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Full text of "Theologische Quartalschrift"

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4 


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Yen. HAT e. 233 
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Theologifthe 


Quartalfchrift. 


Qm Verbindung mit mehreren Gelehrten 


beraudgegeben 


von 


D. v. Kuhn, D. ». Himpel, D. v. Kober, D. v. Linfen- 
. mann, D. funh unb D. Schanz, 


Vrofeſſoren ber kathol. Tpeologie an ber f. Univerfität Tübingen. 










SREICH 


€ 
"(BODL:LIBR)* 
^ 


Funfundſechzigſter Jahrgang. 


Erſtes Quartalheft. 


Gübingen, 1883. 
Berlag der 9. Lauppſchen Vuchhandlung 


Prud von 9. Laupp in Tübingen. 


L 
Abhandlungen. 


1. 
Schriftſtellerthum unb literariſche feriti! im Lichte ber 
fittlichen Verantworilichkeit. 





Ein vergeſſenes Kapitel aus der Ethik. 
Von Prof. Dr. Linſenmann. 


L Das Problem. 


In Alpenländern hört man zuweilen die Rebe, über 
dem Setterfreuge gebe e8 feine Sünde. Damit wollen 
bie Leute fagen, daß in den unzugänglihen und un- 
mwirthlichen Höhen ber Gebirge Mein und Dein, Gefeg 
und Herrihaft aufhöre, und daß dorthin ber Arm ber 
Gerechtigkeit nicht reihe, mie von dort Feine Klage zu 
den menſchlichen Wohnplägen herabdringt. 

Faft ſcheint e3, als ob in unferer Zeit diejenigen, 
tede als Schriftfteller auf den Höhen ber geiftigen 
Belt, ald Ariftofraten des Geifte8 unb Wortführer der 
Menſchheit, ftehen wollen, ebenfalls mwähnen, daß es 
auf jenen Höhen feine Sünde gebe, daß e8 für das 
Schriftſtellerthum feinen Richter und feine Verantwort- 

1: 


4 Linfenmann, 


lidfeit gebe, außer etwa ſoweit die Macht eines Preß⸗ 
gefege8 reicht, und daß der Erfolg allein über das Recht 
entſcheide. Wo e8 fij um mirtbfchaftlihe Güter des 
Menſchen handelt, da fordert man firenge Rechenſchaft 
unb wägt Mein und Dein mit peinliher Genauigkeit 
ab; mit ben Gütern aber, bie fid) nicht meflen und 
wägen laffen, wollen fie falten und walten, ohne einen 
Herrn und ein Gefeg darüber anzuerkennen. 

Ein vergeffenes Kapitel aus der Ethik haben 
wir e8 genannt. Das ift nicht gerade ſeltſam. Man 
kann e$ ja faum bem Schriftfteler zumutben, daß er 
— wenn aud) mur rein akademiſch — fein eigen Hecht 
erft in Frage ftelle, da er e8 bod) im nemlichen Augen- 
blide ausübt, ober bap man ihm ein Bekenntniß ab- 
zwinge, das feiner fid) felbft ablegt, viel weniger feinem 
Lefer oder fritifer. Der Schriffteller aber, ber fid) 
herausnimmt, bem andern den Spiegel vorzuhalten, muß 
erwarten, daß man nun ben Spiegel aud) gegen ihn 
wende; und je ernfter und idealer er feine Forderungen 
ftellt, defto mehr mag e8 ihm um feine eigene Gemwif- 
fenserforfhung bange werden. Wie [oll derjenige An- 
bern ein Arzt fein, welcher jelber franf ift! Endlich 
aber hat es feine Schwierigkeit, mit Schrifftellern eine 
Lanze zu bredjen; denn biefelben gehören zu einem Erie- 
geriſchen Geſchlecht und laſſen fid nicht ungerächt ha— 
rangieren. 

Nun ijt es aber auch nicht bie Abſicht der folgen— 
den Unterſuchung, irgendwelche angemaßte Auctorität 
geltend zu machen oder Splitter aus fremden Augen 
zu ziehen. Unſer Verſuch, eine ethiſche Frage zu löſen, 
iſt veranlaßt durch Reflexionen, wie ſie ſich heutzutage 


Schriftſtellerthum und literarijdje Kritik. 5 


Jedem aufdrängen, toelder fid) mit den Sitten, Ma- 
nieren und Strömungen be8 modernen Schriftftellertyums 
mehr al8 nur oberflächlich befannt gemacht, und welcher 
aus eigener Arbeit und eigener Erfahrung etwas von 
den geheimen Lebensmächten und Triebfräften ber lite- 
rariſchen Welt fennen gelernt bat. 

€3 wird fid) nicht leugnen laffem, daß bie moderne 
Kiteratur der betrübenden Erſcheinungen mehr als ber 
erfreulihen aufweist, wenn man fie vom Standpunft 
einer ernften und fittlihen Lebensanihauung aus be- 
trachtet; und dieß um fo mehr, je höher und idealer 
man bie Bedeutung ber literarifchen Thätigfeit auffaßt 
und in ihrem wahren Werthe anerkennt. 

Wie immer wir die Gabe, bie menjdliden Ge— 
danfen in bleibenden Denkmalen ber Schrift feftzuhalten 
und fie ber Mitwelt mitzutheilen und der Nachwelt auf: 
zubehalten, be8 näheren betrachten mögen, fei e8 nad 
ihrem Urfprung ober mad) ihrer Wirkung, fo muß fie 
ung groß und bemundernswertb, ja Manchem benei- 
denswerth er[djeinem. Das Wort am fid), Ausfluß des 
menschlichen Genius, ift [o edel, daß Gott felbit das 
Wort wählte, um fid) den Menfchen zu offenbaren, und 
daß Gottes Sohn ſelbſt Logos, das Wort, genannt 
werden wollte. So ift das Wort mit dem Höchſten 
verwandt, ma8 bie Menfchheit kennt. Und das Mittel 
des Schriftwortes hat Gottes Sohn felbft gemählt, um 
fi in ihm zu verkörpern im Evangelium und einen 
Brunnen von Wahrheit und Gnade in ihm zu eröffnen. 
So edel ift dag Schriftwort. Seine Macht aber und 
Wirkung ift feinem Urfprung entfpredenb, unendlich. 
Nah der Macht des lebenbigen Wortes von Mund zu 


6 Sinfenmann, 


Munde gibt e3 nichts Höheres als bie Macht ber Schrift, 
der Literatur; fie bedeutet ein Sprechen in die Ferne 
und ein Sprechen mit taufend Zungen; fie ift eine Herr- 
ſcherin unter den Menichen, eine Leuchte für den Ocift, 
ein Troft für das Herz, eine Wederin und eine Be- 
fänftigerin aller Seibenfdaften. Sie ift, wie man e8 
von der Schönheit gejagt bat, eine geborne Königin, 
denn fie ijt jelbft ein Ausfluß der Schönheit und funft. 
Sie bringt wie baa Licht in jebe8 Land und jedes Haus, 
und verbreitet Kenntniffe, weckt geiftiges Leben und be= 
gründet den Anfang ber Gefittung. Unter allen fünften, 
die ba8 Herz des Menfchen bewegen und bem Leben 
einen Reiz geben, iff bie Kunft ber Stebe bie ebelfte, 
erhabenfte, einſchmeichelndſte und lieblid)fte; das Men- 
ſchenwort geht über alle Reize der Farben und der Töne, 
wirkt mächtiger und allgemeiner al8 Mufit und bildende 
Kunft. Und mo man beginnt, das flüchtige Wort in 
der Literatur feftzuhalten, da wird bieje ein Markftein 
ber höheren Eultur, ein Ausbrud des geiftigen Lebens 
eines Volkes, ein Spiegel der Volksfeele und ber Volls- 
füte. Sie ift ein Ausfluß aus den tiefen geheimen Grün—⸗ 
den des Vollsthums; die Anfänge ber Literatur bet 
Völker erſcheinen nicht gemacht, joubern wie höhere Dffen- 
barungen dem Volke mitgeteilt; fie entfpringen in bem 
Augenblide, wo die Religion eines Volkes Sprache ges 
winnt; bie Literatur ift Daher religibſen Ur— 
fprungs, fie beginnt mit bem Preis der Gott- 
beit unb ber Schilderung bergóttliden Werke. 
Und dann widmet fie fid) den hohen Aufgaben der Men- 
ſchen, dem Preis der Helden, ben großen Ahnen und 
den Wohlthätern der Völker und Staaten, um bie Jeht- 


Schriftſtellerthum und literariſche Kritik. 7 


lebenden durch Vorftellung ber Thaten ihrer Vorfahren 
iu begeiftern für eigene große Thaten nah bem Sor. 
bilde ber Heroen. — Im weiteren Schritte dient fie 
der Philofophie, der Darftellung der Weisheit ber Wei- 
defen und Beften im Lande, um ba8 Verſinken bet 
menj$liden Gefelfchaft in den Dienft der materiellen 
Intereſſen zu verhindern und den Sinn für das Geiftige 
und Göttliche tad) zu halten. — (τῇ im weiteren und 
legten Schritte dient fie dem leichteren Lebensgenuſſe 
ber ebleren Art als Mufe, welche in des Lebens Grnft 
und Mühen die Blumen ber Freude einftreut, bie Sorgen 
vergefjen ober ertragen läßt, und bod) immer im Dei 
teren Spiel der Kunft den Geift beihäftigt und erhebt. 

Demnach ift das Ziel der Literatur eines Volles 
das denkbar büdjfte, fie hat eine Miſſion im Dienfte 
der Wahrheit und Schönheit, fie nimmt Theil an ben 
höchſten Aufgaben, welche einer menſchlichen Thätigkeit 
mur immer zukommen können, und τοῖς möchten mehr 
als blos eine obſolete Redensart ausſprechen, wenn 
wir ſagen, die Beſchäftigung mit der Literatur ſei ein 
Dienſt im Heiligthum der Menſchheit, und, die ſich ihr 
widmen, haben eine prieſterliche Aufgabe, und dazu ge: 
höre ein priefterlicher Beruf und eine priefterliche Ges 
finuung, eine lautere Hingabe an ba8 Hohe und Heilige, 
ein Bewußtfein einer höheren Sendung. 

Nun tritt aber zwiſchen einer idealen Anſchauung 
von der Prefie, mie fie in unfern kurzen Andeutungen 
gefordert wird, und ber realen Wirklichkeit unferer lite- 
rariſchen Zuftände ein fo enormes Mißverhältniß zu 
Tage, baf eines von beiden unumgänglich ift, eutweder 
jene Anforderungen auf ein gemeines und beſcheidenes 


8 Linſenmann, 


Menſchenmaß herabzuſtimmen, oder die ſittlichen Defekte 
unſerer Literatur einzugeſtehen, nach den Urſachen ber- 
ſelben zu fragen, an bie eiternde Wunde zu rühren, aud) 
auf die Gefahr Din, wehe zu tfum ober mifbeutet zu 
werden, und Klage vor geredjterm Richtern, als das 
geröhnlihe Publitum ift, vor Richtern, denen e8 um 
Ehre und Würde ber Preffe ernftlih zu thun ift, laut 
zu erheben. 

Bor einem großen Theile ber Erzeugniffe der mo= 
dernen Preſſe kann man nur erjóroden ftille ftehen; in 
ihm erkennen wir nichts mehr von bem hohen Berufe 
eines SDiener8 ber Wahrheit und Schönheit, feine Aehn— 
lifeit mehr mit der Offenbarung be8 Göttlihen; es 
ift beffer, von ihm bie Augen abzuwenden; bier läßt 
fid von fittlidjen Gefichtspunften nicht mehr reden, ihm 
gegenüber ift faum eine Hoffnung übrig, ijt felbft das 
Geſetz machtlos, wie gegen andere Symptome bes Ver—⸗ 
derbniſſes im Schoße ber menſchlichen Gefellijaft. Was 
man neueftens als Pornographie bezeichnet Dat, ift nod) 
oum bie fchlimmfte Seite an diefer literariſchen Gor- 
ruption; e8 gibt nicht blos eine Törperliche, fondern aud) 
eine geiftige Unzucht, die Buhlerei mit den faljchen 
Göttern. Bon ihr reden mit hier nicht weiter. 

Einen anderen Theil der Prefie finden mir zwar 
in den Händen derer, die ba8 Rechte wollen, mit einem 
gewiflen Grade ber Ueberzeugung barnad) fireben und 
in ihrer Art der Wahrheit zu dienen beabſichtigen. Aber 
es fehlt ihnen an den ewigen und unverrüdbaren Grün: 
den und Duellpunften der Wahrheit, an ben wahren 
und untrügliden Leitfternen. Daher fegen fie ihre Kräfte 
am unredten Orte ein, bienen ber unrichtigen Sache, 


Schriftſtellerthum und literariſche Kritik. 9 


zünden ihre Geiftesfadel am büfteren Feuer der menſch⸗ 
lichen Seibenjdjaften an, anftatt am Lichte ber göttlichen 
Erfenntniß; und fo wird troß fo vieler hohen Gaben 
und fo mandet gut gemeinten Beftrebungen und Ans 
firengungen ihre Thätigfeit ber Menfchheit nicht zur 
Wohlthat. Es fehlt ihnen am Haren und beflimmten 
Bielen, daher an Einheit und Harmonie; es ift Alles 
zerriffen und auseinander gezerrt, Reiner verfteht bem 
Andern, Jeder möchte am liebften eine eigene Sprache 
reden und eine eigene Weltanfchauung haben. Diefe 
Kiteratur ift das rechte Abbild ber Welt, bie einig mur 
ift im BVerneinen, fonft aber in feindliche Theile au8- 
einander geht unb am Ende ben Krieg als normalen 
Zuftand und Blüthe ber Menfchheitsentwicdtung bes 
trachtet. 

Ein jedes Volk iſt ſtolz auf ſeine klaſſiſchen Lite— 
raturperioden und auf ſeine großen Schriftſteller, und 
nicht mit Unrecht. Der Menſchengeiſt iſt groß, noch in 
feiner Verirrung. Wir können vor manchen Erzeugniſſen 
der bie Gegenwart beherrſchenden Literatur vol Bes 
wunderung ftehen und aus den in ihnen aufgefchloffenen 
Erkenntniffen ſchöpfen und den Reiz der jhönen Kunft 
des Wortes auf uns wirken lajfjem. Wir konnen bie 
verftreuten  Camenfürner der göttlichen Weisheit aud) 
bei denjenigen Schriftftelleen wieder finden, deren Gei- 
ſtesrichtung im Ganzen wir nicht annehmen und deren 
Werke wir nicht zu den Evangelien ber beglüdenden 
und erlöfenden Religion zählen können. Aber im Wer 
fentlihen können wir diefe Literatur nicht als bie unfrige 
erkennen; fie bewegt fid) außerhalb ber fittlichereligiöfen 
Ordnung, ijt fein harmonifches Element in ber Volks— 


10 Linfenmann, 


bildung und gewährt nur felten einen reinen und un= 
getrübten Genuß. Es entzieht fid) der Berechnung, und 
wir können e8 dahin geftellt fein laſſen, ob die großen 
Fürften unfrer nationalen Literatur mit all ihrem Ge- 
folge von Schildträgern, Jüngern und Epigonen mehr 
zum Gewinn oder zum Nachtheil unferes Volkslebens, 
unferer Gulturenttoid[ung und Bildung beigetragen, ob 
fie einen größeren Niedergang unfrer Givilifation viel- 
leicht toenigften8 verhindert, ob fie dem Geiftesleben 
neue Ziele gezeigt und neue Bahnen gemiejen, ob fie 
auf Schule und Volksſitte, auf die Regfamkeit in Ju— 
buftrie unb Kunft belebend eingewirkt haben, ob fie an 
einem wirklichen Aufſchwunge ber Nation als treibende 
Mächte betheiligt feiem — oder ob fie den Volksgeiſt 
burd) ihre fophiftiihen Künfte vergiftet und durch ihre 
feindfelige Stellung zur Religion und der in der 9te- 
ligion wurzelnden Sitte bie Volkskraft auf falfche Bahnen 
gelenkt und den Adern des modernen Volkskörpers etwas 
von der tödtlichen Fieberglut, an der fie ſelbſt krankten, 
eingeflößt haben. — Wir gebenfen feinenfalla, und dem 
jewigen feiublid) entgegenzuftellen, was einen wahren 
Ruhm und Glanz der Nation begründet; aber vom 
Standpunkt der fittlich religiöfen Betrachtung aus find 
bie Hauptträger unfrer modernen Bildung und die Wort: 
führer unfrer Haffiicden Literatur auf Sternenweiten von 
uns geldieben; wir können nicht zu ihnen hinüber, fie 
nit zu uns herüberfommen; wir haben ihnen feine 
Vorſchriften zu geben, fie von uns feine anzunehmen; 
wir ftehen in feiner Verbindung mit ijnen, wir- müffen 
fie nehmen wie fie find, um von ihnen bod) Etwas zu 
lernen, worin fie ung Meifter fein können, bie geiftige 


Schriftſtellerthum und literarifche Kritik. 11 


Technik, bie gute Form und bie Kunſt. Es bat unter 
ihnen immer Solche gegeben, und gibt fie aud) jegt nod), 
bie e8 mit bem, mas fie für wahr unb gut Dieltem, 
eenfter genommen haben, als e8 Manche von denen thun, 
welche ber beften Sache dienen wollen. Sie haben dann 
bod) hohe Ideale vor Augen, ftreben nad) bem Höchſten, 
was in ihrer Sphäre ihnen erreichbar ſcheint, legen fid) 
Regel und Zwang auf, um burd) Beihränfung die Meis 
ſterſchaft zu erreichen, und behaupten fid) auf einer Höhe 
echter Vornehmheit, mit welcher fie fid) vom profanum 
vulgus abfehren, um ihren reinen Gultu8 ber Kunft 
nicht burd) Berührung mit bem Gemeinen zu entweihen. 
€3 gibt für bieje Gattung von idriftftellerijder Thä— 
tigfeit wohl Gejege, und robe Anarchie herrſcht in ihr 
nicht; aber ihre Geſetze find nicht die ber Religion und 
chriſtlichen Sitte, nidt Gagungen einer höheren gütt- 
lihen Auctorität, fondern ſelbſtgemachte Gefege, ge- 
ſchaffen bnrd) eine angemafte Autonomie des Geni 
aud) mit ihnen fónnen wir und nid weiter außeinan- 
derfegen. 

Die Literatur, bie wir bie unfrige nennen, Tann 
nur eine folde fein, welche in allen Dingen die wahren 
Intereſſen des Glaubens und der Sitte, mit einem Worte 
der chriſtlichen Bildung vertritt, ob fie nun unmittelbar 
der Religion felbit diene, wie die Harfe Davids und 
bet Griffel des Iſaias, ober ob fie mad) ben Schägen 
ber Wiſſenſchaft grabe wie ein Drigenes, oder ob fie in 
ben leichteren Sandalen ber Mufe einhergehe und des 
Menfchenlebens Luft und Leid im Epos ober im Liebe 
fige, ober ob fie auf die Arena der Politik und der 
Tagesintereſſen berabfteige. — Ueber ben Werth einer 






12 Linfenmann, 


guten Preſſe hier uns zu verbreiten, hieße zu vielem 
Belannten nur toieber Gelbftverftánblide8 hinzufügen. 
Daß ε zu allen Zeiten eine jolde auf die wahren 
Bele der Menſchheit gerichtete literariſche Thätigkeit 
ber Guíturbülfer gegeben, und daß e8 aud) heute eine 
foldje gibt, dafür braucht e8 aud) bier Feines Beweifes 
und feines Lobliedes. 

Schon eher fünnte e8 Gegenftand des Nachdenkens 
fein, woher e Tomme, daß man überall von dem ſchweren 
Stand ber guten Prefie, von der mangelnden Unter: 
flügung berfelben, von den Pflichten des Publicums 
gegenüber dem Angebot be8 literariſchen und publicifti- 
iden Marktes mit einbringlidjen Worten redet und Ylagt. 
Haben denn je in einer Zeit bie gottbegnabeten Sänger 
und Poeten, bie Weifen und bie Forſcher ihre Impulfe 
vom Publicum, das unter ihnen ftanb, erhalten? Haben 
nicht die Edelften unter ihnen ihre Gaben einer Mit: 
welt dargeboten, bie fie nod faum verftand? Wir wollen 
e8 allerdings nicht ganz in Abrede ziehen, baf der Stand 
der Literatur in einem Lande im Allgemeinen fid) nad) der 
Situation richtet, welche ihr von den Abnehmern bereitet 
toitb; aber bod) nod) υἱεῖ mehr ift e8 wahr, baf das Publiz 
cum ba8 ift, wozu ε feine Wortführer in Nede unb 
Schrift gemacht haben. Die geiftigen Gaben und Ta— 
lente geben ber Preffe ihre Richtung und ihren Werth, 
nicht der Geldbeutel, au8 welchem die Schriftfteller be- 
jolbet werden, und mo e8 anders ift oder zu fein ſcheint, 
ba Hage man nicht bie lefenbe Welt, fondern die Preffe 
felbft barum an. Jene Gattung von Literatur, melde 
man mit Geld und Reclame auf ber Höhe erhalten 
muß, kann wohl momentanen Sweden dienen, wird aber 


Schriftſtellerthum und Iterarifche Kritik. 13 


nie eine Haffiihe Literatur werden. Gebt ung Dichter 
und Künftler von Gottes Gnaben, und fie werden ihr 
Publicum fdon finden! 

Wir reden Niemanden zu Leid, ποῷ zu Lieb, wir 
benfen nicht am Perfonen, fondern au Zuftände und Er— 
fabrungen, wenn mir au bie Preſſe einmal, nicht ohne 
bie Hand auf das eigene Herz zu legen, eine Gewiſſens⸗ 
frage ftellen. Iſt fid unfere Preffe ftet8 und überall 
ihrer hohen fittlihen Verantwortlicfeit bewußt? Woher 
erklären fid) fo mande widrige und wehethuende Er— 
ſcheinungen in berjelbem, bie allmählig Jedermann em: 
pfindet, aber al etwas Unabwendbares über fid) ergehen 
läßt? Wie allgemein find nicht bie Klagen über mangeln- 
den Zufammenhalt und mangelnden Gemeinfinn! Wie 
wenig vermag man ein fleine8 particulariftiihes Par— 
teiintereffe dem Vortheil des Ganzen unterzuorbnen! 
Dft genug wird man verlegt von einem Geifte der Ver: 
folgungs⸗ und Verkleinerungsſucht, der Mißgunft und 
des Argwohns, ber burd) unfere Literatur geht; von 
einer Eleinlichen Auffaflung der Meinungsverfchieden- 
beiten unb von Qeftigfeit der Angriffs: und Kampfes: 
weife, welche man wohl zumeilen als Verrätherin einer 
uneblen 9eibenjdaft anfehen muß. In das Verhältniß 
zwiſchen bem Auctor und feinen Leſern ift eine krank— 
hafte Empfindlichkeit gefommen, bie Prefje Dat vielfach 
bie guten Manieren abgelegt und e8 ift eine betrübende 
Verwilderung in Beziehung auf Stil, Geſchmack und 
Ton an deren Stelle getreten, Es fcheint, daß aud) bie 
befjere und vornehmere Richtung ber Literatur aus ber 
Berührung mit dem gewöhnlichen Troß bet niedrigern 
Preſſe nicht ohne Befledung geblieben ift. Man ift lange 


14 Linfenmann, 


gewöhnt, mit bem „Literatenthum“ geringichäßige Urtheile 
zu verbinden; e3 ift Gefahr, daß aud) fernerhin, je 
mehr das eigentliche Literatentyum bei und anwächſt, 
bie Literatur von ihrer fittlichen tie äſthetiſchen Höhe 
berabfinfe, und nicht blos bem Dilettantenthum unge 
büprlidjen Raum geben, fondern eine SBerffadung ber 
literariſchen Leiftungen überhaupt herbeiführen werde; 
die Folge davon wird fein, daß die beften Kräfte, an— 
ftatt fid) zu concentriren, fid) zerftreuen und zerfplittern, 
daß das angefammelte Bildungstapital fid verflüchtigt, 
daß ernfte wifjenihaftlide Studien dem Riebergang 
entgegengeben. 

Es liegt uns ferne, bloße Klagen zu erheben ober 
gar unverdiente Vorwürfe auf einen Stand zu häufen, 
der in feiner Gefammtheit vielmehr Ehre unb Anerfen- 
nung und Aufmunterung verdient, und beffen Angehörige 
zum großen Theil ihre befte Kraft einjegen um jenen 
Targen Lohn, ben bie materiell gerichtete Welt auf geiftige 
Mühen und Thaten fept. Und toit dürfen davon feine 
Gattung der Literatur ganz ausnehmen; e8 [deint 
Stande, von einem höheren Standpunft aus, gering 
und faft verächtlich zu fein, und e8 ift bod) nicht zu ent: 
behren unb hat im Plane des Weltganzen feine beredh- 
tigte Stelle. Wir können daraus, daß uns bie Zeiten 
der Kirchenväter faft feine weltliche Belletriftif hinterlaſſen 
haben, feine Verdammung der fog. ſchönen Wiſſenſchaften 
entnehmen, und daraus, baf e8 im Blüthenalter ber 
ſcholaſtiſchen Wiſſenſchaften feine Zerftreuung burd) bie 
Zeitungen gegeben, feine Gründe gegen das Bedürfniß 
einer Tagesprefie entnehmen; bief wäre nicht weniger 
ungerecht, als wenn man aus den erzürnten Ausfällen 


Schriftſtellerthum unb Iiterarifche Kritik. 15 


der Auctoren gegen die Stecenjentem auf die Berwerf- 
lichkeit der literariſchen Kritik ſchließen wollte. 

Vielmehr teil das Interefje an allen Zweigen ber 
Kiteratur ein fo allgemeines ift, liegt e8 uns nahe, über 
den Stand unferer Literatur zu reflektieren und biejelbe 
unter den Geſichtspunkt der ethiſchen Betrachtung zu 
flellen; und wenn bie oben angebeuteten ethiſchen Ge— 
breden von jedem ernfter Denkenden nicht geleugnet 
werben fónmen, jo muß es ein Recht geben, biefelben 
nambaft zu machen und nad) den Urſachen berfelben zu 
fragen. Würde e8 uns gelingen, ein Webel in feinen 
Urſachen aufzudeden, jo wäre die vielleicht ſchon ein 
ſchwacher Anfang, bemfelben zu begegnen, und e8 wür⸗ 
den vielleiht mande befferen und gewiegteren Kräfte, 
als bie unfrigen find, etwas zu feiner Heilung θεὶς 
tragen. 

Es wird fid für uns aber hauptfählih barum 
handeln, ob fi fittlihe Geſichtspunkte gemwinnen ober 
fittlihe Verpflichtungen formuliren laffen, von denen aus 
auf bie Literatur Einfluß genommen werden fónnte. Als 
ein folder fittlicher Geſichtspunkt erfcheint und bie Frage 
des Berufs eines Schriftftellers. 


