
Innere des Nebenmenfchen zu richten, und Jeder barf
Schriftſtellerthum und literariſche fritil. 403
einen gewiſſen Anfprud) darauf machen, daß man feine
geiftig-fittlihe Integrität unangetaftet laſſe.
Deſſen ungeachtet darf e8 die Kritik nicht ganz ab-
lehnen, literariſche Erſcheinungen mad) ihrer Stellung
gut Religion, zur Glaubens: und Sitteulehre
der Kirche zu prüfen, felbft auf die Gefahr bin, daß
man bie verwundbarften Seiten be8 Verfaſſers antafte.
Wer zu uns fommt mit bem Anfprude, einen neuen
Glauben zu. verkünden, unfere Religion zu verbefjern,
bie firdjide SDoftrim auf neue Grundlagen zu ftellen,
oder wer an ben Grundpfeilern ber kirchlichen, ſtaatlichen
und gefellidjaftliden Ordnung rüttelt, der Tann fid in
bemjelben Momente, mo er Andere des Irrthums zeibt,
midjt darüber beklagen, wenn man ihn um feine Legi:
timation befragt, den Maßftab der kirchlichen Principien
anlegt und auf Grund berjelben ihn als falſchen Bros
pheten gurüdtoeit. Es muß zwar Spaltungen geben,
fagt ber Apoftel; aber daraus folgt nicht, daß man ung
on ba$ Kleinod unferer religiöfen Dogmen und Ueber:
zeugungen beliebig taften, daß man ben Irrthum für
gleichberechtigt mit der Wahrheit darftellen dürfe oder
daß man fid) die Verbreitung verberblidjer Lehren ges
fallen laſſen müſſe. Es muß geftattet fein, die Gefahr
rechtzeitig zu fignalifiren, wie e8 geftattet fein muß, bem
Sriebbreder das Gaſtrecht zu verweigern Nur mer
den Werth des religiöfen Glaubens und der reinen Sitte
nicht fennt, fann ben Gedanken mißverftehen, ber bem
Glaubensgericht zu Grunde Liegt.
Bei diefem Gerichte, wir überjehen dieß nicht, kaun
bie literarifche Kritik felbft nur eine untergeordnete Rolle
fpielen; der Recenfent famn hier nicht der Richter felbft
404 Linfenmann,
fein; aber für ganz entbehrlich Können wir die Funktion
ber fitit auf diefem Gebiete bod) aud) nicht erklären;
die Funktion ift wenigſtens eine vorbereitenbe, fignalifi-
vende, oft aud) verhindernde; fie kann aud zur Ber
fändigung führen und als Schiedsgericht weitere Prozeſſe
abſchneiden. Es ift felbftverftändlich, baf mir bie Ehre
und den Charakter eines Schriftftellers nicht bem nádjften
beften Literaten ohne Beruf oder Legimation preisgeben;
wer über Orthoborie unb correcte Richtung urtheilen
Toll, der muß fid) zuvor darüber ausweifen, ob er felbft
verftehe was Stedjtgláubigfeit und kirchlicher Charakter
bebeute.
Aber felbft wo biefe Vorausfeßungen zutreffen, möge
bod) bie Kritik fid) ftet8 defjen bewußt bleiben, von wie
befonderer Art die Sitten- und Keßerrichterei unter allen
Umftänden ift. Im Mittelalter jagte man: drei Dinge
find, bie feinen Schimpf leiden, ber Glaube, das Auge
und die Zungfraufhaft! Daran fol man nicht ohne
Stotb, aus blofer Streitluft taften! Hier darf nicht mit
bloßen Verdächtigungen, Anfpielungen, vom verborgenen
Winkel aus, vorgegangen werden, fondern man muß
Beweiſe bringen und ehrlich dafür einftehen; im folder
zarter Angelegenheit gilt nicht vorlautes Abſprechen
ohne gründliche Prüfung, eine Anfeindung blos um bet
Schule willen, welder ein Schriftfteller angehört, oder
blos um des Stufe willen, der ihm vorausgeht und
ben ihm eine übelwollende Kritik vorausgeſchickt. Jeder
ernſte theologiſche Schriftfteller weiß, wie ſchwer es ift,
fid) in den tieferen Beziehungen der religiöfen Wahrheiten
vor jedem Irrthum und jeder Illuſion zu bewahren,
und wie ſehr wir von Tag zu Tag mod) zu lernen haben,
Sehriftſiellerthum amb literariſche Kritik, 405
wie wenig toit und alfo aud) auf unfer eigenes Urtheil
in den ſchwierigſten Streitfragen verlaffen fónnen. Ebenſo
weiß jeber, ber nicht ganz ohne eigene Erfahrung ift,
wie leicht man fid) über Worte entzweien, oder aber
bei einigem guten Willen aud) verftändigen fan, und
wie ſchwer e3 einem Schriftfteller ift, feine Darftellung
gegen jedes Mißverftändnig und jede SRiBbeutung fidet
zu fielen. Wie oft hat man nicht eine Meinung ver
fegert, blos weil fie neu war, ohne zu unterjuden,
ob fie nicht gerade zur befleren Crfenntui ber Wahr-
heit und zur Förderung der Religion biente!
Wenn toit trogdem ber Kritif aud) in diefer Richtung
einen Beruf zufchreiben, [o ift e8 bod) fein erfreuliches
und beneibenswerthes Amt. Die Morgenländer haben
bie Sage, baB Lucifer dem Engel, der ihn in den Ab-
geund ftieß, einen fo entjeglihen Blick zugeworfen, daß
der Engel ihn nimmer vergefien und nimmer tedjt froh
werben Tonnte. Dieß kann man nun freilih vom chriſt⸗
li$en Standpunkte aus anders auffaflen. Der Sieg
Gottes über den Widerſacher, des Glaubens über ben
Unglauben ift groß unb ruhmvoll, und bie Berufenen,
melde ihn haben erfireiten helfen, haben ein gutes
Berk vollbracht; aber — es ift ficherer, wenn Engel e8
ijum, al8 Menſchen. Menſchliches Richten muß uns
immer etwas bange machen, oft nicht fo jer um ben
Gerichteten, jondern um den Richter felbft.
Wir find zu Ende. Wir wollten Rechte und Pflichten
des fchriftftelleriichen Berufes abwägen und bejonber8
ber Titerarifchen Kritik ihre Bedeutung für Wiſſenſchaft
und geiftiges Leben der Menfchheit fihern. Den Schrift:
ftellern, bie fid) über bie Mißgriffe der Kritif beflagen,
Sel Quarialſchtift. 1888. Heft III. 27
406 Linſenmann, Sqhriftſtellerthum u. literariſche Kritil.
ſagen wir: Wer von euch ohne Sünde ift, werfe den
erften Stein auf fie!
Allen aber, bie ihres hoben Berufes warten, für
die Wahrheit fümpfen unb ijr Licht Leuchten lofjtm,
Lehrer und Meifter genannt werden und nad) Ruhmes-⸗
kraͤnzen ringen; Allen cud), welche der Eifer für bit
gute €ade verzehrt, muß immer und immer wieder
gefagt werden ober fie müſſen e8 fid) felbft fagen:
„Wenn id in den Zungen ber SRenidjem rede und ber
Engel, habe aber bie Liebe nicht, fo bin id) ein tönenbes
Erz und eine flingenbe Schelle geworben. tmb mem
id) bie Gabe ber Weiſſagung habe und kenne alle c
heimniffe und jegliche Wiſſenſchaft; und menm ich allen
Glauben Habe, fo daß ἰῷ Berge verfege, habe aber die
Liebe nicht, fo bim id) nichts“ (I. Kor. 18, 1. 2).
2.
Sur Galileifrage
Bon Prof. Dr. Funt.
As f. von Gebler fein Wert: Galileo Galilei und
bie römifche Curie 1876, veröffentlichte, flagte ev in
ber Vorrede, daß, während Italiener und Franzofen
eine äußerft teidje Literatur über ©., feine vielum-
fitittenen Schickſale und epodjemadyenben Errungenfhaften
aufzuweifen haben, im Deutſchland über diefen Heros
ber Wiſſenſchaft verfhwindend wenig geſchrieben worden
fd. Inzwiſchen ift es etwas anber8 geworben. Kommt
unfere Galilei - Literatur der jener Nationen aud) mod)
wicht gleih, fo ftebt fie Hinter ihr bod) nit mehr fo
gar weit gurüd. Weber ben Procek des großen Ge.
lehrten wurde in ben legten Jahren in Deutſchland nicht
υἱεῖ weniger verhandelt als anderwärts. Auf die Schrift
Gebler's folgte, von kleineren Arbeiten abgefehen, 1879
bie eingehende Unterfuhung von Reuſch (Der Proceß
Galilei's und die Jefuiten). Jüngſt (1882) erjdienen
die Galileiftublen von Grifar. Die hervorragende Publi-
cation gibt ung Anlaß, über den Stand ber Angelegen-
heit in diefer Zeitſchrift kurz zu berichten. Zuvor mögen
27*
408 gunt,
aber mod) bie übrigen michtigeren Publicationen aus
der neueren Zeit aufgeführt werben.
Den Anfang mit Veröffentlihung ber Acten bes
SBrocefje8 G.'s machte 1860 der Präfect des vaticaniſchen
Archives Marino Marini?), aber aud) nur den Anfang,
da bie Documente nicht ganz und vollftändig mitgeteilt
wurden. Die Acten befanden fid damals [εἰς 1846
toieber in Rom, nachdem fie ungefähr 35 Jahre in Paris
gelegen, wohin fie unter Napoleon I., wubefamnt iu
weldem Jahre, gefommen waren. Gebler (&. 387)
bemerkt, fie feiem von der franzöſiſchen Regierung dem
päpftlihen Ctuble mur unter ber Bedingung gurüdge-
geben worden, daß fie vollinhaltlich veröffentlicht würden ?).
Er ftüßte fid) wohl auf den Bericht Biot's im Journal
des Savants (1858 p. 397), in bem übrigens das „voll
inhaltlich" nicht fteht, und diefer ftammt wahrſcheinlich
aus zuverläffigen Quellen, wenn biefelbem aud nicht
angegeben find. Der Zweifel, den Grijar €. 2 Anm. 1
bezüglich des römischen Verſprechens äußerte, wurde deß⸗
halb €. 369 mit Recht etwas gemildert. Wenn bei-
gefügt wird, daß bie franzöfiihe Regierung zweifellos
tein 9tedjt "hatte, bei ber Uebergabe Bedingungen zu
ftellen, da e8 fid mut um pflihtmäßige Stüderftattung
des Eigenthums Danbelte, jo ift dad ganz richtig. Nur
ift diefer Punkt für die Pflicht der römiſchen Gurie, ein
SBerfpredyen zu erfüllen, menm e8 gegeben ift, von
feiner größeren SBebeutung.
Wie es fid mit der fraglichen Verpflichtung ver-
1) Galileo e l'inquisizione. Memorie storico-critiche.
2) Ex wiederholt bie Behauptung in bem zweiten Banbe feines
Werles: bie Arten des Galilei den Procefied (1877) €. XXXV.
Zur Galileifrage. 409
halten mag: bie Publication entiprad nidjt ben Erwar:
tungen ber gelehrten Welt. Der Franzofe Henri be
T'€pinoi8 bemühte fid) daher, fenntniB von bem Manu—
feript zu erhalten, und bie erbetene Erlaubniß wurde
ihm gewährt, nachdem das Gejud) des Italiener? Albert
und be8 deutſchen Mathematifer3 Cantor einige Zeit
vorher abſchlägig beſchieden worden war. Indeſſen ko—
pitte er nur die wichtigſten Documente ganz; von den
übrigen gab er nur Auszüge, und fo war auch mit feiner
Publication *) ber Wiſſenſchaft nicht genügend gebient.
Aehnlich verhält es fid) mit ber Arbeit des Italieners
Berti ?), der die Erlaubniß zur Einfihtnahme des Manu=
feriptes etwas fpäter erhielt. Die Acten werben, obwohl
man nad bem Titel das Gegentheil erwarten Tönnte,
wieder nicht ganz mitgetheilt, und bie Veröffentlichung
läßt auch bezüglich der Sorgfalt und Treue mandes
wünſchen.
Indeſſen ſollte der vollſtändige Text der Acten nicht
mehr lange vorenthalten bleiben. Er erſchien 1877 in
doppelter Ausgabe, in Paris und in Stuttgart, indem
ihn bie beiden Galilei-Forſcher Epinois und Gebler un-
mittelbar mad) einander abſchrieben. Die Gebler'ſche
Publication *) als bie fpütere hatte ben Vorteil, bie
Arbeit von Cpinoi$ nod) benügen zu fünnem, und fie
übertrifft biefe burd) Sorgfalt und burd) engften An—
1) Galilée, son procds, sa condemnation d'apres des do-
cuments inédits. In ber Revue des questions historiques 1867
und aud feparat erjdjienen.
2) I1 processo originale di Galileo Galilei pubblicato per
la prima volta 1876.
8) Die Acten des Galilei'ſchen Proceſſes. Nach ber Saticani-
iden Handſchrift Herausgegeben. gl. €. 408 Anm. 2.
410 Sunt,
ſchluß an das Original bezüglich ber Schreibmeife. Die
Publication von Epinois ") aber hat baburd) einen be:
fonderen Werth, baf ihr elf photographifche Facfimiles
von bedeutfamen Stellen der Handſchrift beigegeben find.
Das vaticanijdje Manufeript umfaßt übrigens nicht
alle auf ben Proceß G.'s begüglidjem Documente, und
diefe Erſcheinung erflärt fid) daraus, daß bie Acten bet
römiſchen Inquifition in zwei Reihen von Bänden auf.
bewahrt wurden, von denen bie eine bie Decreta ent-
Hält, b. L bie SBrotofolle über bie Sigungen des HL Df-
ficum und bie darin gefaßten Beſchlüſſe, bie andere
bie Processus, b. i. bie Protofole über bie Verhöre
ber Angeklagten und bie Actenſtücke zu ben Procefien,
Briefe, Gutachten ber Gonjultoten, Vertheidigungsfchriften
ber Angeflagten u. dgl., und daß bet ftaglidje Band
aus ben ©. betreffenden Stüden von zwei Bänden ber
zweiten Glafje zuſammengeſetzt ift*), jo daß bie einſchlä⸗
gigen Decreta in ihm feine Aufnahme fanden. €3 fehlen
ingbefondere ba8 Urtheil ber Inquiſition v. 22. Juni
1633 und bie Abſchwörungsformel ©3. Indeſſen find
diefe beiden wichtigen Documente ſchon feit bem 17. Jahr⸗
Hundert befannt unb fie wurden wieberholt gebrudt.
Der italienische Driginaltert ftebt u. a. in ber Gefammt-
ausgabe ber Werke G.'s von Albert *), der lateiniſche
Tert bei Gebler ©. 422—498, beide Formen zumal
bei Grijor €. 131—137. Wenn abet die auf ©. be
1) Les pibces du procde de Galilée précedées d'un avant-
propos. Rome et Paris 1877.
2) Bol. Gebler, Galilei S. 894 f. Reuf ©. 4.
8) Le opere di Galileo Galilei. Prima edizione completa
condotta sugli autentici manoseritti Palatini Firenze 1849 — 56.
Mit dem Cupplementbanb 16 fBbe,
Zur Galifeifrage. 41
‚üglichen Decreta von ber vaticanischen Handſchrift aus⸗
geſchloſſen wurden, fo ift bod) eine Reihe berfelben duch
die Publication Gherardi's 1) befannt geworden. Das
Angeführte möge hier genügen. Bezüglich ber weiteren
fiteratur fei auf Grifar €. 1—10 und bie Berichte von
Schanz in ber Liter, Rundſchau 1878 Nro. 1 und 13
fowie im Liter. Hand. Nro. 252—254 pertoiejen.
(8 war bekanntlich bie Annahme und Bertheidigung
des foperuifanijden Weltſyſtems, mas bas Firchliche
Einſchreiten gegen ©. veranlaßte. Die bezügliche Lehre
war zwar [don feit bem Jahr 1543 befannt, in bem
das epochemachende Wert De revolutionibus orbium
coelestium des Frauenburger Domherrn erichienen war.
Cie war aber bisher unangefochten geblieben, obwohl
fie nad) der damals vorherrſchenden Anſchauung mit ber
Sete ber Schrift unvereinbar war, hauptſächlich weil die
bem Werte beigegebene SBotrebe von Andreas Dfiander
die Meinung verbreitet hatte, Kopernikus habe die Lehre
nicht als feine pofitive llebergeugung, jondern mur ala
Fiction zur leichteren Berechnung beà Laufe ber Ge:
fine unb in biejem Sinne ala Hypotheſe vorgetragen.
Diele Auffaffung war jedenfalls bie vorherrſchende und
allgemeine, wenn aud) die Freunde des großen Aſtro⸗
Women, von bet Sache beffer unterrichtet, anders badjten?).
Cie war aber unrihtig, und e8 mußte daher zu Gon
flicten fommen, wenn fid) bie herausftellte oder andere
1) Il processo Galileo ridevuto sopra documenti di nuova
fonte. Bivista Europea 1870 und feparat er[dienen. Die tid
tigften Documente bat Gebler in fein Wert aufgenommen.
2) Bel. Grifar €. 16. 281—289. Der Thatbeftand wurde
zuerft richtig geftelt durch Bedmann, Bur Geſchichte des Top. Gig»
fem, in der Zeitſchrift für Geſchichte Ermlande 186864.
412 Sunt,
ber Lehre einen mehr als hypothetiſchen Werth quer
kannten. Diefe Wendung fuüpft fi am den Namen
9.8, burd) deſſen Cntbedungen dad neue Weltſyſtem
eine weitere Begründung erhielt.
Nachdem ©. ſchon frühzeitig privatim und in Briefen
für daffelbe fid) erflärt hatte, ſprach er fid) in bem
Sidereus Nuncius 1610 und noch entſchiedener in der
„Geſchichte und Erflärung ber Sonnenfleden“ (Istoria
e dimostrazioni intorno alle macchie solari) 1613
Öffentlich zu beffem Gunften aus. Sofort machte aber
ud) die alte Weltanſchauung ihre vermeintlichen Rechte
geltend. Nod 1618 fam man eines Tages an ber
großherzoglichen Tafel in Pifa auf bie Angelegenheit |
zu ſprechen. ©. fühlte fid) baburd) bewogen, ba mar
bie neue Lehre als ſchriftwidrig bezeichnet hatte, in
einem Briefe an feinen Schüler und Freund, ben ge:
lehrten Benebictiner Gaftelli, ihre Vereinbarkeit mit der
Schrift nachzuweiſen ?), unb 1615 führte er bie hier
entwickelten Grundfäge in einem Schreiben an bie Grof-
herzogin⸗ Mutter Chriftina nod) weiter aus. SSeranlaffung
zu bem zweiten Schreiben gab ber Angriff, ben der
Dominikaner Caccini im Advent 1614 in Santa Marie
Novella in Florenz auf bie neue Lehre machte, ald er
in ber Erflärung des Buches Joſua zu bem Morten
Tam: Sonne, ftehe fill gen Gabaon u. ſ. m. (10, 12—14).
Der Angriff auf ber Kanzel erregte begreiflicherweiſe
bedeutendes Auffehen. Indeſſen blieb e8 nicht bei ihm.
Der Dominikaner Lorini brachte bie Gadje 1615 vor
bas hl. Officium, indem er den Brief am Caftelli nad
1) Geblez, Acten S. 14—21.
Zur Galileifrage. 413
Rom einfandte, und bald mad) ihm trat aud) Gaccint
als Kläger vor jener Behörde auf!). So wurde in
Rom über bie Angelegenheit verhandelt. Die Verhand⸗
lungen blieben indeſſen vollftändig geheim, und wenn
©. nod im Dezember 1615 fij im die ewige Stabt
begab, fo that er den Schritt nicht in Folge einer Eis
lation, fondern aus freien Stüden, wenn andererſeits
freilich zugleich in ber Abfiht, den Bemühungen feiner
Gegner entgegenzutveten. Sein Aufenthalt dafelbft er-
firedte fid) bis Juni 1616, und in biejer Zeit widelte
fi fein erfier Proceß ab. Derfelbe nahm zwar
für bie fopernifani]de Theorie einen ungünftigen Ver:
lauf. Die elf Theologen des BL. Offiziums gaben am
23. Februar 1616 über bie zwei, wie es fcheint der
Soemunciation Caccini's entnommenen, Säge: 1) bie
Sonne ift ber Mittelpunkt der Welt unb durchaus uns
beweglich; 2) bie Erbe ift nit der Mittelpunkt bet
Welt und nicht unbeweglich, fondern fie bewegt fid)
tüglid) um fid) ſelbſt, das Gutachten ab: bie etfte Pro-
pofition fei philoſopiſch betrachtet thöricht und abſurd und
formell häretiſch, da fie der HI. Schrift nad) bem Wort:
laut und der gemeinen Auslegung und Deutung der Väter
und Theologen an vielen Stellen ausdrücklich widerſpreche;
bie zweite erhalte in ber Philoſophie biefelbe Genjur;
theologiſch betrachtet fei fie menigftens im Glauben
itrig ?). Das Gutachten wurde fofort am andern Tage
ben verfammelten Gardinälen ber Inquifitionscongregation
vorgelegt. Am 25. Februar enblid) wurde eine Gigung
der Garbinále der Inguifition in Gegenwart bes Bapftes
1) Gebler, Arten €. 25—81.
2) Gebler, Arten ©. 47 f.
414 gunt, -
abgehalten und einerſeits das Urtheil über die bie koperni⸗
kaniſche Lehre vertretenden Schriften der Indezcongregation
übergeben, anderfeit3 über ben Angeklagten Beſchluß gefaßt.
Das Inderdecret ?) erſchien am 5. März, und das Werk
des Kopernikus und ber Gommentat bes Auguftiners
Diego bi Stunica zum Bude Job wurden fujpenbirt,
donec corrigantur ; bet Brief des Karmeliterd Fosca⸗
tini sopra l'opinione de Pittagoriei etc. (1615) wurde
wegen ber ganz entjdjiebemen Parteinahme für das fo:
pernikaniſche Syſtem fammt allen anderen Büchern, melde
in gleicher Weife daſſelbe Iehrten, völlig verboten. Aber
für bie Perſon G.'s lief die Angelegenheit ungefährlich
ab. Man wollte gegen fie bie möglichfte Milde walten
laffen. Nur mußte ©. felbfiverftändli bie cenjurirte
Lehre aufgeben. Der Cardinal Bellarmin erhielt mit
bem Commifjär der Inquiſition in ber Gigung vom
25. Februar den Auftrag, ihn zur Annahme dieſes Ber
ihluffes zu vermögen. Die Ausführung erfolgte am
26. Februar ?). Weiter aber wurde &. wicht bebelligt.
Als fih in Venedig das Gerücht verbreitete, er jei mit
Gewalt nad) Rom geſchleppt und wegen feiner für irrig
und Düretijd erklärten Anſichten ſtrengſtens verwarnt
und mit ver|djiebenen Bußen bedacht worden, ſtellte ihm
ber Garbinal Bellarmin am 26. Mai auf feine Bitte
ein eigenhändiges Zeugniß aus, in bem jene Ausſagen
für nichtig erflärt und das gegen ihn beobachtete Ber:
fahren richtig geftellt ift.
Im Vorftehenden ift der Verlauf be8 erften Pro-
ceſſes mit kurzen Strichen gezeichnet. Dabei blieben bie
1) Gebiet, Acten &, 50. Grijar ©. 180.
2) Geblez, Arten S. 48 f. Griſat S. 129.
Zur Θαπιείταρε, 415
Controverſen unberüdfichtigt, bie berjelbe veranlafte.
Run follen aud) nod) biefe berührt werden. Sie fuüpfen
fid alle an ba8 G. ertheilte Specialverbot, bie koperni⸗
laniſche Lehre beizubehalten.
Wohlwill *) und Gherardi ?) haben gleichzeitig bie
Anfiht ausgeſprochen, der jenes Verbot betreffende Bes
tit vom 26. Februar fei eine Falſchung v. 3. 1633,
geſchmiedet in ber Abfiht, ein Fundament zur Verur⸗
teilung G.'s im zweiten Proceß zu gewinnen, und bie
Anſchauung fand mehrfachen Beifal. Insbeſondere hul⸗
digte ihr früher auch Gebler. Als er aber die Acten
mit eigenen Augen unterſuchen und prüfen konnte, ſtellte
ſie ſich ihm als durchaus grundlos dar, und er nahm
feinen Anftand, fie zu widerrufen ?). Ebenſo ſprachen
fid) bie übrigen Forfcher, melde von den Acten Einfiht
zu nehmen in ber Lage waren, wie Berti und Epinois,
für bie Integrität derfelben aus, und jo Tann über biefe
Frage fein vernünftiger Zweifel mehr beftehen. Scar-
tazzini 4) verkündigte zwar ben Stalienern, daß iu
Deutſchland mur mod) fiterarijde Charlatans anderer
Anfiht feien. Aber bie Gadje [dint fid) eher umge:
kehrt zu verhalten. Die ernfteren Gelehrten, aud Reufch,
nahmen bie Aechtheit des fraglichen Documentes an,
und nur Leute, welche in hiftorifchen Unterſuchungen nod)
unerfabren find, beharren bei der angeblichen Fälſchung.
Wenn Gebler inbeffen bie Aufzeihnung vom 26. Febr.
als ächt anerkannte, jo glaubte er bod) nod) die Richtig:
1) Der Inquifitiondproceß beb Galileo Galilei 1870.
2) Bol. Gebler, Galilei ©. 101 ff.
8) Acten ©. XX—XXIIL.
4) Bivista Europea 1878, Vol. VIII, p. 790.
416 Sunt,
Teit ihres Inhaltes und ihre juriſtiſche Brauchbarkeit
im zweiten Proceß bezweifeln zu follen. Er fand fie
in Widerfprud mit den fpäteren Ausſagen G.'s, ba
fie duch den Commifjär ein abfolutes Stillſchweigen
anbefehlen Yafje, während ©. nur von ber Verwar⸗
nung Belarmin’3 wifle, die cenfurirte Lehre al8 wahr
feftzubalten, und er vermißte bie erforderlichen Unter:
ſchriften, weßhalb er ihr alle Beweiskraft für den fpäteren
Proceß abjpradj?). Allein jener Widerſpruch ift in Wahr-
heit nicht vorhanden. Das in bem Paſſus nec eam
(opinionem) de cetero quovis modo teneat doceat aut
defendat, verbo aut seriptis in Betracht fommenbe
quovis modo ift nicht im Sinne eines abjoluten Still:
ſchweigens zu faflen. Es erhält vielmehr feine nähere
Beftimmung dur das nachfolgende verbo aut scriptis,
und ber Sinn ift demgemäß, ©. dürfe bie verbotene
Anſicht auf Feine Weife, weder ſchriftlich nod) mündlich,
fefthalten ober vortragen, nicht aber, er dürfe gar nicht,
auch nicht in ber allgemein zugelaflenen hypothetiſchen
Weiſe, von ihr handeln. Gbenjomenig fteht bie Auf:
zeichnung mit ber vom vorausgehenden Tag (25. Febr.)
in Widerfpruh, ba bie Ueberfegung der Worte succes-
sive et incontinenti mit „glei darauf ohne Unter:
brechung“ und bie darauf geftügte Annahme, man habe
aljo am 26. Febr. ©. Feine Zeit gelaffen, um fid) auf
bie Vorftelungen Bellarmin's zu äußern?), völlig uns
richtig ift. Der Ausdrud incontinenti bedeutet nad) den
Nachweiſen Griſar's (S. 50 f.) nidt8 anderes als das
beutjde „Im Anſchluß hieran“, und zwiſchen den in
1) Acten €. XXIV—XXXII,
2) Gebler, Galilei &. 98.
Zur Galileifenge. 417
Betraht fommernben Vorgängen Tann fogar ein längerer
Zeitraum in der Mitte liegen. Auf der anderen Seite
ift aber aud) bie umgekehrte Anſicht nicht ſtichhaltig, bie
pãpſtliche Anordnung vom 2D. Febr. fei ftrenger als
ihre Ausführung vom 26. Febr., fofern G. im Falle
der Fruchtlofigkeit feiner Ermahnung burdj den Garbinal
Bellarmin burd) ben Commiſſär zu gümjidem Etill-
ſchweigen über bie fopernitanijdje Lehre verpflichtet werben
folte, während ihm eine [o weit gehende Verpflichtung
nachher doch nicht aufgelegt worden [εἰ ἢ. Die Worte
seu de ea tractare find feineswegs in jenem Sinne
zu deuten. Cie find vielmehr, wie Grifar richtig fiebt
(δ. 54), nichts anderes als eine pleonaſtiſche Wiederholung
be8 bereit3 mit den vorausgehenden Worten docere aut
defendere au8gebrüdtem Gedankens.
Die Bedenken gegen bie juriſtiſche Giltigleit der
Aufzeihnung vom 26. Febr. heben fid), fobald man
deren Charakter richtig erkennt. Die Aufzeichnung ift
nicht, wie Gebler meint, eine Annotation, ſondern eine
Regiftratur und als fole amtlihen Charakters. Die
vermißten Unterfäriften von G., Notar und Zeugen
braudte fie gar nicht. Es genügte zu ihrer Giltigfeit
mad) bem Tanonishen Recht, wenn fie vom Notar als
Öffentlicher Perfon aufgefegt und wenn bie Vorgänge
treu und vollftánbig angegeben waren. Demgemäß tragen
auch die Regiftraturen vom 30. April unb 2. Juli 1633
Teine Unterſchriften. Da dem jo ift, fo erweifen fid) bie
auf bie fraglide Aufzeichnung geftügten Zweifel gegen
die „Eorrectheit“ des zweiten Proceſſes und gegen bie
1) Stimmen au$ Maria-Laach 1878. I, 896 f.
418 gunt,
Rechtlichkeit“ der gefällten Sentenz ebenfo als grund:
108 wie bie Rebe von „einer finfteren Machination“ ber
Feinde 0.8, bie bei ber Stegiftatur wirffam geweſen
fein fol ἢ. Die Beweisführung Griſar's ift bier fo
überzeugend, daß jene Bedenken durchaus verflummen
müffen. Auch Stujd hat ihre Kraft anerfannt. Bir
gehen auf bie Sache nicht weiter ein. Beizufügen ift
nur nod, daß aud) bie Vorausfegung be8 Zweifels
völlig grunblo8 ift. Gebler meinte nämlich, ba8 Special
verbot in ber bekannten firengen Auffafjung [εἰ zur
Syufiruirung be8 zweiten Proceſſes nothwendig gemefen.
Die Anſchauung ift aber nicht haltbar. Der zweite
Proceß war möglich ohne jenes Verbot, und thatſächlich
fpielt diefes ja aud) Feine entſcheidende Rolle in ifm.
Was mun ben zweiten Proceß felbft anlangt,
fo wurde er burd) den Dialog über bie beiden Welt:
fofteme veranlaßt. ©. trug fi mit dem Plane bieje
Werkes ſchon feit langer Zeit. Zur Ausführung fdritt
er, wie aus bem Verhör vom 12. April 1633 hervor⸗
gebt, um 1622 und arbeitete am bemjelbem, freilich
mit Unterbrechungen, fieben bis acht Jahre. Nach einem
Briefe an den Fürften Gefi v. 24. Dec. 1629 war bad
Werk zu biefer Seit fo ziemlich feiner Vollendung nahe.
Erſchienen ift e8 1632 unter bem Titel Dialogo di
Galileo Galilei Lineeo Matematico Sopraordinario
dello Studio di Pisa e Filosofo e Matematico Primario
del Serenissimo Granduca di Toscana: dove nei con-
gressi di quattro giornate si discorre sopra i due
Massimi Sistemi del Mondo, Tolemaico e Copernicano,
1) Gebler, Arten €. XXX—XXXIL
Zur Galileifrage. 419
proponendo indeterminatamente le ragioni filosofiche
e naturali tento per l'una quanto per l'alira parte.
Es ift in vier Dialoge ober Tage eingetheilt, und bie
Gollocutoren heißen Sagredo, Salviati und Simplicio.
Die beiden erften, zwei damals bereits geftorbene Freunde
6.3, ber eine ein vornehmer Venetianer, der andere
ein gelehrter Florentiner, vertreten das kopernikaniſche
Spftem; ber dritte, der den Namen des Gommentatorà
des Ariftoteles führt, tritt für bie ptolemüijdje Welt:
auffaffung ein.
Der Publication gingen längere und ſchwierige
Verhandlungen voran ?). Es wurde zuerft gerathen, dag
Buch in Frankreih, Deutſchland, Venedig oder Genua
druden zu laſſen. ©. lehnte bie Vorſchläge ab. Er
wollte bie römische Approbation erlangen und begab fid)
zu biejem Behufe im Mai 1630 in bie ewige Stabt,
nachdem er zuvor burd) Gaflelli über bie Stimmung
dafelbft Erkundigungen eingezogen hatte. Der Papft
und verſchiedene Cardinäle nahmen ihn freundlich auf.
Auch die Verhandlungen über ba8 Imprimatur Tießen
fid anfangs gut am. Der püpfilide Palaftmeifter Ric-
carbi war ihm fehr gewogen. Nur follten einige Revi-
fionen vorgenommen werben. Gleichwohl erfolgte der
Stud nicht in Rom. — Gaftellt rieth am 24. Auguft, das
Wert in Florenz unter bie Preſſe zu bringen, ohne
Zweifel, weil er allmählig gefunden hatte, daß bet
Druck bei ber Richtung des Dialoges in Rom nicht zu
Stande kommen würde, und ©. ging auf ben Antrag
ein. Dos Werk mar [omit burd) bie dortige Behörde
1) Bel. darüber Reuſch ©. 192—218.
420 gunt,
zu prüfen und erhielt bie Approbation des Inquiſitors
und Generaloifor8 von Florenz. Bor diefelbe ſetzte ©.
auf ber Rüdfeite des Titelblattes ba8 Imprimatur bed
päpftlichen Palaſtmeiſters. Dieſer Schritt ift nicht zu
tedjtfertigen. Dagegen war bas Imprimatur von Florenz
tedjt8giltig.
Der Dialog blieb trogbem nicht unbehelligt, und
fo wie bie Dinge ftanden, fonnte er nicht ohne Anfeh-
tung bleiben. Der Rahmen, innerhalb deſſen die koper⸗
mifanijde Anficht erörtert werden durfte, war offenbar
überfhritten. G. ſprach von berjefben nicht bloß Dopo:
thetiſch, ſondern trat offenbar als ihr Anwalt auf. Das
Werk wurde daher einer Prüfung unterzogen, und bie
zu biejem Behufe eingefegte Specialcongregation fam
zu bem Ergebniß, bie ade [εἰ bem HI. Dfficium zu
übergeben. Diejes beſchloß bie Vorladung des Ber:
faffers, und nad) verſchiedenen vergeblihen Bemühungen,
die Erlaubniß zur ſchriftlichen Verantwortung zu et
falten, leiftete ©. ber Citation enblid) Folge. Am
20. Jan. 1633 tei8te er von Florenz ab. Am 18. Febr.
longte er in Rom an.
Seine Behandlung war hier, von dem Proceß [εἴ
abgejehen, eine ungewöhnlich milde. Er durfte feine
Wohnung ftatt in bem Inquiſitionsgebäude in bem tod:
kaniſchen Geſandtſchaftspalaſt nehmen, und als er enbli
auf einige Wochen (nämlih vom erften Verhör am
12. April bis zum zweiten am 30. April und vom
21—24. Juni) fid) in jenes verfügen mußte, wurde ihm
nicht etwa ein Kerker, fondern ein. Theil der Wohnung
des Fiskals ber Inquifition, beftehend aus drei Zimmern,
zum Aufenthalt angetoiefen.
Zur Galileifrage. 421
Das Berhör begann erft zwei Monate mad feiner
Ankunft, am 12, April’). Bis dahin war bie Inquis
ftion mit ber Inftruction des Proceſſes beſchäftigt.
Die Fragen, bie am ifm gerichtet wurden, betrafen
namentlich ba8 Specialverbot Ὁ. 3. 1616 und den Dia-
log. ©. behauptete bezüglich be8 legteren, vom koper⸗
ullanifchen Spftem nicht anders als hypothetiſch gehandelt,
εὖ nicht nur nicht für wahr angenommen, fondern fogar
feine ungenügende Begründung aufgezeigt zu haben.
Die Ausfage war fiherlih unmahr, und e8 toutben
darum vor allem drei Theologen zur Abfaflung von
Gutachten über die Richtung des Dialoges aufgefordert.
Sie ſprachen fi alle dahin aus, daß ©. bie fopetni-
laniſche Anfiht in dem Werke vertrete?), Die Cade
, wurde in einer gewöhnlichen Inquifitionsfigung am
am 27. April vorgetragen. In berjelben wurde zugleich
der Commiſſär ermächtigt, im außergerichtliher Weile
mit G. zu verhandeln, um ihn zum Geftändniß bezüglich)
der Haltung des Dialoges aufzufordern. Man that
biefen Schritt, weil er eher zum Ziele zu führen ſchien,
während bei Einhaltung be$ gewöhnlichen Weges zu
fürdtem war, man möchte ohne Anwendung größerer
Strenge, bie man bod vermeiden wollte, nicht babin
gelangen. Die Hoffnung tourbe nicht getäuſcht. Als
ber Gommifür am anderen Tage fid) zu ©. begab,
ging diefer auf die Vorftellungen eim. Wir erfahren
von biejem Schritt burd) einen Brief des Commiſſärs
an den Cardinal Barberini vom 28. April 1633, bet
duch Pieraliſi, den Bibliothelar ber Barberiniana, auf-
1) Die Acten des erften Verhöres bei Gebler S. 74—82.
2) Gebler, Acten ©. 92—111.
Veel. Ouartalfiheift. 1889. Heft ΠῚ. 28
422 Sunt,
gefunden unb publicitt wurde in bem Werke Urbano VIII
e Galileo Galilei, Memoire storiche 1875 (p. 197).
Syn Folge jener außergerichtlichen Verhandlung ge:
ftaltete fid) das zweite Verhör am 30. April?) fer
einfad. Die Inquifition ließ den Beklagten nicht vot
führen. ©. verlangte vielmehr felbft, vor ben Commiſſär
geführt zu werben, und gab jet bie Erflärung ab: er
babe bei nodmaligem Lefen feines Dialoges biefem an
mehreren Stellen fo abgefaßt gefunden, daß ber gejer,
ber feine innere Oefinnung nicht fenme, zu der Meinung
veranlaßt werben fünnte, bie für bie falſche Anficht vor:
gebraten Argumente feien eher beweiskräftig als leicht
zu widerlegen; er babe alfo gefehlt; ber Fehler ent:
ſpreche aber nicht feiner Gefinnung, jouberm er fei eine
Folge feines Ehrgeizes, ber Unwiſſenheit unb Unacht⸗
famfeit. Nachdem er bieje8 deponirt hatte und bereits
entlaffen worden war, ferte er mod) einmal zurüd, um
zu bemerken, daß er bereit fei, zur Bekräftigung feiner
Verficherung über bie verurtheilte Lehre zu feinen Dia-
logen einen ober zwei hinzuzufügen und bie für bie
falſche Anſicht vorgebrachten Gründe zu widerlegen.
Nach diefem Geftändniß durfte ©. in den Gejanbt-
ſchaftspalaſt zurüdtehren. Der Proceß war aber mod
nicht zu Ende. Am 10. Mai folgte ein drittes Berhör ?),
und G. erhielt bie Exrlaubniß, eine Vertheidigungsihrift
einzureihen. WI Termin wurde ihm eine Frift von
adt Tagen anberaumt. Er konnte inbefjen, ohne Zweifel,
weil er ſchon zuvor über das Verfahren verftändigt
worden war, bie Schrift fofort übergeben. Diejelbe
1) Gebler, Arten S. 82—85.
2) Gebler, Wcten €. 86—91.
Zur Galtleifrage. 423
enthält eine Rechtfertigung feines Verhaltens bei Ver⸗
öffentlihung be8 Dialoge und die Bitte um Berüd-
fibtigung feines Törperlihen Leidens, feiner geiftigen
Bebrängniß, feines hohen Alters von 70 Jahren jomie
feiner Ehre und Reputation gegenüber ben Berleum-
dungen feiner Gegner.
Fünf Wochen [püter, am 16. Juni, berieth bie
Inquiſition über das weiter zu beobachtende Verfahren.
In ber Smifchenzeit aber war ber ganze Proceß, von
ber Denunciation Lorin’3 au, noch einmal tepibirt
worden, und biejer Revifion verdanken wir ohne Zweifel
die Weberficht ber Acten an ber Spige ber Actenfamm-
bung ἢ) forie die Zufammenftellung der Acten der beiden
Proceſſe in einen Band. Der Beſchluß jener Gigung
lautet: ©. [εἰ noch über feine Intention zu verhören,
uch unter Androhung ber Folter; und menm er bei
feiner früheren Verfiherung beharre (et si sustinuerit),
babe er fij-butd) bie Abſchwörung in einer Plenar-
verfammlung des HI. Dfficiums von dem ftarten gegen
ihn vorliegenden Verdachte zu reinigen und [εἰ zur Ges
füngniffirafe und zu volftändigem Stillſchweigen über
bie fraglide Lehre zu verurtheilen; ber Dialog fei zu
verbieten und das Urtheil allen Stuntien und Inquifitoren
zur Kenntniß zu bringen ?). Die Ausführung des erften
Theiles erfolgte am 21. Juni, in bem vierten und legten
Berhör *). ©. blieb bei feiner früheren Erklärung be:
züglich feiner Intention. Als man ihn mit bem Be-
merken zum Geftünbnig der Wahrheit auffotberte, man
1) Gebler, Acten S. 1—10. Bgl. ©. ΧΙ f.
2) Gebler, Acten ©. 112,
3) Gebler, Acten ©. 112—114.
28"
424 unt,
werde fonft gegen ihn bie geeigneten Mittel (remedia
juris et facti opportuna) anwenden, erflärte er, er halte
die Meinung des Kopernifus nicht feft, nod) habe er fie
feit bem Verbote Ὁ. 3. 1616 feftgehalten; man möge
mit ihm verfahren mad) Belieben; und als man ihm
beftimmter mit ber Tortur drohte, wiederholte er bie
Erflärung mit bem Beifügen, er [εἰ da, um zu gehorden.
Die Abſchwörung fand am anderen Tage (22. Juni)
im’großen Saale be8 Dominikanerklofter Santa Maria
fopra Minerva ftatt. Dem Act voraus ging bie Ber:
fünbigung be8 Urtheils. Der Dialog wurde verboten,
ber Verfafler auf eine bem Ermefjen des hl. Dfficiumà
anbeimftehende Zeit zur Haft und dazu verurtheilt, brei
Jahre lang wöchentlich einmal bie fieben Bußpfalmen
zu beten . Den nüdjften Tag hatte G. nod) in feiner
befannten Wohnung im Inquifitionsgebäube zuzubringen.
Am 24. Yuni durfte er aber fein ,GefüngniB" im to:
kaniſchen Gejanbtidjaft8palaft wieder beziehen.
Sein Aufenthalt in Rom dauerte nicht mehr lange.
Am 2. Juli wurde ihm geftattet, zu dem Erzbiſchof von
Siena, am 1. December, auf feine Billa Arcetri bei
Florenz fid) zu begeben. Am 25. Febr. 1638 wurde
ibm endlich die GrlaubniB zu Spell, fein Haus in
Florenz zu beziehen. Doch hielt er fid) hier nicht immer
auf. Seit Anfang des Jahres 1639 treffen wir ihn
wieder in Arcetri. Er zog wahrſcheinlich den 9fufent-
halt außer der Stadt bem in berjelben vor, toeil bod)
feine Bewegung eine beicränkte mar, ba er immer
mod) unter ber Aufficht ber jyuquifition ftanb. In Ar:
1) Beide Documente, Urtheil unb Abſchwörung, in italienifchem
und Iateinifhem Text bei Grifar ©. 181—137.
Zur Gaftteifeage. 425
Cri farb er aud am 8. Juni 1642 nach Empfang der
Sacramente unb bes Cegen8 be8 Papſtes. Beftattet
wurde er nicht, wie er in feinem Seftamente wünſchte,
in ber Gruft feiner Familie in Santa Croce in Florenz, ἢ
fondern in der Geitenfapelle der HI. Kosmas und Da-
mian biefer Kirche. Bon ber Errichtung eines Grab.
male8 mußte in Anbetracht feiner Berurtheilung zunächſt
abgejeben werben. (τῇ 1734 wurde von der Inquifition
bie GrlaubniB biezu ertheilt.
Wir wollten zunächft bie Leidensgeſchichte G.'s zu
Ende führen, ohne und, wie wir ähnlich bei der Dar-
fellung des erften Proceſſes verfuhren, dur bie eins
félügigen Gontroverfen aufhalten zu laffem. Indem
wir nun zu diefen übergehen, ift vor allem zu bemerken,
daß die viel berufenen Worte E pur si muove, „Und
fie bewegt fid) bodj," bie G., mit bem Fuß auf bem
Boden ftampfenb, geſprochen haben foll, als er fid) von
der fnieenb vollbrachten Abſchwörung erhob, allgemein
als bloße Sage anerkannt find. Beizufügen ift nur, daß
fie nad) dem Nachweis von Grifar (S. 106) ſchon in
dem „Lehrbuch der philoſophiſchen Geſchichte“ von Stei-
mader 1774 fleben, während Qei8 (Natur u. Dffenba-
tung 1868 €. 371) fie zuerft in bem 1789 in 7. A.
zu Caen erſchienenen Dictionnaire historique verzeih-
net fand.
Die Anwendung ber Folter ferner kann Deutgutage
ebenfalls nicht mehr behauptet werben. Wohlwill widmete
zwar nod 1877 in ber Schrift: Iſt Galilei gefoltert
worden? ber Frage eine eigene Unterfuhung und ge-
langte zur Bejahung derfelben. Sein Ausgangspunft
if der Sat im Schlußurtheil, man [εἰ gegen ©. bis
426 Sint,
jum Examen rigorosum geſchritten. Daraus fol mit
aller Beftimmtheit folgen, bag G., nachdem bie üblichen
Ermahnungen und bie Androhung ber Tortur ohne
' Wirfung geblieben, am den Ort ber Tortur geführt
und dort von neuem befragt worden fei, wenn aud)
unentſchieden bleibe, wie man dann weiter mit ibm ver=
fahren fei, ob man ifm entfíeibet, gebunden und alle
weiteren Vorbereitungen zur Bollziehung ber Tortur
getroffen oder ob man bie eigentlihe Tortur vollzogen
babe. Als Regel [εἰ zwar anzunehmen, daß bie Tortur
in Anwendung gebracht worden fei, wenn ald Ergebniß
be8 Examen rigorosum ein Geftändniß nicht verzeihnet
fei, ba der Richter verpflichtet gemefen fei, fie zu voll-
sieben, wenn genügende Indicien vorlagen. Es habe
jebod) Ausnahmefälle gegeben, um berenttoillen ein ſolcher
Schluß nicht als ſchlechthin Deredjtigt angefehen werben
dürfe (a. a. D. €. 29). Wohlwill muß aljo felbft ein-
räumen, daß e8 allenfalls nicht bis zur Tortur felbft,
fondern gleidjjam nur bis zur Schwelle berjelben oder
bis zur Territio realis in ber Folterfammer gelommen
if. Wenn er bedacht hätte, daß e8 bei Greifen Regel
war, fie mit der Tortur zu verſchonen und fie mur durch
Bedrohung mit der Folter zu ſchrecken), jo hätte ex
das, was er als bloß möglich zugibt, in Anbetracht ber
70 Jahre ©.8 ala mabridjeinlid) bezeichnen müffen, und
dieß um fo mehr, al8 Papft und Earbinäle unbeftreit-
bar wollten, δαβ man gegen ben berühmten Gelehrten nicht
bis zum Mußerften fchreite. Indeſſen ift bie ganze
Argumentation Wohlmil’3 unridjtig. Das Examen ri-
1) Reufch, Proceß Giafilei'8 S. 808.
Zur Galileifrage. 427
gorosum oder ba$ peinliche Verhör und die Tortur find
zwar nicht, wie bisweilen behauptet wurde, zwei ganz
verſchiedene Dinge; bie Tortur ift vielmehr ein Theil
von jenem. Aber bie Grenzicheide zwischen bem gewöhn⸗
liden und peinlihen Verhör war, wie Steujd) ') über-
zeugend nachgewieſen hat, nit bie Abführung im bie
Folterfammer, fondern ber zur Anwendung ber Folter
ermächtigende Beſchluß. Demgemäß folgt aus ber Gr.
wähnung be8 Examen rigorosum im Schlußurtheil nur
das, was wir aud) aus ben Acten erfehen, daß G. im
, Verhörslocal mit ber Folter bedroht wurde. Daß e8
aber nicht über bieje Drohung ober bie Territio verbalis
hinaus fam, zeigt ba8 Schweigen ber Acten. Denn wäre
bie Abführung in die Folterfammer erfolgt, jo hätte fie
fammt den Vorgängen an biejem Orte protofollitt toer-
den müffen. Daß e8 fid) fo verhält, gibt Wohlwill
felft zu. Nur behauptet er anbeterjeit8 (€. 96 ff.),
ber Schluß des Protofols vom vierten Verhör [εἰ un
ädt. Die Abführung in bie Folterfammer und bie
Vorgänge in diefer feien toirflid) aufgezeichnet worden.
Aber das urfprünglihe Protokoll, bezw. Blatt 453 in
ben Acten, fei vernichtet und das jegt vorhandene mit
gefälſchtem Schluß in die Acten eingejhoben worden
(&..162 f.). Scartazzini erflärt ſogar ba8 ganze Pro—
tofoll des vierten Verhöres für eine Fälſchung ?). Selbft
das Datum fol unridjtig fein und das Verhör nicht
am 21., fondern am 17. Juni fattgefunden haben,
Allein von einer Fälſchung Tann mad) ber forgfältigften
Prüfung derjenigen, toeldje bie Acten eingejeben haben,
1) Proceh Galilei’ 65. 357—971.
2) 38gl. Reuſch a. a. D. €. 319 ff.
428 gunt,
aud) an biejem Orte nicht bie Rebe fein. Die ange:
führten Einwände find daher völlig grundlos. Scartaz⸗
zini mußte, um feine Chronologie plaufibel zu machen,
überdieß die Berichte bes toskaniſchen Gefanbten Niccolini
für Tügenhaft erflären. Wer aber fo mit Geſandſchafts-
berichten verfährt, ber beweist, daß er als Hiſtoriker
mod) in den finberidjuben ftedt.
Obwohl G. durch die Inquifition verurtheilt wurde,
fo vertrat er in bem Punkt, wegen befjem die Berur-
theilung erfolgte, dennoch die Wahrheit. Die Sache ift
heutzutage und [don geraume Zeit allgemein anerkannt.
Das fopernifanijd)e Weltſyſtem ijt nicht abfurd und
häretiſch, wie e8 in dem Urtheil v. 3. 1616 heißt, fon-
dern richtig und wahr. Jenes Urtheil war vielmehr
falſch, das Verbot ein unglüdliches, das bie Indexcon⸗
gregation in demfelben Jahre gegen ba8 Werk des
Frauenburger Domherrn und andere ähnliche Werke
erließ. Es wurde damit ein Irrthum begangen, und
das Verſehen blieb wenigftens formell zwei Jahrhunderte
lang in Kraft, wenn man thatſächlich aud) ſchon früher
eine milbere Stellung zu ber verurtheilten Lehre ein
nahm. Cümmtlidje Ausgaben bes Inder enthalten fortan
das Decret v. J. 1616. Das allgemeine Verbot
der fopernifanijden Literatur wurde zwar ſchon in bet
Ausgabe v. 3. 1758 weggelaffen. Aber ba8 befon-
dere Verbot der einzelnen namhaft gemachten Schriften
blieb nod) über ein halbes Jahrhundert beftehen, bis
bie rómijde Curie ihre Stellung zu ber Angelegenheit
gründlich änderte. Als von bem päpftlihen Palaftmeifter
Anfoffi dem Profefjor Seitele an ber Sapienza für
feine „Elemente ber Optik und ber Afteonomie” das
Zur Galileifrage. 429
Imprimatur verweigert wurde, weil er ganz entſchieden
bie Lehre von der Bewegung ber Erde vertrat, appellirte
er an ben Papft, und die Schrift durfte gebrudt werden.
Der Papſt verwies bie Cade an bie Congregation der
Inquifition und beftätigte deren Beſchluß vom 16. Auguft
1820. Zwei Jahre fpäter beſchloß biefelbe Gongtegation
in allgemeiner Form, e8 fei zu Rom der Drud von
Werken geſtattet, welche über die Beweglichkeit der Erde
und bie Unbeweglichkeit δες Sonne gemäß ber allge
meinen Anficht der neueren Aftronomen handelten, und
in die nüdjte Ausgabe be8 Inder (1835) werden eub:
lid aud) die wegen ber Fopernifanifchen Lehre nament-
lid verbotenen Bücher nicht. mehr aufgenommen (Grifar
€. 148).
Wie ift mun jener Fehler zu beurtheilen? Jeden⸗
fallà ift wegen des Irrthums der römifchen Gurie Kein
befonderer Vorwurf zu machen. Die Theologen hielten
das fopetnifanijdje Weltſyſtem in ber weitaus größeren
Mehrzahl, um nicht zu fagen, faft einftimmig für un
vereinbar mit der DL Schrift, indem fie glaubten, bie
Schhriftftellen, in denen von bem Gtillftehen der Erde
und ber Bewegung ber Sonne bie Rede ift, wörtlich
verftehen zu müſſen, unb e8 maltete in diefer Beziehung
zwiſchen fatbolifen und Proteftanten fein Unterſchied
ob. Luther jab in dem Vorgehen bes gelehrten Dom:
herrn von Frauenburg bie SBerfebrung der Aftronomie
butd) einen Narren, Melanchthon erklärte e8 für Gaufelei
unb Verwirrung ber Wiffenfchaften. Der proteftantiiche
Afteonom Kepler mußte wegen feiner kopernikaniſchen
Anfichten feine württembergiſche Heimath verlaflen. Der
Generalfuperintendent Calovius in Wittenberg hieß 1659
430 Funk,
die Vernunft da ſchweigen, mo bie Schrift als Lehrerin
und Zeugin auftrete, und cpnftatirte mit Freuden, daß
die Gotte&gelebrten feiner Confeſſion „bis auf ben legten
Mann“ bie Lehre von ber Bewegung der Erde veriverfen.
Der Paftor Kohlreiff an ber Domkirche zu Ratzeburg
erklärte nod) 1744 die fopernifanijde Lehre für eine
gottesläfterlihe Eingebung des Teufels ?). Aber bie
Theologen haben eben in der Gefammtheit fid) getäuſcht,
und ihr Irrthum ift eine feftftehende Thatſache. Wir
brauchen uns deßhalb nicht Länger bei ihm aufzuhalten.
Nicht fo unbeftritten ift e8, mie ber Schritt der
Inquiſition und ber Indercongregation näher zu beut:
theilen if. Darüber follte zwar nicht mehr verhandelt
werben, ob bie fraglide Entſcheidung doctrineller
oder, wie neuere katholiſche Schriftfiellee wollten, bloß
disciplinärer Art fei. Der boctrinelle Charakter
liegt ja offen am gage. Grifar (S. 147 ff.) hat fij
mit vollftem Recht unummunden in bielem Sinne aus:
gelptodjem. Die Sache unterliegt für jeden nur halb
wegs unbefangenen Menſchen auch nicht einem leiſen
Zweifel. Die Entfheidung Grijar'8 mag infofern nidt
allzu hoch anzufchlagen fein. Da e8 aber immer πο
Theologen gibt, welche aus Motiven, bie id) nicht nennen
will, ber anderen Anfiht den Vorzug geben, jo verdient
fie jebenfals unfere Achtung.
Eine andere Frage ift, ob das Fopernifanifche Welt:
ſyſtem felbft alà Härefie qualificirt wurde ober ob
e8 mit einer leichteren Note davon fam. Die Theologen
ber Inquiſition erklärten 1616, wie wir oben (€. 413)
1) Die Belege bei Grifar €. 124. 283—288.
Zur Galileifcage. 431
gefehen, bie Lehre, daß bie Sonne der Mittelpunft ber
Belt und unbemeglid) fei, für formell häretiſch, da fie
ben Ausfprüchen ber Hl. Schrift mad) bem Sinn ber
Sorte unb nad) der allgemeinen Auslegung unb Deutung
ber Väter und Theologen an vielen Stellen ausdrüdlich
widerſpreche; bem anderen Sag, daß bie Erde nicht ber
Mittelpunkt der Welt und nicht unbeweglich fei, fondern
fid) täglich um fid) felbft bewege, erflärten fie für menig-
tens irrig im Glauben. Im ganzen, biürfem wir bei
bem inneren Bufammenhang ber beiden Sätze fagen,
lautete alfo ihr Urtheil auf Härefie. Ebenfo ift im
Schlußurtheil und in ber Abſchwörungsformel v. 3. 1633
von Härefie, bezw. Härefien bie Rede und dementſprechend
wurde von vielen, wahrſcheinlich fogar ben meiften Theo=
Togen in früherer und neuefter Zeit 1) angenommen, bie
kopernikaniſche Lehre [εἰ αἴ Qürefie verurtheilt worden.
Griſar glaubt anderer Anſicht fein ju folen. Er meint,
mur bie Genjur „ſchriftwidrig“ fei über bie neue Welt:
anſchauung verhängt worden. Er widmet diefem Punkte
einen eigenen unb längeren Abſchnitt in feiner Schrift
(€. 213—251), und er getraut fid) mit Zuverſicht zu
behaupten, daß das Urtheil der Dualificatoren nicht
ba8 be8 Inder [εἰ (S. 222). Seine Beweisführung
zeugt zwar von großer Gelehrfamkeit, und id) erfenne
das bereitwillig an. Aber fie leibet anbererjeit8 au
beträchtlichen Schwächen. Ich mage daher mit nod
größerer Buverfiht für die andere Anfhauung einzu
treten, und ἰῷ hoffe, ihre Richtigkeit in Folgendem außer
allen Zweifel zu ftellen.
1) gl. bie Namen bei Grifar €. 222.
432 gunt,
Griſar ftügt fid) für feine Annahme vor allem
auf das Schlußurtheil gegen G. Hier werde das Gut-
achten ber Qualificatoren zwar angeführt. Aber e8
geichehe dieß mur in Form eines hiſtoriſchen Referates,
und diefes Referat fage zudem ebenfo beftimmt, daß
ba8 veröffentlichte Decret die Formel falsa ed onni-
namente contraria alla Sacra e Divina Scrittura ent-
halten babe. Eben bieje Formel bilde bie Grund:
geflalt, welde in den einſchlägigen Ausfprüchen von
fBetbeiligtem ſowohl als von anderen beftändig tie:
derfehre. Erſcheine fie verändert, fo geſchehe biefes
nur nad) einer milderen Seite hin, niemals aber zu
ber firengen Genfur „häretifh“ (S. 222). Im Schluß:
urtheil gegen ©. foll m. e. W. das Urtheil der Duali-
ficatoren über bas fopernifauijdje Syſtem gemildert et:
ſcheinen, und bie Milderung fol darin beftehen, baf an
bie Stelle der Genfur „häretiſch“ bie Genfur „ſchrift⸗
widrig“ gefegt worden jet. Allein diefe Auffaffung ift
nichts weniger ala probehaltig, und ber Irrthum, in
bem fij Grifar bier befindet, ward verhängnißvoN für
feine ganze Beweisführung. Das Wort „Ichriftwibrig*
bezeichnet gar feine Genfur in dem bier in Betraht
Tommenben Sinn. (δ bezeichnet vielmehr den Grund
einer Genfur, näherhin der Genfur „häretifch", unb Grifar
hätte ba8 um fo weniger verfennen jollen, ala er €. 224
ausdrüdlih bemerkt, eim divinae scripturae omnino
adversans gebe e3' in ber jonft gebräuchlichen Abftufung
der kirchlichen Genfuren nicht; dieſe Stufenleiter werde
von den Theologen wie von den Inquifitionsfchriftftellern
unter geringer Variirung folgendermaßen abfteigend auf:
geführt: haeretica (sententia), erronea, haeresi proxims,
Sur Galileifrage. 483
temeraria, falsa. Sollte man aljo im Galileiprocef
jut Qualification der kopernikaniſchen Lehre eine befon-
bete Genfur gefhaffen haben? Grifar nimmt das am.
Aber die Annahme ift fou an fid) febr unwahrſcheinlich.
Wenn toit vollends bie einjjlügigen Documente forg-
fältig und unbefangen prüfen, ftellt fie fid) al3 burdjau8
grunbío8 dar. Denn im Urtheil der Dualificatoren
erſcheinen bie Worte „häretiſch“ nnd „ſchriftwidrig“ mit
aller nur möglichen Beftimmtheit in bem erwähnten
Verhältniß, und der Wortlaut der Schlußfentenz gegen
©. und ber Abſchwörungsformel fteht diefer Auffaffung
fo wenig entgegen, daß er vielmehr erft butdj fie ihr
volles Licht befommt. Gehen mit aljo näher auf bie
Doeumente ein!
Der Wortlaut des Urtheils der Dualificatoren über
ben erften ber zwei iucriminitten Säße ift folgender:
Omnes dixerunt dictam propositionem esse stultam et
absurdam in philosophia, et formaliter haereticam,
quatenus contradicit expresse sententiis S. Serip-
iurae in multis locis secundum proprietatem verborum
et secundum communem expositionem et sensum S.
Patrum et Theologorum doctorum !). Der €af wird
alfo ausbrüdli beBmegen ober infofern für θᾶ:
retiſch erklärt, weil oder als er der Schrift wider:
ſpricht. Das „Ihriftwidrig" ift demgemäß nit als
Genfur, ſondern als Grund der Genjur „häretiſch“ zu
faffen. Die Gade ijt jo evibent, daß wir uns bei bet
Stelle nidt meiter aufzuhalten brauden. Dagegen ijt
gleich bier beizufügen, daß alle Wahrſcheinlichkeit dafür
1) Gebler, Acten €. 47 f. Grijar ©. 38.
434 gunt,
ſpricht, daß das Urtheil ber Theologen von der Su.
quifitionscongregation in der Cigung vom 25. Februar
1616 zu bem ihrigen gemacht wurde. Es ift zwar zu
bedauern, baf uns über bieje Sigung fein näherer Be-
richt vorliegt. In ber Urkundenfammlung von Gherardi
ift diefe Sigung übergegangen. Vielleicht fand fid) über
fie fein beſonderes Decret vor, ba bie „Acten“ bes
Galileiprocefje8 über fie eine kurze Regiftratur enthalten.
Wie e3 fih aber mit jener Frage verhalten mag: bieje
Regiftvatur gibt uns wenigftens über ben in Rede ftehen:
den Hauptpunkt genügenden Auffhluß. Sie lautet:
Tllustrissimus D. Cardinalis Millinus notificavit RR.
pp. DD. Assessori et Commissario S. Officii, quod
relata censura PP. Theologorum ad propositiones Ga-
lilei Mathematici, quod sol sit centrum mundi et im-
mobilis motu locali et terra moveatur etiam 'motu
diurno, Sanctissimus ordinavit Ill. D. Card. Bellarmino
cic.) Es wird hier allerdings nicht ausbrüdTid) gefagt,
baf bie Gongregation der Inquiſition Das Urtheil ber Theo:
logen angenommen und beftätigt habe. Daß aber dieſes
bennod) geſchah, ift nad) dem Bericht überaus wahrſchein⸗
lid, und wir dürfen e8 um fo eher annehmen, als im
anderen Fall mit allem Grund zu erwarten wäre, bie
Einfpradje gegen jene Dualification und ber Antrag auf
Aenderung wäre kurz notirt worden. In ber Regiftratur
wäre ja fonft gerade die Hauptſache im biejer Sigung
unterdrüdt oder ausgelaffen worden. Das Schweigen
der Acten wiegt am biejem Drte faum weniger [dier
als das Schweigen in bem zweiten Proceß nad der
1) Geblez, Acten ©. 48 f.
Zur Gatiteifrage. 435
Bedrohung G.'8 mit der Folter. Und wenn wir vollends
bebenfen, daß ba8, morin man eine Milderung ber
Genjur erbliden könnte, die Vertauſchung der Note
„häretiſch“ mit der Note „ſchriftwidrig“, nad) bem bereits
Angeführten im Wefentlihen gar Feine Milderung ift,
jo ſchwindet jeder Grund, bie Beweiskraft des argu-
mentum ex silentio zu beftreiten. Die Gongregation
ber jnquifition bat alfo ohne Zweifel das Urtheil der
Theologen gebilligt. ᾿
Nicht anders verfuhr die Indercongregation, an bie
nad jener Inquifitionsfigung der die Literatur betref-
fende Theil der Angelegenheit überging. Weber ihre
Verhandlungen liegt zwar gar fein SBeridjt vor. Wir
erfahren nur, daß ba8 Inderdecret in ber Sigung ber
Inquifition Ὁ. 3. März nad) dem Bericht des Cardinals
Bellarmin iiber fein Verfahren mit ©. vorgelegt umb
am 5. März publicirt wurde ἢ. Indeſſen Tann bie
Cade aud) bier nicht zweifelhaft fein. Denn e8 wider:
ſpricht einerfeit3 aller Wahrfcheinlichkeit, daß diefe Gon-
gregation vom Urtheil der anderen follte abgewichen fein,
und andererfeit3 Liegt in ihrem Decret ja feine weſentliche
Aenderung vor. Die Eopernifanifche Lehre wird ganz
im Einflang mit bem Urtheil der Qualificatoren als
falsa divinaeque scripturae omnino adversans prädicirt
und bamit al3 eine Lehre bezeichnet, welche bie Genjur
häretiſch“ verdiente. Diefes Wort felbft fommt aller:
dings in bem bie fopernifanijde Lehre und Literatur
betreffenden zweiten Theil be8 Decretes nicht mehr vor,
und e3 mag fein, baf e8 wegen feines odiofen Beige:
1) Gebter, Galilei S. 400.
436 Sunt,
ſchmackes abſichtlich nicht mehr wieberholt wurde, tie
qud) ber Gardinal Belarmin in bem befannten Atteft
Ὁ. 26. Mai 1616 fid) darauf beſchränkt, mit Beziehung
auf ba8 Inderdecret, aber aud) mit einiger Abſchwächung
desfelben, bie Fopernifanifche Lehre al8 contraria alle
Sacre Scritture zu bezeichnen. Aber fein Fehlen ift
ja neben dem divinae scripturae omnino adversans
von unmefentliher Bedeutung. Zudem ift e8 nicht ein-
mal fiher. Am Anfang des Decretes ift von vor einiger
Zeit erfchienenen Büchern mit variae haereses atque erro-
res bie Rede, und e8 ift fein hinreichender Grund zu der
Annahme vorhanden, diefe Worte feien nicht aud) auf
bie fopernifanijde Literatur zu beziehen. Daß bie be
züglichen Schriften nit im unmittelbarer Reihenfolge
mad) ben vorausgehenden aufgeführt werden, fteht bem
nicht fo febr entgegen, als e8 auf den erften Blick ſcheinen
könnte. Die Art und Weife, wie fie eingeführt werben,
begreift fid) binlänglid aus dem Umftand, daß bie
Gongregation fid) ihnen gegenüber zu einer befonderen
Erklärung über ihr Einſchreiten veranlaßt fap. Die Be
ziehung jener Worte auf den zweiten Theil be8 Decretes
ift daher keineswegs ausgeſchloſſen. Wie es fid aber
damit verhalten mag: der Punkt ift wegen der charafteri-
ftifhen Bedeutung der Worte divinae scripturae omnino
adversans ziemlich gleihgiltig, und in allen Fällen barf
e8 al8 ebenjo fider betrachtet werden, daß bie Inder⸗
congregation im J. 1616 von bem Wrtheil ber Congre⸗
gation ber Inquifition nit abwich, mie e8 fid) uns ala
fider dargeftellt hat, daß dieſe das Urtheil ihrer Theo-
Iogen zu dem ihrigen machte.
Indem wir zur Schlußfentenz v. 3. 1633 übergehen,
Zur Galileifrage. 437
ift vor allem zu bemerken, baB am Anfang derfelben
ber Verlauf des erften Proceſſes kurz erzählt umb in
bie Erzählung bie zwei Propofitionen der Qualificatoren
wörtlich aufgenommen find. Die erfte und michtigere
lautet in bem Driginaltert ber Sentenz: Che il Sole
sia centro del Mondo ed immobile di moto locale, ὃ
proposizione assurda e falsa in filosofia, e formalmente
eretica per essere espressamente contraria alla Sacra
Scrittura. Dieſe wörtliche Citation ift ſchwerlich ganz
bebeutungslos. Sie meist auf das Gemidt hin, das
die Gongtegation dem Gutachten ihrer Theologen θείς
legte. Die Art und Weiſe ferner, wie ba8 Gutachten
eingeführt wird, läßt mit Sicherheit erfennen, daß das
Urtheil der Theologen zugleich das der Gongregation
jelbft mar. Darüber insbefondere wird endlich fein
Zweifel befteben können, daß ba8 Verhältniß der Präs
bicate „häretiſch“ und „ſchriftwidrig“ von beiden Theilen
in gleicher Weife aufgefaßt wurde. Indem in ber Schluß:
jentenz am bie Stelle be8 quatenus ein per ober quia
gelegt ift, tritt das Verhältnis womöglich nod) fehärfer
und beftimmter heraus. Der bezügliche Sag oder Satz⸗
theil if zudem für fij betrachtet mie einerjeit8 ganz
allgemeiner Art fo anbererfeits für die Inquifition von
einer fold) eminenten Bedeutung, daß über ihn im Schoß
diefer Behörde fein Diffenfus beftehen founte. Demge-
mäß bat e8 nichts zu bedeuten, wenn in ber Schluß:
fentenz bei Erwähnung des Inderdecretes das Wort
„häretiſch“ nicht wiederholt wurde. Die Prädicirung
ber fopernifanijden Lehre als falsa ed onninamente
contraria alla Sacra e Divina Scrittura mie8 mad) dem
Vorausgehenden deutlich genug auf Qürefie hin.
τιμοῖ. Dmartafjgrift. 1888. Heft ΠῚ. 29
438 . gunt,
Wie dur) bie Art ber Erwähnung, fo verräth bie
Synquifition aud) durch die nachfolgende Bemerkung, daß
fie das Urtheil der Dualificatoren zu dem ihrigen madite.
Nach Anführung .desfelben fährt fie nämlich unmittelbar
folgendermaßen fort: Da man aber damals milde mit
bir verfahren wollte, wurde dem Garbinal Bellarmin
der Auftrag erteilt u. f. Ὁ. Man beadjte den Gegen
fag und bemetfe, daß in biejem Sat bie Inquifition
nicht mehr referirt, fondern von fid, näherhin von ihrem
Verhalten im 9. 1616 fprit, unb man wird fid) bei
Eindrudes nicht erwehren fómmen, fie gebe, indem fie
in foldem Zufammenhange bie gegen bie Perjon 8.8
geübte Milde betone, zugleich zu verftehen, daß fie mit
bem im Vorausgehenden angeführten Urtheil über bie
von ihm vertretene Lehre durchaus einverftanden fei.
Ih wenigftens Tann ben Paſſus nicht anders verftehen,
und id) gebe zu bedenken, ob wir, wenn wir bie Deutung
aus bem Gontert tro der ftarfen für fie ſprechenden
Gründe hier abweifen, unà dann nod) zu wundern das
Recht haben, wenn einzelne Proteftanten in I Clem. 5. 6
nichts von einem Hinweis auf die Anmwefenheit Petri
in Rom zu entdeden behaupten. Der Fall ift hier wie
dort im mefentlihen ber gleiche.
tod) deutliher aber als aus bem Anfang erhellt
bie Beurtheilung der Fopernifanifhen Lehre ſeitens ber
Inquiſition aus dem Schluß der Sentenz fowie aus ber
Abſchwörungsformel. Beide Actenftüde fallen überhaupt
für unfere Frage infofern zufammen, ald das, was bort
verurtheilt ift, bier abgeſchworen wird, und e8 genügt
baber, wenn wir und auf das erftere beſchränken. Sn
demfelben wird ©. verurtheilt αἵδ᾽ veementemente sos-
Zur Galieifrage. 439
petto d'eresia, cioà d'aver creduto e tenuto dottrina
falsa e contraria alle Sacre e Divine Soritture, che il
Sole sia centro della Terra e che non si muova da
Oriente ad Occidente, e che la Terra si muove et
non sia centro del Mondo; e che si possa ienere e
difendere per probabile una opinione dopo d'essere
sata dichiarata e difinita per contraria alla Sacra
Scrittura, und er hat demgemäß abzuſchwören, zu ver-
fluchen und zu verabjdjeuen li suddetti errori ed eresie.
G. wird zwar nicht als Häretiker, fondern nur als bet
Härefie dringend verdächtig verurtheilt, aber dieß nicht
bewegen, meil etta bie incriminirte Lehre nicht als
häretifch angefehen worden wäre, fondern weil für feine
Perſon bie Annahme der Härefie nicht volftändig be-
wiefen war, ba er in bem Verhören ftet3 und felbft bei
Androhung der Folter, wie der Terminus lautete, fa:
tholiſch antwortete, b. 5. bie häretiſche Gefinnung in
Abrede 30g. Diefe Auffaffung ergibt fij aus bem
Gontert der Sentenz unb namentlih aus bem bem Ur-
theil jelbft vorausgehenden Paſſus mit aller Nothwendig⸗
lei. Sie liegt aud) in der Natur der Cade, ba bie
Berurtheilung al3 verdächtig ber Härefie eine häretiſche
Lehre vorausjebt. Sie ergibt fid) endlich mit voller
Evidenz aus der angeführten Stelle ſelbſt. Die Häreſie,
deren Verdacht ©. die Verurtheilung zuzog, ift ja deutlich
und ungtoeibeutig angegeben. Sie befteht in ben ſchrift⸗
toidrigen Sägen, bie Sonne fei der Mittelpunkt ber
Welt unb fie bewege fid) nit von Oſten nad) 9Beften,
und die Erde bewege fid) und [εἰ nit das Centrum
bet Welt, jomie in der Annahme, man könne eine An=
ficht als probabel fefthalten, nachdem fie ausdrücklich
29*
440 gunt,
für ſchriftwidrig erflärt worden. Dabei ift es durchaus
irrelevant, ob ba cioà im Sinne von „nämlich“ gefaßt
ober, wie e8 aud) im lateinifhen Tert ber Fall ift,
mit „das ift" ober „das heißt“ iüberjegt wird, eine
Ueberfegung, bie Griſar ©. 245 felbft hat, aber ©. 247
als ungenau und verfänglich bezeichnet. So oder anders
gefaßt, deutet das Wort an, baB im Folgenden bie
Härefie, in deren Verdacht ©. gekommen war, näher
beftimmt wird. Der Härefien find e8, wenn man die
einzelnen Säge in Betracht zieht, fogar mehrere, und
1o begreift fi, wenn ©. angehalten wird, „bie zuvor
genannten Irrthümer und Härefien" abzuſchwören und
nachher aud wirklich abſchwört. Kann man eine größere
Deutlichkeit verlangen? Daß neben den Härefien zugleich
von Irrthümern die Rede ift, Tann bie Cade bod) un
möglich zweifelhaft madjen. Die Härefien find ja zugleich
Irrthümer, wenn aud) nidt alle Irrthümer Härefien
find. Die beiden Worte erſcheinen überhaupt bei Ber:
urtheilung von Härefien mit einander verbunden, jo aud
in bem Inderdecret v. 3. 1616, und das ausſchlag⸗
gebeube ift ſelbſtverſtändlich bas ſchärfere. Die Annahme
Griſar's (€. 243), bie suddetti errori ed eresie beziehen
ſich nicht eigentlich auf bie kopernikaniſchen Säge, fondern
fie feien einfad) au8 bem fonftigen, vom Sacro Arsenale
beftätigten Gebrauch herübergenommen und fie feien nur
ein ftehender Ausdrud folder Inquifitionsurtheile, die
fid überhaupt auf eine Mehrheit von verſchieden quali
ficirten Meinungen bezogen, ift völlig gruublo8 und zu
gleich fo unwahrſcheinlich, daß ich fie nicht glaube eingehend
widerlegen zu follen. Nur eines fei bemerkt. Ich habe
das Verfahren ber Inquifition aus bem Galileiprocch
Zur Galileifrage. 441
als genauer und gründlicher kennen gelernt, als baf ἰῷ
jener Behörde eine berartige Verurteilung in Bauſch
und Bogen zuſchreiben fünnte, bie jedermann anders
verſtehen muß, αἵδ ber Wortlaut be8 Urtheils befagt.
Die Documente, die wir bisher zu Rath zogen,
ſtehen alle in vollfter Uebereinftimmung unter einander.
Im erften wie im legten begegnen toit iu bet beutlichften
Weiſe dem Gedanken, bie kopernifanifche Lehre [εἰ hä—
retiſch, weil durchaus ſchriftwidrig. Diefe Documente
find aber, weil officieler Natur, Quellenberichte erften
Ranges. ' Die Frage kann Dienad) al8 entſchieden gelten.
Etwaige abweichende Angaben in anderen Berichten haben
ihnen gegenüber al8 weniger zuverläßig einfach zurüd-
zutreten. Bevor wir indefjen diefe Erörterung ſchließen,
mag nod) ein Einwand kurz beleuchtet werben.
Bon ber Vorausfegung ausgehend, daß bie Genjut
„haͤretiſch“ nicht ausgeſprochen morben fei, fragt Griſar
mad) den Gründen biejer Unterlaffung, und er findet
(©. 225) den Hauptgrund darin, baf fid) bie Cardinäle
der Indercongregation vergegenwärtigen modjten, e8 fei
bod) nicht alles mit Sicherheit vorhanden, was zur
Brandmarkung der foperuifanijden Lehre mit ber frag-
lichen Bezeichnung erforderlich geivefen wäre. Die ent-
gegengefeßte Lehre foll insbefondere aud) nit in ber
Hl. Schrift mit ber erforderlichen vollen und unmiber-
ſprechlichen Evidenz gefunden worden fein, und der Brief
Bellarmin's an den Karmeliter Foscarini ?) fol dafür
Beugniß ablegen. Allein vor allem ift das Letztere nicht
richtig. Der gelehrte Gatbinal madyt wohl bie Bemerkung,
1) Griſar €. 807 f.
42 Sont,
daß man, falls e8 eine wirkliche SDemonftratiox für bie
Topernifanijde Weltanfhauung gäbe, dann in der Er:
Härung bet ſcheinbat entgegenftehenden Schriftterte mit
vieler Behutſamkeit vorgehen und eher fagen müßte,
daß wir diefelben nicht verftehen, als fagen, daß falſch
fei, was bewieſen ift. Aber er fügt aud) fofort bei, et
werde nicht glauben, daß es eine jolde Demonftration
gebe, fo lange fie ihm nicht dargelegt fei (Grifar ©. 227).
Er Hält [omit gleich ben übrigen Theologen feiner Zeit
bie kopernikaniſche Lehre thatſächlich für fchriftwidrig.
Und mie enge bie Genfur „häretifh” in feinen Augen
mit einer ſchriftwidrigen Lehre verknüpft if, zeigt er
in bemjelben Brief, indem er [dreibt, daß, wer jagen
würde, Abraham habe nicht zwei Söhne gehabt unb
Jakob zwölf, ebenjo Häretifer wäre wie der, melder
fageu würde, Chriftus [εἰ midjt von ber Jungfrau ge
boten worden, ba das eine mie ba8 andere ber DL. Geil
durch ben Mund ber Propheten unb Apoftel jage. „Schrift:
Toibrig" und „häretifh“ find alfo aud) ihm correlate
Begriffe. Nah einem ben damaligen Theologen ge:
läufigen Beifpiel war fogar der Sag, daf Tobias feinen
Hund befefien habe, menm er troß ber befannten Aus:
fage ber HI. Schrift hartnädig aufrecht erhalten würde,
einer Qürefie gleid) zu eradjten, weil damit bie Un
trüglidteit de3 Bibelwortes überhaupt in Abrede geftellt
wäre (Grifar €. 228). Gleihwohl glaubt Grifar, bie
Eenfurirung der kopernikaniſchen Lehre als häretiſch in
Abrede ziehen zu fónmem, ba bie in diefer Beziehung in
Betracht tommenben Schriftftellen nicht bie ganze er
forberlide Mlarheit und nicht, wie bie eben angeführten,
bie unmittelbare Evidenz ihres Sinnes, die Unmöglichkeit
Zur Galileifrage. 448
eines anderen Verſtändniſſes für fij haben (©. 228 f.).
So urtheilen allerdings wir in der Gegenwart über bie
Angelegenheit. Wir gehen ja fogar nod) weiter und
fagen, daß aus bem einfchlägigen Schriftftellen das gar
wijt folgt, was ihr Wortlaut zu befagen ſcheint und
wie fie früher allgemein gedeutet wurden. Allein es
handelt fid) eben nicht um unfere Anſchauung, fondern
um bie Auffaffung der Theologen am Anfang be8
17. Jahrhunderts, und diefe kann nad) der wiederholten
Prädicirung ber fopernifanijem Lehre als burdaus
ſchriftwidrig ſchwerlich zweifelhaft fein. Oder hätte man
fi wohl fo beftimmt und fo energijd) ausgebrüdt, menu
irgend welche erhebliche Bedenken obgetaltet hätten?
Während das Topernifanifche Syftem als Härefie
verdammt wurde, ward G., wie wir bereits gejehen,
als ber Härefie dringend verdächtig verurtheilt. Die
Sache ift nad) dem Wortlaut der Schlußfentenz unb ber
Abſchwörungsformel nicht zu beftreiten. Auch ber Sinn
bet Genfur ift nad) dem oben Angeführten nicht zweifel⸗
baft. Gelbft Grijar bemerkt einmal (S. 251), ©. [εἰ
bloß als der Härefie verdädtig, nicht al8 Häretiker,
verurtheilt worden, weil er felbft bei der Folterdrohung
über feine innere Geſinnung nicht das bezügliche Geftünbnif
gemacht habe. Sonſt aber ftellt er eine Erklärung von
diefer Genfur auf, welche wiederum bem gewichtigften Be—
denfen unterliegt. Gv meint, bie Vertheidigung be8 koper⸗
nilaniſchen Syſtems habe in Folge der bekannten Entjchei-
dung bloß als „temerär“ gegolten (€. 235. 251), und
mit der Schuld ber Qürefie wären bie beharrlichen
und öffentlichen Vertreter jener Lehre vor der Kirche
felbft dann nicht beladen getoejeu, wenn die Sjubezcongte-
444 gunt,
gation diefelbe nicht bloß für ſchriftwidrig, fonbetu für
häretiſch erklärt hätte (€. 231). ©. aber habe, indem
et bie Auctorität ber kirchlichen Behörden in fo heraus:
fordernder Weife miBadjtete, nadjbem ihm bod) perjbu:
lid) bie Genjur ber fopernifanifdjen Anſicht unter Auf
legung be8 Specialverbotes und unter Androhung eines
Inquiſitionsproceſſes intimirt worden [εἰ (S. 219), jener
,iemerüren^ Handlung unter Umftänden fij ſchuldig
gemacht, welche ihm den juriſtiſchen Verdacht der Qüte-
fie, der fid) mit der Oppofition gegen ſolche Inderdecrete
verknüpfte, boppelt zugezogen haben (€. 351.). Aber
alle bieje Behauptungen find mit Documenten ſchlechter⸗
dings unvereinbar. Was über ben juriſtiſchen Ver—
dacht ber Qürefie gejagt wird, b. b. über bie durch
Rechtsgebrauch fanctionirte Vorannahme, daß einem
Delicte, welches an fid) feine Härefie war, häre εἰ {ὦ εϑ
Denten zu Grunde liege (©. 248 f.), das liefe fij
allenfalls hinnehmen, wenn e8 fid nicht aus ben offi
ciellen Urkunden mit aller Evidenz ergäbe, baf das
Galilei'ſche Delict wirklich als Häreſie angefehen und
daß ©. nut bepmegen bloß al8 ber Härefie dringend
verbädhtig und nidt als $üretifer verurtheilt wurde,
weil er bie häretiſche Gefinnung niemals zugeftand. €»
aber ift der „juriſtiſche“ Verdacht für unferen Fall eine
unbegründete Fiction, die nicht weiter zu widerlegen ift.
Verhält e8 fi aber fo und nimmt man den , Verdacht
ber Häreſie“ in dem Sinne, ben et im Galileiproceß
zweifellos hatte, fo ift fofort aud) bie weitere Behauptung
hinfällig, bie beharrliche und öffentliche Bertheidigung
ber Topernifanifchen Lehre hätte, felbft wenn dieſe Lehre
für büretijd) erflärt worben wäre, vor ber Kirche nicht
Zur Galileiftage. 445
bie Schuld der Härefie zur Folge gehabt. Wir wiſſen
ja, wie viel oder wie wenig bei ©. zur Cenſur „Häreſie“
mod) fehlte: mie Tann man alfo derartiges behaupten?
Der follten wir etwa annehmen, baf die römiſche Kirche
fofort nad) bem Procek ihr Vorgehen bereut und gegen
andere unb unbebeutendere Perſonen eine Milde walten
ließ, bie fie dem großen Gelehrten von Florenz ver
fagte? Das ift gewiß nicht wahrſcheinlich. Die Aeuße-
rungen von Theologen aber, bie Grifar zur weiteren
Begründung feiner Anſicht beibringt (S. 232 f.), be-
weifen nur, baf fie entweder unrichtig ober wenigſtens
anders zu deuten find, weil fie ben Thatſachen nicht
gerecht werden, und fie haben daher in unferem Fall
nichts zu befagen. Dabei foll gar nicht betont werben,
daß der Jeſuite Inchofer, wie Grifar ſelbſt (€. 233)
bemerkt, ausdrüdli den entgegengefegten Standpunkt
vertritt. Wo die Thatjachen [o flar zu Tage treten,
da find fie nicht mad) den Theorien von Theologen zu
deuten, fondern e8 müſſen fij umgefehrt bieje mad)
jenen richten.
Was endlich bie Cenſur „temerär“ anlangt, fo be
gegnen wir ihr in bem officiellen Documenten nirgends,
und biejer Umftand entſcheidet ſchon allein über ihr
Schickſal. Außerhalb der Acten fommt fie meines Wiſſens
zur Seit des Galieiproceffe8 zwar zweimal bor. Die
Aeußerungen des anglifonijden Biſchofs Wilkins von
Chefter und des Auguftinerhorheren Eufebius Amort
(Srifar €. 237) dürfen fügli außer Betracht gelaffen
werden. Der Löwener Theologe Fromond ſchrieb 1631,
bie fopernifanijde Lehre dürfe zwar nicht der Qürefie
geziehen werben; aber fie [εἰ temerür und mit einem
446 Sunt,
Fuß betrete fie bie Schwelle ber Härefie; daran fei
feftzubalten, fo lange der hl. Stuhl nicht etwas Anderes
feftgeftellt habe. Galilei ſchreibt am 8. Juni 1624 an
ben Fürften Cefi, Urban VIII habe im Gejprüd) mit
dem Garbinal Hohenzollern, Biſchof von Osnabrück, be-
merkt, bie Kirche habe bie fopernifanijdje Lehre nicht
als häretif) verdammt, nod) werde fie diefelbe al8 hä=
tetijd verdammen, fondern nur als temerär; aber e8
fei nit zu fürdten, daß jemand fie a[8 nothwendig
wahr erweifen werde (Grifar €. 230 f.). Aber kann
man über ben Werth der Behauptung des Löwener
Theologen gegenüber der Ausſage der Acten aud) nur
einen Augenblid im Zweifel fein? Die 9leuferung Ur-
ban’3 VIII verdient an fid) allerdings etwas mehr
SBeadjtung. Aber bei näherer Prüfung Tann aud) fie
Teine ernftliche Schwierigkeit machen. Der Bapft wollte
ja nad) dem Zufammenhang die getroffene Entſcheidung
als eine möglichft milde unb unberfünglidje darftellen.
Der Eardinal ſprach nämlich mit ihm zu Gunften 6.3;
er mahnte zur Vorfiht und madte zu diefem Behufe
geltend, daß alle Häretifer feiner Meinung !) feien, unb
auf bieje Bemerkung folgte die angeführte Erklärung.
Sie kann alío das aus den Acten fid) ergebende Stejultat
unmögli umftoßen. Zudem muß man ja fragen, wie
auch Grifar (S. 288) leije tut, ob bie Worte richtig
1) Es läßt fij fragen, weſſen Anſicht näherhin gemeint ift,
bie des Cardinals ober bie des Papfies. Der Wortlaut des
italieniſchen Textes (Opere ed. Alberi Vl, 296) läßt bie Sache
wnentjdieben. Nach bem Gontert unb nach ber allgemeinen Sach—
lage ſcheint mir ba8 Letztere anzunehmen zu fein. Reuſch €. 182
nimmt tenigften mad) bem Wortlaut feiner Tleberfegung ba
Erſtere an.
Zur Galiteiftage. 441
überliefert find, und fprit Urban vou ber Kirche ſelbſt,
während e8 Πὼ im Gründe mur um die Cutjdeibung
der Gongregationen der Inquifition und des Inder handelt.
Die Cenſur ,temerür" if daher wegen mangelnder Be:
zeugung unbedingt fallen zu lofjen. Und davon, daß
fie al8 Ergebniß ober Folge ber vom ber Gongrega-
tion gebraudjten Note „durchaus ſchriftwidrig“ zu faflen
fei, wie Grijar ©. 235 zu jagen ſcheint, Tann vollends
gat feine Rebe fein, ba im bem Acten gerade bie Genjur
„häretiſch“ bie ftaglidje Stellung einnimmt.
Wenn bie kopernikaniſche Lehre als durchaus fchrift:
ioibrig für Härefie erklärt wurde, fo fpridjt alle Wahr:
ſcheinlichkeit dafür, daß bie bezügliche Entſcheidung als
eine irreformable angefehen wurde. Qd) wenigſtens
Tann mir bie Cade nit anders vorftellen. Griſar ift
zwar auch in diefer Beziehung anderer Anfiht. Er
meint, δα Decret Ὁ, 3. 1616 fei als ein miberrufliches
betrachtet worden. Mlein feine Gründe find nicht ftid-
baltig. Den kirchlichen Gongregationen fommt allerdings
nit bie Gabe ber Unfehlbarkeit zu. Aber befimegen
Tonnen fie in einzelnen Fällen und über gewiſſe Gegen-
fände bod) ein unbedingt ficheres Urtheil zu befigen
glauben. Die Zeugen ferner, auf bie fih Grifar ftüpt
(6. 164 ff), dürften in diefer Frage ſchwerlich bie er-
forderlihen Eigenſchaften haben. Es find faft lauter
Freunde ber neuen Weltanfhauung und Männer außer:
balb Roms, und e8 verfteht fid) daher von felbft, daß
fie fo wenig als G. ihre Gadje für immer verloren
gaben. Sie bofften naturgemäß von Anfang an auf
eine 9temebur, weil fie nun einmal ihre Anficht für bie
richtige hielten und nicht glauben fonnten, ihre Unter
448 - Sunt,
drüdung werde ewig dauern. Ihre Stimme Dat alfo
bier nidt8 zu bedeuten. Wir follten vielmehr bie Auf:
feffung ber an ber Cnt[deibung betheiligten Perfonen,
der römiſchen Theologen unb der Gardinäle erfahren.
Aber von biejen wurde nichts beigebracht, was entſchieden
gegen unfere Anficht Sprechen würde. Die Gadje dürfte
fi nur dann anders verhalten, wenn die Entſcheidung,
wie einige Theologen in bet Neuzeit gewollt haben,
blos disciplinärer Art wäre. Diefe Auffaflung ift in
beffen nicht haltbar, tie Grifar ſelbſt bewieſen Dat.
Daß enblid) die Galileifrage bei unferer Anfiht etwas
ſchwieriger wird als bei der anderen, indem zu ber
materiellen Unrichtigkeit ber Entſcheidung mod) ber itt-
thümliche Glaube fommt, bie Entſcheidung [εἰ irrefor⸗
mabel, ift fein Grund, vor ihr zurüdzufchreden, wenn
fo ftarfe Momente für fie fpreden. Wollten mir fo
verfahren, fo müßten wir ja aud) den boctrinellen Cha=
after ber Entſcheidung aufgeben. Zudem find bie
Schwierigkeiten aud) fo nicht unlösbar, ba ja in feinem
Fall eine püpfilidje Definition ex cathedra vorliegt.
Die Frage nad) der über die kopernikaniſche Lehre
und ihren Vertheidiger erhängten Genjur dürfte burd)
bie vorftehenden Ausführungen erlebigt fein. Demge—
mäß ift bie ältere oder früher menigften8 vorherrſchende
Anfiht die richtige. Da aber diefe Anficht bei ihren
älteren fatfolijden Vertretern bod) ſchwerlich auf Ab⸗
meigung gegen die Kirche beruht, fo hätte Grifar e8 in
feinem eigenen Intereſſe unterlaffen follem, gegenüber
ihren neueren Vertretern von ber Liebhaberei zu reden,
bem JInder eine Verdammung be3 kopernikaniſchen Syſtems
mit ber Cenſur „Häreſie“ aufzubürden (S. 288). Es
Bur Galileifrage. 449
mag fein, daß eine derartige Liebhaberei da und dort
bei dem Urtheil wirffam mar. Aber fo lange die frühere
Anſchauung nieht beffer widerlegt ift, als e8 bisher ge-
ſchehen ift, müflen wir uns hüten, ihre Aufrechterhaltung
auf fubjective Momente zurüdzuführen. Die Infinuation
enthält überdieß gegenüber den Alten den Vorwurf einer
gewiſſen Leichtfertigkeit oder Unkenntniß. Cie verräth
zugleich bezüglich ber eigenen Cade das Bewußtſein
einer gewiffen Schwäche. Grifar bemerft €. 152 ben
Vertretern be8 bi&ciplindten Charakters unferer Inder
entſcheidung ebenjo richtig als treffend, man dürfe nie-
mals auf Koften der Wahrheit nad) Erleichterung ber
eigenen Stellung fireben. Nah dem Bisherigen und
verfchiedenen feiner Aeußerungen dürfte ba8 Wort zum
Theil aud) ihm gelten. Ich fchenfe zwar feiner Ber-
fiderung einen rüdhaltslofen Glauben, daß ihm nichts
mebr ferne gelegen fei, als irgend etma8 zu vertufchen,
indem er überzeugt fei, die eiufadje unverhüllte Wahr:
beit gereide unferer Kirche zur beften Vertheibigung.
Aber menn e$ ihm aud) nicht zum Bewußtſein Tam, jo
fo dürfte das Streben, feine Cade zu erleichtern, ihn
bod) namentlid) in ber vorliegenden Frage über Gebühr
beeinflußt haben. Bei voller Unbefangenheit fonnte er
ſchwerlich zu feinen Refultaten gelangen.
€3 bleibt nod) ein Punkt zu beſprechen. Wie ijt
bie fehlerhafte Entſcheidung der römischen Congregationen
geididtlid zu würdigen? Wenn man bie eins
ſchlägigen Ausführungen Griſar's liest, jo fünnte es
faft feinen, fie [εἰ gut und nothwendig und mehr oder
weniger das Werk der Vorjehung felbft getoejen. Schon
€. 123 wird der Gebanfe ausgeſprochen, e3 fei gar fein
450 gunt,
Nachtheil geweſen, wenn auf Koften ber rajdjeten Ent:
wicklung ber fopernifanijdjen Lehre eine Gefahr befeitigt
ober vermindert wurde, melde für den Glauben und
das Heil mander Schwachen durch einen ſtürmiſchen
Sieg diefer Lehre gerade in jener geiftig aufgeregten
Zeit herbeigeführt werben fonnte; e8 fei auch fein Nad:
theil gemefem, menn in Folge ber von ber Qyquifition
gezogenen Schranken an bie fatolijdem Forſcher eine
mit übernatürlihem Verdienſte belohnte Pflicht heran:
trat, bemüthige und beſcheidene Nachgiebigfeit gegen bie
kirchlichen Oberen in Hinſicht diefes fo aufgefapten Be
rührungspunties zwiſchen der Theologie und den Natur
wiſſenſchaften walten zu laffen. Indem €. 354 ferner
zunächſt anerlannt wird, daß in Folge des Inderdecretes
bie Wahrheit fid) erft nad) und nad) fund machte, während
©. 344 hervorgehoben wird, wie bie katholiſchen Forſcher
auf dem zugeftandenen Wege bet „Hypotheſe“ das neue
Spftem zum Fortſchritte der Himmelskunde faum minder
gut verwendeten, als e bei ber zuverfichtlichen Annahme
ber Wirklichkeit desſelben geſchehen wäre, wird anderer
feit3 betont, daß der übernatürlide Werth ber Unter:
werfung um jo höher geftiegen fei, daß die ſchönſten
Acte von Tugend, zugleid dargebradt von Gehorjam
und von chriſtlich erleuchteter Weisheit, von manchen
Gelehrten vor dem Altar des Geber8 aller Weisheit
mögen niedergelegt worden fein. Indem [obanm die
Frage aufgemorfen wird, marum bie allweiſe Vorfehung
den Irrthum der kirchlichen Tribunale in der Angelegen-
beit 8.8 zugelaffen habe, werben bie das innere Tugend»
leben der firde verftehenden Katholifen daran erinnert,
daß, wenn felbft aud) ein Stückchen menſchlichen Wiſſens
Bur Gatifeifrage. 451
duch den Spruch ber Tribunale für eine Reihe von
Jahren den Katholiken vorenthalten worden wäre, was
nah dem früher Erörterten mur in befchränftem Maße
wahr fei, bennod) biefer Nachtheil einem Nichts gleich
zuachten fei gegenüber ber wahren Aufgabe und ben
wahren Gütern des Menſchengeſchlechtes; daß das Ziel
der Welt, Gottes Verherrlihung, durch bemütfigen
Dienſt der Menfchen, und namentlich der burd) Bildung
ausgezeichneten, im Heiligthum ber Kirche beſſer unb
unmittelbarer erreicht werde, als burd) Erweiterung
wiſſenſchaftlicher Crfenntniffe, felbft auf einem fo erha⸗
benen Gebiete wie dem der Himmelslehre. Indem
weiter (€. 355) die Frage erhoben wird, ob nicht bie
Vorſehung, bie ebenfo gütig wie meife alles leite, '
teligiöfe Gefahren habe entfernen wollen, bie fid) bei
ber geiftigen Verfaffung jener Zeit mit einer rajden
und ungehinderten Verbreitung ber kopernikaniſchen Idee
immerhin verbinden Tönnten, folgt nicht bloß im allge-
meinen eine bejahende Antwort, fondern e8 wird noch
befonder8 betont, daß, fobald man annehme, daß bei
einem ylógliden Hereintreten der neuen phyſiſchen Welt
anſchauung in weiten Kreifen Bedenken gegen bie alte
religiöfe Weltanfhauung getvedt werben konnten, bie
Wohlthat") zu erkennen fei, welche bie gnädige Fü—
gung der Sorfefung?) mit ber Zulaſſung einer
langjameren und allmähligen Verbreitung ber neuen
Himmelslehre zu verbinden gewußt habe. Dabei wird
zwar nicht verfannt, daß bie Verurtheilung G.'8 ibrer-
ſeits vielen Schwachen einen Anftoß im Glauben dar—
1) Bon bem Berfaffer biefer Abhandlung unterftrichen,
452 gunt,
biete. Aber bieje8 Moment [εἰ nicht allzu Dod anzu:
félagen. Denn wahrſcheinlich werde biejer Nacıtheil
vor bem allwiffenden Blicke Gottes weitaus aufgetoogen
burd) bie Hinwegräumung bes religiöfen Anftoßes ou
ber neuen Auffaflung bet Erde für uod) viel zahlreichere
andere Schwache. Die güttlid)e Vorſehung fei ja über:
haupt nichts Anderes als bie liebevolle Thätigkeit einer
Güte und Weisheit ohne Grenzen gegen die Schäben
der Schwachheit des menſchlichen Verftandes und uod
mehr be8 menſchlichen Willens. Zuletzt ergeht (€. 356)
eine Mahnung an diejenigen, melde immer uod zu
drängen unb Sprüde in ihrem Sinne herbeizuführen
geneigt wären, fid burd) bem Galileifall erinnern zu
* zu laſſen, daß Langfamfeit das allein Richtige und
einem nicht mit Unfehlbarfeit ausgerüfteten Tribunal
unerläßlich fei, um bei Entſcheidungen in foldjen Fragen
eine beruhigende Garantie bargubieten.
Was Treffliches in biejer Ausführung enthalten
ift, foll nicht verfannt werben. Aber im ganzen bürfte
ber Eifer doch beträchtlich über die richtige Linie hinaus—
geführt haben, und ich zweifle, ob die Apologie ihren
Zweck erreichen wird. Die Zuverfiht, bie ba und dort
bervortritt, ſcheint bei Grifar felbft feine ganz fefte ges
weſen zu fein. Während er am der zuerft angeführten
Stelle einfach die Gefahren betont, bie bem Glauben
. ber Schwachen gebroht haben jollen, berüdfichtigt er
fpäter auch die Kehrfeite, und indem er bie beiden Ge.
ſichtspunkte gegenfeitig abmiegt, begnügt er fij, bas
Ueberwiegen des erfteren als ein wahrſcheinliches zu
bezeichnen. Ich faun indefjen auch fo uod) wicht zuftimmen.
Meines Erachtens verhält fid) bie Sache vielmehr umgefehrt.
Zur Galtleifrage. 408
Denn wir die Schwachen, in berem Intereſſe die
unglückliche Entſcheidung erfolgt fein fol, näher ins
Auge faſſen, fo werben toit fie zumeift als Leute zu denken
haben, bie über bie neue Lehre feit eigenes Urtheil fid)
zu bilden in der Lage waren, [εἰ e$ über ihre matur:
wiſſenſchaftliche Richtigkeit, [εἰ es über ihre biblije Zu=
lüfigfeit, ei e8 über beides zumal, jomit al8 Leute, bje
durchaus an die Auctorität gewieſen waren. Iſt bem fo, fo
ift nit einzufehen, warum die Duldung ber fopernifanijdjen
Sere befondere Gefahr hätte bringen können. Für diefe
Leute war einfach bie Auctorität maßgebend, und biefe be⸗
fand ebenjo zu Recht, ob man bie neue Lehre als [τί
widrig verwarf ober als inbifferent für das Schriftwort hin⸗
geben ließ. Vieleicht will man zu diefen Schwachen aud)
mod) Theologen zählen, bie mit ungebührlicher Zähigkeit
an der alten Anſchauung fefthielten. Ich habe nicht viel
dagegen einzuwenden. Nur gebe id) zu bebenfem, baf
man von ihnen als Theologen eher eine Unterwerfung
unter bie Auctorität zu fordern berechtigt mar und dieſes
um jo mehr, da das Opfer, das fie zu bringen hatten,
im Verhaltniß zu bem Opfer der Gegenpartei ein winzig
Tleine8 war. Von ihnen wurde ja nicht bie Annahme,
fondern mur Duldung ber neuen Lehre verlangt, und
wenn man das erwägt, wird man für fie faum befon-
dere 9tüdfidten in Anſpruch nehmen wollen. Nicht jo
flanb es bei Kopernifanern. Sie hatten, mögen ihre
Gründe etwas mehr oder weniger Gewicht gehabt ha=
ben, immerhin bie wiffenjhaftlihe Überzeugung ?), daß
1) Grijar unterfhägte bieje Überzeugung €. 81 f. Daß ed
damals für bie neue Lehre noch feime bolle Demonftration ober
noch nicht förmlich zwingende Beweiſe gab, ift nicht zu fer zu be»
The, uaaliquit. 1889. Heft III. 30
464 gunt,
die neue Lehre die ridtige fei; fie waren ebenjo über-
zeugt, daß bie Hl. Schrift, richtig verſtanden, keine Syn.
ftong gegen biejelbe bilde. ©. hatte das zur Genüge
hewieſen. Griſar zollt den bezüglihen Auseinander:
jegungen felbft bie gebührende Anertennung, indem er
©. 261 ſchreibt, die Gebanfen G.'s über die flreitigen
Schriftſtellen haben zum Theil bleibenden Werth. Die
Unterwerfung unter das Inderdecret mußte aljo für
diefe „Schwachen“ doppelt ſchwer fein, und thatſächlich
Tam fie, wie bie Geſchichte zeigt, volftändig nie zu Stande.
Das Benehmen G.'8 mar, unter biejem Geſichtspunlt
betrachtet, Heuchelei, und der Widerſpruch zwifchen innerer
Gefinnung und äußerem Verhalten, ber ſchon bei ihm
vorliegt, ift mehr ober weniger bei den meiften Freunden
der neuen Weltanfhauung in jewer unb der nächſten
Zeit anzutreffen. Oder ifi, um nur zwei Beiſpiele zu
nennen, nad) dem, was Grifar €. 166 vom ihnen om
führt, bei bem Parifer Aſtronomen Auzout und bei bem
poluiſchen Mathematiker Kochansky anzunehmen, baf fie bie
Entſcheidung der römiſchen Tribunale mur halbmegs für
wahr uud begrüubet hielten? Diefes Moment hat aber in
unfeser Frage ein ganz anderes Gericht als das enigegenge-
feste. Es laͤßt Rd) zubem mit Sicherheit nachtweifen, während
towen. Sonſt wäre ja bie Verurtheilung derſelben gang unbegreij⸗
τῷ. Daß aber ihre Adepten aud) ſchon damals und namentlich
in Folge δες Gnibedungen G.'8 ihrer Sache fid) ziemlich fidjer fühlten,
iftunbefiteitbar. Wenn G. aud) einmal (Berti, Copernico 1876 p.
190) fagt, bo neue Syſtem Tönme wahr fein, fo zeigk ber Bw
fammenfang deutlich, baf er εὖ keineswegs bloß al möglich er⸗
mweife wahr anjab. Indem er zugleich bemerkt, daß das alte
nic t wahr fen konne, gibt ex zu verſtehen, daß baà neue gewiſſer⸗
majen wahr fein πὶ ἃ {{ εν
᾿ Bur Gallieifrage. 455
jenes im ganzen bloß auf Gonjectur beruht. Und wenn man
dem fraglichen Mißftand gegenüber je ben übernatürlichen
Werth ber gehorfamen Unterwerfung von einzelnen Ge⸗
lehrten betonen wollte, fo ἐξ zu bemerken, bag damit
an ber Sache im mefentlichen nichts geändert wird.
Der Gehorfam konnte geübt werden, ob bie Entſcheidung
fo oder anders ausfiel. Es handelte fid) bloß barum,
auf meldet Seite er geübt werden follte.
Dürfte hienach bie Rechtfertigung des Inderdecretes
mit dem Hinweis auf die nothwendige Berückſichtiguug
der Schwachen ſchwerlich zu begründen fein, fo ift ble
Rolle, die der göttlichen Vorſehung in ber Angelegenheit
zugewieſen wird, nod) weniger glüdlid). Wenn bie Vor-
fehung fo nahe am der Sache betheiligt war, als Griſar
ansimmt, und wenn bie Welt im Anfang des 17. Jahr⸗
hundert für bie neue Lehre nod) nicht bie erforderliche
Reife befaß, obwohl von einem plógliden Qerein-
treten berjelben für jene eit ſchwerlich im Ernſte die
Rede fein Tann, jo bürfte e8 Gottes bod) wohl würdiger
geweſen fein, bie kopernikaniſche Lehre felbft bis zur
geeigneten eit hintanzuhalten, als die höchſten kirchlichen
Behörden einen fo bebeutjamen Fehler machen zu laflen.
Die Sache dürfte fo Har fein, daß eine weitere Auseinan-
derfegung wohl unterbleiben darf. Nur ein paar Worte
mögen nod) beigefügt werden. Dffenbart fid) Gott aud)
in bet Geſchichte, fo ift fein Walten in der Geſchichte
bod) zugleich ein Geheimniß, unb wir Menſchen verſuchen
e8 nicht ungeftraft, zu weit im biejes Geheimniß einzu=
bringen. Wir müffen und gumeift mit einem fehr be=
ſcheidenen Maß von Wiflen oder Ahnen begnügen. In
allen Fällen aber dürfte es angezeigt fein, bei Erklaͤrung
30*
456 Funk, Bur Galileifrage.
der menjdliden Irrungen und geibenjdjaften bie Bor:
ſehung moglichſt bei Seite zu Laffen, teil wir fonft zu
leicht Gefahr laufen, auf Ab⸗ und Irrwege zu gerathen.
Syene Vorkommniſſe in ber Geſchichte ſehen wir im oll
meinen beffer al8 Producte be8 Factors an, bet mit der
Vorſehung bie Gejdjid)te wirkt, des Menſchen mit feiner
beſchrankten Grfenntni und feinen Seibenjdjaftem. Oder
wie wollen wir ben Antheil der Vorfehung an bem Pon-
tificate eines Alexander VI, abgefehen von beffem bloßer
Bulaffung, näher beftimmen? Und würde fid) Grifar
nicht mit 9tedjt dagegen erklären, wenn man ber Bor:
fehung eine fo enge Betheiligung am ber Aufhebung
ber Geſellſchaft Jeſu zuſchreiben würde, als er fie be
aüglid ber Entſcheidungen ber Gongtegationem der ju
quifition und be8 Inder über bie fopermifanijd)e Lehre
annimmt?
3
Weber die Geſchichtsſchreibung Bonitho's von Sutri.
Bon Dr. Wilh. Martens,
Regeus o, D. in Dion bei Danzig.
In bem 1844 erjdjienenen Bande bet Pertz'ſchen
Monumenta historica Germanise werben unter ber
Stubrif: Annales majores, Chronica generalia mehrere
deutfche Scriptores vorgeführt, welche fid) über bie 9te-
gierungszeit Kaifer Heinrich's IV. vezbreiten'unb zugleich
das SBontificat Gregor'8 VIL mehr ober minder be-
rüdfichtigen. Die wichtigſten berjelben find Lambert
von Hersfeld, Berthold, Bernold und Bruno, ber Ver:
fafler des liber de bello Saxonico. Der Erftgenannte,
welchen man früher grundlos Lambert von Aſchaffenburg
zu nennen pflegte, fomunt in feinen Annalen nicht über
den Anfang des Jahrs 1077 hinaus. Berthold ſchließt
mit 1080, Bruno mit 1081, wogegen fBernofb'8 Chro-
nicon bis zum Jahre 1100 reiht. Gemeinfam ift diefen
Männern die Gegnerſchaft gegen Heinrich IV.: im tlebrigen
befteben zwiſchen ihren Anſchauungen mande Differenzen.
Lambert, welcher Gregor fhägt und ben König mit
lebaftem Haſſe verfolgt, tritt bod) vorzugsweiſe als
458 Martens,
Anwalt ber reichsfürſtlichen Oppofition gegen Heinrich
auf. Sein eigentlicher Hauptzweck iR, nachzuweiſen,
daß die Fürften in den damaligen Wirren nicht anders
bandeln fonnten, als fie handelten. Berthold und Ber:
nold gehören in bie Kategorie ber ſchwäbiſchen Rudolfianer.
Sie find glüdlih darüber, daß Rudolf von Rheinfelden
zur Königswürde gelangte, und laſſen e8 fid) angelegen
fein, den frühern Herzog im ſchönſten Lichte barguftellen.
Bruno endlich ift, wenn ich fo fagen darf, der ſächſiſche
Barticularift vom reinften Wafler. Wenn c8 nad) ihm
gegangen wäre, hätte ein eingeborner Sachſe al8 Gegen:
fónig aufgeftellt werden müffen. Für Bruno ift Rudolf
Taum mehr als ein Nothbehelf, ein Lüdenbüßer: an
einer Stelle feines liber gieft der mißvergnügte Ber:
fafler über bem neuen König boshafte Ironie aus. Der
amgedeutete Standpunkt macht fid) aud bem Papſte
gegenüber geltend. Gregor ἐξ milllommen, fofern er
den Abfall von Heinrich herbeiführt ober befördert:
ſcheinen jebod) die päpftlichen Maßregeln bem ſächſiſchen
Particularintereſſe eutgegemgutreten, fo wird bie ſchonungs⸗
Iofefte Kritik geübt und der Ditterfte Tadel ausgefprodhen.
Der hiſtoriſche Werth ber angeführten vier Schrift:
ſteller ift ſehr verſchieden tariet worden. Dem verbienf-
vollen Harald Stengel, meldet in den Jahren 1827
und 28 die Geſchichte Deutihlands unter den fränkiſchen
Kaifern veröffentlichte, galt Lambert al8 ein Maun,
deſſen Unparteilichkeit faft einzig in feiner Art je. Etwa
25 Jahre fpäter erhob Leopold von Staufe, wenngleich
mit unverfenubarer Burücdhaltung, gegen mehrere An-
gaben Lambert's ſchwere Bedenken. Ju der Gegenwart
endlich fehlt es nicht am ſolchen, welche fid) mit Hans
Geſchichtsſchreibung Bonitho's von Sutri. 450
Delbrüd von Lambert als einem hämiſchen und vet-
flodten Lügner unmwilig abwenden.
Ueber den Verfafler des Sachſenkrieges hat fid) das
Urtheil ziemlich einhellig zu deſſen Ungunften entjdjieben.
„Wenn Bruno“, fagt Wattenbach (Deutſchlunds Geſchichts⸗
quellen im Mittelalter 4. X. II, 71), „überhaupt Wahr:
baftigleit bejag, fo ift er völlig werblendet butd) bie Sei-
benjdjaft ber politijden Parteiung: man hat. in Bezug
auf ihn zu wählen gtotjdjen bem Vorwurf beivußter Lüge
ober grenzenlofer Leithigläubigfeit.”
Berthold und Bernold erfreuen fid) im Großen und
Ganzen bei den Hiftorifern eines guten Rufes, mad)
meiner Auſicht durchaus mit Unrecht, Auch fie haben,
wenn e3 galt, ihren Helden Rudolf zu verherrlichen ober
in Schutz zu nehmen, weber SBerbteungen mod Un—
wahrheiten geſpart.
Unter ben Italienern des 11. Jahrhunderts, welche
bie Conflicte zwiſchen Heinrich IV. und Gregor VII.
literariſch behandelten, verdient aus mehr als einem
Grunde der Biſchof Bonitho oder Bonizo von Sutri
Beachtung, welchen ich im Folgenden genauer ins Auge
faſſen will.
Ueber Bonitho's Leben wiſſen wir mir ſehr wenig
Sicheres. Zwiſchen 1040—50 dürfte er in Dbetitalien
und zwar im Gebiet des Erzbisthums Mailand. geboren
fein. Ms Mberhirt von Sutri begegnet er und 1078
auf einem Römiſchen Concil. Während Heinrih Rom
belagerte, vertrieben beffeu Auhänger ben als entſchiedenen
Gregorianer hinlänglich befannten Biſchof ans feinem
Sprengel. Später an die Spige der Didcefe Piacenza
berufen, vermochte er fid) itt derſelben nicht zu behaupten:
460. Martens,
die Gegenpartei vubte nicht eher, bis fie ben arg Ge
mißhandelten zum Weichen gebracht hatte. — Ceitbem
war Bonitho genöthigt, ein unftüte8, an Entbehrungen
reiches Leben zu führen. Er ftarb wahrſcheinlich um
das Jahr 1090.
Bon den Schriften des Biſchofs ift zumächft bet
nidt auf und gefommene liber ad Hugonem Schisma-
ticum zu erwähnen. In bemjelben wird ber Gatbimal
Hugo Ganbibus befümpft, ein febr unzuverläffiger und
unbeftändiger Prälat, welcher 1073 die Erhebung Hilde
brand's auf ben päpftlichen Stuhl mit brennendem Eifer
betrieb, aber jdm nad) wenigen Jahren einer der bit-
terften und unverföhnlichften Feinde des Papftes wurde.
Sodann ſchrieb Bonitho ein größeres Werk über
das canonifche Recht in 10 Büchern. Ein vollftändiger
Abdrud fehlt bis jet: jedoch bat ber Gatbinal Mai
im 7. Bande feiner Nova Bibliotheca Patrum 1854 einige
Excerpte mitgetheil. Während eine Handſchrift »de
vita christiana« überfchrieben ift, entbehren bie anderen
jeder genaueren Bezeichnung. Am rictigften ſcheint es,
mit Mat das Werk »Decretum« zu nennen, ba biejer
Titel im 11. unb 12, Jahrhundert für Bücher allgemeinen
kirchenrechtlichen Inhalts gebräuchlich mar.
Die literarifche Leiftung unferes Autors, welche jebt
genauer betrachtet werden fol, führt bie ziemlich un:
beftimmte Ueberſchrift: »liber ad amicum.« Mer
ber angeredete Freund ift, wiffem wir nicht. Mande
haben an bie Markgräfin Mathilde in Tuscien gebadjt,
deren Gaſtfreundſchaft Bonitho einige Zeit genoffen hatte.
Diefe Annahme ift inbeffen wohl nicht haltbar, weil ber
Autor am Schluffe von ber Gräfin wie von einer dritten
Geſchichtsſchreibung Bonitho's von Sutri. 461
Perſon ſpricht und deren Tugenden den Leſern dringend
zur Nachahmung empfiehlt.
Die neueſte und werthvollſte Ausgabe des liber ad
amicum verdanken wir Philipp Jaffs: diefelbe ift dem
1865 erjdjienenen 2. Theil ber Bibliotheca Rerum Ger-
manicarum einverleibt unb bildet bort einen Beftand-
theil der Monumenta Gregoriana. Ich citire mad) ben
Seitengablen diefer Edition.
Bonitho's Werk, welches in 9 Bücher von um-
gleichem Umfange zerfällt, beginnt mit der Notiz, daß
der Freund von bem Verfaſſer die Beantwortung zweier
Fragen erbeten habe: 1) Quaeris a me, quid est, quod
hae tempestate mater ecclesia premitur. 2) Est et
aliud, unde a me petis auctoritatem, si licuit vel licet
christiano pro dogmate armis certare (6. 608).
Während bet am zweiter Stelle bezeichnete Gegen:
fand am Ende des 9. Buches ziemlich kurz und dürftig
behandelt wird, widmet Bonitho der Beleuchtung ber
exften Frage feine volle Theilnahme und bingebende
Sorgfalt. Er ftellt folgenden Sat an bie Spige: »Ma-
ter ecclesia tum maxime liberatur, cum premitur, tum
maxime crescit, dum minuitur«: und liefert banm zur
Erläuterung eine Skizze, in welcher bie Kirchengeſchichte
in ihren wictigften Berührungspunften mit ber Brofange-
ſchichte von ben Alteften Zeiten bis pm Tode Gregor's VII.
(1085) dargeftellt wird.
Gonftantin, der erfte Hriftliche Kaifer, ift, tole das 2.
Bud) (€. 606) nad) der im Mittelalter herrſchenden Trabi-
tion angibt, von bem Papft Silvefter I getauft und gekrönt
worden: er empfängt uneingefchränftes Lob. Um fo
ungünftiger wird im meiteren Verlauf (Θ. 613) die
462 Martens,
longobardiſche Decupation von 568 beurtheilt: bie »ra-
bies Longobardica« habe »calamitates calamitstum«
und »miserias miseriarum« über Jtalien gebradjt. Im
3. Buche erhalten wir Mittheilungen von ber Zeit Karla
des Großen bis zum Tode be$ Papftes Nicolaus I.
Ohne Bermittelung und Uebergang erſcheint im Anfange
des vierten Buches wie ein deus ex machina Dito I:
»Ungarorum bacchante saevitia surrexit quidam Saxo-
num et Francorum rex, nomine Otto« (€. 619): fortan
wird in ben nádjften Abtheilungen ben römiſchen Kaifern
deutſcher Nation eine befondere Aufmerkſamkeit gewidmet.
Für bie Kritit bieten bie bis zum Jahre 1078
geführten Angaben unferes Autors reichlichen Stoff:
id beſchränkte mid) jebod) hier darauf, ein Unicum Der:
vorzuheben.
Es klingt unglaublich, aber es iſt wahr: Bonitho
verſichert am zwei Stellen (im 3. Bude €. 614 und
im δ, Buche S. 630) mit allem Nachdrude, daß Karl
dem Großen die Kaiſerwürde nicht zu Theil geworben
iei! Vielmehr wird Ludwig ber Fromme als erfter
Kaiſer aus der Dynaftie ber alten frünfijden Könige
proclamirt. Erſcheint e8 unbegreiflich, wie ber Biſchof
von Sutri ſo etwas behaupten konnte, ſo läßt es ſich
bod) kaum leichter erklären, daß es Gelehrte gegeben
hat und nod) gibt, welche rückſichtlich der gedachten
Behauptung bei Bonitho bona fides annehmen uub fij
im Schweiße ihres 9ingefidjt8 abmühen, e8 plaufibel
zu maden, wie ber arglofe Autor in einen ſolchen,
allerdings craffen , Irrthum“ verfallen fei.
In den „Forſchungen zur deutſchen Gejdidte"
(85. 8. €. 397—464) hat Hugo €aur einen Auflag:
Geſchichtsſchreibung Bonttho’3 bon Sutri. 408
„Studien über Vonizo“ veröffentlicht: bier finden wir
€. 448 ff. einen wirklich originellen Verſuch, bie Ehre
des italienifchen Geſchichtsſchreibers zu retten. Saur
orgumentirt in folgender Art:
„Bonitho hatte den Theil be8 liber pontificalis,
welcher von bem Papſt Habrian I handelt, gut Verfü—
gung unb fonnte aus bemfelben erfahren, daß Karl ber
Große bie Stellung eines römiſchen Patriciers befleibet
fatte. Dagegen wird ihm die Biographie des folgenden
Papſtes Leo's IH, in meldjer die Kaiferfrönung Karl's
gut Sprache fommt, nicht gugänglich gewejen fein. Ergo:
Bonitho Tonnte nicht wiffen, baB Karl Kaifer geworben.“
Quod erat demonstrandum!
Auffallender Weife hat felbft ein fo befonnener und
forgfältiger Forſcher wie Grnft Steinborff in Göttingen
fi) burd) bie ſchwache Argumentation Saur's irre führen
laffem. Steindorff (Jahrbücher des deutſchen Reichs
unter Heinrich III, 1874 und 1881) will bei Bonitho
nur Untcitif, abftrufe Anficht, wunderliche Verirrung“ er⸗
bliden (8. 16.457 ff., 8. II €. 476): denn e8 [εἰ ja nicht
eriwiefen, daß unfer Autor die Vita Leonis ΠῚ benugt habe.
ΜΠ ob auf biefen Umftand irgend etwas anfomme!
IH frage: war das gebadjte Buch, welches ja
mögliherweile bem Biſchofe fremd geblieben fein Tann,
für ipu das einzige Medium, um den epodjemadjerben
Act des Jahres 800 zu erfahren? Sollte die Thatſache
ber Katferkrönung, welche in den Briefen Gregor's VII,
in den Werken des Garbinal SDeusbebit und anderer
Beitgenoffen wiederholt Berüdfihtigung findet, gerade
ihm unbefannt geblieben fein? Iſt e8 benfbar, daß ein
Mann, welchem fo viele minder wichtige Data ber
464 Martens,
Kirchen: und Profan: Geſchichte geläufig waren, etwas
nicht gewußt habe, mas bereit8 damals fo zu fagen
jedes Kind mußte? Nein, und abermals: nein! Das
unbeſtechliche natürliche Gefühl hält daran feft, bof
jene unqualificirbare Behauptung eine auf bie Zi
{hung Anderer beredjnete bewußte Lüge ift. Bonitho
felbft würde über bie zu feinen Gunften erjonnenen
ſubtilen Zucubrationen fpotten: denn eine andere Stelle
des 3. Buches beweist, daß ber Verfaffer über das
Kaiſerthum Karl's allerdings Dinteidjenb orientirt ift.
€x führt (&. 615) einige Gefege aus bem Anfange
des 9. Jahrhunderts an und fenmjeidmet biefelben als
edicta Karoli et Ludoviei imperatorum: aud
ſpricht er von einer constitutio Karoli imperatoris!
Die erklären fid) derartige horrende Widerſprüche? Ent-
meber war bem Auctor entfallen, daß er Karl's Kaiſer⸗
tum negirt hatte, ober er fpeculirte bei feinen Leſern
auf ein toabre8 llebermaf von Gebantenlofigfeit und
Naivetät. Hätten Saur und Gteindorff den liber ad
amicum gründlicher ftubirt, fo würden fie nicht auf bie
unglückliche Idee gekommen fein, bie Unſchuld desjenigen
beweiſen zu wollen, welcher burd) unjmeibeutige8 Ge
ftändniß feine Schuld befannt Dat.
Was mag denn aber ben SBijdjof von Sutri bewogen
baben, fid) eine fo unerhörte Behauptung zu geftatten?
Welche Tendenz leitete ihn? Man darf von vorneherein
vermuthen, daß e3 fid) nit um eine Kleinigkeit, fondern
um eine redjt wichtige Materie gehandelt haben wird.
IH faffe das Verhältniß folgendermaßen auf.
Als ächter Gregorianer verwarf Bonitho jede ftaat-
lide Einmifhung in bie Beſetzung kirchlicher 9lemter
Geſchichtsſchreibung Bonitho’3 von Cutri. 465
und bielt e8 namentlid) für abfolut nothwendig, daß bie
fBüpfte vom römifchen Clerus und Volke ohne Goncurrenz
eine weltlichen Fürften frei gewählt würden. Freilich
war das Princip der freien Papſtwahl im Laufe ber
Seit vielfach angetaftet worden: hatte fid) bod) gerade
im 11. Jahrhundert ber faijerlide Einfluß zu einer
förmlichen und direkten Beſetzung bes päpftlihen Stuhles
gefteigert. Dem gegenüber wollte unfer Verfaſſer nad
weifen, daß bie faijer niemals ein eigentliche Recht,
über den päpftlichen Stuhl zu verfügen, befeffen hätten,
daß vielmehr Alles, was in jener Richtung geſchehen fei,
nur den Charakter einer Ufurpation an fid) trage.
SBefanntlid) hatte Heinrich III, geftügt auf feine
äußere Stadt und feinen energifhen Willen in die
tómijden Verhältniffe emt[d)eibenb eingegriffen: er lie
fid nad) ber Synode von Sutri den römiſchen Patriciat
übertragen, eine Stellung, welche, nebenbei bemerkt,
von dem Patriciate Pippin's und Karls des Großen
weſentlich verſchieden iſt. Bonitho bedauert aufs Tieffte,
baB Heinrich III, ben er fonft als vir sapientissimus
und totus christianissimus rühmt (S. 625), ben Pa-
triciat angenommen habe: »Quid namque est, quod
mentem tanti viri ad tantum traxit delictum, nisi
quod crederet, per patriciatus ordinem se Romanum
posse ordinare pontificem ?« (&. 630).
Um nun gegen bie faljóe Anfhauung, daß über:
haupt ein Laie, und wäre e8 felbft der mächtigfte Fürſt,
beu päpftlihen Stuhl bejegen könne, eine wirkſame
Waffe zu gewinnen, enttoidelt Bonitho Folgendes. Der
erſte abenblünbijde Kaifer aus bem Stamme Pippin’s
dat fid niemals bie Befugniß beigelegt, einen Papſi
466 Martens,
einzufegen; baber find denn auch bie Nachfolger ver-
pflichtet, die Freiheit der Papſtwahl genau zu refpectiren.
Wie heißt der erfte Kaifer? »Carolo mortuo Ludovicus
ei successit, ejus filius, vir mitissimus, qui primus
omnium Francorum regum imperiali sublimatus est
dignitate« (S. 614). Diefer Ludivig, mit welchem aljo
bie Kaiſerr eihe beginnen fol, gab nad) Bonitho ein
Geſetz, to eldje8. die Römer ermädtigte, bie Papftwahlen
in aller Freiheit zu vollziehen (€. 614, 615). Hiebei
find allerdings zwei Punkte zu beachten. Das Gefeh,
welches und als ein Werk Ludwig's bezeichnet wird,
rührt von Lothar I ber und hat außerdem unter Boni:
tho's Händen eine mit bem Driginal nicht harmonirende
Faſſung erhalten. Das thut inbeffen nichts zur Cade.
Seinen Hauptzwed hat Bonitho erreicht: e8 war bem
erften ber betreffenden Kaifer eine Beſtimmung in den
Mund gelegt worden, welde für alle Nachfolger, ind-
befondere aud) für Heinrich III maßgebend: fein follte.
Wie aber, menn gegen bie wohlüberlegten Ausfüh:
rungen folgender Einwand erhoben würde: „Karl bet
Große war bod) Patricius Romanorum, mithin durfte
auch Heinrich IIE den $patriciat ausuben“? Der
umſichtige Autor Kit fid. indeſſen durch einen folden
Einwand nicht aus: ber Fafſung bringen, ſondern verweist
ben Opponenten zur Ruhe: „Karl mar allerdings τῦε
miſcher Patricier, aber ber Patriciat, melden er in
Unterordnung unter ben gleichzeitigen byzantiniſchen Lai⸗
Ter beflsivete, hatte mrt bie Bedeutung eines Protectorats
ohne meitere Rechte. Zu Guuſien Kaifer. Heinrich's 1H
folgt aus ber Thatſache, daß Karl Patricius mar, nicht
das Mindeſte. Denn. Heinrich war Kaifer, Karl aber
Geſchichtsſchreibung Bonijo'S von Sutri. 407
war nicht Kaiſer. Ludwig, ber erfe faijer aus ber
altfränkiſchen Dynaſtie hat gerade deshalb, weil ihm das
Raiferiuum zu Theil geworden, bem Patriciat als ein
fubalternes Officium verihmäht. War ber erfte Kaiſer
nicht Patricius, fo durften aud) feine Nachfolger fid) den
Batrieiat nicht beilegen.“
Damit dürfte die Tendenz Vonitho s blosgelegt
fein. Er leugnet das Kaiſerthum Karl's aus zwei Grün:
den, erſtens deshalb, weil er das gedachte Gefet über
bie freie Papſtwahl auf Karl nicht zurüdführen Tann,
tefpective nicht zurüdführen will; zweitens weil er nicht
zugeftehen mag, daß ber erſte Kaiſer zugleich Patricius
gewejen.
Ich laffe jegt den Wortlaut ber ung ümtereffirenben
Stelle aus bem 5. Bude (€. 629, 630) folgen:
»Heinricus (III) tyrannidem patrieiatus sibi arri-
puit, quasi aliqua esset in laicali ordine dignitas
constituta, quae privilegii possideret plus imperatoria
majestate. — Non licuit alicmi imperatori summa
tenenti in electione se alicajus Romani pontificis in-
serere; licebit homini sub potestate constituto? Sed
dicent: Legimus et magnum Karolum patriciatus
nomine designatum. Quodsi legerunt, quare non in-
tellexerunt? Temporibus enim magni Karoli Com
stantinus et Irene Romanum gubernabant imperium:
et ideo excellentissimo regi Francorum quid amplius
his temporibus conferri potuit, quam patrem Romae
urbis vel protectorem vocitari? Sie enim legitur:
Karolus rex Francorum et Patrieius Romanorum.
Nunquam enim eum imperiali legimus auctum fuisse
polesiate. Sed post ejus obitum Ludovicus ejus filius
468 Martens,
primus omnium regum a Romanorum 'sanguine extra-
neorum imperialem meruit benedictionem ; et ideo,
qui habuit summa (ba8 ftaijertjum), non quaesivit
infima (ben Patriciat).«
Die 3 legten Abtheilungen be8 liber ad amicum
beſchäftigen fid) mit bem hochwichtigen Pontificate Gre:
gor8 VII, für welches biejer je[bft ber befte und guber
Täffigfte Zeuge ift. Wenn aud) nicht geleugnet merben
darf, daß Gregor fid) einigemale zu parteiiſchen Ueber:
treibungen und Verſchränkungen bat hinreißen laſſen,
und wenn aud) bei einigen feiner geſchichtlichen Angaben
über die Vergangenheit ber SBerbadjt rege mird,
daß er fid) Manches für feine Zwecke zurechtgelegt habe,
fo halte ἰῷ e8 bod) für unzweifelhaft, ba er im Bezug
auf feine eigenen Erlebniffe tmeber in amtlichen
Documenten nod) in vertraulichen Briefen eine pofitive
Unwahrheit vorgebracht hat: und das mill für jene Zeit,
welche fo ftarf vom Lügengeifte angeftef]em war, [dou
etwas heißen. Gregor tar abgefehen von der gerüg-
ten Schwäche eim fittlih bochitehender Mann: ruft
er Gott zum Zeugen an, fo muß feiner Ausfage der
vollfte Glaube geldjenft werben. Weberhaupt làft fij
für bie Gejdjidjte ber Jahre 1073—1085 mur dann ein
fefter Boden gewinnen, wenn wir nad) Gregor's Mit
theilungen bie vielgeftaltigen Lügen ber Parteimänner,
insbefondere aud) der Rudolfianer berichtigen.
Leider hat Heinrich IV felbft e8 nicht verfcämäht,
Tönigliche Erlaſſe durch unwahre und verwerfliche Aeuße⸗
tungen zu verunftalten. In den Documenten, welde auf
ber gegen ben Papft gerichteten Wormjer Berfammlung
Geſchichtsſchreibung Bonitfo's von Sutri. 469
em Januar 1076 abgefaBt wurden (j. Mon. Germ.
Leges II €. 45 ff.), brachten Heinrich unb bie mit ihm
vereinigten deutſchen Biſchöfe die albernften Dinge vor,
von deren Ungrund fie überzeugt fein mußten: 4. B.
Gregor habe fid) duch Lift, Beſtechung und Gewalt den
Bugang zum päpftlichen Thron gebahnt, er führe mit
BVeibern einen anftößigen Lebenswandel und laſſe fi
in feiner geiftlichen Verwaltung von meibfidem Einfluffe
beberrfchen: »generalis querela ubique personuit, om-
nia judicia, omnia decreta per feminas in apostolica
sede actitari, denique per hunc feminarum novum se-
natum totum orbem ecclesise administrari« u. dgl, mehr.
Unter den italienifchen Biſchöfen, melde auf Seite
Heinrich's fanden, war wohl feiner für den König fo
eingenommen, als Benzo von Alba. Benzo zeigte in
feinem ſchwülſtigen Panegyricus (ad Heinricum IV
Imperatorem libri septem, f. Mon. Germ. Seript. XI
€. 591 ἢ), daß er, ähnlich wie Bonitho, eine recht
anſehnliche Fertigkeit im Lügen befaß. Im Webrigen
fällt aber ein Vergleich beider Männer zu Gunften unferes
Autors aus.
Während Bonitho feiner Verehrung für Gregor
einen würdigen Ausbrud gibt, verſchwendet Benzo an
Heinrich bie ungeheuerlichſten und widerlichſten Schmei-
Seleien. Der Biſchof von Sutri war uneigennügig, et
weigerte fid) nicht, für feine Weberzeugung Opfer zu bringen
und zu leiden. Wie ganz ander ber Biſchof von Alba!
Trog aller Schwärmerei für Heinrich läßt Benzo feinen
Aerger butd)bliden, daß ihm ber gebührende Lohn vor.
enthalten worden ſei. »Quis, rogo, imperatorum ita
durus, ut non dedisset tam bene scribenti aliquod
Se Quartalfärift: 1889. Heft ΠῚ. 81
470 Bartend,
munus? — Si nune pro Caesare subeo pericula mille
mortium, idem est, ac si semper tacuiesem (l.c. €
610, 611).
Befonders fällt Benzo auf durch bie Sucht, [ehe
Gegner mit geihmadlofen und ehrenrührigen 3Brübicaten
zu überſchütten. Die Normannen find ibm Rullimannt:
Papſt Aerander II wird als Afinauder oder Afinandrel-
lus eingeführt. Am ſchlimmſten fommt natürlich bet
verhaßte Gregor VII teg: ber hitzige Heinricianer
madt den früheren Eigennamen be8 Papftes gum Aus:
gangspunfte von Verzerrungen, wie 3. B. Folleprandus,
Prandellus und beihimpft feinen Gegner als »falsissimus
und diabolicus monachellus.«
Auch Bonitho fehont feine Feinde nit. Er über:
ſchreitet das Maß, wenn er bie Anhänger Heinrich's
»fili Beliale, den im Jahre 1080 eingejegten Gegen:
papft Clemens III (früher Erzbiſchof Wibert von Ra
venna) »bestia« nennt (6. 603, 684). Aber dergleichen
Exceffe find bod) nur felten: man darf immerhin feiner
Schreibweife, menigftens im Vergleich zu ber Benzo’s,
das Lob einer gewiflen Noblefje nicht verfagen.
Wenden wir unà jegt zu den auf Gregor VII be
züglichen Darlegungen Bonitho’s.
Den 22. April 1073 ſchildert Bonitho im Wefent-
lichen übereinftimmend mit bem, was wir aus Gregor's
eigenen Briefen erfahren. Es ftebt feft: man bat Qilbe-
brand gegen feinen Willen auf den Stuhl Petri erhoben
und die Wahlordnung von 1059 bei bem Acte nicht be
Dbadjtet. »Ortus est magnus tumultus populi et fremitus
et in me quasi vesani insurrexerunt, nil dicendi, nil con-
sulendi facultatis aut spatii relinquentes. Violentis mani-
Geſchichtsſchreibung Vonitho's von Sutri. 471
bus me in locum apostolici regiminis, σαὶ longe impar
sum, rapuerunt«: fo ſchreibt mit voller Rückhaltsloſigkeit
ber Betheiligte felbft (Gregorii VII Registr. I, 1, bei
Ja Mon. Greg. ©. 10).
Bon Heinrih IV befigen toit aus dem Sommer
1073 einen Brief, in welchem er bie Legimität ber €t»
bebuug vorausfegend, beu neuen Papſt fogar als »apo-
stolica dignitate co e litus insignitus« begrüßt (j. Greg.
Beg. I, 29a, €. 46). Erft fpäter, im Jahre 1076, als
bet Conflict ausgebrochen war, behaupteten die Anhänger
Heinrich’ 3, Gregor habe fid) gegen ben Willen des Königs
und mit Verlegung koniglicher Rechte eingebrängt, [εἰ
alſo kein rechtmäßiger Nachfolger des b. Petrus.
Um biefen Einwand aus der Welt zu fchaffen, et:
findet Bonitho eine recht draſtiſche Anechote, durch welche
fi) viele Hiſtoriker haben büpirem fafjem. Die Anecdote,
eine Specialität des liber ad amicum (f. €. 656, 657),
hat folgende Faſſung.
Die Papſtwahl ift vollendet. Gregor fühlt fid)
Aberaus unglüd(id) und hat feinen andern Wunſch, als
den, fid) ber ſchweren Bürde zu entlebigen. Da fäht
ihm ein, e8 fei bas SBefte, fid) an den König Heinrich
zu wenden. Gejagt, getban. Er macht brieflid eine
Kurze Mittheilung über ben Wahlact und Enüpft daran
eine Drohung, deren eigenthümliche Schärfe burd) eine
Überfegung nur verwiſcht werden würde: »interminatus,
si rex ejus electioni assensum praebuerit, nunquam
ejus nequitiam patienter portaturum.«
Der König empfängt bie Notification, und bat
fto der beigefügten Drohung nichts Ciligeve zu thun,
als einen Botſchafter nah Rom zu fenden, welcher ber
81"
472 Martens,
Eonfecration be8 Erwählten beiwohnen fol. So weit
Bonitho.
Fürwahr, eine wunderliche Erzählung! Iſt es
benfbar, daß ber junge, lebhafte und reizbare König
eine derartige Piovocation nicht nur mit Geduld ertragen,
fondern fogar freudig begrüßt haben follte? Was Gregor
angeht, fo befunden feine an dritte Perſonen gerichteten
Briefe aus jener Zeit, baB er bem Könige weber gedroht
πο nequitia vorgeworfen haben Tann: er fpridgt fij
über Heinrich nidjt nur mit Ehrerbietung,, fondern aud
mit unverfennbarem Wohlmollen aus, ohne zu verheblen,
daß er Tadelnswerthes au ihm finde.
Uebrigens Yäßt fid) leicht errathen, was Bonitho
mit feiner Anechote Degmedte. Das Publicum follte
ben Eindrud gewinnen, bag Gregor Alles gethan habe,
um ber Würde auszuweichen, und daß Heinrich, meit
entfernt, bie ibm dargebotene Gelegenheit zur Verwerfung
zu benugen, bem Wahlacte feine mohlüberlegte Zuftim:
mung ertheilt habe. Dabei ift aber dem gemandten
Erzähler ein arges Malheur paffirt: er wird nemlid,
ohne e8 zu wollen, zum Ankläger Gregor's! Bonitho
war, wie wir gelefem haben, ein unerſchütterlicher Aus
bhänger des Princips, daß bei bet Beſetzung be8 päpftlichen
Stuhles fein weltlicher Fürft mitzureben habe. Wenn
nun Gregor ben König zur Cafjation der Wahl anreizte,
fo erfannte er ipso facto an, daß derfelbe ein Recht habe,
über den päpftlichen Stuhl zu disponiren und machte fij
einer SBetleugmung des von Bonitho hochgehaltenen
Princips ſchuldig! Indefien hat Gregor einen derartigen
Vorwurf nit verdient. In ber gegen feinen Willen
erfolgten überrafhenden Acclamation des Römiſchen fle
Geſchichtsſchreibung Bonitho's von Sutri. 473
rus und Volles glaubte er eine geheimnißvolle Fügung
ber göttlichen Vorſehung zu erbliden, und jo nahm er
denn, um nicht durch unbegrünbete Ablehnung eine fitt-
lige Verantwortung auf fid) zu laden, wenn aud) gewiß
mit ſchwerem Herzen, bie Würde an. Dem entiprecdhend
übt er, mie feine Brieffammlung bezeugt, unmittelbar
nad) dem 22. April die höchſte oberhirtliche Jurisdiction
aus. Eine füniglide Veftätigung hat er jo wenig ver:
langt al8 er die Eventualität einer Verwerfung in Auſchlag
brachte.
Unter joldjen Umftänden bleiben aus ber Erzählung
de3 liber ad amicum nur zwei Momente als thatſächlich
übrig: die dem Könige getoibmete püpfilide Anzeige
und die Abfendung eines füniglidjen Botſchafters zum
Eonfecrationsacte. Das Andere gehört in das Reich ber
Fabeln.
(δ [εἰ mir geſtattet, der italieniſchen Anecdote das
Hiſtörchen eines deutſchen, bereits oben erwähnten Chro⸗
niften gegenüberzuſtellen. Während Bonitho den tümi-
ſchen Patriciat der beut[den Kaifer und Könige bet.
abſcheut, ift Lambert von Hersfeld ein warmer Freund
biefer Jnftitution. Lambert weiß recht gut, baß Heinrich
fid) bie vollendete Thatfahe von Hildebrand's Erhebung
gefallen ließ, aber er bedauert und mißbilligt, bie Paf-
fioität des Königs: deshalb ſchildert er das als geſchicht⸗
lid) vollzogen, was nad) feiner Ueberzeugung hätte ge—
ſchehen ſollen.
Heinrich (fo lautet bie Hiſtorie, f. Mon. Germ.
Seript. V. €. 194) wird von deutſchen Biſchöfen be.
ftürmt, daß er gegen die ohne fein Wiffen erfolgte römi-
ſche Action einfchreite: thue er das nicht, fo [εἰ e8 un:
474 Martens,
vermeiblih, baB ber neue Papft ihm viele Verlegen:
heiten bereiten werde. Das läßt fid) der König wicht
zweimal jagen. Er fenbet einen Botichafter ab, welcher
die Angelegenheit unterfuchen fol. Gregor empfängt
ben Gejandten zuvorfommend und fagt zu ihm: „Es i
für mid) felbft in hohem Maße empfindlih, daß man
mir die Würde, melde id) nicht erſtrebte, im fo unge:
orbneter Weife übertragen hat: um fo mehr bedarf id)
δε fónigliden Gonfenfes. Ehe id) von der Einwilligung
fidere Kunde gewinne, laſſe id) mid) nicht confecriven.“
Diefe Verfiherung befriedigt den König. Die Appro:
bation wird ertheilt, und e8 kommt Alles in bie befte
Drbmung. So Lambert.
Nachweislich hat Gregor die Biſchofsweihe im Juni
1073 empfangen. Lambert aber verlegt die Eonfecration
in ben Februar 1074. Da ein Irrthum biebei wicht
anzunehmen ift, jo wird man Lambert einer tendenziöfen
Unwahrheit beichuldigen müflen: der fpätere Termin
wurde gewählt, wm für bie fuppomirten meitläuftigen
Verhandlungen einen entiprechenden Zeitraum zu ge
winnen.
Nachdem das Berhältnig Gregor'8 zu Heinrich [εἰ
1073 mannigfade Phafen, bie wir bier nicht meter
verfolgen wollen, durchlaufen hatte, trat am Ende dei
Jahres 1075 eine jo bebenflihe Spannung zwiſchen
beiden hervor, daß ein erufter Conflict zu befürchten
war. Damals befhwerte fid) Gregor in einem Schreiben,
daß Heinrich mit Gebauwtem Umgang pflege, fid ber
Simonie ſchuldig gemacht und bas Erzbisthum Mailand
widerrechtlich befegt habe. Die Nuntien, welche ben Brief
überbraciten, hatten zugleich bie bebentjame Aufgabe, eine
Geſchichtsſchreibung Bonitho von Sutri. 475
mündliche Botſchaft auszurichten, deren authentifche Faſ⸗
fung wir aus einem fpäteren Briefe des Papſtes erfahren:
»Misimus ad regem ires religiosos viros, “τ per
quos eum secreto monuimus: ut poenitentiam ageret
de sceleribus suis — propter quae eum non excom-
munieari solum —, sed ab omni honore regni absque
spe recuperationis debere destitui, divinarum et hu-
manarum legum testatur et jubet auctoritae« (Mon.
Greg. ep. coll. 14 €. 538).
Der junge König gerieth in bie äußerfte Aufregung.
Sofort beſchied er im Januar 1076 mehrere deutſche
JBijjüfe zu fid) nad) Worms unb fprach mit ihnen bie
Abfegung Gregor's aus. Die damals in Worms ent.
worfenen Urkunden enthalten, wie vorhin augebeutet
wurde, eine Reihe der unbegründetften Invectiven gegen
den Papft, zugleich aber geben fie deutlich das Motiv
am, welches den König vorzugsweiſe bei feinem Schritte
geleitet hatte. Qeinrid) war indignirt darüber, daß bet
Papſt daran gebadit hatte, ihm feine Krone zu ent
sieben. Diefer Umftand ift, menn aud) nicht zur Ent-
féulbigung, bod) zur Erklärung des verhängnißvollen
Wormſer Actes gebührend in Anſchlag zu bringen.
Bonitho übt bieje Gerechtigkeit nicht. Ohne von
der wichtigen Botichaft be8 Papftes Notiz zu nehmen,
läßt et beu Wormſer Gonbent ganz unvermittelt in bie
Erfeinung treien, als ob Heinrich aus purem Ueber⸗
muthe, fiegeötrunfen wegen der in Sachfen errumgenen
Erfolge bie Gelegenheit vom Zaun gebrochen habe, um
beu Kampf mit bem Papfte zu beginnen. Das ift eine
bo8hafte Verdrehung be8 wahren Sachverhalts.
Gregor gab ſchon in dem folgenden Monate Februar
476 Bartens,
dem Könige eine verftänbliche Antwort. Auf der ri
mischen Faſtenſynode verhängte er den Bann, nachdem
er eine Sentenz verfünbigt hatte, wie fie bisher mod
von feinem Papfte verfündigt worden war:
»Heinrico regi, filio Heinriei imperatoris, totius
regni Teutonicorum et Italiae gubernacula contra-
dieo et omnes Christianos a vinculo juramenti, quod
Bibi fecerunt vel facient, absolvo, et, ut nullus ei sicut
regi serviat, interdico« (Reg. III, 10 S. 224).
Wir jehen, Gregor übt Stetorfion, er vergilt Gleiches
mit Gleijem. »Papa dedecus s. ecelesiae Romanse
illatum non est passus inultum«, fagt Bonitho (6. 667)
in richtiger Würdigung ber päpftlihen Intention. Merk:
würdiger Weife erwähnt er aber nur die Ercommuni-
catiom und übergeht bie Unterfagung ber Regierungs:
gewalt und die Cibesentbinbung mit Stillſchweigen. Ein
zwingender Grund für bieje Omiffion läßt fid nidt
auffinden. Denn Bonitho Dat das von Gregor in An:
ſpruch genommene Abſetzungsrecht nicht beanftandet, fon:
bern hält daſſelbe für begründet: »Legimus multos
Romanos pontifices pro minoribus causis non solum
excommunicasse sed etiam a regno deposuisse« (6. 668).
Darauf folgt eine Beifpielfammlung, melde von bet
Erfindungsgabe des Autors ein glänzendes Beugnik
ablegt: u. 9L. erfahren wir, daß Papft Gregor III. Leo
ben Saurier entfegt habe.
Vielleicht hielt aber Bonitho bie Anführung der
eontradietio gubernaculorum für überflüffig, ba ja fon
ber Bann allein den Verluſt ber Herrſcherrechte herbei-
führe. An und für fid mar bie Ausſchließung bei
Königs aus der chriſtlichen Kirchengemeinſchaft eine rein
Geſchichtsſchreibung Vonitho's ton utri. 477
kirchliche, nicht kirchenpolitiſche Maßregel, jebod) erhielt
fie damals augefidjt ber den Bann umgebenden camo:
niſchen Vorſchriften materiell bie Bedeutung eines bie
Ausübung des Herrſcherrechtes fuspendivenden Actes.
Das canonifhe 9tedjt verbot, mit Gebannten Verkehr zu
unterhalten: war ber Landesherr gebannt, jo durfte
alfo aud) mit ihm fein Umgang gepflogen werben. Wer
f in Erfüllung der canonifhen Satzung von bem ges
bannten Fürften zurüdgog, machte ihm damit zugleich
die Ausübung der obrigfeitliden Gewalt unmöglich.
Begierig griffen bie bem Könige feindlichen Reichs:
fürften den Anlaß auf, von Heinrich abgufallen. Diefer
war in wenigen Monaten fo tolitt, daß er fid) entſchloß
dem Papfte Satisfaction zu Leiften: — er trat ben Buß⸗
gang nad) Ganofía an.
Man hat fid) in früherer wie aud) in neuerer Zeit
daran gewöhnt, „Canoſſa“ als Symbol einer ſchweren
Niederlage ber meltlihen Gewalt gegenüber der geift-
lien zu betraditen, eine Anfchauung, melde aud) in
dem geflügelten Worte be8 Fürften Bismard: „nad
Canoſſa geben wir nicht!" ihren Ausdrud fand, Wer
fid) aber burd) den äußern Schein nicht captiviren läßt,
wer vielmehr die innere Tragweite jeues Vorgangs zu
ermeflen vermag, bet wird fid) nicht verhehlen, baf der
27jährige König im Januar 1077, modte er audj als
Bußer auftreten, einen nicht zu unterfhägenden Erfolg
errungen bat.
Reife und Büßung waren das Werk freieften Ent
ſchluſſes: ober hat jemand ben König gezivungen ober
zwingen Tönnen ? Hart mar bie felbft gemählte Form
der Büßung (»per aliquot dies super nives et glacies
478 Martens,
discalcestus perduravit« fagt Bouitho €. 672): aber
fie Hatte für jene Zeit bei weitem nicht das Auffallende,
was fie für uns in ber Gegenwart bat. Heinrich er-
reichte, was er gewünſcht hatte: der Bann wurde auf:
gehoben, bie Kirchengemeinſchaft toieber hergeftellt. Aber
der König erreichte noch mehr. Ex vereitelte die Aus:
führung des von ben Reichsfürſten gefaßten Planes.
Bekanntlich hatten bie Fürften den Papft eingeladen,
auf einem in Augsburg abzuhaltenden Reichstage über
Heinrich das Urtheil zu fpredjem. Mit Freuden nahm
Gregor die Einladung an: er verließ Nom und begab
fib auf den Weg. Der Reichstag fam aber nicht zu
Stande: denn, nadjbem Papft und König fid) ausgeföhnt
hatten, legten die Fürften auf das perſönliche Eingreifen
Gregor's weiter feinen Werth. Sie wurden vielmehr
über den unerwarteten Zwiſchenfall ſehr erbittert, fo
daß das innige Verhältniß zu dem Papfte einen em
pfindlichen Stoß erlitt. Gregor ſelbſt befand fij, als
Heinrich erſchien, in einer offenbaren Zwangslage: εὖ
trat für ihn eine Gollifion der Pflichten eim. Wie gern
hätte er fein Verſprechen, auf deutfhem Boden bie An-
Hagen gegen Heinrich zu unterfuden, erfüllt! Aber ber
Tüniglide Pönitent gab fein Verlangen mad) fofortiger
Losſprechung in einer jo ftürmijden Weiſe funb, bof
eine Abweiſung moraliſch unmöglid mot, menu aud
für ben politijd) weit blidenben Papft ber endliche €nt-
ſchluß recht ſchwer geweſen fein mag.
Kaum Hatte fid) der Monarch in Canoſſa verab-
ſchiedet, als bie Gegner, melde nie und nimmer auf
eine fo ſchleunige Abfolution geredet hatten, fid be
eilten, das Geſchehene, wenn aud) nicht zu leugnen,
Geſchichtsſchreibung Vonitho's von Sutri. 479
doch zur Schmach und Kränkung Heinrich's zu verzerren.
Auch Bonitho macht ſich zum Sprachrohr ſolcher falſcher
Berichte: »Sunt, qui dicunt, Heinricum pontificem
incautum capere voluisse. Quod satis videtur verisi-
mile« (€. 672); im Folgenden wird diefe Behauptung
fogar als völlig begründet bezeichnet. Gregor ſelbſt
weiß weder von beunruhigenden Gerüchten, nod) von
Umtrieben oder Nachftellungen, und bat aud) fpäter
derartige Beſchwerden niemal3 laut werden lafen. Im
Gegentheil, bie Haltung des Königs in Gauofja flößte
ihm volles Vertrauen ein: »nihil hostile aut temera-
rium ostendens rex ad oppidum Canusii, ubi morati
sumus, cum paucis advenit«; jo fagt ausbrüdli das
unmittelbar nad) ber Losiprehung am bie Deutſchen
gerichtete päpftlihe Schreiben (Reg. IV, 12, €. 257).
Bonitho behauptet ferner (S. 672), daß Qeiurid)
in Canoſſa nur gebeudjelt habe. Die Meiften feien von
dem demüthigen und bußfertigen Exterieur be8 Königs
getäuſcht worden: nicht fo Gregor: »Papa non igno-
rabat regis versutias.« Abermals hat bie eingemurzelte
Antipathie gegen Heinrich unferem Autor einen fehr
ſchlimmen Gtreid) gefpielt. Indem er den verhaßten
König in ein ſchlechtes Licht ftellen will, compromittirt
er ben Papſt aufs Nergfte.
Nach fittlihen und kirchlichen Grundfägen darf ber
geiftliche Zunctionär ben Pönitenten nur bam losſprechen,
wenn er von deſſen günftiger Dispofition überzeugt ift,
m. a. 28. in ihm Reue und guten Willen erblidt. Wer
anders handelt, wer ein als unwürdig erfanntes Subject
abfoloirt, entweiht das Heilige unb macht fid ſchwer
verantwortlich. Hätte Bonitho Recht, bann müßte man
480 Martens,
zugeftehen, daß der Papſt in Canoſſa eine nidt zu
redifertigenbe, verwerfliche Handlung begangen habe.
Aber Gregor jagt in dem vorhin angeführten Schreiben
an bie Deutſchen (L c. €. 258) ausdrücklich: »Devicti
instantia compunctionis et multimodae penitudinis ex-
hibitione ab anathematis vinculo absolutum regem in
gratiam communionis recepimus.«
Gregor war alfo burdjaus nicht ber Meinung, dab
Heinri in Canoſſa ein falſches heuchleriſches Spiel ge:
trieben habe: et glaubte eine aufrichtige Reue wahrzu⸗
nehmen unb hatte demgemäß ſowohl bie Berechtigung
als bie Verpfiichtung, die Abjolution zu gewähren.
Wenn id) früher ambeutete, daß Heinrich im Ganofía
einen politifen Erfolg errungen babe, fo thut das
bem eben Cntmidelten feinen Eintrag, Wan barf nem-
lid nicht vergeffen, daß ber König mehrfache fittliche
Vergehen begangen und allen Grund hatte, in feiner
außerorbentlihen Lage derfelben eingebent zu fein. Hatte
er im Jahre 1073 an ben Papft geſchrieben: »Eheu
eriminosos et infelices — peecavimus in coelum et
coram vobis: et jam digni non sumus vocatione vestrae
filiationise (Reg. I, 298 €. 47): — warum follten ihn
vier Jahre fpäter nicht ähnliche Empfindungen befeelt
haben?
Die gegnerijden Fürften waren, wie bemerkt, burdj
bie 9tadjridjten aus Ganofja in eine fehr üble Laune ver-
febt worden. Sie hatten feft darauf gerechnet, daß ber
SBapft den König auf einem deutfchen Reichstage feierlich
verbammen würde; ftatt deffen mußten fie erleben, baf
Gregor dem Gebannten auf eigne Hand, in ihrer Ab-
wefenheit bie Losſprechung gewährte! Grollend traten
Geſchichtsſchreibung Vonitho’3 von Sutri. 481
fie im März in Forchheim zufammen, um fid) endgültig
von fjeiurid) Toszufagen, und Stubolf von Rheinfelden
zu wählen. Diefer Schritt war, wenn id) mid) fo aus:
brüden darf, eine Revange fir Ganofja. „Hat der Papſt
den König Heinrich ohne ung abjoloirt, fo wollen wir
jeßt ohne ben Papft den König befeitigen: Gregor ift
uns nicht weiter nöthig“ — fo etma werben bie Miß-
vergnügten veflectirt haben.
Dem neuen Gegenfönig mibmet Bonitho fein be-
fonbere8 Intereffe. Er nennt Rudolf (€. 673) zwar:
»vir magni consilii et armis strenuissimus«; aber das
till nicht viel bedeuten, ba auch Heinrich ein ähnliches
Prädicat erhält. Wichtig ift dagegen folgender Punkt.
Während die deutſchen 9tubolfianez, um ihrer ungerechten
und Häglichen Sache aufzubelfen, in verfchiedenen Formen
die Lüge colportirten, Gregor habe die Wahl Rudolf's
gewünfcht, betrieben, ober fogar förmlich beftätigt, er-
zählt der Biſchof von Sutri in Webereinflimmung mit
Gregor's feierlichen und wiederholten SBerfiderungen, daß
die Erhebung Rudolf's Tebiglid) von den deutſchen Fürften
ausgegangen fel. Wie hätte aud) der Papſt eine Hand⸗
lung billigen oder loben können, deren Spige unver:
Tennbar gegen ihn felbft gerichtet mar!
Die Periode vom März 1077 bis zum Ende bes
Jahres 1079 war für Gregor, was man meines Gr.
adten8 nicht hinreichend erkannt Dat, eine Zeit trüber
Erfahrungen und bitterer Enttäufhungen. Er hoffte
den Streit zwifchen den beiden Prätendenten al8 Schieds-
richter perſönlich zu ſchlichten: aber feine Hoffnung ging
nit in Erfüllung: — man verteigerte ihm ba8 zur
Reiſe nad Deutſchland erforderliche Geleit. Um fo
482 Martens,
weniger gelang e8 bem von ihm ausgefenbeten Legaten,
fij Gehör zu verſchaffen. Weder Heinrich nod) Rudolf
waren geneigt, bie Waffen niebergulegen: beide hatten
für den Papft wur [done Worte und wohlfeile Cr.
gebenheitöverfiherungen, Tümmerten fid) aber nicht im
Geringften um feine Bitten und Drohungen. Jumitten
des erregten Parteitreibens mar Gregor, elder fo gern
ben Frieden herbeigeführt hätte, völig machtlos: bet
Vorwurf, als habe er in jener Zeit ein falſches Spiel
getrieben und fid) arger Doppelzüngigteit ſchuldig gemacht,
ift ungereht und findet in ben üdten Quellen aud
midt einen Schatten von Beglaubigung.
Vielleicht wäre Gregor nod) länger in feiner mi.
lichen und unerquidlichen Lage verblieben; aber Heinrich
felbft gab den Anftoß zu einem Umſchwunge. Im Ja
nuar 1080 fand die Schlacht bei Flarhheim ftatt, unb
man muß trot ber entgegenftehenden SBerfidjerungen ber Ru:
dolfianer annehmen, daß Heinrich, wenngleich mit großen
Opfern, über feinen Gegner den Sieg davon getragen habe.
Dies wird durch fein weiteres Auftreten hinlänglich bekundet.
Er ordnete nemlih, wie Bonitho (&. 675) beridjtet,
eine aus beutjden Bifchöfen beftehende Geſandtſchaft mit
einem Ultimatum nad) Rom ab. Gregor fol fid) ohne
Weiteres definitiv gegen Rudolf erklären und ihn mit
dem Bann belegen, toibrigenfallà der König dafür forgen
wird, daß ein anderer, ihm genehmer und willfähriger
SBapft eingefegt werde.
Diefes Ultimatum, welches eine Erneuerung bet
Scene von Worms erwarten ließ, überzeugte den Spapft,
daß Heinrich nichts gelernt und nichts vergeſſen habe.
Der Entſchluß war leicht gefaßt. Gregor gab bie un
Geſchichtsſchreibung Wonitho ὃ von Sutri. 483
glückliche und unfruchtbare Schiedsrichterrolle auf und er⸗
klärte ſich nachdrücklich zu Gunſten Rudolf's. »Heinricum,
quem regem dicunt, excommunicationi subjicio et ana-
thematis vinculis alligo. Et iterum regnum Teutoni-
eorum et Italiae interdicens ei, omnem potestatem et
dignitatem regiam ei tollo.« So Ἰρταῷ Gregor auf der
Römifchen Synode vom März 1080 (Reg. VII, 142, €. 468).
Bonitho fommt zu bem Stefultat, bab Gregor un:
bebingten Lobes würdig fei, Heinrich dagegen mur Tadel
verbiene. Anders urtheilt eine unbefangene geſchicht⸗
lide Betrachtung. Weder Qeinrid) ned) Gregor haben
Maß gehalten: jeder von ihnen machte fid) einer Ge:
bietsüberfereitung ſchuldig. Gregor hatte Fein Recht,
dem Könige die Regierung zu unterfagen ober ihm bie
Krone abzuſprechen. Heinrich war nicht befugt, bem
Bapfte feine geiftlihe Würde zu entziehen. Darum er:
ideint e8 denn aud) burdjaus nicht als zufällig, daß
beide Männer vor dem Schluß ihrer itbijdjen Laufbahn
gedemäthigt wurden. Welch' eine ſchmähliche Behand:
lung mußte ber alte Kaifer von feinem treulofen Sohne
erfahren! Wie empfinblid mar e8 für Gregor, bie
Gräber ber Apoftel verlaffem zu muüffen und in ber
Verbannung als Gaft eines früheren Kirchenräubers zu
erben! Schon ein geitgenofie des 11. Jahrhunderts
bat den Kern des Conflicts treffend dargelegt:
>Qunerit apostolicus regem depellere regno,
Rez furit e contra, papatum tollere papae;
Si foret in medio, qui litem rumpere possit,
Sio, ut rex regnum, papatum papa teneret,
Jnter utrumque malum fleret discretio magna«.
(f. Jaffé Mon. Bambergensia €. 110, aus bem Codex
Udalrici N. 61).
IL
Recenfionen.
1.
Atlas archéologique de la bible d'aprés les meilleurs
documents, soit anciens, soit modernes et surtout
d'aprés les découvertes les plus récentes faites dans
la Palaestine, la Syrie, la Phénice, l'Égypte et l'Assyrie
destiné à faciliter l'intelligence des saintes écritures
par M. L. ΟἹ. Fillion, prétre de Sainte-Sulpice, Profes-
seur d'écriture sainte au grand séminaire de Lyon.