I. If €óriftftellerei €ade des Berufs? 


Es dürfte (diver fein, dem Schriftſteller als ſolchem 
feinen rechten Plag unter bem in ber Welt als voll- 
giltig anerfannten Berufsftänden angutoeijen; am ebefteu 
noch etwa den Gelehrten von Profeffion, obgleih man 
au von ihnen gerne jagt, daß fie nicht für diefe Welt 
taugen. Bon den übrigen Schriftftelern zählen die einen 


16 Linſenmann, 


zu jenen bewunderten geiſtigen Größen, die über den 
gewöhnlichen Kategorien der Sterblichen ſtehen, für bie 
e3 feine Storm und Regel gibt, von denen man meinen 
möchte, daß fie den Boden einer alltäglichen Pflicht: 
erfüllung nur zuweilen wie im Zluge berühren; das 
Genie ift ja an feinen beftimmten Stand im gewöhn— 
liden Sinne be8 Wortes gebannt. Das find diejenigen, 
deren Ehre und Ruhm ihnen eine bevorzugte Stellung 
nicht fo faft unter al8 vielmehr über bem übrigen Men— 
ſchen fidert. Einem anderen Theile aber wird gerabe 
eine Stellung innerhalb der Berufsftände wertveigert, 
weil man ihnen die Ehren eines ſolchen Standes nicht 
einräumen will, Aus dem Munde be8 gemeinen Mannes 
Tann man e8 hören: „Nur feine Scpriftftellerei, e8 ift 
Tein rechter Beruf und fein Segen darin“. Den Kite: 
raten denkt man fid als einen Berufslofen, näherhin 
als einen Mann, ber feinen Broderwerb mit Schrift: 
ftellerei fudjt, weil e8 ihm midt gelungen ii, einen 
reiten ehrenwerthen bürgerlichen Lebensberuf zu finden, 
fid) in die gewöhnlichen Sphären einer nützlichen menſch⸗ 
lichen Thätigfeit einzuordnen und auf bem georbueten 
Wege ber Wettbewerbung in Amt und Brod zu fommen; 
im beften Falle eine prefüre Eriftenz! Je mehr man 
aud) in einem folhen Manne die Ueberlegenheit ber 
geiftigen Begabung refpeftirt, um fo mehr ift man ge- 
neigt, den Mangel einer reellen Eriftenz ibm zum fitt- 
lien Vorwurf zu maden; man erblidt an ihm bie 
mangelnde Energie für ernfle und ber Menſchheit nütz⸗ 
lide Thätigfeit, Exrtravaganz be8 Genies, das fid beu 
Bedingungen des bürgerlichen Lebens nicht fügen mag, 
Unbeftändigfeit und Leichtfinnige Auffaffung ber ernften 





Sqriftſtellerthum unb literariſche Kritik, 17 


Pflichten des Lebens. Und ba, mie man weiter fließt, 
bei einer joldjem moraliihen Anlage und Haltung fid) 
fein Charakter bilden fann, [o fiebt man die Feder nad) 
Brod gehen und den Schriftfteller deſſen Lied fingen, 
beB Brod er ipt. Man erkennt in feinen Leiftungen 
nicht den Ausdrud ber Weberzeugung, höchſtens ben 
Aufſchrei ber Noth, weil der Genius hienieden bod) meift 
zum Darben an irdiſchen Gütern verurtheilt ift. Wer 
linen Beruf hat, vertritt aud) feine Cade um ihrer 
ſelbſt, fondern nur um des Effekts willen, ben et θεῖς 
vorbringen Tann; er wird zum Wortfechter und Phra- 
fendreher, zum Zweifler, Spötter und Sophiften, und 
nad all bem zum Egoiften, der weder wahre Begeifte- 
tung kennt noch fein Publitum achtet, ber weder eine 
Cade nod) einen Menſchen wahrhaft liebt, ber vielleicht 
in einem Zuftand immerwährender Unzufriedenheit und 
be$ geiftigen und moralifhen Drudes eine Luft darin 
findet, bie höhern Güter ber Menſchen in den Staub 
iu ziehen, Anderen wehe zu thun und fie zu verlegen, 
mit dem ſchwächeren Gegner muthiillig zu [pielen, das 
Gute an den Senjden zu bemängeln, über ihre Fehler 
lieblos zu Gericht zu figen, und das eigene Intereſſe 
wer das bet Goterie, ber man fid) verkauft hat, über 
alle Wahrheit und Gerechtigkeit zu fegen. Wenn man 
πῷ in unferer Zeit eine Vorftellung von dem machen 
toil, was die Alten Parafiten nannten, [o denkt man 
nicht mehr an jene Charakterfiguren, wie fie ein Plautus 
ſchildert, ſondern an einen berufglofen Literaten. 

Das Shlimmfte an diefer Auffaffung ift mun aber 
in der That bieje, daß man einem ganzen Stande da- 
mit Unredt thut. Nur daß einzelne fid 

Biest. Onaralfgift. 1888. Heft I. 


18 Sinjenmann, 


für berufslos halten, b. D. daß fie fid) feines eigent- 
lichen Berufes und feiner Berantwortlichkeit für den- 
felben bewußt find, das macht bie Unehre aus, bie dann 
unbilliger Weiſe auf einen ganzen Stand fält. Die 
Schriftſteller müffen lernen einen Beruf 
zu haben, und dann werden ihnen aud) bie 
Berufsehren zu Theil werden. 

Wir flatuiten bie Thefe, baB Schriftftellerei Sache 
des Berufs fei. Den Beweis dafür zu erbringen ex 
parte rei, d.,b. in Anbetracht der hohen Sade, die 
auf dem Spiel fteht, ſcheint nicht ſchwer. Gibt ε einen 
Herrſcherberuf, einen Lehr: und Künftlerberuf, fo muß 
e3 aud) Cade be8 Berufes fein, an einer Arbeit Theil 
zu nehmen, welche fid) mit den höchſten Interefien der 
Menſchheit befaßt. Wo bie ebelften Kräfte be8 menjd)- 
lien Geifte8 aufgerufen werden, um im Dienfte der 
Aufklärung und Bildung und geiftigen unb ſittlichen 
SBereblung ber Mitmenſchen thätig zu fein, und mo es 
gilt, mit der ganzen Perfönlichkeit einzuftehen für Wahr- 
heit und Recht im harten Kampfe mit der Lüge und 
der Gewalt, ba follte man nur von innerem Berufe bewegt 
und überzeugt auf ben Plaß treten. Es ift feine Gate 
tung von fohriftftelerifcher Production fo harmlos und 
jo unbedeutend, daß man mit ihr ein blofes Spiel 
treiben dürfte. 

Anders wohl geftaltet fid) die Erwägung ex parte 
persone, bie e$ ung nicht ganz leicht macht, von einem 
befonderen Berufe zur Schriftftellerei zu reden. Zwar 
daß bie „Berufslofen“, die weder eine fefte Lebenz- 
ftellung haben erringen, nod) einen rechten fittlihen Halt 
und Charakter haben gewinnen können, fid) eindrängen, 


Scheiftftellertgum unb literariſche feitil 19 


beweift nod) nicht? gegen unfere Thefe. Schwerer fällt 
ins Gewicht bie Wahrnehmung, baB man nad) gemeinem 
Urtheile nicht weniger Bedenken hat gegen diejenigen, 
melde aus der Schriftitellerei fid) einen Beruf machen, 
als gegen die Berufslofen. Die rechte Schriftftellerei, 
fo benft man fid bie Cad, ijt bod) eigentlich mehr 
Wut eine Zugabe zu einer beftimmten Berufsftellung, 3. ®. 
des Gelehrten, des Schulmannes, be8 Staatsmannes 
und Politikers, als daß fie für fi allein das Leben 
und Wirken eines Mannes ausfüllen follte Der Schrift: 
feller felbft fühlt in fid) wohl einen Drang, im einzelnen 
Falle mit feinem Können an die Deffentlichfeit zu treten, 
aber er anerkennt feine Verpflichtung hiezu; man will 
ein Uebriges freiwillig thun und till feine Leiftung aud) 
darnach beurtheilt ſehen; man läßt fid) von feinem vor: 
reiben, was man eigentlich hätte Leiften follen, man 
bietet eine ungeziwungene Gabe, bie das Publicum als 
Geſchenk annehmen foll, ohne unzart fie zu bemängeln. 
Außerdem, wie mögen alle die Beweggründe heißen, 
aus denen ber Drang zum fchriftftelleriichen Verſuche 
hervorgeht! Beim Einen ift e8 bie Noth und der Ge- 
banfe an Gelderwerb, beim Andern bie Luft am gei 
fügen Schaffen; hier bie Abficht auf Anfehen und Ehren- 
fellen, dort überquellende Laune und Kiünftlerluft; 
manchmal ijt e8 aud) ber Jammer ber eit und bie 
Roth des Baterlandes, melde einem Manne bie Feder 
in die Hand brüdt, und wieder ein andermal wird Einer 
GShhriftfteller, weil e ihm zu wohl ergangen und weil 
tt aud) ſolche Lorbeeren mod) zu andern bin pflüden 
müde. Geſchieht bieB nun Alles aus Beruf? Und 
wenn nicht, mer ſcheidet unter den Taufenden diejenigen 
2* 


20 Linſenmann, 


aus, welche berufen ſind? Und doch muß es für eine 
ſolche Ausſcheidung Kriterien geben, wenn es wirklich 
einen Beruf gibt! 

Daß es dieſen Erwägungen gegenüber ſchwer ſei, 
von einem Berufe zur Schriftſtellerei zu reden, haben 
wir zum Voraus zugegeben. Aber vielleicht iſt es nur 
um ſo anziehender und lohnender, einem ſchwierigen 
Problem ins Angeſicht zu ſehen. 

Geſtatte man unà, unſre Leſer auf einen Augen: 
blid bei einer Vorausſetzung feftzuhalten, als ob fie 
nicht erft zu beweifen wäre; nehmen wir einmal als 
zugeftanden an, daß Schriftftellerei Sache des Berufes 
fei; vielleicht wird ung bie Vorausfegung annehmbar 
burdj die Folgerungen, melde fid) aus dem proponirten 
Verhältniffe ergeben. 

Der Beruf, dem ein Mann angehört, zieht um ihn 
einen Pflichtenkreis, den er ausfüllen und über ben er 
im Wefentlihen nit Hinausgreifen [oll Der Beruf 
bringt ein beftimmtes Arbeitögebiet mit fid) und übt 
einen Zwang, indem er Pflichten auferlegt. Das Be- 
wußtſein der Pflichterfüllung, welches jede Mühe er- 
leidtert, wird mur bem zu Gewinn, toelder in den 
Schranken feiner Berufspflicht bleibt; ein Hinausſchreiten 
über bieje Schranken ſetzt meiften allen Erfolg der Be- 
mühung in Frage. Der Beruf legt jene Beſchränkung 
anf, in melder fid) ja gerade der Meifter zeigen fol. 
Und darin läge ganz fiber aud ein ſittlicher Gewinn 
für ben Schriftfteller, eine gewiſſe Sicherheit für ein ge- 
orbneted und gediegenes Arbeiten und ein Schuß vor 
den wildeften Ausfchreitungen publiciftifcher Laune. 

Wäre Schriftftellerei Sache des Berufs, fo würden 


Schriftſtellerthum und literariſche Kritik. 21 


diejenigen nicht länger Recht behalten, welche darüber 
ſpötteln, daß Jeder am liebſten von dem rede, was er 
am wenigſten verſteht. Es wäre das Dilettantenthum 
in engere Grenzen zurückgetrieben; es würde zwar immer 
nod, neben den gereiften Arbeiten, aud) ſchüchterne Ver- 
ſuche und ſchwache Aufänge geben müſſen; man muß 
zuvor den Flügelſchlag probiren, ehe man kühne Flüge 
wagen fonn; man muß zuerft burd) muthige Anläufe 
fib ausweiſen, ob man berechtigt fei, nad) der Meifter- 
haft zu ftreben. Aber es fünnte fid) bod) nicht fo zus 
bringlid) die unberufene Stümperei zu Tiſche fegem, mo 
die ehrliche Arbeit in den Aſchenwinkel geftoßen wird. 
(8 würben hohe Aufgaben und Ziele den Einzelnen 
mad) ihren geiftigen Anlagen zugetheilt, e8 würde über 
den Reichthum an geiftiger Kraft, der in manchem Volks⸗ 
ium ſchlummert oder tobt liegt, mad) hoben Gefichts- 
punkten bifponitt, und über den böfen Bufällen, melde 
jet fo oft über Verſuche und Erfolge literariſcher Thä- 
figfeit entjdjeiben, tofirbe eine Art von höherer Vor⸗ 
fehung malten. 

Wäre Shhriftftelerei Sache eines beftimmten Bes 
rufes, fo wäre daraus bie weitere Folgerung zu ziehen, 
daß ber Schriftfteler einem großen Ganzen, einer 
Gorporation oder einem Stande fid) eingliebert und in 
die Verantwortlichkeit eintritt, welche Jeder für bie Ge- 
fammtheit, der er angehört, auf fid) nimmt. Der An- 
gehörige eines Standes trägt auf feiner Perfon etwas 
von den gemeinfamen Laften und Pflichten, und muß 
fif deſſen bewußt bleiben, daß von feinem Thun Ehre 
oder Unehre auf feinen Stand [füllt Das Gtandes- 
bewußtſein und bie Standesverantwortlichkeit Dat eine 


22 LZinfenmann, 


nit geringe fittlihe Bedeutung. Der Standesgenoffe 
darf nicht wie ber, welcher feinem Stande angehört und 
„vogelfrei“ ift, gleidgiltig und unbekümmert fein um 
das Urtheil der Welt und um feine Reputation; er 
darf aud) nicht bem augenblidlihen, aber weniger edlen 
SBortfeil einem dauernden und foliden Erfolge vorziehen. 
Ser einem größeren Ganzen als vollberedjtigte8 Mit- 
glied angehören will, der muß wiſſen, daß man feine 
Stimme als Manifeftation aus dem Ganzen heraus auf- 
nimmt; unb [don ber Gebanfe am die Gegenfeitigkeit, 
bie man verlangt und leiftet, zieht ber Willkür unb 
Laune, ber felbftwilligen und felbftgefälligen Indivi— 
bualitát eine werthvolle Schranke. Es wird vielleicht 
in ber Beurtheilung der gelefrten und publiciſtiſchen 
Thätigfeit unfrer Seil viel zu wenig beachtet, weld ein 
Unterſchied ift zwiſchen denjenigen unter den Schrift 
ftellern, welche das ganze Gefühl der Verantwortlichkeit 
für bie Doltrin, bie wiſſenſchaftliche Stellung und bie 
literariſche Ehre der Corporation, ber fie angehören, 
in fid tragen und davon fid) beherrihen laffem, und 
zwifchen den Andern, bie ale Rüdfichten auf eine öffent- 
lide Stellung, auf collegiale Verbindlichkeit unb corpo 
rativen Beruf bei Seite fegen, welche befbalb Alles 
wagen zu dürfen glauben, und welche mit ihren befon- 
dern Anſprüchen auf die Privilegien der Genialität fid) 
über jenes Wetterkreuz ftellen, wo es für fie feine Sünde 
mehr gibt. 

Auf Grund feines Berufes aber, wenn e3 einen 
ſolchen gibt, nimmt der Schriftfteller aud) Theil an den 
Standesrechten und Ehren und an dem geiftigen und 
fittliden Kapital, das Πὰν in einer zu hohen Aufgaben 


Schriftſtellerthum und literarifche Kritik. 23 


verbundenen Genoffenihaft anfammelt; gleid) wie er 
von ber geiftigen Atmofphäre be8 Standes getragen wird 
und in ihm die Wurzeln feiner Kraft nährt, und aus 
feinen Brunnquellen fein eigenes Wiſſen und Vermögen 
befruchtet, fo dient ihm der Stand wieder zur Schutz⸗ 
mehr gegen Verwilderung in Manieren, in Styl und 
Sitte. Es erfordert fehon eine fittliche Erfahrung, um 
zu erkennen, daß nicht Alles, was an fid) zuläffig ift, 
ſich aud) wirklich ſchickt. Vol. L Kor. 10, 22. 23. 

Wir haben hypothetiſch gefprodjen. Es läßt fid 
aber wenigſtens dieß nicht verfennen, daß e$ manderlei 
Bortheile darbieten würde, menn man Schriftftellerei als 
Cadje be8 Berufes behandeln dürfte, wenn die Schrift 
fteller von ben Berbindlickeiten, bie ein Beruf auferlegt, 
ein recht ernftes Bewußtjein hätten, und wenn man dad 
fiteratentbum ohne Beruf und fociale Stellung in die 
engften Grenzen zurückweiſen fónnte. 

Bleiben wir mod) einen Augenblid, ſelbſt auf bie 
Gefahr bin, daß e8 eine ſchöne Illuſion wäre, bei ber 
Borftellung von der Schriftftelerei als Berufsſache ftehen, 
fo muß uns ein folder Beruf als ein überaus hoher 
und edler erjdeinen. Ja vielleicht füllt es uns nur 
darum ſchwer, an unjter Illuſion, τοῖς wir e8 oben ge- 
nannt, feftzuhalten, weil die Wirklichkeit, ober bie 
alltägliche Erſcheinung unfrer hohen Vorſtellung in fo 
mandet Richtung widerſpricht. Der Schriftfteller müßte 
nad) unfern Idealen von bem Gedanken erfüllt fein, im 
Dienſte ber höchſten Güter zu ſtehen, bie e8 für bie 
Menfchheit gibt. Seine Stelle wäre neben bem Apoftel 
md dem Priefter, und er würde Anfprud haben an 
die Ehrenrechte ber Lehrer, melde fid mit den Mar- 


24 Linfenmann, 


tyrern und Sungftauen in ben befonderen Ehren- 
Tran; theilen. Was nut immer Großes und Hohes in 
den Worten Wahrheit, Crfenntnip , Forſchung, Wiſſen⸗ 
ſchaft, Bildung liegt, ba8 wäre ibm Alles anvertraut; 
der hohe Dienft aber erforderte eine durchaus reine 
Hingabe, einen unbefteclichen, feiner Lüge und Keiner 
Menſchenfurcht und feiner Gemeinheit zugänglichen Sinn. 
Eine zarte Scheu, burd) eigene Unvolllommenheit das 
hohe anvertraute Gut zu befleden, müßte ihn ftet3 durch⸗ 
bringen und mit Gorgfamteit erfüllen. Dann müßte 
ihn aber aud) andererfeit3 bie erfaunte Wahrheit auf 
die Seele brennen, fo lange bis er öffentlich ihr 
Zeugniß gegeben; das Schwert zum Kampfe wider Blind: 
beit, Ungerechtigfeit, Unvernunft und Lüge dürfte nicht 
often. 

Nicht weniger, als aus der Sache felbft, ergibt fid) 
eine hohe Auffaffung von der Bedeutung der Aufgabe 
des Schriftftellerd aus ber Reflerion über das Publi- 
cum, an welches er fid) wendet. Jeder ernſte Schrift: 
fteller hat einen 9tefpeft vor feinem Leferfreis, ober er 
denkt fid) wenigften feinen Leſerkreis in ber Mehrzahl aus 
Solchen zufammengefegt, bie er adjten kann. Wer öffent- 
lid auftritt, bem liegt daran, daß er würdig bor bem 
Publicum erſcheine; wer in feinem Auftreten zugleid 
einen Stand oder Beruf repräfentirt, ber drapirt fid) 
mit dem Gtanbesf[eib und hält felbft den Faltenwurf 
ber Toga nicht für gleichgültig. So müßte auch ber 
Auctor, ber feines Berufes gewiß wäre, feine Würde 
vor bem publicum wahren und demfelben borum das 
Befte zu bieten fuchen, was feine Kräfte vermögen. Man 
muß fid immer wieder defien erinnern, zu wem das 


Sqyriftſtelerthum und literariſche Kritit 25 


geſchriebene Wort dringen foll; man muß darauf gefaßt 
fein, daß man zu den Beften und Weifeften feiner Zeit 
tedet, und man würde dann ihnen zu gefallen und fie 
zu überzeugen hoffen, ober toenigften8 fie al8 feine Richter 
fürhten. Wer aber gemöhnt ift, geiftige Zwieſprache 
mit einem ehrenwerthen und vornehmen Leſerkreis zu 
pflegen, der wird nicht leicht, in Gedanken ober Aus- 
drud, zu jenen Schaaren herabfteigen wollen, welche zu 
gewinnen und fortzureißen feine Ehre machte; er wird 
nicht den Wahn ber Unwiſſenden ausbeuten, mod) ben 
Leidenſchaften der Rohen ſchmeicheln, fondern ben Bei— 
fall der Gbíen als das ſchönſte Ziel feines Wirkens 
anfehen. Nur der Berufslofe, jo εἰπὲ e8 unà, würde 
fid mit bem Pöbel gemein machen wollen. 

Ganz bejonber8 aber müßte wieder allgemeiner er⸗ 
lannt werden, daß bie Gabe des Wortes in Rede und 
Schrift in den Bereich ber Kunft gehört, und baf ber 
berufene Schriftfteller ein Künftler fein 
Toll Der fhriftlihe Gebanfenausbtud erfordert ebenfo 
und nod) mehr, als das flüchtig geſprochene Wort des 
Redners, eine Kunftform, fomit eine Unterordnung des 
Stoffes unter eine Norm und Regel der Darftellung. 

In der Literatur aller Völker geht bie Poeſie, b. i. 
bie gebundene Form ber Rede, der Profa voraus; erft 
von ba an, mo bie fortgefchrittene Cultur eines Volles 
aud) der gemöhnlichen Rede den Styl und Schmud ber 
funft zu verleihen vermag, wird aud) fie der Weber 
lieferung und ber Verewigung butd) Schriftdentmale für 
werth gehalten. Das geichriebene Wort fol den Cha: 
tafter be8 Monumentalen haben und barum, bem ver: 
ſchiedenen Bmeden ber Darftellung entſprechend, burd) 


26 Linfenmann, 


beftimmte SKunftregeln gerichtet und geordnet werden. 
Es gibt ja freilih gar verſchiedene Stylgefege, vom 
Lapidarſtyl ber fteinernen Gefegestafeln an, durch alle 
Formen der Poefie, der öffentlichen Rede, der Geſchichts- 
ſchreibung und der philofophifhen Abhandlung hindurch 
bi8 zum Briefftyl und Zeitungsſtyl. Aber eine funfi- 
form ift immer erfordert; ohne fie wäre Platon nicht 
Platon und Paulus nicht Paulus geworden. Hat fid) 
nun aud) in unferer Zeit, in welcher, wie einmal Herodot 
von den Schthen berichtet, „Togar die Luft mit Federn 
gefüllt ift", die Zahl ber fchriftftelerifhen Gattungen 
oder Kategorien vermehrt, |o daß wir neben Poefie und 
Hiftorie, neben ber rhetoriſchen und ber wiſſenſchaftlichen 
Stebeform noch einen roniftifchen, einen journaliftiihen, 
feuiletoniftifhen, vielleicht jogar einen eigenen 9tecen- 
ſentenſtyl haben, fo dürfte e8 bod) eigentlich feine butd)- 
aus form: und regelloje, alle Form ber Kunft negie- 
ende Darftellung geben; ober, menm bief vielleicht 
deutlicher ift, e8 foll feinen Dienft ber Wahrheit 
geben, bem fid) nicht zugleih ein Streben nad 
Schönheit zugejelt. Wer allen Sinnes für 
Schönheit der Rede, für Harmonie und €ben- 
maß, für Anpaffung des Stoffes an einen 
boben und ſtrengen Zweck, und für Ueber 
mwindung des 9toben und Trivialen ledig 
wäre, der wäre fein berufener Schrift 
fteller. 

Die Kunft allein in der Rede und Darftellung ent: 
ſcheidet freilich nicht, fie ift nicht Gelbflgmed, fondern 
nur Mittel zum Zwecke. Und mas man gewöhnlich 
Kunft nennt, ift nicht immer jene hohe Göttin, vor der 


Schriftſtellerthum und literariſche Kritik. 27 


man fid mit Recht in Ehrfurcht beugt, fondern manchmal 
eine verächtliche Buhlerin; daher ift Verachtung über 
fie gekommen, jo daß Manchen das Verſchmähen ber 
funft gerade als ernſte Wiſſenſchaft, und das Verſchmähen 
ber redneriſchen Schönheit als Liebe zur Wahrheit gilt. 
Wir geben zu, baB e8 ein falfches und verächtlices 
Streben nach glüngenber Darftellung und Deftedjenbem 
Reize ber Rede gibt, erflürlid) das einemal aus einer 
falſchen Geſchmacksrichtung, melde die Gattungen ber 
Literatur nicht unterſcheidet und daher ber einen Gattung 
das Stylgefeg einer andern aufzwingen will; erflärbar 
aber das anderemal aus berechneter Sophiftif, deren 
fünfte das einfade Wort der Wahrheit burd) Wort: 
weisheit gefangen nehmen wollen, „fleiſchliche Weisheit” 
nennt dieß ber Apoftel (II. for. 1, 12), bie ber Ein- 
fachheit des Herzens und ber Lauterkeit Gottes zuwider 
i. Aber Formlofigleit und Regellofigkeit 
und — fagen wir e8 frei heraus — Zügel: 
Iofigfeit bat barum πο ebenfo wenig mit 
der wahren Weisheit gemein, als die rohe 
unerlöste Natur ein reiner Spiegel der 
góttliden Shönheit ift. Der engliſche Philofoph 
Shaftesbury fagt: „Trachtet zuerft nad) dem Schönen, 
und das Gute wird euch vom felbft zufallen.“ Mir 
balten diefen Sat, fo patabor er flingen mag, für 
innerlich verwandt mit jenem Ausſpruch des alten Weifen, 
ber von bet Weisheit jagt, „daß ihm mit ihr alles Gute 
zumal gefommen jei^ (Weish. 7, 11). Weisheit und 
Schönheit finden fid in einer Wurzel zufammen, in der 
Drbmung und Harmonie. Die Meifter, welchen Weisheit 
und Schönheit im Verein ihre Offenbarungen fpenben, 


28 Linfenmann, 


fie find erft die rechten Paladine ber Wahrheit und Er- 
lenntmiB; fie verfchaffen der Wahrheit ihre Ehre und 
bewahren bie Kunft vor bem Zerfall; fie find es, welche 
πα bem Worte ber Ὁ. Schrift ber Menſchheit goldene 
Früchte auf filbernen Schaalen reihen (Sprüd. 25, 11). 

Wir fteigern die Anfprüche, wenn mit bie literarifche 
Thätigfeit in die Sphäre des Kunftberufs emporrüden, 
in melde dann freilich Keiner eintreten bürfte, der nicht 
von bem Bewußtfein einer hohen Sendung burd)brungen 
wäre und nit einen Glauben an bie Kunft 
unbibren Beruf mitbrädte. Mit der jungfrüu- 
lien Scheu, womit der Maler fein erftes Bild ausftellt, 
müßte der Schriftfteler feine erften Blätter prüfen, ehe 
er vor bie Deffentlichfeit tritt, und menn ihm bet erfte 
Wurf gelungen wäre und ihm Ermuthigung zu neuem 
Streben gebracht hätte, fo müßte er bod) miffen, daß 
bie Ehrenkränze, um bie er wirbt, der Lohn fanger treuer 
Uebung und Hingabe find. Gewiß ftümbe e8 um unfre 
Literatur in allen Richtungen beſſer, wenn biefe hohe 
Auffaffung von der Aufgabe des Schriftfielerthums all- 
gemeiner wäre. — 

Welche Schwierigkeiten aber einer ſolchen Auffaſſung 
entgegenftebem , das haben wir in ber bißherigen Dar- 
ftellung vieleiht nur allzufehr felbft verrathen. In 
Wirklichkeit fcheint im Weſen der Literatur felbft etwas 
zu liegen, was uns verbietet, ba3 ibeelle Hecht zur 
Schriftftellerei in den mang eines befonderen Berufes 
oder Standes einzuengen. Mit der vulgären Bezeichnung 
berufener oder unberufener Schriftſteller 
iſt ohnehin nicht weiter zu kommen; die gedankenloſe 
Angewöhnung des Volksmundes verbindet mit bem Worte 


Schriftſtellerthum und literariſche feitit. 29 


Beruf ebenjomenig einen ftrengen Begriff, wie 3. ©. 
mit bem Worte Segen, ſegensreiches Wirken, 
ba$ von vielen Thätigfeiten prädicirt wird, melde mit 
dem Segen von oben wenig zu thun haben. Wollen 
wir den Beruf al8 ein wirklich reelle8 und definirbares 
Weſen fallen, fo fet er eine gemiffe Ausſchlie ß— 
lidteit voraus, einen geſchloſſenen Stand, am Ende 
gat eine Zunft. Und dagegen, fo fdjeint e8, müßte von 
zwei Seiten Einfprache erhoben werden. Bon der einen 
Seite wird man die Frage erheben, ob denn wirklich, 
neben Wenigen, wahrhaft Berufenen, die Vielen, melde 
auf den großen Markt unfrer heutigen Preſſe mit geiftigen 
Erzeugnifien treten, Eindringlinge genannt werden müß: 
ten? Coll der Beruf zur Schriftftellerei eine Aufgabe 
für fich allein ausmachen und das Leben eines Mannes 
ausfüllen, oder ift er nur eine Zugabe zu einer öffent: 
lichen Stellung und Lebensarbeit? Sol das Genie oder 
die geiftige Begabung nur da gum literariichen Ausbrud 
tommen bürfen, wo zuvor eine Bunftprüfung beftanden 
Ober ein Freibrief erworben worden? Läßt fid Geift 
und Talent und ber innere Drang nad Offenbarung 
feiner Ueberzeugungen irgend einem ber vorhandenen 
Derufsftände abfpredjen und an einen anderen Stand 
binden? Das freie Wort verbieten zu wollen würde ja 
wohl als ein Majeftätsverbrechen gegen den Geift unfrer 
Zeit angefehen werben, und e3 ift ja ſchon zum geflügelten 
Borte geworden, daß nicht an wenige ftolze Namen die 
Kunft gebannt fei Diejenigen, welche fid nad ber 
Borftellung von einer bejonbet8 ausermählten Geiftes- 
ariftofratie in erfter Linie für Berufene erachten würden, 
kann man fid) faft nicht anders als mit bem Gelehrten⸗ 


30 Linſenmann, 

talar, die Studierlampe vor dem geſchwächten Auge und 
das Zöpfchen im Nacken, vorſtellen; und von dieſen 
„Berufenen“, ſo ſagt man, ſeien gerade am allerwenigſten 
die rechten Lichtfunken der Aufklärung und bie Meifter: 
werke der Literatur ausgegangen. Es wäre ein eitle8 
Bemühen, einen ariftofratifhen Bann über bie geiftige 
Produktivität zu legem. 