Librairie Briday, Delhomme et Briguet, succósseurs.
Lyon—Paris. 1883.
Es ift überflüffig zu bemerken, daß bet Unterricht
dur) Demonftrationen befonders fruchtbar gemacht werden
Kann und fol. Denn der unfern Lefern bereit3 bekannte
$. Verf. (vgl. €. 116) führt hiefür in ber Einleitung
ben befannten Ausſpruch des Horaz (ar. p. 180) und
feine eigene Erfahrung an. Gerade die biblifche Eregefe,
welche fid) vorwiegend mit bem morgenländifchen Alter:
thum zu befaffen hat, Tann burd) Darftellungen aus bem.
privaten und öffentlichen Leben ungemein fruchtbar ge:
macht werben. Die neueren archäologiſchen Schriften
Atlas archéologique. 485
über das biblifche Alterthum von Sepp, Schenkel, Riehm,
Ebers, Guthe und 9L haben denn aud) bie bilblide
Darftellung in ausgiebiger Weife fid zu Nutzen gemacht.
Die Entdeckungen in Aegypten und Afigrien haben dafür
reichlichen Stoff geliefert und gerade in Frankreich find
die Mufeen von Paris mit ben Refultaten zahlreicher
Nachforſchungen angefült. Für ben Unterriht ift es
daher freudig zu begrüßen, daß Q. Fillion das Geeig-
nete in guten Abbildungen zu einem archäologiſchen
Atlas zufammengeftellt hat, der aud) für weitere Kreife
jugünglid) ift. Es find in Frankreich nur zwei derartige
Arbeiten vorangegangen, bet Atlas göographique et ico-
nographique, welcher den cursus completus Scripturae sa-
crae von Migne befdlieBt (Paris, 1844), und ber Atlas
géographique et archéologique pour l'étude de l'Ancien
et Nouveau Testament, 1876 p. M. V. Ancessi. Jener
beſchränkt fid) wie unfere deutſchen biblifehen Archäologien
auf bie Wiedergabe be8 Tempels und feiner Einrich-
tungen, dieſer ift unbollenbet und hat vorwiegend bie ügpp-
tijde Archäologie berüdfihtigt. Die Lüde füllt nun
$. Fillion glüdlid) aus, indem er mad) den anerkannt
beften und den neueften Quellen einen planmäßig ges
ordneten und vollftändigen Atlas hergeftellt hat.
Seine Abſicht gieng dahin: 1., bie Einheit be
Gegenftandes zu wahren, 2) jo volftändig als möglich
zu fein, 3) fid) an eine ftreng logiſche Ordnung für bie
Anordnung be8 Details zu halten. Der Atlas ift eine
Archäologie in Bildern. Alles was darauf feinen Ber —
zug bat, ift ausgefchloffen, aber aud) alles darauf Bezüg⸗
lide aus bem häuslichen, focialen, politiihen, religiöſen
eben bes jüdiſchen Volkes und ber heibnifchen Völker,
peol. Ouartalfeift. 1889. Heft ΠῚ. 32
486 Fillion, Atlas archéologique.
fo weit fie in der Bibel behandelt werben, aufgenommen.
Diefe Dinge find um fo intereffanter, ald man im. bet
That jagen Tann, die Steine fprechen für die Wahrheit
der Bibel,
Der Atlas enthält 93 Karten mit 960 Holzſchnitten,
bie fauber und deutlich ausgeführt find. Voraus geht
eine amalptijdje Tafel, melde eine ganz kurze, aber
genügende Beſchreibung der Figuren gibt. Die Aufzähs
lung δεῖ Weberfchriften wird den beften Einblid in das
ganze Werk gewähren. I. Intimes und Familienleben.
1. Kleidung und Shmud, 2. Wohnung, 3. Mobiliar
und Utenſilien für bie Haushaltung, 4. Mahlzeiten,
5. Krankheiten, Tod, Leichenfeier, Trauer. IL Bürger:
lidje8 und fociales Leben. 1. Aderbau, 2. Jagd und
Fiſcherei, 8. Künfte und Getverbe, 4. Architectur, D. Spiele,
Bergnügungen, 6. Tanz und Muſik, 7. Münzen, Gewicht
und Maß, 8. Schrift, Bücher, 9. Gerichte und Strafen,
10. Schiffahrt, 11. Reifen, Verkehrsmittel, 12. einige
fociale Beziehungen (gefelliger Verkehr). III. Politiſches
Leben. 1. Könige, Schmud und Diener, 2. Heer und
Krieg. IV. Religiöſes Leben. 1. Der Kult des wahren
Gottes, 2. Der Gügenbienft. Außerdem ift noch ein
forgfältiges Regifter ber im Tert und im Atlas erklärten
Wörter beigegeben. Der Atlas empfiehlt fid) alfo duch
Teine Reichhaltigkeit und Ueberſichtlichkeit allen Freunden
des biblijen Studiums, ift aber vor allem ein er
, wänfchtes Hilfsmittel für den eregetifchen Unterricht in
weiteren Kreifen.
Schanz.
Galileiſtudien. as7
2.
Gallleiſtudien. Hiftorifch-theologifche Unterjuchungen über
die Urtheile ber römifchen Congregationem im Galileis
proceß. Bon Hartmann Grifer, S. I. Regensburg,
Puſtet 1882. XI, 874 ©. gr. 8. Preis 7 S.
Diefe Schrift erwuchs aus zwei Abhandlungen, die
1878 in ber Zeitſchr. f. Kath. Theol. erfchienen. Der
Verf. hat fid) um das SBerftánbniB des Galileiprocefies
in mehreren nit unwichtigen Punkten ganz entichiedened
Verdienſt erworben, und bie Arbeit verdiente daher wohl,
befonber veröffentlicht zu werden. Indeſſen ift fie Diet
nicht einfach wieberabgebrudt. Der erfte oder der his
ſtoriſch⸗ juriſtiſche Theil der Schrift erfcheint vielmehr
als Weberarbeitung ber erften Abhandlung. Der zweite
ober tbeologijdje Theil enthält im Verhältniß zu bet
früheren Arbeit eine durchweg neue und weit ausführe
lidere Behandlung der einſchlägigen Gegenftände, und
ex bildet den Schwerpunft des Werkes.
Syd) ließ mid) burd) die Publication zur Abfaffung
einer bejonderen Abhandlung beftimmen, und ber ge:
lehrte Verf. möge diefe als einen Beweis betrachten, wie
body ἰῷ feine Arbeit ſchätzte und mit welchem Intereſſe
id ijr folgte. Ih Debe namentlih hervor, ba ἰῷ
mich bezüglich des erftem Theiles im weſentlichen ἐπ
burdjgüngiger Uebereinſtimmung mit ihm befinde. Im
zeiten Theil weicht zwar mein Urtheil mehrfach von
bem jeinigen ab. Die Hauptdifferenz betrifft bie Genfur,
bie über bie fopetnifanijde Lehre ausgefprochen wurde.
Der Verf. Tieß e8 in biejer Beziehung etwas an Difto-
riſcher Kritik und Methode fehlen. Trägt er biejer mehr
Rechnung, fo darf idj mid) der Hoffnung bingeben, er
82"
488 Stef,
toetbe fid) meiner Auffaflung nähern, oder er wird mid
zu einer neuen Prüfung veranlaffen. In allen Fällen
aber barf ἰῷ mohl hoffen, er werde in meinen Aus:
führungen ein reines und ernftliches Streben erbliden,
den Sachverhalt in diefer ſchwierigen Angelegenheit richtig
zu ftellen. Weber diefen muß zuerft eine Verftändigung
erzielt werden. Weitere Betrachtungen haben nur imjo-
weit einen Werth, als fie ihm gerecht werben.
Indem ih auf die Abhandlung vermeije, Tann ἰῷ
mid) hier kürzer faffen, als die Bedeutung der Schrift
εὖ fonft zuließe. Ich bemerfe nur nod, daß am Schluß
bes erften Theiles bie fünf wichtigften auf bem Galilei:
proceß bezüglihen Documente abgebrudt find. An ben
zweiten Theil ſchließen fid) al8 theologifche Belege an
Ausſprüche be8 Ranoniften de Angelis und des Cardinals
Franzelin über bie Auctorität boctvineller Congregations⸗
entideibungen, Formulare von püpftliden Entſcheidungen
über Lehren und Bücher, Formulare von Congregationgs
entſcheidungen und der Brief des Cardinals Bellarmin
an Foscarini. Die Schrift [εἰ ben Lefern der Du.-Schrift
aufs befte empfohlen.
Sunt.
3
1. Die Geſchichte der Heiligen Schriften bes Alten Teflaments
entworfen von Ednard Weup. Braunſchweig, ©. U.
Schweticfe und Sohn. 1881. XII umb 744 ©.
2. Einleitung in bie heilige Schrift Alten und Renen Tees
ments von Dr. Franz Ranlen. Mit Approbation des
Bodo. Gap. Vic. Freiburg. Zweite Hälfte, erfte
Abtheilung. Beſondere Einleitung in das Alte
Geſchichte der 5. Schriften beb 9L. T. 489
Teftament. Freiburg i. Br. Herder’fche Verlagshandlung.
1881. (TheologifcheBibliotHet XX.) 217 &. (©. 158—870
de3 nunmehr für das A. Teft. vollendeten Buches).
Es fol hier von zwei Hilfsmitteln zum Verftänd-
niß des alten Teftaments die Rebe fein, melde aus
zwei diametral ſchroff contraftivenden Lagern ftammen
und, jedes in feiner Weife, einen im Grund [don lange
ber unausgleihbaren Zwieſpalt wiſſenſchaftlicher Anz
ſchauungen über ben alten Bund, feinen Urfprung, feine
Geſchichte und Fanonifche Literatur zur Darftellung bringen.
Auh dem Umfange mad) febr verſchieden, find nichts—
deſtoweniger beide batauf angelegt, mit bem rebliden
Aufgebot reicher wiſſenſchaftlicher Kräfte und Mittel,
bie im Dienfte eines methodiſchen Vorſchreitens ftehen,
ihren fo verjdjieben genommenen Gtanbpuntten gerecht
zu werden, beziehungsweife diefelben im Fortgang ber
Unterſuchungen je als allein berechtigt und wahr zu er=
weiſen. Aus dem erftern gewinnt man bem faft be-
ängftigenden Ginbrud, daß bie Forfhungen über bie
Hauptſchriften des alten Bundes, melde die geſchichtliche
Stuffaffung deffelben weſentlich bedingen, burdjaus neu
angegriffen und durchgeführt werben follen, und an
Stelle be8 für den Abbruch beftimmten mehr als zivei:
taufendjährigen Geſchichtsbaues neuen Grundriß und
Aufbau der Gefhichte Israels bis ins vierte vorchriſt⸗
liche Jahrhundert in Ausficht nehmen; die andere Schrift
geht darauf aus, bie herfömmliche 9Inidjauung der Syn«
agoge und Kirche vom Urfprung, Alter und ber Bes
deutung jener Grundſchriften aufrecht zu erhalten, meu
zu begründen und zu befeftigen. Eine fünftige Seit —
denn der Kampf Dat erft mieber aufs ernfthaftefte be
490 Reuf,
gonnen und felt fij gegenüber frühern vermittelnden
Anfihten, bie mod) Vieles vom Alten beftehen ließen,
als ein grumbftürzender bar — eine fpütere Seit mag
berausftellen, ob nit Angriff und Abwehr übers Ziel
gehen, unb die Qauptíade gerettet werben kann, ohne
daß aud) jämmtliche Nebendinge mit in Kauf genommen,
vielmehr aufrecht erhalten werden müffem. So meinten
εὖ wenigftens (don vor zweihundert Jahren bahnbrechende
Kritiker, wie Richard Simon, und e8 ift ſehr die Frage,
ob man nicht weiter gekommen und in gefidetterem
Beſitz verblieben wäre, wenn man auf ber neuen Bahn
langfam fortgejdritten wäre und ben Gegenftoß wicht
jo heftig geführt hätte, daß fait nothwendig neue Stöße
erfolgten. ALS deren entichlofienfter Urheber und Leiter
tritt neben Wellhaufen (Geſchichte Israels) ber hochbe:
jahrte Straßburger Theologe, H. Neuß, in feinem Buche
auf, trat vielmehr [don Lange vor jenem, wenn aud) nor
engerm Kreis, für bie exft burd) Wellhaufen ſchärfer aus:
geprägten Unfichten ein. Denn die SBorrebe theilt mit,
daß bie Idee zum Buche und die Anlage befielben iu
beu Aufang ber dreißiger Jahre fiel, und ber Entwurf
zum erftenmal im GCommerjemefter 1834 Gegenftand
einer SBorlejung mar. Die radikale Neuheit der €ut-
bedungen, hexen größern Theil Manche mohl damals
(mie jegt) Erfindungen nennen mochten, bie auch von
ben damaligen Geleifen ber fritijdem Behandlung des
altes Teftamentes fid) ziemlid; abjeit8 bewegten, bewog
Reuß zurüdzuhalten und fein Syſtem weiter auszubauen,
das aber hald durch einzelne Schüler, τοῖς Graf und
Kayſer, theilweiſe ſchon zur Deffeutfid)teit gebracht wurde.
Nunmehr erſcheint die Arbeit, an welcher als großem
Geſchichte der 5. Schriften des 9L. T. 491
Ganzen ba& nonum prematur fünf, ja faft ſechsmal
beobachtet worben ift, als Haupterträgniß eines langen,
ber Wiſſenſchaft gemibmeten Lebens unb muß [don des
halb, nod) mehr aber in Verbindung mit der Wichtigkeit
ber behandelten Gegenftände alle Beadjtung beanspruchen.
Bon eingehender Erwägung be8 überaus reichen Ins
haltes, ber hundert Jahre und mehr der bibliſchen fitit
alten Bundes concentrirt und in der originalen Durch⸗
und Umarbeitung be8 Verfaſſers wiederfpiegelt, Tann
hier natürfich feine Rede fein, aber ein ſichtender Ueber⸗
blick über den dichten Wald, bet bod) einzelne markirte
Haltpuntte bietet, kann erwartet unb foll geliefert werden.
Entſchieden anfprehend find Form und Methode bet
Soarftellung. Wir erhalten mad) der furgen, über ben
Gegenftand, Umfang und Elemente, Quellen und Chro=
nologie und Anderes allgemeinerer Art orientirenben
Einleitung in vier Büchern bie concife Schilderung ber
Zeit der Helden, ausgehend von den Semiten unb fe:
mitiſcher Eultur, der Seit ber Propheten, beginnend mit
Davids Königthum, der Periode der Priefter, deren
Herrichaftsbeginn von ber Zerftörung Jeruſalems duch
die Chaldäer batirt wird, und ber Zeit ber Schriftge:
lehrten, welde von ben Makkabäerkämpfen bis zum
völligen Niedergang Israels unter den Römern und
ber Zerſtörung Jerufalems durch biefelben erſtreckt ift.
Die Geſchichtsdarſtellung theilt fid) in (600) Paragraphen,
unter denen in kleinerer Schrift je bie Hauptgedanken
berjelben meiter geführt, bie nach Auficht des Berf. ü&
bet eben batgeftellten Zeit entftanbenen kanoniſchen Schrift⸗
beſtandtheile angegeben, gevgliebert und ber Kritik untere
ſtellt werben, ſowie eine außerordentlich reiche Literatur
492 Reuß,
über bie betr. Schriftſtücke mit großer Umſicht mitge-
teilt ift. Finden toit bie unter ziemlichen Schwierig:
teiten gewandt gehandhabte Methode entjdjieben an-
Tpredjenb und die gefchichtliche Darftellung geiftool, (nit
felten aud) ſchillernd,) einbringenb, den Stoff oft meifter-
haft beherrſchend, jo mißfält um fo mehr unb faft
durchgängig bie fehonungslofe Kritif, deren Schärfe
burd) die urbanften und oft zarteften Formen, mit wel:
Gen bie Dinge angefaßt werben, faum gemilbert wird.
Der SBentateud) zerfällt nad feiner allmählichen
Entftehung in die verfchiedenartigften SBeftanbtpeile, deren
Niederfchreibung im 9. Jahrhundert beginnt und erft
im vierten zum Abſchluß kommt. Mofes zwar wird
Dod) geftellt, und „jedenfalls haben wir una fein Wirken
als das eines Propheten zu benfen, eines Mannes
der in ber Kraft be8 göttlichen Geiftes, bie in ihm mar
und aus ihm ſprach, und als folder anerkannt, in le:
benbigem Verkehr mit den Volksgenoſſen ftanb, mie und
too fein Wort fie erreichen fonnte", aber Gefchriebenes
meinte Verf. nicht von ihm herleiten zu können. Nicht
vor Joſaphat, defien gefeßgeberiihe Thätigkeit Hitzig
im Leviticus, wie die Hisfias in Num. findet, wäre ber
ältefte Beftandtheil Iegislativen Inhalts im Pent., das
Bundesbuh Er. 21, 1—23, 19 und zwar als Landredit
jenes Königs gefchrieben. Das Buch der b. Geſchichte, vom
Syeboviften, egt Verf. in der zweiten Hälfte des 9. Jahrh.
an amd betrachtet e8 als urſprünglich jelbftändiges
Werk, das bie alten Sagen von den Urfprüngen Jsraels,
den Erzoätern, der ägpptiichen Knechtſchaft, dem Wüften-
zuge fammelte und verknüpfte, „die denjelben eigue
Voefie wohl eher nod) verſchönernd als verwiſchend“.
Geſchichte ber 5. Schriften des A. T. 493
Der ſ. 6. zweite Elohift ftäde ſchon fragmentari]d) im
Jehoviſten, wäre fomit im Grund ber erfte und er allein
älter al8 ber Jehoviſt, welcher dann aber burd Auf-
nahme jener Ctüde, bie ben feinigen oft ganz heterogen
fein follen, ziemlich räthfelhaft gearbeitet hätte. Daher
babe wohl (Θ. 253) ein Dritter die Beiden vereinigt.
Ließ er jebod) flarke Tertvivergenzen fteben, jo hat er
nicht glüdlid) gearbeitet. Deut. 88, von Knobel nod)
in Sauls Zeit, von X. ins Exil verlegt, ift ebenfalls
in diefe Beit gezogen. Won Gen. 1—11 weiß 9t. kaum
andereö zu fagen al3 dis. membra poetae und findet
im Fluthbericht drei Autoren. Die „pſychologiſch⸗ethiſche
Mythe“ des Sündenfals märe (S. 257) burd) Miß-
verftehn des Jehoviſten, der fie, unb mit ibm bie drift:
liche Theologie, faljd) als Bericht über eine einmal ges
ſchehene Thatfahe anfah, an ihre Stelle gefommen, und
toil e8 V. andern überlaffen, „ſich feruerbim an ber
Schale ber ihnen verbotenen Frucht bie Zähne augu.
beißen". Die Patriarchenfagen „ſchweben in der Luft”,
bie Perfonen find mptbijd und alles ift hier durchaus
mißverflanden worden. Das Lied Mofis, von Emald
mod) in bie Zeit Salamo’3 verfezt, wird ber legten. Zeit
be8 Storbreidj8 zugewieſen. Das Deuteronom, abgejehn
von feiner nod) fpätern Einrahmung, ift der „angebliche
Fund der Priefter” im Tempel 2 fün. 22 f., eine Art
Angelpunft der Pentateuchkritik. Von dieſer Anſicht
war man ziemlich zurüdgefommen und betrachtete. eher
den Fund als eine Sammlung moſaiſcher Gefepe, bie
in ben brei mittlern Büchern enthalten ſei. Der Chronift
wiederholt aber nicht blos einfach den primären Bericht
bes Königsbuchs (S. 352), fondern ergänzt ihn mehr:
49 Ses,
fad, unb ſchon an Hof. 8, 12 findet bie ©. 353 aus-
geſprochene Anfiht, daß in der Altern Literatur nie auf
geſchriebene Gefege angefpielt werde, eine gefährliche
Klippe. Das Königsgefeh in Deut. 17 wird fpäterer
Zuſatz fein, aber ſowohl e8 wie bie Kriegögefege weiſen
wm fo mehr in eine weit ältere Zeit, wenn (6. 361)
von einer praktifchen Anwendung derjelben in den wenigen
Jahren, wo fie überhaupt noch benfbat war, wohl nicht
bie Rebe getoejen ift. Und das Konigsgeſetz ift ſchwerlich
am Anfang vom Ende des Königthums gegeben morben.
In der almählihen Compofition des Herateuchs folgt
38. Joſua, eine Fortfegung des Jehoviſten; das Geo—
graphiſche und ſpecifiſch Religiöfe im Buch ift fpüter
eingefezt, und ετῇ der Bearbeiter be8 Deut. hat
Joſua feine mejentlide Geftalt gegeben, mad) Ezechiel,
aber noch vor Era. Elohiſtiſches fam baum wod) fpäter
hinein, Bom heißumſtrittenen Gejegcompler Lev. 17—26
vernimmt man ©. 452, daß berjelbe zwiſchen ber mad
eril. Reſtauration und Esra gefchrieben fein toerbe, ein
Analogon zum Deut. und Bundesbuch, mit Ezechiel
vielfach fiimmend, weshalb man biejen als Verfofler au-
fab. Aber aud) jener Abſchnitt Dat nicht mehr feine
Urgeftalt, da einzelnes mod) Spätere fid) „unerklärlicher
Weiſe“ bierherverirrt hat. Iſt ber ziemlich abgeriffene
Abſchnitt fpäter, was Stef. eine offene Frage fein läßt,
jo muß man über feinen Urfprung usd feine Einfügung
fid) beſcheiden. Auch daß Maleachi zuerft von einem
Behnten ſpricht, den man, den Leviten ſchuldet, beweift
nicht ohne Weiteres, daß dies bamal8 eine mod) neue
Einriptung war, €. 452, eher eine erneuerte. Man
nähert fij nun mehr der gegenwärtigen GeRalt bes
Geſchichte ber 9. Schriften bes U. T. 495
Pent. Esra (€. 461) hat den Vrieftercoder, ben früher
ſ. g. erften Elohiften, (von dem e8 aber in ber mobern=
ften Phafe ber Kritik heißt: bie erften werben bie [egtem)
weder mitgebracht, noch felbit alsbald geſchrieben; bod)
bezeichnet feine Wirkſamkeit immerhin einen wichtigen
Wendepunkt. Gegenüber frühern Pofaunenftößen über
ihn als ben fidern Vollender wo nicht Schöpfer des
Bent. beſcheidet fid) Verf. €. 462 zu ber Erklärung,
daß nicht jo leicht zu lagen fei, was e8 mit ber Geſetzes⸗
arbeit des Cra für ein Bewandtniß habe. Doc werde
das Θεῖεθ, auf welches ba8 Volk 444 von feinen beiden
Reformatoren in feierlider Tagfagung vereibigt wurde,
(zwar nicht unfer Pent., fondern) ein felbftändiges Werk
geweſen fein, in meldem „die neuen Eultgefege, bie
von mun an maßgebende jübijde Kirchenordnung in
einem mäßigen Diftorijdjen Rahmen nicht ganz unmethos
diſch zufammengeftelt waren“. Dabei erieint er durch⸗
aus nicht überall als Verf., fondern ſtark als Sammler
einer Schrift, bie erſt wieder fpäter mit der frühern
Mafje in Gonner gebracht wurde. Gara gehört fo im
Ganzen bie mittlere Gefeggebung und »Sammlung (aber
Leo. 1—7 zeigen fid) wieder verſchiedene Scheidungen)
mit einem Inappen geſchichtlichen Rahmen, ber. mit Gen.
1—4 beginnt. In dem Hiftorifhen ijt Esra's Buch
mit dem jehov. Beftand ſtark gemischt und findet Doppel-
gängerei ftatt; dagegen Esra's Hand ausſchließlich in
Lev., meift in Num. und nod) Ende des Deut. und in
Syof. zu finden in weiterer Sdealifirung und Webermalung
der alten Geſchichte. Nach 8 383 ift bie redaktionelle
Einrahmung des Deut. nicht vom Verf. defjelben, fon-
dern zwifchen der erften Deportation unb der gerftórung
496 Reuf,
Syerujalem8 geſchrieben. Aber aud) fie hat wieder Inter
polationen, jehoviſtiſche und elohiſtiſche. S. 474 meift
dann nod) Nachesraiſches auf, da die legi8latorijdje und
cobificirenbe Arbeit immer nod) fortgieng, und mit €. 476
fteben wir am Schluß, ber legten 9tebaftion des Pent.,
die „nicht mit allzugroßem Θε ἃ und namentlich mit
geringem hiſtoriſchem Sinn“ bewirkt wurde. Allerdings,
wenn es babei fo zugieng, mie wir belehrt wurden.
Stef. verfennt nicht, daß in ber ganzen Darftellung diefer
Tritifden Operationen febr viel Anregendes, mancher An:
ftoB zu neuer Forſchung für Gleidgefinnte und Gegner
fid findet und betrachtet aud) felbft Manches im Spent.
als fpülern Urfprungs bis auf Esra herab; aber das
Meifte erſcheint ihm bod) als Produkt unbedingter Zweifel⸗
fudt, nichts weniger al8 vorausfegungslofer Wunder:
flucht unb Gonftruftion nach ſelbſtgemachten Niffen und
Plänen. Er anerkennt bier mie im Uebrigen mit ver:
bientem Lob die außerordentliche Gelehrſamkeit, den
Spürfinn in Schaffung (meniger in Löfung) von Pro:
blemen, bie feine Sauberkeit in Führung ber Unter:
fudungen und die fühne Wahrheitsliebe, tro diver—
girender Grundanfhauungen. Mein das Ganze gibt
wenig Löfung, eher eine Mehrung der ohnehin ſchon fo
zahlreichen Räthſel auf bem Feld altteftamentliher Ge:
ſchichte, Alterthümer und Literatur. Die Arbeit ber
Kritik beginnt wieder einmal aufs neue am Grundbud
für bie alte Synagoge und bie Kirche. Bis jegt war
e3 größern Theild eine mehr als hundertjährige €i
fophusarbeit in Anfehung der legten Gründe und Ziele
des" Buchs und damit be8 ganzen alten Bundes. Doch
ift damit eine enblide Klärung in diefen entſcheidungs⸗
Geſchichte ber 9. Schriften be A. T. 497
vollen Dingen nicht ausgeſchloſſen, fondern vom unber-
droffener ehrlicher Forſchung immerhin zu erhoffen, πα-
menti, wenn auf ber einen Seite, mehr ſelbſtwillige
Beſchränkung auf das ſchlechthin Wiffensmögliche, auf
der andern Minderung der Beſchränktheit einträte, die
auch für unhaltbar Gewordenes zu immer größerer Dis⸗
crebitirung ihrer felbft und ber Sache, bie befier ift als
fie und ihre Vertheidigung berfelben, ihre binfälligen
Argumente toieberfüut. Denn: intra peccatur et extra
muß jeber Vorurtheilslofe jagen. Die Gegenftöße über-
hießen auf beiden Seiten nicht felten weit das Ziel,
und es braudt immer lange, bis wieder einige An-
nüferung bergeftelt ift. Ein mebrere8 aber fann man
nicht verlangen, außer man mollte auf Löfung ber
Quadratur des Kreiſes es abfehen.
Ein ferneres Eingehen auf die Unterſuchungen über
die andern altteftamentlichen Bücher, ba8 ἰῷ beabfichtigt
fatte, verfage ἰῷ mit, um den Raum bier nicht zu
ſtark für Anderes zu verengern. Die durchdachten Mit
theilungen be8 Neftors in feiner Wiſſenſchaft find aud
bier fehr erwägungswerth, gehen aber durchweg eben⸗
falls auf fpätere, zum Theil febr junge Abfafjungszeit,
z. 98. ber meiften Pfalmen, der Bücher Samuels, nur
ausnahmaweife wie für Joel gegen beffen mehrfach ver-
ſuchte Herabrüdung in die nacheriliſche Zeit. Letztere Frage
ift nicht ohne, aber bod) nicht von ſehr großer Bedeutung,
und ἰῷ faun fier ganz gut in völliger Uebereinftimmung
mit den Worten des verehrten Q. Verf. ließen: „Die
ſchwierige Löfung berje[bem Dat den angeblidj bisher
nod) unerflärten Joel zum Schmerzenskind ber Eregefe
gemadt. Wollte Gott die Theologen hätten nur biejca,
498 KRaulen,
und nit fo viele andere ſchwerer zu curivende in bie
Welt geſetzt!“ —
Die Einleizung in bie heilige Schrift Alten Tefta-
ment3 von Dr. ὅτ. Kaulen ift mit vorliegendem befonde:
rem Theile nun abgeſchloſſen. Das für den mod) aus:
ftebenben Schluß (befondere Ein!. in bie Neuteft. Bücher)
vorbehaltene Regifter wäre für bie altteftam. Bücher
wohl ſchon hier wünſchenswerth geweſen. Auf den erften
Abſchnitt der Bücher geſchichtlichen Inhaltes folgen bie
Lehrbücher, bie prophetiſchen Bücher; die ſ. g. beuteto-
kanoniſchen find in chronologiſcher Reihenfolge, womit die
fachliche Ordnung verbunden ift, unter den jeweiligen
der genannten drei Abfchnitte geftellt. Verf. ſchließt fid)
in Bezug auf Alter, Integrität, Verfaſſer der kanoniſchen
Bücher durchgängig, bod) nicht ausnahmslos an bie
Tradition der Synagoge, beziehungsmeife der Kirche an,
ftebt aber für diefelbe mit umfaffenber Erudition, Um:
fidt und (quoad ejus fieri potest) unbefangenem, freiem
Blide eim. Beim Pentateuh (€. 156—171) find bie
berfömmlihen Beweiſe für Einheit unb Aechtheit forg:
fältig dargelegt, zum Theil ergänzt und erweitert, DaB,
mit Ausnahme des Schluffes am Deuter., fid) im Bent.
nichts findet, was nothwendig auf fpätere al8 mo:
ſaiſche Zeit hinwieſe (€. 164), mag zur Noth annoch
gelten, aber Gloſſen und aud) größere fpätere Abfchnitte
find bod) für eine unbefangene Auffafjung mander Stel:
len namentlich der Genefi8 im höchſten Grab wahrſchein⸗
lid gemadjt. Den apologetifhen JIntereſſen bleibt nod)
ein weiter Spielraum, wenn aud) jenes zugeftanden und
bie Abfaffung be8 Ganzen etwas weiter berabgerüdt
werden müßte. Daß aud) die Annahme von Umarbei:
Einleitung in bie y. Schrift beB 9. u. N. T. 49
tungen kanoniſcher Bücher für jene Intereſſen ohne
Gefahr ift, dafür darf man den H. Verf. ſelbſt in
Anſpruch nehmen, mad) weldem (&. 176) zwar Joſua
felbft ein nach ihm genanntes Buch gefchrieben hat, aber
dafielbe in feinem jegigen Umfang von anbrer Hand
bald nad) feinem Tod erweitert unb neugeftaltet worden
if. In weit höherem Grab dürften wir dann ähnliche
Dperationen wohl beim Pentateuch vorausfegen, ber
weitaus fein jo innerlich in all feinen Theilen zuſam⸗
menhängendes und gefchloffenes Buch ift. Zuſätze findet
Verf. felbft aud) im Büchlein Ruth (€. 186). Die Ver-
ſchiedenheit ber Ausführung in den BB. Samuels Tann
in bem Quellenfohriften begründet fein (€. 190), Tann
aber aud) umgelehrt daher fommen, daß der Verf. ber:
felben nicht fclapifd) compilirt, fondern fe[bftánbig gear-
beitet habe. Daß Jeremia die BB. der Könige gejchrieben
(S. 197 f.), bat bod) bas febr hohe Alter gegen fid),
in bem et ben Schluß berfelben gejdyrieben Haben müßte.
Indeß fünute biejer fpüterer gujag fein; aber ber Pro:
pbet bat wohl ganz fider in Aegypten unter auftei:
benden Kämpfen gelebt und bald geendet. Daß fein
Buch vom fragl. Verf. in Babylonien eifrig gelefen und für
feine Geſchichte namentlich für bie legtem Seiten des
Reichs, wo Jeremia im Vordergrund fand, benügt wurde,
ift gar nit anders denkbar. Daraus ergäbe fid bet
wiederholte Anflug an ben Propheten. Und auf
Aegypten ift fein Schatten von einem Hinweis, bafüt
mander auf Babylonien, wohin eine fpätere Trabition
den Propheten nod) kommen fief, um ihn als Verf. der
BB. minder unwahrſcheinlich zu machen. Esra und
Nehemia werden €. 207 wohl nicht mit Recht als ut:
500 Raulen,
fprünglid ein Buch betrachtet, unb Nehemia wird unter
Artarerres II angefegt, aber in den Angaben des Syo-
ſephus über Saneballat möchte eher eim chronologiſcher
Verſtoß liegen, und Nehemia mit Cera unter Artar. I
hinauf gehören. Auch daß Esra bie beiden Bücher ge-
ſchrieben, hat weder innere mod) äußere Stütze. Man
dürfte ebenfalls bezweifeln, daß David fidjer nod) mehrere
Pialmen außer den 73, die ihm ausdrücklich zugeſchrie—
ben find, verfaßt habe (©. 261). Eher möchte umge-
kehrt an fid) die Tradition ihm zu viel als zu mwenig
bierin gugefdriebem haben. Den anonymen Pſalmen
muß jede Tradition begüglid) ber Verfaſſer gemangelt
baben. Daß e8 aber überhaupt folde im Pialmbuch
gibt, fpricht aud) wieder für bie Gewiſſenhaftigkeit der
Sammler, denen ja, gerade in Sinn und Meinung der
Traditonsveräßter, nahe genug lag, denfelben Davids
Namen überzufreiben, fowie für die Richtigkeit ihrer
Angaben begüglid) ber Verfafler, aljo gegen das leicht-
fertige, nicht felten frivole Belieben, die Pfalmen en
masse in bie Maffabäerzeit und uod) tiefer berabzurüden,
infonderheit bie Davidiſchen, weil man fid) einmal ba-
rauf entetirt hat, daß David, ber Urahn des Heilandes,
bloß ein wilder Blutmenfh, dem fein Arm fein Gott
war, ber Gebet und Gottvertrauen verſchmähte und
nichts von brennender Herzensangft und niederſchlagender
Seelenqual in fid) erfuhr, geweſen fein fónme. Daß dieſes
Bild eine Eintragung aus unferem abgeblaßten Aller
weltsculturzeitalter fei, bem Gott, Teufel und Gewiſſen
abhanden gekommen, dafür mill man Fein Verſtändniß
haben, um befjen Folgerungen für die Kritik abzuwehren.
(€. 262 ijt nicht tehillim, fondern tefillt a. D. zu
Einleitung in bie 5. Schrift be8 9L. u. N. T. 501
leen). — Bezüglich des Spruchbuches ift €. 269 aus
25, 1: aud) biefes find Sprüde Salomo's u. f. w.,
ju viel geld)lofjen, wenn ber Ausdruck Gewißheit geben
fel, daß bie vier voranftehenden Theile (1—24, 22)
ſchon um 300 a. €. als von Calomo herrührend be
itadjtet wurden. Ob ber erfte größere Theil fo tie er
lautet, von Salomo fei, muß, auf Form und Inhalt
gefehen, nod) unausgemadt gelten. Die große Ordnungs⸗
lofigfeit im Buch ließ e8 gar vielerlei Beftandtheile in
fid) aufnehmen. — Bezüglich des Predigers ift wahr,
daß bie Einwürfe, melde aus dem Inhalt des Buches
gegen feine Abfafjung durch Salomo erhoben werben,
leicht zu widerlegen find, denn bie Fiktion des Berf.
gibt fid) Feine [olde offenbaren Blößen, wie mande
Kritiker meinen; aber wenn aud) ba8 Gros des Inhaltes
und der morofe Ton fammt ber gejdjilberten Volksſtim⸗
mung mehr ober weniger auf jede Zeit pafien mag, jo
premiren wir ba8 weniger bod) ganz bejonber8 für
bie Salomonifche Zeit und Salomo felbft, und es dürfte
©. 227 oben ber Schlußfag wohl bahin ergänzt werden,
daß aus dem Inhalt des Buches nichts Entjheiden-
des gegen die traditionelle Anfiht vom Verfaffer δεῖς
Telben gefolgert werden kann. Dagegen bietet bie Sprach⸗
form bes Buches fo große Schwierigkeiten, baf mad)
unbefangener wiederholter Würdigung aller in Betracht
Íommenber Momente man nicht umhin fónnen wird,
das Buch in naheriliihe Zeit zu verfegen, nach Nehe
mia, wozu H. Verf. auch felbft geneigt if. — Soll
das $jobelicb von Galomo fein ober bod) aus Salomos
mijdet Zeit, wogegen man nicht leicht etwas wird an=
haben können, jo ſcheinen mir bie gegen eine rein alle:
Weol. Ouartalfift. 1888. Het Il — 33
502 Raulen,
goriſche und fir typiſch⸗ſymboliſche Bedeutung des Liebes
Tpredjenben Gründe zu wenig gemürbigt zu fein. Wohl
keine Schrift hat wie diefe ihre Gedichte der Auslegung.
Daß Synagoge und Kirche bie bekannte Deutung zu ihrem
Eigenthum gemadjt und erflärt haben, war wohlgethau
und ein großes Glüd für das Lied ſelbſt, mas am
beften bie in legten Jahrhunderten demfelben extra eecl.
wiberfahrenen neuen Mifhandlungen bezeugen. ber
nichtödeftoweniger ijt ein SBerbenbe und Gewordenes
in feinem Urfprung nicht felten etwas Anderes, al8
was im Berlauf ber Umbildungen der Ideen die fpätere
Zeit daraus gemadt Dat. Nur fon urfprünglih zu
Grund gelegt muß diefes Spätere im Alten fein, jo daß
bie feimartige Anlage ber fpätern Auffaflung offen zu
Tag liegt. Eine von allem biftorifhen Untergrund ge
löfte, rein bloß in bebeutungslofe geſchichtliche Form
und Phraſe gelíeibete Allegorie längerer Ausdehnung
ἐξ aud) fonft dem bibliſchen Gebiete fremd, wo fie nidt
als jolde ausbrüdlid bezeichnet wird (Hiob, Jona):
non res ipsas gestas finxerunt poetae, quod si facerent,
essent vanissimi, sed rebus gestis addiderunt quendam
colorem. Die Bilder von Brautihaft, Vermählung,
Ehe und deren Reverſe kommen freilich unzählige Male
im 4. wie N. Teftament, aber fie beweiſen nicht für
eine ganze dramatifirte Geſchichte diefes Inhaltes, in
welcher id) den Amminadab weder mit Vertretern der
buchftäblihen Deutung für ben Hofkutſcher Salomo’s,
mod) mit jolden ber allegorijdem für den leibhaftigen
Teufel, ber einen Monolog hält, erklären, ſondern
(mit H. 8.) für einen Verführer halten möchte. Das
€. 278 in der Mitte Bemerkte halte ἰῷ daher für
Einleitung in bie h. Schrift des 9, u. X. % 608
Eintragung in bie urfprünglide Gonceptiom be8 Liedes,
in welder Salomo, aber eben der leibpaftige, ber
wußte was Liebe ift, fid jelbft in einen Typus ber
zuchtigen irdiſchen und fchon annäherungsweiſe zulezt
bet höchſten göttlichen Liebe umzubilden durch ben Geift
von oben angeleitet wird. Für einen König in’ ber
Reihenfolge der Ahnen be8 Meſſias, in beffem Leben
nun einmal bie gemein finnlihe Liebe eine fo höchſt
* bebeutenbe, verhängnißnolle Rolle gefpielt hat, erſcheint e8
mir ſchlechterdings unmöglich, daß er ein folches Lied der
himmlischen Liebe gebichtet, wenn man nidt zum aller-
engften Begriff der Infpiration zurückfällt und ihn für
eine bloße fistula Sp. S. erklärt. Man hüte fij, das
Erhabenfte dem Lächerlichen anzunähern und loffe in
Gottes Namen dem König aud) im Hohenlied bod) nod)
eine glüdlihe Reminiscenz von feiner freilich allzugefunden
Sinnlichkeit (das „glücklich“ im Sinn ber felix culpa
des h. Auguſtinus genommen).
Die gemachten unmafgeblidjen Bemerkungen, bei
denen es fein Bewenden haben muß, mögen zeigen, wel⸗
ches lebhafte Intereſſe Ref. die Einleitung des H. Ver⸗
fafjers eingeflößt hat. Das Buch, ein Refultat gründli—
jen, redlichen Forſcherfleißes, mit umfichtiger Verwertung
ber in moderner Beit zum Theil fo bedeutend gewordenen
Hilfswiſſenſchaften ausgearbeitet, verdient volle Aner⸗
lenmung. Scheint e8 bem Ref. aud ba und bort in
apologetiſchem Intereſſe mehr als motfmenbig, wohl
aud) als möglich ἐξ, zu bemweifen, was namentli von
den ftet3 wiederkehrenden und ben Leſer ermüdenden
Stellen über die fanonijdje Autorität und ben Inſpira⸗
tionscharacter jedes Buches gilt, jo mag bieB zum Theil
88"
504 Knabenbauer,
in der Natur von mancherlei bier concurrirenden Ver-
hältniſſen liegen. Der entjdiebene Werth des fehr emv
pfehlenswerthen Buches wird Dadurch nicht beeinträchtigt.
Himpel.
4.
Erklärung des Propheten Maias. Von Joſeph Ruabeubauer,
Prieſter der Geſellſchaft Jefu. Mit Approbation u. j. v.
Freiburg im Breisgau. Herder'ſche Verlagshandlung.
1881. IX und 718 ©.
Eine neue eingehende Behandlung des großen Pro:
phetenbuches, bie eim guter Wurf genannt zu werben
verdient. Ein Vorzug des Gomumentar8, den wir als
eine Revindifation alten meift vergefjenem Verdienftes
betrachten, liegt im ber fleiBigen und gemifienhaften
Beiziehung und Benützung ber beften Gommentare von
ben älteren Theologen des 16.—18ten Jahrhunderts,
qud) mod) früherer.
Wie gewöhnlich, hat man aud) bier nicht allein
das Bad ausgefhüttet. Die grammatiſch⸗kritiſche und
biftorifche Methode, für eine Menge von Einzelheiten
durchaus nüglid und unentbehrlich geworden, hat nad
und nad) jo ausſchließlich das Terrain der Auslegung
eingenommen, baf e8 genügt, befiere ältere, namentlich
katholiſche Ausleger nur zu nennen, um fie aud) [dou
befeitigt zu fehen. Die ältere Schwefter ift völlig außer
Poſſeß gefommen, bietet aber, wie der genannte Com: .
mentar aufs neue zeigt, immer mod) febr viel Gutes
and Solides nicht bloß für erbaulidje Zwecke, ſondern
Erklärung des Propheten Iſaias. 505
ebenfo für Erörterung be8 Zufammenhangs und tieferes
Eingehen auf den Gebanfengebalt des Propheten. Diefe
Commentare ftanden auf ber Höhe ihrer Zeit und be:
Tunben für ihre Verfafler und wohl aud) einen guten
Theil ihrer bod) meift geiftlihen Lefer eine Vertrautheit
mit bem alten Teftament unb bem ſchwierigen Prophes
tismus defjelben, bie zum mindeften fo groß aber ungleid)
mehr fegenftiftend war, al8 die SBertrautfeit bet gegen-
wärtigen flerifalen Welt mit der kirchlich⸗ und unkirchlich
politifchen Zeitunggliteratur der Gegenwart. Verf. hat
fid aud, was nur ganz lobenswerth ift, in den beften
proteftantifhen Commentaren der Neuzeit umgefehn und
zeigt tüchtige, aber wie e8 [dint auf femitiihem Gebiet
zunächſt bloß oder mit Vorzug hebräiſche Sprachkenntniſſe.
Der Tert wird mad) der Vulgata überfezt, und in den
Erklärungen bie Abweichungen ber legterm vom Qebrüi-
ſchen gewiſſenhaft angegeben.
Hier finden wir an bem für Cruimug des oft fo
ſchwierigen genauern Bufammenhangs, Erklärung des
hiſtoriſchen Sinnes wie ethiſchen und religiöfen Gebanfen-
gebalte8 tüchtigen, oft erjdjópfenben, dann und wann
auch etwas diffus werdenden Gommentar, eine ſchwache
Seite, mit ber wir nicht zurüdhalten dürfen. In ben
SRündner gelben Blättern wurde die Bevorzugung ber
Qulgata vor bem Driginaltert in Weberjegung und Er—
klärung als ein Vorzug aud) be8 Gommentat8 erflärt
und mit der Behauptung motivirt, baf bie SBulgata
fer häufig (mo midt häufiger als das Hebräiſche)
- ben richtigen Tert biete. Ich [affe mid) nicht leicht in
Hochachtung des Meiſterwerks ber alten Kirche, ber fa:
teinijden Ueberfegung des alten Teflamentes überbieten,
506 Anabenbauer,
darf aber gerade deshalb jenes Urtheil für unabfidt:
lid) ober bewußt irre führend erflüren. Ich habe mir
Hauptabweihungen des Lateinifhen vom Urtert aus
ben erften dreißig und einigen meitern Kapiteln ange
merkt, wo ganz ohne alle Frage das Hebräifhe in ber
Vorhand ift ober allein bem guten, tert: und contert-
gemäßen Sinn gibt; ihre Zahl ift überaus groß: bie
Stellen, to ba8 Lateinifhe einen eben [o guten oder
gar befiern Sinn gibt, mag man fuchen, aber wo finden?
Ich babe hierin ficher den H. Verf. felbft mehr auf
meiner als auf der entgegengefegten Seite. Daher gebe
id) meinem Bedauern Ausdrud, da bie Ueberfegung
nit unmittelbar aus bem Qebrüijdem geliefert worden,
fondern fBudjftabe und Sinn des legterem erft nadge-
tragen iji. Was wäre naturgemäßer für Titerarifche
Arbeiten, als hier bem 5. Hieronymus felbft zu folgen?
Wo ift weniger ein vestigia terrent zu beadjten und
zu befürchten, nachdem ber Kirchenvater gerade auf
biejem Wege ber Kirche unvergünglide Dienfte geleiftet
bat? Die Ueberfegung be8 großen Kirchenvaters, ber
fid und Andere für fo jehr fehlbar erflärte, ifi bod)
nicht infpirict, wofür bie Septuag. eine Zeit lang bei
den Juden und bei von ben Juden [dymet getäufchten
Vätern, worunter felbft Auguftinus, galt. Nimmt man
feinen Anftand, bem landläufigen Irrthum, daß bie
SBulgata vom Tridentinum für fehlerlos erklärt worden
jet, zurüdzumeiien, jo muß man in Gemäßheit biefer
Zurückweiſung aud) handeln und nicht gegenüber ber
richtigen Theorie eine faljde Praxis zur Befeftigung
jenes Irrthums befolgen. Da einmal der Weg, melder
den Driginalfinn mehr verbedt als in ba8 vor allem
Grtlarung beB Propheten Iſaias. 507
wünſchenswerthe Licht felt, gewählt war, ift darüber
nicht mehr viel zu rechten, daß ber hebräiſche Tert nicht
mit größerer Afribie behandelt und ihm nicht bie gram-
matijd-fritije Sorfalt des Gommentatot8 zugemendet
worden ijt. Das Buch wird von andrer Seite gerade
deshalb mod ftärfer bemängelt unb aud nad) feinen
entſchieden guten Seiten verfannt werden, ba nun ein
für allemal die neue mwiffenfhaftlihe Methode, deren
Nichtbefolgung bem alten Erklärern Fein Vernünftiger
zum Vorwurf machen wird, als bie allein berechtigte gilt
und unmöglich mehr verdrängt werden wird, wenn nicht
bie wiſſenſchaftliche Exegeſe und Theologie überhaupt
ſchwer benachtheiligt werben jollen, und aud) feinem be:
rechtigten Intereffe der Religion unb Kirche zu nahe tritt.
Einzelnes ift nicht weiter zu berühren, ba ja immer
in einer Menge von Fällen, bie Wefentliches gar nicht
betreffen, verſchiedene Auffaffungen ftatt haben können,
bie hier nicht zum Austrag gebracht werben jollen. Der
Verf. Dat fid) der ſchwierigen Arbeit gewachſen gezeigt,
wofür ihm alle Unbefangenen bie gebührende Anerken⸗
nung zollen werben.
Himpel,
5.
Die innere Entwidiung des BPelagianismns. Beitrag zur
Dogmengefhichte. Dargeftellt von Dr. Franz Klafen.
Freiburg 1882. 304 ©. 8°.
Die kirchliche Lehrentwidlung, der progressus fidei,
vollzieht fij vor allem im Gegenja zu ber Qürefie, in
508 alaſen,
der Vertheidigung der kirlichen Lehre gegen ihre falſchen
Aufſtellungen. Der hl. Auguſtinus wäre nicht wohl
zu ſeiner eigenthümlichen Darſtellung der chriſtlichen
Anthropologie und Gnadenlehre gekommen, hätte er nicht
gegen die Irrthümer ber Manichäer einerfeits, ber Per
lagianer anderfeits zu kämpfen gehabt. „Die Kirche
batte bisher, fagt Auguftin felbft, ihren Glauben über
die Gnade deutlich genug durch ihr Leben ausgebrüdt.
Die Gebete der Kirche zeigen, was fie glaubte. Die
firdliden Schriftfteller hatten aber feine SBerautajfung,
in die Erörterung biefet mit fo vielen ſachlichen Schwie:
tigfeiten verknüpften Frage einzugehen, weil in biejem
Bunkte eine Härefie mod) nicht mit bem Glauben ber
Kirche in Ctreit gerathen war. Sie berührten bie
Sache nur im Vorbeigehen“ (de praedest. sanct. n. 27).
„Geradeſo, führt er am einer andern Stelle (de dono
perseverantiae n. 29 und 30) aus, gieng e8 mir, fo
lange id) e8 mit bem Manichäern zu thun hatte; ih
mußte bie Willenzfreiheit und nicht die Gnade verthei-
digen. Nachdem er aber einmal in den Streit Dinein:
geworfen fei, freue ihn nichts fo feb, als zu befördern,
ut, qui gloriatur, in domino glorietur et in omnibus
gratias agamus Domino Deo nostro sursum cor ha-
bentes, unde a patre luminum omne datum optimum
et omne donum perfectum est. de spiritu et littera
n. 68" (Rlafen €. 64). Da muß e8 mum von großer
Wichtigkeit fein, bie Härefie genau kennen zu lernen,
gegen melde Auguftin bie Lehre der Kirche vertheidigte.
Ueber die Lehre Auguftins und über mande bem erften
Blick aufftoßende Härten berfelben muß dadurch neues
fidt verbreitet werden, ja diefelben werden uns oft
Die innere Entwidlung bed Pelagianismus. 509
erſt durch ben Gegenjag recht verftändlih. So ift e8
denn eine Reihe von eifrigen Forſchern, melde ben
Unterſuchungen über den Pelagionismus fid) zumandten.
Die oben angezeigte Schrift ift eine neue, gründliche
Unterſuchung über bieje Irrlehre. Sie verbreitet über
viele bi8 jegt flrittige Punkte neues Lit und ifi reid)
an intereffanten Refultaten.
Welches ift ber oberfte Lehrfak im Pelagianismus ?
Lengen, Baur, Neander, Wörter betradten die Lehre
von der Freiheit, Voigt und Wigger8 bie Lehre von
der Erbfünde ala Grundlehre.
Die ift der Pelagianismus in formeller Beziehung
zu harakterifiven? Lengen glaubt, ber Pelagianismus
verfolge mur ein philoſophiſches Intereſſe. Baur und
Wörter halten den Nationalismus „für bie von den Pe-
lagianern zur toifjenjdjaftlidjen Begründung ihrer Lehren
in Dienft genommene Denkweiſe, gemäß melder bie
Wahrheit des chriftlichen Lebens von ber Erkenntniß
abhängig gemacht, und ſonach verworfen wird, was nicht
begriffen wird."
Welches ift die Gnadenlehre der Pelagianer? „Die
Benrtheilungen berfelben theilen fid) in drei bibergirenbe
Arten. Die einen (SBetavius, Voffius, Semler, Wiggers,
Steanber, Ὁ. Schägler) finden ſowohl bei Pelagius als
bei Julian den Begriff der eigentlichen, inneren Gnade;
die andern (Wörter) find der Meinung, zu diefem
Onabenbegrif] fei mur Julian gefomunen; bie britten
endlich (Baur) halten dafür, daß weder Pelagius mod)
Julian eine innere Gnade gefannt babe." 2. Schägler
fagt näherhin, ber Grundirrthum des Pelagius fei, daß
510 iade,
et bie Onabe für eine Vollendung, Unterftügung ber
Natur anfehe, bie tlebernatur aljo verfenne.
Qui bene distinguit, bene docet. Klaſen zeichnet
und ben „innern Entwidlungsgang be8 Pelagianismus”
und unterſcheidet zu biejem Zweck bei allen Einzelfragen
genau zwiſchen ben brei Vertretern der Härefle, Pelagius,
Eäleftius und Julian von Eflaunum, dem ſcharfſinnigen
Verteidiger und Begründer derjelben. Dadurch ergibt
fi ihm auf die erfte ber obigen Fragen bie Antwort:
Für den Anfang des Pelagianismus gilt bie Aufftellung
Wörter’3, die Vorftellung von ber ur[prünglidjen Boll
Tommenbeit, bie aud) morali[d) nidt hätte verändert
werden können, bilde bialefti[d) bie oberfte Lehre
im Syſtem be8 Pelagianismus, materiell fomme daher
zuerſt der Freiheitöbegriff zur Darftelung. Für Julian
aber muß man Voigt und Wiggers beiftimmen. Die
Seugmung ber Erbſünde ift ſchließlich ber oberfte €t,
na welchem und zu beffem Begründung alle andern
fid richten müffen. Die zweite Frage beantwortet Klafen:
fBelagius und Cäleftius bedienen fid) nod) einer nüd:
temen Eregefe, führen den Schriftbeweis durch logiſche
Schlüſſe. Julians Standpunkt ift der „fubjeltive Ra
tionalismus“ des Theodor von Mopsveſte. Die Schrift
ift ibm Glaubensquelle, aber fie muß fid) von Anfang
an bie Genfur ber fubjektiven Vernunft gefallen Lafien.
Mon bat in Julian mehr einen Schüler der Stoa, als
einen chriftlichen Biſchof vor fid. Intereſſant iff ber
duch das ganze Buch fid) Hinziehende Beweis dieſes
legten Satzes. Die Gnadenlehre ber Pelagianer endlich
beurtheilt Klaſen alfo: Weder. Belagius und nod) viel
weniger Julian bat bem Begriff ber inneren Gnade.
Die innere Enttvidlung des Pelagianismus. 511
Die Pelagianer ſahen fid) gulegt zum reinen Naturalis-
mus gedrängt. Sie hielten bie natürlichen Kräfte zus
gleich für Gnade. Man fann darum (gegen v. Schägler)
beſſer fagen, ihr Grundgedanke war eine Weberihägung
ber Natur, al8 man jagen könnte, ihr Grundgedanke
war eine SBerfenmung ber Uebernatur. Die Webernatur
war nicht verfannt, fondern nicht erkannt (vgl. v. Kuhn,
bie Lehre von der göttlichen Gnade €. 290 ff.).
Die Begründung biefer Säge ift mit großer Schärfe
und nad) unferer Anficht überzeugend geführt. Die
großen Schwierigkeiten, welche das Duellenmaterial be
ſonders deshalb bietet, weil ſowohl Pelagius als Julian
ihre Lehren zum großen Theil verhüllen und mit ber
kirchlichen Lehre in Uebereinftimmung bringen wollen,
find faft ganz überwunden. Namentlich ift dies burd)
eine überfidtlide und fadjgemáfe Dispofition gelungen.
Gelegentlid) ift wohl aud) ber Grundirrthum des Pe—
lagianismus aufgezeigt. Cr liegt nad) Klafen in bem
falſchen Begriff von Perfon, bem bie Pelagianer von
dem Begriff der Natur nicht unter[djieben. Der Ge-
danke, daß bet Unterfchied zwiſchen Natürlichkeit und
Perjönlichfeit bei den Pelagianern — und aud) bei
Auguftin — nicht genügend zur Geltung kommt, trifft
zu. Ob dagegen bie Darftellung bei Alafen (€. 142),
daß „die Natur fündig werden fünne, ohne bap da=
burd) ber Menſch, die Perſon ſchlecht wird“, dogmatiſch
lorteft oder überhaupt, zumal auf dem Boden bes
Kreatianismus, verftánblid) fei, laffen wir babingeftellt
(vgl. bie richtigere Faſſung bei Auguftinus op. imp. 5, 21
füajen €. 168 Anm.). Doch bleibt Klafen im ganzen
fireng bei feinem Thema und hält beBoalb mit bem
512 Pauly,
Urtheil zurüd. Referent fpricht daher zum Schluffe bie
Hoffnung aus, daß ber Verfafjer recht bald biefer Studie,
wie wiederholt angedeutet ifi, eine Darftellung der An:
tbropologie und Gnadenlehre des Hl. Auguftinus folgen
laſſe, welche zugleich die Haltlofigkeit ber Julianiſchen
Sophiftit überall aufzeigt.
Stepetent Dr. Schmid.
6.
Salviani presbyteri Massiliensis opera omnia recensuit
et commentario critico instruxit Fr. Pauly. Vindo-
bonae ap. C. Geroldi filium. 1883. XVI, 360 8. 8.
(A. u. d. T. Corpus Seript. eccles. lat. Vol. VII).
Preis M. 7.
Von Salvian befigen wir außer 9 Briefen bie
Schriften Ad ecclesiam und De gubernatione Dei. ‘Jene
veröffentlichte ev pfeudonym als Timotheus, und er
echtfertigt fein Verfahren in Ep. IX gegenüber feinem
Schüler, bem B. Salonius, bem Sohn des B. Eucherius
von Spon, den wir wohl mit bem ®. Salonius identifi-
cien bürfen, ber unter den Mitgliedern ber Synode von
Arles 455 aufgeführt wird. Er habe feinen Namen
nit genannt, um den Lockungen der Eitelkeit zu wider⸗
fteben und das Gewicht feiner Mahnworte nicht butd)
bie Geringfügigfeit feiner Perfon zu vermindern. Die
Schrift tritt dem habfüchtigen Streben nad) Reichthum
entgegen und wird bement|predenb von Gennabius unter
bem Titel Adv. avaritiam erwähnt. Die zweite, fpätere
und größere Schrift ijt jenem Salonius gewidmet. Sie
fegt fih die Aufgabe, gegenüber den in Folge ber
Salvianus. 513
Drangfale ber Völkerwanderung und ber Unglüdsfäle
des römifhen Reiches und feiner Bevölkerung vielfach
erwachten Zweifeln den Glauben an bie göttliche Vor—
ſehung zu rechtfertigen, und fie ift bemerkenswerth burd)
die Aufſchlüſſe, bie fie über den fittlihen Buftand ber
römiſchen Welt im D. Jahrhundert gibt. Es ift ein
ſchwarzes Blatt, das ung hier vor bie Augen tritt, und
wenn bei ber Tendenz be8 Schriftftellers bie und ba
auch eine Webertreibung anzunehmen fein wirb, fo wird
feine Schilderung bod) im ganzen auf Wahrheit beruhen.
Unter ben Briefen ragt außer bem bereit3 angeführten
mod) ber vierte hervor, jenes rührende Schreiben, das
Salvian mit feiner Frau und Tochter an feine Schwieger⸗
eltern richtete, um ben Unmwillen zu beſchwichtigen, ven
diefelben wegen ber Zuwendung der Ihrigen zur asce⸗
tifdjen Lebensweiſe Degtem. Der Stil des Schriftftellers
leidet zwar an rhetorifcher Breite und Weitſchweifigkeit.
Auf der anderen Seite zeichnet fid) feine Darftellung
burd) eine für feine Zeit felteme Gorrectpeit und ſchönen
Redefluß aus. Die Lectüre feiner Schriften ift daher
ebenfo angenehm als belehrend. Was bie vorliegende
Ausgabe anlangt, fo reiht fid) der Band in mürdiger
Weiſe feinen Vorgängern im Wiener Corpus script.
ecel. lat. an. Auch nad ber gründlihen Ausgabe von
Halm (1877) gelang e8 dem Hg. nod, an verjdjiebenen
Stellen weiter zu ſchreiten.
Sunt.
7
8. €. Kopp: Der Geſchichten von der Wicherherfiellung und
dem Berfalle be heiligen römilgen Keiches zwölftes
514 SoppetitolT,
fud. Ludwig ber Baier unb feine feit
1830—1836. Erſte Hälfte 1830—1834. Bearbeitet von
Alois Sitolj. Nach jeinem Tode herausgegeben von $ranz
Rohrer. Bafel 1882. F. Schneider. XXII, 688 ©. 8.
SL u. b. T. Geſchichte ber eidgenöffiichen Bünde.
Mit Urkunden. Fünfter Bd. Zweite Wbtfeilung. Sub.
toig b. 3B. und feine Zeit. 1330—1336 u. f. m.
Das große Geſchichtswerk, dad bie Zeit von 1273
bis 1336 umfafjen fol und von bem mieder ein Band
erjdjieneu ift, war urfprünglih auf zwei Bände mit 7,
bezw. 4 u. 3 Büchern berechnet. Daraus wurden aber
fpäter fünf Bände in 12 Büchern, unb die Bücher I-IV
a. VI—XI fonntem von dem trefflidjen Kopp felbft nod)
herausgegeben werden. Die Fortfegung und Vollendung
be8 Werkes wurde von dem Autor auf bem Gterbelager
(t 25. Okt. 1866) feinem Schüler 9L. Lütolf übertragen,
und die Wedekind'ſche Stiftung in Göttingen, bie das
Unternehmen fon bisher unterftügt batte, war mit dem
Entſchluß einverftanden. A. Buffon in Innsbrud über.
nahm nun bie Bearbeitung des fünften Buches (des
Reiches Verhältniffe in Italien und König Rudolf's Aus:
gang), ba8 1871 erſchienen ift. Liütolf fefbft nahm das
zmwölfte Buch in Angriff, und bie erfte Hälfte defjelben
liegt nunmehr vor. Die Arbeit ift ein ſchöner Beweis
deutſcher Gelehrſamkeit und Gründlichkeit. Der Ber:
faffer erlebte indeſſen das Erſcheinen nicht mehr. Er
farb, alzufrüh, am 8. April 1879, und e8 ward [εἰς
nem Nachfolger auf bem kirchenhiſtoriſchen Lehrſtuhl von
Luzern der ehrende Auftrag zu Theil, ba8 bereits Vol:
enbete herauszugeben und ba nod Fehlende zu bearbeiten.
Der erfte Theil der Aufgabe wurde von Rohrer
Wieberherftellung beB 5. τ, Reiches. 515
ausgeführt. Der zweite Theil wird einem andern über-
tragen werden müjfen. Denn ingtoijden ift aud) Rohrer
heimgegangen. Die Anzeige be8 Werkes ertoedt fo in
dem Ref. eigenthümliche Gefühle über bie Bergänglich-
keit alles Irdiſchen. Drei Männer, von denen ber zweite
ihm perfónlid) befreundet war, haben Hand an das Buch
gelegt, und alle brei find abgefchieden, bevor dad Bud
felbft zum Abſchluß gebracht werden fomute.
Was den Antheil betrifft, bem bie drei Gelehrten
an bem Bande haben, fo rühren die 187 erften Seiten,
von den gujügen abgejehen, welche von Lütolf eingeſcho⸗
ben und, um fie als fold kenntlich zu machen, zwiſchen
— gefegt wurden, von Kopp her. Das Uebrige ift im
wefenslihen Lütolf3 Arbeit. Es war bei feinem Tode
beinahe brudfertig. Doc hatte ber Herausgeber mod)
verſchiedene Heine Süden zu ergänzen, mande Fragen
zu beantworten, bie und ba aud) ein Verfehen zu bes
tidtigen, feltener etwas hinzuzuſetzen. AU das geihah
im Sinne des Verfaſſers. Auch die Methode und ſprach⸗
lide Darftelung wurde genau beibehalten, mie fid)
Lütolf in biejer Beziehung an feinen Vorgänger und
Lehrer gehalten hatte. Es tat das nicht bloß durch
bie Pietät gegen bie Urheber des Unternehmens geboten,
fondern aud im Intereſſe der Gleichheit des Werkes
gerechtfertigt. Der Band behandelt, wie aus dem Titel
erſichtlich ift, bie Jahre 1380— 1334. Auf den Inhalt
Tónnen wir bei dem immenfen Reichthum an Detail
nicht eingehen, und fo fei bie Anzeige geſchloſſen mit dem
Danke für die Seremigten und mit den beften Wünfchen
an den zur Vollendung des Werkes berufenen Lebenden.
Sunt
516 Secchi,
8.
Die Größe ber Schöpfung. Zwei Vorträge gehalten bor ber
Ziberinifchen Akademie zu Rom von P. Angelo Secchi,
+ Direktor der Sternwarte des Collegium Romanım.
Aus bem Italieniſchen überfegt nebft einem Vorwort
von Carl Güttler. Leipzig. C. Bidder. 1882, 5606.
Die Verbienfte Secchi's um bie Aftronomie und
Phyſik find aus feinen Schriften hinlänglich bekannt.
Auch über feine Gefammtauffaffung des Weltalls auf
Grund der Einheit der Naturfräfte ann man nicht im
Zweifel fein. Dennoch verdient Carl Güttler, welcher
feine gute Bekanntſchaft mit diefem Gegenftand ſchon
durch feine Secchi gewidmete Schrift „Naturforſchung
und Bibel“ gezeigt Dat, unfern Dank für bie gemandte
Ueberfegung bdiefer beiden Vorträge. Können fie aud)
ber Natur ber Gadje mad) nichts ganz Neues bieten,
fo verdienen fie bod unjere Aufmerkſamkeit für bie
Beurtheilung ber Weltanfhauung Secchi's. Er hat fie
πο im Vollbefige feiner Kraft beu 6. März 1876 unb
7. Mai 1877 vor einer wiſſenſchaftlichen Verſammlung
geſprochen und damit der Nachwelt in kurzen Zügen
ein volftändiges Bild feiner Forfhungen und Specu-
Tatioueu hinterlaſſen.
Im 1. Vortrag handelt Sechi von bem ſchwierigen
Problem des Raumes und der Zeit. Er will zeigen,
daß bie Aftronomie uns bie Unendlichkeit der Schöpfung
im Raume zum Bewußtſein bringt, während bie Schweſter⸗
wiſſenſchaften ihre Unendlichkeit in der Zeit veranfchaus
lien. Die Größenverhältniffe im der Schöpfung mit
ben faft unendlichen Entfernungen, bie und das Teleflop
enthüllt, find ebenfo geeignet und eine, menm aud
Die Größe ber Schöpfung. 517
ſchwache Vorftellung ber Unendlichkeit be8 Raumes zu
geben, als bie Welt im Kleinen, welche uns das Mikro:
ftop offenbart. Wir ftehen zwiſchen einer doppelten
Unendlichkeit, einer unendlich großen und einer unendlich
Heinen. Dem Raum geht aber die Zeit zur Seite und
daß diefer eine gleihe Unendlichkeit zufommt, beweist
bie Geologie, jo ifeptijd man fid) aud) im Webrigen
gegen ihre großen Zahlenangaben verhalten mag. Der
2. Vortrag hat „die Größe ber Schöpfung in den Funda⸗
mentalverbindungen be8 Weltalls“ zum Thema. Aus
ben beiden Elementen Raum und Zeit geht wie aus
zwei Factoren eine britte Unermeßlichkeit nod) höherer
Drbmung hervor, melde man als die Unermeßlickeit
der Verbindungen befiniven Tönnte. In dem Produft
berjelben finden wir ein höheres Prinzip verftedt, welches
fij in der nicht zufälligen, fondern in ber einem Ziele
zuſtrebenden Verbindung ausſpricht. Dies läßt fid) ſchon
in ber auorganiſchen Chemie, mod) mehr aber in den
organifirten Weſen nachweiſen. Die Mannigfaltigkeit
im Pflanzen: und Thierreich im großen Gangem und in
ben einzelnen Abtheilungen bi8 hinunter auf den Grund
des Meeres, den und das Aquarium in Neapel zum
Entzüden ſchön vor Augen ftellt, der Kampf ums Dajein
im ganzen Reiche, neben dem Gleichgewicht unter ben
Arten, alles zufammengenommen bildet gewiflermaßen
ein fo unendlich großes Meer von Verbindungen, daß ihre
Zahl in der That jede menſchliche Faffungskraft überfteigt.
Und inmitten biefer Factoren tritt ein völlig neues Element
zu Tage, baà Streben nad) einem Biele, welches ben Drga-
nismus Tennzeichnet, ber Beweis eines anordnenden Willens,
eines zwedjegenden Geiftes, des höchſten Geiftes, Gottes.
Weel. Dual 1888. Heft IIL 34
518 Secchi
Die Hauptbedeutung dieſer Vorträge liegt aber in
der offenen Stellung, welche Secchi zu den neueren
naturphiloſophiſchen Richtungen und dem Darwinismus
nimmt. Dem modernen naturwiſſenſchaftlichen Monismus
gegenüber, welcher aus der Einheit der Kräfte und
Materie, aus dem Grundprincip der Bewegung in allen
Naturerſcheinungen auf die Einheit des Seins ſchließt
und das Produkt der Maſchine mit der Maſchine ſelbſt
verwechſelt, ſowie die Maſchine mit dem Maſchiniſten,
vertheidigt er die echte Wiſſenſchaft, welche mit geſundem
Urtheile dieſe Entdeckungen zur Verbeſſerung ber Phyfio—
logie benügt und das, was einfache Function der Natur⸗
kraft ift, von bem trennt, was ein höheres Prinzip
hineingelegt bat. Er hält e8 in biejem Taumel toiffen-
ſchaftlicher Verirrung für einen Troft, daß felbft bie-
jenigen, welche biefe Dinge auf die Spitze trieben, eine
Abänderung ber Definition vom Stoffe für notfmenbig
erflärten. Er unterläßt e8 aber aud) nicht, diejenigen
des Irrthums zu beichuldigen, melde, während fie jene
verdammten, bie behufs Erklärung ber Naturerſcheinungen
von einer phyflaliih trägen Materie ausgingen,
behaupteten, daß der Stoff mit eigenen, ihm einge-
pflanzten und urfprüngliden Kräften verjeben fei, ohne
zu merfen, daß unter ber Hülle folder Kräfte bie Gefahr
laure, bem Materialismus einen wichtigen Dienft zu
leiſten. Diefe Sonderkräfte der Neuſcholaſtiker ſeien ges
nau dieſelben wie bie ihrer Gegner, denn habe ber Stoff
als folder Energie, fo werde e8 gewiß nicht ſchwer,
πο weiter zu geben und ihn aud) das Leben, ja felbft
den Gebanfen erzeugen zu lafjem. Es fei vergeblich,
den Bau des Weltalld a priori conftruiren zu wollen
Die Größe ber Schöpfung. 519
unb fruchtlos fei die Mühe aller jener Perfonen, welche
bie gefammte Natur erklärt zu haben glauben, menn
fie zwei im Alterthume angewandte Schulausdrüde wieder
in Verkehr jegem, dabei aber gar nicht merken, baf bie
Schwierigkeit der Erklärung gerade darin beruht, zu bes
finiren, was jene Materie fei, und worin jene Form
beftehe, von ber man ung redet! „Unter diefen Aus—
brüden verftanden bie Alten genau dafjelbe, was tit
Beute unter bem Namen von Kräften verftehen; enttoebet
beftehen diefe Kräfte aus fid) felbft, oder fie find zufällige
und perünberlide. Ihr Wefen genau zu erforfchen und
zwiſchen ihren Eigenschaften zu unterjdeibem, barum
handelt e8 fid) gerade; von diejer Erfenntniß waren aber
die Alten nicht minder weit entfernt als wir” (©. 85 f.).
(8 ift mir wohl befannt, daß Diegegen verſchiedene Ein—
mendungen gemacht werben können, aber ich hielt es bod)
für gut, diefes entſchiedene Urtheil Secchi's hervorzuheben
und e8 demjenigen zur Beachtung zu empfehlen, melde
allen Ernſtes betoiefen zu haben glauben, die areftoteltich-
ſcholaſtiſche Staturpbilofopbie ftimme fo febr mit ben That⸗
ſachen ber neueften Naturforſchung überein, daß fie ben
Leitftern für biefe bilden fóune, und bie Ausdrücke
Materie und Form geben ohne Weiteres bie Löfung für
alle naturphiloſophiſchen Probleme.
In Betreff des Darwinismus macht Secchi bei
firenger Wahrung bes theiftiftiichen Standpunkts nicht
unerhebliche Eonceffionen. Doch find fie mehr hypothetiſch
als wirklich gemacht, für den Fall befferer Begründung.
Die Theorie von ber allmübliden Abänderung ber Art
fei mit der Vernunft und mit der Religion burdjaus
nicht unvereinbar, menn man fie mit der nöthigen Klug:
520 Secchi, Die Größe der Schöpfung.
beit und Mäßigung vertvete. Wenn man bie erfte Ur:
jade zugebe, fo enthalte e3 Teinen Widerſpruch, angu.
nehmen, daß, folange feine neue Kraft hinzukommt,
gewiſſe Organismen fid) eher im bet einen Weiſe ent
wideln können, als in der anderen, und daß auf bicje
Weiſe verjdjiebene organische Weſen entftehen. Anders
fei e8 beim Webergang von ber einen Klaſſe organifcher
Weſen zu einer anderen, z. 38. von den Pflanzen zu ben
Thieren. Thatjächlich fei allerdings diefe theoretifche Be:
trachtung burdjaus nicht beftätigt. Wenn freilich Sechi
eine allmälige Umwandlung ber Arten durch eine Art
Migrationstheorie erfegen will und dafür das ſelbſt als
zweiſchneidig anerkannte Argument von uod) zu hoffenden
paláontologifdjen Funden anwendet, fo wird er ſchwerlich
viel Zuftimmuug erhalten. Ja wenn er ©. 37 die
ganze Mannigfaltigfeit ber Thierformen aus ganz fleinen
Variationen in den untergeordneten Organen weniger
Grundtypen hervorgehen läßt und das Skelett ber Wirbel:
thiere und fpeciell bie Bewegungsorgane bis zum Re:
fultat der ganzen Entwicklung in ber menſchlichen Hand
aus Kleinen Abänderungen berjelben Grundform herleitet,
io hat er ja bie Umwandlung vollauf zugegeben. Der
Ueberfeger bemerkt denn aud) dazu, baB fid) der SBerj.
bier ganz zu Gunften einer teleologifhen Entwicklungs⸗
theorie äußere. Ich begreife bieje Confequenz bei bem
Streben nad) einer einheitlichen Erflärung des Weltall,
halte fie aber weder für nothwendig mod irgendwie
thatjählich erwieſen.
Schanz.
Theologiſche
Quartalſchrift.
EI
Qm Verbindung mit mehreren Gelehrten /€88Elgy,
C'IBODULLIBR) *
beraudgegeben M c»
von Mose ΄
D. y. Kuhn, D. v. Himpel, D. v. Kober, D. v. £infen-
mann, D. funk und D. Schanz, 4 Ἵ
Brofefforen ber kathel. Theologie an der f. Univerfät Tübingen.
Fünfundfechzigfter Jahrgang.
Viertes Quartalheft.
Tübingen, 1883.
Berlag der 9. 2aupp'[den Buchhandlung.
Drut von Ὁ. Saupp in Tübingen.
1.
Abhandlungen.
1.
Solmar von Zriefenftein und der Streit Gerhohs mit
Eberhard von Bamberg.
Bon Profeſſor Dr. Kaltner in Salzburg.
L
Seit Berengar von Tours bie Streitigkeiten über
bie heilige Cudjariftie an die Tagesorbnung gebradt
batte, dauerten biejelben aud) mad) feiner Belehrung
noch lange feit fort und bie verfchiedenften Meinungen
traten zu Tage. Während einige glaubten, Brod und
Bein blieben unverändert, Tönnten alfo aud) nur im
bildlichen Sinne Chriftt Fleifh und Blut genannt wer-
ben und feien im Gacramente nur aufzufaflen wie das
Waſſer in der Taufe, meinten andere, Chriſtus [εἰ im
Brode alfo „impanirt,“ mie er in feinem Leibe „incar-
niet“ ift; dritte behaupteten gar, Brod und Wein werben
nicht in das Fleiſch und Blut des perſonlichen Goriftus,
fondern in jene eines Gerechten, aljo eines Gliedes des
85 *
524 Raltner,
myſtiſchen Leibes Chrifti verwandelt; eine vierte Gruppe
betrachtete bie Confecration von Seite fündiger Priefter
und die Gommunion feiten8 untoütbiger Empfänger für
nichtig unb ungiltig; eine fünfte Abtheilung erachtete,
wie bei Chrifti Lebzeiten die Speife fid in fein Fleiſch
und Blut verwandelte, fo geſchehe e8 jet mit Brod und
Wein; enblid) fagte man gar Eucharistiam »per comes-
tionem in foedae digestionis converti corruptionem.
Alle diefe Verirrungen menſchlicher Speculation zählt
und Alger, Scholafter von Lüttih, auf am Eingange und
im 9. Gapitel feines ausgezeichneten Buches: »De sa-
cramentis corporis et sanguinis Domini.«
Gegen Ende ber erften Hälfte des zwölften Jahr:
hunderts famen mun bieje Irrthümer in craffer Form
auch in ber Diözefe Würzburg zum Vorſchein. Am
Maine, Langfurt gegenüber, ragte auf einem Felſen das
Auguftiner-Chorherren-Stift Triefenftein, »Petra stillans«
empor, beffeu vierter Propft ein gewiſſer Folmar, ein
Mann von eigenthümlicher Denfart, war. Bon feinem
Leben ift außerordentlich wenig befannt. Den Erzbiſchof
Eberhard I. von Salzburg, welcher 1133—47 erfter Abt
von Biburg bei Abensberg war, nennt Folmar feinen
früheren Herrn (Gretfer XIL IL 105), weshalb Binte:
rim in feiner pragmatiihen Geſchichte (IV. 188) ver:
muthet, Folmar habe feine Bildung in Biburg genoffen,
wobei feine entſchieden nominaliftiihe Richtung immerhin
nod) erflärbar bleibt. Die Priefterweihe erhielt Folmar
von Biſchof Eberhard von Bamberg (Beg VI. I. 449),
aud) war er jünger als fein Gegner Gerhoh, welcher
1093 geboren war, wie aus dem Briefe eines Paters
des Kloſters Rohr zu entnehmen ift, ben Grether (Lc)
Solmar von Zriefenftein. 525
mittheilt. Einiges, 3. 9. fein Todesjahr 1181, über
Folmar hat Michael III. der Abt ad Exemtas Ins-
eulas Wengenses im 5. Bande feiner Gollectio; ſonſt
fennen wir unferen Propft nur aus den Angaben feiner
Gegner, melde mit Vorfiht gebraudt werden müffen.
Eine Zufammenftellung berjefben findet fid) bei Fabricius
(lat. II. 175). Seine Feinde jagen nun, er fei ein ſpitz⸗
findiger, anmaßender und dabei unkluger Mann geweſen,
ber jene Weisheit befaß, melde aufbläht. (Gretfer 1.
e. 101. 105. 106). €3 find das Außerungen, melde
in Folmars literarifchen Kämpfen ihre Beftätigung finden.
Da von ihm gejagt wird, daß er für feine Anfichten
in Wort und Schrift unermüdlich Tämpfte, fo fdeint er
mebrere8 gefchrieben zu haben — allein es ift alles
verloren gegangen mit Ausnahme eines Briefed an Eber⸗
hard I. von Salzburg, des Widerrufes feiner Abend:
mahlslehre und be8 Titels feiner Abhandlung: »De
tarne et anima Verbi Dei.«
Neuerungsſüchtig und rationaliftiih angelegt war
Folmar ein Freund jener nominaliftiihen Richtung,
welche gleid) Neftorius und der alten antiocheniſchen
Säule das Menſchliche und Göttliche in Chriftus mög-
lift fireng und meit auseinander bielt. Bei folden
Anſichten über die Perfon Ehrifti und bem meit verbreis
teten Irrthümern über bie Euchariſtie wird e8 mum be-
greiflich, daß Folmar behauptete: »Oportet in hoc sa-
eramento recte dividere et naturam Verbi a corporis
natura distinguere« ( Gretſer 1. c. 101.), unb mit feinem
ewigen Unterfcheiden zur Irrlehre fortgerifien wurde.
Folmar behauptete gunádjft, feit feiner Himmelfahrt fei
Chriſtus fórperlid) nicht mehr auf Erden geweſen, bie
626 Kaltner,
Erſcheinungen au Petrus und andere Heilige ſeien Fabeln.
An mehreren Orten können Chriſti Leib auch im Himmel
nicht ſein, wie denn auch Auguſtinus ſagt: »Corpus in
quo surrexit uno loco esse oportet« (nicht »potest«,
wie andere Ausgaben haben). (Migne 194; 1117, 1122,
1123). Kann mun Chriſtus »Totaliter et corporalitere
zu gleiher Zeit nicht am zwei Orten gegenwärtig fein,
io ift bod) nod) möglich, baB Theile feiner menſchlichen
Statut mit ber göttlichen Perfönlichteit Chriſti vereint
an verſchiedenen Orten gleichzeitig zugegen find. »Ubi-
cunque enim Christus est, totus est: etsi totum non est;
Sicut uno eodemque tempore totus in sepulchro et totus
in inferno erat; sed totum non erat.« ( Gretſer 1. c.101).
Driginell waren übrigens all biefe Theſen bei Folmar nidt;
bereit8 Alger im 14. Gapitel feines oben angezogenen
Buches findet fid) veranlaßt zu bemeifeu, daß Chriftus
im Himmel und auf Erden gegenwärtig fei.
Natürlich wandte Folmar diefe Anſchauungen aud)
auf ben euchariſtiſchen Chriftus an und fam zur Folge
rung, daß unter der Geftalt des Brodes nicht der ganze
ungetheilte Leib Jeſu Chrifti, fondern mur ein Theil
desfelben, das Fleiſch ohne Gebeine, fuodjem und Blut
vorhanden fei. Ebenſo trinfe er in ber DL. Communion
wie von einer »spiritualis uva« Chrifti reines Blut abs
gefondert von feinem Gebein und Körper. Ganz bide
Anfiht Habe bie Hl. Schrift, melde lebrt, baf wir
nicht den Menfhenfohn, fondern das jyleijd) bes Men
ſchenſohnes genießen. Was im Wort auseinander ge
“halten wird, muß aud) ber Sache nad) auseinanderge
halten werden, folgerte Folmar weiter. Nun aber fag
doch Chriftus ausbrüdlid: „Wenn ihr nicht effet dad
Folmar vom Triefenftein. 587
Fleiſch des Menihenfohnes und trinfet fein Blut.“
Weiter habe er bei Gelehrten gelefen: »Integer Christus
sumitur in utraque specie, sed illa persona in qua
sunt tres substantiae et tamen in solum corpus Christi
transit panis ille materialis, sicut inter (-totus?) Chris-
tus in cruce et tamen sola caro vulnerata fuit.« ( Gret⸗
fet 1. c. 101; Bez VI. L 450)
Folgerichtig ftelte Folmar bem weiteren Sag auf,
daß unter einer Meinen Hoftie, wie fie in ber Pyris
enthalten zu fein pflegt, weniger von Ehrifti Fleiſch zu⸗
gegen ift, als "unter einer großen Hoftie, wie fie bie
Priefter am Altare gebrauchen. (Bez VI. I. 449).
Dennod empfange man in ber Communion immer
den ganzen Ehriftus, bejfen Perfönlicpkeit ja feine Thei-
lung zuläßt: »Ubi caro Christi ibi consequenter et
Christus non pro parte sed totus, totus seorsum in
carne, totus seorsum in sanguine, totus simul in
utroque; nihilominus separatim in altero, nihilomagis
in utrisque conjunctis totus vel integer, non ad hu-
mani corporis, ut quidam litigant, integralitatem, sed
ad personae Christi individuam unitatem.« (Gretſer
l e. 101.)
Mit bem »dividere et naturam Verbi a corporis natu-
ra distinguere« fam Folmar nod) einen Schritt vorwärts.
Da er fid) im heiligen Sacramente zunächt nicht bet; Men:
ſchenſohn, fondern das Fleiſch des Menfchenjohnes gegen-
märtig dachte, fo mußte et fid die Frage vorlegen,
toeldje Art von Verehrung biejem Theilen des Leibes
und Blutes gebühre? Er antwortete, nicht bie Anbetung,
fondern wur eine höhere Verehrung als den Engeln und
Heiligen fei ihnen zu erweifen. — Qlemit war das Thema
528 Kaltner,
»De gloria et honore filii hominis« berührt und bem
Streite eine noch viel größere Ausdehnung gegeben.
(Migne 1. c. 1117—20; »De investigatione antichristi«
ed. Scheibelberger II. c. 33).
Gegenüber einer unreinen Auffaffung fid zu einer
io geläuterten und rationellen Anficht über dieſes My—
fterium emporzuſchwingen, Detradjtete Folmar al8 eine
befondere Gnade Gottes; denn: „Die Weiſen diefer
Welt“ ſchreibt er „verftehen bie Süßigkeit bieje8 Geheim-
niſſes nicht, weil fie die Reinheit desfelben nicht erfaſſen;
jenen aber, fo demüthigen Herzens find, wird dasfelbe
geoffenbart" (Gretfer 1. e. 101). Jedoch für die Ber
breitung dieſer „Offenbarungen“ forgte ber Probft vou
Triefenftein mit auffalendem Eifer. Er verfaßte eine
Abhandlung und [a8 diefelbe mehreren gelehrten Reli-
giofen vor, zu denen aud) Adam, der Abt von Gbrad
zählte. Alein e8 fdjeint, daß man Folmar für feinen
beſonders großen Gelehrten hielt, denn legterer Abt ver⸗
fihert, man habe auf ben ganzen Vortrag fo wenig aufge:
merkt, daß bie Irrlehren Folmars niemanden auffielen.
(Gretfer 1. c. 105). Der Triefenfteiner ermüdete nicht,
ſondern theilte feine Sacramentslehre „feinem früheren
Vorgefegten" Eberhard I. von Salzburg in einem Briefe
mit, beffen ſchneidige Devife: »Semper gaudere, nihil
adversique timere« lautete, Er fügte bei, fromme Reli-
giofen und der Abt von brad) hätten dieſelbe bereits
gebilligt. (Gretſer 1. c. 101).
Nun aber beftand eine enge Verbindung zwiſchen
Salzburg und dem regulivten Chorherrenftifte Reicheräberg
am Inn, welches unmittelbar bem Erzftifte unterftand.
Der berühmte Gerhoh, Eberhards Freund, war bajelbft
Folmar von Triefenftein. 529
Propſt, beffen Bruder Arno begleitete bie Stelle des
Dechantes und ein Mitglied des Conventes, Johannes,
war Caplan des Erzbiſchofes. (Pez VI. 1. 487) (δ
Tann babet nicht Wunder nehmen, daß Folmars Brief
an Eberhard I. bei Seiten in Gerhohs Hände gerieth.
(Gretjer 1. c. 103). Zunächſt ſchrieb an Folmar ein
»R. Salzburgensis ecclesiae frater modicus,« bet ung
nicht näher befannt if. Man dachte wohl an Gerhohs
Bruder Rüdiger, allein da biejer Dechant in Augsburg
war und mad) feiner Vertreibung fid) nach dem Klofter
Neuburg begab, fo ift nicht einzufehen, wie er fid) als
ein Geiftliher der Erzdiözefe Salzburg hätte bezeichnen
können. „Der Triefenftein trieft bereit bi8 am unfere
Berge heran,“ ſchreibt R., „aber der neue Evangelift bringe
einen neuen Glauben, beffer gejagt einen neuen Unglauben.
Es find nur Traumgebilde, bie felbft alte Weiber nicht glau-
ben und denen entgegen zu treten nicht der Mühe wert fei;
allein man müſſe e3 bennod) thun, damit es nicht heiße,
man babe beigeftimmt.“ Gab für Caf werden bonn
Folmars Behauptungen zurüdigemwiefen, aber mit einer
Ironie, melde be8 großen Gegenftaubes nicht würdig ift,
um ben e8 fid) handelte. Tiefer ſchauend madjt end-
lich Bruder 9t. auf bie Duelle aufmertjam, aus mwel-
her diefe Verirrungen kommen: „Sollen aljo ba8 zwei
Dinge fein, Chriftum empfangen und den Menſchenſohn
empfangen? ft denn Chriſtus und ber Menfhenfohn
nicht ber eine und berjelbe? Wohin fol das führen?“
Gretſer 1. c. 101.)
Was nun Gerhoh über Folmar und feine Lehre
dachte, ift bei der ausgeſprochenen Gefinnung bieje8 ge-
nialen Mannes Har. Er legte fpäter feine Gedanken
530 Raltner,
bierüber im 18. und 14. Kapitel feines Buches »De
gloria et honore filii hominise nieder unb wir fómnen
nidt unterlaſſen, bievon den Hauptinhalt zu erwähnen.
Wie ber Herr nod) im Fleiſche wandelnd angebetet wurde,
fo mußte er aud) jebt in feinem Leibe angebetet werben.
Obwohl fein Leib im Himmel it, fo ift Chriftus bod
aud) feinem Leibe nad) in feinem Tempel, in der Kirche,
welche er nährt mit feinem Leib und Blut; und zwar
ift er zugegen nicht nur ber facramentalen Wirkung nad,
wie Berengar behauptete und Folmar fein erfentreter,
ſondern wirklich und wahrhaft, mit demfelben Leibe, bet
aus ber Jungfrau gebildet wurde; er ijt negenmärtig,
wird geopfert, empfangen und zu unferem Qeile ange:
betet. Wohl Dat Berengar widerrufen — aber biejer
neue Gottesläfterer »Folmarus recte follis amaruse be-
hauptet mun in Wort und Schrift, Chriſti Leib märe
feit feiner Himmelfahrt nie mehr auf Erden gemejen.
Wie das Gong von Epheſus über Neftorius, fo müfle
er jet Anathema fprechen über alle, bie Chriſti leben:
digen und leben[penbenben Leib an einem Drt fo ver:
ſperren und einferfern, als ob er nicht zu gleicher Zeit
an vielen Orten fein fónnte.
Gerhoh fagte felbft, er finde e8 unter feiner Würde,
an ber »Dormitantiuse feines Jahrhunderts zu fchreis
ben; deßhalb jambte er, ba er nicht ſchweigen mollte,
einen Brief an Adam von Gbrad), um ihn wegen feiner
Zuftimmung zu Folmars Sactamentälehre zu interpellicen.
Mit jener Geiftesfhärfe, die ihm eigen war, geht er fo-
fort auf den Grundirrthum Folmars eim. Im aufer:
ftandenen Chriftus ijt Gottheit und Menſchheit, Leib und
Seele, Gebein, Fleiſch und Blut vereinigt; bem es if
Folmar von Triefenftein. 531
die Erfüllung des altteftamentlichen Oſterlammes, von
dem gejchrieben ftehet: »Caput cum pedibus et intesti-
nis vorabitis, os non comminuetis in eo«. Daber muß
man von Ehriftus im Hl. Sacramente fagen: »Divini-
tas cum tota humanitete voratur.« Folmar, dieſer
»Divisor Christi,« ift ein neuer Neftorius, melden von
vorneherein das Ephefinum verurtheilt Dat. „Das
Wort ift Fleisch geworden“ ; wer alfo das Fleiſch bes
Wortes empfängt, empfängt das Wort in feinem Fleiſche;
dasſelbe abgejonbert vom Logos zu denken geht nicht
an, das beweife aud) Hilarius im 8. Buche feiner Ab-
banblung über dieſes Sacrament. Daß Ehrifti Leib im
Grabe und feine Seele in der Vorhölle war, könne jetzt
mad) feiner Auferftehung unmöglich als Beweis für Fol-
mars Lehre angeführt werben. Chriftus ift ja ganz im
Himmel und ganz auf vielen Altären; wer baber fagt,
er genieße ihn, aber nicht fein Gebein, und wer das Blut
von feinem Leibe trennt, denkt unwitrdig von ihm. Adam
möge aljo Acht haben: »Ne credamini credere quod
non creditis!« (Gretfer 1. c. 108.) Letzterer entſchul⸗
bigte fid fpáter damit, daß er auf Folmard Vortrag
nicht gehört, feine Irrlehren nicht beachtet habe und
über das BL. Sacrament ganz jo mie Gerhoh bente.
Wäre der Propft von Triefenftein fid) früher nicht ba-
rüber Har gewefen, daß e8 fid) in biejem Streite in
legter Linie um bie Perſon Chrifti handle, jo hätte ihn
der Brief des Salzburger Geiftlihen und nod mehr
Gerhoh, mwelder ihn als ‚neuen Neftorius bezeichnete,
darüber aufgeklärt. Hiemit mar aber eine Frage be-
rührt, welche al3 Streit über bie Glorie und Ehre des
Menſchenſohnes ſchon feit Longer Zeit die Theologen
532 Kaltner,
aller Länder befchäftigte. Nominaliften und Realiften
lagen fid hier in den Haaren; ber Kampf murbe mit
einer Hitze geführt, welche an bie Zeiten des Neftorius
und Eutyhes erinnerte; bie einen nannten bie andern
Neftorianer und bie andern bie einen Cutpdjianer. Ger-
bob fümpfte auf diefem Gebiete fein ganzes Leben bin-
dur — von feiner Jugend angefangen, mie der Chro-
nift von Steidersberg fid) ausbrüdt.
Hier glaubte nun aud) Folmar den Hebel einfegen
zu müſſen und ſchrieb feine Abhandlung: »De carne et
anima Ohristi.« Er übergab biejelbe ſammt einem
Brief einem Boten, ber im Klofter Rohr vorſprechen
und fodann bie Abhandlung an Gerbob, ben Brief aber
an Eberhard I. von Salzburg übermitteln follte. Der
Brief felbft ift uns nicht mehr erhalten; von feinem Ju=
halte wiffen wir nur, daß Folmar „hartnädig bei der Hä-
tefie verharrte, mit welcher er fid befledt batte," und
daß Gerhoh in demielben unwürdig behandelt und blof-
geftelt wurde. Im Buche aber, dad Gerhoh als »pro-
fanus libelluse bezeichnet, (Bez VI. I. 487) griff er
denfelben offen an, höhnte ihn, teil er den Hilarius
nicht verftehe und warf ihm Irrthummer vor. Das
alles geſchah mit folder Maßlofigfeit, daß ein Bruder
9t. im Klofter Rohr den Gerhoh offen bedauerte. (Gret-
fer 1. c. 105.) (8. hat allen Anſchein, daß der Brief
Folmars an Eberhard von Salzburg, melden Arno Des
dnt von Reichersberg unb Gerhohs Bruder in feinem
„Apologeticus“ erwähnt, feim anderer als ber eben
beſprochene if. (Migne 1. c. 1531.) Sagt gleichwohl
Arno, daß derfelbe zur Zeit, mo er feine Abhandlung
ſchrieb, von Gerpob nod) nicht gelefen worden fei, jo
Folmar von Triefenftein. 533
findet ba8 feine Erklärung darin, daß ber Brief lange
in Salzburg liegen bleiben fonnte; ja Eberhard mochte
Gründe haben, die erregten Gemüther nicht nod mehr
zu erhigen, ja der Brief founte immerhin nur gelegent-
lid ober zufällig nad) Steidjeráberg fommen. (»cum
epistola forte ad eum, contra quem erat scripta,
pervenissete). Den Inhalt des Briefes jdjilbert Arno
aber aljo: »Ut verum fatear, epistola illa maledicta
et maledicenda, siquidem maledictis plena, mendaciis
respersa, felle amaritudinis infusa, utpote juxta nomen
auctoris, de folle amaro.« Wir wollen indefjen nicht
unerwähnt laſſen, daß Binterim (l.c. 199) diefe Worte
auf einem fpäteren Brief Folmars an Eberhard von
Salzburg bezieht. Ein folder Brief ift ficher nicht un-
wahrſcheinlich, allein es fehlen genauere Nachrichten, bie
ung benjelben bezeugen könnten.
Unterdeffen hatte Folmar einen [deren Gang zu
madjen. Nahdem Eberhard von Bamberg ben Brief
Gerhohs an Adam von Ebrach gelefen hatte und über
dies aufgefordert worden war, gegen bie Irrthümer des
Triefenfteiner zu ſchreiben, fühlte er fid) verpflichtet
etwas in biefer €adje zu thun. Eingedenf ber Worte
Ehrifti: „Wenn beim Bruder wider dich gefündigt, ver-
weiſe e3 ibm zwiſchen dir unb ihm allein" wollte er
aber jedes Gclat um fo mehr vermeiden, al8 er aud)
mit Gerhohs Brief an Adam von Gbrad) nidt ganz
einverftanden war, ber ihm in ber Sacramentälehre zu
kraß und etwas eutychianiſch angelegt ſchien. Er, lief
aljo Folmar burd) den Abt von Cbrad) zu fid rufen
und bemog ihn, feine Thefen über bie Euchariftie zu wider:
rufen. Folmar geftand, biejeben nidt nur mündlich
584 Raltner,
jondern aud) in zahlreichen Schriften verbreitet zu haben,
auch an Eberhard von Salzburg habe er Dinge gefchrieben,
bie fid) nicht gehören. Es fei alfo unmöglich, alle vom
Widerrufe zu verftändigen: »Si enim missa, quanto
magis nescit vox scripta reverti . . sanet ergo con-
fessio, quae corrigi revocatione non potestc! Das
Mtarsfacrament ift ein Geheimniß, fagte Folmar, wel
des weder Menſchen nod) Engel erfaflen, und das
.gang auf Gottes Allmacht beruht. In biejem Sinne
babe er die Abhandlung »De carne et anima Christic
an Gerhoh geſchrieben, bie er ebenfalls einem beſſeren
Urtheile unterwerfe. (Gretſer 1. e. 105.) Inſoweit
feine Irrthürmer zunähft das Altarsfacrament betra—
fen, leiftete Folmar Widerruf, indem er fagte: Im
hl. Sacramente wird ber wahre und ganze Leib Jeſu
Chriſti in feiner menſchlichen Subftanz genoffen; infofern
aber bdiefelben fij) auf bie Perſon Chrifti bezogen,
30g er Feine Silbe zurüd. Das geht Har aus bem
Wortlaute der Revocatio hervor; das mar bet Ginbrud
in Bamberg, wo Biſchof Eberhard, ber Abt von Ebrach
und bie andern Berfammelten offen fagten, Folmar habe
πο andere zahlreiche Irrthümer und man müfje be8-
bald für ihn um Crleudtung beten; das war endlich
aud die Anfiht anderwärts 4. B. im Klofter Rohr.
Bruder R. dafelbft fehrieb geraume Seit nah bem
Widerrufe einen Brief nad) Triefenftein, zu defien Abfal-
fung ihn bie bereit zur Gewohnheit gewordenen Schmäh:
worte Folmars gegen Gerhoh bewogen.
Wie Daniel den ergrauten Richtern, fo mie
er Folmar entgegentteten: mod) jung einem Greiſe,
ein einem Manne, ber groß in feinen eigenen Augen,
Folmar von Triefenftein. 535
denn daB ewige Schmähen gegen einen Mann, mwelder
butd) das Evangelium fein Vater geworden, ἔδππε er
nicht ertragen! „Gerhoh liest den Hilarius mod), ver-
ſteht und erflärt in! Schaut auf Euch felbft! Wirglauben
Euch nicht, weil Ihr Unkraut jüet! Aus feinem Munde
aber haben wir Worte des Lebens und das Gefez ber
Zucht vernommen, Wunderbare an ihm gejeben, als
Seelenarzt ihn erprobt! Nicht bie Liebe für den Sohn
Gottes, nicht der Eifer für Gottes Ehre, fondern Neid
und Ehrgeiz treibt €ud)! Es ift freilich etwas Großes,
Große fed anzugreifen! Aber ſchweigt und legt ben Finger
auf ben Mund, damit Eure legten Dinge nicht ärger
werben als bie erfien! — Gebet zu, ob Ihr Euren Glauben
gang verbefiert Dabet; denn ich fürchte noch für Euch”!
Gretſer 1. c. 106).
Die eit, in welcher ber bisherige Streit vor fid
gieng, läßt fif) genauer nicht beſtimmen, nur ſo viel iſt
ſicher, daß er zwiſchen 1147 "und 1168 hineinfiel; denn
im erſteren Jahre beſtieg Eberhard bem erzbiſchöflichen
Stuhl von Salzburg, im legteren Jahre aber fand bie
Disputation in Bamberg ftatt, die nicht auf 1150 ober
1151 zu fegen ift, wie εὖ Binterim 1. c. und Haufiz
(Germ. II. 252) thun, fonbern auf 1158 (Stülz in Dent-
ſchriften ber Faiferlihen Akademie der Wiſſenſchaften
1850. 150; Gruber: Eberhard I. von Salzburg 53).
Es wird fomit biefer erfte Streit zwiſchen Folmar und
Gerhoh auf die Jahre 1154—1157 augujegen fein.
I.
Gerhoh in feinem Briefe an Adam von Ebrach hatte
ben Ausdruck gebraucht: »Divinitas et humanitas vora-
536 Raltner,
tur,« und Eberhard bezeichnete benjelben als Erfindung
und unerhörte Neuerung, welche bet Schule bisher un-
befannt war. Chriſtus habe fi in Brodes- und Wei-
nes⸗Geſtalt gehüllt, um uns jeden Schreden bei feinem
Genuſſe zu nehmen, unb jegt muß man fo „Horrendes“
bören! Sagen, daß Chriftus ganz im Sacramente ge:
noſſen wird, heißt »recte offerre«; aber die Eigenfchaften
feiner göttlichen und menſchlichen Natur nicht auseinander:
balten heißt: »Non recte dividere.« Man dürfe jagen:
„Gott hat gelitten“ ; aber nicht: „die Gottheit hat gelitten ;“
ebenfo müſſe man aber aud) jagen: „Chriftus, der Gott
und Menſch ift, wird genofien,“ aber nicht jagen: „Die
Gottheit wird genoffen.“ (Pez VI. 1. 453.) Hieraus
ἐᾷ aud ar, was in Folmars Widerruf die Worte:
»in humanae substantiae veritate et integritate su-
mitur« zu bebeutem haben, und warum er nicht veran.
laßt murbe, ben Unterſchied von »carnem filii hominis«
und »filium hominis manducare« in feiner ganzen Zwei⸗
beutigleit zu widerrufen. Da nun Folmar in feinen
Theſen fo weit gieng, daß er geradezu behauptete, Chriftus
als Menſch betrachtet [εἰ nit »naturalis dei filius,«
fondern fagte »in eo quod homo est, non aliter esse
filium dei, quam unum ex nobise und leugnete »eum
resurrectionis gloria et honore ascensionis glorificatum
paternae aequalitatis gloriam introisse aut introire po-
tuissee (Migne 1. c. 1532), fo trat et bier bem Ger
bob, welcher letzteren Gag fein Leben Binburd) verfodit,
biametral entgegen und fonnte fid) freuen an Eberhard
von Bamberg, der ibm bisher opponirt hatte, einen
Bundesgenofjen für die Zukunft zu haben. So ent
toidelte Π der Streit über bie Glorie und Ehre des
Folmar von Triefenftein. 537
Menſchenſohnes, in welchem, um parlamentarifch zu reden,
Folmar bie Linke, Eberhard von Bamberg das Zentrum,
Gerhoh aber die Rechte einnahm, während Erzbiſchof
Eberhard von Salzburg fozufagen bie Präfidentipaft
führte, aber bei der Schwierigkeit der Frage die Ente
ſcheidung dem apoſtoliſchen Stuhle überließ. (peg VL
549). Natürlich) wandte fid) Gerhoh birect nicht gegen
Folmar, fondern gegen Eberhard von Bamberg; denn
war biejer geld)lagen, fo war bie Niederlage des Triefen-
ſteiners felbftverftändlih. Che wir nun dem gefchichte
lichen Berlauf des Streites weiter verfolgen, wollen
Toit genauer in bie Punkte eingehen, um melde es fid)
fanbelte.
Der gemeinfame Boden, auf welchem fid) beibe
Gegner, Eberhard und Gerhoh, befanden, war ber Satz
bes Athanafianums: »Christus aequalis patri secundum
divinitatem, minor patre secundum humanitatem.«
Diefem Gate ftellte Gerhoh bie Behauptung des HL
Hilarius zur Seite: »Glorificaturus filium pater major
est; glorificatus in patre filius minor non est.« (Migne
Le. 1163.) Segteren Sag, wenigſtens in der Auffaſſung
Gerhohs, glaubte nun Eberhard entſchieden zurückweiſen
zu müffen. vo.
»Christus secundum quod est homo« ift geringer
ala ber Vater, behauptete Eberhard; denn bie geſchaffene
Natur muß offenbar geringer feit al8 der Schöpfer, der
Sohn geringer al ber Vater, der Diener (servus) ges
τίπρες al8 ber Herr. Nun aber ift Chriſtus als Menſch
betrachtet offenbar als servus zu bezeichnen, denn er
felbft fagt: »Ascendo ad deum meum et deum ves-
trum«; deus und dominus befagt aber in Gott dad eine
Ses. Ouariafjärit. 1888. Heft IV. 36
538 Kaltner,
und dasſelbe; ebenſo verſichert Chriſtus, er ſei gekommen
zu dienen, nicht bedient zu werden; Moſes prophezeit:
»Prophetam suscitabit nobis dominus deus .. tam-
quam me«, und wiederum lautet im alten Bunde das
prophetiſche Wort von Chriſtus: »Tu autem domine mi-
serere mei et resuscita me et retribuam eis.c Auch
Auguftin faßt Chriftus al8 servus auf, wenn er von
ihm fagt: »Deus meus sub quo et ego homo sum.«
(Bey VI. I. 446 ff; 466).
Gerhoh geht von dem Gedanken aus, bie meni:
lide Natur müfje doppelt aufgefaßt werben und rebet
von einer »humanites qua homo est, quaeque hominis
est et ipsa homo non ést«; e8 ift das bie menſchliche
Natur an fid) betrachtet, e8 ift »corpus et animac, wie
er fid an anderer Stelle ausbrüdt; diefe müſſe nun
wohl unterfjieden werden von ber »humanitas, quae
homo este und melde er ftet8 verftanden habe, menn
et fid) des Ausdruckes humanitas bediente. Um Miß-
verftändniffen vorzubeugen, werde er hiefür homo, oder
»Christus secundum quod est homo« gebrauchen (Migne
1.c.1090,1092). Praktiſch genommen dürfe man in Chris
ftus von der Natur mur im biejem concreten Sinne reden,
fonft erſcheine die menſchliche Natur als »truncus« ohne
ba$ »caput subsistentiae«; e8 wird aus bem reellen
Chriſtus ein »homo fietuse unb biejer ijt dann freilid)
»minor patre« und »minor seipso.« Wie Gerhoh bier
das Athanafianum auffaft, zeigen beutlid) folgende Worte:
»Ubi praedicatur idem homo .. minor patre secundum
humanitatem, nomine humanitatis natura humana
qua homo est homo, quaeque hominis est, et ipsa
non est homo sane intelligitur.« (Migne 1. e. 1090).
Folmar von Triefenftein. 539
Im concreten Sinne, wie e$ Eberhard meinte, fónne
jebod) bieje8 nicht gefagt werden, denn da erjdjeint Gbri-
fins als »filius dei naturalis.« Dieſes aber ift er ein
utraque natura; in divina naturaliter, in humana
mirabiliter, non per adoptionem, sed per naturam«
(Migne 1. c. 1010; »De investigatione antichristi«
D. e. 32. 33). Der Unterſchied Liegt nad) Gerhoh nur
in bem „Wie?“ In feiner göttlihen Natur ift er e8
»naturaliter quia naturale est omnibus gignentibus
gignere sui generis prolem sibi connaturalem et con-
substantialem« ; in feiner menſchlichen ift er e8 »mira-
biliter quia non in hac deo patri consubstantialis aut
connaturalis est« und man fid aud) ben DL Geift nicht
al3 »semen« benfen dürfe (Migne 1. c. 1010). Faßt
man bier Chriftus als Geſchöpf auf, fo Tönne man ja
jagen, et fei »in sui conditione« geringer al3 der Schöpfer;
aber concret genommen ἐξ er nicht »ereatura utcunquee,
und wenn Auguftin behauptet: »creaturam nunquam
posse cosequari ereatori«, jo fünne das bod) nicht auf
bie »ereatura creatori unita« bezogen werden (Migne
1. c. 1140), von welder man mit Ambrofius fagen darf:
»Christus non creatura sed creator«! (Pez VI. 1. 509).
Bei biefer butdjaus concreten Anfhauungsmeife kann
nun Gerhoh unmöglich zugeben, daß Chriftus al8 Ser-
vus, bet Vater als fein Herr bezeichnet werde; unb
zwar nicht nad) ber Himmelfahrt und mod) viel weniger
vor berjelben. Gerhoh ftellt bier folgenden Grundſatz
auf: »Quia filius est, justum est, ut in omnibus et volun-
tatem patris faciat et patri tamquam principio suo
deferat. Quia vero et filius consubstantialis est, debito
servitutis non tenetur maxime nunc sacco servitutis
86*
540 000 ferner,
ejus conscisso« (Pez VI. I. 509) Er meifi baher
aud) alle Gründe zurüd, womit Eberhard bie servitus
fügen wollte. So fei Deus und Dominus, wenn e8 ab:
folut bei ber Bezeichnung bes göttlichen Weſens ausge-
fagt wird, gleichbedeutend, wenn es aber relativ gum we⸗
ſensgleichen Sohne ausgefagt wird, ift e8 nicht gleich;
deßhalb habe’auch Ehriftus Gott immer als feinen Vater,
aber an feiner einzigen Stelle als feinen Herrn bezeichnet.
Was bie Stellen aus dem alten Bunde betrifft, jo geht
e8 ſchon aus dem Gontrafte hervor, daß fie fid) auf bie
Zeit vor feinem Tod beziehen, auf bie Zeit ber »dis-
pensatoria humilitas« ; dasfelbe gilt aud) von bem »veni
ministrare«. Einem jolden Zuftande der Demuth und
Dienſtſchaft fonnte fid) Chriſtus aus Liebe zu feinem
Bater unterziehen, er konnte e8 thun als Sohn, er
mußte es nicht thun als Knecht, alfo mobl in »for-
ma service, keineswegs aber »in conditione servili«.
Würbe [egtere8 unabwendbar gum »Christus secundum
quod est homo« gehören, fo müßte man ja von einer
ewigen Knechtſchaft reden; ewig aber dauert in Chriſtus
nur bie »forma servi«, genauer gejagt bie »essentia
servie, b. b. bie menjdjlidje Natur. Auguftin Tann von
Chriſtus allerdings jagen: »Sub quo et ego homo sum«,
weil Jeſus das Mandatum, das et nicht von feinem
Herren, fondern von feinem Vater erhalten hat, »in for-
ma servi i. e. in generis nostri natura« »filiali dilec-
tione«, wenn aud) nicht als Knecht vollzog, Die Worte
Ehrifti: »Cibus meus est, ut faciam voluntatem patris
mei« heißen baber bem Sinne nad): »Non meae servilis
conditionis sed filialis in me dilectionis est εἷος Das
alles betrachtet Gerhoh als nothwendige Folgerung aus
Folmar von Triefenftein. 541
bem Sage: Chriftus ift natürlicher Sohn Gottes, und
apoftrophirt ben Bischof von Bamberg alfo: » Ne Christum,
quamvis in forma servi i. e. in natura nostri generis
sit, sub servili conditione, qua omnis creatura creatori
obnoxia est vel in eo quod homo est collocetis, nisi
quod absit . . etiam unjei et naturalis filii nomen et
dignitatem simul ab eo in eo quod homo est velletis
abstrahere. Haec enim simul non se patiuntur, ut
et naturalis atque unicus patris in eo, quod homo est,
fllius sit et in eodem conditiönalis servus« (Be VI.
1.504. 509). Es leiftete alſo Chriſtus biefe ‚Knechtſchaft“
freiwillig und aus Liebe gegen feinen Vater; er fonnte
e8 thun gleid) wie einer, der das Gefeg gibt, unter bie-
Tem Geſetze [eben Tann, fomeit e8 feine Würde zuläßt.
Daher hat Gerhoh (1. c. 515) folgenden Vergleih: »Non
alio modo sub deo juxta debitam legem naturae hu-
manitatis exstitisse asseritur, quam eo modo, quo etiam
sub lege factus est quamvis ipse promulgaverit legem,
sub qua nimirum sieut homo fuit non utcunque, sed
quantum decenter exinanitionis mensurae congruebat. «
Während Gerhoh in feinem Buche über ben 9Inti-
drift (II. 42) feinen Gegnern vorwirft, daß fie Chriftum
als Menſch ganz lostrennen »a divinitatis forma et
personae subsistentia«, fucht er die Grundlage für feine
Säße immer in ber bypoftatifhen Union, weßhalb er
Chriſtum ala »homo assumtus« bezeichnet. Diefe Affum-
tio ift mim in verborgener, geheimnißvoller Art (»secretiori
sacramento«) in ber Menſchwerdung vollzogen worden,
in offenbarer Weife (»manifestius«) aber zeigt fid) diefelbe
bei der Himmelfahrt. Diefes »assumi« bedeutet [obiel
wie »ungie: »quia non prius assumtus et postea unc-
542 Raltner,
tus creditur, sed ipsa ejus assumtio fuit unctio .. in
regem regum et in dominum dominantium ita ut
neque in se neque supra vel extra se habeat altiorem
se dominum, qui hominem illum assumtum in gloriam
reputet servum suum« (Pez VI. I. 508). Dabei fagten
freifid) Gerbobs Gegner, er made aus zwei Naturen
eine — allein biejer verwahrte fid) dagegen und be
bauptete, was in Chriftus erichaffen wurde, ift weder
bei feiner Empfängnis noch bei feiner Verherrlichung
„abſumirt“, wohl aber zu einer Perfon vereinigt wor:
ben; denn »Assumtus homo et assumtor ejus deus non
sunt quidam duo, sed quidam unus »non conversione
divinitatis in carnem sed assumtione humanitatis in
deum«« (Migne 1081. 1095). Chriftus alfo ift bei
Gerhoh »homo assumtus« vor unb nad) feiner Verherr:
lidung; denn bie Aenderung, welche fid) bei derjelben
vollzog, ift mur duferlid), das innere Verhältnis bet
Naturen wird nicht berührt. Eoncret aufgefaßt mar er
dem Vater gleich vor feiner Glorification, abftract be:
trachtet fteht feine menfchlihe Natur aud) fpäter unter
Gott, ijrem Schöpfer (Beg VI. 1. 515); weil Goriftus
unmögli) bie »conditio servilise nad) feinem Tode Dat,
Tann et alfo aud) früher fie nit gehabt haben. Eber:
hard aber dachte: weil Chriftus servus vor feinem Tode
war, müfje ber Bater fein err aud) nad demfelben
fein, denn das Wort Deus unb Dominus bedeute gleich-
viel und Chriftus fage nad) feiner Auferftehung: »As-
cendo . . ad deum meum et deum vestrum,« und zu
diefer Stelle bemerfe Auguftin »sub quo et ego homo
sum.« Ironiſch bemerkt hiezu Gerhoh (l. c. 513): »Per-
pendat prudentia vestra, quando hoc dixit, adhuc
Folmar bon Triefenftein. 543
videlicet ad patrem ascensurus, quando videlicet talem se
discipulis exhibuit foris, qualis apud eos erat intus«. Wie
wenig aber Chriftus überhaupt als Servus patris bezeichnet
werden dürfe, legt Gerhoh in folgenden Gedanken far.
Nach bem Athanafianum ift »dominus pater, dominus
filius, dominus spiritus sanctus ; et tamen non tres domi-
ni, sed unus est dominus«; e8 gibt hier nur ein Dominium.
Nun hat ber »homo assumtus« bie Zahl der göttlichen
Perſouen nicht vermehrt, aud) ift derſelbe »cum Verbo,
quod illum assumsit non duo domini sed unus est
dominus« ; fomit ift »benedictus ille homo unus illorum
triume, er ift bet Herr, unb,e8 barf nicht geſchehen,
daß jener Menſch, melden Gott in fid aufgenommen
bat, in unferem Glauben außer ober unter Gott geſetzt
werde. Geringer ald ber Vater war und ift die »forma,
essentia et natura generis nostrie, geringer al3 bet
Vater erjdjiem er in ber »mensura exinanitionis«, pet:
fónlid) aber als »homo assumtus« ift er Herr wie ber
Vater (Bez VI. I. 507, 508; Migne 1. c. 1081. 1094).
Ein weiterer, Ctreitpunft zwiſchen Eberhard und
Gerhoh war die Herrlichkeit des Menſchenſohnes nad
feiner Himmelfahrt. Erfterer behauptete diesbezüglich,
bie Knechtſchaft Chrifti, wie fieehedem war), habe
aufgehört, Chrifti menschliche Natur habe die Eigenfchaften
der verflärten menſchlichen Natur aud) dem Fleifye nad
angenommen. War früher feine Gottheit vom Fleiſche
1) »Dicitis et conetanter affrmatis deum patrem hominis
assumti deum et dominum existere et non id quidem solum
de tempore dispensatoriae humilitatis sed et hodie jam . .
servitutem quandam aeternam assignatis« Gerhoh ad Eberh.
Bamb. $e VI. I. 506.
544 Kaltner,
verhält, von Leiden verbunfelt, fo tritt biefelbe jebt
klar hervor und wird allfeitig geglaubt. Das Wort
Bedas: »Quidquid habet filius dei per naturam dedit
assumto homini habere per gratiam« fónne am beften
veranschaulicht werden, wenn man ben »assumtus homo«
als Vaſall bezeichne (Beg VI. I. 447; 464). Gerhoh
dagegen fagte mit Hilarius: »Glorificatus filius patre
minor non est« unb prägifirte diefen Gat in Betreff
der Glotie mit bem Worten: „Die Gottheit gibt bie
Glorie, die Menſchheit empfängt biefelbe: in ber Glorie
felbft gibt e8 aber feinen Unterſchied (»indifferentia est«
Migne 1. c. 1134). Dabei betheuert Gerhoh, baB er
die Natur nicht in Abftracto, fondern in Goncteto aufs
faffe, wovon einige SBerleumber das Gegentheil behaupten
wollten. Aber ohne SBermijdjung ber beiden Raturen in
Chriſto war deren Glorie der Größe nad) vollfommen
gleich, weil biefelbe Herrlichkeit: »Susceptus est non
per gloriam sed in gloriam« (Migne l. c. 1110).
Demnach ift Chriftus aud) im biejer Beziehung midt
Vaſall, fondern Erbe, unb befigt diefelbe Glorie, welde
er als Sohn von Ewigkeit Der befaß, nunmehr aud) in feiner
menſchlichen Natur; was ar aus Joh. 17, D folgt,
100 er »utique...gloriam non Verbo sed carni suae i. e.
assumto homini postulabat, nam Verbum a sua cla-
ritate nunquam destiterate (De invest: IL. 41: Bez:
VI. 1. 478).
Hatte Gerhoh mit ſcharfen Zügen bie Gleichheit
ber Glorie bezüglich der Größe hervorgehoben, fo vergaß
er bod) audj die Unterfchiede nicht. Die Glorie ber gàtt-
liden Natur if ewig, bie der menjdliden nicht; bie
Glorie der göttlichen Natur ift »dantis,« jene der menſch⸗
Folmar bon Teiefenftein, 545
lichen aber »aceipientise ; erftere beruht auf der »conditio
naturae«, leßtere auf der »provectio naturae« ; ift aud)
Ehrifti »humanitas quae« nicht Vaſall, der zu Gnaben
empfängt, jonbetu berechtigter Erbe, fo ift bod) bie »hu-
manitas qua« — im NAugenblide ber Empfängniß gedacht
»accipiens per gratiam« und zwar ift bieje Gnade eine
unmeßbare, weßhalb aud) die Glorie, welche fie vet-
mittelt, eine unmeßbare ift. (Pez VL L 515; 548;
Migne l c. 1107; 1138). Gerhoh fagt daher (l. c.
1110): »Natura assumta quidem in divinitatis gloriam,
sed non assumta per ipsam gloriam, quantum attinet
ad sui essentiam, secundum quam eliam subjectus est
ipse filius patri subjieienti sibi omnia, ut sit subjectio
secundum naturam in filio dei creatam, non secundum
gloriam . . eidem collatam non ad mensuram per..
immensurabilem gratiam.«
Die Glorie be8 verflärten Chriſtus tritt zumal in
feinen Eigenſchaften hervor; Gerhoh befpridt diefelben
an vielen Stellen ftet8 ἐπ’ analoger Weiſe. Um feine
Anſchauung wiederzugeben, heben toit eine derfelben hervor,
bie Sapientia. Diefelbe ift bei Chriftus in feiner gött-
Tidjen und in feiner menſchlichen Natur vollfommen gleich.
Aber mit Magifter Hugo unterideibet Gerhoh folgenber-
maßen: »Longe aliud est sapientià sapere atque aliud
sapientiam esse.« Daraus folgert er: »Divinitas sapi-
entia est, humanitas sapientià sapit«; in Chriftus ijt
»sapientia divina et humana aequalis in virtute non
in natura.« Diefer »Passer solitarius« adhoc »electus
ex millibus« habet dei sapientiam non utcunque, sed
quasi truncus caput.« Da Gerhoh zum Ueberfluſſe nod)
bemerkt, daß diefes von Chrifti Empfängniß an der Fall
546 Raltner,
fei, fo ift Leicht einzufehen, wie er die Worte „Er nahm
zu an Weisheit" erklärt und wie feine Anſichten mit
jenen Eberhards in ſchroffem Widerſpruche ftanden (Migne
l. c. 1136, 1163 ἢ).
Der britte und legte Hauptpunkt, um welchen fid)
biefe Streitigkeiten bewegten, mar eine nothwendige Fol:
gerung aus den ſchon beſprochenen Momenten, und be
traf die Anbetung des Gottmenidem. Haben mit in
ben vorausgehenden Punkten und mit Folmar menig
bejdjüftigt, da Gerhoh zunähft ja ben Bamberger be:
lümpfte, jo müffen wir jet wenigftens wieder auf ihn
gurüdfomumen. Folmar mat burdjaus Aboptianer, denn
et lehrte, Chriftus [εἰ al8 SRenjd in feinem anderen
Sinne Sohn Gottes al3 wie irgend einer aus unà
(Migne 1. c. 1532). Gott ift ein Geift, fagte er, und
aus bem Geiftigen Tann nur Geiftiges ftammen; was
fomit au8 Gott geboren ift, ift Geift, hat nicht Fleiſch
und Gebein, wie wir e8 von Chriftus als Menſch wiſſen
(L e. 1100). Daher ift Ehriftus in feiner menſchlichen
Natur midjt des Vater3 »proprius filius« und hat nicht
Anſpruch auf die Fülle ber Ehre und Glorie desfelben ;
er befigt biefe Glorie nicht und er kann fie unmöglich
befigen (l.c. 1533). Aus folhen Prämiffen leitete nun
Folmar ganz logiſch den Sag ab, Chriſtus dürfe als
Menſch nicht angebetet werden (Pez VI. L 548). Wegen
ber innigen Bereinigung aber, womit in Ehriftus Gött-
liches und Menſchliches verbunden it, geftand er eine
Verehrung zu, welche er dulia major nannte (1. c. 510).
Eine weitere Folgerung war, daß Ehriftus al8 Menſch
von unà nicht mit jener Liebe zu lieben ift, meldje wir
gemäß dem großen Gebote Gott allein ſchulden, ſondern
Folmar von Triefenftein. 547
mit ber Liebe, melde toit gegen den Nächſten haben
müjffen; und zwar [egtere8 in einem Maße, wie gegen
feinen andern Menſchen, weil fein zweiter das gefallene
Menſchengeſchlecht fo geliebt, mie dieſer „barmberzige
Samaritan” (Pe; VI. I. 536. Migne 1. c. 1141). Dem-
ungeachtet geftand Folmar und feine Partei gerne zu,
Chriftum Gott zu nennen »tropo accidentiae«; denn
bie Menfchheit Chriſti [εἰ eine »res deo unita« (Pez VI.
535. 537). Dergleihen Anfichten hatte aber nicht
Folmar allein, ſondern ein großer Theil der Nominaliften;
Petrus der Lombarde erwähnt fie bereits in feinen Sen-
tenzen, allerdings ablehnender Weife, aud) wurden bie:
felben nicht nur in gelehrten Verfammlungen, fondern
aud) vor Biſchöfen und Geiftlihen ohne tmeitere8 vot:
getragen (Pez VI. I. 535. 586).
Auf diefe extreme Partei ſchwur nun allerdings Eber⸗
hard von Bamberg nicht; aber Gerhoh hatte fier nicht
Unrecht, wenn er ihm bemerkte, bloß jagen, in Ehrifto
gebe e8 nicht zwei Perfonen, gemüge nit, um den Ne:
ſtorianismus zu vernichten. Das hätten viele gefagt und
feien dennoch diefer Irrlehre verfallen, weil fie behaup⸗
teten, biejer Menſch (Chriftus) [εἰ nicht »substantive
deus«, fondern »per inhabitationem«, »non natura sed
habitu«, unb hinzufügen »nihil assumtum esse deum.«
Gerhoh hatte an Eberhard aud) geſchrieben, wohin bie
Unterfeidung von Latria und Dulia führen müfle, ſo—
weit nemlid), daß ber Menſch Chriftus, während ihm
nun bie Dulia ermiejen wird, Chrifto ald Gott bie 2a-
tria erweifen müffe.. Eberhard wies foldje Unterfuhungen
jurüd, verwarf den Gag, ba man Chrifto »secundum
quod est homo« nur bie Dulia ſchulde, und betonte,
548 Raltner,
man müffe der göttlichen Perfon Jeſu Gorifti die Latria
erweifen. Trogdem er bie Anfiht des Lombarden mit
den Stellen des Johannes von Damaskus und des
Auguftinus citirt, vüdt er mit feiner ganzen Meinung
nidt heraus, deutet aber diefelbe ziemlich flar an. Ger:
bob hatte ihn an das Ephefinum erinnert, meldje8 ben
Ausdrud »eoadorare« verbietet. Das erkennt nun Eber⸗
hard mit ber Bemerkung an, ein benfenber Lefer werde
wiſſen, diefer Ausdrud [εἰ verboten, wenn er fid) auf
zwei Berfonen bezieht: »nec coadorandum hominem
deo tamquam diversum in persona dicimus« (jeg VI.
L 525. 531 f) Die göttliche Perfon Gbrifti darf an-
gebetet werben, bie göttliche Natur in Chriftus darf
angebetet werden; die menſchliche Natur in Chriftus
wird dabei mitangebetet — das war ber Gedanke Gber-
hards, dem gegenüber Gerhoh den Gat vertheidigte:
»Patet secundum tenorem praedieti concilii non solum
in homine assumto in deum deus adorandus, sed et
ipse homo tanquam deus adorandus una et indissimili
adoratione, qua praeter Christum creatura nulla est
adoranda« (Migne 1. e. 876). Daß übrigens Folmar
biefe Ideen folgerichtig aud) auf bie heilige Cudjariftie
angewendet habe, ‚wurbe bereit am Anfange biefer
Abhandlung erwähnt.
Nachdem wir die Streitpunfte, wie fie fi) im Ver:
laufe be8 Kampfes entwidelten, dargeftellt haben, geben
toit in gebrüngter Kürze den meitern Gang und das
Ende diefer theologifchen Fehde.
Am 25. September 1158, als Erzbiſchof Eberhard
von Salzburg und mit ihm Gerhoh in Bamberg waren,
kam e3 in ber dortigen biſchöflichen Pfalz zu einer Dis-
Folmar von Triefenftein. 549
putation. Gerhoh hatte wohl Gefinnungsgenofien an
feiner Seite, war aber bald ifolirt und fomnte mit bem
Plalmiften jagen: »Qui juxta me erant, steterunt a
longe et vim faciebant, qui quaerebant animam meam.«
Als man darauf in ben Chor zur Gert gieng, betete
Eberhard von Bamberg zu Gerhohs Ohren [aut : »Defecite;
biejer aber pfallirte ruhig weiter bis zu den Worten:
»Narraverunt mihi fabulationes sed non ut lex tua«,
bie er laut in den Chor Dineinrief. Das fpielte fid) fo
fort: mährend Gerbob überall betheuerte, er fei in Sam
berg nicht unterlegen, habe feinen Augenblid nachgegeben,
fei aber auch nidjt als Sieger hervorgegangen, ftreuten
feine Gegner aus, er fei ganz unterlegen unb ber Hä—
tefie überführt worden. Man ſchied im Frieden aus-
einander, ba Gerhoh auf gutes Zureden der beiden
Eberharde Hin fid) dazu verftand, feine Schriften nod)
einmal durchzugehen und zu verbeffern (Pez VI. I.
476. 478. 486).
$iemit war aber bie €adje erft recht in Fluß ge
ratben. Gerhoh entfaltete feine literariihe Thätigfeit
derart, daß Eberhard von Bamberg ihn einen, wenn
aud) gelehrten, Schreiber nannte, ber fid) allein als Pro:
pheten in Israel betrachte und mit feinen Schriften bie
Winkel der Erde erfülle (Bez VI. I. 446 jf)! Daher
fam e8 aud) zwiſchen Gerhoh und Eberhard von Bam—
berg zu einem ziemlich Digigem Briefwechſel. Letzterer
erjdeint al8 ein geübter Theologe, aber ohne befon-
dere Tiefe; menn er jagt »apponere curavimus« und
bg, fo deutet das wohl auf einen Gelehrten hin, δεῖς
jen er fid) bediente. Sollte das ettoa der Propft Gifel-
bert von St. Peter in Bamberg getoejem fein, deſſen
550 . Raltner,
Tod auf 1171 füllt? Gerhoh fagt, daß fij bie neuen
Steftorianer auf Magifter Gifelbert berufen, und Binterim
(l. e. 206) vermuthet darunter einen Deutſchen (Migne
l e. 1080; SS. XVII. 637). Da übrigens Gerpol
bie Schriften großer Gelehrter nicht verftehe, ober bie
fefben abfichtlich miBbeute und bie Begriffe Perſon unb
Natur verwechfle, man überdies am hellen Tage feine
Lampe braude, jo erklärte Eberhard den Briefwechſel
für abgebroden (Pez VI. I. 531).
Aber nicht nur in Briefen, fondern au in größeren
Schriften wurden biefe Theſen verfodjten: Eberhard
von Bamberg fehrieb einen Apologeticus; Gerbob arbeitete
an einem Werfe: »De gloria et honore filii hominis«
und verfocht feine Anficht aud) in feinen übrigen Schrif⸗
ten, zumal in feiner Pfalmenerfärung nnd in feinen
Abhandlungen: »De investigatione antichristie und
»Contra duas haereses« ; überdies ſchrieb Gerhohs Bru⸗
ber Arno, Dechant in Reichersberg, nod) ein Bud), gegen
Solmar (Pez VI. I. 464; Migne 1. c. 1074. 1530).
Synbefjen entfaltete au Folmar eine vaftlofe Thätig-
Teit, und ſuchte bem Streite erhöhte Bedeutung zu geben,
indem er ihn auf das politijdje Gebiet hinüber fpielte,
Am 7. September 1159 war nemlic bie zwieipältige
Wahl vor fid gegangen, welche die Kirche in zwei Lager
zerlegte, in die Partei Alexanders II. und jene Bit:
tors IV. Se treuer Eberhard von Salzburg und Ger:
bob zu Alerander hielten, befto fefter klammerten fid)
bie Gegner an Viktor unb deſſen Gönner flatfer Fries
drich I. Daher hatte Folmar freies Spiel; e8 glaubte
berjelbe, ſchreibt Gerhoh (l. c. 1125), gegen und münd⸗
lid) unb fehriftlih vorgehen zu können »putans.ille mi-
Folmar bon Sxiejenftein. 561
ser, quod ei sit liberum quaecunque voluerit contra
nos gannire seu garrire pro eo quod sedes apostolica nunc
est perturbata et quassatur Petri navicula« . .. »haere-
ticus quasi vulpes demoliens vineam videlicet ecclesiam
Wirtzelburgensem in qua latitat nectens truffas in. .
Trufenstain.e Rings Derum verbreitete er Schriften
„über bie Härefien Gerhohs“ und verſchrie ihn mit
Erfolg.am Hoflager des Kaifers!
Im September 1161 tagte eine Synode zu Fries
fad) in Kärnten, an welder außer Eberhard von Salz:
burg nod) drei andere SBijjüfe und Gexhohs Brüder
Arno und Rudiger, Dekan des Kloſters Neuburg, antves
jemb waren, welche ihn vertheidigten. Man beihloß in
Glaubensſachen fid) nit an bie „Determinationen ber
Scholaftifer oder Scholaren“ fondern an jene der Väter
zu halten und bas Urtheil dem Nachfolger Petri zu
überlaflen (Pez VI I. 537. Migne 1. c. 1136). Der
Standpuntt, melden Eberhard von Salzburg vom An-
fange an in diefer Frage eingehalten, ift bier deutlich
jum Ausdrude gebradjt. Gerhoh, melder im 17. Ka—
pitel feines Buches über die Glorie des Menſchenſohnes
bie Frieſacher Synode erwähnt, erklärte noch immer,
fid dem Urtheile feines Erzbifchofes zu unteriverfen,
mun foll unter deſſen Berathern derjenige nicht vorkom⸗
men, welcher zur Untergrabung feiner Ehre eine Schmäh—
ſchrift verfaßt habe; er bitte um diefe Berückſichtigung,
obwohl er weder den Namen des Verfaſſers, nod) den
genaueren Inhalt be8 Buches kenne. Je flaret Gerhoh
erfannte, baf feine Sache von Alerander ΠῚ. ſelbſt
entf&ieden werben müſſe, defto mehr Briefe ſchrieb er
an bie Eurie und endlich an den Papſt felbft. So ſchreibt
552 Kaltner, Folmar von Teiefenftein.
er an Garbinal Heinrich, fein Alter, die Gefahren des
Weges und ber faum bejänftigte Zorn des Kaiſers hätten
ihm wicht erlaubt, perjónfid) zum Papfte nad) Frankreich
zu fommen; wurde jegt feine Sache günftig erledigt, fo
wäre eine Ermahnung an bie beiden Eberharde ermünfcht
»ad assistendum mihi et ad resistendum scholaribus«.
Aehnlich ſchreibt er an Garbinal Hyacinth, das Collegium
ber Garbinüle und an Alerander II.
Im Jahre 1164 am 22. März ſchrieb der Papft
von Sens aus fowohl an Eberhard von Salzburg als
an Gerhoh. Gr bezeichnet bie €adje nicht als ſpruchreif,
ehedem mit beiden Theilen mündlich verhandelt worden
fei; auch fehe er den Nugen nicht ein, welchen folde
Kämpfe bringen follen; daher möge man bei bet Lehre
der Väter und zumal bei dem Athanafianum ftchen bleiben.
€x verfidert Gerhoh feiner Liebe und bittet ihn hienach
zu handeln; Eberhard aber beauftragt er zu wachen,
daß von beiden Parteien ber Kampf eingeftellt werde
(Beg VI. 1. 898. 399). Da Eberhard von Salzburg
am 22. Juni 1164 ftarb, hatte er den püpfilidjen Erlaß
wohl nicht mehr erhalten. Demungeachtet rubte diefer
Streit in Deutſchland. Wohl aber erlebte Gerhoh bie
Freude, daß in Frankreich fid) ber Streit zu Gunften
feiner Anfichten wendete und Eberhard von Bamberg
wieder zu feinen Freunden zählte. Aber bereits 1169
ftarb Gerhoh, den bie Nachwelt nit ohne Grund ben
Großen nannte.
2.
Zur Ehronslogie der Gefangenſchaft Pauli.
Bon Rector Aberle in Coſel.
Der b. Apoftel Paulus fam von feiner dritten
Miffionsreife um das Pfingftfeft in Jerufalem an, um
der dortigen zahlreichen, aber armen Chriftengemeinde
eine auf feiner legten Reife zuſammengebrachte Kollekte
zu übergeben. Hier wurde ber Heidenapoftel, ba er
gerade im Tempel weilte, durch einen fanatifierten Haufen
von Juden überfallen und wäre von ihnen umgebracht
worden, hätte fie von biejem frevelhaften Treiben nicht
der römifche Tribun Claudius Lyſias abgehalten. Nach⸗
bem ber Apoftel einige Tage in der Burg Antonia ge-
fangen gehalten worden, fandte ihn der Tribun auf die
Nachricht, die Juden fudjten ben Paulus zu töten, zum
SBrofurator Feliz in Cäfaren. Hier, in der Nefidenzftadt
des jübijdjen Landpflegers, blieb er zwei Jahre hindurch
als Gefangener, worauf er in Folge feiner Berufung,
bie er an ben Kaiſer eingelegt hatte, nad) Rom geſchickt
wurde.
Dieſe Nachrichten über den großen Weltapoſtel giebt
uns ſein Begleiter auf faſt allen ſeinen Reiſen, der
Xie. Duarfjrit 1888. Seit IV. 37
554 Aberle,
Evangeliſt Lukas, in der Apoſtelgeſchichte. So umſtänd⸗
lich auch der heilige Verfaſſer viele Teile der Reiſe
nach Jeruſalem und Rom beſchreibt, ebenſo ſchweigſam
verhält er ſich über die Zeit, wann Paulus von den
Juden in Jeruſalem gefangen worden iſt, ſowie über
das Jahr, in welchem er πα Rom geſandt worden ift.
Ueber bieje zwei nicht unwich tigen Fragen fehlen unà
leider aud) anderweitige verbürgte Nachrichten aus ber
chriſtlichen Urzeit, jo daß mir zu ihrer Beantwortung
auf die Methode der geſchichtlichen Kombination meiften-
theils angewiefen find. Wir wollen in vorliegender Ab-
bandlung daher bie beiden Fragen zu beantworten ver:
fuden:
1. In meldem Jahre wurde der Npoftel Paulus zu
Syerufalem von den Juden gefangen genommen?
2. In welchem Jahre ift er nad) Rom geſchickt worden?
Die frühefte Auskunft über die letete Frage, aus
welcher fid) ſelbſtverſtändlich bie erftere leicht beantworten
Yäßt, giebt ung ber ältefte Kirchengeſchichtsſchreiber Euſe—
bins, und feinen Angaben folgt fpäter der in demfelben
Jahrhundert lebende heilige Hieronymus. Erſterer berich⸗
tet in feinem Chronicon ad ann. 55, daß der Npoftel Pau⸗
Ius im Jahre δῦ nad) Rom gejdjidt worden fei. Diefer
ältefte Bericht eines chriſtlichen Schriftftellers ettveifet
fid) jebod) αἰῶ! als ein glaubwürdiger, aun fomit Feines:
wegs einer authentifchen Tradition ent[prungen fein, jon-
dern ift, wie wir mit guten Gründen annehmen dürfen,
nur dad Refultat einer, auf unrichtigen Vorausfegungen
angeftellten Berechnung oder allenfalls bie Wiedergabe
einer falſchen, dem Berihterftatter vorgelegenen Notiz.
Wir müſſen uns jonad) flar machen, wie Eufebius zu
But Chronologie ber Gefangenſchaft Pauli. 555
diefer Angabe, Paulus [εἰ im Jahre 5D mad) Rom ges
fidit worden, gekommen ift. Wenn der nad) ibm lebende
heilige Hieronymus in feinem Werke De viris illustribus
€. 5 ſchreibt: Secundo anno Neronis, eo tempore, quo
Festus procurator Judaese Felici successit, (Paulus)
Romam vinctus mittitur, fo märe bieje8 zweite Jahr
des Nero alfo das Jahr 55, unb bie Duelle, aus wel—⸗
Ger Hieronymus feinen Vermerk entnommen, wäre natür-
Tid) diefelbe, aus welcher Eufebius den feinigen geſchöpft
fatte; wahrſcheinlicher aber ift, daß Hieronymus diefe
Quelle nicht im Originale gekannt hatte, fondern feine
Mitteilung πα Eufebius gemacht hat. Diefer muß das
Atenftüd ſonach als ein Berihterftatter, dem durch bie
Gunft des Kaifers Konftantin bie Reichsarchive zur uns
beſchränkten Benugung geöffnet tourben, vor fij) gehabt
haben. Daſſelbe ift jedenfalls feiner Kaiſerchronologie
zu Grunde gelegt geweſen und war mit Bemerkungen
verfehen, bie fid) auf chriſtliche Gefchichte bezogen. Diefe
Kaiſerchronologie aber entftammt aus ber Feder eines
Schriftftellers, welcher, wie v. Gutſchmid entbedt hat, nad)
der antiochenifchen Zeitrechnung feine Angaben gemacht
fat, nad) welcher das Jahr am 29. Auguft feinen An-
fang nahm. Das zweite Jahr des Nero erftredte fid)
bemnad) vom 29. Auguft 55 bis zum 29. Auguft 56 n.
Chr. Im erften Jahre des Nero, alfo vom 29. Auguft
54 bis 29. Auguſt 55 konnte Paulus nicht nad) Rom
geſchickt worden fein, weil in den erften zwei Monaten
diefes Jahres Nero, ber ben Felix abberief und an beffeu
Stelle den Feftus einfegte, nod) gar nicht zur Regierung
gelommen war, was erft ben 13. Dftober beffelben Jahres
geſchah, au welchem Tage aber Paulus fon längſt auf
37*
556 Aberle,
feiner Reife begriffen fein mußte. Hingegen bietet bem
antiocheniſchen Schriftfteller das zweite Regierungsjaht
be8 Nero größere Wahrſcheinlichkeit zu feiner Annahme,
daß bieje8 das Jahr ber Romreife des Apoſtels geweſen
fein mochte. In diefem Jahre, vom 29. Auguft DD bis
zum 29. Auguft 56 war Nero bereit? lange an ber Re:
gierung, fonnte jonad) den Felix abberufen haben, und
Paulus konnte von Feſtus, dem Nachfolger des Qyelir,
von Güjatea nah Rom abgefandt worden fein. Ferner
waren vom Jahresanfang, bem 29. Auguft, bis zur Zeit,
nachdem bie Faften vorüber waren, 23 Tage verfloflen
(20. September), ein für bie langwierige, ſtürmiſche und
mit den größten Schwierigfeiten verbundene Seereife
von Cäfarea biß hinter bie Jnuſel Kreta ins adriatiſche
Meer ganz annehmbarer Zeitraum, während in den da:
rauf folgenden Jahren biejer Zeitraum fid) allzulang
binauszog, und zwar für das Jahr 56-57 auf 42
Tage, für 57—58 auf 31 Tage.
Andererfeits Tann aber aud) Eufebiuß feine Angabe
auf eine Berechnung, melde wir in ihrer Grundlage
als unrichtig bezeichneten, geftütt haben. Hat er das
Jahr des Kreuzestodes des Herrn auf 83 m. Chr. be.
fimmt, fo Tann er folgende Rechnung angeftellt haben:
Kreuzestod des Heilandes, Paflab . . 33 m. Gor;
Pauli Belehrung in bemjelben Jahre „ "3
Pauli Reife zum Apoftel-Conzil fpäter
umo... 0... . s... s 14 Jahre;
Sein erfter Aufenthalt in Korinth weitere 14a Jahre;
bis zum Herbſt;
Sein Aufenthalt in Ephefus weiter um 2 Jahre;
aber um Pfingften verläßt Paulus Ephe⸗
Bur Chronologie ber Gefangenſchaft Pauli 557
fus; alfo nod) Aufenthalt in biefet
Stadt vom Herbft bia Pfingften des
nächſten Jahres nod) weiter . . . *a Jahr;
Pauli Gefangennehmung in Jerufalem
und Aufenthalt in Gájarea bis zum
Herbft weiter um . . . . 92's Jahr;
Ankunft in Rom n Frůhling fräter
um . Ya Sab.
Hierzu bie geit vom Apoſtel⸗ dorgil is
zur erften Ankunft in Korinth unb
von Antritt der dritten Miffionsreife
bis zum Eintreffen in Ephefus, fotoie
die drei Monate Aufenthalt in Grie-
chenland gerechnet, würden für Eu-
ſebius nod fernere . . . . . . 2 Jahre
ausgemacht haben.
So hätte Eufebius erhalten Frühjahr 56 n. Chr.,
in meldem Paulus in Rom angekommen fei; bemmad)
wäre ber Apoftel im Herbfte des vorhergehenden Jahres
55 von Gáfatea abgereift.
Prüfen toir indes diefe Refultate nad) ihrer Ueber:
einftimmung mit der Geſchichte, fo ftellt fid) heraus, baf
1) das Jahr 53 nicht das Yahr der Gefangennahme
des Apoftels fein founte unb
2) das Jahr 55 ebenjo nit das Jahr ber Abreife
Pauli nah Rom mar.
Diefe beiden Thatſachen liegen, wie e8 in der Apoftel-
geſchichte ausbrüdlich bemerkt ift, zwei Jahre auseinander.
In feiner Kirchengeſchichte hat Eufebius über die Ge
fangennahme des heiligen Baulus zu Jerufalem gar nichts
erwähnt; bie Sendung des Apofteld nad) Rom vetfept
558 . Aberke,
er in ben Anfang ber nad) feiner Anfiht milden Re
gierung be8 Kaifers Nero. Der Annahme mun, Paulus
fei im Jahre 53 von den Juden zu Jerufalem gefangen
genommen worden, fteht entſchieden ber Bericht des Jo:
Tefu8 entgegen, welcher in feinen beiden Geſchichtswerken
ausdrücklich jagt, daß unter dem Kaifer Nero und bem
SBrofurator Felix im Zerufalem die Gifarier aufgetreten
feien, daß ferner der Agyptier die Hauptftadt bes Juden
lanbe8 zu überfallen drohte und von jyelir in die Flucht
geſchlagen worden [ei Diefe in ber Apoftelgefchichte
beider Gefangennahme Pauli ausdrüdlich hervorgehobenen
Thatſachen konnten fouad) frübeften8 in der erften Hälfte
bes erften Regierungsjahtes be8 Nero vorgefallen fein,
alfo in dem Zeitraume vom 13. Dftober 54 bis zum
Pfingfifefte 55, und mithin Tann als frühefte Zeitgrenze
für bie Gefangennehmung be8 heiligen Paulus nur das
Jahr 55, tein früheres, gelten; das Jahr der Abreife nad)
Rom wäre alddann 57. Indes ift Fein zwingender Grund
vorhanden zu der Annahme, daß von allen ben Jahren,
in melden die Gefangennehmung be8 Apoſtels in Jeru⸗
falem erfolgen fonnte, gerade das frühefte Jahr 55 dies
geweſen fein müffe. Nach Joſefus hatte Felix zur Re
gierungszeit be8 Nero für das Judenland Folgendes
gethan: 1) Er nahm ben Räuberhauptmann Eleazar,
ber [don zwanzig Jahre das Land beunruhigt hatte,
gefangen und befreite Judäa von biejer Plage. 2) Er
ließ den Hohenpriefter Jonathan durch bie Sikarier um-
bringen, melde fortan ihre Schredensthaten befonders
an den Fefttagen in Zerufalem ins Werk feptem. 3) Er
ſchlug den Aufftand des falfchen Propheten aus Aegypten
nieder und trieb biejen Aegyptier ſelbſt in die Flucht.
Zur Chronologie ber Gefangenjdjaft Pauli. 559
4) G3 entfpann fid) gegen Ende feined Landpflegeraintes,
uod) ehe fein Nachfolger Feftus im Judäa eintraf, ber
Streit zwifchen den Juden und Syriern in Cäfaren über
den 3Borrang in diefer Stadt, meldjer Streit damit en-
digte, daß beide Parteien ihre Abgeordneten nad) Rom
an ben Kaiſer fandten, und bie Partei ber Juden ben
δεῖς beim Kaifer verklagte, infolge deſſen Felir aus
Judäa abberufen wurde. Um bieje Seit wurde ftatt
beà Qobenpriefter& Ananias, der nod) aus ben Händen
des Königs Qerobe8 von Chalfis um 48 fein Amt er:
halten hatte, Ismael zum Hohenpriefter eingejegt. Da
die Cyrier eine burd) Burrus vermittelte, für fie gün-
ftige Entſcheidung be8 Nero mit nad) Haufe brachten,
woburd ihnen ber Vorrang vor den Juden im Güjarea
eingeräumt wurde, jo war bie$ ber etfte Anlaß zu bem.
ſpäter außbrechenden jüdiſchen Kriege gegen bie Römer.
Unterfuchen wir, ob und in wie weit bieje That:
faden einen inneren Zuſammenhang haben! Die erfte
derſelben ift bie Gefangenfegung des berfichtigten Räuber:
anführer3 Eleazar, wodurch ber Landpfleger bem ihm
anvertrauten Lande einen hervorragenden Dienft geleiftet
batte, ba er bafjelbe von einer zwanzigjährigen Geifel
befreite. Hierauf folgt in des Joſefus Bericht die -Er-
morbung des Hohenpriefters Jonathan, weil derſelbe
bem Landpfleger durch feine Öfteren Mahnungen, bas
Judenland beſſer zu regieren, läftig geworden war. Es
ift wohl nicht anzunehmen, baß, nachdem Felix für blé
Verwaltung und Sicherheit im jübijdeu Lande. fo Aner-
kennenswertes geleiftet hatte, Jonathan gleich darauf
mit feinen Vorwürfen an Felix herangetreten fei, fo daß
diefer darauf bedacht war, fid) des lüftigen Warners zu
560 Ab erle,
entledigen, zumal Felix kaum 21}. Jahr vorher, feit 52,
erft in fein Amt durch Fürſprache des Jonathan berufen
' worden war. Man fann deshalb ben an bem Hohen:
priefter verübten Mord faum in bie Zeit vor Pfingften
55 verlegen, unb, ba der Apoftel während feiner brei-
tägigen Haft in der Burg Antonia nad) dem Pfingitfefte
von den Sikariern, welche nad) des Jonathan Tode etft
auftraten, bebroht wurde, jo fann aud) die Gefangen-
nehmung be8 Paulus nicht am Pfingftfefte des Jahres
δῦ flattgefunden haben. Danach fónnte nur eines von
beu Jahren 56, 57 oder 58 das Jahr diefes Ereignifies
fein; in eines diefer Jahre und zwar vor bem Pfingſt⸗
fefte defielben muß aber aud) der Aufftand des Aegyp-
tiers verjegt werden, ba der Tribun Claudius Lyſias
act. 21, 38 beffelben Erwähnung thut. Für diefen Auf:
fand Tann man jebod) aud) nidjt das Jahr 58 als ge:
eignet anfehen; denn der Tribun fagt zu Paulus: „Bir
bu uidt ber 9legoptier, der „vor diefen Tagen“
Aufruhr erregte? c". Diefe Beitangabe deutet bod) an,
daß bie Gefangennehmung des Apoſtels und der von
bem Aegyptier erregte Aufftand nicht in unmittelbarem
Bufammenhange geftanden haben konnte; e8 mußte zwi:
ſchen beiben Ereigniffen ein erheblicher Zeitraum Liegen;
e8 Tonute ber Aufftand früheftens 57 ober 56 flatige:
funden haben. Denn Felix war bei ber Dämpfung des
Aufruhrs in Jerufalem jelbft zugegen, während er bei
Pauli Gefangennahme in Gájarea, wohin ber Tribun
den Apoftel zu ihm fandte, ben Gejdjüften der inneren
Verwaltung oblag.
IR mun der Aufruhr burd) ben Aegyptier in ben
Jahren 56 ober 57 geichehen, jo bietet fid) ein weiterer
Bur Chronologie ber Gefangenfäaft Pauli. 561
Anhaltspunkt für bie Beftimmung des Jahres, in mel:
dem Paulus zu Jerufalem gefangen wurde, das Geſetz
bes Nero, wonach e ben Stadthaltern und Profuratoren
in den Provinzen verboten wurde, Zirkusfpiele und Tier-
gefechte zu veranftalten, ba εὖ befannt geworben, bafi
diefe Beamten in ihten Gebieten fid) arger Gelderprei-
fungen ſchuldig gemadjt hatten. Der Tribun Claudius
Lyſias Degte unter anderem aud) die Befürhtung, er
möchte in üble Stadyrebe kommen, daß er von Paulus
habe Geld annehmen wollen, weßhalb er ben gefangenen
Apoftel zu feinem militäriihen Vorgefegten, dem Felix,
nach Cäfarea ſandte. Warum hätte ber Tribun erft
diefe Zucht in fid) auffommen laſſen ſollen, wenn nicht
bereits durch ein Gtaat&gefet.ben Beamten die Annahme
von Geld, um fid) dadurch beftechen zu laſſen, verboten
gewefen wäre? Seinen vorgefegten Befehlshaber, ben
Landpfleger Felix, hätte er fier nicht zu fürchten brau=
den, ba berjelbe fid), wie der heilige Lukas ausdrüdlich
ermähnt, getabe bieje8 Vergehens am Paulus beharrlich
ſchuldig madte, was uns keineswegs befremben Tann,
wenn mir ben bittern Tadel berüdfichtigen, womit Ta-
citus biejen Sandpfleger geifelt, indem er ihn als eine
Sklavenſeele mit jeder Art oom Graufamfeit und Will:
für ſchildert (hist. 5, 9). Ein Mann von diefem ECha-
after ſcheute dann aud) nicht die Zumiderhandlung gegen
ein foeben erlafjenes Staatsgeſetz, er, ber mit füniglidjet
Machtvollkommenheit jdjaltete und in der Gunft des fpri-
tijden Statthalter Ummidius Duadratus fid) fidjer fühlte
vor jenen üblen Nachreden, welche jeim eigener Unter:
gebener ihm gegenüber allerdings fürchten mußte. Das
genannte Gejeg erließ aber Nero im Jahre 57 (Tac.
562 Werte,
annal. XIII, 31), wahrſcheinlich wohl nicht in ben erften
Monaten vor bem jübijden Pfingfifefte.
Sonady wäre ba8 Jahr 58 dasjenige, welches fid)
als das Jahr der Gefangennebmung des heiligen Apoftels
Paulus in Jerufalem als das wahrſcheinlichſte nachweiſen
Täßt.
SBerüdfidtigt man ferner, was Lukas über δεῖς
act. 24, 25 jagt, baf biefer námfid), da Paulus von
ber Gerechtigkeit, der Keuſchheit und bem künftigen Ge
richte vor ihm und feinem Weibe Drufilla redete, zitterte,
fo f&eint uns diefer Vorgang im Gemüthe be8 Land:
pflegers nur dann erft recht erflárlid), wenn wir annehmen,
et babe über diefe, den Heiden unbefannte Tugenden
und Wahrheiten mur durch. fein Weib Druſilla, die ja
eine Jübin war, Kenntnis erhalten und nicht bloß Kennt:
nis, fondern fo genaue Unterweifung, daß er zu einem
Glauben an diefelben gelangt fei, ber im Gemüte fon
fefte Wurzeln geſchlagen haben mußte. Iſt aber Felit
im Jahre 52, wo er von Tacitu3 als Sflavenfeele mit
jeder Art von Graujamfeit und Willkür harakterifitt
wird, und too er mit der Heldin Drufilla, der Enkelin
de3 Triumvirs Markus Antonius und ber ägyptiſchen
Königin Kleopatra, verheiratet tar, feit feiner wahrſchein⸗
Tid) 53 erfolgten Verbindung mit der andern Drufila,
der Schwefter des frengjübijden Königs Agrippa II,
bis zu bem Zeitpunkte, wo Paulus jene eindringlide
Rede vor ihm bielt, zu diefem nicht heidniſchen, ſondern
ſpezifiſch judiſch⸗chriſtlichen Glauben gefommen, fo muß
dies das Ergebniß von mehreren Jahren Beobachtung
und Belehrung gemefen fein, das nur während feines
Zuſammenlebens mit ber Jüdin Drafllla zu ftande kommen
Zur Chronologie ber Gefangenjdjaft Pauli. 563
fonnte. Hatte alfo der Landpfleger fid) früheftens im
Jahre 53 mit biejer Drufila verbunden und fid) duch
baà Zufammenleben mit ihr von ben genannten {πο
Hriftlichen Wahrheiten [o durchdringen laffen, daß er
bei deren Verkündigung jo auffallend gurüdbeben mußte,
ſo fonnte bieje innere Umwandlung faum in der kurzen
Zeit bis zum Jahre 55 oder 56 oder 57 fid) vollziehen;
wir müſſen für diefen Fall, wo wir e8 nicht mit einem
zu thun haben, ber den guten Willen zur Belehrung an
den Tag legt, fondern mit einem verhärteten, fündhaften
Menfchen, der unter dem Ginbrude eines burd) heilfame
Religionslehren aufgeiheuchten Gewiſſens fid) befindet,
ben möglichft Längften Zeitraum annehmen, bis wohin
biefer innere geiftige Prozeß fid) zu einem foldjen Grade von
Empfindung ausgeftalten konnte. Hierfür aber werden ung
nicht zwei ober drei Jahre genügend erfcheinen, fondern wir
werden mindeftens fünf Jahre al8 erforderlich erachten
müffen, einen Zeitraum, gegen befjen Ende hin der Proku-
rator nad) einem im Judenlande thatenreichen, aber aud)
äußerft Tafterhaften Wirken fid) den ruhigen Geſchäften
ber Verwaltung hinzugeben im Stande mar.
Wir müflen weiterhin aud) bie Vorgänge in ber
Familie der Drufilla, des Weibes von Felix, in Betracht
ziehen! In den Jahren 52, 54 und wahrſcheinlich bis
in bie etften Monate von 55 war ber König Agrippa II,
der Schwager be Landpflegers, in 9tom ; befjen Schwefter
Berenice, wegen deren Neides Drufilla fid) zu der Ber:
bindung mit Feliz vorzugsweife drängen ließ, lebte jeben-
falls in Zerufalem, war alfo nod) Witwe ihres Oheims,
bes im Jahre 48 verftorbenen Königs Herodes von Chal-
kis; fie geriet aber in den Verdacht, mit ihrem Bruder
564 Aberle,
unerlaubten Umgang zu pflegen, weshalb fie für das
einzige Mittel, dieſe üblen 9tad)reben zu unterdrüden,
eine Wiedervermählung hielt unb zwar mit Polemo, bem
Könige von Pontus. Wann fann diefe Wiedervermählung
ftattgefunben haben? Iſt Agrippa, ihr Bruder, bis 55
in Rom gemefen und hierauf in feine burd) Nero ver:
größerte Herrſchaft zurückgekehrt, fo Tann feine Schweſter
erſt von dieſem Jahre ab durch die nächſtfolgenden der
Deffentlichkeit eine Veranlaſſung zu ber genannten böfen
Nachrede gegeben haben. Das Ehebündniß der Berenice
mit Polemo fonnte alfo einige Jahre nad) 55 abgeſchloſſen
worden fein. Ein genauerer Anhaltspunkt für diefe Be:
gebenbeit ift vieleicht au8 der Bemerkung des Joſefus
in beffen Geſchichtswerke: Die jübilden Altertümer,
Bud) XX, c. 7 zu entnehmen, worin der Verfafler fagt,
Berenice habe nad) bem Tode des Herodes, ihres Gatten,
lange Zeit als Witwe gelebt; im nächſten Kapitel jagt
Joſefus von der berüchtigten Gemahlin des Kaifers Glau-
dius, ber Agrippina, ebenfalls, daß diefe nad) bem Tode
ihres vorigen Gatten Domitius Ahenobarbus bis zur
Wiederverheiratung mit dem Kaiſer Claudius lange Zeit
im Witwenftande gelebt habe. Da nun Domitius ftatb,
als Nero, fein Sohn, drei Jahre alt mar (Sueton. Nero 6),
was 40 ber Fall war, und Agrippina fid) mit Claudius
im Jahre 49 vermählte (Tac. ann. XII, 7), fo können
wir analog biefem beftimmt angegebenen Zeittaume aud
den Wittwenftand ber Berenice 9 ober 10 Jahre dauernd
annehmen; ihre Hochzeit mit Polemo hat bemnadj wahr:
féeinlid im Jahre 57 oder 58 ftattgefunben. Währte
auch dieſes eheliche Verhältniß nicht lange, fo wird es
bod) nicht vor bem Jahre 59 gelöft worden fein. War
Bur Chronologie ber Gefangenfhaft Su 666
wun Berencie im Jahre 58 bei ihrem Gatten, bem Könige
SBolemo, fo folgt daraus, daß ber Apoftel Paulus fid)
in diefem Jahre nicht vor ihrem Bruder, bem Könige
Agrippa II, an befjen Seite fie mit erſchienen war, ver-
tfeibigen fonnte, der Apoftel aljo zwei Jahre zunor, 56,
in Jerufalem nicht gefangen worden if. Da wir bieje8
Ereigniß aud) nicht in die Jahre DD oder 57 vermeijen
tönnen, fo ergiebt fid) mit größter Wahrſcheinlichkeit das
Jahr 58 als dasjenige ber Gefangennehmung des Apo-
ftels Paulus. Ein günftiges Licht verbreitet über bieje
Annahme das, was Joſefus über ben zwiſchen den Juden
und Syriern in Cäfarea ausgebrocheuen Streit berichtet.
Derfelbe entwidelte fid) gegen das Ende des Landpfleger-
amte8 von Felixr und wurde in Rom vor dem Kaifer
Nero entjdjeben, nachdem $yelir bereits feines Poftens ᾿
entjegt und zur Verantwortung wegen ber an ben Juden
verübten Ungerechtigkeit in Rom eingetroffen war. Wie
Joſefus bemerkt, hätte Nero, ber für die jüdiſche Partei
günftig geftimmt war, ben δεῖς für feinen Amtsmißbraud
büßen lafen, hätte benfelbeu fein Bruder Pallas,
ber damals im höchften Anfehen ftanb, nicht fo glänzend
verteidiget; ja der ftaijer würde fogar eine bem cäfare=
enfijden Juden günftige Cntjdeibung getroffen haben,
wenn dies nicht die [prijd)e Partei burd) den von ihr
beſtochenen Burrus Dintertrieben hätte. Nero war aljo
zu biefer Seit den Juden bejonber8 geneigt, und diefe
Stimmung be8 faijer8 fónnen wir zurüdführen auf
beffen enge Beziehungen zu der bem Judentume ergebenen
Poppäa Sabina, melde ber Kaifer, nad)bem er jeit 58
ein bublerifches Leben mit ihr geführt hatte, im Jahre
62 ebelidjte. Sie war εὖ aud, auf deren Fürſprache
566 Aberle,
im Jahre 62 die von Feſtus nach Rom geſandten zehn
vornehmen jüdiſchen Bürger aus Jeruſalem die Erlaub⸗
nis vom Kaifer erhielten, bie auf der meftlichen Seite
be3 Tempels erbaute Dauer ftehen laſſen zu Dürfen, deren
Niederreißung ber Landpfleger bereits aubefohlen Hatte.
In diefe vier Jahre von 58—62 muß aljo bie Abbe-
Tufung be8 Welir aus Judäa und feine Verteidigung im
Rom burd) Pallas, jotoie ber Entſcheidungsſpruch des
Nero für bie Syrier aus Gájarea verlegt werden. Als
Pallas feinen Bruder Felix vor Nero vertheidigte, war
Selig bereits feines Landpflegeramtes entjegt. Feſtus
war fidjer im Jahre 62 Landpfleger in Judäa; in biejem
nämlihen Jahre aber Konnte Felir, fein Vorgänger,
. midt feines Amtes entjegt worden fein; denn ſowohl
Pallas, fein Bruder, durch defien Vermittelung er von
dem ftaijer Nero freigeiprodhen wurde, al3 aud) Burrus,
welcher den heidniſchen Abgeordneten aus Cäfarea ein
ihnen den Vorrang vor den Juden guerfennenbe8 Schrei-
ben ausmwirkte, jdjieben in diefem Jahre aus bem Leben
und zwar erfterer an Gift, das ibm ber Kaifer heimlich
hatte beibringen laffen; Pallas genof fonad) in biejem
Jahre nicht des höchften Anſehens, fo daß er feinem
Bruder Selig bie Freifprehung hätte ermirfen Können.