Wir anerkennen die Berechtigung diefer Ginreben, 
obgíeid) wir ſchon hier zur Abſchwächung des Gewichts 
derfelben einige Yegerifche Bemerkungen gegen bie liberale 
Drthoborie unferer Zeit anbringen möchten. Offen ge- 
fanden, wir wünſchten etwas mehr ariftofratifhe Zu: 
rüdhaltung und etwas weniger demofratifche ober ochlo⸗ 
Tratifche Freiheit in der Preffe, mur in einem befferen 
Sinne. Muß denn überhaupt fo viel gefehrieben werden ? 
Je mehr Literatenthum, je mehr Tageslektüre, je breiter 
der Etatsfag für den öffentlichen Bedarf am Lejeftoff, 
befto mehr Abnahme ernfter Studien, defto mehr Ver- 
flahung auf bet einen, Ueberfättigung auf der andern 
Seite. Gewiß kann man nicht jagen, daß, wie im Haus: 
halt der Natur, jo aud) im Haushalt ber menfchlichen 
Gejelljdjaft jedes Ding feine Berechtigung habe. Es 
gibt hier eine Ueberfülle, bie man im Ganzen für ſchäd⸗ 
lid) anfieht, fo febr aud) jedes einzelne und fleinfte (ὅτε 
zeugniß feine Bertheidiger und Freunde finden mag. 
Daß bie Maffe des Mittelmäßigen der Verbreitung ber 
wahrhaft guten Literatur binderlih in den Weg trete 
und daher aud) lähmend auf bie gefunde Productivität 
zurückwirke; daß das Unbebeutende ſich breit aufbrünge, 
den Gejdjmad der Menge verderbe und ihr Urtheil itre 
führe, dieß wird nicht erft zu beweifen fein. Welches 


Schriftftelertfum und literariſche Kritik. 31 


wird einſtens das Schickſal aller ber Bücher in unſeren 
Bibliotheken, aller der Zeitichriften, Broſchüren, Bam: 
phlete und Tagesblätter fein, meldje das Studierzimmer 
der Gelehrten und bie Lejezimmer ber Mufeen überfluthen 
und in jede VBürgerftube bringen! Wer es verftünde, 
die richtige Auswahl zu treffen, wie viel Procent der 
jährlichen Production dürfte er, ein befferer Omar, ver: 
brennen, daß er mod) ein Wohlthäter ber Menfchheit 
genannt würde! 

Muß denn überhaupt alles geſchrieben und gebrudt 
merden, was man für eine neue Wahrheit oder Weis- 
beit anſieht? Es gehört zu den naivften Vorurtheilen 
unferer Zeit, daß man fid) einbildet, eine erfprießliche 
Öffentliche Wirkfamfeit müſſe mit Literarifcher Thätigkeit 
verbunden fein, und das Talent könne fid) nur auf bem 
Wege der Schriftftelerei volle Geltung verſchaffen. Es 
war vielleiht in den Schulen beſſer beftelt, als nod) 
midt jeder Profefjor Schriftfteller fein mußte; ganz ges 
wiß aber mar e8 um das Staatsweſen befjer beftellt, 
als uod) nicht die Staatsmänner unter bie Schriftfteller 
giengen oder bie Literaten in den Staatsrath berufen 
wurden; eine glüdlidere Zeit mar e8, wo man Ruhm 
und glänzenden Namen noch anders al8 mit ber Feber 
fudjte; jelbft das eiferne Zeitalter ift immer πο größer 
al3 das papierne; e8 ijt in.mehr als einem Sinne wahr 
geworden, daß, was bie Herren vom Schwert gut ge: 
macht, burd) die Herren von ber Feder wieder verbotben 
worden. — Allein wir find nun einmal auf einer Gultur: 
flufe angelangt, wo ber Austaufh der Gedanken vor: 
herrſchend durch bie Preffe vermittelt wird, und too bem 
Geifte das Hilfsmittel der literarifhen Mittheilung am 


32 Linfenmann, 


nächſten liegt für Auswerthung feiner Arbeit unb für 
die Verbreitung von Ideen; und e$ ftebt ja nichts im 
Wege, daß man bie ſokratiſche Lehrmeife mit fchriftlichem 
Vortrag nad) Platons und Ariftoteles’ Beifpiel verbinde. 

Da nun bod) die Literatur einen fo großen Umfang, 
und die Preſſe eine jo hohe Bedeutung für unfer ganzes 
öffentliches Leben und für jede Seite unfrer geiftigen 
und fütlidjen Bildung gewonnen bat, fo können wir der 
oben erwähnten Ginrebe gegen eine erclufive Berechtigung 
weniger Berufenen zur Schriftftelerei eine beachtens⸗ 
werthe Seite nicht ab[predjen. Die Literatur wird ber 
meunſchlichen Geſellſchaft ihre beften Dienfte leiften, wenn 
fie fi möglichft frei bewegen Tann. Ob eine größere 
Gefahr für das allgemeine SBefte in dem ettoaigen Miß- 
braud der Freiheit liege, oder in bet Feflelung des 
freien Wortes unb Unterbrüdung ber Preſſe durch irgend» 
welchen politiichen ober focialen Zwang, foll an biejer 
Stelle dahingeftellt bleiben; es liegt und unter allen 
Umftänden näher, bie Freiheit, bie wir für uns bean- 
fpruchen, aud) Anderen einzuräumen. 

Nicht weniger Gewicht ſcheint ung eine Einwendung 
von einer zweiten Seite Der zu haben. Nicht mur bie 
Gadje, fondern am meiften bie Schriftfteller felbft müßten 
darunter leiden, wenn man ihnen eine von andern Berufs: 
ftänden abgeſchloſſene Sebensftellung anmiefe, eine gei- 
ftige Adelspartei oder gar eine Kafte aus ihnen 
machte. Der Schriftfteller „von Profeſſion“ würde erft 
recht den fiheren Boden innerhalb ber bürgerlichen Ge- 
fellidjaft verlieren und nirgends ein Bürgerrecht gemwin- 
nen; ihm fiele bei der Vertheilung ber Erde fein $008 
zu, und indem man ihn [deinbar emporheben möchte 


Schriftſtellerthum und literariſche Keitit. 33 


in bie Region ber höheren Sphären, würde man ihn 
thatſächlich erniebrigen, und mit ihm die Literatur felbft. 
Denn bie höchfte intellectuelle Anſpannung des menſch⸗ 
lien Geiftes ertrügt den Zwang, bie Regelmäßigfeit 
und ben abgemefjenen Pulsſchlag bes Handwerks oder 
der Profeffion mid; Werkftattarbeit wird immer tiefer 
ſtehen als freies funftgebilbe. Den Schriftfteller zum 
Zunftgenofjen ftempeln, Heißt ihn erniedrigen, fein Schafe 
fen hemmen, die Literatur auf ein tiefere Niveau θεῖς 
abbrüden. Die Probe davon liegt ja zu Tage, wo 
Runft oder literarische Thätigkeit zur gewöhnlichen Tages- 
arbeit, zur motbgedrungenen, wird. Wenn wir von 
einigen befonder8 auserwählten und vorgezogenen Gei- 
fern abjehen, mie Wenigen wird ber Dienft ber Muſen 
überhaupt zum Lebensglüd! Und gar wenn biefer 
Dienft ein ausſchließlicher, durch befonberes Menſchen⸗ 
ſchickſal aufgenöthigter und unabweisbarer wäre! Wie 
wenig zu glüdlider Harmonie entwideln fid) fo viele 
Künftlernaturen und Künſtlercharaktere! Oft idjeint es, 
ba man aufhören müfle, ein normal benfenber und 
normal Lebenber Meni zu fein, um wirklich bie Infpis 
tationem be8 Genius zu erfahren ober das Walten jenes 
Dämonion zu vermehren, von meldem ein Softates 
feine Lebensführung erhielt und von meldjem ber Dichter 
jubelte: Est Deus in nobis, agitante calescimus illo! 
Manchem, fo fcheint e8, ift ber Götterfunke zur verzehren- 
den Flamme geworden, die das Glüd und bie Freude 
feines Lebens verjengt hat. Welche traurigen Schickſale 
müfen vorausgehen und einen berühmten Schriftfteller 
jum intereffanten Manne machen, bis man ibm — aus 
Mitleid — eine Subvention votirt und — nad) bem 
Sec. Qusrtalfeift 1889. Heft L 8 


84 Linfenmann, 


Tode — ein Denkmal jet. Wahrlich die Götter des 
Parnaſſes behandeln ihre Lieblinge hienieden herb und 
grauſam; bie einftens fo fröhlich angefangen, enden gar 
traurig, und die fo vielen ihrer Mitmenſchen frohe 
Stunden bereitet, behalten für fid) die Schwermuth, 
Verlaſſenheit und Verzweiflung. Unter allen Umftänden 
find fie nicht zu beneiben, bie mit der Feder ihr Brod 
verdienen müflen. Pegaſus im Jodie! 

Diefen Einwendungen, fo lebhaft und eindringlich 
fie ausgefprochen werden mögen, wird leicht zu begegnen 
fein, wenn mir und mur einmal recht verftehen. Man 
fol ung nur uidjt einen falfchen Begriff vom Berufe zur 
Mitarbeit in der literariſchen Welt unterftellen. 

€óriftftellerei ift uns nidt €ade ber 
Zunft und des Handwerks, fondern fie foll 
eine berfreien fünfte fein, und unter ihnen 
bie mädtigfte, wirfungsvollfte, bie veidfte 
an hoben Aufgaben unb an Verantwortlid: 
feit. Der Beruf, von bem toit reden, ift ein ge: 
beimnißvolles, inder Hand Gottes gelegenes 
Verfügen über die Einzelnen zum Wohle 
des Ganzen, entipredenb den individuellen 
Anlagen und Kräften, fo daß der Menid, 
der feinen Beruf zum Wohle ber Menſchheit 
erfüllt, damit am fiherften aud fein eigenes 
Biel und Lebensglüd erreicht. Die Art und 
Weife nun, wie in ber von Gott gemollten Ordnung 
der Dinge jene Difpofitionen getroffen werben, wornach 
Jedem ein beftimmter Platz in bem Getriebe des all- 
gemeinen Menfchenlebens angetoiejen wird, ift verſchieden 
je nad) den Funktionen, für welche bie Berufung ergeht. 


Schriftftellertgum unb literariſche Kritik, 35 


Anders wird ber Bauernjohn zur bäuerlihen Arbeit 
berufen, anders ergeht ber Beruf für ben Beamtenftand, 
für das Lehramt, anders wieder für das Priefterthum 
und anders für das Klofter. Ye höher bie Berufsauf- 
gabe oder die zugetheilte fociale Funktion, defto weniger 
it bie Berufung an Naturnothwendigkeiten, an ben 
Stvang des Geblüt3 und bet Abftammung oder an ben 
focialen Zwang der Zunft, ber fafte ober Sippfchaft 
getuüpft, um [o mehr tritt vielmehr bie eigene Wahl 
und Gelbftbeftimmung in ihr 9tedjt; und dennoch rebet 
man gerade bei bem höheren Aufgaben viel mehr und 
richtiger von einem „Berufe“, al3 bei ben niebrigeren 
ober gewöhnlichen und jelbftverftändlihen Dienften, bie 
man mad) dem Gang der Dinge in ber Welt verfieht. 
Es hat viel mehr Sinn, menn man von einem Beruf 
pun Gelehrten ober Künftler ober Politiker redet, als 
von einem Beruf zum Lohnarbeiter oder zum Sklaven !); 
und gerade ba, too man ben höchſten Grad von freier 
Selbftbeftimmung für bie Cntjdeibung über die Lebens- 
ſtellung fordert, bei ber Cntjdeibung für ben geiftlichen 
oder DOrbensftand, rebet man erſt recht von einem be: 
fonderen göttlichen Berufe, ber mit ber Macht einer 
moralifhen Nöthigung an den Geift ergeht, befjen Aeng⸗ 
fem und Bedenken überwindet und eine Bürgſchaft für 
bie Befähigung zu hohen Arbeiten enthält. 
DerBerufenthältinfid eine innere 


1) Auch 1. Kor. 7, 21 ἢ. will nicht befagen, daß Jemand zur 
Sklaverei berufen oder durch göttlichen Willen beftimmt morben; 
berufen wird vielmehr ber Sklave, trot; feines Sklavenftanbes, zum 
Reiche Gottes, und ber Wille Gottes ijt, daß τοῖς nicht Silaven 
von Renſchen werden. 

3* 


36 Sinjenmann, 


Nothmwendigfeitbeidem höchſten Grade 
der freien Selbfibeffimmung. Das ift uns 
zunächſt eine Art von Myſterium. Aber Eines ijt allge 
mein anerfannt. Sagt man von einem Priefter ober 
einem Künftler, er fei dieß ohne Beruf geworden, fo 
brüdt man damit einen ſchweren — fittlihen — Bor: 
wurf gegen ihn aus und fpridt ibm fozufagen die Gri- 
fteng ab. Wenn aljo der Begriff ber freien Standeö- 
wahl und ber freien funft, und der Begriff des Berufs 
einander nicht ausjdlieBen, fondern einander vielmehr 
zu fordern jdjeinen, fo bewegen wir ung aud) in feinem 
Widerſpruch, wenn wir Schriftftellerei nicht als 
Cade der Zunft oder ber Kafte, und bod) als 
Gad be& Berufes bezeichnen. Gerade weil man 
Dichter, Maler, Muſiker u. f. to. nicht auf jenen Wegen 
wird, auf melden man Bauer, Hirte, Knecht ober Magd 
wird, muß fij, wer in bie Reihen ber freien funft ein= 
treten will, darüber Rechenſchaft geben fómmen, von 
welchen Motiven er fih in ber Wahl feiner Lebenzauf: 
gabe ober eines gewiſſen Arbeitsfeldes beftimmen lief. 

Daß wir uns einer Erſchleichung des Reſultats 
ſchuldig gemacht, indem wir den Schriftfteller ohne Weis 
tere neben den Priefter oder Künftler oder Gelehrten 
geftelt, hierüber fürchten wir einen Vorwurf nit. Nur 
wäre vielleicht nod) einem weiteren Mißverſtändniſſe vor- 
zubeugen. Man fónnte eine feinlidje Pebanterie darin 
finden, wenn man ein beftimmtes Arbeitsfeld oder funjt« 
gebiet abgrenzen will, außerhalb befjen man nur von 
unberufener Arbeit reden müßte. Man müßte, jo hören 
mir ung einwenden, neben bem Künftler vom Fach aud) 
dem Dilettanten fein 9tedjt einräumen. Es bejdüftigt 


Schriftſtellerthum und literarijdje feriti. 37 


fb mancher mit Kunft, ohne Künftler zu fein, und er 
fet doch in feinem Rechte. Man verdankt den Dilet- 
tanten faft mehr Kunftgenüffe, al8 ben Künftlern von 
Gottesgnaden; man muß ja nicht gerade Tonfänftler fein, 
um ein Lied ſchön zu fingen, und vielleicht find viele 
ſchöne Liederweiſen auf Erfinder von zmeifelhaftem 
Künftlerberuf zurüdzuführen. Der Sinn und der Ge- 
ſchmack für künftleriihe Geftaltung und folglich aud) das 
Recht dazu ſcheint viel zu allgemein ausgebreitet zu fein, 
ala daß man zwiſchen den Kunftverftändigen, bem ftunft- 
liebhaber und bem Künftler biftatorijd) eine Grenzlinie 
sieben Könnte. Ebenfo wird man mun aud) nicht gerade 
Schriftſteller vom Fach fein müſſen, um einen Zeitungs- 
artifel ober eine Denkſchrift zu verfaſſen; vielleicht wird 
aud) bier von Dilettanten mehr geleiftet für eine ge- 
funde Cnttidlung der Literatur, al8 von Berufenen, 
denen von amts- und obrigeitwegen bie Verwaltung 
ber geiftigen Güter der Gefellihaft anvertraut ift. — Man 
follte darum nidi fagen: nur wer berufen ift, der Tann 
Treiben, fondern wer e8 famn, ber ift berufen. 

Wir laffen un8 duch biefe Unterjheidung zwiſchen 
dem Fachmann und bem Dilettanten in unferer Beweis: 
führung nicht ftóven. Vielmehr dehnen mit die 9fua- 
logie nod) weiter aus. Niemand nimmt Anftoß daran, 
daß man einen fpegiellen Beruf für die apoftolijde und 
priefterlide Thätigfeit, für den Waffendienft, für bem 
Gelehrten vorausfegt, ohne zu leugnen, daß aud) ein 
Laie priefterlicder wirken könne als ein Priefter, ein 
Givilift tapferer als ein Berufsfoldat und ein Ungelehrter 
weifer fein könne al8 eim Schulgelehrter. Einer gewiſſen 
Klaſſe von Logikern gegenüber Fönnten wir und au ber 


38 Linfenmann, 


SBetlegenbeit, die wir uns felbft bereitet, mit bem Hinweis 
darauf retten, daß ja feine Regel ohne Ausnahme fel. Aber 
toit brauchen diefen — in allen Fällen logiſch bedenklichen 
— Nothbehelf nit. Wir laſſen feine Ausnahmen gelten. 
Dagegen macht es logijd) einen Unterjchied aus, 
ob man bei Betrachtung einer großen Erſcheinung — 
lei e8 im kosmiſchen ober im geiftig-fittlichen Leben — 
mehr das Große und Allgemeine ins Auge fafie und 
ble groß gefchriebene Schrift der Sprache des Univerfums 
lefe, oder ob man von ber Unterfuhung des Einzelnen 
und Kleinen mit feinen unendlichen Varietäten ausgehe 
ober gat babei ftehen bleibe. Ob mir bei Beurtheilung 
eines Phänomens von weltumfaflender Bedeutung rich⸗ 
tiger vorgehen, wenn toit vom Großen auf das Kleine, 
Ober wenn wir vom Kleinen auf das Große fchließen, 
dieß hängt vieleicht je vom ber eigenthümlichen Natur 
des Gegenftandes ab; im unferer Discuffion nehmen 
wir wenigftens bas Recht in Anſpruch, bem erfteren 
Weg einzufchlagen. Legt e8 fid) uns aus guten Gründen 
bei ber Wertbfehägung ber literariſchen Thätigfeit im 
Ganzen nahe, einen Beruf für diefelbe zu ftatuiven, fo 
brauchen mir un in unferer Weberzeugung nicht baburdj 
beirren zu laffen, daß mande Einzelerfcheinungen im 
Kleinen fid) in den Begriff einer Berufsarbeit nicht fügen 
mollen. Auch die Betheiligung an der Preſſe im Hleineren 
Maßftab, aud) in der Form bes bloßen Dilettantismus, 
ift und entweder eine berufene oder eine unberufene. 
Betrachten wir aljo das Leben nad) den Beifpielen 
von größeren Dimenfionen, bei melden deßhalb bie 
Charakterzüge aud) Fräftiger und greifbarer heraustreten, 
fo Tann ung nicht entgehen, daß das Eintreten in ein 


Schriftſtellerthum unb literariſche fitit. 89 


Arbeitsgebiet, wie wir e8 bier im Auge haben, ein 
Hinaustreten aus ben engen Grenzen einer einfacheren 
und niedrigeren ebensftellung bedeutet; es ift ein Schritt 
in die Höhe, in eine erponirte Stellung, ein Wagniß, das 
wit felten den Schein der Bermeflenheit ober Arroganz 
annimmt, und vor welchem ber weile Siracide zu warnen 
ſcheint: „Was über dir ift, darnach follft du nichft ftreben, 
und was über deine Kräfte ift, ſollſt du nicht unterſuchen“ 
(Eti. 3, 22). Je höher das Gebiet liegt, in welchem 
Jemand feine Lebensaufgabe jucht, deflo mehr ift gewagt, 
wenn er feinen Beruf verfehlt], befto nothwendiger aljo 
bie keuſche Scheu, che man ben entſcheidenden Schritt tout. 

Was gibt mun den Muth, den innern Antrieb und 
die endliche Entſcheidung zu foldem SBagniB? Der 
Reiz, ber in der Sache liegt und ber von außen auf 
ben Geift einmirft, reicht als Erklärungsurſache allein 
nicht aus; mod) weniger die Zufälligfeiten, melde mit 
der Sache verbunden find, wie Ehrenftellung, glänzende 
Ausfihten. Wahrlich dem Ehrgeiz ftehen ganz andere 
Mittel der Befriedigung zu Gebot! Die Entſcheidung 
liegt vielmehr im tiefften Inneren, im Bewußtfein des 
Rönnens, das aber getragen ift von ber Em: 
pfindung des Gollens. Das erftere mag aus mir 
ſelbſt kommen, das andere aber fommt aus einem anderen 
Urfprung, aus jenem Urgrund, in meldjem bie Schickſale der 
Menſchen von Gottes Hand befehloffen find und durch bie ent- 
giltige freie Entſchließung des Einzelnen entfiegelt werben. 

Damit [εἰπέ e8 wun faft, daß unfere Erörterung 
auf ein nur febr allgemeines und unbeftimmtes Ergeb: 
wif binausführe. Aber nicht allgemein und unbeftimmt, 
fondern mur tief und geheimnißvoll wird uns bei diefer 


40 Linfenmann, Schriftftellertfum und literariſche Kritik. 


fBetradjtung der Beruf des Schriftſtellers. Er unter: 
ſcheidet fid) in feiner Manifeftation von anderen Berufs: 
arten und entzieht fid) ben vulgären Kriterien über Stan- 
deswahl, und daher wird es hier ſchwerer als in anderen 
Dingen, zu einer vollen Tlebergeugung vom inneren Bes 
fuf zu gelangen; Täufchungen find vieleicht häufiger. 
Die Ufurpation, vermittelft deren Einer fid) unberufen 
eindrängt, ift ebenfowenig ein Beweis für bie Entbebr: 
lichkeit eines Berufs, als umgekehrt der Mißbrauch ber 
Gaben und Kräfte von Seiten eines Dodangelegten 
Geiftes ein Beweis gegen bem Beruf ift. 

Es würde mum aber unſre ganze Beweisführung 
in ber Luft hängen, wenn wir nicht aud im Stande 
mären, beftimmte Kennzeichen be8 Berufs zur ſchriſt⸗ 
ſtelleriſchen Thätigkeit aufguftellen; und hierin dürfte 
wohl bie größte Schwierigkeit liegen. Wir ermiebern 
hierauf: Nach denjenigen Seiten hin, melde ber Schrift: 
ftellezberuf mit andern hohen und edlen Berufgarten 
gemein bat, hat er mit biefer aud) die Kriterien des 
Beruf3 gemein. So wie er fid) aber von ihnen duch 
feinen befonderen Goarafter unterfcheidet, muß es für 
ihn aud) befondere Kriterien geben; und fie zu ermitteln 
wird die Aufgabe eines eigenen Abſchnittes fein. 

Es wird ja thatſächlich oft genug über Beruf oder 
Nichtberuf eines Schriftftellers abgefprodjem. Was wir 
in diefer unjerer Abhandlung im Allgemeinen nadgu- 
weiſen fuchten, das fpridt bie literariſche Kritik in ihren 
Einzelurtheilen aus. Ob fie ein 9tedt dazu hat und 
ob bie Kritik felbft vor der Kritik beftehen fónne, das 
fol Gegenftand der folgenden Unterfuchung werden. 

(Bortfegung folgt.) 


2. 
Die Katechumenatsclaſſen des chriſtlichen Alterthums. 


Bon Prof. Dr. funt. 





(8 ift bie vorherfchende Anficht der Kirchenhiſtoriker, 
Archäologen und Liturgifer, daß e8 in der zweiten 
Hälfte des chriſtlichen Alterthums oder im vierten unb 
den folgenden Jahrhunderten drei Glaffem von Katechu— 
menen gegeben und daß bie Mitglieder ber einzelnen 
Glaffen die Namen 1. ἀκροώμενοι, audientes, 2. γόνυ κλέ- 
vovzeg, genuflectentes, 3. φωτιζόμενοι, competentes oder 
electi geführt haben. Ich vermeife mur auf Ducange '), 
Augufti ?), Neander 5), Höfling 2), Hefele *), Zezſchwitz *). 


1) Glossarium s. v. Catechumeni. 

2) Denkwürdigkeiten aus ber chriftl. Archäol. VII (1825), 54. 

3) f. G. 3. A. 1,587 f. 

4) Das Sacrament ber Taufe I (1846), 153. 

5) Conciliengeſchichte 1. X. I (1855), 402. 

6) Der Katechumenat 1863 €. 108 ff. Herzogs Real-Enchklo- 
pübie 2.9. VIL (1880), 576 f. Mit Ruͤcſicht auf Kanon 95 des 
Quinisextum, bezw. fanon 7 der Synode v. Gonftantinopel 881 
werben durch 3. ben beiben erften Glafjen außer ben Namen dxgow- 
μενοι und γόνυ χλίνοντες Gud) mod) die Namen χριστιανοί und 
χατηχούμενοι beigelegt. Mit welchem Recht, werben wir [püter 


42 gunt, 


Bona ') nimmt fogar vier Glaffem an, indem er aus 
den zur Bezeichnung ber dritten Claſſe üblichen verjdjie- 
denen Namen zwei Claſſen macht. Ebenfo kennt Bingham?) 
vier Glafen, indem er den gewöhnlichen drei Glaffen 
die ἐξωθούμενοι als vierte oder niebrigfte Claſſe voraus: 
gehen läßt, und er ftügt fid) für biefe Eintheilung auf 
die Verordnung der Synode von Neocäfarea c. D, ber 
fatedjumene folle, menn er wiederholt fünbige, fchließ- 
Tid) ausgeftoßen werden (ἐξωϑείσϑω), indem er annimmt, 
bie bezüglihen fatedjumenen feien nicht ganz zu ben 
Heiden verftoBen, fondern nur in den Stand zurüdver: 
jet worden, in bem fie vorher waren, als fie durch 
bie erfte Handauflegung Katechumenen gemorben feien, 
in den Stand des Privatunterrihtes, in bem fie fid) 
befunden haben, bevor fie bie Erlaubniß erhielten, bie 
fitde zu betreten. 

Die Annahme von vier Claſſen ift aber entſchieden 
unrichtig. Das ἐξωθείσϑω im Kanon 5 von Neocäfarea 
bat nit die Bedeutung, bie ihm Bingham gab. Das 
Wort ift im Sinne der Ercommunication oder eines 
gänzlihen Ausſchluſſes aus ber kirchlichen Gemeinschaft 
zu verftehen, und die ἐξωθούμενοι find beBmegen un 
möglich als eine befondere Glafje der Katechumenen zu 
faffen. Ebenfo grumblo8 ift die Anfiht Bona's. Sie 
beruht auf einer Verwechslung gmijden Glafen und 
Namen. Die Viertheilung des Katechumenats ift bef- 
ſehen. — Den- angeführten Gelehrten könnte aud) Martone beigefügt 
werben, jofern aud) er (De antiquis eccles. ritibus. Rotomagi 
1700. I, 29) drei Glaffen annimmt. Rur fat er bie 9teifenfolge, 
bezw. Namen: 1. audientes, 2. electi, 3. competentes. 

1) Rerum liturg. lib. 1 c. 16 n. 4. 

2) Orig. eccles, X o. 2 82. 


Die Katechumenatsclaſſen des chriſtl. Alterthums. 43 


halb in der Gegenwart, fo viel id) fehe, allgemein aufs 
gegeben. 

Indeſſen blieb aud) bie Dreitheilung nicht unbe— 
fritten. Einige Theologen glaubten nur zwei Glaffen 
annehmen zu follen, die catechumeni im engeren Sinne, 
aud) audientes genannt, und bie competentes oder electi, 
und fie legen bementipredjenb bem Worte catechumeni 
eine doppelte SBebeutung bei, eine engere und eine mei 
tere, fofern es eimerjeit8 bie Katechumenen ber erften 
Glafje und anbererjeit8 die Katechumenen überhaupt und 
mit Einfluß ber competentes begeidjnen joll?). In 
der neueren Zeit trat mamentlid) Mayer?) für bieje 
Anfiht ein, und feine Beweisführung ift mad) ihrer 
negativen Seite im ganzen überzeugend. Nach feiner 
Darlegung fonnte jo viel als ficher gelten, daß bie 
Dreitheilung auf febr ſchwachen Füßen ruht und daß 
bie weitaus größere Wahrſcheinlichkeit für das Borhan- 
denfein mur zweier Katechumenatsclaſſen ſpricht. Alle 
Schwierigkeiten wurden aber aud) burd) ihn mod) nicht 
gelöst, und fo begreift e3 fid), daß ber Thefis, bie er 
vertrat, bie verdiente Zuftimmung nicht zu Theil wurde. 
Hefele °) ſchenkte zwar der Erklärung Beifall, die er 
von den einschlägigen Verordnungen der Synoden von 
Steocájatea c. 5 und 9ticáa c. 14 gab. Ganz vermochte 
inbefjen aud) er von der früheren Anſchauung fid) nod) 
nicht Loszufagen, wie er mamentlid) durch bie Bemer- 
Tung zu verftehen gibt, zur eit bea Nicänums babe es 
10d nicht mehrere Stufen des Katechumenats gegeben. 

1) 81. Wei, Altkirchliche Pädagogit 1869 ©. 100. 


2) Geſchichte des Antechumenatd 1866 €. 47-66. 
3) Gonc.Gejdj. 2. 9. I (1878), 246. 418. 