Wir milffen bemnad) bie Abfegung des Felix in bie beiden
vorhergehenden Jahre 61 ober 60 verlegen. In jedem
biefer Jahre Tann aber die Ankunft des Feftus nur vor
bem 1. Tiſchri ftattgefunden haben, ba der Apoftel
Baulus lange vor ben in biejem Monate beginnenden
Saften von Cäſarea nad) Nom abgejandt worden war;
Seius traf alfo vor dem Ende be8 Auguft eines ber
beiden Jahre im Judäa ein. Nach ben Berichten des
Zur Chronologie der Gefangenſchaft Pauli. 567
heiligen Sufa$ (act. 25, 1—23) waren es bie erften
Regierungsgeſchäfte des neuen Landpflegerd, daß er
fofort mad) feinem Amtsantritte die Angelegenheit des
in Güjatea gefangen gehaltenen Apoftels zu ihrem Auß-
trage zu führen fuchte. Er begab fid) deßhalb 3 Tage
mad) feiner Ankunft in Cäfarea in die Hauptftadt Jeru-
ſalem, bielt fid) dafelbft 8 ober 10 Tage auf, kehrte
mad Cäſarea zurüd, um 1 Tag fpäter zu Gericht zu
fibeu über Paulus; mad) Verlauf einiger Tage, etwa
8 bis 10 Tagen, tam der König Agrippa II mit Bere
nice, um ben Feſtus zu begrüßen, nad) Gájarea, und
nachdem beide fid) mehrere Tage, etta wieder 8—10
Tage dort aufgehalten hatten, hielt Zeftus 1 Tag ba-
rauf die große Verſammlung im Verhörſaale ab, in
welcher ber Weltapoftel feine glänzende Verteivigungs-
tebe wor bem Könige Agrippa II hielt. Weber allen diefen
Vorgängen war aljo der Zeitraum von mehr als einem
Monate verflofien. Sonach mußte Feſtus fpäteftens in
ber zweiten Hälfte be8 juli in Judäa angelangt fein;
zu biefer Beit war aber Felix bereit8 mad) Rom abge-
reif, während die Vornehmften unter beu jübijden Ein-
wohuern in Gájarea nicht [ange nad) des Feftus Ankunft
fid nad) Rom begeben, um ben geli wegen feiner an
den Juden verübten Ungerechtigfeiten beim Kaifer anzu:
Hagen; ihre zugleich mit ihnen angefommenen heidniſchen
Laudsleute erlangten burd) be8 Burrus Umtriebe das
kaiſerliche Anerkennungsſchreiben für ihren Vorrang in
Gájarea.
Beide Parteien werben alsdann mad) verrichteter
Cade nod) im uümliden Jahre ihre Stüdreije in bie
Heimat angetreten und beendet haben. Dieſes Segtere
568 Aberle,
jedoch muß noch vor des Apoſtels Paulus Abreiſe von
Cãſarea geſchehen fein, weil fie ſonſt denſelben Gefahren
und Verzögerungen ausgeſetzt geweſen wären, bie bie
Reifegefellihaft des Apoftel3 bald von Anfang der Meer-
fahrt an betroffen hatten. Darum müfjen wir ben Beit-
punkt für die Ankunft des Feftus in Judäa nod) minbeftens
einen Monat früher, etwa in bie Mitte Juni anfegen.
Bor diefem Termine mußte fid) nod) während der Land-
pflegerihaft des Felix ber Streit in Gájarea zwiſchen
den bortigen jübijden und heidniſchen Einwohnern ent-
ſponnen haben, mußte ber Profurator bei einem ausge-
brochenen Straßenfampfe bie Juden haben niebermegeln
und ihre Wohnungen den Soldaten zur Plünderung über-
lafien haben, mußte er bie Vornehmften aus beiden
Parteien nad) Rom zur Verfehtung ihrer Auſprüche
gejandt haben (b. j. I, 18, 7), mußte an Stelle des
Ananias ber Hohepriefter Ismael in feine Würde ein-
gelegt worden fein, mußten endlich bie Hohenpriefter,
Ananias unb Jsmael, ihr frevelhaftes Treiben verüben,
indem fie, um bie Zeit der Ernte, zwiſchen bem Pafjah
und Pfingften, ihre Anechte auf bie Tenne fandten, um
bie den Prieftern gebührenden Zehnten wegzunehmen.
Alle bieje Vorgänge fonnten fid, da fie noch zur Zeit
des Felir vorfielen, nur vor bem Juni bieje8 Jahres
und von bem Pafjah ab ereignen. War das aber das
Jahr 61? Eine andere Notiz des Joſefus läßt dafür
einen wohlbegründeten Zweifel zu. Derfelbe berichtet
nämlich, daß der neue Landpfleger Feſtus gegen bie
Sikarier, melde zu einer furditbaren Menge und ſchreck⸗
lihen Gemaltthätigteit emporgefommen waren, Krieg
unternommen habe. Diefe Meuchelmörder, welche Dörfer
Zur Chronologie ber Gefangenſchaft Bauli. 569
und Fleden verwüfteten, haben fid) beſonders an den
Seften unter die in ben Tempel zufammengeftrömte
Volksmenge gemifcht und fehr viele niedergemacht. Wel-
ches fonnten aber diefe Fefttage fein, welche jo unermeß-
lidje Bollsmafien in Jerufalem zufammenführten? Nur
Paſſah und Pfingften! An diefen Feften des Jahres
61 wäre aber Feftus nod) nicht in Judäa gemejen und
bod) mußte bie8 ber Fall fein, wofern zu feiner Zeit
bie Meuchelmorder die feftlihen Tage durch ihr ruchloſes
Treiben entweihten. Demnach muß Feſtus bereits am
Paſſahfeſte des Jahres 61 in Judäa geweſen fein, falls
unter feiner Regierung bie Gilarier ihre Schandthaten
im Tempel verübten und er gegen fie mit kriegeriſchen
Maßregeln einfchreiten mußte. Wir haben deßhalb einen
tooblberedjtigten Grund, des Feſtus Ankunft in Judäa
in das Jahr 60 zu verfegen, in weldem Jahre denn
απῷ Felix aus feinem Amte gejchieden if. Bis zum
Sommer biejea Jahres, wo Felix nod) Judäa verwaltete,
und von mo an Feſtus dahin ankam, fonnteu alle bie
oben erwähnten Vorgänge fid) ereignen; Feftus brachte
gleich nad) feiner Amtsübernahme die Sache des Apoftels
zu ihrem Austrage, und im nächſten Jahre 61 Tonnte
er gegen bie Meuchelmörber einfchreiten, bie unter feiner
Regierung an den Fefttagen, Paſſah und Pfingften, ben
Stempel in der von Zofefus geſchilderten Weife entheiligten.
In diefem nümliden Jahre 61 fonnte dann aud) bet
König Agrippa daran benfen, jenes weitläufige Gebäude
auf ber ehemaligen Burg der Hasmonder aufzuführen,
nah defien Vollendung bie jyuben erft bie Mauer an
ber Weftfeite be8 Tempels erbauten, als fie gemwahrten,
baf ber König, auf feinem Polſter liegend, die Vorgänge
Xe Ouaztalfgrift. 1888. Heft IV. 88
570 Aberle,
beiden Opferhaudlungen im Heiligthume beobachten konnte.
Beide Bauwerke brauchen denn auch nicht in ein und
daſſelbe Jahr verlegt zu werden; ſonach Tounten aud)
bie Juden ihre Abgeordneten im. nächſten Jahre 62 nach
Rom abjenden, um ihre Beſchwerde bei dem Kaifer απ:
zubringen und die Erlaubniß zum Stehenlafien der
Mauer burd) der aijerin Poppäa Bermittelung zu er-
wirken. Iſt nun das Jahr 60 dasjenige des Wechſels
im Sandpflegeramte des Felix unb Feftus, jo ift e8 aud)
be$ Jahr, in teldem ber heilige Apoftel Paulus von
Letzterem uad) Rom geſchickt worden ift, und ber Apoftel
iW alsdaun zwei Jahre zuvor von ben Juden in Jeru-
jalem gefangen genommen worden.
Es erübrigt nun mod, zu unterjudjem, ob die An-
kunft des. Felix zu Rom in das Jahr 59 verfegt werden
könne. In diefem Jahre, und zwar in den legten Tagen
be8 März legte Nero einen der ärgften Beweife feiner
Unmenſchlichkeit ab, ba er feine Mutter umbradjte, Die
graufame That wurde pollbradjt von ihm zu Bajä, wo—
rauf et, von Gewiſſensbiſſen umbergetrieben, fid) nad)
Neapel begab, unb endlich, al8 er fid) ber unverändert
ibm zugethauen Gefinnung des Senates und Volles zu
Rom verfidert hatte, nad) der Hauptftadt zurückkehrte.
Darüber konnten wohl mehrere Monate verfloffen fein,
fo daß der faijer etwa um die Mitte des Juni wieder
in Rom: fein fomnte. An biejem Seitpunfte hätte aber
auch Feliz, wenn er 59 abgejegt worden wäre, vor Nero
erſcheinen Können. Würde aber Pallas, fein Bruder,
in. bet Lage fi) befunden haben, feine Freiſprechung zu
vermitteln, er, ber ehemalige Genoſſe ber Zafter Agrippi-
168, der von ihrem Eaiferlichen Sohne ermordeten Mutter,
Zur Chronologie ber Gefangenfdjaft Pauli. 571
in beffem Andenken bie Blutthat noch viel zu {τ Φ, bie
Erinnerung an bie einftige Buhlerſchaft des Pallas nod)
viel zu lebendig war, als baf ber Kaifer ihm gerade
in diefem Zeitmomente be& höchſten Anfehens gewürbiget
hätte, befjen er nad) Joſefus ausbrüdlicher Bemerkung
fid erfreute? Zwar lag Nero nichts mehr am Herzen,
als bie Gunft ber Deffentlichkeit fid) unverkürzt zu erhalten;
indes war er aud) darauf bedacht, menigftens in ber
dem Morde unmittelbar folgenden Zeit, alle es vergelten
zu laffen, welche mit Agrippina in irgend einer vertrauten
Beziehung geftanben hatten. Darum dürfen toit aud)
nicht annehmen, daß des Pallas Anjehen jo unverkürzt
geblieben jei in ben für unfere Fragen entjcheidenden
Monaten des Jahres 59, welchem wir die Eigenfhaft
nicht einräumen fómnem, dasjenige zu fein, in welchem
Pallas feinen hohen Einfluß für feinen in Ungnade ges
ſallenen Bruder δεῖς bei Nero geltend machen konnte.
Demnach bleibt ba8 Jahr 60 das für uns einzig mögliche,
in welchem die Abberufung des Felir erfolgen konnte,
in welchem ſonach der heilige Apoftel Paulus von bem
neuen Sandpfleger Feftus nad) Rom geſchickt worden ift.
Faſſen wir am Schluffe unfere Unterfuhung über bie
beiden uns befdjüftigenben Hauptfragen zufammen, fo
ergiebt fid) Folgendes: Das Jahr der Gefangennehmung
des Apoftels Paulus burd) bie Juden in Jeruſalem
ann frübeftens da3 Jahr 55 und fpäteftens das Jahr
60 fein. Jenes aber fann nicht al8 Seit für bie Ge-
fangennehmung betrachtet werden, ba diefem Ereignifie
zu viele andere Begebenheiten vorhergegangen find, welche
einen weit größeren geitraum erfordern, als die wenigen
Monate von dem Regierungsantritte des Nero bis zum
88"
572 Ab erle, zur Chronologie ber Gefangenfdjaft Pauli.
Pfingftfefte des nächſten Jahres, Das Jahr 56 lam
aber ebenfo wenig dasjenige fein, in defien Pfingftfefte
der Apoftel gefangen genommen wurde, weil zwei Jahre
darauf Berenice nidt in Cäfaren antvejeub fein konnte;
ebenjo kann dem Jahre 57 die Eigenfchaft nicht zuge
ſprochen werden, das Jahr für bie Gefangennehmung
des Apoftels zu fein, weil zwei Jahre fpäter, im Jahre 59
Pallas kurz nad) der Ermordung der Agrippina nicht das
höchſte Anfehen bei Nero genofien haben fonnte, mit
welchem er hätte feinem Bruder Felix ein freifprechendes
Urteil erwirten fünnen. Aber aud im Jahre 59 if
Paulus nicht in Jerufalem gefangen worden; denn zwei
Jahre fpäter, 61, wo er nad) Rom hätte müffen geſchidt
worden fein, war Feſtus die ganze Dauer Dinburd in
Judäa. Demnach bleiben al8 höchſt mabrideinlid) und
durchaus nidjt amfedjtbat die beiden Jahre 58 und 60
beftehen al8 diejenigen, in denen fid) jene beiden Bod
wichtigen Thatfahen in bem Leben des großen Welt:
apoftelà zugetragen haben, unb zwar das Jahr 58 für
bie Gefangennehmung des heiligen Paulus in Zerufalem
und das Jahr 60 für feine burd) Feftus nad) Nom an
ben Kaiſer Nero erfolgten Sendung.
3.
Ueber ben Betrieb ber Hebräifhen Sprache an Gymnafien
und theologiſchen Lehranftalten.
Bon Prof. Dr. Q. fim in Würzburg.
Die hebräifche Sprache übt unleugbar einen geheim:
nißoollen Zauber auf den Menfchengeift, namentlich auf
den empfänglihen Sinn der Jugend aus. Die Gründe
liegen nahe. Iſt fie bod) die Driginallpradje ber alt:
teftamentlihen Offenbarung, in ber unà die midjtigften
Urkunden über Welt: und Menfchenihöpfung, über ben
Urfprung und die Folgen be8 Böfen, über die Erwäh—
lung und Führung des Bundesvolkes erhalten find, aus
welchem ber Schlangenzertreter zur Erlöfung des Men—
ſchengeſchlechts hervorgehen follte. Ueberdies erregt bie
Neuheit der Schriftzüge, bie Schreibweiſe von ber Rechten
zur Linken, der poetifche Charakter und Bilderreihthum
der Bibel, wohl aud) ba8 Verlangen, die Geheimſchrift
der Juden fennen zu lernen, in der fie noch heute beten,
bibbern, fdjadjern, nicht blos bei Theologen, bie fidj mit
ben Schriften „des Mofes und der Propheten“ pflicht⸗
gemäß näher befannt zu machen haben, fondern aud) bei
anderen wißbegierigen Jünglingen und Männern die Be-
674 aihn,
gierde, aus dem Borne ber geheimnißvollen Dffenbarungs:
quelle zu trinken.
Aber faum haben fie genippt, fo verfiecht ſchon ber.
Tprubelnbe Fluß der Begeifterung im Wüftenfande. Der
Lehrer müht fid) ab, mit Liebe unb Grnft die ermatteten
Roßlein durch öde Steppen zu führen, aber bie meiften
brechen entmuthigt zufammen, wur wenige traben alle
Strapagen veradjtenb, fröhlich an feiner Seite und laben
fid mit Luft an der lieben Lebensquelle des göttlichen
Wortes.
Was ift wohl der Grund des tajd) erfaltenben Ei:
fers, des frühen Siechthums unb Unmutes fo vieler be:
geifterter Jünger bes Hebräifchen?
Sicher nicht geradezu die Ungeſchicklichkeit des Lehrers
oder bie genugfam befriedigte Neugierde der Schüler.
Aber vielleicht die Schwierigkeit der und Indogermanen
frembartigen femitifhen €pradje? An unb für fid ge
wiß aud) das nicht! Trägt ja das Qebrüijde das Ge:
präge hoher Urfprünglickeit, großer Einfachheit und
Reinheit der Formen und hat in ben einzelnen Bildungen
biefen feinen altertümlihen Charakter bewahrt.
Würde, eine gute Methode des Lehrers und prattijde
Lehrmittel vorausgeſetzt, nur ber zehnte Theil ber Zeit,
welder an ben Opmnafien auf das Sateinijdje verwendet
wird, für. das Hebräiſche angefegt, jo fónnte jeder begabte
Schüler beim Weggang vom Gymnafium das alte Teftament
one Zweifel mit Geläufigfeit im Urterte lefen, ja er
würde manches profaifhe und poetiiche Gtüd desfelben
bereit8 gelejen haben, mo er bas Neifezeugniß für beu
Uebertritt an eine Univerfität oder am eine theologiſche
Lehranftalt erhält.
Die hebraiſche Sprache an Gymnafien. 516
In Bayern liegen bie Verhältniſſe nicht fo günftig
wie in den Nachbarländern. In Württemberg wird ber
hebräiſche Unterriht am Gymnaſium 4 Jahre lang in
wöchentlich 2—3 Stunden mit Energie betrieben, und
werden mit den jugendlichen Schülern fehr günftige Re—
fultate erzielt. Auch in Preußen wird das Hebräiſche
drei Jahre über in wöchentlich 2 Stunden gelehrt, und fteht
es ben Schülern frei, beim Gymnafialabfolutorium hier⸗
über ein Gramen abzulegen, und das tun oftmals dies
jenigen, welche fid) der Theologie zu widmen gedenken.
Nicht bloß Theologen von Zah, aud) den anderen
Schülern ift dag Studium des Hebräifchen zur Erlangung
formeller Bildung von größtem Nugen. Wohnt ja diefer
Sprade eine gleiche Bildungskraft und Logifche Conſequenz
inne, tie ber Mathematif. Dem Philologen unb Ge-
ſchichtsforſcher ift bie femntmif des Hebräiſchen heutzus
tage, wo auf bie Spradvergleihung hervorragendes
Gewicht gelegt wird, faft unentbeDrlid. Sie bietet ihm
nicht bloß ben Schlüfjel zum leichten Verftändniß ber
übrigen femitifhen Sprachen, fonberu aud) zur etymolo=
giſchen Erläuterung vieler in bem griechiſchen und latet:
mijden flajfifern vorfommenden Wörter. Nur wenige
Philologen werden fid) bewußt fein, daß die Namen
Barkas, Hannibal, Haftrubal, Herkules, Aeskulap und
viele andere auf femitifchen Urfprung zurüdzuführen find,
Aus diefen und vielen anderen Gründen ift das
Hebräiſche an bayerischen und an auswärtigen Gymnafien
— in Defterreid) findet am den Öymnafien ein folder
Unterricht überhaupt nicht ftatt — viel zu febr vernach⸗
läfftgt, ba bei Exlernung von Sprachen in fpáterem Alter
felten etwas Erfprießliches geleiftet wird, wenn nicht in
576 fin,
jungen Jahren mit den Elementen ber Grammatif und
mit Aneignung eines Wortſchatzes der Grund biezu gelegt
if. In einer Lehrftunde wöchentlich, wie e8 hie und
da bei uns gefchieht, ift nichts zu erreichen. Ein folder
Unterricht ift, wie Nägelsbach in feiner Gymnafialpäda-
gogit bemerkt, in jeglidjem Fade frudjtlo8, da bis zur
nádjften Stunde vergefien wird, mas in ber voraußgehenden
gelehrt worden ift. Das gilt vom Hebräiſchen um fo
mehr, ba ben Schülern bei der herrſchenden Weberbürbung
mit anderem Lehr: und Lernfioff Taum einige Zeilen
ſchriftlicher Hausaufgabe zugemuthet werden fónnen, und
die Üebungen hauptſächlich während der Schulzeit anzu:
ftellen find.
Gewohnlich wird in Bayern das Hebrätfche in einem
Unterrihtöfurfe von 4 Ὁ εἰ Wochenſtunden zwei Jahre
über natürlich nicht als obligater, fondern als fakulta—
tiver Lehrgegenftand betrieben. In zwei Yahrgängen
biefe8 Unterrichts nun ergeben fid) 2X40x2=160 Lehr:
ftunben, während dem Lateiniſchen in den 5 erſten Jahren
wöchentlich 10 (40x 10x 5=2000), in den zwei nächſten
mwöchentlih 8 (40x8x2=640), in ben zmei oberften
Klaſſen je 7 (40x 7X 2— 560), in Summa 3200 Stunden
zugetheilt find, aljo 20 mal foviel Zeit gewidmet wird
als ber hebräifhen Sprache. Für biefe liegen überdies
die Lehrftunden in der Regel febr ungünftig, fo baf
fie nad) Ermattung der Schüler erft von 11—12 ober
am Nahmittage abgehalten werden, ober fie fallen auf
nicht felten butd) Feiertage und dgl. aus.
Aber aud in diefer befhräntten Zeit von 160 Stunden
läßt ſich Erkleckliches leiften, wenn fid der Lehrer einer
praktiſchen Methode bedient und hierin burd) ge:
Die hebraiſche Sprache an Gimnafien. 577
eignete Hifsmittel unterftügt ift. Mein an bem
Mangel folder liegt ber Hauptgrund des Scheiterns
günftiger Erfolge beim Hebräiſchlernen. Die bidleibigen,
mit [hwerverftändlichen Regeln und Kleinigkeitskrämereien
überladenen Grammatiten hemmen beim Fehlen aller
oder geeigneter Uebungs- und Lefeftüde die gewünſchten
Fortſchritte der Schüler und ermeden bei ihnen, teil
fie mit Theorie überfättigt werden und vergeblich nad)
dem Schriftworte lechzen, Unluft umb Widerwillen. An
folden Grammatifen jdeitert bie Gejdidlidfeit ſelbſt
be8 beften Lehrers namentlid) bann, wenn e8 ben 9[n-
fängern des Qebrüifden, mie an Gymnaſien in ber Regel
der Fall ift, am Driginalterte der Bibel und an einem
Handleriton gebriht. Will er analyfiren, jo muß er
Zeit und Kraft unnüg verſchwenden, um bie Zöglinge
butd) das dunkle Labyrinth verworrener Regeln hindurch⸗
zuführen, oder er muß ftatt beffen die Quinteſſenz des
dort bunfel ober meitläufig Gefagten in wenigen Sägen
faflid) biftirem ober enblid) die Regeln immer wieder
mündlich vorbeflamiren, melde dann trogdem mur in
der Luft hängen und bald wieder vergefjen find.
Andere Grammatifen verfallen in das entgegenge-
fette Extrem, fie faffen fid) kurz, theilen aber Paradigmen
und Regeln jo mangelhaft und abgeriffen mit, baf e8
dem Schüler unmöglich ift, bei der ſelbſt verfuchten Analyfe
des Textes ben gewünſchten Aufichluß zu finden und auf:
fteigenbe Zweifel zu löfen. Exempla sunt odiosa. Ueber⸗
dies bieten bieje Elementargrammatiken ftatt zufammen-
hängender SBibelterte gewöhnlich nur abgerifjene Säge als
Uebungsftüde, melde Lehrern und Schülern Seit koſten,
den erwarteten Genuß und Erfolg aber vorenthalten.
578 Rihn,
Eine Grammatif, welche Anfpruc auf das Prädikat
machen will, eine gute zu fein, muß meines Erachtens bie
wiſſenſchaftliche und praftifhe Methode verbinden und
die befagten Mißſtände vermeiden. Die Regeln müflen
einfad) und Kar bargeftellt, aber mit ſyſtematiſcher Gründ:
lichkeit in aller Kürze vorgetragen fein. — leid) am Anfange
müſſen Abſchnitte aus der heil. Schrift eingeftreut werben,
bei welchen zur Erleichterung und Selbftübung des Schülers
mebft der Ueberfegung bie Ausſprache in Tranfkription
beigegeben ift. Ich halte e8 für beffer, wenn dieſe erften
Nebungsftüde ftatt zuſammenhangsloſer Säße fofort leichte
Terte aus der Bibel felbft enthalten. Auch follten fid)
bieran fofort zur Verwerthung des Wörterſchatzes einige
Weberfegungsftüde aus der Mutterſprache ins Hebräifche
anfchließen, weilan ihnen bie Sprachgefege zum beutlicheren
Bewußtſein der Schüler und zur größeren Sicherheit
gebracht werden, Diejes Bedürfniß hat ion Gefenius
gefühlt, ber außer dem Lehrgebäude, der Grammatik
und dem vortrefflichen hebräiſchen Leſebuch ein deutih:
bebräifches Ueberſetzungsbuch fchrieb. Doch dürfen diefe
Uebungsftüde zum Uebertragen in ba8 Hebräiſche nicht
butdj bie ganze Grammatik fortlaufen, fondern nur fo
Tange fortgefegt werden, bi der Schüler zur felbftändigen
Lektüre der Bibel mit Ausfhluß der unregelmäßigen
Verben befähigt ift. Auch dürfen diefe Stüde nicht zu
groß und zu zahlreich fein; fouft werden fie ein Hemm⸗
ſchuh für die Schüler, welche hiemit bie Seit verbringen,
ftatt den Zweck und das Ziel, nämlich die Lefung ber
heiligen Schrift in der Urſprache, zu erreichen.
Da die Anfänger auf der erften Lehrftufe, wenigſtens
bevor fie das tfeologi[dje Stubium beginnen, meber bie
Die hebrätfhe Sprache an Gymnaſien. 579
Mittel zur Beſchaffung eines hebräiſchen Bibeleremplars
und Handlerifons befigen noch auch Luft haben, folde
umfangreiche Bände, ba fie ohnedieß mit Sebrbüdjern
überpadt find, am bie Studienanftalt zu ſchleppen: fo
ift e8 dringendes Bedürfniß, ber fnapp abgefaßten Schul:
grammatif eine Kleine Debrüijde Anthologie mit Wort⸗
tegifter beizufügen, und darin follen meines Erachtens
fteben: Die erften Kapiteln der Genefià über Welt- und
Menihenihöpfung, Sündenfal und Protoevangelium (c.
1—3), die Berufung Abrahams (Gen. 12, 1—10), der
Bund Gottes mit Abraham (Gen. 17, 1—11), Abra:
hams Prüfung unb Gehorfam (Gen. 22, 1— 19), bie
Geſchichte Joſephs -(Gen. 37), bie Berufung des Mofes
(Exod. 3, 1—15), der Defalog (Exod. 20), jebod) in
der gefürzten Faſſung des Katechismus, und das Vater:
unfer aus bem neuen Teftamente (Matth. 6, 9—13).
Segtere8 ift au8 der Londoner Ausgabe des N. T. zu
entnehmen. Endlich einige poetiſche Stüde, etwa bie
Pfalmen 1. 2. 8. 8. 15. 72 hebräifcher Zählung. Hieran
haben die Schüler befonderes Wohlgefallen, unb id) habe
erlebt, daß einzelne nad) vierwöchentlichem Unterricht den
erften Pſalm, melden ih als Leſeübung an ber Tafel
tranſtribirt hatte, ohne alle Aufforderung ihrem Gedächtniſſe
volftändig eingeprägt hatten. Wie leicht wird auf dieſe
Weiſe eine Copia verborum erzielt! ebenfalls darf
der Lehrer bie Kreide nicht fparen. Ich halte e8 für
nötig, bep Anfängern das Alphabet wiederholt vorzu:
ſchreiben und auf gemifje Handbewegungen und Kunft:
griffe in Darftellung der Schriftzüge aufmertjam zu machen.
Ale Regeln, [don die vorläufigen Bemerkungen über
Shwa, Dageſch, Mappit, Makleph, Metheg, Accente
580 Kihn,
u. dgl. find an Beifpielen an ber Tafel zu erläutern
und too möglich mit deutſchen Spracheigenthümlichkeiten
zu vergleichen, wie dies Gefenius in feinem Lehrgebäude,
welches alle Grammatifen an Klarheit übertrifft, häufig
thut. So 3. B. Tann ba3 Schwa mobile an ber 9tu3-
fpradje der Wörter Magd, ϑ τῷ, ber in Altbayern oft
vorfommenben Namen Vogl, Schmidl, Stingl u. dal.
erflärt werden. Bei den Begadfephath Tann auf bie
verſchiedene Lefung des Buchſtabens g in Gegend, gen
Himmel u. dgl. verwiefen werden.
Ich habe nur zwei Grammatifen gefunden, melde
ben geftellten Anforderungen annähernd entſprechen: 1) Das
Glementatbud) der Debrüijden Sprache von Seffer,
eine Grammatik für Anfänger mit eingeldalteten, ſyſte—
matiſch georbneten tlebetjeBung8- und anderen Webungs:
ftüden, mit einem Anhange von zufammenhängenden
Sefeftüden unb den nöthigen Wortregiftern, gunddjft zum
Gebraud) auf Gymnafien gefchrieben, zu bem verhältniß-
mäßig billigen Preis von 4,50 M. (214 öfterr. fl.), bei
Branbdftetter in Leipzig. Sechſte Aufl. 1878/Befonders Lob
verdient ber große, fette Drud der hebraifchen Webungs-
ftüde. Schon auf Seite 6 begegnet uns eine hebräiſche
Leſeübung, freifi nur in zufammenhangslofen Sägen,
auf Seite 11 das erfte Ueberfegungsftüd ins Hebräifche,
aus drei Zeilen beftehend: „Ein gerechter König mar
David" 2c. Daß fid) bieje Stüde durch die ganze Formen:
lere δίδ zur Syntar €. 199 fortziehen, Tann ἰῷ aus
bem angeführten Grunde nicht billigen. Auch bürften
die Regeln über die Elementar- und Formenlehre, ſowie
über bie Syntar durchſichtiger und bündiger gefaßt fein.
2) Schilling, Nouvelle Méthode pour apprendre
Die hebraiſche Sprache an Gymnafien. 581
la Langue Hébraique, Librairie Briday, Lyon, Paris.
1883. Diefe in franzöſiſcher Sprade abgefaBte Gram:
mati zur Erlernung be8 Hebräifhen wird ber beut[de
Verfaſſer, der frühere Profeſſor an bem katholiſchen Gym⸗
nafium zu Colmar im Elſaß, hoffentlich bald in deutſcher
Ausgabe erſcheinen laſſen und. hiemit bie oben gewünſchte
Anthologie nebit Lerifon verbinden. Dies famn ohne
Vermehrung der Seitenzahl gejdjeben, ba eine Raumer-
fparung burd) Kürzung ber Syntar und duch Sufammen-
ftellung ber Paradigmen ber Verba am Schluſſe ber
Grammatik erzielbar ijt. Im Uebrigen liegt uns bie
oben gewünſchte gute Methode in Schilling Grammatik
vor. Das Buch zeichnet fid) durch Wiſſenſchaftlichkeit
und praktifche Anlage, burd) einfadje und klare Darlegung
der Regeln aus. Bahlreihe zufammenhängende
Leſeſtücke aus ber BL Schrift find von €. 6 bi8 zum
Ende des Buches €. 223 eingeftreut. Diefe werden nad
vorgängiger Aufführung des hebräifchen Textes fofort in
3 Spalten zur Faßlichkeit des Schülers gebracht und zwar:
€. 6: Texte Prononciation Traduction.
€. 15: Texte Traduction Accents.
©. 18: Texte — Traduction Syllabes.
€. 20: Texte —— Traduction Analyse,
und fo mit der letzteren Dreitheilung im ber Folge bis
zum Schluſſe des Buches.
Ich zweifle nicht, daß eine deutiche Bearbeitung
dieſes Lehrbuches freudig begrüßt und alsbald an vielen
Gymuafien, Lyceen, Seminarien und theologiſchen Schulen
Deutſchlands und Oeſterreichs Eingang finden wird. Möge
fid) der Verfaffer burd) bieje anerkennenden geilen Diegu
beftimmen laſſen.
4.
Der geſchichtliche Abſchnitt Jeſ. c. 36—39. Erläuter-
ungen defielben durch aſſyriſche Keilinſchriften.
Bon Prof. Dr. Himpel.
Schon längft ift der Abſchluß ber Jeſaianiſchen Weif:
fagungen c. 1—85 durch den hiſtoriſchen Abſchnitt, deſſen
Stellung und etwaiges Verhältniß zum folgenden ein
zufammenhängendes Ganzes bildenden Theil Gegenftand
der Unterfuhung für Sole geweſen, denen die Abfolge
ber Abſchnitte des Buches nicht als Spiel be8 Zufall
gilt. Die Bedeutung be8 fraglidjen Abſchnittes liegt
darin, dab Israel in ibm in Contact mit bem beiden
Weltmächten erſcheint, welche feit Jahrhunderten Vorder:
afien abwechſelnd beherrſchten, deren eine, bie aſſyriſche,
nachdem fie das Sebnftàmmereid) zerichlagen hatte, nun
mehr zum entſcheidenden Schlag aud) gegen das zeitweilig
um bie Gunft Aegyptens buhlende Südreich Juda aus:
holt, welcher burd) eine höhere Macht abgetoenbet mird,
während bie andere, die uralte babyloniſche, gerade
damal3 mit neuen Kräften gegen Afiyrien, das von ibt
ausgegangen, fid) erhob, Juda als SBunbesgenoffen zu
terben fucht, deſſen Könige Hiskia fid) unheimlich nähert
Himpel, Jef.c.36—39 erläut. darch affprifche Reilinfcheiften. 583
umb ſcheinbar arglos bie erften Fäden zu bem Siege
fpinnt, das über ein Jahrhundert fpäter fertig gemacht
über Juda fid) unzerreißbar zufammenzieht. Leber all
dem Getriebe, feinen Verwicklungen und Bewegungen fteht
erhaben der Prophet, mit ſcharfem Auge biefe[ben mefjend
und beherrſchend, ein göttliche Bürge der Rettung feines
Volkes vor bem Afiprer für die Gegenwart, unb gugleid)
des ſelbſtverſchuldeten Fünftigen Untergangs duch ben
Gbalbáer. Die belebten €ceuen dieſes Geſchichtsdrama's
mit feinen bedeutenden Perſönlichkeiten haben durch ben
glücklichen Umftand bedeutend gewonnen, daß gerade für
diefen Abſchnitt der Gedichte Israels bie Keilinſchriften⸗
forſchung fid) fer ergiebig erwiefen hat, und bie bem
Boden be$ alten Ninive enthobenen literavijden Schäge
manchen biblijden Bericht in neue ungeahnte Beleuchtung
ftellem Wie Vieles bie Schriftforfhung der neuen Wiffen-
"schaft jegt ſchon verdankt, wo fie quantitativ und quali-
tatio nod) erheblich fortzufchreiten hat, ift an ihrer Beihilfe
für Aufhellung des genannten Abſchnittes ganz befonders
erſichtlich.
Il.
Wiederholt bejdjáftigt den Propheten bie aſſyriſche
SRadt im Verhältnik zum Volk Israel, und daß fie
auf dem Boden Zuda’ in ihren Anschlägen gegen daffelbe
fid an der Macht eines höhern Willens breden werde,
war von Jeſaia fhon c. 10 in Ausficht genommen.
Dieb mitb e. 28 ff. mieder behandelt, nachdem darauf
durd bie SBerfünbigung des Niedergangs ber andern
Völker (c. 13—27) vorbereitet worden unb nun bie Zeit
der Verwirklichung der Kataftrophe näher gekommen ift,
584 Himpel,
Dem Gedanken, daß nicht menfdjfide Kraft unb Mittel
ba8 Bolt vor drohender Feindesgefahr errette, wird
nun, madbem König Achas (c. 7) denfelben ſchnöde zu:
zurückgewieſen und bie aſſyriſche Macht gegen feine Feinde
angerufen, aufs neue vielfältiger, ergreifender Ausbrud
geliehen, und an König Hiskia (f. 729) findet der Prophet
eine beflere Stätte für fein Wort von der alleinigen
Durchhilfe Gottes. c. 36 f. wird bie in allem flimmende
Probe auf die bisher dargelegte Rechnung vorgebracht,
ber faktiſche Erfolg ber Lange fortgefeßten Thätigkeit des
Propheten, wie derjelbe erft, aber dann in unerwartet
volftändigem Maße, gegen Ende be8 Lebens beider, bem
König und dem Propheten zu Theil wurde, und die
auf Afiyrien gehenden Weiffagungen fid) in Rettung Juda's
und furdtbarer Demüthigung be8 mächtigen Gegners
erfüllten. Aber [o vortrefflich die beiden Kapitel ſachlich
an ihrer Stelle find, wie bie Probe auf die Rechnung
folgt, und zwar hier auf eine ziemlich Lange und ſchwierige,
fo find fie bod) chronologiſch verftelt und follten ben
beiden folgenden (88 f.) nachſtehen, melde jebod) als
vorwärts, bem Exil entgegen weifende aud) ihrerfeits ſach⸗
Tid) wieder den richtigen Plag einnehmen. Indem bier von
einem genauern Nachweis des Logifhen Zuſammenhangs
von 36 f. mit den vorangegangenen, und befjelben von
38 f. mit ben nachfolgenden Kapiteln abgejehen ift,
wird bie chronologiſche Abfolge der beiden Geſchichts⸗
abjdjnitte eingehalten, und das ihnen Gemeinjame vor:
angeftellt. Dieß ijt bie eit jammt der Zeitlage San:
beribs und feines Vaters Sargon, des aſſyriſchen Groß:
fünig8 und das Verhältniß be8 gefammten hiſtoriſchen
Theiles (36—39) zu feiner im Ganzen genauen Parallele
Sel. c. 36—89 erläutert burdj afſhriſche Keilinſchriften. 586
2 Kön. 18, 13 bis 20, 19, fomie zu ber abgefürzten
Darftellung in 2 Gron. 32, womit bie Acchtheitsfrage
zufammenhängt.
I.
Sargon (Sarrufin, b. b. felt ift der Fürft) herrſchte
mad) dem ptolemäifchen Regentenfanon von 722—705
über Afiyrien. Bis vor wenigen Jahren war bie Be—
merfung Jeſ. 20, 1, daß Sargons Oberfeldherr damals
Asdod im Philifterland belagerte und eroberte, das
Einzige, was man von biejem König wußte, deſſen Eriftenz
darum vielfach in Zweifel gezogen wurde. (8 ift zunächſt
das SBerbienft beg framgüfijdjen Conſuls Botta und ber
von ibm ſchon in den 40ger Jahren zu Khorſabad, notb-
öflih von Moful angeftellten Nachgrabungen und ber
Entdedung zahlreicher Infehriftplatten in feinem gewal⸗
tigen Palaft ber von ihm erbauten ninivitijden Nordftabt
(dur Sarrukin: Sargonsftabt), daß jept beinah bie ganze
Regierungszeit dieſes Königs in ununterbrodhener Folge
der Thaten und Ereigniffe vorliegt. Durch Kunftfinn
(erfindungsreihe Mufter fein durchgeführter Bildwerke
und vollendete farbige Cmaillirung der Backſteine in [εἰς
nem Balafte) und Kriegstüchtigkeit gleich hervorragend
Tämpft er mit Elam=Perfien, zwingt im Weften bie
phönizishen, philiftäifchen, israelitifchen Städte zur Unter-
werfung, nöthigt felbft Aegypten zur Tributleiftung
(S. 715, Schrader a. D. €. 397), tritt ſchiedsrichterlich
im Norden in Thronftreitigfeiten Armeniens auf, ernies
drigt Babylonien zum Vaſallenthum und gründet aud
bier feine Königshertichaft 709. Sargon und nidt Sal«
manafjar, mit dem er gewöhnlich ibentificirt wurde,
Wedl. Qusstalfgrift. 1889. Qeit IV. 89
586 Dimpel,
vollendete gleich anfangs feiner Regierung (ris sarruti)
die Eroberung Samaria’s, 722, weldje bie Bibel 2 fu.
17, 25 dem Burüfter, Beginner unb Fortführer derſelben
bis ins dritte Jahr, dem Vorgänger Salmanaflar zu-
ſchreibt, ba er jedenfalls bie meiften Anftrengungen dafür
gemacht hatte. Inder großen Prunkinſchrift (Botta—Fland.
145, 1) fagt Sargon: „Die Stadt’ Camirina belagerte
ἰῷ, nahm id) ein; 27280 ihrer Bewohner führte id) fort,
50 Wagen von ijuen nahm id, ihre Habſeligkeiten lief
ἰῷ (Andere) nehmen ; meinen Statthalter fegte id) über
fie, den Tribut des vorigen Königs legte ich ihnen auf.“
Betätigung hiefür geben bie nod) ausführlicher darüber
handelnden aber febr verftümmelten Sargon'ſchen Annalen,
wo aud) von Auſi⸗Hoſea, bem legten König des Nord»
reichs die Rebe ijt, den ſchon Salmanafjar gefangen ge-
nommen hatte. Wohin der König bie Weggeführten
verbradyt habe (2 Kön. 17, 6), melden bie Jnſchriften
nicht, wohl aber wird gefagt, daß der König Babylonier
mad) bem Land ber Chatti, und Leute aus verſchiedenen
Stämmen, aud) arabiſchen, nad) dem Lande des Haufes
Dmti, b. h. Samarien, verpflanzt habe. Nach der Bibel
fatte Sargon nod) feine Berührung mit Juda — εὖ
wird einfach über ihn gefchwiegen. Der auf 720 fallende
Zug gegen Aegypten, auf bem aud Hanno von Gaza
enttrohnt wurde, [djeint Juda nicht näher betroffen zu
baben, das in den Augen bes Großkonigs nicht minder
als Bajallenftaat galt, wie Samarien und andre Kleine
Neiche der Weftlande, Anderes, und nicht faktiſche Krieg-
führung, mag daher aud) bie in Nimrud gefundene Ju:
ſchrift in den Worten: „Ich (Sargon) unterwarf das
Land Juda, defien Lage eine ferne“, nicht befagen; fonft
Jeſ. c. 86---89 erläutert burd) afſhriſche Keilinfcriften. .587
hätte ber rubmrebnerilde König ganz anders geſprochen.
Die wie zufällige Notiz Jeſ. 20, 1 erhält au8 den In—
ſchriften wieder volle Beleuchtung (Schrader a. D. €.
398 ἢ), au8 ber fid) ergibt, daß bie dort berührte
Empörung Asdods in Verbindung mit einem geplanten
Krieg 9legppten8 gegen Affyrien ftand, den erftere8 bei
bem glüdlidjen Vorgehen der Afiyrer dann unterlieh.
Sym 11. Jahr feiner Regierung, 711, jegte er bem König
Azuri von Asdod ab, erobert diejes, befjen Einwohner
ben von ihm eingejegten Bruder Azuri's Ahimit verjagt
hatten. Der von ihnen erhobene Jaman war nad) Ober-
ügppteu entflohen, wurde aber an Sargon ausgeliefert.
707 Hatte Sargon feinen Palaftbau vollendet und 705
ward er ermordet.
Es gilt nunmehr als evidentes Refultat der For-
{hung auf bem Gebiet ber ninivitifhen Dentmale, womit
der Kanon bes SBtolemáus übereinftimmt, da& auf Sargon,
ben Eroberer Samaria’3 ("Apxeavdg des Ran., nad) welchem
er 709 aud) ben Thron von Babel beftieg), am 12. Ab
(Suli) b. 3. 705 fein Sohn Sanherib auf bem Thron
gefolgt fei (af. Sin — ahi — irba, b. 5. Sin, der Mond»
gott, al3 Gott ber Fruchtbarkeit, ſchenkt der Brüder viele)
und bis 681 regiert habe. Das aſſyriſche Reich beftand
unter ihm nod) in voller Kraft fort, denn während et
Aegypten gegenüber nod) nidjtà ausrichtete und im Streit
wider Juda fogar eine ſtarke Demüthigung erlitt, welche
dem Propheten, ber fie vorausgefagt, immerhin als fiheres
Unterpfand endgültigen, (nad) feinem vollen Jahrhundert
wirklich erfolgten) Untergangs diefer Weltmacht erſcheinen
mußte, mar er im Often um fo glüdlider. Er unter
warf bier Babylon, das unter Sargon auf längere Beit
80"
688 Himpel,
feine Unabhängigfeit behauptet hatte, wieder ber aſſyriſchen
Dbergemalt, melde ber Sohn Aſarhaddon fogar auf
Aegypten ausbehnte, das ber Enkel Afurbanipal (Sar⸗
banapal ber Griechen) vollends unterwarf. Seinen Palaſt,
ber an Ausdehnung wie Pracht und Driginalitüt bet
feinen Sculpturen nod) über bem Sargons zu Chorfabad
ftebt, batte er in ber Weftftadt, zu Kujundſchik in Ninive,
Moful gegenüber (Kaulen, Afiyr. u. Babyl. 2. 4.
Herder, Freiburg 1888. € 35). Neben der Bibel,
Alerander Polyhiftor (Eufeb. Chron., eb. von Mai, I,
18f.), Abydenus (ebdaf. IX, 25 f.) und dem fo werthvollen
ptolemäifchen Kanon hat man jegt ala Hauptquelle über
Sanherib eine große Anzahl von Inſchriften auf Stein:
platten, Thoncylindern, Badfteinen, aud) eine Juſchrift,
bie zu Bavian, nördlich von Ninive, in den Fels einge:
bauen ift. Die wichtigſten davon für die biblifhe Ge
ſchichte find (Die Keilinſchriften und das Alte Teftament,
von Gb. Schrader 2. X. 1883, ©. 286 ff.) die große
Inſchrift auf dem beragonalen Thoncplinder (ſ. g. Tay:
lor:Eylinder), mit Goamnberib8 acht erften Feldzügen,
eine bis zum dritten Feldzug reichende Parallele auf einem
von Raffam gefundenen Gplinber, aus dem Eponymat eines
Mitunu (Jahr 700); dazu eine Heine Sujdrift über einem
Bilde, bie den König Sanherib auf einem Throne figend
und jüdifche Gefangene empfangend barftellt; auf einer
Inſchrift findet fid) aud) die Unterwerfung Juda's, ſowie
des Königs Hiskia furg erwähnt. Darnach geftaltet fij
ein veichhaltiges Bild diefes bis zu Erſchließung ber
neuen Quellen auf ninivitifhem Boden nur ganz wenig
befannten königlichen Eroberers, daS hier in Burgen Zügen
eine Einrahmung des bibliihen Geſchichtsgemäldes geben
Jeſ. c. 36—89 erläutert durch affori[dje Keilinfchriften. 589
mag. Ein ausgedehnter Aufftand der Völker in Oft unb
Weſt insbefondere Chaldän’s begleitete bie Ermordung
feines Vaters Sargon 705; nad) Bänbigung des Auf-
ftanbes in Babylonien fegte.er hier den Belibus als
SBicefómig ein; „den Sohn einer Weisheitäfundigen in
der Nähe der Stadt Suanna, welchen man wie einen
Tleinen Hund in meinem Palafte erzogen hatte, beftellte
ἰῷ zur Beherrſchung von Sumir und 9(ffab (b. i. Baby:
loniem) über fie" (Schrader, a. Ὁ. 846 f.). Der dritte
Feldzug des Großkönigs galt den Empörern des Weſtens,
wo Cibon und Efron den Tribut verweigerten, und
legteres bem von Sargon eingejegten König Padi an
König Hiskia zu Jeruſalem auslieferte, der ihn in Ge-
wahrſam hielt. Im denfelben Feldzug vom I. 701 ges
hören bie c. 36 f. erzählten Ereigniffe, von welchen fpäter
zu reden ift. Die Aufftändifchen ber weftlichen Gegenden
von Syrien bi8 an bie ägyptiſche Grenze ſchloſſen meift
Bundniß mit Aegypten und Nethiopien, und tourben im Ge-
biete Dans von Sanherib geſchlagen, der fie wieder unter-
warf, den von ben Ekroniten abgejeßten Badi in Jerufa-
lem frei zu laffeu nöthigte und in Efron wieder einfette.
Nun wandte ber Großkönig fid zur Züchtigung des
am Aufftand und Bündniß im mat Chatti (Syropaläftina)
hervorragend betheiligten Königs Hisfia, obwohl der Zug
der Aſſyrer in erfter Linie nicht gegen Reich Juda, fondern
gegen Aegypten unb bie zu diefem abgefallenen Klein
fürften des Küftenlandes zwiſchen Südoſt Kleinafiens
und Aegypten gerichtet war. Juda ließ ber eilig nad)
dem von ber Hauptftadt auf fein Heer zurüdgefallenen
Schlag heimkehrende Aſſyrer von nun an in Ruhe, blieb
aber nod) in weitern Feldzügen gegen Babylonien, Elam-
590 impet,
Verfien und Nordarabien in friegerijder Thätigkeit.
II.
Jeſ. 36— 839 hat feine Parallele in 2 Kön. 18, 13
bi3 20, 19. Ob der Serfafjer des Königsbuchs feinen
Bericht der Begebenheiten aus Jeſaia herübergenommen,
oder au von ihm regelmäßig citirten Reichsannalen, viel-
mehr einer Bearbeitung berjelben, entlehnt hat, oder ob
beide Berichte unabhängig von einander au8 ein und
derjelben Duelle ftammen, ift nicht entidjieben. Früher
bielt man dafür, daß der Bericht in den Königsbüchern
ber urfprüngliche, ber im Buch Jeſaia ber fpätere und
aus ihm entlehnte fei, weil er vielfach abgekürzt unb
abgerundet, mit leichtern gewöhnlichen Worten unb Wen:
dungen, too nicht gar Formen fpätern Sprachgebrauchs
verfehen erfcheine. Man fonnte darauf entgegnen, bof
der Bericht in Jeſaia das Danklied Hiskia's enthalte
.(88, 9—20) ba8 2 Kön. a. D. ganz fehlt, an letzterem
Ὅτι aud) bie Sprache weniger forgfältig und geichliffen,
cotreft und elegant ift. Unter ſolchen Umftänden und
bei medjanijdjer Abwägung von Grund und Gegengrund
läßt fid über die Priorität des einen Textes vor bem
andern nicht fider entſcheiden, zumal jede ber beiden
Anfihten ihre Gründe über[pannt, und in einzelnen Aus-
brüden bald ber eine, bald wieder der andere Tert
paffender ſcheint und den Vorzug verdient. Faßt man
mod) bie Auslaffungen ins Auge, jo fann ebenfalls weder
bet Text in Jeſaia bem der Königsbücher entfloffen fein,
ber ja be8 großen Dankliedes entbehrt, mod) legterer
aus Jeſaia ftammen, weil er Zufäge hat, die inhaltlich
und formell nicht vom Verfaſſer des Königsbuchs kommen
Jeſ. c. 36—39 erläutert durch affgrifche Reitinfcheiften. 591
können. Diefer Tann ben Bericht überhaupt nicht ge:
ſchrieben haben, da er ſchon in ben prophetifchen Reden,
bie er enthält, auf eine fchriftliche Duelle zurüdweift
und durchweg in prophetiſch⸗hiſtoriſchem Stil gefchrieben
ift, wodurd er fid) ebenfo fehr von ber einfachen anna=
liſtiſchen wie von der rhetoriſch⸗paränetiſchen Darftellung
des Verfaſſers des Königsbuchs unterjdjeibet. Delitzſch (Je⸗
ſaia, 3. X. €. 368) durfte daher den Bericht in letzterm ohne
Weiteres in Parallele mit ben 1 Kön. 17 ebenfalls unvermit-
telt beginnenden Elia und Eliſageſchichten ftellen, da er
gleich biefen einerbefondern prophetifhenQuelle entftammen
muß, bie mit andern prophetengefchichtlichen Beftandtheilen
des Konigsbuchs nicht auf gleicher Linie fteht. Wegen
diefer Auslaſſungen, die bald in ber einen, bald in ber
andern Stecenfion vorkommen, nimmt man daher jegt
gewöhnlich an, daß beide Berichte unabhängig von εἰπε
ander ein und derſelben ausführlicheren Quelle entnommen
find. Daber ift wohl mit der neueften Erklärung Jeſaia's
von fuabenbauer zu fimmen, menn er ©. 401 f. gegen
bie Annahme einer Entlehnung des Abfchnitts aus den
Reichsannalen (die als folche Hier ohnehin nit in Frage
fteben könnten) fih auf ben ganzen Charakter bet Dar:
ftellung, bie eimgeffodjtenen ausführlichen Reden und
Weiſſagungen beruft; e8 ift jebod) bie aum minder un:
mögliche Annahme fab. abgumeijen, daß ber Verfaſſer
des fünig3budj bie Erzählung jener Begebenheiten aus
Jeſaia herübergenommen habe. Dafür dürfte aud) nicht
auf 2 Kön. 16, 5 verglichen mit Jeſ. 7, 1 vertiefen
werden, da Hieraus bloß erhellt, daß ber Verf. des
Konigsbuchs Jeſ. vor fi hatte und jene Stelle ſehr
wahrſcheinlich im Hinblid auf Jeſ. 7, 1 geſchrieben Dat.
592 ‚Himpel,
Keine der beiden vorhandenen Relationen gibt ben ur-
ſprünglichen Bericht genau wieder, doch ſcheint das Königs:
bud) nicht blo mehr aus demfelben entnommen zu haben,
fondern aud) von feinem eignen Serfaffer ftammenbe
erweiternde Bufäge, meift ftiliftifcher Art, zu enthalten.
Der Tert des Königsbuchs erfcheint ohne Grund Nägels-
bad) (Der Proph. Jeſaia, 1877, €. 378) al ber ältere,
weil er ber umfangreichere ift und in einem Gefchichts-
buche περί. Es ift mit abzufehn, warum der Tert
nad) Bebürfniß des ältern Weiſſagungsbuches in ihm nit
abgekürzt und aufs Wefentlihe beſchränkt früher gegeben
werden fonnte, als der mad) Erforderniß des Geſchichts-
werkes volftändiger und fpäter aus ber Quelle mitgetheilte.
Die Jeſaianiſche Recenfion ift aber früher gefehrieben wor:
ben, und zwar, wie kaum in Zweifel zu ziehen fein möchte,
entweder vom Propheten felbft oder nach feiner Intention,
too nicht Angabe. Denn aud) die ältere gemeinfame
Quelle wird auf Jefaia zuridzuführen fein. Nach 2 Chron.
32, 32 find die übrigen Begebenheiten Hiskia's und- die
Gnabenermeife, die er erfuhr, aufgezeichnet „im Gefiht
(mir) Jeſaia's des Sohnes Amoß' des Propheten, im Bud)
der Könige Juda's und Iſraels.“ Darnach war eine ge:
ſchichtliche Relation über Hiskia aus bem Buch Jeſaia's,
(fier nidt mit demfelben, mas Deligih a. Ὁ. €. 369
alternativ gelten laſſen mill) , das 1, 1 die Meberfchrift:
Geſicht Jeſaia's trägt, in bie dem Chroniften noch vor=
liegende Hauptquelle feines Geſchichtswerkes aufgenommen
worden, biejelbe, bie 2 Chron. 24, 27 SRibrajd) bes
Konigsbuchs heißt, und galt hier natürlih, mie aud
ſchon früher in bem Geſchichtswerk, das jenem Midraſch
zu Grund gelegen haben mochte, mit den übrigen Theilen
S. c. 36-39 erfäutert durch afforijdje Reilinfcheiften. 598
des „Geſichtes“ als Arbeit Jeſaia's. Wenn Jefaia fodann
2 Chron. 26, 22 eine vollftändige Geſchichte des Uſſia
geſchrieben hat, in defien Todesjahr er zum Propheten:
amt berufen ward, menn er aud) fonft hiſtoriſche Mit:
theilungen feinem Weiſſagungsbuch einzuverleiben nicht
verihmähte (c. 6—8. 20) und hiebei ebenfalls in dritter
Perſon von fid) redete, jo wird man e$ geradezu für
ganz unwahrſcheinlich erklären müffen, daß er nicht aud)
über jene bedeutendften Greignijje feines Lebens, in bie
er al8 Prophet fid) verflochten fab, bei denen er einer
ber maßgebendften Mithandelnden war, als nächſter
verantwortungsvollfter Zeuge ein volgültiges Schriftftüd
hinterlaſſen hat, meldje8 er fei e8 perjönli oder durch
Syemanben aus feinem Kreife (c. 8) feinen Weiffagungen
einfiügenlieB. Dazu fommt, baf der Profaftil in c. 36—39
eine ben großen Ereigniffen, die bargeftellt werden, abäs
quate fchriftftelerifche Arbeit ift, bie nach diefer Seite
bin dem Propheten nicht wird abgefprochen werden können,
daß 7, 3 und 36, 2 bei [aft buchſtäblicher Übereinftimmung
in ungezwungener Bezeihnung ber Ortslage bielelbe
ſchriftſtelleriſche Hand verrathen. Wörtlihe Wiederho-
lungen find bei Jeſ. aud) fonft nit ungewöhnlich, mie
außer Kehrverfen aud) 51, 11---86, 10. 19, 15—9, 14
zeigen. Daß endlich die chronologiewidrige Stellung
ber Geſchichten, von melden bie ber Zeit nad) fpätern
36 f. vorausgeftellt find, weil fie hier äußerft ſachgemäß
den Cyklus aſſyriſcher Weiffagungen abfchliegen, und
die zeitlich vorangegangenen 38 f. nadjfolgen, um beu
2. Theil Jeſaia's einzuleiten, im Grunde bloß für das
Weiſſagungsbuch paßt, forid)t jedenfalls für bie Priorität
des geſchichtlichen Abſchnittes in diefem, menn aud) nod)
594 Simpet,
nicht für Herübernahme beffelbem aus Jeſaia in das
Konigsbuch. Es hat auch wohl nod) nicht befjeu Verfaſſer,
fondern ein Späterer, welcher an der gegen bie Chronologie
verftoßenden Umftellung der Geſchichten im Königsbuch
Anftoß nahm, bier zuerft die unrichtige Zeitangabe 36, 1
angebracht, melde urſprunglich rihtig 38, 1 geftanden
haben wird, und dann natürlich aud) im Weiſſagungsbuch
angebracht wurde. Unter allen Umftänden erſcheint jomit
eine Abhängigkeit des geſchichtlichen Abſchnittes im Weiſſa⸗
gungsbuh von bemjelbem im Königsbuch unbegreiflic
und unmöglich, wenn man von ber fehlerhaften Umftelung
ber vorbezeichneten chronologiſchen Angabe abfiebt.
Die Aechtheit des Jeſaianiſchen Geſchichtsabſchnittes
ſcheint daher im Weſentlichen kaum weiterer ernſtlicher
Anfechtung zugänglich zu ſein, da weder das Mythiſche,
welches man in den Angaben 37, 36. 38, 8 findet,
zweifellos, noch die allzubeſtimmten Vorherverkündigungen
37,7. 38, ὅ ohne Analogie und ex eventu gemacht find,
mod) bie Angabe von Ganberib8 Ermordung (die erf
681 mad) afiyr. Chronologie erfolgte) als fpäterer
Zufag irgendwie unwahrſcheinlich ift, die „etwas fon
berbate" 9[nfuüpfung endli in 39, 1 an das Borige
fid) Dinlünglid) erklärt (f. w.). Dabei find willkühr⸗
liche Verfürzungen und Tertverderbniffe, die fidy c. 38
beſonders ftarf eingeftellt, aber für bie Hauptfrage nichts
zu bedeuten haben, nicht in Abrede zu ziehen.
Der britte biblijde Beriht, 2 Chron. 32, 1—23,
über unfre Geſchichten ift bei der Bevorzugung levitiſch⸗
priefterlider Einrichtungen und Feftbeichreibungen durch
den Verfaſſer und befjem rhetorifh-paränetifcher Tendenz
fegr ins Kurze gezogen, bietet aber bod) mehrere nicht
Jeſ. c. 36-89 erläutert durch affprifche feilinjóriften. 595
unweſentliche Ergänzungen, mie die Vornahme von Be-
feſtigungswerken und Reparaturen um bie Stadt Davids
und die Unterftadt, die damals ef. 22, 11 ſchon vorhanden
mar, Zubeden unb Ableiten der Quellen durch unterir-
diſche Ganäle in die Stadt und Berufung und Ermunterung
der Kriegoberften burd) den König. Die Darftellung
drängt das Effeftvolle zufammen, fürgt bie Reden, rüd!
ben Brief be8 Aſſyrers, ber in den andern Berichten erft
nahdem Stabjofe ihm über den hartnädigen Widerftand
ber Bevölferung berichtet hatte, geſchrieben wurde, hinauf
zur erften Verhandlung. Daß dem geretteten Hiskia
Geſchenke von „Dielen“, darunter, wie e8 [djeint, aud)
von benadjbarten mit ihm verbündeten und nun ebenfalls
befreiten Fürften, gebracht worden, würde bei letztern einen
Zug verratben, melder duch den in ben aſſyriſchen
SDenfmalen berichteten Bund Hiskia's mit benachbarten
Fürften und Völkern nahe gelegt ift. Die große Zahl
der durch den „Engel des Qerrn" erfchlagenen Afiyrer
umſchreibt der Chronift mit „jeden tapfern Helden unb
Anführer und Fürften im Lager des Königs von Aſſyrien“,
welder „umfehrte mit Schande in feinem Angeficht zu
feinem Lande”, 38. 21, nahdem er ®. 9 bemerkt batte,
daß bie ganze Reichsmacht bei ihm in Lachis ftanb.
Bezüglich einiger Zufäge be8 Chroniften kann man ver-
fudit fein, fie für Ornamentirung defielben anzufehen.
IV.
Wir haben jet, wo bie drei großen Begebenheiten
weittragender Bedeutung unter Hiskia's Regierung in
chronologiſcher Abfolge ins Auge zu faffen find, in bie
frühere, genauer mittlere Regierungszeit dieſes Königs
596 Simpet,
gurüdgutreten, in melde uns die älteſte berjelben, bie
Erkrankung Hiskia's und die durch Jeſaia verbürgte
und eingeleitete Wiebergenefung zurüdverfegt (c. 38).
Der Text ift hier über Gebühr verfürzt und hat 3B. 21 f.
am Schluß, ftatt zwiſchen V. 6 und 7, wohin ihn ſchon
Hieronymus verje&t (hoc prius legendum est quam
oratio Ezechiae). Man gibt fid) (Drechsler u. 9L) ver-
geblicde Mühe, ben beiden SBerfen in ihrer gegenwärtigen
Stellung, in der fie allerdings ſchon bie Septuag. vor:
fanden, unter Ignorirung der richtigen Abfolge derfelben
2 fón. 20, 7 f., einen erträglihen Zufammenhang
mit dem ihnen voranftehenden Schluß be8 Gebetes des
Königs abgugetoinnen, und der Verſuch, fie mod) dem
kunſtreich geformten Lied felbft anzugliedern, wirkt geradezu
komiſch. Sie künnen aud) fpäterer Nachtrag au8 bem
Königsbuc fein und find jedenfalls ein weiteres Zeug-
niß dafür, daß Umftellungen in dem hiſtoriſchen Abſchnitt
ftattgefunden haben. Das Lieb, in feiner Achtheit unange-
taftet, ein merkwürdiger Beleg der funflbiótung am
Königshofe, wobei aud) die Schattenfeite an derfelben,
das Gefuchte’ und fdmerperftánblid) Gemachte, nicht zu
überfehen ἀπ, ift von Hiskia nad) feiner Wiedergene-
fung gebiditet und nichts weniger al8 ein unmittelbarer
Gemüthsausdrud, vielmehr Produkt reflektirender Nach:
bildung unter Benügung von Arhaismen und ungewöhn:
lichen Wörtern und Formen vom erften bis legten Vers.
Man erfennt daran ganz den König, wie er fonft geſchildert
ift, als Renner und Liebhaber der nationalen Literatur,
Wiederherfteller des Eultus und der von David begründeten
Tempelmufif und liturgiſchen Pfalmodie (2 Ehron. 29,
30), der wie e8 jcheint jelbft thätig an der Spike eines
Sd. o. 36-39 erläutert burd) afſhriſche Keilinſchriften. 697
Collegiums, der „Männer Hiskia's,“ ftanb, welches die
Sammlung und Erhaltung literarijder Documente zur
Aufgabe hatte und Spr. 21, 1 aud eine Nachlefe zum
ältern Spruchbuche veranftaltete. Was bie zu Anfang
des Kap. gegebene allgemeine Zeitbeftimmung „in jenen
Tagen“ betrifft, fo jet bie Verheißung ber Errettung
von Afiyrien nicht voraus, daß Sanherib ſchon im Begriffe
mar, bie Wiederunterwerfung Juda's zu unternehmen,
und nod) weniger, daß er den vergeblidjen Verſuch dazu
ſchon gemacht hatte, fonbern bloß, daß man bie Situation
in Paläftina Afigrien gegenüber gefpannt und drohend
zu eradjtem hatte, und Juda damit umgieng, fid ber
Tributpflicht zu entziehen.
Man nahm gewöhnlich an, daß obige Zeitangabe
die Erkrankung Hiskia's im Allgemeinen in diefelbe Zeit
verfege mit bem vorher, 36 f., berichteten Ereignifjen,
in den Anfang der Sanherib’ihen Inpafion, ober nod)
während die Afiyrer Jerufalem belagerten, um fo ſicherer,
als Hisfia c. 39 (2 fm. 20, 15) ben ihn ob feiner
Wiedergenefung beglüdwünfchenden babyloniſchen Gefand-
ten feine Schäge gezeigt, bie er im Verlauf jener Expedition
an Sanherib auszuliefern hatte 2 Kön. 18, 15. Dagegen
berief man fid) für bie nad der affprijdjen Expedition
erſt erfolgende Erkrankung Hiskia's auf den Bericht ber
Chronik, melde die Errettung aus ber Hand Sanheribs
mit bem Zufag erzählt, daß Viele mit Geſchenken nad)
Serufalem gekommen und Hiskia in den Augen ber Völker
bochgeehrt ward, und dann erft die Erzählung von ber
Erkrankung des Königs folgen läßt (2 Chron. 32, 22—31);
ſowie auf Joſephus, welcher (Ant. 10, 2, 1) fagt, Hiskia
babe für die Befreiung Jeruſalems mit dem ganzen Bolt
598 Himpel,
Dankopfer batgebradjt, [εἰ aber dann (μετ᾽ οὐ πολύ,
womit er offenbar die Beitangabe 38, 1 ausdrüden
toil) von ſchwerer Krankheit befallen worden. Allein
beide, ber Ehronift und Yofephus, richteten fid) eben
mad) der Abfolge unjerer Geſchichten im Königsbuch unb
nahmen bie damals ſchon vorgenommenen chronologiſchen
Änderungen als urſprüngliche Angaben bin. (δ be
bauptet jodann Bähr (Die Bücher der Könige ©. 435),
daß bie babyloniſche Geſandtſchaft nicht in die Seit vor
Sanheribs Abzug (überhaupt nicht in bie Zeit während
der affprijden Invafion) gelegt werden könne, weil zu
diefer Zeit der damals nod) unter aſſyriſcher Oberherrſchaft
ſtehende König von Babel e8 nicht hätte wagen dürfen,
den von Sanherib abtrünnigen Hiskia zu beglücdwünfchen
oder gar mit bemfelben, ber fid) in großer Bedrängniß
befand und machtlos war, ein Bündniß zu ſchließen fid)
veranlaßt jehen konnte. Strikte für die Zeit unmittelbar
vor und während der Invaſion ift bie gugugeben, und
war ein Berfuh babyloniſcher Unterhandlungen mit
Juda too nicht unmöglich, bod) wenig verſprechend und
zwecklos. Nicht fo, wenn er einige Jahre früher gemadt
wurde. tad) den aſſyriſchen Inſchriften hat Babel bie
beiden legten Jahrzehnte des achten Jahrhunderts zwar
mod) nicht ebenbürtig mit ber jüngern Macht Aſſyrien
gerungen, aber bod) wiederholt bie hartnädigften Kämpfe
für feine Unabhängigkeit geführt und fij mit Glam und
ben weſtmächtlichen kleinern Staaten unb Fürften vet.
bunden. Das Danklied Hiskia's aber in feinem Beginn
(38, 10): 3d iprad) in der Stille (demi) meiner Tage:
Eingehen fol id) im der Unterwelt Thore, erflärt man
allerdings häufig: ba ein Stillftand eingetreten in meinem
Jeſ. c. 36—89 erläutert durch aſſhriſche Keilinſchriften. 599
Leben, ein glüdlicher Ruhepunkt, nad) Sanheribs Abzug
id in Ruh unb Frieden leben und regieren zu können
glaubte, überfiel mid) bie Todesfrankheit und brachte
mid) vor be8 Hades Pforten. Es ift aber nicht wahr:
ſcheinlich, daß Hiskia hier, wo er mur von Kranfheits-
gefahr, Errettung aus ihr und Dankfagung redet, an
Ruhe feines politifchen Lebens gedacht habe, eher (nad)
Delitzſch) am ruhigen Verlauf feines gefunden Lebens,
ber nun eine jo gefährliche Unterbrechung erlitt. Da
jebod) das Verb (ni) vorwiegend bie negative Ber
deutung des ftille machens — zu nichte machen, verderben,
bat, im Niphal ftet8 aufhören, dahin fein heißt, wie
aud) in Kal, fo wird e8 bier, am paffenbften für bie
age be8 Dichters, vom zu Ende geben, Aufhören feiner
Lebenstage verftanden und mit bem ihm voranftehenden
Verb verbunden: als bie ausgebrochene Krankheit meinen
Lebenstagen Vernichtung drohte, ba fprad) ἰῷ u. f. tv.
(ba8 in dimidio dierum meorum der Zulg. ift unhalt-
bar). Bon einem Stüdblid auf bie nad) Sanheribs
Abzug gewonnene rubige Regierungszeit ift bann feine
Nebe. V. 6 fpricht der Herr durch ben Propheten zum
König: 3d) werde zu deinen Tagen 15 Jahre hinzuthun
unb von ber Hand des Königs von Afiyrien werde id)
erretten bid) und diefe Stadt, und werde bieje Stadt be:
fügen um mein und meines Knechtes David willen. Dazu
bemerkt Bähr (a. D. ©. 435): „Die Zahl fünfzehn ift
feine arithmetifch genaue, denn wäre fie e8, fo müßte
nit bloß bie Invafion Sanheribs und die Krankheit
Hiskia's, fondern aud) ber Zug des großen afiprifchen
Heeres burd) die Wüfte bis mad) Aegypten, die Belage-
rung Pelufiums, ber Rückzug nad) Juda, bie Belagerung
600 Himpel,
und Eroberung ber feften Städte und bie Verwüſtung
des Landes, endlich bie Niederlage unb Flucht Sanheribs,
ja aud uod) die Gefandihaft aus dem fernen Babylon
in ba8 eine 14. Regierungsjahr Hiskia's gelegt werden“.
Dieß aber nicht mehr, fobald man die Krankheit und
Wiedergenefung beà Königs der Invafion ber Afiyrer
geraume Zeit vorangehen läßt. Alles Übrige geht dann
ganz gut in einem Jahre vor fi, nur nicht in ber,
von ben afiyriihen Urkunden, beliebten Reihenfolge
der Creignifje. Auch Bähr betrachtet die Zahl 15 nicht
mit Knobel als erft vom fpätern Erzähler ex eventu ge:
madt und bem Propheten, ber ,bieB nicht wiſſen fonnte",
in ben Mund gelegt; ftellt bann aber bie wenig pafjende
Frage: marum denn gerade 15 Jahre, warum feines
mehr und feine weniger? Er hält dann wieder mit
Recht für unftatthaft, bie& aus der Angabe 18, 2, bo
Hislia 29 Jahre regierte, zu beantworten; denn nicht
deßhalb wurden im mod) weitere 15 Lebensjahre ver:
beißen, fondern wegen diefer Verheißung regierte er bie
18, 2 in ber nämlihen Intention angegebne Zahl von
Jahren. (δ᾽ ifi ganz ridtig, daß der Sinn der Ber:
beißung fein wird, der König werde nod) einmal fo Lange
regieren, al8 er [don regiert habe. Dann kann aber
auch von einem Unterſchied zwiſchen der wörtlichen (wenn
aud nicht gerade arithmethifch genauen, was ja nichts
verſchlägt) Faflung der 15 Jahre und jener Bedeutung
derfelben nicht füglid) mehr die Rede fein. Denn gehören
die 14 Jahre 36, 1 an bie Gpige von c. 38 f. unb
find fie genau vom Negierungsanfang des Königs be:
rechnet, fo ergeben fid) 15 Jahre ber biöherigen Regie:
rung befielben, indem der Zeitabſchnitt bis zum Beginn
gef. c. 36—89 erläutert durch affgrijde Keilinſchriften. 601
feines erften vollen Regierungsjahrs als das erfte
Sjabr berechnet wird, und ebenío das laufende Jahr.
Man Tann daher von einer wejentlih, wenn aud) nicht
buchſtäblich ober arithmetifch genauen Faſſung und Er:
füllung des verfündeten Zeitraumes reden, ma8 bem
prophetifhen Wort immerhin feine Bedeutung fichert.
Es ift num ebenfalls richtig gejagt (Bähr a. D.), daß
bie unmittelbar folgenden Worte: Ich mill bid) erretten
vor der Hand bes Königs von Afiyrien, fih dann noth-
wendig auf bieje zweite Hälfte feiner Tage beziehen.
Daß fie aber auch bedeuten: „in dieſen wirft bu von
ihm nichts mehr zu befürdjten haben, fie werden eine
Zeit des Friedens und der Ruhe für bid) fein“, ift wohl
eine Einlegung, die dem Wortlaut nicht ganz gerecht
wird. Sanherib hörte erft, aber dann aud) thatſächlich
und vollftändig für Juda auf gefährlih zu fein feit
feinem fluchtartigen Rüdzug, ba er nunmehr feine Kriegs⸗
luft mut nad andern Seiten bin wandte. Stand zur
Bit diefer Rede des Propheten die große Expedition
Sanheribs nicht mehr bevor, fondern mar fie bereit
vorüber, [o rebete der Prophet fiatfe Worte in den
Wind und verkündete bie Rettung durch den Heren vor
bem Afiyrer für eine Zeit, wo biejer gar feinem Anlaß
mehr dazu gab. Somit erhält man aud) von 38. 6 her
eine Otüge für die geſchichtliche Priorität von 38 f.
Daher ift die Verheißung in $8. 6 mad) der Niederlage
Sanheribs nicht leicht , nod) denkbar“ (Nägelsbach €. 409).
Die große aſſyriſche Macht, für melde bie Niederlage
ein zwar empfindlicher aber keineswegs vernichtender
Schlag tar, Tonnte fid) nad) bemjelben nod) aufraffen
und mit verftärkter Wucht und vetboppelter Wuth über
Xie. Ouartalfrift. 1888. Heft IV. 40
602 Himpel,
Juda berfallen, aber-fie that es nicht, und biep ijt
bie Hauptfahe und ber entjdjeibenbe Richtpunkt für bie
Auslegung jenes prophetiichen Wortes. Afiyrien hatte
auf diefem Terrain feine Rolle ausgefpielt, denn das
Stadjpiel unter Eſarhaddon-Manaſſe fommt nicht in
Betracht, ba Juda davon mehr Gewinn als Verluft
patte. Es ift nicht ganz zu überfehen, daß die aſſyriſchen
Urkunden für Sanherib πα der berunglüdten Expedition
mod) zwei Jahrzehnte feines Lebens offen laſſen, bie er
in bisheriger Weife Friegerifch ausfüllte, une nicht mehr
gegen Juda. Er mußte bod) wohl etwas wie bem Zorn
eines müdjigern, von ihm und feinen Heerführern fo
bitter verhöhnten Schügers Juda's zu empfinden befommen
haben, wenn er auch darüber in feinen Prunkinſchriften
ſchwieg. Noch beredter war, daß er mun Juda völlig
im Ruhe lie. 8. 6 in feiner nachdrücklichen Verheißung
jet nothwendig eine Fünftige wirkliche Bebrängung und
unmittelbare Gefährdung von König unb Hauptftadt,
ſowie energifhe Befreiung für diefen dem Propheten
geiftig gegenwärtigen Fall voraus und hat unverfennbare
Beziehung auf bie jüngere und der gemeinten Kataſtrophe
weit näher gerüdte Rede 87, 35, melde burd) bie im
Wefentlihen gleiche wörtliche Faſſung diefelbe mum ganz
nah gerüdte Kataftrophe und Errettung meint, bie nod)
früher, 31, 5 ſchon Gegenftand der Verkündigung des
Propheten waren. So wenig fann hier von bloßer Wieder:
holung (Drechsler, Bähr) in 2 Kön. 19, 34 mit Bezie⸗
dung anf 20, 6, too in beiden, jenen prophetiſchen cor:
tefpoubirenben , Stellen die Gleihmäßigfeit nod) ſtärker
bervortritt, gefprochen werben, daß in dreifady abgeftufter
Rede (gef. 31. 38. 37) vielmehr bie SBebeutumg ber
Jeſ. c. 86—89 erläutert durch afſhriſche Keilinſchriften. 603
näher und näher rüdenben Kataftrophe mit ihrem für
Juda beilfamen Ausgang fid) mur um fo fhärfer εἰπε
prägen mußte.
t v.
Sym enger zeitlicher und fachlicher Verbindung mit
c. 38 ftebt das nüdjftfolgenbe, nad) welchem König Hiskia
vom Könige Babylons, Merodach Baladan, zur Wieder:
genefung beglüdtoünjdt und bie ihm hiermit geftellte
Falle, in feiner Selbftüberhebung (2 Chron. 32, 25)
geſchmeichelt, nicht abnenb vom Propheten hart getabelt
und in feinen Nahfommen mit dem Gril bedroht wird.
Die Parallele dazu hat 2 Kön. 20, 12—19 und tfeil-
toeije 2 Ehron. 32, 24—31. — Reiſte die babyloniſche
Geſandſchaft aud) nicht fer bald nad) der Wiedergenefung
Hiskia's nad) Jerufalem, jo verbieten bod) die für ihre
Abfendung angegebenen Urſachen, eine zu lange Zwiſchen⸗
zeit anzunehmen und mit Anobel das Ereigniß ins Jahr
703 zu verjegen. Daß die Chronif als Urſache angibt,
der König von Babylon habe von bem Wunderzeidhen
gehört, ba8 im Lande gefchehen war (32, 31), bezieht
fid auf das für die verheißene Wiedergenefung gegebne
Beiden be8 am Sonnenzeiger Hiskia's zurüdgehenden
Schattens. Die eine Urſache der Geſandſchaft (Beglüd-
wünſchung) fchließt bie andere nicht aus, aber bie eine
wie bie andere mar ein Vorwand, an ἰδέα heranzus
kommen und ihn gegen Afiyrien zu gewinnen. Der von
ber Chronif genannte Vorwand ijt nicht anzuzweifeln.
War jener Vorgang am Sonnenzeiger geſchehen, fo hatte
er weithin großes Auffehen gemacht, am eheften wohl in
Babylon, das fid) auf Kenntniß von Himmelserſcheinungen
40*
604 Himpel,
und damit Zufammenhängendem nicht wenig zu gute that,
aber aud) bie politijdjen Zeichen in Vorderafien genau
beobadjtete und nad) Möglichkeit gegen den überlegenen
Großherrn in Ninive zu verwerthen gedachte. Das
Mophet (2 Chr. a. D.), das fid) im feinen aber burdj
feine Lage wichtigen Juda begeben hatte, fam dem that:
kräftigen Herrſcher in Babylon gerade recht, um e8 po=
litijd) nugbar zu machen, mochte man in Babylon damals
ſchon weiter benfen und Paläftina als Fünftiges Terrain
für weitere Angriffe gegen das füblide Großreih ins
Auge fafjen, oder bloß dabei um Stützpunkte gegen das
mod) übermächtige Afiyrien, den gemeinjamen Feind, fid)
umfehen. Man ftand wieder an einem Wendepunkt in
Juda. Das Nordreih war burd) Afiyrien gefallen, wel:
de8 König Achas gerufen und bem er fid) dienftbar
gemacht hatte, um fid) der beiden mächtigen Verbündeten,
des 9torbreidj8 und Syriens zu eriwehren. Der Preis
mar aber zu theuer bezahlt für den Arm von Fleiſch,
den er gegen Glauben und Vertrauen auf den lebendigen
Gott eingetauft hatte. Nun ſchien dem beffern Sohn
ein befjere8 Geſchick zu minfen. Hisfia, bem fid) fo
eben ber Herr burd) feinen großen Propheten gnädig
ertoiefen, und ber fid) einer nod) weit furchtbareren Macht
gegenüber ſah, als Achas, welchem fie herausgeholfen
hatte, um unterbeß gegen feinen Sohn zum übermächtigen
Gebieter heranzuwachſen, bemjefben ἰδέα fommt von
freien Stüden eine der aſſyriſchen beinahe gewachſene
Macht nnb alter Todfeind ber legtern entgegen. Es ift
nicht zu verwundern, daß ber frommgläubige König ſchwach
wurde und neben ber unfihtbaren Gewalt feines Gottes
mad irbijdjen Mitteln ſchielte, um Macht gegen Macht
Jeſ. c. 36-89 erläutert durch aſſhriſche Keilinſchriften. 605.
außzufpielen und feiner eignen, nicht zu verachtenden
Shäge und Mittel fid) überhob. Aber er hatte bod) in
der Probe nicht beftanden, dem Gotte, ber ihm dag Leben
wieder geſchenkt, nicht unbedingt allein auch für feines
Reiches Zukunft vertraut. . Hatte diefer jedoch den König
aus unmittelbarer Todesgefahr errettet, wie follte er ihm
nidjt fein Reich gegen bloß irdiſche Gewalt ſchützen fónnen ?
Gà war aber einmal gefhehen: Hisfia gieng dann auch
10d) ügpptijdjer Hilfe nad. So mußte ihn in feinen, weil
bierin nod) viel ſchwächern unb meift ganz verfommenen,
Nachfolgern das Vergeltungsgefeg treffen: zwar ein nicht
minder frommer König al8 er, ber befte nad) Hiskia, fiel
gerade um ein Jahrhundert fpäter durch 9[egppten, und
das Reich ſelbſt bald hernach burdj die Babylonier.
Doc blieb er dafür aufbehalten, die zweite Probe, die
unter mod) meit ungemöhnlicheren Umftänden eintrat,
rühmlich zu beftehen, und baburd) feines Gottes und feine
eigne Ehre, ſowie das Reich zu retten. Auch biefer innere
Grund muß dafür geltend gemacht werben, daß das c. 39
Erzählte, nicht minder al8 die damit zufammenhängenden
Ereignifie von c. 38, dem großen Sanherib’ihen Drama
voraufgegangen ift. Es ift denkbar, daß aud) ein fo
thatfräftiger und im Jahveglauben feft gegründeter König
wie Hiskia in geringerer Sache, mo göttliche Gebot,
Glaube und ernftes Prophetenwort nicht unmittelbar ins
Spiel famen wie bei Achas Jeſ. c. 7, ftrauchelte und
am Sichtbaren unb Greifbaren für ben Augenblid hängen
blieb, um fid) raſch wieder zu faffen und hernach in aus-
gereiftem Alter, im furdtbarften Augenblick, wo alles
auf dem Spiel ftand, der König phyſiſch und πιοτα
verloren war, wenn er wankte, im Vertrauen auf das
606 ‚Himpel,
oft erprobte, Kategorifche Prophetenwort, unerſchütterlich
feft zu bleiben und alles zu retten. Höchſt unwahrſchein—
lich aber bleibt, daß berjelbe König, der dieſes Größte
beftanden und bie augenfällige Hilfe des Herrn dafür
erfahren hat, ber von Aſſyrien nichts mehr zu fürdten,
von Babylonien nichts zu hoffen hatte, in ungleich kleinerer
Erprobung nidt Stand hielt und, nachdem er längft
hoher Meifter geworden, wieder als ſchwächlicher Schüler
fid) ertotefen hätte. Auch pfychologii und moralii bat
die Situation im Leben Hisfia’3 c. 39 die Priorität und
Tann nicht auf 36 f. gefolgt fein. Daher füllt zu Boden,
was Bähr (€. 438 a. D.) fdreibt: ,— fid von afiy-
tijder Oberherrſchaft loszumachen [dien bem babploni-
fien Könige jegt, too Sanherib eine große Niederlage
erlitten, bie befte Gelegenheit. Die Abficht ber Gefanbt-
ſchaft war, fij dur ein Bündniß mit einem Könige,
ber ber affprijden Macht erfolgreich widerftanden Hatte
(aber nicht burd) Mittel wie fie Babylon allein genehm
und fafbar waren), zu ftärfen. Daraus geht hervor,
daß die Krankheit Hiskie’s'nicht in bie Zeit vor, ſondern
mad) ber Niederlage Sanheribs füllt". Der König von
Babel, meint aud) Ewald, beabfidjtigte jet, nad) bem
Abzug der Aſſyrer, durch feine Gejanbten den Zuftand
ber Kräfte des 9teidjà Juda näher zu erforſchen. Und
Goldje8 behauptet man angefihts 2 Kön. 18, 14—16,
wonach Hiskia bei bem Einfall Sanheribs, um bie un:
gebeure Strafcontribution von breiunbert Talenten Gil
bers und dreißig Talenten Golbe8 zu bezahlen, dag im
ben Schatzkammern irgend vorgefundene Silber und Gold
dazu verwendet und fogar bie von ihm felbit geftifteten
Goldüberzüge der Tempelpfoften wegnehmen laſſen mußte.
gef. c. 36—39 erläutert durch aſſyriſche Keilinſchriften. 607
Wie bald nad) biejer reinlihen Ausplünderung der König
den babplonijden Gejaubten von Silber und Gold ge:
füllte Schaghäufer und wohl affortirte Zeughäufer zeigen
Tonute, ift faum erfihtli ohne Manipulationen, wie fie
viel fpäter bei den Potemkin'ſchen Dörfern beliebt wurden,
denn bie Ausrede (Bähr €. 438), daß Hiskia bod) nicht
alles bergegeben, fondern altererbtes Gut zurüdbehalten,
lieber das von ihm felbft auf bie Tempelthüren veriwen-
bete Gold hergeben als jenes Gut angreifen wollte, dag
vielleicht in unterirdiihen Kammern verborgen war,
— ἐπ tertwidrig und in fid) felbft unfidet, unb aud
mit den Gejdenfen, die man (2 Chron. 32, 23) Hiskia
nad Sanheribs Niederlage und Abzug von vielen Seiten
darbrachte (Thenius) möchte der König nicht weit gefommen
fein. Daß aber bei dem Fall des großen aſſyriſchen
Heeres und ber eiligen Flut Sanheribs in deſſen Lager
große Beute gemacht worden fein mode, muß um jo
mehr völlig dahin geftellt bleiben, ba bie mächtigeren
Aegypter, falls bie Schätze nicht längft vorher weggeſchafft
morden waren, nahe dabei fid) befanden und ihre eigene
größere Abrechnung mit ben Afiyrern, bie vor allem
fie befriegten, zu treffen hatten. Die Bibel, der εὖ
bod) ganz nahe lag, burd) eine ähnliche Angabe bem
Triumph Juda's und die Niederlage des Feindes zu
vergrößern, berichtet nidjt8 davon, unb auch im Dan:
pfalme Hiskia's ift nidt die geringfte Anfpiehung auf
bie wunderbare Errettung von 37, 36, bie nothwendig
qud) deshalb nod) der Zukunft angehörte.
Die bi$ dahin fo gut wie unbekannte Perfönlichkeit
be8 damaligen babplonifden Königs, der bie Geſandtſchaft
nad) Jerufalem veranlaßte, feine Kämpfe und fonftigen
608 inpet,
Lebensſchickſale find burd) bie aſſyriſchen Infchriften und
Denkmale nunmehr in fo reihe und intereflante Beleud:
tung geftellt worden, daß dadurd auf die damalige Zeit:
geſchichte ebenfalls ganz neues Licht fällt, und bie neue
Wiſſenſchaft, der man bieB verdankt, bier allein ſchon
fid ein großes Verbienft erworben hat (S£. Schrader;
Keilinfchr. u. A. Teft. €. 334 ff. und der auf biejem
Gebiet hochverdiente Fr. Lenormant: Anfänge der Gultur,
Deutſche Ausg., 2 Bde, Jena 1875, 2. Bd €. 149 ἢ).
Nicht ohne berechtigtes Selbftgefühl ſchreibt der Letztere:
„Durch bie aſſyriſchen Studien allein vermögen wir volle
fieben Jahrhunderte der afiatijdjen Annalen wiederher⸗
zuftellen, unb zwar fieben Jahrhunderte, melde für bie
Geſchichte der Menſchheit von höchſter Wichtigkeit find,
ba gerade in diefelben bie Berichte ber hiſtoriſchen Bücher
- be8 alten Teftaments fallen. Noch galt e8 vor zwei
Jahrzehnten al8 wahrer Triumph, einen neuen Königs:
namen in ben aſſyriſchen Inſchriften zu entziffern, die
genaue Aufeinanderfolge einiger Fürften zu beftimmen,
aus mod unvollftändig erklärten Terten eine geringe
Anzahl geographifcher Angaben zufammenzuftellen. Sept
find wir bereit3 viel weiter votgerüdt: die Reihenfolge
ber Könige ift vom vierzehnten bis 7. Jahrhundert v.
Chr. vollzählig; ba8 Grundgerüft der Geſchichte ift haltbar
aufgebaut, die Chronologie ift nur nod) in wenigen Daten
zweifelhaft“ u. f. w. Qd) mußte bieje Worte eines
bedeutenden Gelehrten der Gegenwart, ber zugleid in
allem Weſentlichen auf biblijdem Standpunkte fteht, an
führen, bevor id) bier zur Gharakterifirung be8 ef.
c. 39 genannten hervorragenden Fürften und bet baby:
loniſch⸗ aſſyriſchen Verhältniffe feiner und der nüdftfol
Jeſ. c. 36—89 erläutert durch afſyriſche Keilinſchriften. 609
genden Zeit eine kurze Lebensſtizze beffelben und feiner
müdjten Nachfolger einführe, die ausfchließlih auf ben
gefidjerten Refultaten der genannten Studien bafirt und
deren Wichtigkeit oder vielmehr Unentbehrlichkeit für die
alte und insbefondere altteftamentlihe Geſchichte augen:
füllig zu konſtatiren vermag.
Betreff des Namens SXerobad) Baladan, der 2
Kön. 20, 12 Berodach geſchrieben ift, ift mum nad) ben
Keilinfhriften nicht mehr zu bezweifeln, daß bie Schrei—
bung in ef. 39, 1 bie richtige ift, denn in ihnen lautet
der Name: Marduk—habal--iddina b. h. (Gott) Mar:
buf fdenfte einen Sohn. Er ijt Gott des Planeten Ju—
piter und Schuggott Babylons. Faft fämmtliche aſſyro⸗
babyloniſche Eigennamen bilden einen vollftändigen Sag,
wie ähnlich Nabopolaffar: Nebo—habal ussur, Nebo,
füge den Sohn, Nebukadnezar: Nebo, ſchütze bie Krone
bedeutet. Ein babylonifcher König jenes Namens ericheint
nun wiederholt in unferer Periode. Zuerſt heißt et
Sohn des Jakin und König be8 Meeres (sar tiamtiv
vgl. hebr. tehom) b. h. Südchaldäa's, und e8 ift von
ihm angegeben, daß et im J. 731 zu Gaptja, bem aſſy⸗
rifhen Groffonige Tiglat-Pilefer feine Qulbigung lei:
ftete. Ein Merodach Baladan, Sohn des Satin, erſcheint
fodann mehrmals wieder unter dem aſſyriſchen Großkönig
Sargon (721 beziehnngsweife 722—705), als sar mat
Kal-di: Fürft des Landes Chaldäa, ben Sargon wieder:
Holt befriegte, namentlich im 12. und 13. Jahr feiner
Regierung, in den Jahren 710 und 709, mas mit Ent:
thronung und Gefangennahme Merodady Baladan’z, for
wie Verbrennung der Stadt Dur-Jalin, in den Sümpfen
im Nordoft des perſiſchen Meerbufens, ausgieng. Offen:
610 Himpel,
bar war e8 diefelbe Perfönlichkeit, bie im erften Jahr
Sargons ben Hauptfig vom äußerfien Süden Chaldäa's
nad) Babylon verlegte und bier von jenem αἵ felbftän-
diger König anerfannt wurde. Im jelben Jahr 721 üt
cud) ber durchaus zuverläßige ptolemüijdje Kanon Mar:
bofempab b. i. Merodach Bal. ben Thron von Babel
befteigen. Hier regierte er 12 Jahre, aud) nah bem
Kanon, denn auf Täfelhen, bie bei feiner Enttrohnung
710 in den Sargons-Palaſt zu Chorfabad gefommen fein
müffen, ift fein 12. Regierungsjahr genannt. Ex wußte,
daß Sargon bei erfter Gelegenheit fid) gegen Babylon
menden werde. Daher janbte er in verfchiedene Länder,
die das gleiche Intereſſe der Unabhängigkeit gegen Aſſy—
tien mit ihm vereinigen follte, um eine Coalition zu
Stande zu bringen, was ihm Sargon auf einer Juſchrift,
nachdem er ihn endlich befiegt hatte, vorhält mit beu
Worten: „Zwölf Jahre lang hat er Gefandte geſchickt
wider den Willen der Götter von Babylon, der Stadt
be8 Bel, des Richters der Götter“. Unwillkürlich beutt
man bier an Jef. 39, 1, wofür die Inſchrift ja den pre:
denben Commentar bildet. Die Gejandtihaft mag 714
— 713 nad) Syerufalem gegangen fein, zu ber günftigften
Zeit, als Sargon in Medien und Armenien Triegeriih
bejdjüftigt war. Zur nämlichen Zeit gieng mad ben
Sargonsinfhriften von Khorſabad SXerobad) Baladan
aud ein Schug: und Trugbündniß mit dem König non
Glam, Chumpaginas, ein. Sargon hatte das Storbreid)
niedergeworfen, Philiftäa erobert, bei Raphia den Athi⸗
opier Sabafo befiegt, der Ügypten beherrſchte. Moa-
biter, Edomiter, Idumäa beugten fid) desgleihen vor
Ninive; über dem winzigen Juda mußten mit nächftem
gef. c. 36—39 erläutert durch afforijdje Keilinfchriften. 611
bie Fluthen der affprijden Eroberung zuſammenſchlagen.
Die Lage Hiskia's und feine Neigung zum babyloniſchen
Bund begreift fid) mehr als genug und man möchte fid)
nur darüber wundern, daß er nicht alsbald einſchlug
und Jeſaia den Muth fand, den König in feiner ver-
atveifelten Lage zu tadeln, ihm das ſcheinbar einzige 9tet-
tungsmittel auszureden und ba8 Rettungsbrett fortzus
flogen. Doc den Propheten rechtfertigte ebenfofehr ber
Erfolg, wenn er wie bei Achas gegen ein aſſyriſches,
ober mie jegt gegen eim babylonifches, ober wie dann
fpäter, gegen ein ägyptiſches Bündniß ſprach. Er wird
darum das Richtige getroffen haben, in all biefen Fällen
nicht fofaft als fcharfblidender Staatsmann und weil der
Erfolg ihm Recht gab, fondern weil fein Reden und Ras
then in höhern Gedanken murgeíte, denen aud) eine hö—
bere Macht und Leitung ber Geſchichte zu Gebot ftand.
Anders beftimmt Schrader a. D. €. 343 f. bie Zeit ber
Gejanbtidjaft nad) Jerufalem. Er rüdt fie mit der Krank-
heit Hisfia’3 der Invafion Sanheribs weit näher, in die
erften Zeiten der Regierung bieje8 Königs [εἴθ herab,
704— 703, in jene 6 Monate der wiedererftrittenen Herr-
ſchaft Merodach Baladans (nad) Polyhiſtor), melde mit
ſeiner Vertreibung endeten. Allein die oben mitgetheilte
Stelle aus einer nicht nad) 710 gefertigten Inſchrift Sar⸗
gons und bie günftigen Zeitumſtände für eim Losſchla—
gen ber Goalition um 714—713 machen biefe frühere
Zeit für die Geſandtſchaft wahrjheinliher, menm aud)
nicht zu Läugnen ift, daß Merodach Baladan in ber ſchwe—
ren Bebrängniß feiner fpätern fedjámonatliden Herrſchaft
Sanherib gegenüber alle Urſache hatte, fid nah Hilfe
umzufehn. Unter allen Umftänden hält aud) Schrader
612 Himpel,
für bie Gefandtfhaft die Zeit bor ber gegen Welt ge-
richteten Invafion Sanheribs feft.
Im Frühjahr 710 brad) ber lange vorbereitete Krieg
gegen Babylon aus, von bem man zwei Darftellungen
aus bem Palaft Sargons befigt, bie eine von Dppert
und Menant gemeinfdjaftlid) bearbeitete ber fastes de
Sargon, und bie umfangreidjere ber Inscription des An-
nales (Sargons), welche mie ein Geſchichtswerk ausführ-
"lid und detaillirt mit genauerer Einhaltung der Reihen:
folge der Begebenheiten berichtet. Wie gewöhnlich in
den Kriegen ber Afiyrer gegen Babylon geldja, menu
biefe8 von ben füdöftlih davon wohnenden Elamiten un:
terftügt wurde, gieng aud) Sargon nit direct gegen
Babylon vor, fondern umgieng vorerft oſtwärts bie ba:
bolonijden Feftungen und fdmitt bie elamitijden Ver:
bünbeten von feinem Gegner ab. Der Krieg endigte mit
ber Vertreibung Süterobad) Baladans und der Einnahme
Babylons burd) Sargon 709, ber von ba an fid) aud
König von Babylon nennt und ebenfalls vom Kanon als
folder unter dem Namen Arkeanos im felben Jahre auf:
geführt wird. Merodach Baladan fudjt aber neue Kräfte
in feiner Heimat Bit Jakin zwiſchen dem Schat EI Arab
und Glam in Niederchaldäa zu ſammeln, wird aud) hier
von Sargon aufgefudjt, ber feine legte Burg Dur-Jakin
erobert, ohne des Gegners habhaft zu werben, ber wie:
der anfangs 705 gegen Sanherib, melden ber Vater
Sargon gegen ihn ausgefandt, im Felde fteht. Hier er
hält Sanherib bie Nahriht von der Ermordung Gat:
gons, wie e8 fcheint burd) einen chaldäiſchen Verſchwo—
tenen und Anhänger Merodach B., Namens Beltaspai
€3 folgt mun der vom Kanon genannte xozgog ἄβασι-
Jeſ. c. 36-39 erläutert durch aſſhriſche Keilinſchriften. 613
λευτος, ein dreijähriger Streit zwiſchen Aronprätendenten.
Nah Polyhiſtor bei Euſebius (Chron. armen. ed. Mai
p. 19) fdeint zuerft ein Bruder Sanheribs König in Ba:
bylon geworden zu fein, ben ein Hagifa vertrieb, welcher
nad 30tügiger Herrfhaft von Merodach Baladan ge
töbtet wurbe. Daß biejer ber alte ungebeugte Held,
der nochmals aus den Sümpfen feiner Heimat auftaudjte,
um fid) der Herrſchaft zu bemächtigen, und nicht ein Sohn
desfelben war, wird jegt nad) Lenormant aud) von €dra-
der (a. D. €. 343) angenommen, welcher den Umftand,
daß der Merodach Baladan Sanheribs niemals al8 Sohn
eined andern M. Baladan bezeichnet ift, für diefe An-
nahme günftig bezeichnet. Dann hat der Chaldäer, wel:
her Syuba in den patriotifhen Kampf ziehen wollte, vier
aſſyriſchen Herrſchern nadeinander (Tiglat Pilefer, Sal-
manafjar, Sargon, Sanherib) den zäheften, oft und lange
erfolgreichften Widerftand geleiftet. Sanherib befiegt ihn
endlich — ina risch scharruti: im Beginn feiner Herr-
ſchaft, alfo 704—703, womit ber ptolemäifche Kanon
fimmt (f. vorhin), und Polyhiſtor bei Eufebius, nad
welchem nad bem Tode des Hagiſa (Afifes) Marodach
Baldanus per vim regnum tenebat sex mensibus. (Die
weitern Worte: eum vero interficiens quidam, cui no-
men erat Elibus (Bel.), regnabat, tviber[predjen ber ins
ſchriftlichen Ausfage Sanheribs, wornach er nod) in ſpä⸗
term Jahren benjelbeu SXerebad) Baladan, ben er in
feinem erften Feldzug befiegt, wieder zu befämpfen ge-
babt habe.) Er unterlag bei der Stadt Kis, bie Nebukad⸗
nezar bem Stadtgebiet von Babylon einverleibte. Doc
entfam ber alte Gireitér wieder, nachdem er etwa ein
Jahr lang feinen Thron in Babylon wieder aufgerichtet
614 ‚Himpel,
batte. Sanherib machte nun eine in feinem Palaſt auf:
gezogene Greatur, Belibus, den Bolyhiftor irrig zum ſelb⸗
ftünbigen Prätendenten macht, zum Unterfönig in Baby:
Ion 704. 699, ein Jahr nad bem unglüdlichen Gel.
zug gegen Ägypten unb Judäa, hatte fid) Merodach Ba-
laban wieder aufgerafft, ohne Zweifel aud) in Folge ber
günftigen Nachrichten von Südpaläftina herüber, und mit
einem jungen Fürften Suzub verbündet, worauf Belibus
mit ihnen fid) zu vertragen fucht, aber abgefegt und nad
Affyrien verbracht wird. Suzub unterliegt und Mero:
bad) Baladan entflieht zu Schiff nad) Nagit Raggi auf
einer Infel des perfijden Meerbufens. Sanherib fegt
feinen Sohn Ajarhaddon zum König von Akad und
Sumir (Babylonien) ein im Jahr 699. Nochmals wandte
fid) Merodady Baladan, dem der König von Glam, fub
hir Nakhunta, ein Gebiet an der füfte eingeräumt hatte,
gegen den verhaßten Affgrer, indem er eine Mafjenein-
mwanderung ber jenem unterworfenen Chaldäer auf fein
Gebiet bemerfjtelligte. Aber Sanherib baute im Ninive
eine Flotte, durch welche („ſyriſche Schiffe“ wegen ihrer
phöniziſchen Bemannung auf den Infhriften genannt) er
jene3 Küftengebiet verwüften lie. Nun erft tritt Mero-
dad) Baladan vom Schauplage ab, nachdem er 43 Jahre
lang burd) alle Mittel die aſſyriſche Oberherrichaft be:
kämpft hatte. (Vgl. Lenormant a. Ὁ. €. 149 ff.: Ein
babyloniſcher Patriot des 8. Jahrhunderts.) Suzub er:
obert fid) nun mit Hilfe Elams den babylonifchen Thron,
wird aber von Sanherib zweimal geſchlagen und gefangen
687. Aus bem Gewahrſam entflohen wird er abermals
König in Babylon, jedoch jammt bem Nachfolger f. Na:
Thunta’3, Umman Menan, und dem älteften Sohn Mer.
Jeſ. c. 36-89 erläutert durch afſhriſche Keilinſchriften. 615
Baladans, Nabufumisfun, bei Kalul am Tigris aufs
Haupt geſchlagen, worauf Sanherib Babylon zerftören
und ben gefangenen Sohn Merodach Baladans enthaup-
ten ließ. Im März 685 mar die Stadt nod) nicht zer-
ftóvt, zur Seit, ba das Prisma des brit. Muf., auf dem
Sanherib bie Niederlage feiner Gegner erzählt, angefer-
tigt wurde. In ber großen, etwas fpäter auf bem δεῖς
fen von Bavian eingegrabenen Inſchrift berichtet er mit
graufamem Wohlgefallen bie Einzelheiten der Plünderung
und Zerftörung. Er erwähnt dabei der Bilder des Got-
te8 Bin und der Göttin Sala, melde 418 Jahre früher
aus Afiyrien entführt worden waren, und des koniglichen
Siegels Tiglat Samdams I, das man damals bereits
feit 6 Jahrhunderten in der Hauptftadt aufbewahrt hatte.
fenotmant a. D. ©. 213. Doc (don 681 im Todes:
jahr Sanheribs baute die Stadt fein Sohn und Nachfolger
Afarhaddon wieder auf und machte fie zu feiner Refidenz.
Der zweite Sohn Merodach Baladans blieb nicht lange
im Befig be8 Landes Bit-Jafin, das fein jüngerer Bru-
der Nahid Marduf burd) Unterwürfigfeit gegen den Groß-
Tónig, ganz unähnlich feinem Vater, ibm abgewann. Doch
in deſſen Sohne Nabobelfum ſchien des Großvaters un-
verföhnlie Feindfhaft gegen Afigrien wieder aufgule-
ben. Er confpirirte 651 mit dem zmeiten Sohn Afar-
haddons und SBicefónig von Babylon, Samulfumufin,
gegen defjen ältern Bruder, bem aſſyriſchen Großkönig
Alurbanipal (Sardanapal, feit 668 auf bem Thron).
Sie unterlagen: Samulfumufin verbrannte fid) lebenbig
in feinem Palaft (648); der Enkel Merodach Baladanz
fellte als Friedenspreis vom neuen Könige Elams, Um:
manalbas, zu dem er geflohen, ausgeliefert werden; bod)
616 Himpel,
trug berfelbe aus Furcht vor der fanatifchen Kriegspartei
Bedenken, ben befreundeten Gaft zu verraten — von
ber diplomatifhen Correfpondenz, bie zwiſchen Sufa und
Ninive hauptfächlic hierüber gewechſelt wurde, find meh-
tete Stüde auf Terracottatäfelhen im Archivbau bed
Palaſtes zu Kujundſchik wieder gefunden worden — und
als er fi mad) einem verheerenden Krieg (645 — 644)
dazu genöthigt fand, lief fid) der Enkel des großen Ahnen
duch feinen Waffenträger ermorden, unb Afurbanipal
erhielt die Leiche zugefandt, am ber er unwürdig mod
feine 9tade zu fühlen ſuchte. Er ließ fie enthaupten,
ben Körper auf bem Schindanger ausfegen unb bie Be
ftattung desſelben verbieten (bie Serte darüber in Smith's
Asurbanipal €. 205—265). Ein fleine8, gutgeatbei
tete8 Basrelief aus bem Palaft zu Kujundſchik im brit.
Mufeum ftellt den ninivitiihen Groffónig im Qarema3-
garten inmitten feiner, Frauen gedjenb bat, und das ein
balfamirte Haupt feines Todfeindes Nabobelfum an einem
ber Bäume des Gartens dem Könige gegenüberhängend,
daß er im Genuß ſolchen Anblicks feine Freuden erhöhe.
Aber, Spricht der Prophet Nahum, der ältere Zeitgenofle
Aurbanipals: „Der Herr ift ein eifriger Gott und ein
Rächer, ja ein Rächer ift er und voll Grimmes, ber e
feinen Feinden nachträgt.“ Erſt angefiht3 ber entjeg-
lichen, jegt für die legten Jahrhunderte des afiprifchen
Reichs vollitànbig aufgebedtem Gejdjidjte be8jelbem und
feiner Denkmale begreift man ben Propheten, wenn et
gegen Ninive dad gewaltige Wort [pridt: „ES wird ber
Streithammer wider bid) heranziehen und bie Feſte θὲς
lagern... . Raubet Silber, raubet Gold, denn hier ift
der Schäße Fein Ende und der Menge aller köſtlichen
Jeſ. c. 36—89 erläutert durch affgrijdje Keilinſchriften. 617
füeimobe. Nun aber muß fie rein abgelejen und geplüns
bert werden, daß ihr Herz vergage, alle Aniee ſchlottern,
alle Lenden zittern, aller Angefichte erbleihen mie ein
Topf. Wo ift nun die Wohnung der Löwen, da Löwe
und Löwin mit ben Jungleuen wandelten, und niemafib
konnte fie ſchrecken? Der Löwe raubte volles Genüge
für feine Jungen und würgte für bie Löwinnen; feine
Höhlen füllte ec mit Beute und feine Behaufungen mit
Zerfleiſchtem. Siehe, Ich will an dich, ſpricht Gott Ze-
baoth, verbrenne deine Kriegswagen, und ba8 Schwert
fol deine jungen Leuen frefjen . . . Wehe ber SRotb-
ftabt, ganz gefüllt mit Lüge unb Gewaltthat, wo des
Raubens fein Ende... . die Völker verſchacherte burd)
ihre Buhlereien und Stationen burd) ihre Blendwerke . . .
Auch bu mußt trunken werden (vom Sornbedjet de Herrn).
AU deine Zeften find Feigenbäume mit Frühfeigen: ſchüt⸗
tet man fie, fo fallen fie dem Gier in ben Mund. Zu
Weibern wird bein Boll, e8 frifjet Feuer deine Riegel
. .. ba8 Schwert wird bid) frefien mie Käfer, bid)
überfallen mie Qeufdreden". Das prophetiihe Wort
und Gefiht — „Hoch! klatſchende Peitſchen und vaffelnbe
Räder, fpringenbe Roffe und hüpfende Wagen, . . . bligende
Speere, ſchwere Menge Erſchlagener, man ftraudelt über
bie Leihen“ — verwirklichte fid), als fehon ein Menſchenalter
fpäter bie Babylonier und Meder, jene von Nabopolafjar,
bieje von Kyarares geführt, Ninive eroberten unb in
einer Weife zerftörten, wie es nicht wieder erlebt wurde,
(600); (auffallend genau nad) dem Wort Nahums 3, 19:
„unheilbar dein Bruch, tödtlich beim Schlag, Alle, bie
dein Geſchick vernehmen, klatſchen mit der Hand über
bid, denn über men ift nicht deine Bosheit ergangen
Sob Duartalfgrift. 1888. Seit IV. 41
618 Himpel,
immerdar“?) Denn die Weliſtadt hat fij nicht wieder
erhoben, wie e8 mit Babylon zum öftern geſchah, und
erſt nach beinahe fünfundzwanzig Jahrhunderten mar der
Menge ihrer Steinfhriften und Denkmale eine friedliche
Auferftehung befdyieben, weniger zum Ruhm ihrer Gründer,
als zur Bewährung unb zum Triumph des geichichtlichen
und prophetiihen Wortes der Bibel.
38. 1 be8 Kapitels find zwei Baladan genannt, ber
beſprochene Vaterlandövertheidiger und fein Bater Bala-
dan. Man vermuthet biebei ein SRipoerfünbnip, ba
jener ein Sohn Jakins in den afigrifchen JInſchriften
beißt, (wie ſchon in ber Prunkinſchrift Tiglat-Pilefers:
Marduk—habal—iddina, habal Jakini, sar tihamtiv:
M. B., Sohn Jakins, des Meeres König), und meint,
ber Hebräer habe bie Wortzufammenfegung für einen
Genitivausdrud gehalten: Merodach Baladani, sc. filius,
was bann zum Weberfluß duch ben Zufag nod) ver-
beutlidjt worden wäre (Nägelsb. a. D. ©. 422). Ju
deflen wird das Hebräiſche im Recht fein mit feinem
„Sohn Baladans“ und derfelbe dennoch aud) Sohn
Jakins geheißen haben können. Denn, tie Schrader
a. O. €. 342 und [don in Keilfchr. und Geſch.-Forſch.
©. 207 nachweiſt, follen Bezeichnungen, wie Söhne von
Gewifen, wenn fie oon Herrſchern gebraucht werben,
wie Jehu, Sohn be8 Dmri, Achuni, Sohn des Adini
(bekannt if aber aud) ber biblijde erweiterte Sohns⸗
begriff für Enkel, Urenkel unb mod) entferntere Grabe)
diefe Herrſcher nicht als wirkliche Söhne der als Väter
genannten Perfönlichkeiten, fondern lebiglid) als Bes
herrſcher ber nad) den Gründern der Dynaftie benannten
Herrſchaftsgebiete Bit—Adini, Bit—Omri u. ſ. m. vor
d.e. 86. 89 erlauteri tud aſſhriſche Keilinſchriten. 619
führen. Ebenfo follte Merodah „Sohn bes Jakin“ als
Mitglied des über Bit—Jakin herrſchenden Fürften-
geſchlechts bezeichnet werden, woneben berjelbe als leib-
lichen Bater ben Träger eine ganz ambern Namens
haben fonnte, und das zweite Baladan unjre8 Verfes
eine im Aſſyriſchen gar nicht ungewöhnliche Verkürzung
be8 unmittelbar vorangehenden vollen Namens ift. — Den
Kriegs: und Siegesbulletinftil eines alten affprijdjen
Croberer8 wie Sanherib djarafterifitt ber f. 6. SBelli-
nocplinder, welcher i. 3. 702, im 4. Jahr des Königs,
nah ber Befiegung Merodach Baladans angefertigt
wurde, ba in ihm des Feldzugs gegen Syrien, 9legyp-
ten, Judäa nad) feine Erwähnung geſchieht. Es heißt,
nachdem bie Befiegung be8 Babyloniers und ber mit
ihm verbündeten Clamiter angegeben ift: „Er floh in
das Land Guzumman, barg fid) in Sümpfen und Schilf-
rohr und brachte fo fein Leben davon. Die Wagen,
Roſſe, Maulthiere, Ejel, Kameele und SDromebare, melde
er auf bem Sclachtfelde gelaffen, erbeuteten meine
Hände. Seinen Palaft in Babylon betrat ἰῷ voller
Freude und öffnete feine Schaplammer: Gold, Silber,
Gegenftände von Gold und Silber, koſtbare Steine allerlei
Art, feine Habe, Befigthümer, reihe Schätze, feine
Gattin, Palaftfrauen, die Großen, bie gefammten mit
Verwaltung des Palaftes betrauten Beamten, jo viel
ihrer waren, führte id) fort, beftimmte id) zur Sclaverei.
Hinter ihm ber in ba8 Land Guzumman fandte id)
meine Soldaten, mitten hinein in bie Sümpfe und
unb Moräfte. Fünf Tage vergehen — nit ward eine
Spur von ihm gefehen. In ber Kraft Aſurs, meines
Herrn, nahm ἰὼ 89 befeftigte Städte und Burgen Chal⸗
41*
620 Himpel,
büa'8, ſowie 820 kleinere Städte in ihrem Gebiete und
führte ihre Gefangenen fort. Die Araber, Aramäer und
Chaldäer, melde in Cred, Niffer, Kis, futba, ſammt
den Bewohnern ber aufrühreriſchen Stadt führte ἰῷ
fort, beftimmte fie zur Gefangenidaft. 2,008,000 Män-
ner und Weiber, 7200 Pferde, Maulthiere, 11,113 Efel,
5230 fameele, 80,100 Rinder, 800,600 Stüd Klein:
vic, eine reide Beute, führte id) gegen Afiyrien ab."
VL
Das ber Zeit nad) fpütefte und unftreitig bedeu⸗
ienbfle der c. 36 bis 39 berichteten Greignilje, bie
efiprifde Kataftrophe in Judäa, melde die große Grpe-
dition €anferib$ gegen Syro-Phönizien und Aegypten
ruhm⸗ und erfolglos abſchließt und bem Heinen Land
durch feinen großen Propheten ein fo glänzendes Relief
verliehen hat, ift, wie ſchon Eingangs erwähnt worden,
in 36 f. vorangeftellt, ba8 legte auch in der Darftellung
zum erften gemadt worden. Es wurde auch ſchon
berührt, daß nad dem dur ben gut beglaubigten
aſſyriſchen Regentenkanon des Ptol. nicht im vierzehnten,
fondern im achtundzwanzigſten Regierungsjaht des itia,
nicht wie bie bisher mad) ber hier brüdjig gewordenen
bibliſchen Chronologie allgemein galt, im Jahr 714,
fondern 701 jener Feldzug Sanheribs, der dritte [eit
feiner Tpronbefteigung, unternommen worben if. Nah
ben aſſyriſchen Liften wie nah bem aftronomijd) feft:
geftelten ptolemäifchen Kanon, mwelder das Jahr 709
das erfte des Arkeanos nennt, Tann fein Zweifel fein,
daß Sargon, der Vater Sanheribs, exit 709 den Thron
Babylons beftieg; und ebenjomenig mad) den affprijden
Sie. c. 386—839 erläutert burd) affyrifche Keilinſchriften. 621
Verwaltungsliſten darüber, ba Sanherib nad Grmor-
dung feines Vaters am 12. Ab (Juli) des Jahres 705
erſt zur Herrfchaft gekommen 4ft. Weiter ift im aflys
riſchen Regentenkanon ausbrüdlid) um ein Jahr fpäter
al8 ber dritte Feldzug Sanheribs, jomit für das '
Jahr 700, die Einfegung des Aſurnadinſum (b. Ὁ. Aſur
féenft den Namen) zum König von Babylonien burd
Sanherib angegeben, und ber aftronomijdje Kanon nennt
desgleichen biefe8 Jahr al8 das erfte be8 9[paramabius
(vielmehr Aſaranadius (-Ajordan-Afurnadinfum).
Man verfannte bald im B. Jeſaia die fachliche
Voranftellung von C. 36—37 und ihre logiſche Noth-
toenbigleit, faßte fie chronologiſch und verlegte bie Er-
eignifje derfelben ins 14. Jahr Hiskia's, an melde man
dann die 38—39 erzählten burd) bie allgemeine Zeit:
beftimmung: in jenen Tagen und: in jener Zeit, als
nur wenig fpäter vorgefallene anſchloß. Lenormant u. 9L.
mollen burd) Umftellung der Kapitel helfen, fo daß ur-
fprümnglid 38 f. mit ber Ueberſchrift: Es geſchah im
14. Jahr Hiskia's vorangegangen und 36 f. mit ber
Ueberſchrift: Es geihah im 14. Jahr, nämlich nach bem
vorerzählten Ereigniffen, gefolgt wären. Muß manaber εἶπε
mal an ben Ueberſchriften ändern, fo läßt man lieber
bie fonft fo wohl berechtigte Stellung der Kapitel un-
angetaftet und hebt die Hauptichmierigfeit durch eine
Heine Aenderung und durch Wiederherftellung ber ur-
fprüngliden Bedeutung ber vierzehn Jahre in 86, 1,
mo die Chronologie nun einmal durchaus das 28. Jahr
Histia's nerlangte, ſowie 38,1 das vierzehnte, [o daß
dann 39,1 bie allgemeine Zeitangabe, ba fie burd) ben
Zufammenhang mit 38 näher normirt wird, beftehen
622 ‚Himpel,
bliebe. Niemals aber iff urfprünglid) das vierzehnte
Jahr 36,1 ala Rahmen aller folgenden Geſchichten bis
39 incl. gedacht und eingefegt worden. Dagegen ſprechen
die Zeitangaben ber beiden legtem hiſtoriſchen Kapitel.
In bem von Iſaia wrfprünglid) felbftüubig verfaßten
Geſchichtsabſchnitt, der nicht als older in fein Weifla-
gungsbuch eingereibt wurde, ijt jedenfalls "bie chrono⸗
logijde Abfolge ber Ereigniffe von 36—89 eingehalten
und mit bem nöthigen Seitbaten verjehen worden, fo daß
bie Erzählung felbft mit dem vierzehnten Jahr Hiskia's,
als bem feiner Erkrankung, begann, und ber Vorfall
mit ben babplonijdjen Gejanbten als ungefähr in ber-
felben eit, nur etwas ſpäter, geſchehen angereibt mors
den. Wenn jobamu ber Bericht über bie afjprijde Er:
pebition mitgetheilt wurde, fo fonnte allenfalls derjelbe,
ber in ba8 28. Jahr Hiskia's fiel, wieder in ber 36,1
angegebene Weife d)romologijd) beftimmt werben, indem
damit daB vierzehnte Jahr nicht mad) ber Thronbe:
. feigung, fondern nad) beu vorher erzählten Ereignifien,
ber Erkrankung und Wiedergefung des Königs, bezeich-
net war, was thatſächlich ba8 28. Jahr ber Regierung
befielben geweſen ift. In deren vierzehntem Jahr war
die Verheißung bem König gegeben worden: „von ber
Hand des Königs von Affur will id) bid) erretten und
bieje Stadt, und will fügen diefe Stadt." Da bieje
Verheißung jest, vierzehn Jahre, nachdem fie gegeben
war, fid) erfüllte, jo lag e8 febr nahe, ben Zug San-
heribs, in welchem fie fid) verwirklichen follte, im ber-
jelben Weife, aber mit Weglaflung ber Worte: „des
Königs Hiskia“, zu batirem. Im 14. Jahr ber Stegie-
rung be8 Königs die Weiffagung, und abermals uad)
Jeſ. c. 36-89 erläutert burd) affyeifche Keilinfcheiften. 828
14 Jahren ihre Erfüllung. Die Epoche der legtem
verdiente ja wegen der monumentalen Größe des Ereig⸗
niffes, in bem fie fid) verwirklichte und der Folgen bes:
felben für Juda beinahe, al8 Anfangspuntt einer neuen
Zeitrechnung zu gelten. Es mitb babei von 9tágel8bad)
(a. Ὁ. €. 380) an ähnliche Beitbeftimmungen im Buche
Ezechiels erinnert, wo ebenfalls ber fachliche terminus
8. quo nicht ausdrüdlich bezeichnet, ſondern als bekannt
voraußgefegt wird. Der Berfaffer ber B.B.der Könige
bearbeitete dann bie Geſchichten nad bem Serte ber
alten Quelle von Jeſaia's Hand, nahm aber mohl bie
Gadorbuung ber Ereigniffe aus bem Buch Jeſaia's
berüber. Für legtere verlor fid) das richtige Verſtänd⸗
miB, und aus bem vierzehnten Jahr allein, b. b. dem
28. der Regierung bes Königs (36,1), wurde mum das
vierzehnte feiner Regierung, wie e8 nunmehr heißt: im
vierzehnten be8 Königs, unb 38 f. je zu Anfang mit
allgemeiner Zeitbezeihnung an bie vorigen Ereignifie
und ihren ungefähren Zeitrahmen angefchlofien. Natür-
τῷ ift die falſche Datirung dann alsbald von einem
ber beiden Texte, in meldem fie von maßgebender
Stelle aus bei Anfertigung einer neuen Abſchrift zuerſt
angebracht worden mar, aud) in den andern getragen
worden.
Seinen dritten Feldzug erzählt Sanherib auf bem in
ben Trümmern. feines Palaftes zu Kujundſchik (Moful
gegenüber) gefundenen, ſchon oben erwähnten heragonalen
Thoncylinder, defien große Jnſchrift feine erftem adt
Feldzüge fchildert, fodann fommen mod) als theilweife
Barallelen die Inſchriften auf den Stieren, bie am
Eingang jenes Palaftes ftanden, bie Heine über einem
624 Himpel,
Bilde, das Sanherib auf einem Throne figend und beim
Empfang jiübijdjer Gefangener.barftet, und eine τ:
mähnung ber Unterwerfung Juda's fowie des Königs
Hiskia in der Inſchrift von Gonftantinopel in Betracht.
Dazu berichtet über dieſen Feldzug neben Jeſaia, bem
zweiten Buch der Könige und ber Goronif aud) Herodot
(II, 141) Die biblijden Berichte werben burd) bie
bier unerwartet ausgiebige Gontrole gleichzeitiger pro:
faner Nachrichten fo volftändig gerechtfertigt, daß ber
Hyperkritik nur nod) bie Ausflucht blieb, ben Leber
fegungen ber afiyrifchen Berichte könne man fein großes
Zutrauen ſchenken, weil fie mit ben bibliſchen Berichten gar
zu febr übereinftimmen. Die Ermordung Sargons, bie
Wirren, bie fid) daran Inüpften, der Aufftand der Baby:
lonier fielen wie Funken in bem aud) in Spro-Phönicien
und Baläftina bis nad) Aegypten bin aufgehäuften Zünd-
ftoff. Die meiften dortigen Völkerſchaften griffen zu beu
Waffen und glaubten den Augenblid gekommen, das
harte Joch der Afiyrer brechen zu fünmen. Auch Juda,
obgleih von Jeſaia ftet8 auf die einzige Hilfe hinge—
wieſen, Tonnte unter feinem thatkräftigen König ber Ber
megung nicht thatlos gegenüberftehen. Hiskia fiel ab
von Afiyrien (2 Kön. 18,7), in befjen Obmacht der Dod
müthige Achas fid gebracht hatte (16,7), und um bie
Gunft der Umftände auszunügen und zugleich eine unter
Achas bem Lande geichlagene Scharte (2 Ehron. 28,18)
auszuwetzen, befriegte ev das Philiftäerland und „ſchlug
bie Philifter bi8 gegen Gaza und ihr Gebiet von ben
Wãchterthürmen an bis zu den feften Städten" (2 Kön.
18,8), obgleih ba8 Land zu gutem Theil unter afly:
riſchem Schuge ftand. Die Verbindung bes Abfalls von
Je. c. 36-39 erläutert durch aſſhriſche RKeilinfhelften. 625
Aſyrien mit der Bekriegung ber Philifter zeigt deutlich,
in melde Zeit beides zu verjegen ift. Das eine mie
ba8 andere geſchah auch ficher auf Anftiftung ber ägyp⸗
tiſchen Partei, welche in bem anfcheinend duferft gün-
ſtigen Seitpunft leicht das Ohr des Königs gewann und
über bie Gefahr („Aegypten wird eitle und nichtige Hilfe
leiten, ein Prahlhans, ber fid nicht von ber Stelle
rührt“; „Wenn ihr eud) ruhig haltet, werdet ihr gerettet
werden, in Hilfe und Gottvertrauen wird eure Rettung
fein. Ihr ſprachet: Nein, fondern zu ben Roſſen
Aegyptens) wollen wir Zuflucht nehmen — daher follt
ihr flüchten! auf (djnelle Renner wollen wir fteigen —
darum follen noch fehneller Laufen eure Verfolger“, Jeſ.
30,7 15 f) duch Zufage ägyptiſcher Hilfe hinweg:
täufehten. Der Großlönig ließ aud, nachdem er Baby⸗
Ionien und Medien niedergemorfen hatte, feiner jenfeità
bes Euphrat nicht länger warten. Sanherib wandte
fid zuerft gegen die phöniciihen Städte. Sidon, das
nicht lange vorher Sargon burd) fünf Jahre erfolgreich
wiberftanden hatte, unterwarf fid), denn „feinen König
Eluli überwältigte ber Schreden ber Majeftät meiner
Herrſchaft (ſchreibt Sanherib), unb er floh weithin mitten
in's Meer." An feine Stelle fegte ber Afiyrer beu
Ethobal unter Verpflichtuug zu beftimmtem Jahreötribut.
Nach einander unterwarfen fid) nun bie Kleinkönige jener
Länder: Abdilit von Arvad, Urumilfi von Byblos,
Mitinti von 9L8bob, Buduil von Ammon, Chamosnabab
von Moab, Malitram von Edom; „die füftengebiete
insgefammt brachten ihre reichen Gefchenfe und Geräthe
mir dar und Füßten meine Füße." Diefe Aufzählung
beginnt mit Menahem von Samfimurung, was H. Raw⸗
626 Himpel,
linfon u. 9L für Samaria nahmen, to nad bem Falle
des Nordreichs aſſyriſche Bafalenfürften eingefegt wor⸗
den wären. Aber Samaria wird feit ihrer Eroberung
butd) Sargon nicht mehr in ben aſſyriſchen Inſchriften
erwähnt, worin fie ebenfall8 mit der Bibel ftimmen,
und beißt conftant Samirina !). Askalon verfuchte
Widerftand und verlor feinen Fürften Zidka, ber mit
feiner Familie erilirt wurde, fammt bem „Göttern des
Haufes feines Vaters." Auch bie von Asfalon ab:
hängigen Stäbte, Betdagon, Joppe, Bene-Barak, Hazor
(Azuru af.) wurden eingenommen. Nicht anders erging ed
Efron, das „feinen König Padi, welcher Treue und Eidſchwur
Afigrien gehalten, in eiferne Bande gejdlagen und bem
Hiskia von Juda überliefert hatte, der ihn im Kerker
einfloß“ ?). Die Unterwerfung der Stadt burd) Hiskia,
wie fie ber aſſyriſche Tert meldet, paßt vortvefflid) zu
den vorerwähnten Eroberungen, bie Hiskia nad 2 Kön.
18,8 im Land ber Philiſter gemacht hatte. Noch hielt
fid der Großfönig abfeit3 von Juda, ba die ägyptiſch-
1) Samfimuruna ijt baber eine Tanaanitifche Stabt, auf bem
Eylinder an ber Spige ber tributüren Tanaanitijchen Staaten, tor
Sibon, Arvad, Byblus genannt, wohl Schomron Meron Jof. 12,
20, ba Socin (Paläftina und Shrien, Leipg. 1875, ©. 441) mit
heutigem esSemirije etwas nördlich von Affo, füblich bon Akzib ⸗
Etdippa ibentifigirt. Lenormant (a. D. IL Θ, 194) fieht in Sam-
fimurung Orthoſia der Griechen. Nach feiner Zufammenftellung
mit Sidon u. |. tv. bürfte eà im nördlichen Phönicien gelegen haben.
2) Amfarruna, von Dppezt u. X. für Migron erklärt, bas doch nur
ein Heiner SRarftfeden in Benjamin war. Dazu muB Amtarr.
viel weiter weſtlich gelegen haben, nahe bei Eltheke, und ift zweifel-
108 in Efron erfannt. Die Ausſprache Akkaron in Sept. und Jo
ſephus ftebt ber afforijdem weit näher als bie majoretijde. Die
"üerbopplung ift aufgelöft, mogu Ambakum aus Habbakuk zu ver»
gleichen fteht.
gef. c. 36—89 erläutert durch affgrijde Keilinſchriften. 627
äthiopiſche Macht ihm entgegenrüdte, ihre Bundeögenoflen
in Sübmweftpaläftina zu idügen: „Die Könige von
Aegypten, bie Schügen, die Wagen, bie Roſſe des ft:
mig8 von Miluchchi (nicht nad) Senormant bet weſtliche
Theil des Delta, fondern Dberügpptem und ein Theil
von Nubien, Schrader a. D. ©. 86 f), umzählbare
* €djaaten riefen fie herbei. Im Angeficht vou Altaku
ward mir gegenüber bie Schlachtordnung aufgeftellt
(zwiſchen Asdod und Timnath, of. 29, 44 Elteke). Im
Vertrauen auf Afur meinen Herrn kämpfte ich mit ihnen
und Dradjte ihnen eine Niederlage bei. Den Oberften
der Wagen und bie Söhne des ägyptiſchen Königs
famunt dem Oberften der Wagen be8 Königs von Mi—
luchchi nahmen meine Hände lebenb inmitten der Schlacht
gefangen. Die Städte Altaku und Timnath griff id) an,
nahm fie und führte ihre Beute fort.“ Nach ber Schlacht
bei Altaku erobert mum Sanherib Efron, läßt bie vor—
nehmften Bürger auf bem Umkreis ber Stabtmauern
pfählen und bewirkt die Sreilafjung be8 Padi aus Jeru⸗
falem, ben er wieder auf feinen Thron jet, indem er
ibm ben Tribut feiner Herrihaft auflegte. Nun erft,
gegen Phönizier, Philifter, Aegypter fiegreid) geworden,
was bie biblijde Geſchichte als ihr ferner liegend über:
geht, wendet er fid) biteft gegen Juda: „Hiskia aber
von Juda, welder fih mir nicht unterwarf; 46 feiner
feften Städte, zahllofe Burgen und Kleine Derter, buch
Niederlegung ber Wälle und offenen Angriff belagerte
id, nahm id) ein. 200, 150 Menſchen, groß und Hein,
männlichen und weiblichen Geſchlechts, Pferde, Maul:
ifiere, Eſel, Kamele, Kinder und Schafe ohne Zahl
führt? ij aus benfelben fort und redjnete id) als Kriegs⸗
628 impet,
Beute. Ihn felber ſchloß ich wie einen Vogel im Käfig
in Jerufalem feiner Königftabt ein. Befeftigungen führte
ich wider ibm auf, und die Ausgänge des Hauptthores
feiner Stadt fperrte ih. Seine Städte, bie ἰῷ geplün-
bert, trennte ἰῷ von feinem Gebiete ab und gab fie
Mitinti, dem König von 9[3bob, Padi, bem König vou
Efron und Zilbel, dem Könige von Gaza; alfo ver.
kleinerte id) fein Land. Ihn, den Hiskia übertültigte
ber Schreden ber Majeftät meiner Herrſchaft; die Araber
und feine Getreuen, melde er zur Vertheidigung von
Zerufalem, feiner Königsftabt, Hineingenommen und denen
er Soldzahlung bewilligt hatte, fammt 30 Talenten
Goldes, 800 Talenten Silbers, ...... , elfenbeinernen
(Bf. 45, 9. Am. 6, 4 mo mon) Ruhebetten und Pracht⸗
feffeln, einem gewaltigen Schage, und dazu aud) feine
Töchter, Palaftfrauen, feine männlihen und weiblichen
Haremsdiener (?) lieB er mir nah Ninive, meinem
Herrſcherſitze, nachführen.“ Sauherib vertheilte bie von
Juda abgeriffenen Gebiete an die philiftäifchen Könige,
melde Hiskia vorlängft befriegt und geſchädigt hatte.
Man bat bier eine den biblifhen Berichten faft con-
gruente, höchſt bemerkenswerthe Darftellung. Jeſ. 36,
1 und 2 Kön. 18, 13 berichten nicht minder, baB bet
Großlönig alle feften Städte in Syuba eingenommen habe.
Dieb geihah nad) afiyriihem Bericht nad) dem Zuſam⸗
mentreffen mit ben Aegyptern bei Eltefe durch von
Weften aus ber philiftäiichen Niederung ausgefandte
Truppentheile, ba der Kaupttheil des Feldzuges mad)
Niederwerfung Phöniziens dort und gegen Aegypten fid)
abfpielte. Hiskia ſah fid mun zur Tributzahlung ge:
nöthigt. Die Summe betrug nad) 2 Kön. 18, 14 dreißig
Jeſ. c. 36—39 erläutert durch aſſhriſche Keilinſchriften. 029
Talente Gold und 300 Talente Silber, auf bem affp-
rifhen Prisma jedoch 800 Talente Silber. Beide An-
gaben, nur ſcheinbar mit einander in Widerſpruch, find
ein glänzendes Zeugniß der gegenfeitigen Unabhängigkeit
und ber Zuverläßigteit beider Berichte. Denn mad) bem
Nachweis von Brandis (Münz:, Maß: und Gewicht:
wefen in Vorberafien €. 98) machen 800 aſſyriſche Ta:
lente genau 300 paláftinijde aus, da dag fehwere Talent
ber Hebräer und das Heine von Babylon-Afiyrien genau
im Berhältniß von 8 zu 3 fanden, und jenes 2?/s aſſy⸗
riſche Talente enthielt ^). Für das Gold haben beibe
Berichte die gleiche Rechnung, da bie Hebräer feit den
Beiten ihrer Könige biefe8 Metall in größeren Summen
mad) dem babylonifhen Talente beftimmten. Die von
Hiskia ber bedungenen Gontribution (2 Kön. 18, 14—16,
was iu Δεῖ. 36 fehlt) beigefügten Geſchenke find auf dem
aſſyriſchen Prisma fpeziel aufgeführt.
Die ber im Wefentlihen mitgetheilten Infchrift bes
Prisma parallele auf den Kujundſchik-Stieren ift etwas
verfürzt, bietet aber aud) einzelne bemerkenswerthe Er:
gänzungen. Sie gibt fpegiell an, ba Eluläus, ber König
von Sidon, mitten aus bem Weftlande weg auf bie
Inſel Eypern vor den Aſſyrern geflohen jei, die Könige des
Weftlandes in8gejammt Sanherib reihe Gaben angefichts
1) 2enormant erläutert a. D. II ©. 199 bie Rechnung in
etwas burdj ben Beifag: „Der Unterſchied in Beftimmung der Summe
zwifchen beiden Urkunden ift alfo berfelbe, ber fid) etta bei unfern
fünf Miliarden zwiſchen bem franzöſiſchen Ausdruck in Franken
unb bem preuBijden in Thalern geltend machen toürbe." Die Ge-
ſammtſumme ber Gontribution des fehr feinen fünigreidjà Juda
war über act Milionen Franken, bei damals fünf- bis Τεώδίαδ,
höherm Werth ber Gbeímetalle. Ebendaſ. €. 200.
630 Simpet,
ber Stadt Uſchu darbrachten, baf ber Großkönig in bet
Schlacht bei Altaku den Oberften ber Wagen und bie
Söhne des ügpptijdjen Königs jammt bem Dberften der
Wagen be8 Königs. von Miluhha mit eigener Hand
lebend gefangen, die höchſten Beamten der Ctabt Efron
mit den Waffen getóbtet habe. Nach derfelben Inschrift
bewirkte er, daß ihr König Padi Jeruſalem verlafien
fonnte", belagerte neben ben 46 Städten Juda's aud
befeftigte (Kleinere) Drte und die Städte, die in deren
Bereich lagen, ohne Zahl („alle“ der bibl. Berichte) ; (das
Bild von Hiskia ala dem Vogel im Käfig, eingeſchloſſen
in Jerufalem, bat diefe Inſchrift nicht: es vergleijt
fid) demfelben aber als faum zufällige, merfwitrdige Be
fütigung des aflyriihen Sprachgebrauchs Jeſ. 10, 14,
Ὧ ber Großfönig fagt: „es griff wie mad) bem Neft
meine Hand mad) dem Gut ber Nationen, und wie man
verlaffene Eier jammelt, hab’ id) bie ganze Erbe einge
than: ba war keiner, der einen Flügel rührte, ben Schnabel
öffnete unb pipte"). Endlich habe er bie genannte Con:
tribution, bie genau im gleichen Betrag angegeben ift, die
Araber, die Hisfia im Sold hatte‘), ſowie Gegen:
fände allerlei Art, die Schäge des Palaftes Hiskia's,
feine Palaftfrauen mad) Ninive abgeführt. Daß alle
Könige des Weftlandes Sanherib reihe Gaben darge
bracht hätten, wird rubmrebnerijdje Uebertreibung deflen
fein, was Arvad, Byblos, Asdod, Gaza, Ammon, Moab,
€bom und wohl mod) einige Andere thaten, melde fij
1) Ein claſſiſches BeugniB, bof Abſchnitte in Jeſaia, too bie
Araber vorkommen, nicht unacht finb deshalb, weil biejelben nad)
. biefem ihrem Namen damals nod) nicht belannt getvejen [eien ; afjot.
find fie Urbi genannt.
gef. e. 36—89 erläutert durch afforijdje Keilinfchriften. 691
auf afiyrifche Seite geſtellt hatten. Er mar aber bis nad
Lachis im fübliden Philiſtäa gelangt, wie neben ber Bibel
eine Inſchrift über einem Basrelief bezeugt: „Sanherib,
der König der Völkerſchaar, der König vom Lande Affur,
fegte fid) auf erhabenen Thron und nahm bie Kriegs-
beute der Stadt Lafis entgegen" (Schrader a. Ὁ. €. 287).
Hier verblieb er in Erwartung ber Aegypter, denen er fid)
aus Furt vor ben feindlichen Elementen im Rüden, vor
allem Juda, nicht allzufehr nähern mochte. Er 30g fid) ſogar
wieder nordwärts und ftellte fid) bei Altaku, im Güboft
von Efron, dem ägyptiſch-äthiopiſchen Heere. Trotz bet
bier gewonnenen Schlacht fam er aber nicht vorwärts,
weder gegen Negypten bin, nod) aud) mur gegen Jeru-
falem, fondern mußte, in Folge einer fürchterlihen Kata=
ftrophe, bie über fein Heer Dereinbrad), fid) zu ſchleuniger
Rückkehr nad) Aſſyrien entſchließen. Doch war die
Schlacht bei Altaku nicht lediglich ein unbedeutendes
Zwiſchenſpiel in der Belagerung Ekrons, das vom Aſſyrer
aufgebauſcht worden, damit er die zweite Phaſe dieſes
Feldzugs, einen entſcheidenden Sieg der Aegypter über
ihn, um ſo beſſer verſchweigen konnte (Bleek, Einleitung,
4. A. €. 256 f.). Die Schlacht mar allem nad mit
ſchweren Berluften für den Großfönig verbunden und
trug ihm wenig ein, ba er bier nichts von Kriegsbeute,
wie fonft bod) immer geſchieht, erwähnt; fie mar ein Bor-
geſchmack einer nod) ent[djeibenberen Niederlage, mit der
ber Feldzug allerdings abſchloß, bie ihm aber nidt bie
Aegypter beibradten. Dieſe zogen fid) vielmehr nad)
genannter Schlacht zurüd, hatten jedenfalls uod)
weniger davon profitirt und befanden fid) Taum in der
Rage, in glüdlider Offenfive vorzugehn. Berichten daher
P
632 Simpet,
bie aſſyriſchen Infchriften nichts von einer folden, in ber
legten Phaſe des Feldzugs vorgefallenen Schlacht, jo ift
der Grund davon nicht, weil diefelbe unglücklich für bie
Aſſyrer ausgefallen war, welche aud) gar nicht, fo viel wir
aus allen Berichten ſchließen müffem, weiter ſüdwärts
gegen Aegypten vorbrangen, wie umgefehrt bie Aegypter
nit nah Nordweiten als die vermeintlichen Sieger,
was fie αἵδ᾽ bie wirklichen bod) immer thun mußten.
Die angebliche zweite Schlacht im Feldzuge von "OL,
oder die Annahme eines fpätern zweiten Feldzuges gegen
Syrien und Aegypten, welcher in ber biblifhen Dar-
ftellung mit dem genannten erften combinirt worden
wäre, ift nur ein felbfterfundener Hilfsbegriff, um fid)
bie Rataftrophe, in welcher das aſſyriſche Heer nach bib-
liſcher Darftellung unterging, zu erflären oder über fie
Toeggufommen, Auf dem Weg gegen Aegypten kam bie
Hauptmafje des affprijden Heeres glei) anfangs in
feinem March von Rord nad) Süd bis Lachis (heute Um
Lakiſch, an ber Hauptſtraße von Jerufalem mad) Gaza,
im Niederlande Judäa's zwiſchen W. Simſim und 99.
el Hefiy), und Hierher verbrachten bie Judäer gleich an-
fang? den großen Tribut 2 fim. 18, 14, ba Hiskia bei
dem unaufhaltſam raſchen Fortſchreiten und ber Nieder:
merfung feiner Bundeögenofien burd) Sanherib einge:
ſchüchtert wurde, zumal aud) bie ägyptiſche Hilfsmadt
fid nit raſch genug fammelte und Hilfe bradjte. Der
aſſyriſche Bericht verfchiebt aber Diet den richtigen Ber:
Tauf der Ereigniffe, wie ihn bie Bibel barftellt, indem er mit
bet Tributleiftung der Juden ben unrühmlichen Feldzug ab-
ſchließt, wie um ihm ein befieres Relief zu geben und
den großen Manco zu verbedem ober auszufüllen, in
Jeſ. c. 36—39 erläutert durch afſhriſche Keilinſchriften. 633
melden er auslief. Schon Schrader (a. D. ©. 307 f.)
bat erfannt, daß bie Juſchriften hier das verhältniß-
mäßig Geringe, was ber Afigrer gegen Juda aus—
tihtete, ungewöhnlich in der Darftellung ausftaffiren,
um darüber, daß er unverrichteter Sache abziehen und
reliia non bene parmula fluchtähnlich mad) Ninive
zurückeilen mußte, fid) völlig auszuſchweigen, oder mas
auf dafjelbe herauskommt, ben vielverſprechenden An—
fang be8 Kriegszuges gegen Juda in ber Darftellung an
ba? weniger als nichtsſagende Ende deffelben zu feten. So
vermochte man (don im alten Aſſyrien „die Ereigniffe zu
gruppiren“, um ben gewünſchten Effekt heroorzubringen.
Bon Lachis aus entjendet der Großkönig, bereit3 im
Befig aller feften Punkte Judäa's mit Ausnahme ber Haupt-
ftadt, ſowie im Beſitz der Gontribution, bie ihm allein
feine Sicherheit geben konnte, eine ftarfe Truppe gegen
Serufalem, um deſſen König zum Vaſallenthum und
Bündniß, fowie zur llebergabe ber feften Stadt zu ni»
tigen, bie er bei weitern Operationen gegen 9legppten
nit als drohenden Punkt fid) im Rüden Taffen founte.
Er verdoppelt feine Anftrengungen, als er Nachricht vom
Anrüden des großen ägyptifch-äthiopifchen Heeres er-
hält; fie prallen aber an bem butdj den großen Pro-
pheten und wohl aud) ben Eindrud jener längft erharr-
ten Nachricht geftählten Widerftand des jübijden Königs
ab. Der Großlönig war mittlerweile nad) Libna ge:
zogen, wo Rabfafe, einer der Oberften der vor Jeruſalem
detachirten Heeresabtheilung ihn mit ber Belagerung
jener Stadt bejdjüjtigt trifft, um ihn von bet Bergeb-
lichkeit aller Verſuche, Hiskia und Jerufalem umzuftim-
men, zu benadyridjtigen (Jeſ. 37, 8 ff.) Mit Libna ift
deol. Quartalfcrift. 1885. Heft IV. 42
634 Himpel,
fiher die altfananäifche Königaftadt, nadymalige Vriefter:
ftabt Jof. 10, 29 in der Niederung, nicht meit von
Lachis, gemeint (bie 3B. be Velde in bem Tel Strab el
Menſchijeh wiedergefunden haben mill, zwiſchen Sumeil
und Lachis etwas oſtwärts gegen Eleutheropolis, Seit
Dſchibrin, ausgebogen, mit alten Befeftigungstrümmen).
Jedenfalls ift der Großkönig auf jene Kunde nicht vor:
wärts gegen Xegypten, fondern in ber Hoffnung, die
heiß begehrte Qauptftabt zu forciren, in der Linie dort
bin zurüdgegangen. Lenormant, der hierin Oppert fid
anſchließt, nimmt (a. Ὁ. II, €. 204) dagegen erſteres
an, indem er mit jenem meint, Libna bier nicht von
der alten Stadt in Juba, fonbern von Peluſium verftehen
zu müfjjem, weil aud) Herodot den Großkönig borthin
Tommen läßt. Herodot ift hierin jebod) nicht verläßlich
(f. u.), und nichts fpricht dafür, baf Sanherib über Ladis
weiter ſüdwärts gefommen. Er z0g fid) vielmehr in
feiner nicht ungefährlihen Lage, ba er Hiskia unb beffen
fefte Hauptftadt nicht zu gewinnen vermochte, nod) weiter
morbtürt$ in ba8 ihm toiebergemonnene Gebiet ber
Gfroniter, wo er zum Stehen unb Schlagen mit ben end-
lid) heraufgelangten Xegyptern fam. Denn die Schlaät
von Altaku muß während der weitern Verhandlungen Rab:
fafe'8 und Hiskia's Δεῖ. 37, 9—35 vorgefallen fein und
ift der Schlußfataftrophe des Feldzuges nur wenige Zeit
vorangegangen. Tirhafa, ber bie Aegypter führte, der
legte und größte König ber fünfundzwanzigften, äthio:
piſchen Dynaftie, refibirte in Theben, mo auf dem Linken
Nilufer im Palaft zu Medinet Abu noch Sculpturen vor-
handen find, welche ihn im Kampf mit Afiaten (Afiyrern)
barflellen. Auf Inſchriften aus Ganberib'8 Zeit ift fein
gef. c. 36-39 erläutert burd) affyeifche Keilinſchriften. 635
Name noch nicht nachgewiefen. Dagegen rühmt Can-
herib's Enkel Afurbanipal von feinem Vater Aſarhaddon
(681—668), daß er Aegypten erobert und zu Afiyrien
geſchlagen, und Tirhaka's, des Königs von 9letbiopien,
Kriegsmacht vernichtet habe (Schrader a. D. €. 338),
daß er aud) ſelbſt feinem erften Feldzug gegen ben
rebelliſchen Tirhaka (Tarfu—u) von 9legppten unb Meroe
ge:idtet habe. Damit fommt bie Angabe des Manetho
überein, daß Tirhafa 366 Jahre vor der Eroberung
Aegyptens burd) Alerander ben Großen anzufegen fei,
ein weiterer Fingerzeig für bie Zeit des dritten Feld»
zuges Canberibà. Manetho's Nachricht paßt ungleich
beffer zu den aſſyriſchen Angaben (701), als zur Det-
kömmlichen Chronologie des Feldzuges (714).
Die biblifhen Berichte, welche biefe Periode fo an-
ſchaulich behandeln, find nicht ohne Anfechtung geblieben.
Der Abſchnitt 2 Kön. 18, 14—16 (die Tributleiftung
Hiskia's nah Lachis am Sanherib foll fid gar nicht auf
legteren, fondern auf Sargon und feinen Feldzug im 9.
Jahr feiner Regierung, J. 711, beziehen, die Stelle fei
nicht urfprünglih, und der Name Sanberib in 38. 13
wilfürlih ergänzt. Alein wie biefe Confufion entftan-
den wäre, weiß man um fo weniger zu erklären, als
jener frühere Feldzug zwar in Paläftina fid) abwidelte,
aber nicht Juda galt, fondern der Eroberung Asdods,
während dabei einer Unternehmung gegen Juda weder
bier nod) überhaupt fpäter in irgend einer ber Infchrif-
iem Sargons gedacht wird, und ebenjomenig die Bibel
ba, wo fie ber Eroberung Asdods erwähnt (ef. 20, 1),
etwas von feindlichen Abfichten gegen ober gar Gonfiil-
42*
636 Qimpet,
ten jenes Groffónig8 mit Juda zu erfennen gibt (Schra⸗
bera. Ὁ. Θ.811). Dazu müßte der [o auffallende Einklang
der biblifhen Angaben über die Sendung des Tribute:
und der Qualität wie Quantität desfelben, wie über ben
Ort, wo ber Großkönig fid) aufhielt unb die jüdische Ge:
fanbtjdaft empfieng, mit den aſſyriſchen inſchriftlichen
Berichten Sanheribs befeitigt werden, und diefelben bod)
irgendwie und -too bei Sargon untergebracht werben
Tönnen, in deflen fonft febr ausführlihem Juſchriften⸗
material fi Feine Spur von alledem nachweiſen läßt.
Umgefehrt betrachtet man aud) 2 Kön. 18, 14—16 ala
bie allein authentifhe und zeitgenöffiihe Relation der
Bibel über jenen Feldzug, alles andere nebft Zei. 36 f.
als Tegendarifche, erilifche Verarbeitung ältern Gejdjidtà:
ftoffes, bie ſchon burd) ihre Anfpielung auf bie babylo-
niſche Deportation (20, 17) bie fpätere eit verrathe.
Doch ift e8 faum eine Anfpielung , fondern die Weile
gung eines überaus legitimirten Propheten, den bier θεὶς
nah ſchon fein natürlicher Scharfblid zur Hußerung des
Drohmortes befähigen Tonnte; daß aber 38, 14—16 im:
mer nur die Ausſprache „Hiskia“ ohne ben Dunkeln End:
laut (), in den andern Theilen nur die andere Aus:
ſprache fid) findet, mie aud) Jeſ. 36—39, ift bod) ſehr
prefär und beweiſt feinenfallà etwas fr eine frühere
Stbfaffung jener Verfe und für eine jpütere ber übrigen
Stüde; und wenn jener Kleine Abſchnitt V. 14—16, der
von bet Aborbnung einer Gefandtihaft nad) Lachis und
der Einbringung ber Contribution handelt, in Jeſaia wie
in der Chronik fehlt (2 Chron. 32), fo erklärt fid dies
binlänglid aus ber beſprochenen verfürzenden Bearbei-
tung ber Hiftorie bei Jeſaia und ber uod) meit mehr
Jeſ. c. 36-39 erläutert durch aſſhriſche Keilinſchriften. 637
verkürzten Darftellung der Chronik, bie ja überhaupt δεῖ:
lei zum Nachtheile Juda's gereihenden Berichten gern
aus bem Wege geht, legt dagegen allerdings bie [don
oben befürwortete Annahme einer gemeinfamen älteren
Quelle nahe, ber fiher aud) 9. 14—16 angehört Dat.
Denn läßt fid) zur Noth 38. 17 an ®. 18 anfchließen,
tie ja bie8 in einer Menge ähnlicher Fälle bei der εἰπε
faden Gefhichtsdarftelung der Bibel geſchehen Tann, fo
hat man bod) ben Ginbrud bei ®. 17, als ob von 9a-
His, von tmo aus brei ber oberften Führer des Groß-
königs gegen Jerufalem abgefandt werden, ſchon vorher
die 9tebe war; menn 9. 17. aber „von Lachis“ Glofje
fein foll, fo kehrt derfelbe Ginbrud nur nod) viel ftärker
bei 19, 8 wieder. An bie. niederichlagende Schredens-
nachricht, daß ſämmtliche feften Städte Juda's in bie
Hände ber Afiyrer gefallen (38. 13), ſchließt fid) wie felbft-
verftändlih, daß Hiskia fid vor ihnen demüthigte und
um fehr hohen Preis (menn aud) nidt um ben höchften,
der die Auslieferung Jerufalems geweſen wäre) um bie
Gunft Sanheribs warb (8. 14—16; und der Inhalt
diefer Berfe tft ja doppelt urkundlich auf aſſyriſcher Seite
beftätigt). Die Aufforderung zur Webergabe Jerufalems
fodanı, da Sanherib aus ftrategifhen und politiſchen
Gründen auf dem höchften Preis beftehen mußte, moti
virt fid) befier dur 38, 14—16, als durch ihren ab.
vupten Anſchluß an V. 13. Der OroBfünig hatte, das
ügpptijde Heer in Sicht, e8 eilig, in Jerufalem einen
Stützpunkt zu gewinnen, und die willige mit Selbftver-
demüthigung verbundene Tributleiftung Tonnte fein heißes
Verlangen nad) ber feften Qauptftabt nur fteigern und
in kaum verhüllten Befehl verwandeln. — Die fog. zweite
638 Simpet,
Phaſe bieje8 aſſyriſchen Feldzuges, im meldet derfelbe
mit einer inſchriftlich und bibliſch unerwähnt gebliebenen
Niederlage, die Ägypten bem Großkönig bereitete, fij)
abgeſchloſſen hätte, fuchten bie jonft hochverdienten eng:
lichen Gelehrten ©. unb H. Ramlinfon fogar zu einer
zweiten aſſyriſchen Expedition felbft zu machen, mit der
bie erfte in den bibliſchen Darftellungen confundirt wor:
ben fein follte. Auch dies ift, wie [don oben kurz bes
rührt werden mußte, durchaus unftatthaft. Weber ein
bibliſcher nod) eim inſchriftlicher Bericht erwähnt eines
zweiten Feldzugs Sanheribs gegen Agypten, ber ihn,
namentlich menn er bis an die Grenze Aegyptens reichte,
unmögli ganz unter den andern genau verzeichneten
todtſchweigen laſſen Konnte, ba er ihn bod) beliebig zu fei:
nen Gunften ausfhmüden durfte. Höchſt unwahrſchein⸗
Tid) ift dabei aud) die Annahme, daß Sanherib beide:
male fein Hauptquartier in Lachis aufgefhlagen, und
während der Großkönig fid bier befand, jedesmal Hiskia
eine Deputation hingefandt habe. Die Bibel hatte aber
feinen Grund, einen zweiten Kriegszug Sanheribs gegen
Aegypten zu verſchweigen, namentlich wenn er unglüd⸗
lich ausgefallen war. Sie zieht aud) das furchtbare Er:
eigniß, womit fie den Bericht abſchließt, aufs beftimm:
tefte zum dritten (und einzigen) Feldzug Sanheribs nad)
Baläftina und gegen Aegypten. Fände fid) aber ein der-
artiger zweiter Feldzug in ihr berichtet, jo hätte man
längft darin einen „Doppelberiht" ausgemittert -und ift
vorgeworfen.
Während die Bibel fein Wort davon fagt, daß San:
herib 701 nad) Aegypten oder bod) bis hart an bie Grenze,
nad Pelufium gekommen jei, fo fehr fie bie aud als
ϑεῖ. c. 36-39 erläutert burd) aſſhriſche Keilinſchriften. 639
bie Abficht des Großkönigs anerkennt (2 Kön. 19, 24),
und die affyrifhen Infchriften aud) hierüber, gewiß febr
ungern, mit ber "Bibel ftimmen, findet fid) bei Herodot
(II, 141) bie ibm von Prieftern mitgetheilte Nachricht,
Sanberib {εἰ zur Zeit des tanitifchen Königs Sethon,
eines Prieſters des Hefaiftos, gegen Aegypten gezogen
bis vor Pelufium ἢ. Auf des priefterlichen Königs Fle-
ben zur Gottheit um Errettung feien des Nachts Feld:
mäufe gefommen und haben die Köcher, Bogen unb Schild-
riemen zerfrefien, worauf das um feine Waffen gebrachte
Heer fliehen mußte, und viele umfamen. Bon daher
flebe im Tempel be8 Vulkan eine fteinerne Bildfäule
jenes Priefterfönigs mit einer Maus in ber Hand und
bet Inſchrift: ἐς ἐμὲ vig doewv εὐσεβὴς ovo. Mit Bes
zugnahme hierauf erzählt ſodann aud) Joſephus (Ant.
10, 1, 1—5), Sanherib babe einen Feldzug gegen Aegyp⸗
ter und Xethiopen unternommen, [εἰ aber ohne Erfolg
wieder abgezogen, weil ihn die Belagerung des fehr ftar-
Ten Belufium lange bingehalten, unb er gehört habe, bafi
ber König von Xethiopien mit einem großen Heer im
Anzuge fei; aud) Berofus habe, daß Sanherib gegen
ganz Aien und Aegypten zu Felde zog. Darauf geftügt
batten Dppert und Lenormant Libna als Pelufium er-
flirt. Da man biejen vorgeblihen Zug vor Pelufium
nicht fügli in bem 2 Kön. 18, 13—19, 37 Erzählten
unterbringen fonnte, fo nahm Ewald (Θεῷ. Jar. III,
€. 680 f.) an, er gehöre in bie Zeit vor bem 18, 13 ff.
1) €8 war an ber öftlichen Nilmünbung gelegen, unweit des
Meeres, zwiſchen Sünpfen und Moräften, theil® dadurch, aber aud)
durch Feſtungswerke gegen Landheere von Dften her, alà ber Schlüffel
des Nillandes ftazt gejchügt.
640 Himpel,
Berichteten, und läßt Sanherib fogar über Pelufium hin⸗
aus ind Nilland eindringen, von mo er burd) ein von
Herodot angebeutetes Mißgeſchick zurückgeworfen, mun erft
mit Juda fij zu thun machte, wie von 18, 18 an be:
richtet ift. Ewald ftößt fid) an diefem völligen Hyfteron-
proteron nit, wornach die Crpebition 18, 13 in eine
von Süd nad) Nord gehende umgedreht wird, troß V. 9.
16, 7.17, 3. b, und bie Bibel bloß den Rüdzug und
das Ende, dagegen nichts vom Hinzuge burd) Paläftina
berab berichten würde, den die Infchriften fo ausführlich
beſchreiben, burd) welche ſomit aud) bieje Anſicht gründlich
widerlegt ift. Anftatt bem mad) großer Wahrſcheinlich⸗
Teit zeitgenöffifchen Bericht ber Bibel Vermiſchung zweier
Feldzüge zuzuſchreiben, ift ein Irrthum mit größerm
Recht von Herodots Darftellung zu behaupten. Er ſchrieb
250 Jahre mad) den Creignifjen und mad) Mittheilungen
ägyptifcher Priefter, meldje, was fie von fpätern aſſyriſchen
Eroberern ihres Landes nicht jagen konnten, ohne fid) Lügen
zu ſtrafen, an den Namen Sanheribs fnüpften, ber zwar
nicht in Aegypten, aber bod) nicht fehr weit davon, im
fübliden Juda großes Mißgeſchick erlitten hatte. Um
ihm aud) eine ägpptifche Niederlage anzuhängen, lief ihn
der duch Aſſyrien oft fo tief gebeugte Nationalftolz der
Slegpptet vollends bia Pelufium vorrüden. Für bie eit
be8 mächtigen Tirhaka fann ber von Qerobot ‚genannte
tauitijde Priefterfönig Sethos mur ein Unterfönig ober
SBajallentónig im Delta geweſen fein; wenn aber nicht,
fo gehört er in eine andere Periode und ift von Hero:
bot ober feinen Gewährsmännern verſchoben morben.
Die Regierungszeit Tirhafa’s, über deſſen Kriegsthaten
die einheimifhen Denkmale und Urkunden [dweigen, bie
Jeſ. o. 36—39 erläutert durch aſſhriſche Reilinjdjriften. 641
aſſyriſchen dagegen vieles mittheilen, ftebt nod) nicht ganz
feft: fie Toll 26 Jahre betragen und wird früheftens nicht
lange vor der Wende des achten Jahrhundert3 begonnen
haben. Eine nod) fpätere Anfegung berfelben füme mit
Jeſ. 37, 9 in Widerſpruch, ebenfo mit ber nad) aflyris
ſchen Quellen auf 701 fallenden Zeit bes Feldzuges,
man müßte denn nur annehmen, baf er in biefer Zeit
nur erft König von 9[etbiopien geivefen, wie er aud) Jeſ.
37,9 heißt (aſſyr. Miluchchi), unb erft fpáter, etwa feit
695, zugleich aud) Beherrſcher Aegyptens geworben fei.
Was bie von Qerobot berichtete Sage von ben Mäufen
betrifft, bie den König zur Umkehr genötbigt hätten, fo
bleibt es ſchwierig, fie in eine Beziehung zum bibliſchen
Bericht von ber wirklichen Urfache des Rüdzugs Sans
heribs zu bringen, da e8 wenigftens nicht gerade wahr:
fdjeinlid) ift, daß man in Aegypten ein Ereigniß furcht⸗
barer Tragweite, das jebod) auf auswärtigem Boden fid)
begab, zum Gegenftand mythiſcher Umdeutung gemacht,
und zum Andenken daran felbft eine Bildfäule errichtet
bat. Doch darf aud) nicht außer Betracht bleiben, daß das⸗
ſelbe weithin einentiefen Eindrud hinterlaſſen unb für Aegyp⸗
ten von günftigften Folgen getoefen ift. (2 Chron. 32, 23).
Diefes Ende mit Schreden bildet bem Abſchluß
des immer f&hroffer gefpannten Geſchichtsdramas. Von
neuem ließ Sanherib den König und feine Hauptftadt
zur.Uebergabe auffordern, wohl kurz mad) der Schlacht
von 9ütafu, und wieder gelang e8 bem Propheten, mit
unvergleichlicher Kraft feiner Worte burd) Verheißung
baldigfter Befreiung zum Ausharren zu ermuthigen. Die
S:eme 2 Kön. 19, 14—34. δεῖ. 37, 14—37 gehört un-
beftritten zu dem Größten in Rede und Handlung. Han⸗
642 Himpel,
belte ſichs bloß um menjdlide Kraft unb Einfiht, fo
müßte man fagen, Jeſaia, ein Fels im Meer, inmitten
des zaghaft ſchwankenden Volkes unb ber ſtürmiſchen
Wogen des trogigen aſſyriſchen Heeres, habe fid) felbft
übertroffen. Niemals bat ein Dichter die Knoten ſpan⸗
wenber für eine erſchütternde Löfung geihürzt, ala e8
bier der Lenker ber Geſchichte und ſchützende Hirte feines
Volles getfan hat. Auf ben Angftruf des Königs: „Und
nun Jehova, hilf ung bod) aus feiner (Sanheribs) Hand,
auf baf alle Reiche der Erde erkennen, baf bu allein
Gott bift," erwidert Jefaia ba8 an ihn ergangene Wort
des Herrn „Es veradjtet bid, e8 fpottet beiner bie Jung-
frau, Tochter Sion. Wen haft bu geläftert und geſchmäht
unb gegen men bie Stimme erhoben? Du Debft zur
Höhe deine Augen wider den Heiligen Israels . . . .
Aber dein Sigen, dein Ausgehn und Eingehn kenne ἰῷ,
und dein Toben gegen mid. Wegen deines Tobens
gegen mid), und ba beim Uebermuth zu mir binaufges
ftiegen ift, lege id) einen Ring in deine Nafe und einen
Baum in deine Lippen, und führe bid) zurüd ben Weg,
den bu gefommen bif. Darum [pridt ber Herr: Er
foll nicht in diefe Stadt kommen und feinen Pfeil darein
ſchießen, unb foll mit feinem Schild gegen fie anbringen
und nit aufidyütten gegen fie einen Wall. Und ch be-
idirme diefe Stadt, daß ἰῷ ihr helfe um meinetwillen
und um David, meines Anechtes, willen.“ Dem Wort
be8 Heren fehlte nicht die That: „EB geſchah in felbiger
Nacht, da gieng aus der Engel Jahve's und ſchlug im
Lager ber Afiyrer 185,000. Da brad Sanherib auf,
zog weg, ferte zurüd und blieb in Nintve.“ Er wurde
Jeſ. c. 86—839 erläutert durch affyrifche Keilinſchriften. 643
dann von zweien feiner Söhne im Tempel feines Gottes
Nisroch erſchlagen.