44 gunt, 


Andere, wie Brüd!), Hergenröther ?), und Kraus ®) be- 
barrten völlig bei der früheren Anficht. 

Die Frage verdient daher aufs neue unterfucht zu 
werden, und indem ich biele Aufgabe übernehme, unter: 
ziehe id) vor allem bie Dreitheilung einer erneuten 
Prüfung. Diejelbe gründet fid) im mefentlihen auf 
Kanon 5 der Synode von Neocäfarea, bie zwiſchen 
der Synode von Ancyra 314 und ber Synode von 
Sticáa 325 abgehalten wurde *), unb in diefem Kanon 
Tommt insbeſondere allein in der gefammten altchriſtlichen 
Kiteratur der Ausdrud γόνυ κλίνων zur Bezeichnung 
eines kirchlichen Standes vor. Was fonft eta noch 
zum Beweife für fie berbeigezogen werden Tann, hat 
mur dann eine Bedeutung, wenn bie Dreitheilung wirt: 
lid) auf jenen Kanon geftügt werden Tann. Die Unter: 
fudung hat deßhalb mit biefem zu beginnen. 

Der Kanon lautet 5): Κατηχούμενος ἐὰν εἰσερχό- 
μενος εἷς τὸ κυριακὸν ἐν τῇ τῶν κατηχουμένων τάξει 
Grp, οὗτος δὲ φανῇ ἁμαρτάνων, ἐὰν μὲν γόνυ κλένων, 
ἀχροάσϑω μηκέτι ἁμαρτάνων" ἐὰν δὲ καὶ ἀκροώμενος 
ἔτι ἁμαρτάνῃ, ἐξωθείσϑω. Er befaßt fi), wie fein 
Wortlaut zeigt, mit der Beftimmung der Buße der fün- 
digenden fatedumenen. Darüber befteht Fein Zmeifel. 

1) 8.0. 2. 2. &. 101. 

2) 8:6. 2. U. 1, 175. ᾿ 

8) 8.6. 2.9. €. 106. Proteſtantiſcherſeits kann al8 neuefter 
Vertreter ber Dreitheilung angeführt werden Herzog, R.G. I 
(1876), 210 Anm. 1. 

4) Daß fid die drei Claſſen in ben apoft. Gonftitutionen finden, 
wie Krand (RG. 2. A. ©. 106), freilich ohne nähere Bezeich- 
nung ber Stelle, behauptet, ift durchaus unrichtig. 

5) Ich gebe ben Text nadj Routh, Reliquiae sacrae ed. II 
t. IV p. 182. gl. die textkritifchen Bemerkungen p. 191. 


Die Katechumenatsclafſen bes chriſtl. Alterthums. 45 


Die Frage ift nur die, wie bie fündigenden fatedumenen 
beftraft wurden. Näherhin fragt fij, wie bie γόνυ 
χλίνοντες und ἀκροώμενοι, in deren Reihe fie erfcheinen, 
bezw. zur Strafe verjegt werden, zu fallen find, ob als 
Stufen be8 Katehumenates oder als Büßerclaſſen. Erftere 
Deutung ift die gewöhnliche, und ihr zufolge wäre der 
Sinn des Kanons: Wenn ein fatedumene, bet bie 
Kirche bereits betreten hat und in ber Neihe ber Ka— 
tedyumenen fteht, fid) als Sünder zeigt, jo fol er, wenn 
et unter bem fatedumenen in der Clafje der Knieenden 
war, in bie Claſſe ber Hörenden verjegt werden und 
hier verbleiben, fall8 er nicht mehr fündigt; fündigt er 
aber aud) als Qürenber wieder, fo foll er ganz aus: 
geftoßen erben. 

Die Deutung ift alt. Sie findet fid [dou bei 
ben. griechifchen Ranoniften des zwölften Jahrhunderts, 
bei Balfamon, Zonaras und Ariftenus. Der Hauptſatz 
des Gommentarà, ben ber erftere zu unferem Kanon gibt, 
möge bier angeführt werben. Er lautet: Δύο τάξεις 
τῶν κατηχουμένων εἰσὶν" οἱ μὲν γὰρ ἄρτι προσέρχονται 
καὶ ὡς ἀτελέστεροι μετὰ τὴν ἀχρόασιν τῶν γραφῶν καὶ 
τῶν ϑείων εὐαγγελίων εὐϑὺς ἐξίασιν᾽ οἱ δὲ ἤδη προσῆλθον 
καὶ γεγόνασι τελεώτεροι, ὅϑεν καὶ τὴν ἐπὶ τοῖς κατη- 
χουμένοις εὐχὴν ἀναμένοντες τὸ γόνυ κλίνουσιν ἐν ταύτῃ" 
ὅταν δὲ ἐκφωνηθῇ τὸ Οἱ κατηχούμενοι προέλϑετε, τότε 
ἐξέρχονται καὶ οὗτοι. Aehnlich [autem die Erklärungen 
ber beiden anderen. Nur gibt Zonaras mit den Worten: 
δύο τάξεις ἦσαν τῶν κατ. τὸ παλαιόν, ausdrüdlic zu 
verftehen, was freilich fonft Dinlánglid) befannt ift, daß 
die Ordnung, von ber die Rede ift, zu feiner Zeit nicht 
mehr beftand, und bezeichnet er die Katechumenen ber 


46 gunt, 


höheren Glafje, bie seAedrepon, πιστοὶ ὄνεες. Ariftenus 
fügt bei, bie Vollfommeneren feien mit ben Worten: 
Οἱ κατηχούμενοι τὰς xegalog ὑμῶν τῷ κυρίῳ κλίνατε, 
beim Gottesdienft zum Niederknieen aufgefordert morben. 
Die γόνυ κλίνοντες und axpowueros werden aljo als 
fatedjumenen gefaßt und zu einander in das Verhältniß 
von τελδώτεροι und ἀτελέστεροι gelebt. Was aber bie 
Zahl ber Katehumenatsclaffen anlangt, jo kennen bie 
Kanoniften offenbar nur zwei, und man?) hat mit Un- 
recht behauptet, fie weichen nicht von denen ab, melde 
mit Hinzurehnung ber φωτιζόμενοε oder βαπειζόμενοι 
drei Stufen be8 Katechumenats zählen, indem fie bie 
eigentlichen Taufcandidaten nur aufer Betracht gelafjen 
hätten, weil fie nicht mehr zu den Katechumenen im 
engeren Sinne gehörten und weil aud) ber commentirte 
Kanon ihrer nicht erwähne. Denn fie jagen ganz allge: 
mein, baf e8 zwei Glaffen gebe, bezw. im Alterthum 
gegeben babe, und wenn uns je nod) der Ausbrud ſelbſt 
im Zweifel laſſen Könnte, fo gibt dagegen die Stellung 
der Worte volle Klarheit. Die Worte gehen ber eigent- 
lichen Grflárung des Kanons voran; fie find demgemäß 
für fid zu faffen und ihre Bedeutung darf nicht durch 
eine Rüdfihtnahme auf den Kanon abgeſchwächt werben, 
wenn e3 aud) andererfeit3 als ficher gelten darf, baf 
ihr Inhalt aus bem Kanon gefchöpft ift, m. a. W. daß 
die Kanoniften für ihre Behauptung feinen anderen 
Grund hatten als legteren. Suicer ?) und Augufti ^) 


1) Höfling, ba8 Sacrament der Taufe I, 153. 

2) Thesaurus 8, v. χατηχέω lit. A. 

8) Dentwürbigfeiten XI (1830), 49. Gr änderte bemgemäß 
feine Anficht im Laufe ber Zeit. Dal. oben ©. 41. 


Die Katechumenatsclaſſen des chriſtl. Alterthums. 47 


laſſen ſie ganz richtig nur zwei Katechumenatsclaſſen 
annehmen. Nur irrte letzterer, wenn er meinte, die 
Katechumenen der beiden Claffen ſeien areAdorepoı unb 
und τελθώτεροι genannt worden, ba diefe Ausbrüde von 
den ftanoniften offenbar nicht zur Bezeichnung, fondern 
jut Befchreibung der beiden Stufen gebraudjt wurben. 
Und beide irrten mit vielen Anderen, die in diefer Be— 
ziehung mit ihnen übereinftimmen, in der Annahme, bie 
Ausfage der angeführten Kanoniften habe in der vor- 
liegenden Frage für uns eine höhere Bedeutung. Denn 
bie fanoniften ftügen fid) für ihre Behauptung offenbar 
mur auf den Kanon 5 von Neocäfarea und die Erklärung, 
bie fie von diefer geben, darf um fo eher einer ernft- 
lien Prüfung unterzogen werden, al8 ihre Kenntniß 





von bem ftatedumenat nachweisbar eine febr ungenügende * } 


ift. Ihr Verfahren beruht ja überhaupt auf einer 
falſchen Vorausfegung. Sie faffen bie in unferem Kanon 
erwähnten γόνυ xAlvovres und ἀκροώμενοι ohne weiteres 
al3 fatedumenen, während unter benjelben zum min: 
deften ebenfo leicht Büßer verftanben werben fónnen, und 
in diefem Fehler befinden fid) mit ihnen zumeift aud) 
die Vertreter der Dreitheilung des Katechumenats, indem 
fie in jenem Kanon, ohne ihn genauer zu prüfen, Kate: 
chumenatsclaſſen finden. Das Verfahren ift offenbar 
unzuläffig, und [don der Umftand hätte ernfle Bedenken 
gegen bafjelbe erregen follen, daß bie Namen ἀχροώμενοι 
und γόνυ κλίνοντες, audientes und genuflectentes, mit 
denen nad) ber fraglichen Deutung be8 Kanons von 
Neocäſarea feit bem vierten Jahrhundert zwei Glafjeu 
von fatedumenen belegt worden fein follen, in dieſem 
Sinne außer jenem Kanon nirgends mehr in ber 


48 gunt, 


Literatur des Alterthums vorkommen (ber audiens ber 
Sateiner ift, wie wir fpäter ſehen merben, identiſch 
mit catechumenus und bezeichnet alfo den Katechumenat 
überhaupt, nicht eine beftimmte Glaffe in bemjelben) ; 
denn bieje Thatſache füllt bei bem verhältnißmäßigen 
Reichthum an Nachrichten, bie wir über den fatedu- 
menat haben, in unferer Frage nicht unbedeutend ins 
Gewicht. Judeſſen fol dieſes Moment nicht einmal be: 
fonder3 betont werden. Der Kanon felbft verbietet unà 
bei unbefangener Betrachtung eine derartige Auffafjung. 

Die Synode mil, wie toit gefehen haben, das 
Bußweſen der Katehumenen vegeln. Der fraglide Ka— 
non ift daher ein Bußfanon, und unter biejen Um- 
ftänden ift e8 an fid) wahrſcheinlich, daß bie Stationen, 
in die nad ihm die Katechumenen zur Strafe verwieſen 
werden, Bußftationen find. Die Analogie bet 
übrigen Bußkanones [prit ebenfo für bieje Auffaffung 
wie die Natur der Sache. Denn einerjeit3 konnte man 
den Fehltritt der Katehumenen — wahrſcheinlich handelt 
e fid) um Fleiſchesſünden — bod) nicht ungerügt lajfen. 
Auf der anderen Seite aber wäre e8 zu Dort und in 
Anbetracht der Behandlung, die man in ähnlichen Fällen 
ben Gläubigen angebeihen ließ, ungerecht geweſen, hätte 
man fie jofort günglid) aus dem Verband mit ber Kirche 
ausgeftoßen. Man fonnte aljo nichts Angemefleneres 
thun, als fie analog den Gläubigen behandeln und in 
die Reihe ber Büßer ftelen. Unter dem Ausdrud 
ἀχροώμενος — von bem γόνυ κλένων [ei vorerſt nod) 
abgefehen — ift daher offenbar ba8 aud) bier zu vet. 
ftehen, was fonft mit ihm bezeichnet wird, und menu 
über feine Bedeutung je nod) ein Zweifel beftehen Tönnte, 


Die Ratejumenatdclaffen beB deiftl, Alterthums. 49 


jo müßte er im Hinblid auf den Kanon 14 von Nicäa 
ſchwinden. Diefer Kanon, ein Gegenftüd zu dem Kanon b 
von Steocüjarea, lautet: Περὶ τῶν κατηχουμένων καὶ 
παραπεσόντων ἔδοξε τῇ ἁγίᾳ καὶ μεγάλῃ συνόδῳ, ὥστε 
τριῶν ἐτῶν αὐτοὺς ἀκροωμένους μόνον μετὰ ταῦτα sU- 
χεσϑαι μετὰ τῶν κατηχουμένων. Die ἀκροώμενοι werben 
bier in einen derartigen Gegenfag zu ben κατηχούμενοι. 
geftellt, daß fie nicht leicht als ein Theil von dieſen 
zu fafen find; denn ihr Antheil am Gottesdienft be: 
idrünft fid auf das Hören, mährend diefe aud am 
Gebete Theil haben. Zu ben beveit8 angeführten Mo- 
menten, weldhe bei Ermittlung des Sinnes be8 Wortes 
ἀκροώμενος in Betracht Tommen, bem Sprachgebraud 
und der allgemeinen Tendenz be8 Kanons, gefellt fi 
bier fomit nod) ein weiteres, bie beftimmtere Faflung 
oder der Gontert be8 Kanons, und für bie Hörenden 
der Synode von Nicäa gibt e8 ſchlechterdings nur eine 
Deutung: fie find Büßer. Wenn bem aber fo ift, fo 
ift aud) bie Frage entſchieden, wie ber ἀκροώμενος ber 
Synode von Neocäfarea zu faflen ift. Nach ber Ana- 
logie des Kanons 14 von Nicäa und aus den anderen 
nambaft gemachten Gründen Tann unter bem Ausdruck 
mut eine Büßerclaffe verftanden werben. 

Indem τοῖς nad) Feftftellung des Sinnes des Aus- 
druckes ἀκροώμενος zu dem Ausdrud γόνυ κλένων über- 
geben, ijt vor allem zu bemerken, baf, fo weit mir nad) 
der mir zu Gebote ftehenden Literatur ein Uxtheil mög- 
τῷ ift, bezüglich feiner Deutung bie Vertreter der Zwei— 
theilung des Katechumenates in ber Hauptſache mit ben 
Berfechtern der Dreitheilung übereinftimmen, indem beide 
heile die γόνυ κλίνοντες für Katechumenen halten, wenn 

Sys. Onariafjggeift. 1889. Heft I. 4 


50 gunt, 


aud) bie einen diefelben näherhin mit ben Katechumenen 
überhaupt identificiren, während bie anderen in ihnen 
wur eine beftimmte Glafje der Katechumenen erbliden. 
Letztere Auffaſſung ift hinlänglich befannt. Bezüglich 
der erſteren mögen aber einige Stimmen gehört werden. 
Martone z. B., der, wie wir geſehen haben, zwar drei 
Claſſen zählt, aber injofern bod) auf dem Standpunkte 
ber Bmeitheilung ftebt, als feine beiden höheren Glaffen 
in Wirklichkeit nur eine bilden, bemerft: Genuflectentes 

. erant catechumeni simpliciter dicti, qui in paenam 
commissi alicuius peccati verbum Dei genuflexi audire 
cogebantur !), und nad) feiner Auffaffung hätten näher⸗ 
bin bie in ber Strafclaffe befindlihen Katehumenen und 
zwar beim Anhören des Wortes Gottes Inieen müſſen. 
Mayer ?) läßt bie Katechumenen nicht bei der biblifcyen 
Leſung und bei der Predigt, fondern beſſer beim Gebete 
Inieen. Im übrigen find biefelben aber au ibm mit 
den γόνυ κλένοντες identiſch und fie jollen biefen Namen 
fogar ,befanntlid)" geführt haben. Beizufügen ift nur 
mod, daß er von bem Momente ber Strafe abfieht und 
demgemäß die fmiebeugenben mit den Katechumenen 
ſchlechthin und nicht bloß ben ftraffälligen identificirt. 
Die Anſicht verdient jebenfallà, wenn fie glei felbft 
ſchwerlich richtig ift, vor der anderen den Vorzug, und 


1) De antiquis eccles. ritibus I (1700), 30. Aehnlich laßt 
auch Pfeuboifivor bie fafedumenen beim Anhören beB Sortes 
Gottes Inieen, indem er unferen Kanon folgendermaßen überfjegt: 
Catechumenus, i. e. audiens, qui ingreditur ecclesiam et stat 
cum catechumenis, si peccare faerit visus, figens genua audiat 
verbum, (ut) se abstineat ab illo peccato, quod fecit; quodsi 
in eo perdurat, abici omnino debet. Cf. Harduin I, 284. 

2) Geſch. beà Katechumenates. ©. 66. 


Die flatedjumenataclaffen des chriftl. Alterthums. 51 


fie wurde aud) bom Qefele !) aboptirt, indem er bei ber 
Ueberfegung des ἐὰν μὲν γόνυ xMvow zur Erklärung des 
Ausdrudes beifügt: Bezeichnung der fatedjumenen, weil 
fie nad) der Homilie, während ber Diakon über fie betete, 
tnieten. Als die erften aber, bie bie Anficht aufftellten, 
lafen fid) bie oben angeführten griechiſchen Kanoniften 
betrachten, indem fie bie Katechumenen ber oberen Claſſe 
bei dem Gebete, das ihrer Entlaffung voranging, bie 
Kniee beugen [affen. Allerdings führen fie den Namen 
γόνυ κλένοντες noch nicht auf diefen Umftand zurüd. 
Ihr Schweigen hat aber in diefer Beziehung nicht? zu 
bedeuten. Die Gonjequeng ergab fid) bei der Auffaffung 
ber Kniebeugenden αἵδ᾽ fatedjumenen von felbft, fobald 
man nur einmal eine Erflärung be8 Namens verfuchte. 

Allein bie Auffaffung felbft unterliegt den größten 
Bedenken. Bor allem möge hervorgehoben werden, daß 
der Grund, auf ben fid jene Namenzableitung ftügt, 
fehr zweifelhafter Natur if. Die fatedumenen follen 
γόνυ κλένοντες genannt worden fein, weil fie beim Ge- 
bete vor ber Entlafjung aus bem Gottesbienft knieten, 
und fie follen allein diefen Namen erhalten haben, während 
bod) bie Energumenen und die Büßer bei bem gleihen 
Gebete die gleiche Haltung beobadteten! Das ift ge- 
toi nicht wahrſcheinlich unb bie Auffaffung ijt um fo 
eher abzulehnen, als fid) der Ausdrud γόνυ κλένων in 
ber alten Literatur, von unferem Kanon abgefehen, zur 
Bezeihnung eines kirchlichen Standes nirgends findet. 
Mayer läßt die fatedjumenen zwar , bekanntlich“ diefen 
Namen führen. Er unterließ e8 aber, Belegſtellen für 


1) Conc⸗Geſch. 2. 9f. 1, 246. 
4 * 


52 gunt, 


den Sprachgebraud zu fammeln, und wenn er e3 je 
verfucht hätte, fo würde er alsbald die Unmöglichkeit 
der Aufgabe eingefehen haben. 

Indeſſen möge jene Schwierigkeit nicht weiter betont 
werben. Aber aud) der Kanon jelbft erlaubt nit, in 
den γόνυ κλένοντες ftatedjumenen zu erbliden. Denn 
bei biejer Auffaffung τοῦτος mit bem ἐὰν μὲν γόνυ 
κλίνων daB κατηχούμενος ἐὰν εἰσερχόμενος elg τὸ κυρε- 
αχὸν ἐν τῇ τῶν κατηχουμένων τάξει στήκῃ und zwar 
mit anderen Worten wieder aufgenommen. Man braucht 
den Kanon mur unbefangen ins Auge zu faffem, um jo- 
fort die ganze Härte und Unerträglichkeit biejer Eon- 
firuction zu erkennen. — Zwiſchen bem κατηχούμενος --- 
στήκῃ und bem ἐὰν μὲν γόνυ κλίνων fteben mur bie 
Worte οὗτος δὲ φανῇ ἁμαρτάνων, und bei biejem kleinen 
Zwiſchenglied follte eine Wiederholung des κατηχούμενος 
u. f. m. anzunehmen fein, und bieB, obwohl das κατη- 
χούμενος mit allem Stadjbrud am bie Spige be8 Kanons 
geftellt unb in den nachfolgenden Worten nod) beſonders 
hervorgehoben ift, baB es fid) um eine in den ftatedju- 
menat wirklich aufgenommene und in ber Reihe der fta- 
tehumenen ftehende Perfon handelt? Das wäre eine 
Tautologie, wie wohl in ber gefammten Literatur feine 
zweite zu finden ift. Die Deutung ift daher unbedingt 
abzulehnen. Sie ift ganz unerträglich, und da fie gleich 
wohl bie einzige ift, welche bie Vertreter ber Zweitheilung 
bes Katechumenats bisher zu geben mußten, jo begreift 
e8 fid, wenn eher die ganze Auſchauung abgelehnt als 
jene Erflärung angenommen twurbe. 

Die Erklärung ift aber nicht die einzig mögliche, 
Sie ijt nit einmal bie zunächft liegende. Es gibt nod) 


Die Katechumenatsclafſen be chriſtl. Alterthums. 53 


eine andere, bie näher liegt, umb es ift mur zu ver= 
wundern, daß bis jegt mod) niemand auf fie gefommen 
if. Wenn mir auf den Kanon gurüdbliden, jo machen 
wir die Wahrnehmung, daß der γόνυ κλίνων und ber 
ἀκροώμενος correipondirende Glieder find. Das dar 
μέν und das ἐὰν δέ laffen darüber feinem Zweifel auf- 
tommen. Daraus folgt, daß beide Ausdrücke Glafjen 
derfelben Art bezeichnen, und da fidj uns der ἀκροώμενος 
zweifellos als Büßer batgeftellt hat, fo ergibt fid) weiter⸗ 
bin, daß aud der γόνυ κλένων als folder zu faflen ijt. 
Der Sinn des Kanons ift demgemäß folgender: Wenn 
ein Katechumene fid als Sünder zeigt, fol er, wenn er 
wegen einer Sünde bereit3 unter bie γόνυ xAlvorzeg ge 
ſtellt ift, unter die ἀκροώμενοι verjegt werden; Vünbigt 
er aber aud) a[8 ἀκροώμενος toieber, jo ift er gänzlich 
auszuſchließen; m. a. W.: der fündigende fatedjumene 
iR im erften δα unter bie γόνυ xAlvovses und im 
zweiten unter bie ἀκροώμενοι zu verfegen, im britten 
if er gänzlich auszuftoßen. Die Deutung unterliegt 
wur einer geringen Schwierigkeit. Die Synode [egt 
mad) ihr die Verweifung des fündigenden fatedumenen 
in die Gíaffe der γόνυ xAlvovseg mehr voraus, als fie 
von ihr redet. Alein bie Schwierigkeit ift verſchwindend 
Hein gegenüber denjenigen, mit denen alle anderen Deu: 
tungen zu kämpfen haben, und fie vebucirt fid) im weſent⸗ 
lichen auf bie VBebeutung einer prägnanten Ausdrucks⸗ 
weiſe. Ueberdieß zeigt eine genauere Betrachtung ber 
BWortformen, daß fie nicht einmal fo groß ift, als fie 
auf den erften Anblid fcheinen fóunte. Die Synode 
fagt zuerſt φανῇ ἁμαρτάνων, fpäter ἁμαρτάνῃ. Ser 
Wechſel in ber Form ift nicht bebeutungslos. Das 


54 Sunt, 


zweite Mal hat fie ed mut mit einem Fall zu tun 
und bafer ba8 Verbum finitum. Das erfte Mal bat 
fie einen doppelten ober zwei Fälle vor Augen, einmal 
bie Sünde, bie bie Verweifung unter bie Kniebeugenden 
zur Folge hatte, und fobann bie Sünde, auf Grund 
deren bie Verfegung unter bie Hörer erfolgen foll, und 
das Participium ift deßwegen bier ebenfo treffend an- 
gebracht αἵδ᾽ dort bie beflimmte Zeitform. 

Die γόνυ κλίνοντος der Synode von Neochfaren 
find alfo glei bem ἀκροώμενοι Büßer, nicht fatedu- 
menen, und zwar find fie offenbar ibentijj mit der 
Glaffe von Büßern, bie jonft ὑποπέπεοντες heißen. So: 
mohl die Verwandtſchaft ber Namen als ber Umftand, 
daß beide Büßerclaflen eine Stufe höher ftehen al8 bie 
ἀχροώμενοι, weist barauf hin, und der Schluß liegt fo 
nahe, daß er aud) fchon früher gezogen toutbe, als über 
die Bebeutung be8 Kanons 5 von Neocäfarea eine 
falſche Anficht herrſchte. Wir finden ihn 3. ®. bei Höf- 
ling?) und Zezſchwitz), menn fie bie γόνυ κλένοντες 
als angeblihe Katechumenatsclafie aud) ben Namen 
ὑποπίσπτοντες führen laſſen, fotoie bei Neander 5), menn 
er umgekehrt bem ὑποπέπεοντες al8 ber dritten Glafje 
ber Büßer den weiteren Namen γόνυ κλένοντες beilegt. 
Nur beruht der Schluß hier auf ber unrichtigen Boraus- 
fepung, das Wort γόνυ κλίνων habe in erfter Linie oder 
iogar ausſchließlich eine Katechumenatsclaffe, nicht aber 
eine Bußftation bezeichnet. 

Erweist fid hienach die Hauptftüge für die Drei- 

1) Das Sacrament ber Taufe I, 150. 


2) Der flatedjumenat ©. 122 f. 
8) 840. 8. X. I, 588. 


Die Katechumenatsclafſen des chriſtl. Alterthums. 55 


theilung be8 fatedjumenate8 als burdjaus hinfällig, fo 
if diefer Theorie felbft ber Boden entzogen. Denn ber 
Kanon 7 der Synode von Gonftantinopel 381, bezw. 
Kanon 95 ber Quinisexta, in dem er erneuert wurde, 
laun mur unter der Vorausfegung in Frage fommen, 
daß bie Theorie zuvor jdon einen feften Boden hat. 
€x regelt das Verfahren mit ben fid) befehrenden Qüres 
tifern und verordnet bezüglich der Eunomianer und einiger 
anderen Seftirer, daß fie jo wie die Heiden aufzunehmen 
und bemgemüf am erften Tage zu Chriften, am zweiten 
zu Ratehumenen zu maden, am dritten zu erorcificen 
und endlich nad) der erforderlichen längeren Unterweifung 
zu taufen feien. Der Wortlaut be8 in Betracht fom 
menden Theile ift: Kal τὴν πρώτην ἡμέραν ποιοῦμεν 
αὐτοὺς Χριστιανούς, τὴν δὲ δευτέραν κατηχουμένους, 
εἶτα τὴν τρίτην ἐξορκέζομεν αὐτοὺς μετὰ τοῦ ἐμφυσᾶν 
τρίτον εἰς τὸ πρόσωπον καὶ εἰς τὰ ὦτα αὐτῶν" καὶ 
οὕτως κατηχοῦμεν αὐτοὺς καὶ ποιοῦμεν αὐτοὺς χρονίζειν 
εἰς τὴν ἐκκλησίαν καὶ ἀχροᾶσϑαι τῶν γραφῶν, xal Tore 
αὐτοὺς βαπτίζομεν. Zezſchwitz ) will in ihm bie drei 
Ratechumenatsclaffen wieder finden, indem er meint, 
unter den Chriften feien die Hörenden, unter den fate: 
chumenen die Kniebeugenden, unter den Eroreifirten bie 
φωτιζόμενοι zu verftehen. Allein offenbar mit Unrecht. 
Die Stelle befagt nur, daß die Aufnahme in den fate: 
chumenat in einem dreitägigen Ritus erfolgte, und daß 
es fid) fo verhält, zeigt namentlich das καὶ οὕτως κατη- 
χοῦμεν αὐτοὺς, indem e8 far anbeutet, daß ba8 im 
Borausgehenden Bemerkte nur bie Bedeutung eines Wuf- 


1) Der Katechumenat S. 116. 