Mit größter Beſtimmtheit ſpricht der Prophet aus,
daß Jerufalem nicht einmal werde belagert werben. Deß⸗
halb wird man von ber gewöhnlichen Annahme wenig⸗
flen8 einer Einſchließung befjelben durch bie Aſſhrer ab:
äufehen haben, womit dann aud) megfüllt, daß die große
Niederlage in unmittelbarer Nähe der Hauptftabt erfolgt
wäre. Die Situation ber aſſyriſchen Hauptmacht war
eine andere. Sie befand fid mit dem Großfönig in La:
chis⸗Libna, al die Dinge für Jerufalem ernfter wurden,
und rüdte dann nod) weiter nordweſtlich, wohin man
abfidtlid bie Aegypto⸗Aethiopen lodte, um fie und bie
judäifhe Macht getrennt zu halten. Was an Truppen
mit 9tabjafe vor Jerufalem gerüdt war, eine „ftarke
Macht“, immerhin aber nur eine von ber Hauptmacht
betadjitte, wird fd)merlid) ganz ober nur überhaupt dort
belaffen worden fein, wenn ber Großkönig fij darauf
verftand, mit vereinigten Kräften bei Altafu dem Tir—
haka entgegenzutreten. Dadurch ift die Zurüdlaffung
einer mäßigen Objervationstruppe vor Jerufalem nicht
ausgeſchloſſen. Hatte er den Tirhaka befiegt (mas ja
geſchah), fo gieng e8 dann mit leidterem Herzen wieder
gegen Zion. Aber bier verftummen bie Infchriften, und
e8 rebet mur mod) die heilige Schrift. Nah genannter
Schlacht mit ihren bejdeibenen Erfolgen, die duch (τε
oberung der Gottesftadt nunmehr gekrönt werden follten,
endete die Friegerifche Thätigfeit Sanheribs im Weften.
Die aſſyriſchen Inſchriften als offizielle Urkunden berich—
ten natürlich nicht über die Niederlage. Nach der brei-
ten Relation über bie erfte Phaſe be8 Feldzuges eilt der
644 ‚Himpel,
Tert „mit fidtlider Verlegenheit" (Lenorm.) plötzlich
mad) Ninive, wohin er den König bereit3 zurüdgefehrt
vorauéfegt, ohne Grund dafür und Art und Weile des
Rückgangs näher zu berühren, unb hinkt mit dem Tri
but Hiskia's hinten nah. Der Großkonig ſchweigt theils,
teils Tügt er zum Schluß, ba mur Schlimmes für ihn
zu berichten gemejen wäre, menn man bei ber Wahrheit
blieb. Muß man von ber Anficht Maspero's abfehen,
welcher das affprijde Heer zum größern Theil wäh:
vend feiner Märſche im Nildelta an der Veit umgefom:
men fein läßt, meil die authentifhen Berichte für eine
Invafion Aegyptens feinen Raum geben, fo bleibt wie
e8 ſcheint nichts anderes übrig, als, was jdjon oben an-
gedeutet wurde, Sauherib mit bem Gros der Armee, mit
ber er bie im Juda verftreuten Truppen vor der Schlacht
im Philifterlande vereinigt hatte, nad) derfelben auf dem
Marie in der Richtung gegen Jeruſalem begriffen zu
benfem, als ihn der Unftern erreichte, dem jenes zum
Opfer fiel; vielleicht, wenn h 5d) fte Gefahr und plóglide
Rettung fid) berühren follten, war er nicht mehr feb v weit
von ber angftgefolterten Hauptftadt entfernt, wenn auf
die Verkündigungen Jeſaia's, daß die Macht Afiyriens
im Sand und auf ben Bergen bes Herrn (14, 25)
zertreten werden foll, daß der libanonähnliche Heereswald
des Aſſyrers vor Serufalem gefällt merbe (10, 82 ἢ),
und daß das aſſyriſche Lager mühelos die Beute ber
Bewohner (bod) wohl Jerufalems) werde, aud) in topo-
graphiſcher Hinfiht Gewicht gelegt werden fol. Nein
volle ift jedenfalls auf den Bericht des Joſephus zu
legen, wornach Sanherib nad) mißlungenem ägyptiſchem
Feldzug bie vor Jerufalem gelaffene Truppe antraf, und
gef. c. 36—89 erläutert burd) affgrifde Keilinfchriften. 645
nun in ber erften Nacht der Belagerung eine von Gott
gefandte Aou; vocog ausbrach und das Heer aufrieb.
Der ägyptiſche Feldzug ift unrichtig, das llebrige, bie
SBeft ausgenommen, ungewiß. Das ungeheure Ereigniß,
ſammt der Bedrängung und Grrettung Juda's, bem [dou
damals, faum zwanzig Jahre nad) bem Fall Samaria's,
der unabweudbar ſcheinende Untergang drohte, erzählt
die Schrift in drei Berichten, zur Bezeugung ber Trag-
weite, bie fie ihm beimaß. Es hat aber als eine ber
augenſcheinlichſten Bethätigungen ber Hand be8 Qerm
Jahrhunderte in ben immer wieder batob freudig. erregten
Herzen ber Gläubigen nadjgegittert, wie abgefehn von
einzelnen Pſalmen, bie man darauf zu beziehen pflegt,
Cirad 48, 18—21, 1 Mall. 7, 41, 2 Matt. 8, 19,
3 Malt. 6,5 und Tobia 1, 21 (gried). Tert 13) beivei-
fen. Die Thatſache felbft ift nie gelüugnet, aber febr
verjdjieben beurtheilt worden. Zweifelsohne ifl eine gott:
verhängte Beft gemeint, da „der Engel des Herin“ an bie
Tödtung der Erfigeburt in Aegypten (Gr. 12, 12 ff.),
fowie an bie Peft zu Jerufalem (2 Sam. 24, 15 ff.) er-
innert, und burdj Gebraud) des „Schlagens“ (man) fo-
wie durch Am. 4, 10 audj jenes Mißgeſchick, bas über
die Erftgeburt verhängt wurde, als burd) Peft herbeigeführt
bezeichnet wird. Der Zahlangabe der Gefallenen fielen
bie Gommentare (Geſenius, Bähr, Delitzſch) faum min:
ber große Zahlen in andern Beftkataftrophen Weggeraffter
zur Seite !), obwohl nicht verfannt werden fol, daß butdj
1) Der Peſt in Mailand 1629 erlagen nad) Zabino 160,000
Mengen, in Wien 1679 über 122,000, in Mosfau zu Ende be&
vorigen Jahrhundert? nach Martens 670,000, in Konftantinopel 1714
an 300,000, je während Yürzerer ober längerer Dauer ber gewöhn-
fid) plöglich unb in ihren Urſachen räthjelpaft einbredjenden strantpeit.
646 Himpel,
Verderbniſſe von Abſchreibern und faljdje8 Leſen der ur:
iprüngliden Zahlbuchftaben bie Babfangaben überhaupt
zur ſchwachen Seite ber betreffenden biblifhen Berichte
geworben find. Bei der verkürzten Berihterftattung ift
ein längeres Graffien der Peſt nit vornweg unwahr:
fdeinlid, bod) mag gerade in der Steigerung und Be
ſchleunigung ber furdjtbaren Wirkungen ber Peft der
Finger Gottes erfannt werden follen, deſſen Eingreifen
ef. 31, 8 („Affur wird fallen burd) das Schwert nicht
eines Mannes, und ba3 Schwert nicht eines Menfchen
wird ihn frefjen") und fon früher 10, 24 ff. 14, 14
—27. 17, 12—14. 29, 1 ff. al. verkündet hatte. Db
die Maus Qerobots auf ber Hand ber Bildfäule Sethons
eine Erinnerung an bie (Aegypten und) Juda rettenbe
Peſt war, ba bieroglppbijd) das Thierchen Symbol der
BVerheerung und Vernichtung ift, kann id) nicht entfchei-
ben. Jene Erzählung vom Bernagen und SBerberben
der Waffen ber Afiyrer burd) die Mäufe ift aber jeden:
falls ein fpäter zur Deutung be8 Thieres auf der Hand
ber fünigliden Bildſäule aufgebradyter ätiologiſcher My:
tus. — Zu Jeſ. 87, 36 (Und der Engel des Herrn gieng
aus) bat 2 Könige 19, 35 den Vorſatz: „und ed ge
ſchah in jener Naht." Man kann bedauern, daß für
bie legte fo bedeutende Epifode Feine diefe Notiz vorbe—
teitenden und erflärenden Beitpuntte namhaft gemadt
werden. Das Δεῖ. 37, 9—36 Erzählte, wohinein aud)
die Schlacht von Altaku fiel, Tann aber unmögli fo
vajden Verlauf genommen haben, als e8 den Anſchein
bat. Jene Bemerkung dient baber entweder überhaupt
teiner beftimmten chronologiſchen Beziehung (und bebeu-
tet ungefähr f. o. a. in jener befannten Nacht), oder, was
gef. c. 36—39 erläutert durch aſſhriſche Keilinfchriften. 647
weniger wahrſcheinlich ift, fie bezieht fid) bod nur auf ben
Tag, an welchem Jeſaia bem Hiskia die Antwort (38. 21
— 35) über das Nächfteintretende fagen ließ. Das vor
diefem Tag fBeridjtete (8. 9—21) Tann Wochen ober
Monate für feinen Verlauf beanfprucht haben. Doc
enthält die Antwort be8 Propheten eine Zeitbeftimmung,
aber eine prophetifchsräthfelhafte: „dieß foll dir das eis
hen fein: biefe8 Jahr iBt man Brachwuchs (mbo) im
zweiten Jahr Wurzelwuchs (Dim, Kön. t^np), unb
im britten Jahr fäet und ürntet unb pflanzet Weingär-
ten und effet ihre Frucht“ (88. 30). Das Zeichen foll
den König in ber vertrauensvollen Aufnahme der gege-
benen Verheißung eines ſchmachvollen Wegzuges des
Großkonigs befeftigen und letzteren nod) ausdrücklich ver
bürgen; e8 darf, felbft wenn das fBerbürgte ſchon im
müdjten Augenblick, in ber fommenben Nacht geſchehen
follte, in feiner vollen Verwirflihung weiter in die Zu-
kunft reiden und bie verbürgte Thatfache überdauern,
nicht jo faft, weil ber Afigrer für immer abgetpan ift
(RRügel8bad, a. D. €. 401), denn an fid fonnte er [don
mad) zwei Jahren wiederkehren, fondern um vom vorn-
herein ba Verſchwinden ber Affyrer, mochte e8 alsbald
oder fpäter und mie immer erfolgen, góttlidjer Gaufali-
tät zuzueignen. Das vom Propheten gegebene Zeichen
bat e8 allerdings mit natürlichen Dingen zu thun, aber
ἐδ ift einem Gebiet entnommen, auf das aller Augen
angſtvoll fid) hefteten, und befagte zunächſt, bap e8 zur
Einſchließung und Belagerung gar nicht fommen, bie
Bewohner ber Hauptftadt fomit nicht von der Landſchaft
abgeſchnitten und ihrer wenn aud) fárglid) werdenden Nah—
rung beraubt würden. Zugleich damit baf c8 ihnen bie
648 Himpel,
Gegenwart fiderte, ſtellte es auch gänzliche Befreiung
vom gegenwärtigen Kriegsungewitter für eine nicht ferne
Zukunft in fidere Ausſicht. In beiden Stüden überragte
das Zeichen das natürliche Wiffen. Das Zeichen in fei-
nem ganzen Verlauf nimmt nicht mehr Zeit als das eine
Jahr jenes Feldzugs im Anſpruch, aber aud) nicht viel
weniger. Sanherib wird zur günftigften Zeit, im Früh:
jahr, gefommen fein, und die Aernte fiel natürlic) feinen
Heeresmaffen zu. Israel befam fomit im Kriegsjahr
im ganzen mur Nachwuchs, MED, τὰ αὐτόματα Cept.,
Ausgefallenes, aud) bei der Aernte Zurücgebliebenes
und Verſchüttetes, zu genießen und hatte fid) mit bem
Abfällen ber Maple der Afigrer zu behelfen. Beinahe
ba8 ganze übrige Jahr 701 nahmen ihn die Kämpfe,
Belagerungen, Croberungen einer Menge zum Theil fer
fefter Städte in Syrien, Phönizien, Judäa, Philiftäa,
zulegt ber Kampf mit bem Heere Tirhaka's in Anſpruch,
und um Feldbeflellung und regelrechte Ausfaat war e8
auch im Herbit des Jahres geſchehen, ba bem Feind
natürlid audj das Zugvich mit allem übrigen als Beute
zufiel, und foídeà mit Zubehör in ausreichender Menge
nicht fo tajd) zu beſchaffen war. So traf fie im zweiten
Jahr, bem Jahr nad) dem Krieg (n3wn, in bem fie
Nachwuchs afen, ift das laufende Jahr) nod) eine kärg-
lidjere Koft, D'mw (mofür. das Königsbud transponirt
wnD bat; in warmen Ländern pflanzt fij das Getreide
durch ausgefallene Körner unb durch Wurzeltriebe fort 1),
1) „In ben fruchtbaren Theilen Paläſtina's, befonders in ber
Ebene Jesreel und auf den Hochebenen Galilän’3 unb anderwäris
füen fid) nod) jegt bie Getreibearten und andere Getealien in gro»
Ber Menge von jelber aus von ben reifen Aehren, deren Weberfülle
Jeſ. c. 36-39 erläutert durch afſhriſche Keilinfchriften. 649
Wurzeltriebe, Wildwuchs, unb erft im dritten Jahr (699)
werben fie jeder Kriegsnoth erledigt den Feldbau wieber
ungeftört aufnehmen fónnen. Die Annahme, daß das
„zweite Jahr“ ein Sabbathjahr getejen, in toeldjem
keine Feldbeftellung ftattfand, oder gar an ein ſolches
mit darauffolgendem Jubeljahr zu denken fei, ift über
flüſſig und ſchwächt die Bedeutung ber geidjengebung.
Das 37 Kap. fließt mit Angabe der Ermordung
Sanheribs und der Thronbefteigung feines Sohnes Ajar-
haddon. Webereinftimmend meldet die über das Vorher:
gehende fo ſchweigſam gewordene Cylinderinſchrift, daß
fid Canberib in feine Hauptftadt zurüdbegeben habe.
Wollte man aus den Worten: „und er wohnte (wm)
in Ninive“ ſchließen, daß er nad) dem Mißgeſchick in Balä-
ftina von nun an auf weitere Kriegszüge verzichtet habe,
fo würde man den Ausdrud mißverftehn, denn Sanherib
Yebte nod) 20 Jahre (bi8 681) und führte nod) verjchiedene
Feldzüge duch, im Dften, Norden und Süden feines
Reichs; nur die Weftländer ließ er diefe lange Zeit Din:
burd) völlig in Ruhe — fie waren für ihn und er für
fie jo gut mie nicht mehr vorhanden.“ Die Grrettung
Juda's vor ihm mar allen zu gut gefommen. Zunächſt
30g er wieder gegen Babylon zu Felde, mo er feinen
Sohn Afordan als König einjegte, dann mad) Gilicien
und wiederholt nah ben Inſchriften gegen Sufiana.
Man begeht aber einanderes Unrecht an der bibl. Schluß:
darftellung, menn man ihr anfühlen will, daß der Ver:
faſſer des Stücks fehr lange nad) den dargeftellten Er:
Tein Bewohner be8 Landes benügt. Gtrabo berichtet von Albanien,
daß daß einmal befäte Feld an bielen Orten zweimal Frucht trage,
Gud) wohl dreimal, die erfte fogar 5Ofáltig." Neil.
Theol. Quartaligrift. 1883. Heft IV. 43
650 ‚Himpel,
eigniffen lebte, da er bie Ermordung des Großkönigs
alsbald nach defien Rückkehr geſchehen berichte, wie aud)
Joſephus Ant. X, 1, 5 bie Stelle in diefem Sinn auffaft.
Die Worte, dab er in Ninive wohnte, meijen nicht un-
deutlich aufs Gegentheil, auf eim nod) längeres Leben
Sanheribs, Hin. Daß nichts Weiteres mehr von ihm
gemeldet wird, hat feinen befannten Grund: Juda trat
in keinerlei Berührung mehr mit ipm. Die beiden legten
Verfe find aber etwas [püterer Zuſatz. Im Tempel,
ba er anbetete feinen Gott Nisroch, erſchlugen ihn bie
beiden Söhne. Es war eine verdiente Nemefis, baf ber
Fürſt, welcher prahlte, fein Gott habe ein Volk vor feiner
Macht zu [hüten vermocht, und aud) Jehova werde Israel
vor ihm micht erretten, angeſichts feines Gügen durch
ba8 Schwert ber eignen Kinder gefällt wird. Der ge-
nannte Göge ijt übrigens eine Art nedenben Spudgeiftes
in der neuen Wiſſenſchaft, die fidj über dem Boden ber
alten Weltftadt aufbaute, deren Schußgott er war. Man
ſah in ihm die höchfte affyrifcde Gottheit und fand ihn
in bem Wefen, das auf ben SDenfmalen in Menſchen⸗
geftalt mit Doppelflügeln und einem Adlerfopf dargeftellt
ift, zu Seiten des 5. Baumes. Den Namen leitete mau
von WI, afiyr. nasru, Adler oder Geier, ba der Adler
fier aud) den Afiyrern ein D. Vogel war. Dafür fpridt
auch das Adlergeficht der Cherube Ezechiels. Der Koran
nennt aud) einen ber Gößen der Vorzeit nasr (arab.
Adler), ber auf einer bimjarifhen Juſchrift erfcheint.
In Yegypten war der Qabidjt Symbol des Sonnengottes
Ra. Unter andern Ableitungen ift die annehmbarfte
die von aram. 10), bereichen. Der auffallenbe Umftand
jebod), daß biejer Name des „höchften Gottes“ auf ben
Sf. c. 36-89 erläutert durch afſhriſche Keilinſchriften. 651
Monumenten nod) gar nicht fi finden ließ, in Verbin—
bung mit ber Lefung der Septuag., ‘Acapay (Apaon
bei Sof.) könnte nahe legen, daß Nisroch corumpirt ift,
und Aſur in bem Worte ftedt oder Aſarach (f), fpno-
nym mit jur. Auch fo wäre es ein Adlergott, ben
die Juden mit ihrer eignen Sprache entlehntem Namen
benennen fonntem. Eher ift dabei ftehn zu bleiben, als
den Namen mit Dppert im Sinn von Verbinder, Ver—
Inüpfer, wie ber griechiſch römische Hymen, oder mit Schra⸗
ber ala Spender aus ajfpr. Wurzel zu erflären. Der Name
des einen Königsmörders Adrammelech ijt aud) Gottes:
name (2 König 17, 31), afiyrii$ Adar malik: Adar
ift Fürſt. Urſprüngliches A—tar wäre das Wort offa-
bijden (nordbabylon.) Urfprungs und DieBe: Vater ber
Cntjdeibung. Der Name be8 andern Mörders Sarezer
ift aſſyr. Sar ußur f. v. a. Schirme den König. Die aſſy—
riſchen Denkmale melden nit? über die Ermordung
Sanheribs (fomeit man fie bisher kennen gelernt hat),
während fie bie feines Vater Sargon nicht verſchweigen.
Polyhiſtor in Eufeb. armen. Chron. (eb. Ὁ. Mai ©. 19)
gibt nur den Ardumufanus (Adrammelech) als Mörder
an. Auch Abydenus (eb. daf. €. 25) nennt als Mörder
den Sohn Adramelus und läßt auf Sanherib den Ner-
gilus folgen, welcher wieder von Arerdis (Aſſarhaddon)
ermordet worden fei. Nergilus ift Gomplement des Na-
mens Gareger, der urſprünglich lautete: (Gott) Nergal,
idjge den König. Abyden hat aljo die erfte, bie Bibel
bie zweite Hälfte des Namens erhalten, ber bald voll.
ftánbig, bald verkürzt gebraudjt wurde; Sarezer wird.
bie fürgefte Zeit den Thron befefien haben und verlor
ihn an Eſarhaddon (afiyr. Aſur — ah — ibbin: Afur
. 43*
652 Himpel,
idenfté einen Bruder), der von 681—668 regierte.
— Nach der Bibel, melde den kurzen Regierungsverfuh
des Vatermörderd unerwähnt läßt, entrannen beide in
dad Land Ararat, afiyr. Urartu, Name der vom Arared
burdjfirómten großen Ebene, von welcher ſüdlich das
Gebirge Ararat liegt. Nach Abydenus verfolgte, ſchlug
Alarhaddon die Mörder und warf fie in die „Stadt bet
SBpgantiner", bie mad) 9. v. Gutihmid Bılava bei Pro:
coy ift und im Grenzgebiet von Klein⸗ unb Großarmenien
belegen fein mußte. Hierher gehört eine Inschrift (Schra-
bet a. D. €. 332), die ben Sieg über die Feinde be& neuen
Großkönigs preift, in einer andern befennt der Sohn
Afurbanipal unter Anruf vieler Götter, daß der Vater
ihn zum König erhoben und bie Afiyrer verfammelte,
fein Königthum anzuerkennen, und ber Vater beftätigt
feinerfeits in Inſchriften die Angabe feines Sohnes.
Die beiden Vatermörder famen durch den Haß des fpätern
Judenthums gegen ben Vater zu hohen Ehren. Sie
feien Juden geworden, fabelten die Rabbinen, und im
Mittelalter zeigte man in Galilüa ihre Grabmäler. Schein
bar mit ettoa8 mehr Grund wurden biejelben von den
Armeniern für fih beanfprudt. Moſes von Gborene
nennt fie in feiner Geſchichte Armeniens (I, 23) Adramel
und Sanafar; nad) nationaler Tradition wäre letzterer
im armeniſch⸗aſſyriſchen Grenzland angefiedelt worden
und feine 9tadjfommen wären zu Herren ber bortigen
Sanbjda[t erhoben worden. Der andere, den Moſes
bier Argamozan nennt, (entiprehend dem Ardumuzan
‚des Polyhiſtor nach Beroſus bei Cujebius) lie fid) im
Süboften des Landes nieder, und von ihm läßt man
bie Fürftengefeledhter der Arzrunier und Genunier ftam:
Jeſ. o. 36—89 erkäutert durch aſſhriſche Keilinſchriften. 653
men, jene (II, c. 7 bei Mofes Chor.) als Tönigliche
Adlerträger, bieje als Hofmundſchenken nad) Ausbeutung
ihrer Namen ausgezeichnet. Aus dem Geflecht ber
Arzrunier, mo der Eigenname Sanherib gebráudjlid) war
(Delitzſch a. D. €. 389), ftammte der byzantiniſche Kaiſer
Leo ber Armenier und mit ihm eine längere Reihe Nach—
folger. Demfelben Fürftenftamm gehörte der im 9. und
in ber erften Hälfte be8 10. Jahrhunderts lebende Ge:
ſchichtsſchreiber Thomas Arzruni, deffen Treue unb Ges
nauigfeit in genealogijder und weiterer hiſtoriſcher Dar-
flellung bei ben Armeniern gerühmt wird. Auch er
unterläßt nicht, fid) mit Selbftgefühl auf feinen berühm:
ten angebliden Urahn, den afiyrifchen Großkönig und
großen Judenfeind Sanherib, zu berufen, nadjbem ſchon
im 5. Jahrhundert ein Arzrunier Schamwasb, gegenilber
bem nad) bem Tode des arſacidiſch-armeniſchen Königs
Chosrov von feinem Vater, dem perſiſchen König Hazs
gard auf ben armenijden Thron erhobenen Safaniden
Schapuh, als Nachkomme Sanaſars feine füniglide 310:
fammung gerühmt hatte (Mofes Ὁ. Chor. a. D. III.
38. c. 55).
IL
Recenfionen.
1.
Der jogenannte Sebensmagnetismnd ober. Hypuotismus. Bon
Dr. Gmgelbert Lorenz Fiſcher. Mainz, Verlag von
Franz Kirchheim 1883. VI u. 119 ©. 8.
Eine Studie über Lebensmagnetismus oder Hypno:
tismus intereffirt den Theologen nicht allein wegen ber
zu boffenden Aufſchlüſſe pſychologiſcher Art, fondern aud)
um einiger praftiich veligibfer Fragen willen. Nichts in ber
Welt gab von jeher umb gibt mod) bem Aberglauben jo
weiten Spielraum und fo reichliche Nahrung αἵδ᾽ bie
Krankheiten des menſchlichen Organismus unb das mod
an fo manden Punkten unaufgeihlofiene Gebiet bet
Pathologie; und zu biejem Gebiete gehört aud) ber
Somnambulismus, ſowohl in feiner genuinen Geftalt
als in feiner künſtlich erzeugten Erſcheinung als anima-
licher Magnetismus ober Hypnotismus. Wie tief aber
der Aberglaube in das geiftige und ſittliche Leben ber
Menſchen einſchneidet, braucht verftändigen Leuten nicht
exit gefagt zu werden. Wie jer aber aud) in unferer
Zeit nod) die Menſchen im Wahnglauben verftridt find
Fiſcher, Hypmotismus. 655
und meld) traurige Folgen berjelbe für jene unglüd-
lien Opfer haben Tann, melde man al3 von höheren
Mächten Befiegelte dem rechtmäßigen Arzte und der ver-
nünftigen Pflege entzieht, davon Tann neben bem Geel-
forger am meiften der Arzt reden. Aber nicht blos
um gerftórung des Aberglaubens burd) Aufhellung
dunkler pfpfiologifcher Vorgänge handelt e8 fid), fondern
zugleih um bie cafuiftiihe Frage mad) der Buläffigfeit
eime8 therapeutiichen Verfahrens, welches fid) auf bie
bisher allerdings nod) menig fiheren Annahmen und
Manipulationen des Lebensmagnetismus oder Hypno—⸗
tismus ftügt; oder nod) allgemeiner geſprochen, es
handelt fij um bie fittlide Zuläffigfeit eines Grperi-
ments in jener Sphäre be8 Menſchenlebens, melde man
fid) faft auf allen Eulturkufen der Menſchheit nicht ohne
ein Hereintagen überirdiſcher, geiftiger Mächte vorftellen
Tann.
Der Verf. des oben verzeichneten Schriftchens, bet.
fid in verſchiedenen Publikationen?) als einen ernften
chriſtlichen Denker ausmweist, unternimmt e8 im Gegen-
fag gegen frühere Theorien eines Mesmer, Reichenbach
1. 9L, ben animaliihen Magnetismus, dem man in
neuefter Zeit ben ent[predyenberen Namen Hypnotismus
gegeben, auf feine phyfiologiihen und pſychologiſchen
1) Ueber ba8 Gefeg ber Entwiclung auf pſychijch-ethiſchem
Gebiete. Auf naturwiſſenſchaftlicher Grundlage mit Rüdficht auf
Darwin 2c. 1875. — Heidenthum und Offenbarung. Religionsgeſchicht⸗
lide Studien ἐς, 1878 — bie Urgefefichte des Menfchen unb bie
Bibel. Nach ber heutigen anthropologiſchen Forſchung 1879. —
Ueber ben Peſſimismus 1880. — Ueber dad Princip der Drgani-
fation unb bie Bflanzenfeele 1888. — Als demnächſt erſcheinend an«
getünbigt: Das Problem be8 Uebel unb bie Theodiceen.
656 Fiſcher,
Grundlagen zurückzuführen, indem er frühere Erklärungs—
verfuhe als unzureichend zurüdmweist unb überhaupt
mandjerlei irrige Vorftellungen von ber Cade corrigirt,
namentlich aud) bie Vorftelung, daß ber Hypnotismus
mefentlid auf einem — pfpfiologifchen oder pſycho—
logijden — Rapport zweier Perfonen zu einander be:
tube und burd) Uebertragung einer magnetifhen ober
eleftrijdjen Kraft oder eines Fluidums τι. dgl. erfolge, wäh
rend vielmehr neuere Beobachtungen zeigen, daß ber
Einzelne fid) felbft in den Zuftand ber Hypuoſe verfegen
könne, aljo eines Anderen αἵ Magnetifeurs u. j. v. gar
nicht bebürfe. Es wird zu diefem Behufe auf analoge
Erſcheinungen bingemwiefen, wie 3. 98. auf bie mittel»
alterlihe Sekte der Heſychaſten ober 9tabeljdjauer, fowie
auf bie heute nod) in Indien zu treffenden Fakire, welche
fij lebendig begraben laſſen und mad) einiger Zeit
wieder zum Leben erwedt werden, eine eminente Form
bes fünftliden Hypnotismus. Gbenjo tebucirt der Verf.
bie Einzelerfcheinungen aufßerordentliher Art an Som:
nambulen und Hypnotifirten auf das richtige Maß durch
Ausſcheidung deffen, was auf falſchem Schein und mangel-
bafter Beobachtung beruht, von bem, was bie erafte Unter:
fudjung an die Hand gibt. So wird namentlich bie all-
gemein verbreitete Annahme von einem bei Comnam-
bulen vorfommenden Hellfehen, Leſen von Briefen bei
verfeloffenen Augen u. bgl» in nichts aufgelöst, das
wenige, was an den behaupteten Thatſachen wirklich
wahr ift, auf ganz leicht erflärliche verhältnißmäßig ein-
fade Vorgänge reducirt. lleberbaupt fommt Dr. Fiſcher
zu dem doppelten Ergebniß, erftens daß’ er im feinen
bieher begügliden Studien feinem Punkt gefunden, mo
Hypnotismus. 657
man ba8 Hereinragen höherer, übernatürliher Kräfte
wahrnehmen fünnte ober vorausfeßen müßte, und zwei⸗
tens daß e8 ganz unbedenklih und in manden Fällen
geradezu das Indicirte und Richtigere fei, den Hypno⸗
tismus als Heilmethode anzumenben.
Für den Nachweis des erften Punktes find wir dem
Verf. dankbar, er bat u. G. bod) wieder einen Stein
weggewälzt von bem mur allmälig und mit Mühe unb
und Schweiß zu demolirenden Bollwerk des Wahnglau-
bens und des darauf berechneten Betrugs. Wenn aber
Dr. F. zum Schluſſe fagt: „Ein Gefpenft ber neueren
Seit ift alfo mun duch die wiſſenſchaftliche Forſchung
gebannt, b. b. in feiner Wahrheit durchſchaut; e8 εἰς
übrigt jet noch, aud) ba8 andere moderne Gefpenft, den
Spiritismus, zu entlarven“, fo möchten wir bod) zu be⸗
benfen geben, ob e8 ohne Anftand abgehe, den Hypno-
tismus und ben Spiritismus ganz getrennt von einander
zu betrachten, ob midt bie Erfheinungen des Somnam⸗
Bulismus, Spiritismus, ferner der Hpfterie unb gemiffer
pſychiſcher Affeftionen in einem untrennbaren Gonner und
Verwandtſchaftsverhältniß mit einander ftebem, fo daß
mir, über feine einzelne dieſer Erſcheinungen vollftändig
aufgeflärt find, fo lange in ber angrenzenden Sphäre
nod) die Dämonen fpuden. Einzelne Formen des Som-
nambulismus mögen fi jo einfad).entmideln, wie Dr. F.
nachweist; aber gibt e8 nicht eine Gomplication ber €om-
nambulie mit Spiritismus und mit myſtiſchen guftün-
dem verſchiedener Art, bei denen die Erklärung fid) nicht
fo einfad) ergibt? Bei all dem find wir ber feften Zu—
verficht, daß fid) das „Geipenft des Spiritismus" ebenfo
658 Fiſcher, Hppnotismus.
werbe entlarven laffen, wie e8 Dr. F. mit dem Hypno-
timus unternommen.
Was aber den zweiten Punkt anlangt, bie Anwen:
bung be8 Hypnotismus zu therapeutiichen Zmeden, über
bie wir das Urtheil zunächft ber mebicinifhen Wiflen-
ſchaft überlaffen müfjen, fo finden wir wenigſtens in
ber Darftellung des Verf. mehrere Schwierigkeiten ent
fernt, meldje unà bisher an der Zuftimmung zum bppno-
tifdjen Experiment hindern mußten. Schon der Modus des
Hppnotifivens ift ein ganz anderer und unbedenklicherer,
als man ihn fid) früher dachte, vollends menm e8 einer
zweiten Perfon zur Herftelung der Wirkung gar nicht
einmal bedarf. Sodann ift die von den Meiften bisher
vorausgeſetzte nachtheilige Wirkung be8 Hypnotismus
auf das Nervenſyſtem nach Dr. F. nicht zu befürchten,
da es gerade nicht Perſonen von ſchwachen und ange—
griffenen Nerven ſind, welche für den Hypnotismus em⸗
pfängli find und geeignete Verſuchsobjekte dafür ab-
geben. Für die Praris würde fi, meint Dr. F., bie
Hypnoſe mohlthätig ermeijen, zunächſt ſchon als Mittel,
bie Schmerzempfindung bei Operationen aufzuheben, und
zwar befjer al8 Aether oder Chloroform, deren Anwen
dung befanntlih nicht ganz ungefährlih, während am
Hppnofe nod) Niemand geftorben jei; fobanm aber aud
für direfte Therapie, wie man denn von ihr Grfolge bei
NRheumatismen, toniſchen Krämpfen, Berfrümmungen der
Wirbelfäule, Epilepfie, Gpfterie verzeichnet.
Wir fómmen bier natürlid) dem Verf. mid weiter
folgen. Seine pſychologiſchen Vorausfegungen und Be:
hauptungen erhalten ihre Beftätigung bod) erft, wenn
feine phyſiologiſchen Pofitionen richtig find, und feine
Agberger, bie Unfünblichteit Chriſti. 659
mebicinijden Theorien müflen fidj im ber mtebicinijdjen
Gajuiftit bewähren. Wir unfererfeits erhalten zwar aller-
dings ben Eindrud, baf bas Gebiet, aus toeldjem Dr. F.
feine Angaben hernimmt, ein ziemlich enges geblieben,
und daß er auf bie [deren Bedenken, melde von phy⸗
fiologifchen und mediciniſchen Auftoritäten nod) in neuefter
Zeit gegen ba8 Treiben eines Hanfen und ber Hypno⸗
tiften überhaupt erhoben worden find, zu menig 9tüd-
fidt genommen babe. Andererſeits aber erwedt bie
Schrift bod) wieder volles Vertrauen, daß e8 gelingen
werde, aud) bie etiva noch, zurückbleibenden Anftände zu
befeitigen, wenn man auf bem vom Verf. betretenen
Wege der vorurtheilsfteien Forſchung und Erfahrung fort-
ſchreitet. In ber von Dr. F. vorausgefegten Anwen:
bung, beziehungsweife Einſchränkung unterliegt bie Her=
beiführung ber fünfliden Hypnoſe jedenfalls feinem
moralijdjen Bedenken.
Linſenmann.
2.
Die Unſündlichteit Chriſti. Hiſtoriſchdogmatiſch dargeſtellt
von Dr. 8, Atzberger. München. Ernſt Stahl. 1883.
VIn. 860 ©. 8.
In die Schemata Coneil. Vatie. war aud) der Sag
aufgenommen: «Carni et sanguini participans cum in-
firmitate naturae culpae maculam nequaquam susce-
pit et licet vero libero arbitrio praeditus
non solum non peccavit, sed nec peccare potuit»
660 Agberger,
(bei Martin C. Omn. coneil. Vàtie. document. collect.
Paderb. 1870 p. 25 vgl. Aberger in ber oben ange-
zeigten Schrift €, 128 Anm. 4. 8 findet fid) bier
zugleich eim weiteres Schema und bie von ben Conſul⸗
toren gegebene Adnotatio). „Hätte das vatikaniſche
Koneil fortgefegt werden fónnen, fo wäre (diefen €dje-
maten entſprechend) vielleicht aud) die Firchlich-überlieferte
Lehre von ber bypoftätifhen Union und ber mit
diefer gegebenen Unſündlichkeit Chrifti feierlich
befinirt worden.“ Es wäre geſchehen fpeciell im Gegen-
fag zu ber Günther’fhen Auffaffung, "melde Chriſto
nit eine abfolute Unfündlichkeit zuerkannte, fondern für
ihn in feinem irdiſchen Dafein einen Moment ber Frei—
beitsprobe nöthig hielt, bei welcher die Möglichkeit zum
Guten wie zum Böfen geforbert, alfo eine Impecca-
bilität vollfommen ausgeſchloſſen ift. Denn ohne eine
ſolche Freiheitsprobe wäre nad Günther ein SBerbienft
unmüglid. Zugleich hätte die katholiſche Kirche aufs
neue ihrem Glauben an Chriftus und fein Werk gegen-
über ber per[djieben formulirten Seugnung feiner Gott-
beit burd) bie proteftantijdje Theologie einen feierlichen
Ausdrud gegeben und feine Degradation zu einem mehr
ober weniger vollfommenen Idealmenſchen aufs neue
feierlich verworfen.
Schon biejer Umftand, daß das legte allgemeine
foncil ernſtlich eine dogmatifche Definition der Unfünd-
lidfeit Chrifti in Ausfiht nahm, zeigt und, melde Wich-
tigfeit biefer Frage in gegentodrtiger Zeit zukommt. Atz-
berger meist ihr in feiner Einleitung („zur Firirung
unferes Standpunftes“) geradezu „eine centrale Bedeutung
für das ganze Menſchengeſchlecht“ zu. „Iſt Chriftus,
bie Unfünbficeit Cpeifti. 661
ſchreibt er, in Wirklichfeit der wahrhaft Heilige, göttlich
SBolifommene u. abjolut Unfündlihe ..... dann ift. er
bie hiſtoriſch größte Erſcheinung aller Beiten, bann ijt er
Sybeal und Vorbild für alle Geſchlechter, dann behält
cud) Recht ber Glaube an ihn al8 den Erlöfer von ber
Sünde unb bem Sündenelende bieje8 Lebens, ala Sohn
Gottes und als nothwendigen Mittelpunkt aller freien
und unfreien Bewegung der Geihöpfe Iſt aber
der Inhalt des Chriftusbegriffs etwa bloß „das Produkt
der religiöfen Phantafie, melde bie im Bemwußtfein der
Menſchheit aufgeftiegene Idee der Gottmenfdbeit auf das
Individuum Jeſus von Nazareth übertrug.” ..... oder
ift das von der Gejdjid)te uns entworfene Charakterbild
Jeſu jelbft von fittlihen Mängeln getrübt unb von Ein-
feitigfeiten wicht frei; ift mit einem Worte ber Chriftus
des religiöfen Glaubens gar nicht ober nur theilmeife und
unvollfommen biftorifch geweſen oder ftebt er in innerem
Widerſpruche mit fid felbft: dann mag bie Menſchheit
immerhin fid) umfehen mad) einem andern Modus ber
Erlöfung von ben Leiden dieſes Erdenlebenz, fie mag ein
anderes Ideal aufftellen, durch welches fie befler ihre
SBeftrebungen befriedigen zu fónnen glaubt, fie mag einen
anderen Mittelpunkt aller freien und unfreien Bewegung
der Geſchöpfe fid) konſtruiren und auf das Chriftenthum
als einen überwundenen Standpunkt herab: und zurüd-
bliden. Unter diefem Gefihtspunft aufgefaßt, Dat bie
Frage mad) ber Unſündlichkeit Chrifti eine meittragende
Bedeutung für bie religiöfe, fociale und politifche
Entwidlung der gefammten Menſchheit.“ (&. 11.)
In Behandlung diefer Frage könnte ein doppelter
Weg eingefchlagen werben. „Die Unſündlichkeit Chriſti,
662 berger,
jagt Agberger, fónnte in gewiſſem Sinne aufgefaßt wer:
ben als Gentralobjeft einer Apologie bes GDriften-
thums. Der Beweis für biefelbe hätte in dieſem Falle
einmal bem Materialismus in feinen verſchiedenen Formen
und dem Determinismus gegenüber bargutDum, daß es
überhaupt einen freien Geift und ein moralifches guredjen-
bares Böfe gebe und baf wenigftens ohne inneren Wider:
fprud) ein freier Geift unbefledt vom Böfen zu bleiben
vermöge. Einem mythiſirenden Pantheismus gegenüber
müßte gezeigt werden, ba e8 einen ſolchen Geift gegeben
babe, in welchen nie bie Sünde Eingang gefunden. Ver—
Tdjiebenen Formen des Deismus, Bantheismus und Ratio-
nalismus gegenüber fónnte man ferner vorzüglich im In:
tereffe unferer Erlöfung unterſuchen, ob ber hiftorifche
Chriſtus bloß die höchſte Darftellung menſchlicher Hei—
ligleit und Vollkommenheit ſei, oder aud die ſubſtanzielle
Heiligkeit, weſensverſchieden von der Welt, und Gott
ſelbſt.“ Kurz, „die Glaubwürdigkeit des Chriſtusbegriffs
würde ert in analytiſcher Weiſe unterſucht“ „ſoweit
philoſophiſch⸗ſpeculative und hiſtoriſche Unterſuchungen
dieſes überhaupt ermöglichen.“ Eine ſolche Behandlung
ber Fragen wäre freilich ſehr ſchwierig, aber bod) gu.
gleich ſehr anziehend und lohnend und vieleicht den Be—
bürfniffen der Gegenwart mehr entipredjenb.
Agberger nimmt nicht diefen apologetifhen, ſondern
den dogmatiſchen Standpunkt ein. Der Chriftus-
begriff wird hier im allgemeinen bereits als wahr vor-
ausgelegt und in ſynthetiſcher 9Beije in feine εἰπε
zelnen Momente zerlegt. Was Schrift und tebetliefe-
rung von Chriftuß lehren, wird hier mad) den einzelnen
Momenten einheitlich dargeftelt und in dogmatiſch-⸗ſpeku⸗
die Unſundlichteit Chriſti. 668
lativer Weife bem BVerftändniß nahe gebracht. Agberger
fat mit ſtaunenswerthem Fleiß alle einſchlägigen Stellen
der Väter und der Theologen gejammelt. Mit großem
Geſchick wird die Ausprägung ber bbgmatijden Wahr:
beit in den verfchiedenen Stadien ihrer Gntmidlung
Berausgeftellt und beurtheilt. Daß dabei jede nur
einigermaßen von der zuvor feftgehaltenen abmeichende
Anficht ihre Aufnahme findet, wenn fie aud) feinen Fort:
ſchritt der Entwidlung, bisweilen fogar einen Rückſchritt
bezeichnet, mag ber Bollftünbigfeit wegen als notwendig
erjóeinen und von vielen al8 befonderer Vorzug be:
tradet werden. Referent glaubt aber, daß man hierin
Gud) zu meit gehen Tann. Die Lektüre wird dadurd er:
ſchwert und wirkt ermübenb, felbft menu, τοῖς im vor-
liegenden Fall, bie Darftellung eine flare, gefüllige und
überficptliche ift. Freilich läßt fid) dies bei Behandlung
von Detailfragen, wie bie vorliegende, faft nicht ver:
meiden und bie deutſche Gründlichkeit ift mm einmal ge-
mohnt, es als Mangel zu bezeichnen, wenn in einem
wiſſenſchaftlichen Werke nicht alles fi zufammengeftellt
findet, was irgend einmal über bie zu behandelnde Frago
geſchrieben wurde.
Die Eintheilung ift eine fehr glüdlide. Das Wert
zerfällt in drei Haupttheile. Der erfte Haupttheil be—
handelt bie Unſündigkeit b. D. bie thatſächliche Sünde—
lofigfeit Chrifti, der zweite die Unſündlichkeit Chrifti
b. f. bie abjolute Unmöglichkeit der Sünde in Chriftus
und ihren legten formalen Grund. Der britte Haupt
theil betrachtet bie Unfündlichkeit Chrifti in ihrem Ver—
hältniß zur Ausführung des Erlöfungswerkes. Näher—
bin werden die Fragen beantwortet: Wie ift die Un—
664 Abberger, bie Unfünblichfeit Chriſti.
ſündlichkeit Chrifti mit feinem Erniedrigungsftande, [εἰς
ner leidensfähigen Menſchheit, wie mit feiner freien
Willensentſcheidung und ber Verdienftlichkeit feiner Hand-
lungen vereinbar.’ Die Unterabtheilungen des zweiten
und dritten Haupttheils find gewonnen aus ber hiftorifchen
Aufeinanderfolge ber im Kampfe mit den Härefien be:
fonber8 betonten und entwidelten Momente des Dog-
mas. (ὅδ wird daher dargelegt, wie bie Lehre von ber
Unſündlichkeit Chrifti burd) bie hl. Väter gegenüber ben
Leugnern feiner wahren leibliden Natur (Dofetismus,
Gnoftifer, Manichäer), gegenüber den Leugnern feiner
wahren Gottheit (Paulus von Samofata und Arius),
gegenüber den Leugnern feine® wahren menſchlichen
Geiftes (Apollinarismus), gegenüber bem Leugnern ber
bypoftatifhen Union (Drigenes, Antiohener und Stefto-
tianer, Pelagianer, Adoptianer, Güntherianer), gegenüber
ben Leugnern be Fortbeftandes der unirten Menfchheit
in ihrer eigenen Wefenheit und Wefensthätigfeit (Mono-
phyfiten und Monotheleten) vertheidigt, dargeftellt und
begründet tourbe. Ein zweiter Abſchnitt enthält dann
bie Darftellung der dogmatiſch-ſpekulativen Entwicklung
ber Lehre von ber Unſündlichkeit Chrifti, wobei ebenfalls.
bie biftorifche Reihenfolge eingehalten und namentlich die
thomiſtiſche und feotiftiihe Begründung ber Unfünd-
lidjfeit Chrifti gewürdigt und beurtheilt wird. Als An-
bang ijt eine Darftellung und Kritik der proteftantiichen
Anfhauungen über die Unſündlichkeit Chrifti beigegeben.
Agberger urteilt über fie richtig, daß „in ihnen größten-
theils nur längft Vorhandenes und längft Widerlegtes,
wenn aud) in neuer Form, vorgebradjt wird.“
Bei ber Darlegung der Lehre be8 HI. Cyrill von
Epping, ber Kreislauf im Kosmos. 665
Merandrien hätte wohl der von ihm gebrauchte Aus:
druck ἕνωσις φυσική als ſchief und gmeibeutig bezeichnet
werben follen, ba er nicht zum geringften Theil den nach⸗
maligen Monophyfitismus mitverfhuldet hat. Atzberger
deutet mur ganz vorübergehend diefen Mangel an, ohne
ein Urtheil abzugeben.
Hr. Agberger hat [don bei feiner erften theologiſchen
Arbeit über die „Logoslehre des hl. Athanafius“ ver
diente Unerfennung gefunden. Die vorliegende neue
Schrift, melde er zum tede der Habilitation an ber
theologiſchen Fakultät ber Univerfität Münden verfaßt
bat, wird ihm gewiß neuen Beifall bringen.
Stepetent Dr. Schmid.
3.
1. Der Rreidlauf im Kosmos. Von Joſeph Epping ©. 3.
Ergänzungshefte zu den „Stimmen aus Maria-Laach“.
18. Freiburg. Qerber 1882. 103 ©.
2. Der belebte unb bet unbelehte Stoff nad) den neueften
orfhungs-Ergebniffen. Von 8. Dreſſel S. I. Grgün-
zungshefte. 22. Freiburg. Herder 1883. 204 ©.
3. Das Weltphänomen. Cine erfenntnißtheoretiihe Studie
zur Güfularfeier von Kants Kritik der reinen Vernunft.
Bon €. Bel ©. J. Ergänzungshefte. 16. Freiburg
Herder 1881. 137 ©.
4. Idealismus oder Realismus. Cine erfenntnißtheoretiiche
Stubie zur Begründung be8 Iegtern. Bon €. TE.
Iſenlkrahe, Pfarrer. Leipzig. Fr. Fleiſcher 1883. 182 ©.
5. 9tatur, Berunnft, Gott. Abhandlung über bie watürlide
Grtenuntui Gottes, nad) ber Lehre des HI. Thomas bon
Aquin dargeftellt. Von Dr. Ceslaus SRatia Squeider.
Theol. Ouartalfgrift. 1888. Heft IV. 44
666 Epping,
Gefrüute Preisſchrift. Regensburg. Manz. 1888.
868 ©.
Die modernen Naturwifienfchaften im Bunde mit
ber Raturphilofophie erheben den 9Infprud), das Räthſel
des Seins und be8 Lebens lüjen zu fünnem, ohne einer
außerweltlihen Urſache oder Kraft zu bebürfem. Die
ftaunenswerthen Nefultate der eracten Wiſſenſchaften
geben diefem Anſpruch einen großen Schein von Berech⸗
tigung und verjdaffem ihm in immer weiteren Kreifen
Glauben. Es gehört in manden Schichten ber Gefell-
ſchaft zum guten Ton, fid zu der neuen Weltanſchau⸗
ung zu befennen. Die alte bualiftijdje Weltanfhauung
wird kaum anders al8 mit verüdjtliden Bemerkungen er⸗
mähnt und ben „Dunkelmännern“ überlaffen. Könnte
man nun aud) diefe modernen Denker und Gläubigen
fid) felbft überlaffen, da eine Belehrung von vornherein
abgewieſen wird, jo ift e8 bod) Pflicht der gläubigen
Forſcher, bie für bie neue Weltanfhauung vorgebrachten
Gründe genau zu unterfuhen und auf ihren wirklichen
Werth und Unwerth zurüdzuführen Denn nur zu
leicht Tann durch bie beftechenden Hypotheſen dad Ge-
müth mander Gläubigen verwirrt werben und bie nicht
vertheidigte Wahrheit der Verachtung ober Bernahläßi-
gung anheimfallen. Eine erſprießliche Auseinanderfegung
mit den gegnerifchen Aufftellungen verlangt aber eine
gründliche Kenntniß des Gegenftandes.. Phrafen und
Phantaſien ſchaden mehr als fie nügen. Die Kritif und
SBolemit führen dann von felbft zu einer Sichtung und
Sicherung be8 eigenen Standpunktes. Man wird einer
feit8 die principielle Richtigkeit desfelben erkennen, an:
beterjeit8 aber die burd) bie ficheren Refultate der
ber Kreislauf im Kosmos. 667
modernen Forfhung geforderten Modifikationen anbringen
und fo aus feinem Schatz Altes und Neues hervor:
bringen. Die oben genannten Verfaſſer find in verſchie⸗
bener Weife biefen Anforderungen gerecht geworben.
Die drei erften fielen fid) mit ihren Gegnern auf den
Boden der Naturwiſſenſchaft, der ihnen wohl befannt ift,
um Schritt für Schritt bie Schwächen ber Gegner auf:
gubeden und die Unzulänglichkeit diefer Wiſſenſchaft für
das, was über bie Empirie hinausgeht, nachzuweiſen.
Sie vermag ben felbf von namhaften Vertretern be-
tolefenen Anfangs: und Endzuftand der Welt nicht burd)
einen fupponirten ewigen Kreislauf zu befeitigen, nod)
die Kluft zwiſchen bem unbelebten und belebten Stoff
zu überbrüden, nod) aud) durch ibealiftiihe Verinner:
lichung ber Außenwelt die ganze Welt in Frage zu ftellen.
In biefer Verwerfung des Jdealismus geht H. Iſenkrahe
mit-H. Peſch Hand in Hand, aber er vermag fid) mit
ben zur Erklärung beigezogenen ſcholaſtiſchen Termini der
species impressa und expressa nicht abzufinden und fudit
das Weltphänomen vorausfegungslofer zu erklären.
H. Schneider endlich lenft ganz zum Naturphilofophen
Thomas zurüd, um ihn als leuchtendes Vorbild für bie
Staturforidjung darzuftellen.
1. €3 ift befannt, daß bie Materialiften, welche in
ber Lehre von der Erhaltung ber Kraft den höchſten
Triumph ihres Syſtems erkennen zu müffen glaubten,
burd) das Clauſius'ſche Gejeg, baf bie Entropie ber
Welt (die Summe aller ftofflihen Verwandlungen) einem
Marimum zuftrebt, in nicht geringe Verlegenheit verfegt
wurden. Thomfon, Helmholtz u. A. anerkannten bie
Nichtigkeit des Gejeges. Wollte man aljo trot desſelben
4*
668 Epping,
die Ewigkeit der Welt nicht preisgeben, jo blieb nur die
Annahme eines ewigen Kreislaufes übrig. „Ewiges
Werden und Vergehen“, „Nie endender Kreislauf” war
die Antwort auf den Sag vom Enbzuftand, ber noi.
wendig einen Anfang verlangte. Die Unmöglichkeit eines
folgen Kreislaufes weist nun H. Epping fdlagenb nad,
indem er insbefondere einen Hauptvertreter diefer Theorie,
ben Dr. Karl Freiheren du Prel [darf auf das Korn
nimmt. Er beſpricht zuerft bie gegnerifhe Methode,
welche dazu angethan ijt, die Schwierigkeiten möglichft
zu verjdleiern oder zu verſchweigen und das Wahr-
ſcheinliche und Gewünſchte al3 feſtſtehend Dinguftellen.
Sodann widmet er der Kant-Laplace'ſchen Hypotheſe
eine längere Ausführung unb Kritik. Er kommt dabei
zu bem Refultate, daß biefe Hypotheſe „in großer Weber:
einftimmung fteht mit den thatfächli—hen Verhältniffen in
unferem Blanetenfpftem, infofern man fie mehr im .All-
gemeinen oder in confuso bettadjtet." „Wir können bie
Hypotheſe als eine mohlbegründete anjeben unb ihr ein
fahhin das Prädikat der Wahrſcheinlichkeit zuer
Tennen; aber αἵδ᾽ eine fefiftebenbe Thatſache dürfen wir
fie nicht anerkennen“ (S. 50). Man wird dem beiftim-
men fönnen, wenn die Kritik vielleicht auch öfter zu meit
geht. Als bemerkenswerth bebe ἰῷ hervor, daß ber
Verf. für bie langfamere Bewegung ber Stammförper
gegenüber den Planeten und Monden die Gejeitenreibung
(Ebbe und Flut) für unzureichend hält. — SBielmebr
müffe die Bewegung der äußeren Schichten größer ge-
weſen fein al8 bie ber inneren, fo daß bei ber Loslöſung
beà Ringes die Gefammtrotation be8 fid) weiter werbich-
tenden Balls relativ eine geringere war. Nun wird beim
der Kreislauf im Kosmos. 669
Bufammenziehen bie in Rotationsgeſchwindigkeit umge:
febte Fallbewegung fid) aud) ben innern Schichten mit-
theilen. Die große Gefd)minbigfeit ber äußern Theile
bringt in bie Maffe ein. Die Ausgabe der äußern
Schichten ift aljo größer al8 die Einnahme. Deßhalb
muß fid die Sonne langjamer drehen, al8 die Planeten.
Daraus erkläre fid) aud) bie ſchnellere Rotation der
Sonne am Aequator. Freilich müffe dann die Sonne ^
ein Gasball fein. Die bisherige Annahme einer feften
oder flüffigen Kugel Dat allerdings burd) bie Wahrneh-
mung, daß bie Gasſpectra von der Temperatur und ber
Dide und Dichte der leuchtenden Schicht abhängen, einen
Stoß erhalten. Die Unterfheidung zwiſchen bem conti
nuirlihen Spectrum fefter und flüffiger Körper und dem
Rinienfpectrum ber Gafe ift nicht mehr weſentlich und
baber find die darauf gebauten Schlüffe nicht mehr feft.
Doch find mod) weitere Unterfuhungen nothivendig, um
ein endgiltiges Urtheil zu ermöglichen. Aber immerhin
fieht man hieraus, mit welcher Vorſicht aud) bie fdjein-
bar fidetn Stefultate der Naturwiſſenſchaften aufzu—
nehmen find. .
2. Das Problem des Lebens ift bislang bet eraften
Forſchung unzugängli geblieben. Weder der Anfang
besfelben nod) der eigentliche Lebensproceß will fid) den
gewöhnlichen Naturgefegen unterwerfen. Man Tennt
wohl bie hemifchen und phyſikaliſchen Vorgänge in den
organiſchen Körpern, man fann aud) mande organifche
Gebilde aus anorganiſchen Stoffen herftellen, aber ba8
Leben kommt eben nicht zum Vorſchein. Denuoch ift bie
Naturwiſſenſchaft eifrigft bemüht, das Leben mit bem
Mikroſkop und ben Reagentien zu fuchen, und betrachtet
610 Drefiel,
es vielfach als felbftverftändliche Borausfegung, daß eines
Tages das Leben fo fidet exfaunt werden müſſe wie ein
demijder Prozeß. H. Drefiel Dat fid) mum der Mühe
unterzogen, „im vollen Lichte moderner Forihung bie un
belebte Materie und den lebendigen Organismus auf
ihre fundamentalen Eigenthümlicyfeiten zu prüfen, um
zu feen, ob fie fid) mir nidjt8 dir nichts zufammen-
* würfeln faffen." Er verlangt mit Recht eine gute Dofis
von Gebulb unb gutem Willen, denn biefe Detailunter-
fuhungen dienen nicht zur Unterhaltung, aber fie find
nothwendig unb lohnen jeden, ber fid) ernftlih Mühe
gibt, durch reihe Belehrung. Man fol nicht bloß im
allgemeinen den Unterſchied zwifchen bem Anorganifchen
und Organifchen fennen, fondern aud) von bem verſchie⸗
denen Gejegen und harakteriftiihen Eigenthümlichkeiten
beider Reihe eine genaue Vorftellung erhalten. Der
Verf. theilt feine Schrift in einen pofitiven und einen
olemijden Theil. Jener ift der grundlegende und in
terefjantere felbft für denjenigen, teldjer in diefem Ge:
biete einigermaßen zu Haufe ift. Der andere ift bie An
wendung der gewonnenen Refultate anf die mobernen
Theorien über das Leben. Im erften Theil wird die
Firirung be8 Unterfchiedes zwifchen dem belebten und
dem unbelebten Stoff verſucht, indem zuerft die lebloſe,
dann bie belebte Materie harakterifirt wird und emblid)
daraus die allgemeinen Folgerungen für beide gezogen
werben. Der zweite Theil ijt eine Kritik der antibua-
liftijden Lebenstheorien: chemiſcher, phyfifaliicher, pip:
dijder Materialismus; der Nihilismus als Schluß.
Der Verf. kommt dabei zu dem Schluſſe, daß bie ſcho—
laſtiſch-dualiſtiſche Lebensauffaſſung mit ben Ergebnifien
ber belebte uud ber unbelebte Stoff. . 671
der Naturforfhung nicht bloß vereinbar, fondern von
ihnen al8 die einzig richtige geradezu gefordert werde,
Statt der Worte „Pflanzenfeele”, „Thierſeele“, melde
viel beffere Bezeichnungen wären, weil die Seele des
SReniden in einer ganz ähnlichen Beziehung zur Materie
und zum Menfchenleibe ftebt, ſchlägt er das Wort
„Lebensprincip“ zur Bezeichnung des belebenden Grun-
des in Pflanzen und Thieren vor, weil in ber menfch-
lichen Seele die Fähigkeit liegt, für fid) und ohne Körper
eriftiven zu können. Das Lob der Scholaftik kehrt über-
haupt öfter wieder (S. 117. 168. 197. 200) und man
Tann in dem allgemeinen Sinn, wie e8 gefpendet wird,
aud) damit einverflanden fein. Der Monismus-ift in
ber That außer Stand, das Leben zu erklären und bie
verzweifelten Verſuche felbft hervorragender Forſcher
Tonnen nur auf Koften der Logik und Genauigkeit ein
Refultat erzielen. Die Methode der Scholaftif unb ber
neueren Forſchung feit Galilei ift aber fo verſchieden,
daß εὖ nicht gelingen wird, in weniger eingetoeibten und
geneigten Kreifen fie einheimifch zu machen. Freilich ift
die chemiſche Terminologie für Nichtchemiker auch nicht
befonder3 einladend. ^
8. H. Peſch fteht auf demfelben Standpunkt ber Scho:
laftif Er will zeigen, wie bie Naturüberzeugung der
Menſchheit in ber Philofophie der fatfolijdjen Vorzeit
eine fefte, ynerfchütterlide Begründung gefunden Dat,
mährend fid) die moderne Wiſſenſchaft außer Stande er-
klärt, zwifchen vernünftigen Menfhen und Träumern einen
erheblichen Unterſchied feitzuftellen. Yon modern „Wiffen-
ſchaftlichen“ erwartet er nicht, baf fie feine Schrift, welche
fid) gu einer im ihren Augen ganz ſchrecklichen Härefie
672 veſch,
bekennt, zur Hand nehmen. Bei den vorurtheilsfreien
Leſern aber hofft er die Erkenntniß zu befeſtigen, wie
ſehr wir dem kirchlichen Lehramte dafür zum Danke ver:
pflichtet find, daß mir gegenüber der verirrten Philofo:
phie ber Jetztzeit auf die Philofophie eines b. Thomas
von Aquin Dingemiejen wurden. Der Berf. will aljo
auf Grund ber folaftiihen Philoſophie den Realismus
fiher ftellen. Troß des großen Reichthums an Aufſchlüſ⸗
fen über bie Vorgänge bei ber Sinneswahrnehmung, beu
wir ber phyſiologiſchen Forſchung des 19. Jahrhunderts
verdanfen, wagt er bod) die Behauptung, baf e8 ber
Scholaftit gelungen ift, bie Nichtigkeit der realiftifhen
Beltauffaffung wiſſenſchaftlich für alle Zeiten feftzuftellen.
Dabei gebt er von bem Cage be8 ἢ. Thomas aus:
potentia cognoseitiva proportionatur cognoseibili, ben
ber B. Auguftin mit den Worten ausſpreche: animam
passionibus eius (objecti) ire obviam, Diefer Sat ift
in ber That von der modernen Naturwiſſenſchaft beftätigt
worden. Die fpecifiihen Sinnesenergieen, die Local-
zeichen be8 Taftfinnes und Geſichtsſinnes und Aehnliches
Tpredjen dafür. Aber eigenthimlicher Weiſe verwenden
die idealiſtiſchen Naturforſcher biefe Thatſachen für ben
Idealismus und pofitiv zu widerlegen find fie in diefem
Spunft nicht. Auch der ſcholaſtiſche Gab, daß bie Sinnes—
wahrnehmungen Mittel zum Zweck ber Erfenntniß feien
und alfo wahr fein müflen, menn e8 überhaupt eine
Erkenntniß gibt, ift mut ein Beweis von bem einmal
eingenommenen Stanbpunft aus. Denn e3 ift ja gerabe
in Frage geftellt, ob dieſes Verhältniß ftattfindet. Die
ſcholaſtiſche Erkenntnißtheorie ift eben wie die ſcholaſtiſche
Naturphilofophie im Anſchluß an die ariftotelifchen Prin⸗
das Meltphänomen. 673
cipien bem Augenſchein angepaßt. Sie erflärt ganz gut,
was ifi, wenn es einmal ift, aber nicht wie unb warum
ἐδ fo ift oder fo wahrgenommen wird. Der Verf. felbit
gibt ja zu, daß aud) auf teleologiihem Standpunft uns
das tieffte „Wie“ im Dunkel gehüllt fei. Wir fehen
nicht, mie e8 denn eigentlich gefchieht, daß uns äußere
Dinge gegenftändlih werben fünnem. Das „Daß“ ift
alfo aud) nur eine Folgerung be8 gefunden SRenfden-
verftanded. Als folde muß ber Realismus unbedingt
hingenommen werden. (8. heißt denfelben geradezu ver-
leugnen, wenn mam aud nur in ber Theorie die Welt
in δα Innere verlegen will.
4. An biefem Punkt fegt Herr Iſenkrahe ein, deſſen
Schrift gegen bie vorige gerichtet ift. Der Idealismus,
meint er, ift inbirect leicht, divect nicht zu widerlegen.
Der Realismus ift direct nicht beweisbar, fondern bleibt
Hypotheſe, ift aber an fid) gewiß. Ein Beweis zu ver-
langen ift unverftändlih. Denn bie Realiften find in
ber Defenfive, bie Jdealiften haben den Beweis für den
Idealismus zu erbringen. Alle ihre Gründe beruhen
auf bem Idealismns. Ein Kriterium ber Wahrheit gibt
es nidt. Man müßte fonft dafür wieder ein Kriterium
fuden. Die „objective Evidenz“ hilft. Man erkennt
mit Zwang, sc. ber Intelligenz, und dafür fónne man
Teinen Beweis verlangen. Zwar geben dies bie Idea—⸗
liften nicht zu und tft e3 mit der objectiven Evidenz oft
eine eigne Sache, aber mir concebiren dem Verf. gern,
daß er kurz unb gut ben Boden be Realismus geebnet
hat. Nun weichen aber feine Wege von denen anderer
Stealiften ab. Die fholaftiihe Wahrnehmungstheorie habe
dor der modernen voraus, baf fie das natürliche Bewußt⸗
674 Iſenkrahn, Idealismus ober Realismus?
fein zur Geltung bringe, aber ihre species impressae und
expressae ſchweben in der Luft. Ein Beweis für bie
Treue derfelben bewege fid in einem Zirkelſchluß, denn
fie folgere biejelbe aus bem Bmed Gottes, fepe aber
Gott voraus. Teleologie und Mechanik feien zu jonbetu.
Die Teleologie gehöre gar nicht hierher. Diele Kritit
ift nicht ohne Berechtigung und zeigt jedenfalls, daß bie
Berufung auf die ftrenge Beweisfraft aud) im pofitiven
Lager nidjt überall gläubige Aufnahme findet. Doc wird
ε ber Theorie des Verf. aud) nicht viel beſſer ergehen.
Was wir burd) die Erregung von außen und die 9teac-
tion von innen in unferem Bewußtfein wahrnehmen, [εἰ
nichts weiter, als daß ein Außending vorhanden fci,
welches bie Gigenidjaft befibe, uns zu der jedesmaligen
Reaction zu zwingen. Wir tragen Dieburd) nichts Inneres
mad) außen, fondern nur ben Grund be8 Inneren vet:
legen toit nad) außen. Die Wahrnehmung [εἰ eine nadte
Grundfegung — feine Gleichſetzung ober gar Ber:
wechslung. Die Örundfegung fei eine unmittelbare,
ober einfad eine Grunderkenntniß. Der Berf. hat
biemit die Wahrnehmung auf die Dinge bireft bezogen,
aber mie biefelbe eine mirflidje Wahrnehmung ber fo
beſchaffenen Dinge ift, hat er bod) nicht bewiefen. Der
Nervenreiz muß bod) ber Befchaffenheit der Gegenftände
entfpreden und baburd) erft die entiprechende Grund-
fegung veranlaffen. Eine Vermittlung ift alfo bod) vor-
handen. Im Weiteren negirt der Verf. das actuelle
Unendlihe in der Mathematit, ben unenbliden Raum
und behauptet die unendliche Theilbarkeit der Körper.
€3 feien überhaupt feine „legten Theile“ anzunehmen.
Dies läßt fid) philoſophiſch allerdings bebuciren, aber
Schneider, Natur, Vernunft, Gott. 675
bie Chemie und Phyfif verlangen Atome und die Mather
mati Tann das actuelle Unendlihe nicht entbehren.
Hierin werden bie modernen Moniften unverbefjerlih
fein und bie Dualiften haben nicht nöthig, es zu beftreiten.
b. Diefe Arbeit ift vom Görresverein unter 8 Ar-
beiten be8 erften Preifes würdig erfannt worden, weil
fie abgefehen von verfchiedenen Mängeln fij „durch
Belefenheit, Scharffinn und Formſchönheit“ wortheilhaft
auszeichne. Indem id) diefe Vorzüge anerfenne und bie
große Begeifterung, mit welcher fid) der Verf. ohne 9tüd-
halt auf den Standpunkt des 5. Thomas ftellt, mit in
bie Wagſchale lege, muß id) bod) bie vom MPreisgericht
beroorgehobenen Mängel anführen, meil mir biejelben
mod) in größerer Ausdehnung aufgeftoßen find. Ich
meine babei weniger bie Freiheit, mit meldet oft ber
Zert bes D. Thomas und ber b. Schrift vergewaltigt
foitb, um ben b. Thomas quand méme nidt nur in
Übereinftimmung mit der modernen Naturwiffenfchaft zu
bringen, fondern fogar zum Fahnenträger zu machen,
als vielmehr bie Einfeitigfeit und Mangelhaftigkeit, melde
das Beweisverfahren au8 ber Patriftif und der Natur:
wiſſenſchaft faft überall aufweist. Gewiß muß es „als
ein Fehler der Methode bezeichnet werden, wenn ber
Verfaſſer gewifje Hypotheſen einzelner Naturforscher, deren
Richtigkeit zu prüfen er nicht im der Lage war, al8 ge-
ſicherte Ergebniffe ber Wiſſenſchaft aufnimmt, um bie:
felden fodann mit Ausfprüchen des Ὁ. Thomas in Pa-
rallele zu fegen, denen nur eine febr gemagte Deutung
einen damit übereinftimmenden Sinn unterlegen Tann“.
Das Gewicht des phyſikaliſchen Vereins in Breslau und
der Herren Aurelius Anderſohn und Dellinghaufen ift
676 Schneider,
mod) lange nicht jo „erbrüdend“, daß bie Vertheidiger
der Newton'ſchen Gravitationstheorie vor bielem Maſſen⸗
brud die Segel ftreihen müffen. Wenn vollends dabei
von einem Plusdruck der Ausftrahlung der Photofphäre
der Sonne auf ihre Planeten und von einem Minusbrud
de3 dunklen Sonnenförpers die Rede ift, fo muß man
vom Standpunkt der neueften Naturwiſſenſchaft aus gegen
ſolche Behauptungen febr bedenklich werden. Daß abet
der Naturanficht des h. Thomas aud) die Spectralanalyfe
zu Hilfe tommen muß, ift nod) auffallender. Wohl leitet
ber b. Thomas bie Bewegung von den Himmelskörpern
ab, wenn aber felbft biefe deßhalb die Natur aller ir-
bifden Elemente der Kraft nad) in fid) Schließen müffen,
fo folgt Feineswegs mit ,metaphyſiſcher Stotbmenbigteit"
daraus, daß mad) Thomas ſchlechthin und ausnahmslos
alle und jede Elemente der irdiſchen Körper in der Sonne,
beziehungsweiſe in ben Himmelskörpern vorhanden fein
müffen. Sonft müßten 3. B. aud) die Samen mandet
Thiere dort fein, weil Thomas jagt: ad generationem
vero quorundam imperfectorum animalium sola virtus
caelestis sufficit sine semine (contr. Gent. 3, 102, 4).
Den Scholaſtikern waren wielmehr die Himmelskörper
leuchtende, unzerftörbare, unveränderlihe Körper (Thom.
eontr. Gent. 3, 82). Ag Nikolaus von Cuſa und Koper⸗
nifus behaupteten, die Erde [εἰ ein Stern, glaubten bie
Scholaſtiker, diefelben träumen, und als Galilei aus ben
Sonnenfleden bie richtigen Folgerungen 30g, verhöhnten
ihn die Scholaftifer. Der P. Scheiner erflärte wegen
des ſcholaſtiſchen Dogmas von ber Beichaffenheit der
Himmelskorper bie Sonnenfleden für befondere, nicht zur
Sonne gehörige Körper. Man vergleiche 3. B. hierüber
Natur, Vernunft, Gott. 677
das vor einigen Jahren wieder ebitte Compendium
totius theologieae veritatis be8 Johannes be Combis
vom J. 1569. Das Kapitel de natura coelorum et
superiornm corporum beginnt mit den Worten: coelum
est corpus purum, natura simplicissimum, essentia sub-
tilissimum, incorruptibilitate solidissimum, quantitate
maximum, qualitate lucidum, disphanitate perspicuum,
materia purissimum ete.
Wenn id im Vorftehenden bie Schattenfeiten befon-
bet8 hervorgehoben habe, jo möchte id) baburd) Feines:
wegs ber Schrift Eintrag thun, fondern mur auf bie:
Einfeitigfeit hinweiſen, melde man nur dann ben Geg-
nern vorhalten fann, wenn man fid) ſelbſt möglichſt davon
fern Hält. Die Naturphilofophie des D. Thomas fteht
immer πο großartig ba, wenn fie aud) nicht bie ganze
moderne Wiſſenſchaft anticipirt hat. Der Verf. ift mit
betfelben ebenfo vertraut als für fie begeiftert und feine
Schrift wird von vielen al3 millfommene Einleitung in
bieje Philofophie begrüßt werben.
Schanz.
4.
Bertholdi a Ratisbona beati fratris sermones ad reli-
giosos XX ex Erlangensi codice unacum sermone in
honorem S. Francisci e duobus codicibus Monacensibus
edidit Fr. Petrus de Alcantara Hötzl, O. Fr. minn.
reff. prov. Bav. Monachii, Huttler, 1882. gr. 4. VIII.
111 p. M. 6.
Das 7. Gentenarium bet Geburt be8 feraphifchen
Vaters veranlafte ben als Schriftfteller bereit rühmlich
678 Bertholdi a Ratisbona sermones ad religiosos.
befannten Sector unb Magifter im Münchener Franzis-
Tanerflofter P. Petrus Hötzl, mit einer erfimaligen
Drudlegung der lateiniſchen Predigten feines Dv
densgenoffen, de3 Minoriten Berthold Ὁ. Regens—
burg, zu beginnen. (τῇ jüngft erhielt das bem gegen-
wärtigen Ordensgeneral P. Bernardin a portu Roman-
tino bebicitte Wert verdiente Auerkennung feitens der
höchſten kirchlichen Autorität, weßhalb aud) eine einge:
bendere Beſprechung besjelben um fo mehr angezeigt
fein dürfte, αἵδ᾽ mit der genaueren Kenntnif bielet
intereffanten Novität der Kreis ihrer Leer fid) erweitern
wird; mit der Erweiterung des Leferfreifes aber aud)
Fortfegung und Vollendung be3 Begonnenen (laut Vor:
wort) gleichen Schritt halten fol.
An der.Spige ftebt eine Predigt auf das Feſt des
BL Sranzistus. Unter Bezugnahme auf den Gal.
VL 14 entnommenen Introitus ber Feftmefje betont bet
Rebner, mie nur im Kreuze Chrifti Franziskus fid)
babe rühmen wollen, aber nidjt etiva im Kreuze be
‚guten und natürlich nod) weniger in jenem des böſen
Schächers; er wählt daher zum Thema die drei Kreuze
auf Golgatba und bie mit jedem derfelben verbundene
vierfahe Schmerzempfindung. (Belanntlid bat ber
dem Bruder Berthold geiftig nüdjft verwandte Alban
Stolz bei einem andern Anlaß, am Feſte des HI. Leo:
degar zu Luzern, 1862 gleichfalls bie drei Kreuze zum
Gegenftand einer Predigt gemacht, und gewährt ein Ver:
glei ber beiberjeitigen Darftellung hohes Jutereſſe.)
Nunmehr folgen 20 der sermones ad religiosos
— mie ber Herausgeber felbft bemerkt, zivar bie Mehr:
zahl ber mit die ſer Beftimmung verfaßten Reden, aber
Bertholdi & Ratisbons sermones ad religiosos. 679
bod) uit ihre Gejammtgabl, wie beni ja aud), von ben
Parallelpredigten abgefehen, bie sermones ad religiosos
et quosdam alios ftreng gerechnet auf 87 fid) be-
ziffern, wovon mande uod) an bie Ordensleute allein
gerichtet eridjeinen; fo bie Nummern 21—31; 85—37;
71 und 76; 91 (richtiger 86) ἢ). Begreiflich laſſen fid)
bier nur bie Themata und eine ober bie andere auffäl-
lige Eigenthümlichfeit der zwanzig Ordenspredigten kurz
hervorheben.
Die erſte handelt von den zehn Kapiteln der
Ordensregel. Wie es 10 Gebote des Dekaloges gebe,
welche jeder zu halten verpflichtet ſei, ſo 10 Kapitel des
Naſiräates, denen kein Religioſer ſich entziehen dürfe,
und zwar beträfen bie erſten 5 Kap. das, was zu laſſen,
die folgenden 5 das, mas zu thun fei. Sehr finnig wird
3. 8. im 1. flap. die Enthaltung vom Weine und allem
berauſchenden Getränke von ber Enthaltung gegenüber
finnlihen Vergnügungen überhaupt gedeutet; dagegen
im 2. Kap. bie Enthaltung vom Eifig, ber aus bem
Weine gewonnen worden, auf bie Enthaltung aud) von
der Erinnerung an bie früher genofienen Bergniü-
gungen. Sei ja diefer Eifig der (faure) Weberreft vom
einftigen (füßen) Weine. Oder unter bem pofitiben
Geboten wird 3. 8. das 8. (beziv. 8. ftap.), monad) der
Nafiräer einen madellofen Widder zu opfern Dat, dahin
gebeutet, daß der nad) evangeliſcher Vollkommenheit Ring:
ende ungeorbneten Neigungen fofort, dem Widder gleich,
beberzt die Stirne bieten müffe.
Die zweite Predigt verweist auf Erde, Fir:
1) Bgl. Jakob, bie lat. Reden be8 feligen Berthold v. 9te«
genburg. Man, 1880. ©. 38.
680 Bertholdi a atisbona sermones ad religiosos.
mament unb Empyreum als 8 Büchern des religi-
Öfen Lebens, worin bie auf den 3 Stufen ber Asceſe
SBefinbliden: nämlich die Anfänger, Fortſchreiten—
den und Bollendeten lejen müßten. So fónnteu
3 Ὁ. die Anfänger von ber Erde ein Zweifaches
lernen: daß, wie die Erde fid) nad) den Geftirnen oben
richte, fo aud) fie nad) den Befehlen Gottes und feiner
Stellvertreter, der Oberen, fid) richten, bap, wie bie Erde
nicht falle troß ihrer Schwere, aud) fie vor ſchwerem
Falle fid) hüten trog ihrer zum Falle geneigten Natur u. f. f.
In ber dritten Predigt werden breierlei Arten
von Religiofen beſprochen. Die ertaltetem gleichen
dem Grabe de3 Herrn παῷ feiner Auferftehung; wie
Petrus darin aud) mur bie Linnen be Herrn fand, nicht
mehr biejen felbft, fo haben derartige Ordensleute wohl
aud) πο das geiftlihe Gewand, jebod) nicht mehr ben
geiftlihen Sinn. Die Lauen haben Aehnlichkeit mit
bem Raude. Wie diefer, je länger er fteigt, befto mehr
fid verflüchtigt, jo pflegen diefe um fo läffiger zu wer⸗
ben, je länger fie im Orden leben. Hingegen find bie
Eifrigen in feter Vorwärtsbewegung begriffen, frei-
lidj bald langíamer, mad) Art ber Schildkröte, bald
raſcher, wie e8 bem Hirſche eigen.
Sehr anjpredjenb unteridjeibet die vierte Predigt
eine zweifache Gnade: eine allgemeine, kraft deren
ber Menſch überhaupt gerettet wird, und eine befou-
dere, burd) melde er fid im Falle der Mitwirkung
nod) eine bejonbere Herrlichkeit im Himmel zu erringen
vermag. Eben diefe legtere Gnade verfüße das feiner
Natur mad) Bittere in einem Maß, daß z. B. einem DL
Stephanus der Steinregen wie ein erquidender Wafler-
Bertholdi a Ratisbona sermones ad religiosos. — 681
tegen vorfam. Allein diejenigen, welche unter ber Wucht
midjt erft der Schläge, fondern [don der Schlagwörter
(non verberum sed verborum) jammern und feufzen,
hätten fiherli an diefer befonderen Gnabe feinen
Theil.
Symboliſch veranfhauliht ibm in der fünften
Predigt der fiebenarmige Leuchter jene Tugenden, von
deren Pflege ber fittliche Fortſchritt des Neligiofen vor⸗
zugsweiſe abhängt. Ohne eine getviffe an Künftelei ftreis
feube Willkürlichkeit fanm e8 bei foldem Symbolifiren
allerdings faum abgehen; dennoch macht e8 bem Scharf-
finne B.'s gewiß abermals Ehre, wenn er analog ben
2 mal 3 Geitenarmen des Leuchters 2 mal 3 einander
entjpredjenbe Tugenden hervorhebt. Der gerade Stamm
in der Mitte bedeutet ibm den HI. Gleihmuth, meldjer
den Chriften gleihmäßig vor Leichtfinnigfeit bewahrt, wie
vor deren Gegentheil — der Tieffinnigfeit.
Abweichend von ber gewöhnlichen Darftellungsweife,
wonach δαδ neuteftamentlihe Schwefterpaar Martha
und Maria zu Vertreterinnen des thätigen und be-
idauliden Lebens gemadt werben, bezieht fid) Bru—
ber 3B. in ber achten Predigt zu bemjelben Zwecke auf
das altteftament(ide Schwefterpaar ia und ϑὲ α ὦ εἴ.
Do bie geuauere Begründung und Ausführung biejes
anfprechenden Gedankens bietet erft bie folgende (neunte)
Predigt. Damit verwandt zeigt fid) die Applikation,
welche B. in der elften Prebigt hinſichtlich ber beiden
(2 fón. XVIII, 23 erwähnten) Läufer Davids, des
Chuſi unb Achimas, madt. Von ihnen habe ber
zweite bem erften überholt, weil er den kürzeren, wenn:
ſchon beſchwerlicheren Weg zu David zu gelangen ein-
Set Dwartalfgprift. 1885. Heft V. 45
682 Bertholdi a Ratisbona sermoneg ad religiosos.
ſchlug, um ihm ben Ausgang ber Abſalom'ſchen Schlacht
mitzutbeilen. So führen 2 Wege zum Himmel, ein
näherer und ein meiterer; ein mehr unb ein weniger
volfommener; einer, auf welchem man auf bie geringe
ften, und ein anderer, auf meldem man nur bie [dme
ren Sünden zu vermeiden Deftrebt fei.