56 gunt, 


mabmeceremtoniel8 Dat. Indeſſen beruht diefe Erkennt: 
miB nicht bloß auf jenen Worten. Es geht aud) aus 
anderen Gründen nicht an, in jener Stelle eine Drei- 
theilung des Katechumenates finden zu wollen. Denn 
fonft müßten wir annehmen, bie fatedumenen feien 
ſchon nad) zwei Tagen in den Stand ber φωειζόμενοι 
vorgerüdt, unb menu man biefe8 mit Zezſchwitz je bef- 
wegen für wahrſcheinlich halten wollte, weil die Häre- 
tifer durch ihr früheres Verhältniß zur göttlichen Wahrheit 
als befjer vorbereitet erſcheinen konnten als gewöhnliche 
Heibenprofelyten, obwohl es nad) der ausbrüdliden Be⸗ 
merkung, bie Aufnahme erfolge hier wie bei den Heiden, 
nichts weniger als wahrſcheinlich ift, fo erhebt fid) eine 
weitere Schwierigkeit. Wie die Schlußworte de Kanous 
zeigen, dauert der fatedumenat ja thatſächlich Läugere 
Bit, und bie Katehumenen würben alfo faft bie ganze 
Bit der Vorbereitung in ber Glafje der φωτιζόμενοι, 
dagegen in ber Glaffe oder, wenn man will, in ben 
Glaffen, in welchen nad) ber Regel der Aufenthalt am 
längften währte, nur zwei Tage zugebracht haben. Läßt 
fid) eine olde Verkehrung der gewöhnlichen Drbmung 
annehmen? Endlich fommen noch ſprachliche Bedenken. 
Sft e8 glaublich, daß man bie Mitglieder ber erften 
Katechumenatsclaſſe Chriften nannte? Ich denke nicht. 
Wohl fann man fid) vorftellen, daß bie Katehumenen 
im ganzen unb allgemeinen Chriften genannt wurden, 
ba fie, wenn fie auch nod) nicht Chriften im eigentlichen 
Sinne waren, immerhin bereit3 in dem Verbande bet 
chriſtlichen Kirche ftanden, und jo erflärt fid) ber bezüg- 
liche Ausdrud in unferem Kanon. Aehnlich läßt aud) 


Die flatedjumenatàclafen des chriſtl. Alterthums. 57 


Sulpicius Severus 1) Heiden an Martin von Tours 
bie Bitte richten, ut eos faceret Christianos, und 
erzählt er die Gewährung ber Bitte mit den Worten: 
nec cunctatus . . cunctos imposita universis manu 
catechumenos fecit. Daß dagegen einem beftintmten 
Theil ber ftatedjumenen ber Name Chriften beigelegt 
morden fei, ift gegen alle Wahrſcheinlichkeit. Aehnliche 
Bedenken erheben fid) gegen die anderen Worte, nament⸗ 
lid gegen das ἐξορκίζ εἰν al8 Ausdrud zur Bezeichnung 
der φωτιζόμενοι. Ich glaube fie aber nicht weiter ber: 
vorheben zu follen, ba ſchon das Bisherige genügt, um 
bie fraglidje Auffaflung als völig unbegründet erſcheinen 
zu laſſen. 

Synbeffen hat nicht bloß Zezſchwitz den Kanon mif. 
verftanden. Auch Mayer ?) ift im Unrecht, menn er 
meint, bie in Frage ftebenben Qüretifer werden in ihm 
nicht als fatedumenen, fondern als Büßer behandelt, 
weil ihnen „nur ba8 ἀχροᾶσϑαι τῶν, γραφῶν geftattet 
und biefe8 das Charakteriftifum der audientes fei." 
Denn das ἀχροᾶσϑαι τῶν γραφῶν ift aud) den Kate 
chumenen eigen, und bier ift an bieje ganz fier zu 
benfen, ba fie zweimal ganz ausbrüdlid) genannt werben 
und anbererjeit8 nirgends gejagt ift, daß es ſich nur 
um das Hören der Schrift handle. Die Lateranfynode 
487 c. 6 kann nit αἵ Stüße für jene Auffaffung 
angeführt werben. Sie verweist allerdings bie fate: 
chumenen, bie fid) von Häretifern taufen laffen, auf drei 
Jahre unter bie audientes "). Allein bei ihr handelt 





1) Dialog. II. c. 6 ed. Halm p. 185. 
2) Geſch. be Katechumenates S. 55. 
3) Die fanone8 ber Synode find eine Erneuerung ber Vers 


58 Sunt, 


e8 fif eben um ein ergeben ber Katechumenen, 
mährend ber Kanon 7 ber zweiten allgemeinen Synode 
e8 mit ber Aufnahme der Häretifer in die Kirche zu 
thun bat. Dort wird demgemäß ber Ausdruck audiens 
an fi ebenfo mit Recht von den Büßern verftanden, 
als bier eine derartige Deutung fehlerhaft wäre. 

Wir könnten damit diefe Beweisführung fchließen. 
Wir haben mun bie Hauptftügen für die Dreitheilung 
des fatedjumenates fennen gelernt, und da fid) biejelben 
als durchaus morjd) erwieſen, jo ift nicht zu erwarten, 
daß bie Nebenftügen die Theorie zu halten vermögen 
werben. Im Intereſſe der Vollftändigkeit follen inbeffen 
aud) nod) biefe einer Prüfung unterzogen werden. 

Die Mitglieder der vermeintlichen erften Glafje der 
Katehumenen heißen ἀκροώμενοι, audientes, und man 
glaubte biejen Namen aud) noch außerhalb des ftanons 5 
von Neocäfarea zu finden. Für die Mitglieder ber 
zweiten Glaffe, bie γόνυ xAlvovses, will man fogar nod) 
toeitere Namen femen, bie Namen εὐχόμενοι und συναι- 
τοῦντες ). Die Namen, könnte man jagen, find ein 
Beweis für das Vorhandenfein ber Sache. Der Schluß 
ift unanfehtbar. Aber um ſo ſchwächer ift bie Prämiffe, 
da die fraglichen Ausdrücke in der altehriftlichen Literatur 
entweder gar nicht vorkommen oder, wenn bieje8 ber 
Fall ift, nicht die ihnen zugefchriebene Bedeutung haben. 

Was vot allem die Namen εὐχόμενοι und συναι- 
τοῦντες anlangt, fo wird fhwerlic jemand im Stande 


orbnungen bed Papftes Selig III in Ep. 9 bei Harduin II, 
832 sqq. 

1) Höfling, ba8 Gacrament bez Taufe L 150. Zezſchwitz, 
ber ftatedjumenat ©. 122. 





Die Katechumenatsclaſſen des chriſtl. Alterthums. 59 


fein, fie bis ins Alterthum zurückzuverfolgen. Sie find, 
fo viel ich ſehe, erft jüngeren Urfprunges und fie wurden 
von Späteren mit NRüdfiht auf bie befannte faljde 
Auffaffung der fniebeugenben und ihre liturgiſche Stel- 
Tung gejdbpft. Die Namen find fomit meit entfernt, 
bas Borhandenfein der Katechumenatsclaſſe der γόνυ 
κλένοντες zu beftätigen. Sie find vielmehr ein Beweis 
für bie Wilfür, mit der man in diefer Angelegenheit 
zu Werke gegangen ift, indem man für eine Sache, bie 
gar nicht eriftirte, eine ganze Reihe von Namen ſchuf. 

Mit den Namen ἀκροώμενος und audiens ftebt es 
in biefer Beziehung allerdings anders. Diefelben fom: 
men in ber altchriftliden Literatur ziemlich häufig vor, 
und zwar handelt e fid), was übrigens, ba ἐδ fid) von 
felbft verfteht, faum beizuſetzen ift, um Stellen abgefehen 
von denjenigen, die ba8 Bußweſen betreffen. Aber fie 
bedeuten nicht eine bejondere Katechumenatsclaſſe. Ter- 
tulian, um mit den Lateinern zu beginnen, gebraudt 
ben Ausdrud audiens in der Schrift De poenit. c. 6 
dreimal, begto. viermal, wenn wir bie Form auditores 
dazu rechnen. Er fpricht von auditorum tirocinia, von 
audientis und audientium intinctio, uud wirft bie Frage 
auf: An alius est intinctis Christus, alius audientibus? 
Ebenſo bedienen fid) Gpprian und ber Verfaſſer der 
Schrift De rebaptismate be8 Wortes, jener, wenn er 
(Ep. 18 c. 2 ed. Hartel p. 524) [εἰπεῖ Geiſtlichen bie 
Weiſung gibt, den audientes in Lebensgefahr die gótt- 
lide Gnade nicht zu verweigern, oder wenn er (Ep. 29 
p. 548) von einem doctor audientium ſpricht; biefer, 
wenn er bemerkt (c. 14): in verbum audientibus mar- 
tyribus impune aquae baptisma deest, oder weun et 


60 gunt, 


von einem verbum audiens an fidelis (c. 11) oder einem 
haereticus vel audiens aut audire incipiens (c. 12) 
ſpricht. Aber ber Zufammenhang, namentlich bie Gegen- 
überftellung von intinetus und audiens, fowie von au- 
diens und fidelis, zeigt mit aller Beftimmtheit, daß die 
audientes bei den Lateinern nicht eine Dejonbere Glaffe 
von Katehumenen, fondern die Katechumenen überhaupt 
find. Zwei Väter bezeugen überdieß mit ausbrüdlichen 
Worten, daß bie beiden Ausbrüde fynonyme Bedeutung 
hatten. Auguſtin wendet fid) in Serm. 132 c. 1 neben 
ben baptizati et fideles an ſolche, qui adhuc catechu- 
meni vel audientes vocantur. Sfidor von Sevilla 
ſchreibt De eccles. off. Ic. 20: Is, cui per sacerdotem 
primum Deus loquitur, eatechumenus i. e. au- 
diens nominatur. Der audiens ijt alfo ibentijd) mit 
eatechumenus, und baf bie Lateiner den fatedjumenen 
«ud) jenen Namen beilegten, tft in ben ſprachlichen 
Verhältniffen begründet. Da für fie catechumenus ein 
Fremdwort war, fo brauchten fie jenen Ausdrud, Tobald 
fie die Sache mit einem eigenen Worte bezeichnen wollten. 

Gehen wir zu bet griechiſchen Literatur über, fo 
kommt vor allem bie clementinifche Liturgie in Ber 
trad, in ber ber Diakon an zwei Stellen ausruft: 
ἽΜήτις τῶν ἀκροωμένων. Mlein find damit die ftate- 
chumenen oder gar die Ratedumenen einer beftimmten 
Claſſe gemeint? Kein umbefangener Kritifer wird das 
behaupten. An der einen Stelle (Constit. apost. VIII 
c. 5) find unter den ἀκροώμενοι vielmehr ganz ent: 
ſchieden diejenigen und alle diejenigen zu verftehen, 
die dem bibaftijden Theil des Gottesbienftes unb mur 
ihm anmohnen durften, bemgemáf, wie bie nachfolgende 


Die Katecjumenatsclaffen be chriſtl. Alterthums. 61 


Aufzählung zeigt, ſowohl bie ftatedjumenen al8 aud) bie 
Energumenen, Taufcandidaten und fBüper. An ber 
weiten Stelle (ib. VIII c. 12) tritt ba8 Verhältniß zwar 
nicht jo flar hervor, indem die „Hörenden“ zwiſchen 
den fatedjumenen und ben Un: und Jrrgläubigen ge: 
nannt werden. Indeſſen Tann aud) biet fein ernftlicher 
Zweifel befteben. Es ijt höchſt unwahrſcheinlich, daß 
die „Hörenden“ mit ben fatedjumenen ibentijd) fein oder 
eine befondere Glafje derfelben bilden jolltem. Denn in 
bem einen Fall läge eine leere Tautologie vor; im 
anderen würde nach bem Ganzen in überflüffiger Weije 
nod) ein Theil befonders erwähnt, und das Eine ift hier 
fo wenig al8 das Andere anzunehmen. Auf der anderen 
Seite aber gewinnt die Stelle einen guten Sinn, wenn 
wir die „Hörenden“ ebenjo deuten wie oben, und bie 
Analogie ber erften Stelle nöthigt und geradezu zu 
diefer Auffaffung. Der ἀκροώμενος in der Clementini- 
{hen Liturgie ift alfo nicht einmal etwa ein verjdiebener 
Ausdrud zur Bezeichnung der Katechumenen. Das Wort 
begreift zwar die Katechumenen in fid. Aber im ganzen 
ift fein Begriff viel weiter. 

Aehnlich verhält es fid) mit ben einſchlägigen Stellen 
bei den Alerandrinern. Die ἀκροαταί, bie Drigenes 
Contra Cels. III c. 51 und In Jerem. hom. V c. 13 
(ed. De la Rue I, 481; IIT, 157) erwähnt, find gar 
keine Katehumenen und mod) weniger fatedyumenen 
einer befonderen Glajje. An ber einen Stelle find fie 
vielmehr folde, melde zwar in die Kirche eintreten 
wollten, aber in ben firdjidjen Verband, zunächſt in 
den fatedjumenat, nod) nicht aufgenommen waren. An 
der anderen Stelle find fie Zuhörer eines chriſtlichen 


62 Sunt, 


Redners überhaupt; ber Ausdrud umfaßt fomit ſowohl 
die Gläubigen al3 bie fatedumenen. Die Sade fteht 
ſchon nad dem Zuſammenhang aufer Zweifel. An 
anderen Orten wird der Begriff der ,Qürenben" über- 
dieß mit ausdrüdlichen Worten flat geftellt. In Jerem. 
hom. XVIII c. 8 lefen wir: Καὶ τῶν ἀκουόντων 
ταῦτα, εἴτε κατηχουμένων καταλιπόντων τὸν ἐϑνεκὸν 
βίον, εἴτε πιστῶν ἤδη προκεκοφότων xri, in Num. 
hom. ΠῚ c. 1: Haec.... diximus propter nonnullos 
eorum, qui ad audiendum nee simplici nec fideli 
mente conveniunt; de quibusdam dico catechumenis, 
quibus fortasse nonnulli etiam eorum, qui iam bap- 
tismum consecuti sunt, sociantur !) Etwas anders 
ftebt e8 mit den émafovreg, von benen Clemens v. A. 
Strom. VI c. 11 $ 89 p. 785 ſpricht. Das Wort be- 
zieht fid) mur auf bie ftatedumenen, von denen am ber 
Stelle bie 9tebe ift. Aber für einen Glafjenunterfchied 
unter ben fatedjumenen beweist aud) biefe Stelle nichts. 
Das Wort ift gleid) bem lateinifhen audiens mur ein 
anderer Ausdrud zur Bezeichnung ber fatedjumenen. 
Die Worte ἀκροώμενοι und γόνυ xAlvovreg find nad) 
bem Angeführten als Namen zur Bezeichnung von Katechu⸗ 
menaisclaſſen unbedingt zu ftreihen, die Dreitheilung 
des fatedjumenate8 demgemäß als unridjtig aufzugeben. 
Synbeffen ijt aud) bie Zmweitheilung: κατηχού- 
μενοι, φωτιζόμενοι, catechumeni, competentes, nicht 
haltbar. Inſofern mag fie zwar behauptet werben, als 
die Nichtgetauften überhaupt und fomit aud) die Gom- 
petenten im Gegenfag zu den Getauften oder „Gläubi— 


1) Bol. Mayer a. a, D. ©. 81. 


Die Katechumenatsclaſſen be8 chriſtl. Alterthums. 63 


ga“ in einem gewiſſen Sinne als Katechumenen ſich 
bezeichnen und demgemäß als eine bejonbere Gale ber 
leteten fid) betrachten laſſen. Auf ber anderen Geite 
aber unterliegt bie Glalfification erheblichen Schwierig: 
keiten. Sie ijt ſchon ſprachlich bedenklich; denn fie fet 
voraus, daß das Wort catechumenus bald zur Bezeich⸗ 
mung aller fatedumenen, bald zur Benennung eines 
bloßen Theiles berjelben gebraucht worden fei, eine 
Annahme, die gewiß wenig toabridjeinlid ift. Der 
Grund ift allerdings für fid nod) nicht enticheidend. 
Aber er ſteht aud) nicht allein. Denn es läßt fid) pofi- 
tiv nachweiſen, daß das driftlidje Altertbum den frag: 
lihen Sprachgebrauch wirklich nicht fannte, indem es 
bie Competenten gar nidjt mehr als fatedumenen be- 
trachtete. Drei firdjenvüter, bie freilih, fo viel ἰῷ 
fehe, bisher gar nicht oder nur febr ungenügend in Bes 
itajt gezogen wurden, legen dafür das beftimmtefte 
Beuguiß ab. 

Der eine ift der hl. Gprill von Jerufalem. 
Belanntlih find die Katechefen erhalten, bie derjelbe 
vor den Taufcandidaten- in Serufalem gehalten bat. 
Ihre Zahl ift, bie Profatedhefe nicht gerechnet, 28, 
und bie erften 18, gehalten in ber Quadrages, waren 
an die φωτιζόμενοε oder die eigentlichen Taufcandidaten, 
die weiteren 5, myſtagogiſche genannt unb in der Ofter- 
wode gehalten, an bie Neugetauften gerichtet. Das 
Berhältnig der Taufcandidaten wird hier zwar nicht ex 
professo bejprodjem. Auf ber anderen Seite founte e8 
aber aud) bod) nicht ganz unberührt bleiben, und in ber 
Sat gibt der Kirchenvater, wenn aud) mut in gelegen» 
heitlihen Bemerkungen jo beftimmten Aufſchluß über 


64 gunt, 


daffelbe, daß zu verwundern ift, daß feine Ausſprüche 
bisher wenig in Betracht gezogen toutben ?). Er ftellt 
nämlich feine Zuhörer den fatedumenen wiederholt als 
einen verſchiedenen kirchlichen Stand gegenüber. 
Procatech. c. 6 fordert er fie auf, zu bebenfen, melde 
Gnade Gott ihnen gegeben babe; Katechumenen feien 
fie genannt worden, ba fie von außen ber angelpro- 
hen wurden, die Hoffnung hörend unb fie nicht verftehend 
u. f w. Κατηχούμενος ἐλέγου, find feine eigenen 
Worte, ἔξωθεν magınyouuers‘ ἀχούων ἐλπίδα, καὶ μὴ 
εἰδὼς κεῖ. Procatech. c. 12 (und ähnlich Catech. V 
c. 12) ermahnt er die Zuhörer, ben Katechumenen nicht 
funb zu thun, was fie in diefen Vorträgen hören. Da: 
bei bezeichnet ev den Katechumenen al8 τὸν ἔξω, ber 
bieje Lehre nicht zu verfiehen im Stande fei, während 
vom Taufcandidaten gejagt wird, er ftebe ἐν μεϑορίῳ. 
Cr erinnert ferner die Zuhörer, um ihnen bie Pflicht 
der Verſchwiegenheit vecht eindringlich zum Bewußtſein 
zu bringen, daß bie Geheimniffe aud) ihnen nicht ge- 
offenbart wurden, als fie nod) &atedumenen waren, 
und zugleich bemerkt ev, daß fie, fobald fie bie Geheim- 
niffe kennen gelernt haben, fofott aud) einfehen werden, 
mie unwürdig bie Katehumenen feien, fie zu er 
fahren. In bem Proslogium ber Prokatecheſe endlich 
wird ganz im Einklang mit bem Bisherigen durch einen 
Kibrarius (oder von wem fonft diefer Cat herrührt) 
^o ἢ Im ber neueften einfchlägigen Schrift (Rochat, Le ca- 
iéchuménat au IVme sidele d'aprte les catéchbees de St. Cy- 
rille de Jérusalem 1875) werben bie Katecheſen Cyrill's unter 
biejem Geſichtspunkte gar feiner Prüfung unterzogen. Der Ber 
faffer geht vielmehr (S. 40) einfad) von ber Dreitheilung be8 
Katechumenates als feſtſtehendem Ariom aus, 





Die Katechumenatzclaffen des chriſtl. Alterthums. 65 


bie Bemerkung gemacht, bieje für bie φωτιζόμενοι ber 
fimmten Katecheſen dürfen mur bie Taufcandidaten und 
bie bereit8 Getauften leſen, nicht aber bie Katechumenen 
und andere Leute, bie nod) nicht Chriften feien. Die 
φωτιζόμενοι werben alfo in der Profatechefe von Eyrill fo 
beftimmt und fo ſcharf von den Katechumenen unterſchieden, 
bof kaum anzunehmen ift, jene haben eine Gfaffe von dieſen 
gebildet, und wenn nad) den angeführten Stellen je nod) ein 
Zweifel über den Sachverhalt befteben follte, jo würde 
derfelbe durch folgende Stellen vollends gehoben. Ca- 
tech. V c. 1 weist der Kirchenvater die Zuhörer auf 
bie große Würde Din, bie ber Herr ihnen verliehen 
babe, da fie aus bem Stande ber fatedumenen 
in den ber Gläubigen verjeßt worden feien (ἀπὸ 
τοῦ κατηχουμένων τάγματος elg τὸ τῶν πιστῶν ueranı- 
ϑεμένοις), und ähnlich ſpricht er Catech. VI c. 29 von 
einem Austritt aus ber Glaffe der Katechumenen (σοὶ 
τῷ ἐκ κατηχουμένων μεταβαλλομένῳ). Catech. I c. 4 
endlich bemerkt er dem Taufcandidaten, er erhalte einen 
neuen Namen, den er früher nicht gehabt habe; bisher 
feier Ratedumene geweſen, von mum aber werde 
er Gläubiger heißen. 

Die Sade kann nad) biefen Ausſprüchen nicht zweifel⸗ 
haft fein. Der Kirchenvater ftellt einerjeit8 bie Tauf⸗ 
candibaten in einer Weile den fatedyumenen gegenüber, 
daß man Leicht fibt, daß jene nicht ala Katehumenen 
Ober als eine befondere Gaffe der Katechumenen ange: 
fehen wurden. Anbererfeit3 fagt er mit ausbrüdlichen 
BVorten, die Taufcandidaten haben den Stand ber fa: 
Gumenen verlaffen, und zweimal nennt er zugleich ben 
Stand, in den fie eingetreten find, den Stand der Glue 

Set Quartalfgrift. 1889. Heft 1, 5 


66 Sunt, 


bigen. Letzterem waren fie zivar mod) nicht im vollen 
Sinne be8 Wortes eingegliedert — das geihah erf 
duch die Taufe — und der Kirchenvater gibt diefes 
ſelbſt baburd) zu verfteben, daß er aud) ihnen nod) nicht 
bie volle Heilslehre anvertraut, fondern mad) der Taufe 
in ben mpftagogifchen fatedjefen einen 9tadtrag zu den 
früheren Katechefen gibt. Aber immerhin mwurben fie, 
wie aus dem Angeführten erhellt, dem Stande ber 
Gläubigen und nicht dem Stande der fatedumeneu 
beigezählt, und die gewöhnliche Annahme, bie fie als 
Katechumenen faßt, fteht daher mit den beftimmten 
Worten Cyrills von Zerufalem in Widerſpruch. 

Gegen dieſes Urtheil legen aber meiterhin aud) 
10d) zwei abendländiſche Kirchenlehrer entichiedenes Zeug: 
niß ab, ber HL. Ambrofius und ber HL Augu— 
fimus. Zwar find ihre Ausſprüche nicht jo umfafjend 
wie ber be8 orientalifhen Kirchenvaters. Sie geben 
darüber feinen augbrüdliden Aufihluß, welhem Stand 
bie Taufcandidaten zugerechnet wurden. Aber fie fagen 
menigftens mit aller Deutlickeit, daß biejelbem nicht 
mehr ala Katechumenen galten, und das ift hier zunächſt 
genug, mo e8 fid) um die Frage handelt, ob bie An- 
nahme von verjdjiebenen Katechumenatsclafien überhaupt 
begründet ift. Ambrofius erzählt nümlid Ep. 20 c. 4 
feiner Schwefter Marcellina, er habe an einem Sonntag 
dimissis catechumenis symbolum aliquibus 
competentibus in baptisteriis basilicae übergeben. 
Auguftinus ſchreibt De fide et op. c. 6 n. 9: Quid 
autem aliud agit totum tempus, quo eatechume- 
norum locum et nomen tenent, nisi ut audiant, 
quae fides et qualis vita debeat esse Christiani . . . . 


Die Katechumenatclaffen des chriſtl. Alterthums. 67 


Quod autem fit per omne tempus, quo in ecclesia 
salubriter constitutum est, ut ad nomen Christi ac- 
cedentes catechumenorum gradus excipiat !), hoc 
fit multo diligentius et instantius his diebus, quibus 
competentes vocantur, cum ad percipiendum bap- 
tismum sua nomina iam dederunt. 

Die Taufcandidaten galten biernah im ber altem 
fitde, näherhin im vierten und fünften Jahrhundert, 
nicht mehr al8 Katechumenen. Nah Eyril von Jeru- 
falem wurden fie vielmehr dem Stande ber Gläubigen 
beigezählt, und fie hatten demgemäß wahrſcheinlich das 
Recht, dem ganzen Gottesdienft, natürlich mit Ausſchluß 
von der Kommunion, anzumohnen, während die Kate 
chumenen nad) Beendigung des bibaltijdjem Theiles des 
Gottegdienftes entlaffen wurden. Dieſer Annahme fteht 
zwar bie clementinifche Liturgie *) entgegen, in der nad) 
bet Predigt mit den fatedumenen, Energumenen und 
Büßern aud) die Taufcandidaten und zwar an dritter 
Stelle ober vor ben Büßern fid) entfernen. Aber fie 
dürfte gleichwohl nicht zu gewagt fein, ba fid) andererſeits 
feum begreifen läßt, melde Rechte die Gompetenten 
mit ihrer Ginreijung in den Stand der Gläubigen er- 
hielten und da mir über bie Geltung der clemeutiniſchen 
Liturgie nicht? Sicheres wiſſen. Nur das läßt fid mit 
Grund dagegen einwenden, baf bie Praris im biejer 
Beziehung wohl nicht überall gleich und baf am einigen 
Drten bie Gompetenten bezüglich ber Theilnahme am 


1) So Iafen mit Recht bie Mauriner nad ben Handichriften, 
während bie früheren Herauögeber excipiant haben. Gradus ift 
daher Singular und Nominativ, nicht Plural und Aceuſativ. 

2) Constit. apost. VIII c. 6-9. 


δ᾽ 


68 Sunt, 


Gottesdienft nod) ben fatedjumenen gleichgeftellt waren, 
während fie an andern unb zwar mad) ben angeführten 
Zeugen zahlreiheren Orten bereit8 als Gläubige be- 
handelt wurden. 

Nach dem Vorftehenden gab e8 aljo, einige Kirchen 
etma ausgenommen, Feine Rangclafien im fatedumenat. 
Der fatedjumenenftanb war vielmehr ein einheitlicher. 
Der Unterriht mag allerdings ba und dort vor ver= 
ſchiedenen Abtheilungen und aud) von verſchiedenen Leh⸗ 
tern ertheilt worben fein, mie wir Solches aus der 
Geſchichte des Drigenes erfahren, ber nad) bem Zeug- 
niß des Eufebius (H. E. VI c. 15) im Laufe ber eit, 
als bie Zahl der ftatedjumenen in Merandrien fid) be- 
trächtlich mehrte, biefelben in zwei Abtheilungen fchied 
und bie Unterweifung ber Anfänger bem Heraflas über- 
trug, bie ber Fortgefchritteneren fid) ſelbſt vorbebielt. 
Allein das war troß allen Scheines feine Elaffeneinthei- 
lung in dem Sinn, wie fie bier in Frage ftebt. Denn 
mad) der Claffeneintheilung, um bie es fid) Handelt, foll- 
ten bie einzelnen Glaffen einen verfhiedenen Rang 
in der Kirche behaupten, insbeſondere eine verfchie- 
dene Stellung beim Gottesbienft einnehmen, was bei 
ber Glaffeneintheilung des gelehrten Alerandriners ſicher⸗ 
lid) nicht der Fall war. Lebtere beruhte überhaupt auf 
einem mehr oder weniger zufälligen Grund, auf der 
zeitweilig befonders großen Anzahl ber Katehumenen 
einer Kirche, und fie fonnte und mußte daher zu anderen 
Seiten und anderen Drten fehlen. 

Wir haben uns bisher vorwiegend auf die Literatur 
der zweiten Hälfte des hriftlichen Alterthums beſchränkt, 
und toit gingen von diefer aus, weil fie ung beftimmtere 


Die Katechumenatselaſſen be8 drift. Alterthums. 69 


Auffhlüffe über ben ftatedumenat gibt, als bie Literatur 
der früheren Jahrhunderte. Nur bei ber Unterſuchung 
über die Namen und Ausdrücke wurde bereit3 auf legere 
Südfijt genommen. Diefelbe ijt indeffen noch einer 
weiteren Prüfung zu unterziehen. Denn wenn aud 
metà angenommen wird, daß ein ganz beftimmter 
Nachweis für bie Katechumenatsclaſſen erft vom vierten 
Jahrhundert am zu führen fei, fo mill man in der äl- 
teren Literatur mindeftend mehr ober weniger deutliche 
Spuren berfelben entbeden. Der Gelehrte, ber fid) in 
der jüngften Zeit am eingehendften mit der Angelegen- 
heit befäpäftigt hat, meinte fogar die Wahrnehmung zu 
machen, daß bei Tertullian und den Alerandrinern bie 
Katehumenatsclaffen ſchon mit aller Beftimmtheit zu 
Tage treten, während im apoftolifhen ftatedjumenat ein 
Unterſchied unter den Katechumenen wenigftens implicite 
liege ἢ). Die Sache ift nad) unjerem bisherigen Refultat 
ſehr unmahrfheinlih. Denn wenn die Katechumenats- 
claſſen da, wo fie bie ausgebilbetfte Geftalt haben follten, 
bei näherer Betrachtung fid) in ein Nebelbild auflöfen, 
fo werden fie ba, too fie mehr oder weniger nod) im 
Verden begriffen fein jollen, vor einem fcharfen Auge 
mod weniger Stand halten. Sehen wir imbefjen bie 
einzelnen Beweisftellen näher an! 