Geiſtreichſt weiß B. in der zmÖlften Predigt bem
Speifelanon des Leviticus eine umfafjende morglifche Ac-
commodation zu geben. Je uad) ihrer Eigenart bezeichnen
ihm die reinen wie bie unreinen Vögel beftimmte fittli-
de Vorzüge unb bezw. Gebrechen. Ueberaus künſtlich
gliedert fif) bie vierzehnte Predigt. B. erörtert
darin bie ernfte Frage, weßhalb ein Rückfall bei Religiofen
gefährlicher fei als bei Weltleuten. Von feiner unver
Teuubaren Vorliebe für den Ternar [prid er wohl, iw.
dem er uun nicht mir gerade drei Punkte benennt, ſondern
aud) jeden berjelben minder in drei Unterabtheilungen
zerlegt.
Sehr erbauli ohne Zweifel Leitet bie fed) zehnte
Predigt die Bezeichnung „Geiftlihe“ davon her, daß bie
Gottgeweihten ebenjo nad) bem HI. Geiſt e als ihrem Lehrer
benannt würden, wie bie Platonifer z. Ὁ. nach Platon.
Umgekehrt muthet eà wie der derbe Realismus des bod
viel fpätern Abraham a Sta. Clara an, wenn bie fieb-
zehnte Predigt näher ausführt, wie in der Kirche des
Serm und im flofter die Religiofen ihrer Haut und
ihres Kopfes b. D. ihres Eigenthumes und Eigenwillens
entäußert werden; hierauf würden fie auf verfchiedene
Weife zubereitet: nümlid) vom Prälaten oder andern
Drdeusvorgejegten gebraten; butd) die in ber Regel
vorgeldjriebenen Uebungen geröftet, während ber böfe
Bertholdi a Ratisbona sermones ad religiosos. 683
Feind das Salz und bie Mitbrüder ben Pfeffer beforgten.
Db mun eine bem Herrn ſchmackhafte Speife zu Stande
gefommen, erkenne man, wenn alles Blut vom Fleiſche ab:
gefloffen, was foviel fagen mill, als: wenn bte im Blute
ſymboliſirte Sünde abgethan fei, und das Fleiſch, gar ge:
kocht, nicht jenem einer alten Gans gleiche u. |. w., endlich,
wenn fid) das Fleiſch vom Knochen leicht ablöfe, ohne
Bild: wenn der Religiofe vor dem Tode — .ber Scheis
bung von Haut und Bein — feine Furcht habe.
Die burdjgebenbe und eingehende S8erüdfidjtigung
des alten Teftaments für homiletifche Sede, welche erft
in neuerer Zeit wieder mehr in Gebraud) kommt, begeg⸗
net bei B. aud) nod) in ber achzehnten Predigt, o-
felbft er unter Sugrunbelegung von Geneſis c. VII.
zwiſchen Noes Arche und bem Klofter eine Parallele
zieht; ferner in der neungeDnten Predigt, mo er mit-
tel3 einer S8etradjtung über Tobias c. X. das brüut:
lide Berhältnis der Seele zu ihrem Heilande originell
burdfübrt, während ihm in der zwanzigften Predigt
ſchließlich Oſe as c. IL. zum Anlaß dient, in 9 Punkten
die Vorzüge des klöſt erlichen Lebens vor jenem ber
Weltleute zu erhärten.
Der Herausgeber founte fid) nicht völlig der Be:
forgnis entſchlagen, e8 möchten nur bie philothei, nicht
qud) bie philologi an dem veröffentlichten Werke ein In⸗
terefje nehmen. Nun wird freilich in erfter Linie ber
Gzegete, ber Liturgifer, ber Homilete, kurz ber
Theologe reihe Ausbeute finden. Erfterer wird nit
überfehen, daß gerade bie ſämmtliſchen beuterofano-
niſchen Bücher, einjdjlieflid) eines deuterofanonifhen Be-
Randtheiles vom Eftherb., zu Belegen Berwendung
45 *
684 Bertholdi a Ratisbona sermones ad religiosos.
fanden, wogegen aud) nit ein einziges apokryphes Buch
berüdfichtigt ift; e8 wird ihm nicht entgehen, welde Ver-
trautbeit B. mit den Vätern, vornehmlich Auguftin, Qie-
ronymus, Gregor; aber aud) mit den Spätern, wie Pa-
ſchaſius Radbertus, Hrabanus Maurus, Anfelm, Richard
a B'^ Victore allenthalben an den Tag legt. Der 9i
turgifer wird mit Befriedigung gewahren, wie B. mehr:
fad) 3. B. in der 13. Predigt aus ber Perikope des Ta:
ges feinen Vorſpruch wählt; mie zu B.'s Seit nament-
lid die Stiftung von Samftagsmeflen (SBotiomefjen
zu Ehren ber aller. Jungfrau) eine ftebenbe Gemohn:
heit des Marienkultes geworden. Am meiften allerdings
wird ber Qomilete aus B.'s Predigtweife Nugen ziehen
können. Die bilderreihe, fententiöfe, durchaus ſchrift⸗
mäßige und bei alledem volksthümliche Behandlung, mel-
der diefer größte Prediger Deutihlands im Mittelalter
feine Themata unterftellte, bleibt ja muftergiltig für alle
Seiten. Und dabei eignen den lateiniſchen Prebig-
ten 35.8 ganz ent[djiebene Vorzüge vor den deutſchen,
tie eine Vergleihung von gel Ausgabe etwa aud
mur mit ber Göbelihen auf den erftem Blic zeigt. Die
oft Fünftlerifhe Gliederung ber sermones ad religiosos
würde man in ben deutſchen Predigten vergeblich ſuchen;
dagegen fehlen den sermones jene mitunter herben und
berben Anfpielungen auf die Juden, auf bie Niederlän:
ber (verftehe Norddeutfche), wovon bie beutjdjen Predig-
ten fij nicht ganz freihalten. Indeß aud) der Philos
loge unb der fulturbiftorifer darf es entfernt
midt bereuen, eingehender dieſe sermones fid) anzufehen.
Ihn mag e8 wohl überrajden, bei dem fchlichten Mönche
midt allein eine au$gebreitete Kenntniß ber fajfijfen
Bertholdi a Ratisbona sermones ad religiosos 685
Literatur anzutreffen — Artftoteles, Seneca, Ovid werben
häufig citirt, einmal audj der fonft wenig bekannte 9tn-
ticlaudian; mehr nod) erregt Bewunderung bie meijt
gang zutreffende Deutung der hebräiſchen Cigenna-
men. Abgefehen von ber keineswegs unbeträchtlichen
Zahl lateiniſcher Neologismen dürfte die Aufhellung mans
Ger nicht mehr verftändlichen Anfpielung und bezw. Wort⸗
bedeutung, wie 4. 3B. sinirlus, sturdus ete., den Reiz,
38. näher zu ftubierem, fteigerm. Wenn man liest, daß
ein Religiofer, ber feine fürfl. Stellung zum himml.
König Chriftus verfennt, einem Färntifchen Herzoge gleiche,
ber in einem den Unftand verlegenden Aufzuge am fai-
ferlidjen Hofe erſchien, jo erfieht man hieraus, daß aud)
der damaligen Zeit ein Mentſchikow nicht fehlte. Die
vergleichsweiſe gemachte Angabe, ein armer Händler mit
Glasſpielwaaren verdiene nur 3 Pfennig oder höchſtens
3 Bebner für den Tag, während der Verfäufer koſtbarer
Stoffe mohl 10—20 Mark (X vel XX marcas) täglich
gewinne, wirft ein Licht auf bie merfantilen Zuftände
jener Tage. Oder die Klage darüber, daß bereits bie
Novizen Sandalen, Strümpfe, Schlegel und fonftige neue
Bekleidungsſtücke trügen; daß bie gefundeften und ftärk-
ftem aus ihnen nad) ber Mette bloß einige kurze Gebete
wiederfäuten (paucis oratiunculis ruminatis) und dann
ſchliefen, ftatt zu betrachten, zeigt, wie die urfprüngliche
Strenge der Regel gar bald wenigftens in mandjen Häu-
fern fdjon einer gewiſſen Verweichlichung melden mußte.
Iſt e8 geftattet, zulegt nod) einem faum unberech⸗
tigten Wunſche Ausdrud zu geben, fo möge der Heraus—
geher bie Bitte um größere Aufmerkfamteit betreffs Ver-
hütung von Drudfehlern bei ber bemnüdjftigen Fortfegung
686 Kleutgen,
diefer wirklich großartigen Rovität nicht unerhört laſſen,
denn baà minima non curat praetor gilt bod) keines -
wegs aud) für ben editor!
Regensburg. Schenz.
b.
Institutiones theologicae in usum scholarum auctore
Josepho Kleutgen S. J. Vol. 1. praeter introduc-
tionem continens partem primam, quae est de Ipso
Deo. Cum approb. Ordinarii. Ratisbonae Pustet. 1881.
XVI. v. 751 8.
Diefer muftergiltig ausgeftattete erfte Theil eines
Werkes, welches, auf acht Bände beredjnet, unfere ge:
fammte bogmatijde Theologie mad) dem Borbilde bes
Hl. Thomas Ὁ. Aquin darftellen fol, entwidelt einlei-
tungétoeije vorwiegend im Anſchluſſe an die theologiſche
Summe be8 engliihen Lehrers ben Begriff und Gegen-
ftand, ben Zweck und Werth, die Methode und Einthei-
lung ber Glaubenswiſſenſchaft. Weiterhin wird bie theo-
logijdje Principienlehre im allgemeinen und der Begriff
des Dogma’3 fowie ber theologiihen Sentenzen und
Genfuren im befonderen dargelegt. Das erfte Bud
unſeres erften Theiles führt bie allgemeine Gotteslehre
vor, die CrfenntniB und ben Beweis, den Begriff, bie
Eigenfpaften und die immanenten Thätigfeiten Gottes,
endlich bie fog. Transcendentalbeftimmungen des Gottes:
begriffe8 (veritas, bonitas, pulehritudo divina). Das
zweite Buch enthält bie Trinitätslehre. — Der berühmte
und verbienftvole Verfafler (T 14. Jan. 1883) will in
philoſophiſcher und theologiſcher Qinfijt den Spuren
Institutiones theologicae. 687
unſerer großen Ahnen folgen, bie verkehrterweiſe fo fange
vergefien und verachtet waren. Die alterprobten Ideen
follen aber unferer Zeit angepaßt werden. Darum wär
es untbunlid, ben hl. Thomas einfach zu reproduciren.
Auch die ftrengften Thomiften, ein Gonet, ein Billuart,
haben bie Summe be& engliichen Lehrers nicht bloß zeit⸗
gemäß umgearbeitet und ermeitert, fondern ſelbſtändige
Werke geſchaffen, nur darauf bedacht, die Lehren des
Heiligen treu zu bewahren, zu erklären, zu vertheidigen.
Alfo wäre die Philoſophie und bie dogmatifche Theo:
Togie nicht etwa Furzerhand „thomiſtiſch“, ſondern ſowohl
dem Lehrinhalt als der Lehrweiſe nach «ad mentem
S. Thomae» zu behandeln.
Ad mentem sancti Thomae! Was läßt fid nit
alles beden unter biejem Schilde! Die praemotio phy-
sica fammt der scientia media! Wie unfaplid) ift der
Begriff „Geift“ ber Seit, ,Geift" des DL. Thomas ober
Auguftinus, „Geift“ eines Ariftoteles unb Plato! Wir
verftehen e8, wenn der Geiſt eines hl. Thomas beftimmt
wird als Geift ber bemütpigen Glaubenstreue, als Geift
der logiſchen Strenge und gemwifjenhaften Umficht in ber ἡ
Bemeisführung, als fromme Begeifterung für das Jdeal
ber Wiffenfhaft und des Glaubens. Aber zur Aner⸗
Tennung des „echtthomiſtiſchen Geiftes”, des „ſyſtema⸗
iijden" und „pragmatiihen Geiftes“ der theologiſchen
Summe — im Unterfchied etma von den anderen Werken
des Heiligen, ober ber Werke anderer Autoren — ba
wollen wir oft genöthigt werben burd) einen Beweis des
nGeiftes unb ber Kraft”, wie denfelben die „innere Er:
fahrung“, das „harmoniſch geftimmte Gemüth“ des
Sybealptoteftantiómu für die evangeliihe Reichswahrheit
688 Kleutgen,
und Heilsthat erbringen zu können vorgibt. Jede Kritik
an gewiflen Sägen des bl. Thomas, ja idon an ge
wiflen Formeln des Ariftotelicismus wird oft mur be.
balb für möglich gehalten, weil ber Kritifer von bem
Geifte des hl. Thomas eben feinen Hauch verfpüren fol.
Dber man fagt gar, ber unberufene Kritiker verftoße
pietätswibrig und abfidtlid) gegen dieſen Geift.
Wiſſenſchaft Tann man fold) farbenreihe Schlag:
worte nicht immer nennen, und wiſſenſchaftliche Förde:
rung fünnen fie ebenfowenig bireft bringen, als ber
„hiſtoriſche Sinn und Saft" unmittelbar den Hiftorifer
macht. An Kleutgens Werk im allgemeinen müflen wir
anerkennen, daß e8, was fein Berfaffer für dem
Geift des DL. Thomas Hält, beftimmt und anſchaulich,
meift in treffember Sprache wiedergibt und dies aud
dort, wo midt bie eigenen Worte be8 DL Thomas ge:
nannt find, too andere Autoren rebenb eingeführt met.
den. Letzteres gefchieht febr oft, und find von ben
Vätern befonders reichlich die Werke des bL. Auguſtinus
benügt; baf auf bie gelehrten Arbeiten aus bem
Syefuitemorben mit Vorliebe, jebod) ohne Voreingenom⸗
menheit verwiefen wird, fol nicht verſchwiegen fein.
Befonders rühmend heben mir e8 hervor, baf ber ge
wandte, vielbelefene Verf. bie ſcholaſtiſchen Formeln mit
größtem Gejdjide zu beleuchten, die Gefäße, welche ben
mGeift“ unferer mittelalterlichen Heroen bald mehr bald
minder glüdli aufbewahren, durch paſſende Vergleiche
und ohne breiten Aufwand gelehrter Mittel durchfichtig
zu maden meif. Keiner Subtilität, und beruhte fie
gleid) mur auf einem „Wortgefecht“ oder einem „Schul
freit“, weicht Kleutgens Griffel aus. Der Schüler,
Institutiones theologicae. 689
beffen Befangenheit amfünglid) ebenfo menig wie bie
Dberfläclickeit von gewiſſen Gelehrten mit ber Blafjen
und ſchattenhaften Schulſprache der chriſtlichen Vorzeit
etwas zu beginnen verfteht, der Schüler vor allen muß
e$ freudig und banfbar begrüßen, wenn er fieht, mie
bie begriff-gliedernden Diftinktionen durch einen ſcheinbar
oft nebenfächlihen Zug, dur eine bloß ranbeinfaffenbe
Arabeske ihr eigenthümliches Licht erhalten.
Eine ganz andere Frage bleibt Hier aber nod) zu
löſen. Es fann fid) für bie miffenidaftlidje Erkenntniß
und zumal für die wiſſenſchaftliche Vertheidigung unferer
Dogmen heute nicht bloß darum handeln, ob bie ſcho—
laſtiſchen Formeln, die dortmaligen Erflärungsmittel
verftanden werben ober nit. Diefe nicht zu umgehende
Unterfuhung hat e8 mur mit den technifchen Vorfragen
zu tun. Die Hauptfrage if aber bod) bie, ob jene
ſchulgerechten Erflärungsmittel, deren volles Ver—
ftánbnif voransgefegt, allgemein berechtigt, alfo
für alle Zeiten genügend, fomit aud) für ung befriebi-
gend find. Die Frage in ihrem .gamgen Umfange zu
bejahen wagt heute fein Neufcholaftifer mehr, und bie
Kontroverfe dreht fijj nur barum, intoiemeit bie
LZöfungen der Alten ausreihend, inwiefern fie wirk—
lide Löfungen wirklicher, aud) uns brüdenber Schwie-
rigfeiten find. Den Streit völlig zu ſchlichten, mag
wohl niemals gelingen; denn fogar bei bem logiſch
dürrften Erörterungen mifcht fid) bi8 an eine gemwifie
Grenze hin der Gejdmad bes fubjektiven Meinens un-
verfehens ein, und leiht fo bem Wiffen feine Färbung.
Sonach ift zweierlei leicht zu erflären, daß bie 1dola-
ſtiſche Wiſſenſchaft einmal überfhägt und daß biefelbe
600 Kleutgen,
anderntheils febr unterfhägt werden Tann und dies heute
mod) wird. Die zum voraus und rüdhaltslos erklärten
Freunde unferer ehrwürdigen Vorzeit haben ben Vor—
theil, daß ihre Aufftellungen in possessione find; bie
Kritik, aud) wenn fie vom beften Willen befeelt ift und
die eigentlichen, wufterbliden Verbienfte der Ahnen viel»
leicht beffer zu mürdigen weiß al8 die ungehemmte Ber
geifterung, bat immer mit einem gewiſſen Dbium zu
ringen. Kleutgen verftebt 8, den augebeuteten SBortbeil zu
nügen, namentlich bei ber Zurücweifung der Obiectiones;
ba8 αὐτὸς ἔφα, bie Art von Abfolutheit, melde je älter
befto mehr bie Denkſymbole großer Geifter umkleidet, wird
oftmals in den Vordergrund geftelt, und gerade hiedurch
teitt ba8 Symbolifirte, ber „Geiſt“ nicht jelten zurüd.
Wir nennen Ein Beifpiel ftatt vieler. Seite 267
beißt e8: Aliud est infinitum simplieiter seu secundum
essentiam, aliud infinitum secundum aliquid. Quod
igitur simpliciter adeoque omnibus modis est in-
finitum, non potest esse nisi unum; nihil autem
Obstat, quominus plura sint infinita secundum mo-
dum aliquem. Et quamvis in horum unoquoque
suo modo rerum sit, quod de infinito dicitur, nihil
eo maius esse, tamen plura huius generis infinita sin-
gulis ampliora sunt, id quod etiam videmus in numeris
accidere: nam species numerorum parium sunt infi-
nitae et species numerorum imparium, et tamen nu-
meri pares et impares sunt plures quam pares. Was
baben diefe Worte, melde zufammengezogen find aus
ben Löfungen der zweiten und britten Objeftion zum
Artifel Utrum anima Christi in Verbo cognoverit in-
finita (S. th. ΠῚ q. 10 a. 8), beim hl. Thomas ſelber
Institutiones theologicae. 691
für eine Bedeutung? Der Unendliche ift mur Einer;
bie Verwirklichung des Begriffes infinitum simpliciter
kann ontologijd) nur einmal fein. Dagegen if e3 logiſch
fein Widerſpruch, mehrere Unendliche sensu abstracto
(infinita secundum quid) neben einander zu benten.
B. B., mie e8 am citirten Orte bei Thomas genauer
beißt, fónnen mehrere mathematifhe Unendliche, eine
unendliche Linie und eine unendliche Fläche, eine unend⸗
lide Reihe aus lauter geraden und eine folde aus
lauter ungeraden Zahlen febr wohl neben einander fein.
Der „Geift” des Dl. Thomas ift alfo enthalten in ber
Thefe: ber Umftand, daß das Denken in mehreren
Formen das Unendliche imaginiren Tann, beweist nicht,
daß das Unendlihe mehrmals fein müßte. Der
bL Thomas mil mithin vor bem logiſchen Fehlen ber
μετάβασις εἰς ἄλλο γένος, be8 Abſpringens vom Denken
auf das Sein warnen. Aber bie formelle Begründung
des materiell burdjaus richtigen Sages ift minder glüd-
lid. Denn es ift unrichtig, mehrere infinita secundum
quid im rechnenden ober imaginirenden Denken neben
einander anzunehmen. Die Idee be8 Unendlichen
(ratio superior infiniti) ijt aud) mur Eine, menugleid)
ber Geift ihr in mehreren Formen (species), analptijd)
ober konſtruktiv, zählend oder meflend, eine Derleib-
lidjung geben Tann, (8. ift unzutreffend, wenn Kleutgen
mit bem bL. Thomas?) fagt, daß bie Reihe aller ges
1) Cfr. 1. c. Infinito simpliciter et quoad omnia nihil eet
maius; infinito autem secundum quid determinatum non est
aliquid maius in illo ordine, potest tamen accipi aliquid maius
extra illum ordinem. Per hunc igitor modum infinita sunt
in potentis creaturae, et tamen plura sunt in potentia Dei
quam in potentia creaturae.
692 Kleutgen,
raben Zahlen und ebenfo bie ſämmtlichen ungeraden je
unendlid groß und daß beide Reihen zufammen größer
feien als eine allein. Das ſcheint mur fo zu fein; bie
(pofitiven und negativen) Unendlichen ber Mathematik
find bloße Phänomalbegriffe. Der Schein vermag fid)
nur folange zu behaupten, al8 das Denken vergißt, daß
e8 ziveimal, in zweierlei Richtung Dasfelbe imaginitt,
daß e8 zweimal biefelbe Summe gezählt bat, und
meint, die doppelte Zählmeife verbopple bie Summe
felber ἢ. Gegen ben Geift des HI. Thomas verftoBeu
mir fiherlih nicht, menn wir bie abftrafte Hülle, in
Toeldjer er fid) bier hat eine Form geben wollen, als
abftraft unfruchtbare zurüdweifen. Vielmehr glauben
mir und dem Geifte be8 englifchen Lehrers viel näher,
wenn wir mit bem Gedanken Ernſt maden: ber unb
das Unendliche find ja nur einmal, ontologifch ber Ab⸗
folute, logiſch bie Gottesidee (ratio superior infiniti).
Unter bem angebeuteten. Gefihtöpuntte müflen wir
ziemlich viele tom bem Obiectiones und Solutiones bei
Kleutgen für gegenftandslos erflárem. Zwar wird bie
formale Kunft des Diftinguirens, melde überall zu Tage
tritt, immer ein treffliches exereitium ingenii bleiben.
1) Syeinbar richtig, b. 5. formel ftimmenb ift:
L944464--04- 5... m τα cu
IL 149457 HH 0.0... s n — c, alfo
(24-6... mHHl4sH)... o n— oH.
X patfüd id) aber verhält e8 fid) fo:
Lene... τ τε o
LIHHHHF. νυν ον n— o.
Beides ijt dasſelbe; m u. m find beliebige verſchiedene Zeichen
für biefelbe Sache, für ben Reft, welcher zwiſchen einer endlichen
Summe (Reihe) aus lauter Einheiten und zwifchen ber unendlichen
Zahl tiegt.
Institutiones theologicae. 6938
Allein bie abftrafte Fertigkeit des Rechners ὁ. B., mel-
der mit Sicherheit die mathematifhen Vorzeichen zu
behandeln weiß, vermittelt nidjt von felber die Cinfidt
in den piychologifchen Grund für bie Segung der Zeichen,
in bie noetiſche Möglicpkeit für die beliebige Auswahl
bei den Bezeichnungen Einer Gedankenfunktion. Be—
redmem ift nod lange nicht Berftehen, unb Ver:
ftebeu nod) nicht Erkennen.
Yu Betreff ber Einzelheiten erlauben wir uns nur
auf menige8 Dingumeijen. Die Väter werden auf Grund
einer mehrfach angezogenen Stelle bei Gregor Naz. in
der natürlichen Gotteserkenntniß einfach zu Ariftotelifern
gemadt. Die Begründung bet scientia Dei media
gehört wohl zum Wenigftgelungenen (€. 267—286). Die
geichichtlich verfolgbaren Stadien in der Erkenntniß ber
göttlihen Trinität find nicht völlig gewürdigt (€. 647 ff.).
Die Beiprehung be8 komma Johanneum (1%0h.5,7f.)
beftreitet die Nechtgläubigfeit jener, melde deflen
formelle Seite aud) nur in Zweifel zu ziehen wagen
(5. 519). Dr. Braig.
6.
Die Bilanzenwelt als Schmud des Heiligthumes
und Sronleihnamsfeites im Allgemeinen
und Sejonberen für Geiftlihe und Laien von
Arnold Rütter, Pfarrer in Erfweiler bei Blieslaſtel
QGBfafg). Mit 53 Abbildungen. Mit oberhirtlicher
Druderlaubniß. Regensburg, Puſtet 1883. VI. u. 152
©. 8. Pr. M. 1. 40.
694 Nütter,
Ein allerliehftes Büchlein, in weldem ein Land-
pfarrer, zugleid ein Blumenfreund und ein Freund des
Gotteshaufes unb feines Schmudes, in anſpruchsloſer
Sücije zeigt, wie viele ſchöne und bebeutiame Seiten
man einer harmloſen Liebhaberei abgewinnen und mit
wie einfaden Mitteln, in ber Kunft wie in der Natur,
Großes und Manigfaltiges erreicht werden fanm. Gerne
widmen wir daher bem Schriften an diefem Orte eine
empfehlende Erwähnung, ſchon um ber Stellung willen,
melde bie Pflanzenwelt in der’ riftlihen Symbolik und
der kirchlichen Liturgie einnimmt. Bon einer mehr
theoretiihen Bedeutung ift, was der Verf. in bem An-
fangsfapiteln mitteilt unter den Titeln: Die Pflanzen
in der Hl. Schrift. Symbolik in ber Pflanzenwelt. Die
Blumenſprache. Berechtigung der Pflanzenwelt als
Schmud des Heiligthums. Geſchichtliches über biejen
Gegenftand. Vorſchriften ber Kirche. — Mehr am
Herzen aber liegt ibm ber praftifhe Theil, in welchem
er zeigt, wie ein rechter Blumenfreund für jede Jahres»
zeit fid) Pflanzen und Blumen beforgen fünne, melde
geeignet find, die Kirchen und Altäre je mad) bem litur-
giſchen Bebürfniffe zu zieren. Richtige Pflege der
Pflanzen, weife Vertheilung des Schmudes und fodann
gewiffermaßen Einführung in bie Aefthetif der Blumen-
welt, das find die Ziele, worauf Pfarrer 9tütter hin
feuert. Dann werden im einzelnen bie verſchiedenen
Pflanzen bejprodjen, welche überhaupt in Betracht fom:
men fónnen, wilde Blumen, einjährige, zweijährige und
perennivende Gartenblumen, Zierſträucher und Topf:
bäume, Kalthaus: unb Warmhauspflanzen u. |. m. Es
folgen Rathſchläge für befondere Decorationen, 2. 3.
bie Pflanzentvelt a8 Cxjmud des Heiligthums. 89b
em Fronleichnamsfeſte, für S:taianbadten, Krippen unb
heilige Grüber, Kichhöfe. Am Schluſſe folgt gar mod)
ein Preisverzeihniß von einer Erfurter Gärtnerfirma,
melde dem Verf. aud) bie Cliche's zu 53 Abbildungen
zur Verfügung geftellt hat. ᾿
Das Schriftchen macht weder auf Vollſtändigkeit
mod) auf wifjenihaftlihe Bedeutung Anfpruh und e8
ift felbft auf die Darftelung weniger Werth gelegt als
man nad) ber äfthetifirenden Richtung des Verf. eigent-
lid) erwarten follte; eà wäre aber ungeredt, hier beu
Maßftah einer ftrengen Kritik anlegen zu wollen... Wir
Tönnen nur jagen, daß wir mauches Belehrende und Be—
berzigenswerthe in bem Buche gefunden haben und daß
es in feiner Art wirklich geeignet ift, zur Beförderung
der Ehre Gottes und zur Verherrlihung des Gottes:
bienfie8 beizutragen.
Die Urtheile des Verf. find verftüánbig. Nur in
einem SBunfte ift er nicht ganz anſpruchslos. Er ift
memlid) fo febr von Eifer für feine Sache erfüllt, dag
er in eine fromme Zudringlichfeit verfällt und gerne
mit Berufung auf Gewiſſenspflichten erzwingen möchte,
was Sache freier Wahl fein und bleiben muß. Wir
laſſen im Princip. ihm alles gelten, was er fagt über
das Geziemende des Pflanzenſchmuckes beim Gottesdienft,
über den Vorzug lebender Pflanzen und natürliher
Blumen vor bem Fünftlic gemachten, über die ſchuldigen
Rückſichten auf rituelle Vorſchriften unb den Unterfchied
δες liturgiſchen Feſte und Seiten, ſowie auf ben der Kirche
geziemenden Anſtand wie nicht minder auf nothwendige
Schonung ber Altäre, Kirchenwände u dgl. Aber das
Ganze gehört bod in das Gebiet ber Liebhaberei und
696 Pfahler,
des ſubjektiven Geſchmades, des Dilettantismus im beſten
Sinne, und das fol man mit einer gewiſſen Freiheit —
für ben Pfarrer und für die Pfarrkinder — behandeln.
Linfenmann.
7.
Die Bonifatianijge Brieffemmlung. Chronologifch geordnet
und nad ihrem wejentlihen Inhalt mitgetheilt von
6. Pfahler. Heilbronn, Schell 1882. IX. 117 ©. 8.
Bor 2 Ya Yahren waren wir im ber angenehmen
Lage, eine duch umfaſſende Gelehrſamkeit, weite Geſichts⸗
punkte, warme Auffaffung und {τς Darftellung fij
auszeichnende Monographie über bem HI. Bonifatius zur
Anzeige bringen zu fünnen (Du. Schr. 1881 €. 160 f.).
Der Verf. derfelben bietet ung in der vorftehenden Schrift
gleihfam al8 Ergänzung derfelben eine weitere Arbeit.
Die große Bedeutung, melde bie bonifatianijde Brief:
fammlung nit bloß für bie Geſchichte des Apoftels
Deutſchlands, fondern für bie Geſchichte ber damaligen
Zeit überhaupt befigt, legte ibm den Gebanfen nahe,
den wefentlichen Inhalt derfelben zufammenzuftellen und
die Briefe zugleich unter bem Gefichtöpunfte ihrer Ab:
faffungszeit einer erneuten Prüfung zu unterziehen. Er
theilte die Briefe in jener Beziehung in drei Klafien.
Im erften Abfchnitt werden die Briefe von und aus
England mitgetheilt; im zweiten kommen zur Sprache
die Briefe und Altenftüde von und au Perſonen des
fränkiſchen Reiches und der angrenzenden Provinzen, im
Bonifatianifge Brieffammlung. 697
dritten Br. und 9L aus und mad) Italien, namentlich
aus und nad) Rom. Die hronologifchen Bemerkungen
find diefen Abſchnitten eingereibt und mit der Befpre-
Kung der einzelnen Briefe verbunden. Sie geben zumeift
eine genauere Präcifirung bes unbeflimmteren und mei-
teren Datums von Jaffs. In mehreren Fällen wird
aber befjem Chronologie aud) ganz verlaffen. So ftehen
fi dei Ep. 77 die Daten 732—51 (Jaffe) und Anfang
ber 20iger Jahre (Pfahler) gegenüber; bei Ep. 62 bie
Daten 74447 und nüdjte Zeit nad 735; bei Epp.
40, 43, 54 bie Daten 741, 743, 746 und 747, 742, 742,
Die neue Chronologie wird die Beachtung ber Bonifa-
tinsforfcher verdienen. Zu münjden wäre nur geweſen,
der Bf. möchte ber chronologiſchen Unterfuhung einen
bejonbern Abicpnitt gewidmet ober bie Ergebniffe feiner
Forſchung mwenigftens Kurz und überfichtlih zufammen-
geftellt haben. Seine Aufftelungen mürben dann an
Gewicht gewonnen haben, während fie jegt über bem
Juhalt der Briefe etwas gurüdtreten. Indeſſen [εἰ bie-
fer Punkt nicht zu ftark betont, ba bie Zeit der Briefe
eben vielfach nur aus bem Inhalt zu beftimmen if. Die
Schrift wird namentlich allen denjenigen willfommen fein,
welche nicht in ber Lage find, bie hochwichtige bonifati-
anijde Brieffammlung, [εἰ e8 im Urtert oder εἰ e8 in
ber Ueberfegung, jelbft zu lejen.
Sunt.
8.
Offene Briefe über den Gongre zu Wrego von Sy. U. Baus,
Profeſſor am bifhöflihen Seminar Hagewald. Aus
dem Qollánbijden überjebt bon €. Lypen. 72 ©.
Xe Duartalfärift: 1888. Heft IV. 46
698 Lans,
Gegenüber verſchiedenen theils unvollftändigen theils
unrichtigen Zeitungsberichten über ben „europäiichen Gou-
greß für liturgiſchen Geſang“ hat Profeffor Lans im
„Gregoriusblad“, Organ ber kirchlichen Tonkunſt für
Holland, eine Anzahl Artikel in Briefform erfdjeinen laſſen,
die ung einen Klaren Ginblid in die Verhandlungen jenes
intereffanten Kongreſſes bieten und zugleich ben verfchie-
denen Vorurtheilen und unridtigen Anſchauungen bezüg-
lid) der officiellen Choralbücher begegnen will. Aus
legterem Grund hauptfählic wurden bieje Briefe aus
dem Holländiſchen ins Deutfche überfegt und vom Ver—
leget ber officiellen Choralbücher herausgegeben. Im
Ganzen find es 14 Briefe. Die erften D bilden gemiffer-
mafjen die Einleitung. Anknüpfend an einen beutjd-
franzöſiſchen Federkrieg theilt ber Berfaffer uns eine
große Anzahl Aktenſtücke mit, vom hl. Stuhl bezüglich
der Cbirung ber Choralbücher ausgefertigt, wodurch bie
bei Puſtet erfchienenen Choralbücher auf ihren autorita-
tiven Charakter geprüft werden und unferes Verfaſſers
Standpunkt, ben er beim Congreß eingenommen, geredjt-
fertigt ift. Der 2. Brief befpriht bem jepigem Stand
der archäologiſchen Wiſſenſchaft in Hinſicht auf bie alten
Handiriften des Chorals ; daneben wird auf bas Bor-
gehen Roms hingewieſen: mit der Einheit in der Liturgie
«ud eine Einheit im Gefang berzuftellen. In ihrem
Eifer, ihre gewonnenen Refultate praftijd) zu verwerthen,
vergeſſen die Archäologen vielfah, daß bie Herftellung
von Choralbüchern nit nur eine wiffenfchaftlide An-
gelegenbeit ift, fondern nod) viel mehr Sache ber kirch⸗
lichen Disciplin. Nom trägt burd) die von ihr empfohlene
Ausgabe mit ihrer Vereinfachung des Chorals den be-
Briefe über ben Gongre zu Arezzo. 699
ſtehenden BVerhältniffen unſerer Kirchenchbre Rechnung.
Der 8. u. 4. Brief behandelt noch einläßlicher die Ver—
theidiger der Handſchriften und ihre Kampfesweiſe. Der
διε Brief ſchildert ung die Eröffnungsfeier des Congreſſes;
neues Klagelied über eine alte Thatſache: bie ſchlechte
italieniſche Kirchenmuſikl. Bom 6. Brief an werden bie
eigentlidjen Verhandlungen der Gongrefmitglieber (12
Situngen) befproden. Zur Verhandlung famen folgende
Punkte: 1) gegenwärtiger Zuftand des liturg. Gefanges
in ben verjdiebenen Theilen Europa’3. 2) primitiver
Zuftand, und verfdjiebene Phafen des liturgiſchen Gefangs.
3) Mittel, eine Verbefferung des liturgiſchen Gefanges
anzubahnen und zu fördern. 4) Begleitung des Cantus
firmus. Diefe 4 Themate wurden febr ausführli und
von verfchiedenen Gefidtépuntten aus behandelt, fo daß
wir burd) das Leſen unferes Schriftchens nicht nur über
ben Gang ber Verhandlungen zu Arezzo, fondern über
den heutigen Stand der Choralfrage überhaupt ziemlich
genauen Aufſchluß befommen. Die 11. und 12. Sigung
wurden zur Formulirung von Refolutionen verwendet;
daran ſchloß fij) eine längere Diskuffion über Gründung
eines Vereins zur Beförderung des Studiums be8 gre-
. gotiam. Choral. Eine eigenthümliche Beleuchtung erhielt
bie fo fehr gepriefene Einheit ber Hanbichriften burd)
das von allen Gongtefimitgliebern zum Schluß gefungene
»Te Deum«. — Ob und melden praftifhen Nutzen der
Gongre von Arezzo gehabt, wollen wir nicht entſcheiden.
Die Zukunft mag'8 un lehren. Neues hat er uns nicht
geboten, aber auf8 neue den Beweis geliefert, daß der
„Säcilienverein für alle Länder deutfher Zunge“ längſt
das durchgeführt, was anderswo, in Italien, Frankreich,
700 Land, Briefe über den GongteB zu Arezzo.
frommer Wunſch ijt bi8 zur Stunde. Mögen die Gegner
ber Medieaea einmal ernftlih verjuden, ihre ſchönen
Reden in bie Praris umzufegen, mir müfjen e8 vorbet-
band bezweifeln, ob der Choral nad) ihrer Edition (bie
Klofterfhulen ausgenommen) Anklang und Eingang findet.
Inzwiſchen erſchien ein Dekret ber S. R. C., welches fid)
mit aller Entfehiedenheit gegen die vom GongreB von
Arezzo vorgetragenen Beſchlüſſe betreffs der Zurüdfühs
rung be8 Choral3 zur alten Tradition ausſprach; und
mit Recht. Lanz führt e8 des weitern au8, daß es
weder möglich nod) nüglid) und zeitgemäß ift, eine neue
Ausgabe zu veranftalten. Das Studium ber Handſchrif⸗
ten hat, fomeit es fid) um Feftftellung der urfprünglichen
Melodie handelt an praftijder Bedeutung verlosen, für
bie richtige Ausführung be8 Chorals aber wird e8 ftets
eine wichtige Vorbedingung bleiben, vgl. Les Mélodies
Grögoriennes von Dom J. Pothier. Was bie bei Puſtet
erſchienenen officiellen Choralbücher betrifft, möge bier
πο die Bemerkung Pla finden, baf neben einigen we⸗
nigen Stellen (im Vesperale Rom.), mo mir mit ber
Notation und zu Gunften be8 Tertverftändnifjes nicht
einverstanden erflären können, bie Stereotppausgabe des
Vesperale Rom. gegenüber ber größeren eine ziemliche
Anzahl Abweichungen (Drudfehler) aufweist,
Tübingen. Stepetent Mes mer.
9.
Wiffenfgaftlige Studien und Mittgeilungen and bem Bene
bietinerorden mit bejonberer Berüdfichtigung ber Or»
densgeſchichte und Statiftil. Bur bleibenden Erinnerung
an dad Orbensjubiläum begründet und herausgegeben
von Mitgliedern, Freunden unb Günnern beg Benedic-
tinerorbend. Hauptrebacteur P. Raurus Rinter, O. S. Β.,
Kinter, Wiſſenſchaftliche Stubien und Mitteilungen. 701
Stiftdarhivar zu Maigern. Brünn. Selbftverlag des
re 1850392 . s 3
Die Feier des 14. Centenariums ber Geburt bes
hl. Benedict rief nicht bloß eine ftattliche Anzahl von
Gelegenheitsſchriften hervor, fondern fie medte bei ben
Söhnen beà Patriarchen des abendländiihen Mönchthums
aud) ben Entſchluß, in einem wiſſenſchaftlichen Organe
die Kräfte der einzelnen zu vereinigen und diefe geſam—
melten Geiftesproducte dem Vater, Meifter und Lehrer
als fortbauernbea Jubiläumsgeſchenk zu Füßen zu legen.
So entítanb bie porftebenbe gut ausgeftattete Zeitihrift.
Diefelbe erſcheint in vierteljährigen Heften von 13 bis
15 Bogen, und jedes Heft zerfällt in drei Abtheilungen,
von denen bie erjte wiſſenſchaftliche Abhandlungen, bie
zweite unter ber Aufichrift verſchiedene Mittheilungen“
Tleinere Berichte mannigfaltiger Art, bie dritte Recenfi-
onen enthält. - Am Schluß folgen nod) „Miscellen“ zur
Aufnahme fleinerer Notizen, ein „Sprechſaal“ zur Stel-
lung von Anfragen duch die Mitarbeiter und Lefer bes
Blattes und eine , Gorre|ponbeng" zu Mittheilungen εἰς
tens der Stebaction und Adminiftration.
Einftweilen liegen drei volle Jahrgänge vor, und
bie Zeitfchrift bat fid) mit ihnen, ſowohl was bie Tüch-
tigfeit ber Arbeiten als bie Mannigfaltigfeit des Gebo-
tenen anlangt, würdig eingeführt. —Gelbftoerftünblid)
fehlt e8 bei einem derartigen Unternehmen am Anfange
aud) nidt an einigen [djmüdjeren SBartieen. Aber bie
Kräfte wachen, indem fie fid) üben, und fo ift zu hof⸗
fen, die folgenden Bände werden uns nod) mehr al8 bie
bisherigen burd) reife und gehaltvolle Arbeiten erfreuen.
Den Juhalt bilden zumeift Abhandlungen unb Mitthei-
lungen aus ber Geſchichte be8 Benedictinerordens. Doch
wurden aud) andere Themata behandelt. So finden fid)
im dritten Jahrgang ein Kleiner Auffag über Thomas von
Aquin als Patron der Studien und Schulen, eine Abhand⸗
lung über die Entwicklung ber riftlihen Hymnenpoeſie
und drei Studien über bie Imitatio Christi, verfaßt von
Maurinern und mitgetheilt von Dr. Eöl. Wolfsgruber.
Wir wünſchen bem Unternehmen das befte Gedeihen.
Sunt.
Inhaltsverzeichniß
des
fünfundſechzigſten Jahrgangs ber theologiſchen Quartalſchrift.
L Abhandlungen.
Schriftſtellerthum und literariſche Kritif im Lichte ber ſittlichen
Berantwortlichleit 1, Linfenmann . .
Die Katechumenatsclaſſen bes hriftlichen Altertfums. Zunt.
Die franzöfiche Theologie der Gegenwart. € ὦ απ}. .
Schriftftellerthum und literarifche Kritit II. Linjenmann.
Zur Chronologie Tatiand. Funk. .
Die Lehre von ber Nuferftehung bed ΝΣ LI 1. "fos.
15,18—883. ὅσ. .
Der Kanon XXXVI von Elvira. gunt .
Schriftſtellerthum unb ΝΕ Kritik III or) Sin
jfenmanm . . εν
Zur Galtleifrage. Fu at . ..
Ueber bie Geſchichtsſchreibung ΓΤ von uti Raw
feng.
Folmar von Zriefenftein "unb. ber "Streit Sie mit d
von Bamberg. Kalt ner. .
Zur Chronologie δες Gefangenjdjaft Pauli. "mberle
Ueber ben Betrieb ber febrüijden Sprache an Gymnaſien und
iprologijden Lehranftalten. fim . .
Der geſchichtliche Abſchnitt Jeſ. c. 86—89. Erlauierungen m
ſelben durch afigrifche Keilinfhriften. Himpel.
IL Recenfionen.
Alzog, Kirchengeſchichte Funk. .
S berger, Die Unjünblidteit Chriſti. Sämir.
. 808
. 659
Inpaltöverjeiiniß.
Bertholdi a Ratisbona sermones ad religiosos.
Ed. Hötzl. Shen, . .
Bonwetſch, Die Geidichte 168 Vonianismus. gunt
Dreſſel, Der belebte unb ber unbelebte Stoff. Sa
Ebrard, Bonifatius. Funk. . .
Epping, Der freislauf im Kosmos. Sony .
Fillion, Atlas aroheologique de la bible € danj.
Fiſcher, Der fog. Lebendmagnetismus ober Hypnotismus.
ginfenmann.
Fleiſchlin unb Wit, Monairoſen. Sinfenmann,
Freiburger Didcefanargiv. Funk. .
Gebharbtund Harnad, Su Gti beraten
Riteratur. gunt .
Griſar, Galileiftubien. gunt. ..
Hartmann, b, Die Selbftverfegung bed Sin.
n m Die Kriſis des Chriſtenthums Braig.
25 DaßreligiöfeBetoußtfein b.Denfepeit]
Holgmann-Böpffel, Lexikon für Theologie und Kirchen⸗
wein. gunt . .
HöyL, Jakob und Eſau. apt und Rafui it. Sinfen
manm . .
Ifentrabe, Idealiemus ober Realismus, ΕΝ
faltner, Konrad von Marburg. gunt.
faulen, Einleitung in bie 5. Schriften A u. 9. zeftam.
Himpel.
Kern, Buddhismus und feine Geſchichte i in Indien. imper.
Rlafen, Die innere Entwicklung des Pelagianismus. Schmid.
Kleinermanns, Petrus Damiani. Schmid.
Kleutgen, Evangelium be8 h. Matthäus. Θ ὦ απ}.
Kleutgen, Institutiones theologicae. Braig. . .
fnabenbauer, Erklärung bed Propheten Jeſaias. Himpel.
Loofs, Antiquae Britonum ecclesiae mo-
res "ete. Funk. .
Sütolf- opp, Der Geſchichien bon ber Wieberferftelung
und bem Berfalle be8 heil. röm. Reiches 12. Bud. gunt.
Müller, Göttliches Wiffen unb göttliche Mast bes 5 Soja
neifehen Cheiftus. Sans. .
Pauly, Salviani opera, (unt.
Θεά, Das Weltphänomen. Θ dang.
. 512
704 Inpattsoerpeicnif.
Pflugk⸗ Sarttung, Die Ushunben νερά βάσει Single
Funt o. V
BIögL, Gommentar M ven Bier beifigen Evangelien. "nr
1. Johannes, $djangk. .
Seu, Die Geichichte der heiligen Säeiften des Alten Zeta»
mente; Qimpel. .
Röhm, Sufgaben ber proteftantijdjen ἀφοοίοριι. Reppier.
Rütter, Die Pflanzenwelt a[8 Schmud beà Heiligthums.
Sinjenmann. .
Scheffold, Zur Geſchichte te Sanbtapitels Amrichshauſen.
Funk...
Schneemann, homiſuiſch molmiſuſche Gontroverfe. gunt
Gdneiber, Ge&L, Natur, Bernunft, Gott. € dang.
Schneider, Wilh., Der neuere Geifterglaube. Linfen-
mann. . ΝΞ
Säulgen. Grau, Die eregetiice Theologie. Schanz.
Secchi, Die Größe der Schöpfung Schanz .
Siegfried, Stttenjtüde, betreffend ben preuß. Gultusfampf.
Storz, Die Philofophie be8 f. Auguftinus. Braig.
Bölter, Die Entftehung der Apofalypfe. Θ ὦ απ}. -
Weizſäcker, Das Neue Teftament überfegt. € dang.
8 άτετ, Handbuch bez theol. Wiffenſchaften. L 1. Schanz.
HL Bücherverzeichniß.
Am Schluffe be 2. u. 4. Heftes.
Verzeichniß ber feit März b. 3. bei ber 9tebaftion ein-
gelaufenen unb nod) nicht bejprodenen Bücher.
Rich, Florian, S. I. Nochmals ba8 Geburtsjahr Seju i, mit
5 jonberer Bezugnahme auf eine ε „Steeitieifet des Dr. en
in München. Freiburg,
Sau G., Bollftändiger fedi u in. Smmunionunterid, E
buch für Eltern nnb Lehrer ἐς, Bredlau, Fr. Görlich 1883.
tendis be Werkes vom DL Paulus, Apoftolat der Preſſe vi.
rg. 2—8.9. Freiburg L b. Schw., S:Sudjbruderei des hl.
aulus 1883.
hatte, Herm. Das Weib im Alten Teftament. Wien, Hirſch 1883.
jen, K. Aleander am Steidjàtage zu Worms 1521. Auf Grund»
age des berichtigten Friedrich ſchen Textes feiner Briefe. Kiel
1 Lipſius unb Zijder.
Bräll, Dr. Andr. Der erjte Brief des Glemena von Rom am bie
foret und feine geſchichtliche Bedeutung. Freiburg, Qet«
Hermann, Die Zahl uw in der Afenbarung des Johannes 13,18.
τοιϑ τοι, Fade
bstein, P. n [6 la Préexistenoe du Fils du Dieu.
osa de christologie expérimemiale. Paris, Fisch-
—e— Erhalt beà 8 iſtande Ein Reformpꝛ
jinger, ie Erhaltung des Bauernftandes. Ref τον
ἰὼ ΤᾺ ΠΝ hochſel. Grafen Subtoig zu oco Binnen Freib.,
Iber
je, Sob. Gedichte beB beutjdjen Volkes feit dem Ausgange des
M teclatert: Sieerungàausgabe 1. 9. Qteib., Qerber 1883.
Doulcet, Hen, Essai sur les rapports de l'Église
avec l'tab Romain pendant les rin „Premiere &ibcles.
Suivi d'un memoire de sainte Féli
dico Oigrapbigun, Paris, Plon et Cp. 166
n appendice eier ique, Paris lon el
ΓΤ ΣΝ Kr ib, er
Schrifien πῶς pns [ns eae. Herauögegeben von Paul
®iper. IL 8. Pjalmen und pod Dentmäler nad) ber
Gt. Galler c Saiten puppe. 1. Lief. Zreib. u. Tübingen
Menesmslen X b in usb ἰὼ "C ide Stu
len. tgan uni ntbum τί d
tenvereins. ΕΝ von B. Seal und Jean Devaud. I.
8. V—IX. $. Luzern, Sci.
Sr. Ueber bie Gründe bed Kampfes zwiſchen bem heib-
nifg-römifgen Staat und bem Gfriftentbum. Wien 1882.
zog und SDeutide.
Sintáe 9. . Prolegomena zu einer neuen Ausgabe bet Imitatio
'hristi. II. 38. Berlin 1883. f. Habel.
Gajpati, 6. P. Martin bon Bracara’3 Schrift de correctione ru-
sticorum zum erjtenmale volftändig unb in berbeffertem ert
VADE EUG hriftiania 1883.
Science et vérité. 2 ed. Paris, E. Plon et Cp. 1883.
Holgheuer, Dito, Der Brief an bie Gbrüer. Berlin, SBieganbt u.
eben 1888.
berg, Georg ©. Martin Luther. Lebend: u. Charakterbilb von
ihm felbft gezeichnet in feinen eigenen Schriften unb Correſpon
bengen. I. Die Herausforderung. Mit einem alten Bildniffe
und einem facfimilirten Briefe Luthers. Mainz, Kirchheim 1883.
Mai, Fr. I. Die Notkivendigfeit ber Offenbarung Gottes nadjge-
tiefen αὐ Gefchichte und Vernunft. Mainz, Kirchheim 18:
Schmit. Herm. Sof. Die Bußbücher und bie Bußdisciplin der Kirche,
Nach ἐν νος μὴ Quellen. Mainz, Kirchheim 1888.
Steger, Chr. €. 3. Deutſche Dichtung, für Familie unb Säule.
29—81. $. Pareival. Gray, Styria 1
ut, — Die Geſellſchaftsverfaſ ung der Griftfichen Kirchen im
ertjum. Acht Borlejungen. . überfeßt unb mit Gr-
AR: verjehen bon Adolf en. "Gehen, lider 1888.
Due, Sol. rA Bein Sen, p geiftier bs in
ebre, Beifpiel und Gebet für Sünglinge unb Jungfrauen.
Ej 1 Ctabiftid. 5 Aufl. Lindau, Stettiner 1888.
Thomae a Kempis, Imitatio Christi. Addita cuique eapitalo
exercitatione spirituali etc. De Gonnelieu S. 7.
E IT —— — Stettner 1888, mb Sri
τὶ —I ‚ausgegeben von Dove ut ied⸗
3 $. — u. Tübingen. Bohr
x p
1888.
enis, p Bibtifche get des VL und N. Teſtam. für
latb. Sort ajjulen. Mit 114 Abbildungen und 1 Karte. Mit
einem Anhang: ba8 fatf. Kirchenjahr. Freiburg, Herder 1883.
SäultePlakmenn, Sof. Der Gpisfopat, ein vom Presbyterat vers
ſchiedener felbftänbiger unb ſakramentaler Drbo, ober bie Biſchofs
ieibe ein Saframent. Paderborn 1888. Bonif -Druderei.
Bertram, Ad. Theodoreti episcopi Cyrensis doctrina christo-
logica. Hildesiae, Borgmeyer 1
Sartufer, Bum. Die Lehre von ber —— des hl. Bußſacra ·
nt. 2, Aufl. Breslau, Aderholz 1883.
De Sore δι. Geilers bon faiferóberg ausgewählte eite
II. 9. 1. Der djifülije Pilger. 2. Neue Früchte umb Bor-
güge be8 DrbenlebenB. 3. Sieben Schwerter und fieben Scheis
€ierina, Ay p jum bo Ranzelvorträge. Herausgegeben
ai iſchof von τίει, δὲ en worträge. Qerau
von Dr. Aegidius Ditſcheid. Ma. uppl.) gan pres
über petiere iier, toppe 1883.
Kinter, 9. Maurus D. €. 8. Gtubien unb Mittheilungen aus
bem Benebictiner- unb Giftercienjezorben IV. 8, 9. 1883 Wurzb.
u. Wien, Wörl.
Schlör, Aloys. Clericus orans atque meditans. Libellus pre-
cum usui seminariorum clericalium proxime destinatus
etc. Edit. nova emend. Graecii, Styria 1888.
Zanner, Serb. Geſchichte ber Biſchöfe bon Regensburg I. 1—2. $.
Stegenàb. Puſtet.
Zibliothet ber firdjenpüter, 383—389. 9. Kempten, Köfel.
Rabe, Martin, Bedarf Luther tiber Sanfien ber Bertpebigung?
Vortrag. Leipzig, Hinrichs 1883.
Simar, Hub. poi Die Teotogie des hl. Paulus. 2. Aufl.
eib., 9
mep ge Ab. Maria Ὁ. Pr. Die Gefege für ereämung von Ras
pitalzind und Arbeitölohn. Freib. Herder 1i
Guthe, Herm. Audgrabungen bei Jerufalem im Muftsage des beuts
m ene au, Eo Erforfhung Paläftinad. Mit 11 Tafeln.
ipi. 1
iginger, 9. 3. τ Gntitejung ı und Zwedbeziehung be8 Lukasevange⸗
ums RS "er Apoftelgefpichte. Glen, F. I. Halbeijen 1888.
Sint, M. Bifgof Sictorà von Sita © [εν ber hole
gung im Lande Afrika. Ueberſetzt. Bamberg, Gärtner (©. Sies
benfee3) 1888.
Oswald, Joh. Ὁ. Ungelologie, das ift die Lehre bon ben
und böfen Engeln im Sinne ber Tathol. Kirche. Paper! om,
Schöningh 1883.
Grube, Karl, Gerharb Groot unb feine unge. Vereinsſchrift
der Gorresgeſellſchaft. Köln, Bachem 1i
Theologiſche
GOuartalſchr ἦι
In Verbindung mit mehreren Gelehrten
herausgegeben
von
D. v. Kuhn, D. v. Himpel, D. v. ftober, D. v. Linſenman
D. (unt unb D. Schanz.
Sprofefjoren ber taifof. Theologie an ber K. Univerfität Tübingen.
Fünfundjehzigiter Jahrgang. ^
Erſtes Quartalheft.
Tübingen, 1883.
Verlag ber Ὁ. gau pp'iden Buchhandlung.
Bon ber theologifchen Quartalſchrift erſcheint regelmäßig
alle drei Monate ein Heft von 10 biß 12 Bogen; 4 Hefte,
die nicht getrennt abgegeben werben, bilden einen Band. Der
Preis be8 ganzen Bandes (Jahrgangs) ift M. 9. —
Einzelne Hefte fónnen nur foweit die Vorräthe bie8 ges
Ratten zum Preife von M. 2. 80. abgegeben werden.
Ale Buchhandlungen be8 In- unb Auslandes nehmen
fortwährend Beftellungen auf die Quartalſchrift an.
Das Intelligenzblatt nimmt literariſche Anzeigen auf und
wird 80 Pf. für bie Petitzeile oder deren Raum berechnet.
Inhalt
I. Abhandlungen. Seite
Sinfenmann, Schriftſtellerthum unb literarifhe Kritik . 3
Sunt, Die Katechumenatsclaſſen des chriſtlichen Alterthums 41
Schanz, Die franzöſiſche Theologie ber Gegenwart . . . 78
IL Recenſionen.
$9$1, Jakob und Efau. Linfenmann. ... - . 192
Bédiet, Handbuch der theologiſchen Vin erſczanen·
6ó$anj .. Mn . 186
Mütter, Jopanneifiher Chriftus. Scans . - . 144
PIögl, Gommentar zum Johannesevangelium. Gan; . 144
Bölter, Vpolalgpe. Shan: . » — 144
$leifglin und Wit, Monat-Nofen. Sinfenmann. 153
Gebhardt und Qarnad, Zur Geſchichte ver altchriftlichen
Kiteratun. gunt... 2l les 158
fern, Bubbhiömus unb feine Gefchichte in Indien. Bimper 167
Herder ſche Verlagshandlung im Freiburg (Baden).
Soeben erjdjienen und durch alle Buchhandlungen zu beziehen:
Schwane, Dr. 3., Dogmengeſchichte der
mittleren Zeit (/87—1517 mud) Chr.).
Mit Approbation be8 hot. Herrn Erzbiihofs von Freiburg.
Hegejige Bisiotget XXI. Abtheilung.) gr. 8°. (XII ũ.
SDieje8 Werk bildet bie iyortjegung zu ben im Verlag ber
Agenten Buchhandlung in Münfter früher erſchienen zwei
inben:
Dogmengefchichte der vornicäniſchen Zeit. gr. 8.
(VIII u. 748 ©.)
Dogmengefdichte der patriftifdjen δεῖ! (325—787
᾿ a (ZU u. tios αν
welche in unfern Verlag übergegangen find und beren Preis wir
i auf a M. 9 ermäßigt haben.
Sio, Dr. 3., Die Philofophie des hl.
Auguſtinus. Mit Approbation be8 hochw. Heren Erzbiſchofs
v. oes: gr. 8°. (VIII unb 260 5, NU i
Zſchokke, Dr. H., Die Biblifchen Frauen
des Alten Xeftamentes, Mit fürfterzbiihöflicher Approbation.
gr. 8°. (VII und 469 ©.) M. 6.
Bon bemfelben Verfaffer ift früher erfgienen:
Theologie der QPropfiefen des Offen. yeffamentes.
Dit obest: Genehmigung. gr. 8°. (XVI umb 64 &)
ROM
UND .
RÓMISCHES LEBEN IM ALTERTHUM
GESCHILDERT VON
HERMANN BENDER,
RECTOR AM GYMNASIUM IN ULM.
MIT 'ZAHLREICHEN ABBILDUNGEN NACH ZEICHNUNGEN VON
A. GNAUTH, DIRECTOR DER KUNSTSCHULE IN NÜRNBERF, PROF.
BIESS IN STUTTGART, PROF. BOHILL IN DÜSSELDORF U. A.
NEBST, EINEM VERGLEICHENDEN PLAN DES ALTEN UND
NEUEN ROM.
Instilvollem Einband M. 14. — Cartonnirt M. 12.80.
Berlag der 5. Saupy’fhen Buchhandlung in Väbingen.
Bau und Leben des focialen Körpers
. von
Dr. Albert €. fr. Schäffle,
t. f. öfterreichiher Minifter a. D. :
Neue, theilweis umgearbeitete Ausgabe.
Bier Bände. Preis M. 44.
Der Inhalt diefes Werkes umfpannt bie gewaltige Fülle ber
jagen geiftigen und matericllen Gcialwwelt, alle Gebiete unb That-
ἔδει des fociaten Θεδεπᾶ, alle Organijationsformen, alle Lebens-
tyätigfeiten,, alle Entwidelungserigeinnngen ber Civififation find
hier erjtmals in Einem großen Zufammenhang aufgefaßt. Die
Einheit und Univerfalität ber Auffaffung ijt nicht bnrd) vag pbifojos
phivende Veralgemeinerung, fondern auf Grund facytwiffenfchaftlicer
Durdypringung der Epecialdifeiplinen, burd) forgfáltige Analyjen
des Vrjonderen gewonnen, und e wendet fid) der Slerfaffer mit
Hingebung ben praftifhen Grundfragen ber unmittelbaren Gegen
wart allerdings in rein wiflenfchaftlicyer Begründung zu.
Das Wert verfolgt feine einfeitige Tendenz, ebenjomenig bie
des radifalen Socialismus als bie beà radikalen in ber Mancheſter-
theorie heruichend getvejenen Indivibualismus. (δᾶ tveift bie relative
Berechtigung alter focialen Organiiationsformen nad) und ift völig
frei von den Leidenſchaften irgend einer der gegenwärtigen Parteien.
Zu allen biejen Beziehungen ift e8 ganz de onders geeignet, in
jegiger eit der bitteren Enttäufgung über bie Wirkungen des er.
trımen Liberalismus unb ber blinden Furcht und Hoffnung bezüglich
des Socialiemus den fideren Anhaltspuntt gu bieten
für felbftändige Bildung neuer pofitiver unb
frudtbarer,ausbemmeiteftendorizontgejhöpf-
ter Socialanjhauungen, fowohl das politijde
als das volfswirtbihaftlihe Leben betreffend,
Dies um fo mehr, als der Verfaffer feinen Beruf zur Sófung ber
geftedten Aufgabe längft, bewährt Hat, indem er nicht erft jegt, fon»
dein fehon vor bald 20 Jahren zu ber Zeit, a8 das Mandpefter-
thum die Macht eines unantaftbaren Dogmas befaß, die Einjeitig«
teit, Enge und Zeicränftheit der herrſchend gewvefenen "Theorie
madgetoiejen und einer neuen pofitiven Gejelligaftsauffaffung Bahr
gebrochen hat.
u Handbud)
gotitijden Oekonomie
in Verbindung mit hervorragenden Vertretern des Faces heraus
gegeben von .
Dr. Guftav Schönberg,
* orb. Profeffor der Staatdioilienfcaften an ber Unwerfltät Tübingen.
Drei Theile in zwei Bänden.
120 Bogen größtes Lerifonoctad. broch. Preis M. 36.—
Gebunden in zwei joliden Halbfranzbänden. M.40.—
Das „Handbud ber politifhen Detonomie" ift nit
eine einfeitige, im Dienfte einer wirthicaftepolitifchen ober wiffens
fhaftlichen Warthei jtebenbe, fonbern eine objective Darftellung be8
Heutigen CtanbeB ber 3Uifjenidajt, unb tmirb eben bedpalb allen
ivitbjdjajt&potitijcen unb tvifjenjdja[tliden Richtungen erwünſcht fein.
Theologiſche
Ouartalfdrift
In Verbindung mit mehreren Gelehrten
beraudgegeben
von
D. 9. Kuhn, D. v. Himpel, D. v. ftober, D. v. Linfenmann,
D. ὅπη und D. Schanz.
Profefforen ber tatfol. Theologie an ber f. Univerfitkt Tübingen.
Tübingen, 1883.
Berlag der Ὁ. Sau p p'fdjen Buchhandlung.
Bon ber theologifchen Quartalſchrift erſcheint regelmäßig
alle drei Monate ein Heft von 10 bis 12 Bogen; 4 Hefte,
bie nicht getrennt abgegeben werden, bilden einen Band. Der
Preis be8 ganzen Bandes (Jahrgangs) ift M. 9. —
Einzelne Hefte können nur fomeit bie Vorräthe Dies ge
fatten zum Preiſe von. M. 2. 80. abgegeben werden.
Ale Buchhandlungen be8 Ins und Auslandes nehmen
fortwährend Beftellungen auf die Quartaligrift an.
Das Intelligenzblatt nimmt Kiterarifche Anzeigen auf und
wird 30 Pf. für die Petitzeile oder deren Raum berechnet.
3mnmbalt.
I. Abhandlungen. Seite
Linfenmann, Gdriftftelertbum unb literarijfe Kritit . 179
Funk, Sur Chronologie Zatian'8 . . . . . . . . 219
Holl, Die Lehre von ber Auferftehung be8 Zleifhe® . . 294
Sunt, Der Kanon XXXVI von Gloita. . , . . . . 271
IL #ecenfionen,
Storz, Die Philoſophie be8 HI. Auguftinus. Sraig. . 279
Siegfried, Eulturlampf. gunt. . . . 290
Pflugl-Harttung, Die Urkunden b. päpftl. Kanzlei. gunt. 295
Schneemann, Thomiſtiſch-moliniſtiſche Gontroverje. Funk. 297 -
Alzog, fitdengeldidte. Funk... . 2... 308
SBontet[d, Die Geſchichte des Montanismus. gunt. . 805
Freiburger Diöcefanargiv. Funk .. 307
Holgmann-Zöpfel, Lexikon für Theologie. Bunt . . 809
Scheffold, 8. Geld). b. Landkapitels Amrichshauſen. Funk. 311
ϑὲ δ 8 πι, Aufgaben ber proteftantijjen Theologie. Keppler. 312
Kleinermannd, Petrus Damiani. Schmid. . . 314
Hartmann, Gelbftgerfegung 1c. des Chriſtenthums. Braig. 8317
faltner, Konrad von Marburg. Funl. . .. . . 896
Loofs, Ant. Prit. Scotorumque ecclesia.
Gbratb, Bonifatius. . . m . 7δυκε “ν 888
Schneider, Der neuere Geifterglaube. "Sinfenmann. 884
Kleutgen, Evangelium des hl. Matthäus. .
Beizfäder, Das neue Gejtament. . . losen. . 844
Säulze unb Gran, exegetifche Theologie.)
Herder'ſche Verlagshandlung in Freiburg (Baden).
Soeben erfchienen. und durd alle Buchhandlungen zu beziehen:
Brüll, Dr. A., Der Hirt des Hermas.
Nach Ariprung und Jrhalt unterfucht. 8. (XLu, 636.) Μ. 1.90;
Biſchof von O3,
Kremens, Ji. e DieOffenbarung
im Lichte des Evangeliums nad)
des hl. DHAMNES Goyanıee. Cine Stage der tonig
en Herefehaft θεία Chrifti. gr. 80, (IV u. 196 8) M. 2.40.
Die Schrift begtvedt, eine kurze, auf bem typifcen Charakter
des Lebens Jefu fi) aufbauende Erklärung bet Offenbarung des
Heiligen Jopanneß ju geben. Sie zerfält in zwei Bücwr. Dos
ἐτίμα bepänbeit biefe Offenbarung al daß prophetifce Gefdichtäbud)
her Königlichen Herriaft Siu Girl in feiner fütde. Daß qweite
feitt ben apofatgptifcgen Cjüberungen bie parallelen Tgatfacen
aus bem Leben Jefu gegenüber und beleuchtet jene aus biejen.
Scheeben, Dr. M. 3., Handbuch der fn-
1 TY Mit Approbation bes Hochw.
tholiſchen Dogmatik, Grpifoofien Oräingriteh
qu Köln. Dritter Band, Grfte Abtheilung. (Silbet bie
XXII. abtheuung ber erſten Serie unferer „Oheologifcen
Bibliothek.) gr. 8". (X u. 680 ©.) M. 8.
Gegenwärtige Abteilung liefert, im Anſchluß an bie im II.
Band enthaltene grundlegende Lehre von bem Wejen unb bem Urs
fprunge Chrifti, beu Aufbau der Cpriftologie, bie Coteriologie umb
die SXariologie, alle drei Partien in jo alfeitiger, fyftematifer
Ausführung, mie fie in feinem neueren Werte, felbft in feiner Dos
mograpbie, fid finden dürfte, Alles, waß die heilige Schrift, bie
Tradition und die Theologie ber Vergangenheit über die Herrlich
εὶς Cprifti und feiner beiligen Mutter darbietet, hat der Slerfajfer
zu einem harmonifcen, [ebenBbollen umb farbenreichen Bilde Det»
einigt, ebenfo den ftrengften Anforderungen ber Wiffenfhaft, wie
den Bedürfniffen ber Frömmigteit Rechnung tragenb. Snébejonbere
wird bie gründliche und originelle Behandlung des Prieſterthums
unb des Dpferà Gbrifti, fomie bie bier zum erften Mal verfugte
Darftellung ber ganzen Mariologie, a8 eine weſentlichen @liedes
im dogmatifchen Syitem, bem Buche viele Freunde gewinnen.
Weber, 3., Die kauouiſchen Ehehiuder⸗
uiſſe nad dem geltenden gemeinen Kirchenrechte. Für ben
NRurattieruß in Deutſchland, Defterreid) unb ber Schweiz
πεν Ὁ
pou ar qur rr i
Bon bemfelben Verfaſſer erſchien früher:
— ‚Die Ehefcheidung, vs —V gemeinen
i le.
(X e 95 e.) uratfteruß pratüiſch bargefelt. gr, 89,
Soeben erſchienen unb burd) alle Buchhandlungen ſowie von
der Verlagshandlung bireft gratis umb franfo zu beziehen :
Jahresbericht
der Herderſchen Verlagshandlung zu Freiburg im Breisgau.
1882.
Herber’jche Verlagshandlung in Freiburg (Baden).
In unferem Sommiffiondverlage find foeben erſchienen unb
butd) alle Buͤchhandigngen · zu beziehen:
Bardenhewer, Dr. 0. Die pseudo-aristotelische
Schrift Weber das reine Gute "skerat mtr
Liber de causis. Im Auftrage der GÜrres-Gesell-
schaft bearbeitet. gr. 8°. (XVIII u. 830 8.) M 13.50.
&lafen, Dr. theol. £., Die innere Gut»
wicklüng des Pelagianismus. ess m
ichte. Mit Approbation be8 bod. Herrn Erzbiſchofs von
eg. 8. Ἂν u. 304 €.) M. 450. ἰὼ
Baumgartner, A. S. J., Iooft van den
® Í fein Leben und feine Werke. "Gin Bild aus ber
DUDEN, Sievertändifgen Siteraturgeigichte. Mit orbes
Bildniß. 8°. (XVI u. 879 ©.) M. 440.
Die Augsburger Allgemeine Zei (1882, Rro. 213, Bei
Inge) fagt am Schluſſe einer eingehenden Belprehung diefes Wertes:
m... „ Meberhaupt zeugt Baumgartnerd Werk, trog mander
Heinen Mängel in der Ausführung, von einem fo liebevollen Eins
gehen und Berftänbniß, von einer jo minutiöfen und gemifienhaften
Prüfung ber Geiſteswerke und be8 ganzen Bildungsganges beà
großen Dichters, daß uns nur ber Wunſch erübrigt, alte Deutichen,
bie fid) fernerhin mit nieberlänbifcher Literatur befafjen, möchten
mi eire Gewiſſenhaftigkeit und Borurtheildlofigleit am bie Arbeit
gehen.“
Im Verlage von C. ἃ. Schwetschke und Sohn (M. Bruhn)
in Braunschweig ist soeben erschienen und durch alle
Buchhandlungen zu beziehen :
Die apokryphen
Apostelgeschichten u. Apostellegenden.
Ein Beitrag zur altchristlichen Literaturgeschichte
von
Rich. Adelb. Lipakus,
Erster Band. Preis 15 Mark.
Da in diesem neuesten Werke die gesummte Apostel-
legende behandelt wird, so ist der Leserkreis nicht auf pro-
testantische Theologen beschränkt, sondern erstreckt sich
weit hinein in die katholischen Kreise Deutschlands und
des Auslandes.
Theologiſche
Quartalſchrift.
In Verbindung mit mehreren Gelehrten
herausgegeben
von
D. v. Kuhn, D. v. Himpel, D. v. Kober, D. v. Linſenmann,
D. Funk unb D. Schanz.
Profefforen ber kathol. Theologie an ber X. Univerfität Tübingen.
Fünfundfechzigfter Jahrgang. ἡ
Tübingen, 1883.
Berlag ver 9. Laupp’ihen Buchhandlung.
mM Google
LIBRARIA HENRICI LAUPP, TUBINGE.
OPERA
PATRUM APOSTOLICORUM.
TEXTUM RECENSUIT,
ADNOTATIONIBUS CRITICIS, EXEGETICIS, HISTORICIS
ILLUSTRAVIT, VERSIONEM LATINAM, PROLEGOMENA,
INDICES ADDIDIT
FRANCISCUS XAVERIUS FUNK,
88. THEOLOGLE IN UNIVERSITATE TUBING. PROFESSOR ΡΟ.
Duo volumina
Continet Volumen I., editio post Hefelianam quartam
quinta: Epistulas Barnabae, Clementis Romani, Ignatii, Po-
lyearpi, Anonymi ad Diognetum; Ignatii et Polycarpi Mar-
tyria; Pastorem Hermae.
Volumen II.: Clementis Romani epistolas de virginitate
ejusdemque Martyrium; epistulas Pseudoignatii; Ignatii Mar- -
tyria tria: Vaticanum, a S. Metaphraste conscriptum, latinum;
Papiae et Seniorum apud Irenaeum fragmenta; Polycarpi
vitam graecam.
Pretium voluminis I. Mark 10. — voluminis II. Mark 8. —
Singula volumina per se venduntur.
Si sex minimum volumina emuntur, pretium minuitur
voluminis prioris ad M. 8. —, posterioris ad M. 6. 40. Quae-
vis mereatora libraria hoc pretio »opera patrum apostoli-
corum« praebere potest.
Inde ab anno 1855, quo editio Patrum apostolicorum
Hefeliana quarta in publicum prodiit, pluribus codicibus in-
ventis scientia patristica mirum in modum promota est,
Pauca tantum animadvertere licet. Barnabae epistulae
textus graecus olim mutilus fuit, capitibus quatuor prioribus
et initio capitis quinti deficientibus. Nunc textos integer
exstat isque in duobus codicibus, Sinaitico et Constantino-
politano. Epistularum Clementinarum olim quatuordecim
capita prorsus defuerunt neque in versione legebantur. Anno
autem 1875 Constantinopoli codex graecus inventus est, qui
textum integrum exhibet, et brevi post versio vetus syriaca.
Pastor Hermae olim nonnisi in versione veteri latina
cognitus fuit. Nuno textum graecum fere integrum et duas
alias versiones veteres habemus, versionem latinam alteram
vel Palatinam quam dicunt et versionem aethiopicam. Unde
lector colliget, ad textum Patrum apostolicorum constituen-
dum adiumenta multo locupletiora nobis praesto esse quam
praedecessoribus nostris et textum editionum priorum nunc
fere nullius esse pretii.
Quod autem ad hanc editionem attinet, codices novi di-
ligentissime adhibiti, veteres denuo collati sunt. Editio valde
etiam aucta est. Scripturae, quae in secundo volumine in-
sunt, in quarta editione nondum legebantur. Et in hac parte
ab editore plures codices adhiberi poterant, qui usque ad hanc
diem aut prorsus ignoti aut parum cogniti erant. Textum
epistularum Pseudoignatianarum latinarum ex. gr. primus e
libris manuscriptis, libris impressis postpositis, constituit. Ad
textum earundem epistularum recensendum graecum primus
leetiones codicis Constantinopolitani accepit et codicem Mo-
.nacensem praestantissimum, qui inde a saeculo XVI a nemine
inspiciebatur, denuo contulit. Ad textum Martyrii Ignatii
Vatieani quod vocant constituendum primus codicem Oxo-
niensem excussit etc. etc.
Haec nobis dicenda sunt. Ut autem lector cognoscat,
quid alii de editione iudicent, animum ndvertimus ad testi-
monia virorum doctorum. Cf. ex. gr. „Literariſche Rundſchau
1879 No. 6; 1882 No. 9. „Literarif her Handmeifer“ 1879 No. 18.
1882 No. 17. „eiterarifdes Gentralblatt" 1879 No. 11. „Beit«
ſchrift für wiſſenſchaftliche Theologie" 1879 p. 265 sqq. »Poly-
biblione 1879 Fevr. »Bibliographie catholique« 1880 Oct.
»Bulletin eritique« 1882 May 1. »Revista de Madrid« 1882
No. 8. »Literary Churchmann 1879 No. 1. »The Academy«
1879 July 26; 1882 Oct. 7. »The Guardian« 1879 July 30.
»Magyar Sion« 1878 p. 921 209.5 1882 p. 227 sqq. »Beligioe
1882 No. 22. ligi
Ad. Hug Antiguar in Günzburg a/D. offerirt:
1 Theologiſche Duartafjcpeift rg. 1819—25, 1881, 1893, _
und 1865—80. Tübingen. , 183560
51 Ihrgs. wovon 38 Jhrgge gut in Pappband b
εὖτ. br. [Ladenpreis 460 M.] 100 M. — gebunden, die
Eataloge gratis unb franco !
Theologiſche
'Onartalfgrift
In Verbindung mit mehreren Gelehrten
herausgegeben
D. t. Kuhn, D. ». Himpel, D. v. ober, D. v. Linſenmann,
D. Funk und D. Schanz.
Profefforen ber kathel. Theologie an ber f. Univerfät Lübingen.
Fünfundjesiofter Jahrgang. ἡ
Viertes Ouartalheft.
Tübingen, 1883.
Berlag ber Ὁ. Laupp’fchen Buchhandlung.
Bon der theologiſchen Quartalfchrift erfcheint regelmäßig
alle drei Monate ein Heft von 10 big 12 Bogen; 4 Hefte,
die nicht getrennt abgegeben werden, bilden einen Band. Der
Preis be8 ganzen Bandes (Jahrgangs) ift M. 9. —
Einzelne Hefte fónnen mur foweit bie Vorräthe Dies ger
flatten, und mur zum Preife von M. 2. 80. abgegeben werben.
Alle Buchhandlungen be8 In- und Auslandes nehmen
fortwährend Beftellungen auf die Ouartalfchrift an. t
Das Intelligenzblatt nimmt literariffje Anzeigen auf und
wird 30 Pf. für bie Petitzeile oder deren Raum berechnet.
7$
3mbalt
I. Abhandlungen.
Kaltner, Folmar von Triefenftein unb ber Streit Gerhohs
mit Eberharh von Bamberg - . . 598
Aberle, Zur Chronologie ber Gefangenjcaft Kauft P 553
Himpel, Dergefihtliche AbjänittJej.Rap. 3:89. Erläuter-
ungen bejjelben burd) afforijdje Keilinſchriften . . . 582
IL füecenfionen.
Fiſcher, Lebensmagnetismus ober Hypnotismus. Linfen-
mann... 654
Arberger, Pie unſundlichteit Shift. Rep. Dr. Ὁ $ m ib. 659
Epping, Der Kreislauf im Kosmos.
Dreffel, Der belebte u. unbelebte Stoff.
Peſch, Das BWeltphänomen. €dans. . . 665
Iſenkrahe, Idealismus oder Realismus. |
Schneider, Natur, Vernunft, Gott.
Hötzl, Bertholdi a Ratisbona sermones ad "eligionos,
Shen. ...... le
. . 6
Kleutgen, Institutiones theologicae. Dr. $i ταὶ ia. . FH
Rütter, Die Pflanzenwelt. Linfenmann. . - 698
S fabler, Die Bonifatianifhe Brieffammlung Fun Rn - 696
Land, Offene Briefe über ben Kongreß zu Arezzo. Mesmer,
Kintner, Riffenfhaftlide Studien unb Atfeilungen aus
dem Benedictinerorben.: Funk, - . 700
Herder ſche Verlagshandinng in Freiburg (Baden).
Soeben erfejienen unb burd alle Buchhandlungen zu beziehen:
Hettinger, Dr. F., Dreifaches Lehramt.
ALIE af ben Heimgang des Herrn Dr. $eimrid) Sofepf
Dominicus Denzinger, gehalten zu Würzburg bei bem afabe-
mar Dr. &. Gl 22. Jum 1883. 80, (246) 30 Pf.
Simar, Dr. f. Th., Die Theologie
des heiligen να 1. aine mgnschiiete
Auflage. Mit Approbation be8 Dodo. iem Prod ſchofs von
Freiburg, gr. 8°. (XII und 284 ©.) M.
In meinem Verlage erſchien ſoeben:
Oswald, Dr. J. H., Profeffor am Lyceum Hoftanum
zu Braunsberg. Angelologie das ift die “εἴτε
von den guten und böfen Engeln imSinne ber
katholiſchen Kirche dargeftelt. Mit Erlaubniß des
hochw. Bifhofs von Ermland228 ©. gr, 8. geb. 3 M.
Bon demfelben Verfaffer erſchien früher in meinem Serlage:
Eſchatologie. 4. Aufl. 460 M. Die Erlöfung von
ber Heiligung. 2. Aufl. 3 M. Die Erlöfung in
Chriſto Jeſu. 2 Bde. 7,50 M. Religiöſe Ur:
geſchichte der Menſchheit. 3 M.
Paderborn. Ferdinand Scöningf,.
Berlag der H. Laupp’ihen Buchhandlung in Tübingen.
Agrarpolitische Versuche
vom Standpunkt der -
Socialpolitik
von
6. Ruhland.
gr. 8. broch. M, 3. —
Soeben erſchien:
Die Jnforporation
Bypothefarfredits
von
Dr. Albert €. Fr. Schäffle,
f. ὅβετε, Minifler a. D.
gr. 8. broch. M.3. —
Verlag der H. Laupp'ſchen Buchhandlung in Tübingen.
fjanbbud)
ber
Bolitifden Cefonuomie
dn SBerbinbung mit hervorragenden Vertretern be8 Faches heraus⸗
gegeben von ᾿
Dr. Quite» Schönberg,
oth. Profeflor ber Stantgmwiflenfhaften an δες Untverfität Tübingen.
Drei Theile in zwei Bänden.
120 Bogen größtes Lerifonoctav. brod. Preis M. 36. —
Gebunden in zweifoliden Halbfranzbänden. M. 40. —
Das „Hanbbud ber politifden Detonomie nicht
fchaftlichen Partei Tiebenbe, fondern eine objeftive Darftellung bes
heutigen Standes der Wiienigaft, und wird eben beshalb allen
wirtpjdafispolitijen und nifienfafttichen Richtungen erwuͤnſcht jein.
Demnächst gelangt zur Ausgabe:
Die Echtheit
der
Ignatianischen Briefe
aufs Neue vertheidigt
von
Dr. F. X. Funk.
Mit einer literarischen Beilage:
Die alte lateinische Uebersetzung der Usher",
der Ignatiusbriefe und des Polykarenen Sammlung
gr. 8. broch. M. 6. —
Der
achtundſechzigſte Κ᾽ [αἱ πὶ
mit befonderer Rückſicht auf feine
it Dejo Mem Nusleger Mod i Ueberjeger und
von
Dr. 9. Grin.
gr. 8. Tb ca. M. 6
5e, Google
mM Google