Während ber Caſſenunterſchied, jagt man, uod 
gegen Ende be8 zweiten Jahrhundert? nicht ausgebildet 
wat, obgleid) ſchon Juſtin leiſe auf ibm hinweiſe, wenn 
er von Katechumenen rebe, bie in den riftlihen Glau- 
ben: und Sittenlehren Unterricht erhalten, und von 


Ὁ Probft, Lehre und Gebet S. 79-189. 386. namentlich 
108. 





© 


70 Sunt, 


ſolchen, bie nad) bem Belenntnifie, bieje Lehren zu 
glauben und ihnen gemäß leben zu wollen, zum Gebete 
und zum Faften verpflichtet werden, fo treten bei Ele- 
mens von Alerandrien dagegen die beiden Abtheilungen 
beftimmter und als förmlide Glaffen auf. Denn 
dieſer Schriftfteller rede von einer erften Katecheſe (Strom. 
V e. 8 p. 675). Die erfte fatedeje fee aber eine 
zweite, und bie zmeite ftatedjeje ihrerfeit3 ſetze natur: 
und fadgemáf zwei Glaffem von Katechumenen voraus. 
In ber That erwähne Clemens nicht bloß Katechumenen, 
fondern aud) 9teofatedyumenen, νεωχατηχητοί (Strom. VI 
€. 15 p. 804) und νεωστὲ κατηχούμενοι (Paed. I c. 6 
p.119). Zwar [εἰ von ihm mod) nicht eine jo deutliche 
Sprache zu erwarten, wie von feinem Schüler Drigenes. 
Aber man werde aud) nidjt die Annahme verwerfen 
können, bie Einrichtung be8 Katechumenates, die biefer 
als eine befiehende beſchreibe, werde jdon zur Seit 
des Lehrers vorhanden geweſen fein. Es feien ja ins» 
befondere die zwei Arten von Dienern Gottes, bie Gle« 
mens unter den Gläubigen und Gnoftifern femme, ber 
Slave und der Diener (Strom. I c. 27 p. 423), mut 
auf die beiden fatedyumenat&claffen zu beziehen!). Das 
find bie Stellen bei Clemens, aus denen eine Zweiheit 
von Katechumenatsclaſſen hervorleuchten fol. Man braucht 
fie indefjen nur unbefangen anzufhauen, m. a. W. man 
braucht mur nicht vorauszufegen, was erft zu beweiſen 
ift, daß e8 námlid) einen Glaffenunterfhied unter ben 
fatedumenen gegeben habe, um fofort zu erfennen, daß 
fie einen Beweis nicht ergeben. Was vor allem bie 





1) Brobfta.a.D. €. 108—111. 


Die Katechumenatsclaſſen des chriftl. Alterthums. 7 


beiden Katecheſen anlangt, fo erläutert Clemens bie 
Ausdrüde felbft, indem er von Milhnahrung und fefter 
Speife fpricht. Folgt aber aus folder Redeweiſe bie 
Eriftenz von fürmlihen Katechumenatsclafien? Gewiß 
ijt. Man müßte denn nur annehmen, daß ein Fort 
ſchreiten in Lehre und Unterricht in einer und berjelben 
Caſſe nicht denkbar fei, mas wohl niemand wird be- 
haupten wollen. Die Erwähnung von 9teofatedumenen 
ſodann beweist ebenjo wenig für einen Claſſenunterſchied 
unter den ftatedumenen, als man αἰ ber Rede von 
Neopresbytern eine Mehrheit von Stufen im Presbyterat 
wird folgern wollen. Die fragliche Beziehung der Sklaven 
und Diener endlich auf bie Katechumenatsclaſſen unter 
liegt um fo größeren Bedenken, als fie in Widerſpruch 
mit der fonft bei Clemens üblichen Annahme von drei 
firhlihen Ständen (1. fatedjumenen, 2. Gläubige, 3. Gno- 
fifer) ftebt. 

Nicht befjer ftebt e8 mit den Katechumenatzclaffen 
bei Tertullian und Drigenes, obwohl biejer fie als eine 
beftebenbe Ginritung beſchreiben fol. Ter 
tullian bedient fid) zwar verfchiedener Ausdrüde zur 
Bezeichnung ber Katehumenen. Außer ben audientes 
und catechumeni fpridht er vom novitioli (De paenit. 
ἃ θ), von accedentes ad fidem und ingredientes in 
filem (De idol. c. 24) jowie von ingressuri baptismum 
(De bapt. c. 20). Ebenfo erwähnt er eine intellectuelle 
und fittlihe SBerjdjiebenDeit unter den Katechumenen 
(De paen. c. 6). Aber was thut das, müffen wir aufs 
neue fragen, zur Cade? Läßt fid) biejelbe Inſtitution 
nicht mit verſchiedenen Worten bezeichnen? Gibt e8 
nit aud) einen Fortſchritt innerhalb einer und berjelben 


72 gunt, 


Glafje? Freilich verweist man uns, indem man dieſes 
einzuräumen fid) veranfaft fiebt, auf drei Untertauchungen 
und Widerfagungen mit bem Bemerken hin, daß fie eine 
derartige Auffaffung ausfchließen und die Annahme von 
verfehiedenen Katechumenatsclaſſen nothwendig machen. 
Mein aud) diefe Deutung ift nicht flihhaltig. Die 
beiden erften Untertauchungen, bie fid) allein auf den 
Ratehumenat beziehen können, indem bie britte bie 
Taufe ift, fallen ſchon deßwegen nicht befonders ind 
Gewicht, weil fie nicht eigentlich, jonbern nur allegoriſch 
zu verftehen find, indem bie eine in vollkommene Gottea- 
furcht, die andere in gefunden Glauben und bußfertiges 
Gewiſſen gelebt wird. Was aber bie breimalige Wider: 
fagung betrifft, fo ftebt fie durchaus in Frage, unb fie 
aus ber bretmoligen Untertauchung abzuleiten, geht ſchon 
deßhalb nicht an, weil zwei von ben Untertauchungen, 
wie bereitö bemerkt, in Wirklichfeit gar nicht ftattfanden. 
Zu alle dem beweist bie breimalige Widerfagung, felbft 
wenn fie feftguftellen ijt, für einen Claſſenunterſchied 
unter den Katehumenen nichts. Denn bie zweite fand 
dann beim Eintritt in den Stand der Gompetenten ftatt, 
und bieje gehörten, wie wir [dom gefehen, nicht mehr 
in bie Kategorie der Katechumenen 1). 

Das entfheidende Zeugniß be8 Drigenes für 
bie Clafjeneintheilung der Katehumenen ſoll Contra 
Cels. III c. 51 fteen, wo wir lejem: „Die öffentlich 
lehrenden Philofophen treffen unter den Zuhörern Feine 
Auswahl, fondern e8 findet fid) ein und hört zu, wer 
ba mill Die Chriften aber prüfen vorher, fo viel in 


1) Sgt. Brobft a. a. D. ©. 115—117; 151 f. 


Die Ratecjumenatsclaffen des chriſtl. Alterthunis. 73 


ihren Kräften fteht, die Seelen derer, bie fie hören 
wollen, und unterrichten fie privatim, und wenn bie Zus 
hörer (ἀχροαταί) vor ihrer Zulaffung in die Gemeinfdaft 
in dem Vorfag gut zu leben hinlänglich erftarkt zu fein 
feinen, dann endlich führen fie fie ein, indem fie eine 
eigene Gíafje aus denen bilden, bie eben anfangen und 
eintreten und das Symbol der Reinigung (die Taufe) 
mod) nicht empfangen haben, ſowie eine andere aus ben- 
jenigen, bie nad Kräften den Entſchluß zeigten, nichts 
Anderes zu wollen, als was den Chriften gefält (τὴν 
προαίρεσιν οὐκ ἄλλο τι βούλεσϑαι ἤ τὰ Χριστιανοῖς 
δοκοῦντα). Unter biejen (παρ᾽ οἷς) find einige aufge: 
flet, um das Leben und den Wandel ber Eintretenden 
(τῶν προσιόντων) zu erforschen, damit fie ben Sündern 
den Zutritt in ihre gemeinfhaftliche Verfammlung unters 
fagen, die anderen aber mit ganzer Seele aufnehmen 
und fie täglich befjer machen.“ Die Stelle foll das 
Hauptzeugniß für die Glaffeneintheilung des ftedu- 
menate8 in ber vornicänifchen Zeit fein, indem bie zwei 
Glaffen von Chriften, bie hier zur Sprache Tommen, 
beide als Katechumenen aufzufafien feien. Es liegt. 
aber auf der Hand, daß bieje Deutung eine völlig uns 
richtige iji. Origenes gibt ja, indem er die Mitglieder 
der erften Caſſe al ungetauft bezeichnet, mehr als 
zur Genüge zu verftehen, daß die Mitglieder der zweiten 
Glafje getauft feien, und was gegen diefe Auffaffung 
bisher vorgebraht wurde, um bie zweite Caſſe als 
fatedyumenat&claffe anfeben zu können, ift völlig grund- 
108 unb nur Ausflug des Beftrebens, beu Alerandriner 
eben um jeden Preis als Zeugen für bie Katechumenats⸗ 
claſſen zu gewinnen. Die Mitglieder der zweiten Glaffe, 


"4 gunt, 


fagt man !), werben duch Drigene8 keineswegs als 
Ehriften oder Gläubige im engeren Sinn, fondern nur 
als vollftändig befähigt zum Eintritt in bie Reihen dieſer 
bezeichnet. Die Gemeinde jelbit habe mehr als eine 
προαίρεσις und ein βούλοσϑαι zum Charakteriftifum; 
die Gläubigen feien vielmehr bie, melde bie δοκοῦντα 
felbft befigen und mit ihrem Namen (Χριστεανοί) ποτε 
mirem. Jene feien aber [o weit gebrad)t, daß fie, was 
bie Chriften befigen, mun felbftftändig ermählen und im 
Gegenjag zu ihrem früheren Deibuijden Stand „nichts 
Anderes“ begehren. Während vorher bei ber erjten 
Glajfe das legte Ziel objectiv benannt [εἰ nad) bem, 
was fie überfommen (dem Symbol ber Reinigung), [εἰ 
bier das Ziel fubjectio bezeichnet nad) ber für das ob. 
jective Biel erlangten geiftigen Dispofition u. f. wm. Die 
zweite Claſſe foll aljo nicht aus den Gläubigen, fondern 
nur aus folhen (von den Katechumenen) beftehen, bie 
zur Aufnahme unter die Gläubigen bereits vollftünbig 
reif feien. Aber es geht ja, wie bereits angedeutet 
wurde, fon aus dem Gegenfa, in ben die zweite Claſſe 
‚sur erſten geftellt ift, mit aller Beftimmtheit hervor, daß 
diefe Auffaffung faljd) ift, und menn durch diefes Mo- 
ment je nod) ein Zmeifel zurüdgelafien mwätrde, fo müßte 
berjelbe durch folgende Erwägung gehoben werden. Der 
Gag ijt mit Anführung der beiden Claſſen oder Stände 
mod) nicht zu Ende. Drigenes ſpricht meiterhin mod) 
von PVerfonen, bie mit Prüfung des Wandels derjenigen 
betraut find, bie in die Kirche aufgenommen zu werben 
wünſchen, und er läßt diefe, was bie Hauptfache ift, 

1) Besfhmwig, ber Katechumenat S. 111. Bol. Brobft 
a. a. Ὁ. S. 118 f. 


Die ftatedjumenat&claffen bes chriſtl. Alterthums. 75 


aus ber zweiten Glafje genommen werden. Diefe Per- 
fonen können aber nur Gläubige geivefen fein, ba Kate 
dumenen ummüglid mit einer derartigen Aufgabe be— 
traut wurden, und da fie, mie das Sapgefüge gang 
deutlich zeigt, aus den Mitgliedern der zweiten Elaffe 
gewählt wurden, fo folgt, daß bieje [εἴθ aus Gläubigen 
oder Getauften beftand. Der Sinn der Stelle ift Dies 
nad nicht im mindeften zweifelhaft, und wenn gleichwohl 
in ber Kegel eine andere Auslegung gegeben mutbe, fo 
ift das mur ein Beweis von der großen Befangenbeit, 
mit ber man zur Deutung ber Stelle ſchritt. Origenes 
ſpricht von fatedumenen und Gläubigen, nicht von zwei 
Glafien von Katechumenen ). Und wie er biele bier 
nit fennt, fo weiß er von ihnen aud) nicht? an anderen 
Drten. Aus der In Num. hom. XXVII c. 1 vorfom= 
menden Unterſcheidung einer dreifachen Nahrung (Mil 
für bie Kinder, Gemüfe für Schwadhe unb Kranke, 
ftarfe Speife für gefunde unb Träftige Perfonen), 
bezw. einer breifadjen Lehre bei den Chriften folgt bei 
ihm fo wenig als bei anderen kirchlichen Schriftftellern, 
bie fid) derfelben ober einer ähnlichen Rebe bedienen, 
ein Glaffemunterjdjieb unter den Katechumenen. Die 
Stelle ift höchftens ein Beweis für das Vorhandenfein 
der beiden Stände bet Katechumenen und Gläubigen, 
unb wer fie unbefangen prüft, wird nicht einmal biefen 
Unterſchied mit Sicherheit in ihr finden, indem bie ver- 


1) Die Gtelle wurde fon von Haffelbad in bem mir 
leiber nicht zugänglichen Programm De discipulorum, qui primis 
Christianorum scholis erudiebantur, seu de catechumenorum 
ordinibus (1839) richtig erflärt. Sol. Nebepenning, Drigenes 
(1841) I, 359. 





76 gunt, 


ſchiedenen Eigenthümlichfeiten, bie hervorgehoben werden, 
fer wohl auf die Verſchiedenheiten unter den Gläus 
bigen fid) beziehen laſſen. Mit mehr Recht Könnte man 
auf bie von Drigenes vorgenommene Theilung der Ka= 
tedumeneu in Anfänger und Fortgefchrittenere fid) be- 
rufen. Aber die Scheidung Tann, wie wir bereitö ge— 
fehen, au8 einem anderen Grunde nicht in Betracht 
kommen. 

Unſere Unterſuchung iſt nunmehr zu Ende. Die 
weiteren Stellen, bie man etwa mod) für ben Glaffen- 
unterſchied unter den Katechumenen aus ber. altriftlichen 
Literatur anzuführen pflegt, haben fo wenig mit der 
Sade zu thun, daß wir fie nicht glauben meiter be- 
leuchten zu follen, nachdem mit bie wichtigeren alle einer 
näheren Prüfung unterzogen haben. Zum Schluß möge 
nur nod) ba8 CrgebniB derjelben in kurzen Säßen bar: 
geftelt werben. 

Die Annahme eines Claſſenunterſchiedes im alt: 
chriſtlichen Katehumenat ift unbegründet. Weder bie 
Dreitheilung nod) die Zweitheilung, von ber Viertheilung 
gar nicht zu teben, ift haltbar. Jene beruht auf einem 
offenbaren Mifverftändniß be8 Kanon 5 von Neocäfarea. 
Diefe ift nicht ftihhaltig, da die Taufcandidaten mad) 
unzweideutigen Ausfprühen mehrerer Kirchenväter nicht 
mehr zu den Katehumenen gehörten, fondern bereits 
zu ben Gläubigen gerechnet wurden. Die Katechumenen 
bildeten aljo im chriſtlichen Alterthum nur eine Glaffe, 
und ber fatedumenat ging zu Ende, fobald feine Mit 
glieder in den Stand der Taufcandidaten eintraten oder 
in der Sprache der altehriftlihen Kirche φωτιζόμενοι, 





Die Katechumenatsclaſſen des chriſtl. Alterthums. 77 


μυούμενοι ober βαπειζόμενοι, competentes, electi oder 
electi baptizandi wurden 1): 


1) Der gewöhnliche Ausdruck mar in ber griedjijden 
fütdje φωτιζόμενοι, wie u. a. bie Katecheſen Cyrill's unb bie apo» 
ſtoliſchen Conftitutionen zeigen. Letztere gebrauchen VIII c. 8 audj 
die beiden anderen Namen. In ber Iateinifhen Kirche war 
ber gewöhnliche Name competentes. Wir begegnen ihm bei Am 
broſius (Ep. 20 c. 4), Auguftinus (Serm. 216 c. 1; 228 o. 1; 
352 c. 2. De cura ger. pro mort. c. 12. Retract. I c. 17), ber 
Synode von (gbe 506 c. 13, Ferrandus von Gartbago (Ep. ad 
Fulg. inter Fulg. ep. 11 c. 2. Migne, Patr. Lat. t. 65 p.378). 
In ber rbmijden Kirche [deinen übrigens bie Ausdrücke electi 
(Siric. ep. ad Him. ο. 3. Harduin, Conc. I, 848) unb bapti- 
zandi electi (Leon. ep. 16 c. 5. 6. : Harduin I, 1757 sq.) bie bor. 
herrſchenden getvejen zu fein. Die angeführte Stelle von Ferrandus 
zeugt ähnlich wie bie oben €. 66 angeführten Worte des DI. Am- 
broſius und be8 bL. Auguftinus, wenn aud) nicht mit der ganzen 
Beftimmtheit, dafür, daß bie Gompetenten nicht mehr al8 Ratechu- 
menen galten. Sie lautet nümlij: Fit ex more catechu- 
menus; post aliquantum nihilominus temporis propinquante 
solemnitate paschali inter co mpetentes offertur, seribi- 
tur, eruditur eto. — Zu ©. 65 mag bier nod) beigefügt werben, 
daß aud) ber Hl. Chryfoftomus bie Taufcanbibaten Gläubige 
nennt. 9m Catech. ad illum. II (Ed. Montfaucon t. II p. 235) 
bemerkt er benjelben: Πιστὸς γὰρ διὰ τοῦτο καλῇ, ὅτι καὶ πιστεύεις 
τῷ ϑεῷ κτλ. 


3. 
Die franzöfifhe Theologie der Gegenwart. 





Bon Prof. Dr. Schau. 





Es gibt zwei Frankreich, hat man gefagt, und man 
hätte nicht erſt bie neueſten Ereigniffe ber britten Re— 
publik abzumarten gebraucht, um die Richtigkeit dieſes 
Ausſpruches anzuerkennen. Es gibt zwei Frankreich 
nicht bloß in politiicher Beziehung; eim monarchiſches 
und republikaniſches, ein confervativeg unb Liberales 
ober radicales, fondern e8 gibt aud) zwei Frankreich in 
veligidfer Beziehung. Nicht die Confeſſionen find aber, 
tote in unferem confeffionell gefpaltenen Baterland, bie 
Gegenſähe, fondern Glaube und Unglaube ftehen einander 
feindlich gegenüber, Es wäre eite Mühe, wollte id) 
biefür erſt den Beweis führen. Die Lectüre der nächſten 
beiten Sorift über dieſes Gebiet erbringt denfelben zur 
Genuge. Θὲ gibt gläubige, tiefreligiöfe, opfermillige 
Katdoliken in großer Anzadl, aber ber ungläubigen, 
ſveidenteriſchen. wligiensivindlichen Nachfommen der Re 
volntionän ven 1τϑ Hae ot wicht Wenige, ihre Zahl 
iR demade Neuen Gr guter The der Wännerwelt 


Die franzöfiiche Theologie der Gegenwart. 79 


aus allen Klaſſen und Ständen zählt zu ihnen, felbft bie 
Frauenwelt der großen Städte ift dabei ftarf vertreten. 
Und welche Rührigkeit entwickeln nicht alle diefe Feinde 
de3 Chriftenthums für ihren modernen Unglauben! Welche 
Summe von Wiffen, welche Macht ber Rede und Schrift, 
welche Opfer an Gelb und Gut werden nidyt aufgewendet, 
um den Unglauben, den Haß gegen ba8 Chriftentbum 
zu verbreiten und ins praftiihe Leben überzuführen! 
Wie e8 fo weit fommen fonnte, läßt fid Diftori]d) be— 
greifen. Aber man wird nicht bloß eine Seite dafür 
verantwortlich madjen dürfen, fondern zugeben müſſen, 
daß vielfach das Unkraut gejüet wurde, αἵδ᾽ die Leute 
ſchliefen. Diefer Vorwurf trifft zum Theil aud) bie 
franzöſiſche Theologie, ben Klerus. Auch hiefür difpenfire 
id mid) vom Beweiſe. Es wird genügen, wenn id) bie 
beiläufige Notiz eines franzöfifhen Gelehrten anführe, 
welche ebenfo aufrichtig al8 wohlmeinend lautet. Hamard 
bemerkt über bie Prähiftorifer: „Man muß ihnen bie 
Gerechtigkeit widerfahren laſſen, daß fie für Verbreitung 
ihrer traurigen Lehren unenblid) mehr Eifer entmideln 
als wir felbft e8 bis jebt zur SBertbeibigung unferer 
angegriffenen Glaubenswahrheiten gethan haben. Dies 
ift eine beklagenswerthe Sache. Niemand oder beinahe 
niemand bot von Anfang an, als e8 jo nüßlich getoefen 
τοῦτο, zu interveniven, eruftliche Anftrengungen gemacht, 
um den Irrthum zu entlarven und bie Verwüftungen 
zu verhindern, melde er auf bie Geifter auszuüben bes 
gann. (δ8 genügte nicht, mit einem verächtlichen Lächeln 
zu antworten, ein ivonifhes Wort, ein einfaches Dementi 
den Behauptungen entgegenzuftellen, welche fid) im Namen 
und unter bet Dede ber Wiſſenſchaft prüfentittem. Das 


80 Shan 


Bublicum unferer Zeit ift anſpruchsvoller. Einer Lehre, 
welche fid) als crujt betrachtet, gehört eine ernfte Ant- 
wort, eine motivirte Entgegnung. (8 ift Licht noth- 
wendig, uud, offen gefagt, wir máüffem uns defien freuen, 
denn wir haben bei einer loyalen Discuffion alles zu 
gewinnen. Das Terrain der 9Bifjenidjaft, der prápifto- 
riſchen Wiffenihaften und der anderen, ftebt ung offen, 
und e8 ift die Pflicht eines ftatpolifen, entſchloſſen in 
baffelbe einzutreten, da heute das Schlachtfeld zwiſchen 
ber DOrthodorie und bem Unglauben liegt. Die Augen 
zu fließen bei Lehren, welche in fo birecter Weife 
fBrejd)e in die Wahrheit unferer Bücher und felbft in 
die Grundlagen ber ganzen Religion legen, das hieße 
in den Augen ber Maflen, welche davon erfüllt find, 
den Kampf fliehen, fid) zu einer Niederlage refigniven 
und zum voraus dem Feind das Feld einräumen !)." 
Ich hoffe, der Lefer werde es mir nicht übel nehmen, 
daß id) diefe Stelle wörtlich herfegte. Denn abgefehen 
davon, daß fie und einen Cinblid in die gegenwärtige 
teligibje Lage der franzöſiſchen Katholifen geftattet, ent⸗ 
hält fie eine ernfte Aufforderung zum Betrieb der Wiſſen⸗ 
ſchaft, jeder Wiffenihaft, melde mit bem Gebiet des 
Glaubens in Berührung kommt. Eine folhe Mahnung 
dürfte aber aud) für den Klerus bieffeit8 des Rheins 
nicht überflülfig fein. Bon den franzöfiihen Theologen 
ift aber mit diefem Geftändnifje zugleich der Anfang ber 
Beflerung gemacht. Gerade diefer Umftand hat mid) zu 
den folgenden Zeilen veranlaßt. Denn id) geftehe offen, 
daß ἰῷ bei allem Stejpect vor ber alten franzöfifchen 


1) La Controverse I, 1, 1. Nov. 1880 p. 24. 


Die franzöfiiche Theologie ber Gegenwart. 8 


Theologie bie neuere nur ziemlich gering taritte. So 
weit ἰῷ mir überhaupt ein Urtheil bilden konnte ſchien 
fie mir an zwei toefentlidjem Mängeln zu leiden. 

Die Franzofen beſchräukten fid), einzelne, nicht ohne 
Anfechtung gebliebene, Ausnahmen abgerechnet, viel zu 
febr auf das Alte, welches für fid gewiß gut ift, aber 
für bie neueren Verhältnifje vielfach ben Dienft verjagt. 
Es wird fein Katholif den hohen Werth ber Patriſtik 
und Scholaftif, bie Reichhaltigkeit ber älteren eregetifchen, 
dogmatifhen und moraltheologiſchen Werfe beftreiten, 
aber bie Theologie verfennt ihre Aufgabe, wenn fie 
glaubt, mit neuen Auflagen der Väter und des Ὁ. Tho— 
mas, mit neuen Abdrüden des Maldonat, a Lapide, 
Galmet, Liguori u. 9L. ben Bedürfniffen der Gegenwart 
genügen zu fónnen. Und bod fand man in zahlreichen 
Verzeihniffen, melde burd) Golporteute franzöſiſcher 
Verleger aud) in Deutſchland verbreitet wurden, faft 
mur eine ſolche Literatur. Auch neueftens ſcheint man 
fid in franzöſiſchen Seminarien nod) mit einer ſchlechten 
Quinteſſenz der Theologie vor 200 Jahren zu begnügen. 
Denn in ber Beſprechung eines Handbuches ') bemerkt 
Abbe Michel, baf für beu SBerfaffer ein Fortſchritt der 
Theologie gar nicht beftehe. Schrifteitate und Väter 
citate, echte und falſche, find einfach von den Alten 
herübergenommen. Den Engeln find 110 Seiten ge: 
widmet. Der Berfaffer weiß von denfelben, mas fie 
Tennen und nicht kennen; wie fie Sprechen und wenn man 
darauf beftehe, fo gebe er aud) Rechenſchaft von ihrer 
Syntar. Dies ift allerdings für bie Gegenwart nüglich 

1) Institutiones theologicae ad usum Seminariorum, auc- 
tore A. Bonal. ed. III. 1881. 

Theol. Quartalfgrift. 1889. Heft I. 6 


82 Shan, 


und ἰῷ muß leider hinzufügen aud) bei katholiſchen 
Theologen Deutſchlauds nit unbelannt. Als ob es 
fid) heutzutage lohnte, hierüber ganze Kapitel, ja Bücher 
zu ſchreiben! Die Berufung auf bie Scholaftifer ent- 
idulbigt nicht, denn man follte fie billigerweife nicht für 
ungeſchickte Nachtreter des 19. Jahrhunderts verant- 
wortlich machen ’). Man bat die deutſche fat). Theo— 
logie, welche früher bie nothwendige Schwenfung voll 
zogen bat, häufig angegriffen, und ε fol nicht geleugnet 
werden, daß fie dag Alte oft zu geringihäßig behandelte 
und fid von der philofophiihen Speculation zu ftarf 
beftechen ließ, aber dies SBerbienft darf fie bod) für fid) 
in Anfprud nehmen, baf fie den Kampf mit den Geg- 
nern des Goriftentbum8 und der Kirche energifh auf- 
genommen und bis heute unermübdet fortgeführt Dat. 
Ja man Tann fi fragen, ob e8 nicht beffer wäre, wenn 
fie aud) in der Gegenwart ben neuen Zeitftrömungen 
in neuer Form entgegenträte. 

Als zweiten Mangel in der franzöfiichen Theologie 
möchte id ba8 Weberwuchern der ascetiſchen Literatur 
bezeichnen, obgleich dieſelbe oft burd) eifrige Literaten 
und Berleger in Deutſchland verbreitet worden ijt. 
Man braucht den Werth ber ascetiſchen Literatur für 
ba8 religiöfe Leben nicht zu unterfhäßen, Tann aber 


1) Cfr. Duchesne, Bull. crit. 1881 N. 18 p. 352: „Alles 
ift nicht in Menochius unb Allioli, nicht einmal in dem guten und 
wiſſensreichen δ, a Lapide. Die Epigraphik, Numismatif, Archä- 
ologie, Philologie, das birecte Studium der Väter find ohne Zweifel 
Dinge, bie etwas außerhalb des gewöhnlichen Schulpenfums unferer 
jungen Theologen liegen, aber mit biejen Dingen verfteht man bie 
Bibel fo, baf man fid) fähig macht, fie anderen zu erflären und 
zu vertheidigen.“ 


Die frangbfijdje Theologie der Gegenwart. 83 


bod) jagen, daß fie gegenwärtig nicht das Eine ift, wel⸗ 
ches wotb thut. Das Stotbmenbige muß aber voran- 
gehen. Nun zeigen zwar bie franzöfifchen Bücherver⸗ 
zeichniffe und Zeitſchriften nod) eine große Anzahl Bücher, 
welche ins Gebiet ber Ascefe, Betrachtung, Legende 
uf. to. gehören, aber fie weifen aud) einen bedeutenden 
Fortſchritt in den echt wiffenidjaftliden Disciplinen auf 
und mit biefen allein möchte id nun ben Leſer unter 
halten. 

(8 ift mir aber nicht müglid), bier bie zahlreiche 
neuefte Literatur ber franzöſiſchen Theologie Revue φαΐ: 
firen zu laſſen, denn einerfeit8 fteht mir diefelbe nur 
tfeiltoeije zu Gebot, anbererjeità würde dadurch ber zu: 
gemeffene Raum weit überjd)ritten. Ich muß mich daher 
darauf befchränfen, eine Anzahl der neueften franzöfiichen 
Beitfehriften ?) zu beſprechen und darunter diejenigen bes 
ſonders zu berüdfihtigen, melde dem Charakter unferer 
Zeitſchrift am nächſten ftehen und einen prononcirten 


1) La Controverse, Revue des objections et des réponses 
en matidre de religion. Paris. I—IIL. 1880/82. N. 1—42. 

Bulletin oritique d'histoire, de littérature et de 
théologie. Sécretaire de la Rédaction: M. l'abbé Trochon. 
1, 1880/81 N. 1—24. Sous la direction de: MM. Duchesne, 
Ingold, Lescoeur, Thódenat. II, 1881/82 N. 1—24. III, 1882, 
N. 1-6. Paris. 

Bulletin d'archéologie chrétienne deM. le Comm. 
J.B. de Rossi, Ed. frang. p. M. l'abbó Duchesne. Troisitme 
Série. VI. année. Paris 1881. 

Polybiblion. Revue bibliographique universelle. Deu- 
ziöme Serie. T. XV. XXXIV. de la collection. Paris 1881/82. 

Les Lettres chrétiennes. Revue d'enseignement, 
de philologie et de critique. T. IV. 1882. Paris. 

Revue de Monde catholique. Trois. Ser. XXI. an- 
née 1881/82. Paris. 


6* 


84 Shan, 


Standpunkt einnehmen. Ich glaube damit zugleich eine 
füde in diefer Zeitſchrift auszufüllen, weil fie nicht wie 
viele andere Journale eine periodiſche Weberficht über 
die Zeitfchriften und bie Literatur gibt. Die Zeitfchriften 
fpiegeln am getreueften den Geift ab, tveldjer bie gegen- 
Todrtige Generation beherrſcht, und führen buch bie 
Berüdfichtigung des größten Theils ber Literatur zu⸗ 
glei in das ganze literarifche Leben und Treiben ein. 
Ich werde mich aber bei diefer Beſprechung nicht an eine 
formelle Anordnung binden, fondern bie Qauptgegen- 
fände nad Gutbünfen behandeln. Dadurch wird das 
ermüdende Aufzählen vermieden, eine befjere Weberficht 
gewonnen und zugleich Gelegenheit geboten, ba8 eigene 
Urteil zur Geltung zu bringen. 

Bevor ἰῷ aber auf das Einzelne eingehe dürfte c8 
gut fein, zwei allgemeine Punkte vorauszufhiden. Der 
eine bezieht fid) auf bie Benügung der Literatur, ber 
andere auf den wiſſenſchaftlichen und kirchlichen Stand: 
punft. In erfterer Beziehung ift e8 erfreulich wahr: 
zunehmen, baf fid) bie franzöſiſchen Theologen eine aus⸗ 
gebreitete Kenntniß der neueften Literatur des Aus— 
landes, fpeciell Deutſchlands zu verſchaffen wiſſen, eine 
Kenutniß, welche ſich bis auf die Zeitſchriften und 
Literaturblätter ausdehnt und katholiſche wie akatho— 
liſche Literatur umfaßt. Man kann ſagen, daß ſie hierin 
mitunter eher zu viel als zu wenig thun, indem ſie 
Elaborate berückſichtigen, welche wir lieber der Vergeſſen⸗ 
heit anheimfallen laſſen. Dadurch ift für den zweiten 
Punkt ſchon die Vorausſetzung gegeben. Sie ſtellen ſich 
damit auf die Höhe der heutigen Wiſſenſchaft, deren 
ſtrenge Methode fie aud) anwenden, ohne irgendwie ber 


Die franzöſiſche Theologie der Gegenwart. 85 


Tatholifhen Sache etwas zu vergeben. E8 ift [εἴθ 
verftändiich , daß id) hiermit nicht alle gelehrten Ver» 
treter ber franzöfifchen Theologie, ja vieleicht nicht εἰπε 
mal die Mehrzahl meinen Tann, aber ich conftatire ben 
Aufſchwung und das Beftreben ber beften Kräfte, ben- 
felben möglichſt allgemein zu machen. Gerade bie neu— 
gegründeten Journale La Controverse und Bulletin 
eritique dienen biefem Zwecke und beweifen, daß bie 
franzöſiſche Theologie eine Ausfühnung mit ber mober- 
nen Wiſſenſchaft energijd) betreibt. Sie find aber aud) 
ein Beweis dafür, daß fi die franzöfifchen Theologen 
weit freier bewegen, al8 man e8 mondjerort8 von ben 
Mitgliedern einer großen hierarchiſchen Ordnung ver 
muthen würde. Auch hiefür will id) wieder einem franzö⸗ 
ſiſchen Gelehrten das Wort geben. H. Duchesne richtet 
in der 1. Nummer be8 2. Jahrgangs be8 Bull. cr. ein 
Wort an bie Lefer, in welchem er bie Klagen bet be: 
leidigten Autoren regiftrirt, den Fortſchritt des jungen 
Unternehmens hervorhebt und dann bie Frage beanttoortet, 
mozu überhaupt das Unternehmen gut fei. „Man hat 
gelagt: das ift eine Neuerung, eure Rundſchau, abfolut 
orthodor und unerbittlich wiſſenſchaftlich. — Wir wünſch⸗ 
ten, daß die Verbindung biejer zwei Eigenſchaften aufs 
börte bie Leute in Erftaunen zu fegen. — Man bat 
«ud gejagt: ihr habt ein freies Reden, das eud) [da- 
ven wird; ihr feid flerifer, eure Oberen werden euch 
Einhalt tun. — (δ foll bie ganze Welt e8 wohl feben 
und wiffen, baf bie kirchlichen Oberen nicht enters. 
tnechte find unb baB man, indem man ihnen unterworfen 
ift und zugethan bleibt, mit einiger Unabhängigkeit denken 
und fprehen fann; um fo mehr ba e8 am Plage ift, 


86 Schanz, 


e8 zu thun.” Des Weiteren fügt er mod) bei, er wifle 
aus guter Duelle, daß e8 überall in Frankreich Kleriker 
gebe, melde wünfhen, zu arbeiten, fid) einzuweihen in 
bie neuen wiſſenſchaftlichen Methoden, fi zu erheben 
über die traurigen Handbüder, bie alle Begeifterung 
jerflören und allen guten Willen entmuthigen. Diefe 
Bemerkung möchte id) an biejem Orte um fo mehr be- 
tonem al8 bekanntlich unferer Zeitfchrift nicht felten der 
Vorwurf gemacht worden ift, daß fie zu wiſſenſchaftlich 
und zu freifinnig und in ihrer Kritik zu fireng fei. Auch 
ift e3 mir vielleicht erlaubt beizufügen, daß ein freund: 
lider Recenfent meines Commentars zum Marcuden. 
allen Exnftes die Befürchtung ausgeſprochen Dat, bie 
ftrenge wiſſenſchaftliche Haltung möchte feiner weiteren 
Verbreitung im Wege ftehen. Leider feheinen allerdings 
unfere Theologen mit ben mageren Handbüchern und 
ber alten aufgewärmten fof mehr zufrieden zu fein 
als mit dem was weniger Unterhaltung bietet, aber ein 
ernſtes Studium erheiſcht und einen wirklichen Gewinn 
verfpricht. 

Die Theologie war von jeher vortoiegenb apolo- 
getiſch und muß bie8 heutzutage, wo e8 ben Kampf 
zwiſchen Glauben und Unglauben gilt, ganz befonders 
fein. Ich werde daher mit ber Apologetif be 
ginnen und fie aud) vorwiegend berüdfichtigen, teil fie 
in ber franzöfifhen Theologie die größte Rolle fpielt. 
Die Apologetif richtet fid) aber gegen die Angriffe von 
Seiten der Naturwiſſenſchaften, der Philofophie und ber 
Kritit ber h. Schriften. Ich habe ſchon bei vielen Ge- 
legenfeiten auf die Wichtigkeit des erften Punktes Din- 
gemiejen und Tann zu meiner Freude bemerken, ba 


Die franzöſiſche Theologie bet Gegenwart. 87 


gerade biefe Seite der Apologetif in ber franzöftichen 
Theologie der Gegenwart jer gut vertreten if. Man 
erkennt ſowohl in bem eingehenden Auffägen als in den 
zahlreichen Schriften, daß bie frangbfilden Theologen 
bie Naturwifienihaften mit großem Eifer und gutem 
Erfolg ftudiren, um die Gegner auf ihrem eigenen Boden 
befämpfen zu Tönnen. Wenn man freilich fid) pergegen- 
märtigt, melden Umfang bie naturwiſſenſchaftlichen Stu- 
dien in Frankreich gewonnen haben und welchen Einfluß 
fie heute auf die gebildeten Klafjen ausüben, fo wird 
man e8 begreiflich und notbmenbig finden, daß auf biele 
Weife der eigene Heerb vertheidigt wird. Cuvier's Ans 
fehen hatte bie franzöfifchen Gelehrten lange gegen den 
Dorwinismus gefhügt, aber heute Tann dies bod wur 
noch febr bedingt gefagt werden. 

Unter den Apologeten auf naturwiſſenſchaftlichem 
Gebiete wäre vor allem der Abbe Moigno, früher Mit: 
glieb be8 Jefuitenordens, jet Domherr zu St. Denis, 
zu nennen. Cr bat fein ganzes langes Leben diefem 
Studium gewidmet, eine Reihe rein wiſſenſchaftlicher 
Werke über bie Naturwiſſenſchaften herausgegeben, feit 
drei Jahrzehnten die ſelbſt gegründete naturmifjenidjaft- 
lide Zeitichrift Kosmos, nachher Les Mondes, beforgt 
und zulegt bie reifen Früchte feiner Studien in einem 
vierbändigen Werke zufammengefaßt, welches eine ber 
bebeutembften Leiftungen der fatfolijdjen Theologie auf 
biejem Gebiete ift). Jene Zeitichrift fällt aber theil- 





1) Les Splendeurs de la Foi, accord parfait de la révé- 
lation et de la science, de la foi et de la raison. IL éd. 
Paris 1881. Der joeben auögegebene 5. Band ift;mit noch nicht 
qugetommen, 


88 Sqhanz, 


weiſe außerhalb des Rahmens dieſes Artikels, weil ſie 
vorwiegend naturwiſſenſchaftlich gehalten iſt, dieſes Werk 
aber habe ich bereits an einem anderen Orte einer 
Beſprechung unterzogen ). (δ. wird daher genügen, 
wenn id) bier den Standpunkt be8 SBerfafjer8 batlege. 
Er behauptet, daß bie b. Schriftiteller die Refultate 
der modernen Naturwiſſenſchaften anticipirt haben, in 
Folge ber Infpiration den Kenntniffen ihrer Zeitgenofien 
weit vorangeeilt feiem. Moſes hatte in ben Natur- 
wiſſenſchaften eine ebenfo tiefe Einficht als unfer Jahr⸗ 
hundert. Ueberhaupt bemüht er fid den auffallend 
hohen Stand bet älteften Bildung nachzuweiſen. Re 
ſtringirt er aud) öfters feine Ausfprüde, fo fommt er 
doch immer wieder auf die Behauptung zurüd, daß 
überall eine höhere Offenbarung vorliege, welche bie 
neuefte Wiſſenſchaft anticipirte. Ich founte den Stand» 
punkt (τοῦ aller Gelehrſamkeit feines Vertreters nicht 
acceptirem, ja nicht einmal dem apologetifhen Intereſſe 
befonders förderlich eradjten. Die Schrift ift aljo mehr 
durch ihren reihen unb mannigfahen Inhalt als durch 
ihr Princip und ihre Methode von Bedeutung. Streifen 
auch einzelne andere franzöſiſche Gelehrte nod) an diefe 
Theſe der alten Schule an, fo find fie jebenfallà weit 
vorſichtiger und zurückhaltender. 

Ein Antipode iſt Lenormant, ein gelehrter Mit- 
arbeiter des Bull. er., der durch feine bedeutenden 
Werke?) und kühne Hypotheſen Fein geringes Auffehen 


1) Die neuefte Apologetit und bie Naturiviffenfhaft. Liter. 
Rundſchau 1881 9. 16. 17. 

2) Cf. Les Origines de l'histoire, d'apres la Bible et les 
traditiones des peuples orientaux. II. éd. Paris 1880. 


Die franzöfifcde Theologie bet Gegenwart. 89 


in der franzöfifchen Gelehrtenmwelt gemadjt hat. Er hat 
nicht nur bie elohiftifchzjehoviftiihe Hypotheſe aufge 
nommen, jondern aud) ben Inhalt ber erftem Kapitel 
der Genefis als vein menſchliche Weberlieferung betrachtet, 
bie poetijd) und mythiſch ihre Stoffe geftaltete. Er 
leugnet zwar bie Infpiration bes Berichtes nicht, bes 
ſchränkt fie aber auf bie rein dogmatifchen und mota- 
liſchen Lehren. Als folde erfennt er an bie Schöpfung 
burd) einen perfönlihen Gott, bie Abftammung ber 
SRenjden von einem Paar und den Verfall in Folge 
der Sünde der erften Menfchen. In allem Webrigen 
bat die Theologie, deren Gebiet von bem ber Natur 
wiſſenſchaft durchaus getrennt ift, das 9tedjt der wiſſen⸗ 
ſchaftlichen Forſchung anzuerkennen. Damit ſcheint aud) 
Trochon übereinzuftimmen, wenn er gegen 3Bigourour 
bemerkt ?), e8 babe ſchon fo viele Verſuche zur Aus- 
gleidjung gegeben, ganz ernfte oder vielmehr gründlich 
fubierte, daß man fid vor biejer Tendenz in Acht 
nehmen müffe. „Der Bericht des Moſes wird mit allen 
Entdedungen und allen wiſienſchaftlichen Syftemen, toelde 
nod) fommen mögen, in Webereinftimmung fein. Es gibt 
dafür einen einfachen Grund, dies ift ber poetijde und 
in Folge davon febr vage Charakter des Berichtes. Man 
muß beweifen, daß ihm feine Wiſſenſchaft miber[predjen 
wird, man bat aber Unrecht, ben Beweis zu perjudjen, 
daß er mit biefer Wiſſenſchaft in Uebereinftimmung 
ftebt." Diefes Journal ſcheint überhaupt die Hypotheſe 
feines gelehrten Mitarbeiters mehr und mehr zu ber 
jeinigen zu maden. Duchesne hat in bemjelben ?) als⸗ 
1) Cf. Bull. cr. I, 8 p. 148. 
2) B. cr. II, 6, 119. 


90 Son, 


bald bie Hypotheſe Elifford’3 zur Anzeige gebracht und 
zwar ausdrücklich feine entjdjiebene Stellung dazu ge- 
nommen, aber bod) beigefügt, daß, wenn man aud) über 
die Frage nad) den Beziehungen zur ägyptiſchen Mytho— 
logie nod) getheilter Anficht fein könne, bod) bie Ver— 
werfung der Tageöperioden gerechtfertigt fei. Diele 
Hppothefe werde fid) zwar nod) lange in ben Hand: 
büchern fort[djleppen, habe aber bereits viel an Grebit 
verloren; ber midtigfte Punkt [εἰ vielmehr bie Zurüd- 
meifung des Biftoriihen Charakter? im 1. Kapitel ber 
Genefi3. Denn bis jet feien alle nichtrationaliſtiſchen 
Eregeten anderer Anficht gewejen. Die neue Haltung 
des gelehrten Biſchofs beweife, daß nad) feiner Anficht 
diefe Tradition, fo einftimmig, fo impofant fie fein möge, 
nicht entjdjeibenb fei. Ein anderer Mitarbeiter, Lescöur, 
bemerkt?) allerdings mit Recht, daß Guvier unb Wife- 
man in diefen Fragen nicht mehr Führer fein können 
und Clifford den Verſuch, den Mofes zu einem Geologen 
zu machen, ber er im Widerfpruch mit allen Analogien 
nur burd) bie Inipiration fein fónnte, mit Grund zurück- 
weile. Auf die Väter Tann man fid) meber biegegen 
nod) gegen andere Hypothejen berufen ?), denn diefelben 
fehen im der That mit Ausnahme be8 Schöpfungds 
dogmas hierin febr verſchiedene Dinge. Sie find zwar 
größtentheils, namentlich die fpäteren Griechen, der Anz 
fidt, daß e8 möglich fei, dieſer ehrwürdigen Seite eine 
mit ben Refultaten der Wiſſenſchaften übereinftimmenbe 
Erklärung zu geben, aber bei ihren mangelhaften Natur: 


DI, 14, 274. 
2) Duchesne B. cr. II, 18, 351 nad; Vigouroux, La Cos- 
mogonie d'aprbs les Peres de l'église, Paris 1882, 





Die franzöfiiche Theologie ber Gegentvart. 91 


Tenntnifjen Tonnten ihre Erklärungen weder überein- 
ſtimmend noch genügend fein. 

Diefe mit viel Verftändniß und Geſchick vertheibigte 
Hypothefe muß in Frankreich ziemlich feften Boden ge- 
faßt haben, denn ein Gegner derjelben gefteht ihr, viel- 
leicht mit einiger Webertreibung, einen großen Einfluß zu. 
„Die Meinung be8 H. Lenormant ift nicht eine rein 
theoretiſche Speculation, fie ftrebt in bie Praris über- 
zugehen und bat [don im Unterricht einen verberblichen 
Einfluß ausgeübt. Unter bem Vorwand, baf die Kirche 
nichts entjdjieben habe über die Ausdehnung ber In— 
ipitation, hat man fid) für berechtigt gehalten zur Be- 
hauptung, daß bie göttliche Infpiration fehr verſchiedene 
Grade in den verfchiedenen Theilen der Bibel babe; 
daß fie direct nur das garantire, was von entſcheidender 
Bedeutung für den Geift unb bas Herz des Menſchen 
ift, b. b. das Dogma und die Moral. Und man hat 
biefe Anfiht in Büchern bruden laffen, melde für Volks⸗ 
ſchulen beftimmt find“ ἢ. Ja aud) auf ber Kanzel habe 
fif der Einfluß ber neuen Lehre geltend gemacht. Es 
fei zu befürchten, daß bieje Theorien, deren Parteigänger 
bis jegt nur die Rationaliften geweſen feien, fi in ber 
Kiche zum Schaden ber h. Lehre verbreiten. Caveant 
consules! Aud ber Univers fürchtet foldhe Gonje- 
quemgen?). Aber beide gehen in ihrer Oppofition zu 
weit und fónnen borum feinen Erfolg haben. Die 
ſchwarzſeheriſche Conſequenzmacherei hat mod) mie viel 


1) L'abbé Rambonillet, Revoe cath. T. XII N. 72, 1881 
P. 708. Zum Beiseife citirt er: Histoire sainte des écoles pri- 
maires, p. M. l'abbé Bernard, p. 204. 

2) L. c. p. 701. 


92 Scan, 


gewirkt. Man muß beim vorliegenden Fall ftehen blei- 
ben und das Anfehen der D. Schrift unb das Recht der 
Wiſſenſchaft gleihmäßig im Auge behalten. 

Gemäßigter, wenn aud) ebenfo entſchieden gegen 
Clifford ift das Inſtitutsmitglied Martin ?), welcher bie 
Tagesperioden vertfeibigt und bie Woche um fo mehr 
fefthält, als biefe[be einen rein jüdiſchen Urfprung habe. 
Dem erften Kapitel einen literarifhen Charakter bei 
legen, heiße fo viel als eim vollftändiges Dementi geben 
den heidniſchen und chriſtlichen Schriftftelleen, der mo 
dernen Kritik, der ganzen Tradition ber Kirche und ber 
offenbaren Intention des Autors felbfl. Die wiſſen— 
ſchaftlichen Vortheile ſeien gleich Null, bie religiöfen 
Nachtheile febr ſchwer, denn man nehme bem erften 
Kapitel ber Genefi8 feinen natürlichen Charakter und 
entmuthige bie Verſuche, melde mehr und mehr glüd: 
lid) feien, und bie ſchönen Arbeiten derjenigen, welche 
Bibel und Wiſſenſchaft vereinigen wollen. 

Die Eontroverfe bejdbüftigt fid) oft mit diefer Frage. 
Sie gibt zunächft eine Ueberfiht?) über bie Hypotheſe 
Elifford’3, welcher, indem er durchaus ben Eifer ber 
katholiſchen Apologeten Lobe, fie bod) nicht ohne Grund 
table, daß fie hinſichtlich des biblifhen Schöpfungs- 
berihtes einen falſchen Weg eingefchlagen haben. Durch 
Adoptirung ber verfchiedenen Tagestheorien ber Gelehrten, 
welche fie bald wieder aufgeben mußten, habe bie gute 
Cade gelitten. Denn die Gegner der Infpiration haben 


1) Annales de philosophie chrétienne. Janv. 1882. Es 
ftehen mir leider von biefer im 53. Jahrgang, bet Neuen Folge 2., 
ftehenden Zeitſchrift nur einzelne Hefte und Notizen zu Gebot. 

2) 11, 20, 238 ἢ. 


Die franzöſiſche Theologie der Gegenwart. 93 


nicht verfehlt, ironijd) bieje bedauerliche Erfheinung von 
Beränderlichteit hervorzuheben. Zum Schluß wird nod) 
bemerkt: „es jdjeint außerdem, daß diefes Cpftem ben 
Bortheil hat, mehrere ernfte Schwierigkeiten, welche bie 
übrigen Theorien bieten, zu befeitigen, beſonders meil 
es unà zur Vertheidigung ber Genefis auf ein durchaus 
neutrale3 und von ben menſchlichen Wiſſenſchaften un- 
abhängiges Terrain ftellt. Die Arbeit be8 ehrwürdigen 
Autor beanjprud)t daher bie 9lufmerfjamfeit der θέρος 
logeten." Indeß ſcheint diefer erfte Eindrud nicht lange 
angehalten zu haben, denn bald nachher teftringirt 
Hamard 1) bieje8 „unter allen Referven über ba8 neue 
und Fühne, burd) den ehrwürdigen Autor vorgetragene 
Syſtem“ ausgeſprochene Urtheil bedeutend. Dasfelbe 
hatte bereit3 SSeranlafjung zu einem ftarfen Disput im 
Tablet gegeben und in ben Annalen ber dxiftfiden 
Philoſophie in extenso Aufnahme gefunden (Nov. 1881). 
Hamard vermwirft bie Einwände gegen bie Tagesperioden 
und findet unter Annahme biejer eine [olde Ueberein- 
fimmung mit den Refultaten ber Wiſſenſchaft, wie man 
fie überhaupt in einem fo fury gehaltenen Bericht er: 
warten fónne. „In Summa, bie Gründe, melde 9. 
Gliforb gegen die bis jet einftimmig angenommene 
Anficht beibringt, melde im erften Kapitel der Genefis 
den hiſtoriſchen Bericht — unter der Form des 
Hymnus (?) oder des poetifchen (6) Gejanges ift gleich- 
giltig — der Weltfhöpfung fiebt, halten feine ernſte 
Prüfung aus. Wir glauben deshalb fug die Waffen 
iu bewahren, meldje wir bis jegt zur Vertheidigung ber 


1) II, 28, 751 ἢ. 


94 Schanz. 


h. Bücher benutzt haben. Die, welche man uns dafür 
austauſchen will, ſcheinen uns zu ſchwach zu fein; am- 
bere werden, vielleicht mit Grund, fagen, daß fie ge- 
fährlich feien". 

Auch gegen eine unterbefjen in ber Dubliner Review 
(October) erſchienene Vertheidigung des H. Clifford führt 
Hamard wieder feinen Hauptgrund ins Feld, bie trabi- 
tionelle Anfiht vom biftoriihen Charakter des erften 
Kapitels der Genefis. Den Einwand aus bem gali- 
leifhen Prozeß gegen bie Berufung auf bie Cregeje 
ber Väter will er nicht gelten laſſen, weil e8 fid) hier 
in der That um eine Frage des Glaubens handle, da 
bie Weltihöpfung ein Artikel des Glaubens ſei. „Con⸗ 
fequenterweife if e8 wenigſtens gefährlich, in ber Er- 
Härung be8 erften Kapitels ber Genefis fij) von ber 
einftimmigen unb conftanten Anfiht ber Tradition zu 
entfernen“. Ganz am Schluß desſelben Heftes befindet 
fij aud) eine Beiprehung über das meuefte Opus 
Schäfer's 1), melde mit den Worten beginnt: „Der 
Verfaſſer wird mehr als einen katholiſchen Leſer burg) 
die Künheit feiner Exegeſe in Crftaunen jegen". Man 
brauche den 5. Schriftftellern allerdings feine ihre Zeit: 
genofjen überragende menſchliche Kenntniſſe beizulegen, 
aber man müfje aus ihren Schriften alle wiſſenſchaft⸗ 
lichen Jerthümer, bie zu jener Gregefe allgemein auf: 
genommen waren, außfchließen. „Was immer ba8 Ob: 
ject fein möge, Dogma, Moral, Gejdjidjte, 3taturtviffen: 
haften, fie find wahr in allen Punkten“. 

Cnblidj fonmt bie geitijrift anläßlich einer Ber: 

1) 8. Schäfer, Bibel unb SBiffenjjaft. Münfter 1881. Sl. 
diefe Zeitſchr. 1882 ©. 828 ff. 


Die franzöfiiche Theologie ber Gegenwart. 95 


theidigung Clifford’3 gegen Martin) mod) einmal auf 
bie Sache zurüd?). Die SBertbeibigung Glifforb'8 habe 
ben erften Eindrud nicht verwifchen fónnen. Die Väter 
feien zwar in der Gregefe ber Genefis nicht einig ge- 
weſen, aber e8 [εἰ untichtig, daß ein beträchtlicher Theil 
den Biftorijdjen Sinn be8 Moſaiſchen Schöpfungsberichtes 
geleugnet Habe. Allegoriſch [εἰ noch nicht unbiftorijd. 
Der Hauptgrund [εἰ aber der, daß man fid) nit ohne 
zwingenden Grund von ber wörtlichen Gregeje entfernen 
dürfe. Auch Abbe Motais habe fid) in einem bemerkens⸗ 
werthen Buch?) hierüber ausgeſprochen. Er gehe nicht 
mit Bofizio, defien wörtliche Auffaffung den geologischen 
Thatſachen durchaus toiber|predye, fondern nehme Tages⸗ 
perioden an, durch welche überall Webereinftimmung her- 
geftelt werde, ohne daß behauptet werden wollte, daß 
Gott dem Mofes eine fenntniB der geologijchen Wiffen- 
ihaft infpirirt habe. Gott habe ibm fo viel von ber 
Schöpfung wiſſen laſſen als für den religiöfen Zweck 
nöthig gemwefen fei. 

Damit iff wohl zu vergleihen was er jdjom an 
einem andern Ort gefagt hatte‘). Der frenge Euvier’- 
ide Artbegriff [εἰ zu mobificiren, innerhalb gemifler 
Grenzen eine Entwidlung zuzugeben und für bie ein 
zelnen Schöpfungstage nur die Bezeichnung ber Haupt: 
Saraktere feftzuhalten, fo daß fid) die Werke an den 
folgenden Tagen fortjegten. So aufgefaßt fei bie Weber- 

1) Annales de phil. chr. Avril 1882. 

2) III, 36, 492 jf. 

3) Moise, la science et l'exégése, examen critique du 
nouveau systeme d'interprétation proposé sur l'hexaméron 
par Mgr. Clifton (?). Paris 1882. 

4) L, 2, 88 ff. 


96 Schanz. 


ſicht des Moſes ganz richtig. Dies iſt allerdings das 
Minimum, welches auch bei uns die Concordiſten der 
Geologie concediren. Hamard ſieht ſich aber veranlaßt 
in einer Anmerkung beizufügen, daß dieſes weniger ſeine 
eigene als die Anſicht einzelner Apologeten ſei. Er 
wife, daß dieſelbe von frommen und gelehrten Eregeten 
als verwegen erfunden worden ſei. Zum Glück ſei 
dieſelbe nicht nothwendig. 

Auffallenderweiſe ſind wir bis jetzt nirgends (Mar⸗ 
tin zum Theil ausgenommen) einem ernſtlichen Verſuch 
begegnet, bie ägyptiſche Baſis ber Clifford'ſchen Hypo— 
theſe näher zu prüfen. Dies geſchieht aber von Fo— 
ville"), ber einerſeits den größten Theil des Inhalts 
auf natürliche Duellen zurüdführt, andererfeit3 Bedenken 
trägt, bie Sechszahl aus Aegypten abzuleiten. Im 
Uebrigen macht er aber H. Clifford viele Zugeftändniffe. 
Noch genauer und mehr negativ geht ein anderer Franzos 
auf diefen Punkt ein®). Er fagt, das erfte Kapitel der 
Genefis [εἰ weder rythmiſch gehalten noch gegen aber- 
gläubifhe Gebräuche der 9legppter geridjtet. Der Be 
weis für bie erfte Behauptung ergibt fid) aus einer 
Unterſuchung be8 Tertes, ber Nachweis für die andere 
aus ber Thatſache, daß den Negyptern die Woche un: 
befannt war, ihre Tage nicht nad) ben Planeten genannt 
murden, die Monate noch feine Namen hatten. Die 
Hypotheſe bebürfe aljo nod) weiterer Beweiſe. Uebri— 


1) Los Jours de la Semaine et les oeuvres de la création. 
Extrait de la Revue des Questions scientifiques, Janv. 1882. 
Bruxelles. 388. meine Angeige in ber iter. Rundſchau 1882 Nr. 6. 

2) E. Amelineau, Le premier chapitre de la Genbee. 
Les Lettres chr. t. IV N. 3 (1882) p. 398—415. 


Die franzöfifche Theologie der Gegenwart. 97 


gens [εἰ nod) beizufügen, daß eine ganz ähnliche [don 
im 17. Jahrhundert von Abbs Collier aufgeftelt wor- 
den fei ?). 

Demgemäß find bei ben Apologeten aud) alle Rich 
tungen vertreten. Nur ift die Beſchränkung auf 6 wirk— 
liche Tage und bie Zurücdführung aller foffilienhaltigen 
Schichten auf die Sintflut ausgefchloffen. Auf welcher 
Seite die Mehrzahl fteht läßt fid) aus bem Borher- 
gehenden fließen. Doch ftellt fid) das Zahlenverhältniß 
jedenfalls nicht wie bei ung. Bon ben neueren beut- 
ſchen Apologeten will ἰῷ für beide Qauptridtungen nur 
je einen nennen. Den Jdealismus vertritt Schäfer; den 
hiſtoriſchen Charakter Geijenberger?). Segterer macht 
im SBejentliden diefelben Gründe, mie bie franzöſiſchen 
Theologen gegen bem Idealismus geltend. Es fei zu 
befürdten, daß dadurch das Bibelwort an feinem An- 
ſehen und feiner Geltung geſchädigt werben möchte, 
Auch feine ein Abgehen von bet ἔτ ὦ) exegetiichen 
Tradition bedenklich. In ber Kirche [εἰ ber erfte Bibel- 
abſchnitt ftets Diftorijd) angefehen und erklärt worden. 
Der b. Auguftinus habe feine frühere allegorijde Auf- 
fafjung zurüdgenommen. Für legtere Behauptung er- 
wartet aber, wer bie prinzipielle Stellung be8 b. Au: 
guftinus in biejer Frage fennt?), etwas mehr al8 einen 
Verweis auf ben Genefiscommentar von Pererius. Die 





1) Mémoires de l’Acad. des Inscr. t. 1V p. 47. 48. 

2) Der bibuſche Schöpfungsbericht (Gen. 1, 1—2, 8), 2. 9. 
Freifing 1882. 

8) Bgl. meinen Auffag: Ter h. Auguftinus und die Genefis. 
Rat. unb Df. 1877 €. 668—688 und: Der h. Thomas unb bad 
Heraemeron. Theol. Quart. S. 1878 €. 8—22. 


Se. Onartalfgrift. 1888. Heft 1. 7 


98 Schanz, 


Berufung auf bie Väter if für beide Richtungen glei 
bedenllich, wie felbft Moigno (IV, 41) gugibt. Auch 
die Warnung vor ben Gonfequengen verliert ihre Wir- 
tung, wenn man fid) erinnert, daß bie Antigalileiften 
gerade jo gerufen haben. Nichts beftomeniger gebe ich 
die Schwierigkeiten der neueſten Hypotheſe zu, obne 
aber den ftreng biftorifhen Charakter gelten zu laſſen. 

Die Lehre von ber Infpiration fdeint mir fein 
abfolutes Hinderniß zu fein, wenn man anders bie 
Decrete von Trient und dem Vaticanım nicht nad) bem 
Buchftaben pret, wie e8 παπιε ὦ bie Dogmatifer 
gern thun. Dies ift aud) zum Theil bei denjenigen 
franzöſiſchen Gelehrten ber Fall, welche gegen Lenormant 
und Clifford auftreten ?). Es ift zwar bedenklich, eine 
partielle Infpiration anzunehmen und in weltlichen 
Dingen Irrthümer zuzugeben. Auch iſt es richtig, daß 
man fid hiefür nicht wohl auf bie Väter berufen Tann. 
Denn felbft ber 5. Auguftinus Dat bie Möglichfeit eines 
Irrthums ausgefhloffen. Aber man Tann beides an- 
nehmen, ohne das Dogma zu alteriven. Die 5. Schrift- 
ſteller mußten fid) nad) der Faffungsfraft und den Bor- 
ſtellungen ihrer Zeitgenoſſen ausbrüden, wenn fie ver- 
fanden fein wollten. Dadurch ift die Anerkennung ge- 
wiſſer falſcher mwiffenichaftlider Meinungen ebenfotoenig 
ausgeſprochen als im Judasbrief bie der Apokryphen 
durch Citirung einzelner Stellen aus benjefben. Deßhalb 
ift Sade und Form wohl zu unterfcheiden. Wenn z. 58. 
nicht bloß Drigenes, fondern aud Ambrofus u. 4. 


1) Rambouillet, Rev. cath. 1. c. p. 689 ἢ, Lamy, La 
Controverse III, 33, 288 ἢ. 


Die franzöſiſche Theologie ber Gegenwart. 99 


gerabezu bie hiſtoriſche Auffaffung einzelner Erzählungen in 
dee 8. Schrift für unmöglich erklären und zur Allegorie 
ire Zuflucht nehmen), menu alles mas fij in der 
h. Schrift auf das Weltſyſtem bezieht, ptolemäiſch lautet, 
fo ift Dinfünglid) bewiefen, daß eine Accommodation an 
irrige Vorftellungen mod) nit gegen bie Infpiration 
der Ὁ. Schrift verftößt. Dabei laſſe ἰῷ es babingeftellt, 
ob bie Schriftfteller perjónlid) biefe Irrthümer theilten 
ober nicht, trage aber feinem Anftand, die Bejahung für 
wahrſcheinlicher zu erklären. Dem Sate: „alfo ift Gott 
bet Urheber ber D. Bücher, bie Menſchen thun nichts 
als bie Feder halten unter der Führung des b. Geiftes“ *) 
begegnen wir aud) anderwärts, mir können uns aber 
von ber Richtigkeit des zweiten Theiles ebenfowenig 
überzeugen als von ber Beweisbarkeit der Acta con- 
ailii (Theiner) für in omnibus partibus. Ich kann aud) 
bie Richtigkeit des Dilemmas: entweder ift das erfte 
Kapitel der Genefis geoffenbart und dann ijt e8 Dijto- 
riſch, oder e8 ift nicht Diftorij und nicht geoffenbart ®) 
nicht ohne Weiteres zugeben. Denn e8 gibt in ber That 
ein Mittleres, das [don concebirt ift, wenn gejagt wird, 
e$ könne Diftorijd) fein ohne daß e8 bem Verf. birect 
geoffenbart wurde. Dagegen füge id) bier gerne nod) 
bie Notiz bei, daß bie große Mehrzahl ber franzöfiſchen 
Theologen hierin ber MWiffenfchaft einen großen Spiel 
raum läßt. Welche Theorie man annehmen möge, man 
verlaſſe damit bie Orthodorie nit, denn man zweifle 


1) 3861. Die Probleme der Einleitung bei den Vätern. Theol. 
Dunt. ©. 1879 ©. 63 fi, 73 ff. 
3) La Contr. 1. c. p. 291. 
3) Lettres chr. 1. c. p. 404, 
7* 


100 Schanz, 


wicht an bem Antrieb und Beiftand Gottes für Mofes. 
„Die Kirche hat niemals bi8 auf diefen Tag beftimmt, 
daß diefer oder jener Theil der Bibel direct geoffenbart 
fei, und wenn der Autor die Thatſachen auf natürlichem 
Wege Tennt, bedarf εδ einer birecten Offenbarung nicht, 
fondern nur des einfachen Beiftandes. Alfo bleibt jelbft 
bei der Theorie Glifforb'8 bie Infpiration intact“ !). 
Die Lenormant'ſche Hypotheſe führt und aber freis 
lid) bedeutend weiter, weil fie nicht wie bie Glifforb'[de 
vor bem zweiten Kapitel Halt madt. Wir gerathen 
damit in ein Gebiet, welches heutzutage zwiſchen Dog- 
matik und Naturgefchichte heftig beftritten wird, zu ber 
febre vom Urftand. Auch hierüber habe id) mid) 
anderwärts bereit3 außgefprochen ?), es dürfte aber von 
Intereſſe fein, auf die zahlreihen und gründlichen fran- 
abfifden Arbeiten hierüber binzumeifen. Denn in biefer 
Stage kommt der große Gegenfag zwiſchen bem Natür- 
lichen und tlebernatürliden am ſtärkſten zum Ausdruck. 
Bor allem find bie ſchönen Auffäge über bie prähifto- 
riſche Arhäologie und die Bibel zu erwähnen®). Ha— 
matb befämpft mit Glüd ben Tertiärmenfchen des Abbe 
Bourgeois (1863), beweist, daß ber Menſch quaternär 
und das fpäteft aufgetretene lebende Weſen ift. Inter: 
efjant ift befonders aud) die Ausführung über bie be— 
hauptete urfprünglide Wildheit ber erften Menſchen⸗ 


1) Lettres chr. 1, c. p. 405. 

2) Die tirgejdjidite der Menſchheit und bie Bibel, Liter. Rund» 
ſchau. 1882 9. 2. 

3) Hamard, La Contr. I, 1. 2. 4. 6. 7. 8. La civilisation 
prébistorique ibid. II, 19. III, 39. cf. Revue des Questions 
scientifiques 1879. 


Die franzöfiiche Theologie der Gegenwart. 101 


generationen. Er beipriht bie einzelnen Gegner ber 
Keihe nad) (Gartaijac, Broca, Hädel, Vogt, Schaaff: 
haufen u. 9L) und fommt zu bem Refultat: „Der Menſch 
ber erften Zeiten ftand nicht merklich niedriger al8 bet 
gegenwärtige Menſch.“ „ES widerſtrebt und nicht, gus 
zugeben, baf ber erfte Menſch die Fortſchritte ber zeit» 
genöſſiſchen Indufttie und die Errungenſchaften der 
materiellen Civiliſation nicht fannte. Von biefem Ges 
fihtspunfte aus war er ein Barbar troß bet fider δὲς 
trüdjtlidjen Summe moraliſcher Kenntniffe und boctrineller 
Wahrheiten, welche ibm vom Schöpfer gegeben murbe. 
Aber wenn er barbariſch war, [o bod) keineswegs mild. 
Denn fonft wäre er nicht aus feinem finbbeit3guftanb 
Berausgefommen. Niemals hat man, nad) dem Geftünb- 
niß be8 H. Renan, eine wilde Benölferung fid ſelbſt 
civiliſiren feben" 1). 

Dasfelbe Thema wird mit Bezug auf einen εἶπε 
zelnen, den Hauptpunft, in eingehender Weife von Hate 
behandelt ?). Da er gleichfalls bie Gegner einzeln vor: 
nimmt (Broca, Perier, Hädel), fo fonnte e8 freilid) an 
wörtlichen Webereinftimmungen in längeren Citaten nicht 
fehlen. Für uns genügt e8 hervorzuheben, daß bie bes 
Tümpfte Anficht zufolge ber einleitenden Bemerkungen 
in Frankreich einen ausgedehnten Boden erobert bat. 
Denn wird aud) dad Dictum von den zwei Frankreich 
auf ba8 allgemeine von den zwei Menfchheiten ausge: 
dehnt, fo werden bod) vor allem franzoſiſche Zuftände 
ins Auge gefaßt. Hats ift gegen jebe Conceffion und 

1) L. c. 8 p. 841. 


2) L'homme-singe et nos savante. La Contr. II, 10. 11. 
12, 18, 14. 15. 


102 Shan 


hält ben bibliſchen Bericht fiber die Erihaffung des erften 
Menſchenpaares im firengeu Wortfiun aufreht. Denn 
es liege Fein wiſſenſchaftliches Datum vor, weldes uns 
zwaänge, benfelben meniger wörtlich zu nehmen. Der 
Transformismus fei nidjt8 al8 eine Hypotheſe und der 
Darmwinismus eine Gonjectur. In mod) flärkerem Tone 
brüdt ſich Belon in einem leſenswerthen Auffag aus ?). 
Weſentlich anders dagegen lautet ba8 Urtheil in einer 
für die Frauen gefdyriebenen Schrift”). Bei aller δε: 
haltung bes theiftiihen Standpunftes fagt Biart bod) in 
der Einleitung: „Dem Menſchen, einmal erſchienen, 
werben wir in feinem zur Givilifation vorwärts fehreis 
tenden Gange folgen. Wir werden fehen, wie er fij 
ſchnell vom Thier [deibet, feine Organe vervollfommnet, 
und exbíió mit der Hilfe von Jahrhunderten biefer 
brauchbare Arbeiter wird, biejet gelehrte Weile, biefer 
geiftreihe Künftler, melde unbeftteitbar aus ihm das 
Meifterwert Gottes machen“. Der Stecenjent, dem wir 
diefe Worte entlehnen®), verwahrt fid) gegen biefelben, 
glaubt aber nicht, daß fie fireng zu nehmen feien, weil 
der Verf. fonft feinen Standpunkt hinlänglich fenugeidje. 
„Nach diefem werben wir, wenn Q. Biart die τερεῖς 
mäßige und allgemeine Aufeinanderfolge be8 Stein- 
Bronces und Eifenalters als unbeftritten barftellt, wenn 
er aud) vieleicht die Wilbheit der erften Senjden und 
ijr Alter übertreibt, ihm femen Vorwurf machen 


1) L'origine du premier homme et l'enseignement catho- 
lique. Conférence faite aux facultés catholiques de Lyon, 
le 17. mars 1882. La Contr. III, 35. 

9) L'homme et son berceau, p. Lucien Biart. Paris 1882. 

9) Lesoosur, Boll. or. III, 5 p. 91. 


Die franzöfiiche Theologie ber Glegentvaxt. 103 


über biefe Punkte, welche noch fo lange Beit ſehr vielen 
Eontroverfen Raum geben werden.” 

Beim zweiten Theil der Apologetif, der Philo- 
fophie, Kann ἰῷ mid) ziemlich fürger faffew. Denn 
idt bloß bat bieje Wiſſenſchaft ber Wiſſenſchaften aud) 
jenfeit8 des Rheins ihren Reiz verloren, fondern fie ift 
wie überall auf eine enge Verbindung mit den Statut: 
wiſſenſchaften angemwiefen. Ih folge aljo mit bloß 
einer perſönlichen Neigung, beziehungsmweife Abneigung, 
fombern befinde mid im Einklang mit der mir vot. 
liegenden Literatur. Es Klingt faft melanholiih, wenn 
ein mit X unterzeichneter Recenfent *) nad) einer aus: 
führligen Beſprechung eines Werkes über bem Ariſto⸗ 
telismus in der Scholaftif ?) zu bem Concluſum kommt: 
„Heutzutage weht der Wind wit für bie philoſophiſchen 
Studien; er twebte ftärfer von diefer Seite in bet erſten 
Hälfte des Jahrhunderts. Man hat megen ber Ohne 
macht, etwas aufzubauen, in den Anftvengungen nachge⸗ 
lafem. Doch ob man e8 molle oder nicht, das Schidjal 
der Philophie kann nicht untergehen, denn bieje Wiflen- 
haft bat bie Wache über bie bebeutenbftew Probleme 
des Lebens. Was [oll man alfo tbun? Zum idola. 
ſtiſchen Gebanfen zurückkehren? Ja, anttoortet H. Talamo, 
und nicht um auf ibm auszuruhen, jondern um ihn zu 
verjüngen, zu bereichern mit allen. Errungenschaften des 
modernen Wiſſens“. Valſon, Dekan ber Tatholifchen 
Facultät in Lyon, beginnt einen Artikel über bew Ma- 


1) Bull, er. II, 24 p. 468. 

2) L'Aristotelismo della Scolastica nella storia della filo- 
sofia, Studii critici del prof. Talamo. III. ed. Siena 1881. 
Bol. Liter. Rundihau 1882 N. 16. 


104 Shen, 


terialismus in ben Wiſſenſchaften (Naturwiſſenſchaften) 
mit den Worten: „ES ift immer fehr miflid) für einen 
Gelehrten, das philoſophiſche Element aus feinen Unter 
fudungen ſyſtematiſch auszuſchließen; aber e8 gibt nod) 
einen Zuftand, der ſchlimmer ift, als feine Philofophie 
zu haben, b. i. eine ſchlechte zu haben“ ?). Ich begreife 
diefen Beffimismus, begreife aber ebenfo, daß die fran- 
zoſiſchen Theologen trogdem fo viel gegen bie Philofophie 
zu Yämpfen haben. Es gibt eben weit mehr ſchlechte 
Philoſophien al8 gute und heutzutage Tann man, von 
ben auf enge theologifche Kreife beſchränkten ſcholaſtiſchen 
Reftaurationdverfuchen abgefehen, nur nod von einer 
bedeutenden Philofophie ſprechen. Es ift biejenige, 
toeldje fid) mit den realiftifhen Naturwiſſenſchaften eng 
verbunden hat, bie Evolutionstheorien mehr oder weniger 
als Borausfegung betrachtet und in Frankreih und 
England unter bem getoinnenben Namen des Pofitivis- 
mus bie gelehrte Welt beherricht. Der Materialismus, 
welchen Balfon als eine „furchtbare und vetberblidje 
Macht” bezeichnet, ift die Conſequenz des Poſitivismus 
für bie bem Gelehrtenanftand mihachtenden Halbgebil- 
deten und bie Maffe. Der Pofitivismus ift etwas an- 
ftändiger, aber nicht weniger gefährlih. Er madt nicht 
gerade bie Materie zum Idol, aber er verweigert es, 
über die Erfahrung hinauszugehen. Das höhere Wefen 
ift ihm ein Unbelanntes, mit bem man nicht weiter 
. rechnen Tann, weil e8 fij jeder Erfahrung entzieht. 
Die Dffenbarungen, Prophetien, Wunder find umdis- 
cutitbat, weil es au jedem Mittel zum Beweis fehlt. 


1) La Contr. 1, 8 p. 66. 


Die franzöftiche Theologie ber Gegenwart. 105 


Folglich bleibt mur das Diesfeits, mur das finnlide, 
empirijde Sein Gegenftand der Philofophie. Die beften 
Namen der gelehrten Welt, bie große Maſſe ber ges 
bildeten Franzofen haben im Pofitivismus ihr Glaubens: 
befenntniß. Ein wiederholt citirter Gelehrter ?) ſchließt 
eine Stecenfion über eine antipofitiviftiide Schrift?) mit 
den Worten: „Machen wir bier Halt und ſchließen wir 
mit einer Reflerion be8 P. be Bonniot, melde febr 
geeignet ift bie „moberne Vernunft“ zu demüthigen, bei 
der eine Philofophie, gleich monftruds und bumm, bat 
populär werben fónnen bi8 zu bem Punkt, daß fie im 
gegenwärtigen Augenblid zu triumphiren ſcheint“. „Ihre 
Kraft befteht ganz in der Schwäche des Geiftes unferer 
Zeitgenofien, ähnlich jenen Krankheiten, melde fid) in 
‘einer erſchöpften Gonftitution ernähren“. Ein anderer 
bemerkt über denſelben Gegenftand ®): „Unter bem Nas 
men be8 Poſitivismus zieht eine große Anzahl verirrter, 
von Haß erfüllter Geifter, unter ben Philofophen, 380: 
litifern, Gelehrten, bie Maſſen fort, indem fie ihren 
böfen Leidenſchaften ſchmeicheln, erflären, daß was man 
nicht ſehen, berühren, fühlen unb auf erperimentelle 
Weiſe beftätigen Tann, nicht eriftirt, und daß folglid) 
Gott, bie Seele, bie perfónlide Unfterblichkeit eitle Worte 
find, welche bie Wiſſenſchaft verachten, der Gefeßgeber 
vermeiden muß und melde bie Maffen, befreit vom reli⸗ 
giöfen Aberglauben, enblid) gurüdftoBen müſſen al8 bie 


1) Lescoenr, Ball. cr. II, 15 p. 297. 
2) Les malheurs de la Philosophie: études critiques de 
phil. contemporaine, par de Bonniot, 8. J. Paris 1881. II éd. 
8) Revue cath. t. XIII p. 270. gl. aud) La Contr. II, 
37 p. 514. 


106 Sqhanz, 


letzte Spur der Herrſchaft des Klerus in den verfloſſenen 
Syabrbunberten", 

Hier müffem alfo bie franzöfiihen Theologen ihre 
Hebel einfegen, um als Philofophen und Raturkenner 
der unglänbigen Strömung entgegenzuarbeiten. Wir 
können bem gleich beifügen, baf bie Schriften gegen 
ben Pofitivigmus denn aud) ungemein zahlreich und oft 
mit vielem Geift und Wiſſen gejdriebeu find. Der 
BVofitivismus ift ſchwer zugänglich, weil er die beftehen- 
ben Erfahrungswiſſenſchaften für fid) im Anfpruch nimmt 
und Religion und Philofophie in das Steid) der Chimäre 
verweist. Er verweigert ed, auf dem Dcean ber unficht- 
baren Realitäten fid) einzulaflen, für welchen er weder 
Nahen noch Segel zu haben vorgibt. Deßhalb Hilft 
der Proteft ber Philofophie Diegegen midjt8, man muß, 
wenn bie Gegner nicht auf unfer Gebiet übertreten, auf 
das ihrige übergehen, ihre eigene Willenfchaft, 1a science, 
bören. Daher ift e3 nothwendig, baf ein SBettfeibiger 
ber Wahrheit zugleich Philoſoph und Naturforſcher ἐξ 
und im Namen ber Erfahrungsmwifienichaften den Beweis 
führt, daß die Erfahrung ebenfo motftoenbig bie Meta 
phyſik verlange als bie Metaphyſik bie Erfahrung vor: 
ausſetze. Dieſen Beweis hat der gelehrte Broglie et- 
bracht, indem er von feinen Gegnern nichts weiter als 
bie Anerkennung ber Methode »du bon sens progressif« 
verlangte!). Seine Schrift bat aud) bei Gegnern Auf: 

1) Le Positivisme et la science expérimentale, par M. 
l'abbé de Broglie. 2 voll. Paris 1881. Οἵ: Démenstration 
catholique contre le Positivieme, le Makérialismao et la Libre- 
pensée de MM. Littré, Robin, Renan, Taine, Soury, About, 


Moleschott, Vogt, Buchner, Darwin, Tyndall, Spenoer, Haekel, 
Draper ete., par M. l'abbé Pernet. 2 vol. Paris 1881. 


Die franzöftiche Theologie der Gegenwart. 107 


fehen gemacht. Paul Janet brüdt fogar feine Freude 
darüber aus‘), daß fid bie katholiſche Theologie mit 
den hohen Problemen der fpeculativen Philofophie bes 
faſſe. „Diefe Kirche vepräfentirt unter ber genaueften 
und concreteften Form das religibfe Prinzip; mum ift 
aber die Religion, in ihrer Idee und unabhängig von 
jeder Form genommen, ber erhabenfte Ausbrud bet 
Philoſophie“. Wenn Janet dabei den Tadel ausſpricht, 
daß fid ber franzöfifche Klerus feit den Zeiten Gratry's 
etwas von ber Philofophie fern gehalten habe und 
zurücgefchritten fei, fo ſcheint er mir darin nicht fo ganz 
Unrecht zu haben. Auch feine Begründung ift nicht 
übel. „Die frommen Uebungen, die Werke der Charitas 
und bie politifchen Agitationen haben bie kirchliche Thätig⸗ 
feit ganz abforbirt." Dennod kann id) mit der Gontro- 
verfe übereinftimmen, melde als fdlagenben Gegen- 
beweis bie fatfolijen Univerfitäten anführt. Denn 
bieje Zeilen find ja gerade zu bem Bede geſchrieben, 
den erfreulichen Aufſchwung ber fatfolijdjen Theologie 
in Frankreich darzuftellen. Die Controverfe fteht aber 
erft in ihrem dritten Jahrgang und bie fatbolijjen 
Facultäten in ihrem erften Dezennium. 

Damit hängt zufammen, daß bie Nothwendigkeit 
be8 Webernatürlichen erwiefen oder toemigflen8 bie Be- 
bauptung der Unmöglichkeit desfelben zurückwieſen wird. 
Auch biefer Beweis Tann bloß auf Grund ber Natur: 
wiſſenſchaften geführt werden. Dies thut denn aud 
Bonniot in feinen Aufjägen über bie wiſſenſchaftlichen 


1) Un eseai du róalisme spiritualiste. Revue des Deux- 
Mondes. 1. Juin 1882. 


108 Schanz, 


Einwände gegen das Wunder 1), indem er bie Verträg⸗ 
lichfeit be8 Wunders mit ber Feſtigkeit der Naturgefege 
darthut. Das Wunder wäre gar nicht möglich ohne 
ba8 Geſetz, deſſen Ausnahme es barftellt. Wie bie 
phyſiſchen Uebel eine Unordnung find, fo dient das fie 
befeitigende Wunder zur Herftellung ber Drbnung. Man 
muß fid) alfo eimetjeit8 von bem Vorurtheile befreien, 
als ob das Wunder etwas rein Zufälliges, Capriciöfes, 
Zweckloſes jei, und andererſeits bie abfolute Wirkſamkeit 
ber Naturgefege dahin reftringiren, baf ein gegebenea 
Agens immer biejefbe Wirkung hervorbringt, oor- 
ausgeſetzt, daß e3 fid ftreng unter benfelben Bedingungen 
befindet. Speciell laffe fid) dann bie ganze moderne 
Erklärung ber pbpfitalijdjen Phänomene burd) Bewegung 
mit bem Wunder vereinbaren. Denn einmal bringe aud 
der geiftige Factor im Menſchen, die Seele, Bewegungen 
bervor, fobann zwinge fid) Gott gleichfam felbft, das 
Prinzip der Erhaltung ber Kraft zu refpectirem. Aehn⸗ 
lid láft fid) aud) gegen bem aftronomijden Pantheis: 
mus be8 Flammarion operiten?), ber, fo pbantaftijd) 
er fid) aud) ausnimmt, wegen des Anfehens ber Aftro- 
nomie feit fopernifu8 und Kepler bod) Verbreitung und 
Anerkennung findet. Aber e8 läßt fid) mur zeigen, daß 
die populären aftronomifhen Anſchauungen, melde bem 
alten Spftem entnommen wurden, faljd) find und babet 
qud) die religiöfen Anfhauungen reiner aufzufafien find, 
dagegen bie Unmöglichfeit des Theismus Tann aud) dieſe, 
vom ſtarren Naturgeſetz beherrſchte Digciplin nicht erweiſen. 


1) La Controv. II, 7. 8. III, 87. 38. 89. 
2) III, 21. 22. 28, 


Die franzöfiiche Theologie ber Gegenwart. 109 


Da die Franzofen in der Regel unjeru Landsmann 
Hädel mit den Pofitiviften zufammenftellen, fo fann es 
nicht Wunder nehmen, wenn fie feiner weder ,mate- 
rialiſtiſchen nod) fpiritualiftifchen" Philofophie eine be 
fondere Aufmerkfamkeit ſchenken. Ueber feine Cellular: 
philoſophie hat Alexis Arbuin eine Reihe von Artikeln 
publicirt 1), in denen er eine Darftellung unb Kritik des 
Syſtems gibt. Man kann e8 ihm aud) nicht verargen, 
daß er zum Schluffe über biefe Lufthypotheſe feinem 
Aerger einigermaßen bie Zügel fchießen läßt. Hädel 
toil nämli zwar nicht bas Unbefannte, aber bod) den 
geiftigen Charakter der Seele wahren. Er beginnt mit 
dem Urbildner Plaſſon, aus welchem das Protoplasma 
und der Sellfern hervorgehen. Derjelbe fann fid) aber in 
unrebucirbare Elemente zerjegen, melde Plaſtidulen 
heißen und aus ben unorganiſchen Elementen beitehen. 
Diefen Plaftivulen muß man bie Lebenseigenihaften 
beilegen, melde man bisher ben Zellen oder bem Proto- 
plasma beigelegt hat. Sie vereinigen fid) zu Plaſtiden 
oder Bellen. Jedes Atom befigt mun eine inhärente 
Summe von Kraft und ifl in biejem Sinne „bejeelt“. 
Daraus entfiehen Vergnügen und Mifvergnügen, Wunſch 
und Abneigung, Anziehung und Abftoßung, Senfibilität 
und Wille. So kommt Hädel fchließlih auf bem Wege 
der fortſchreitenden Entwicklung der Zellenſeelen zur 
meuſchlichen Seele. Trotz aller Verwahrung und Sophiſtik 
geratpen τοῖς aber damit toieber auf den Boden des 
Materialismus. . 

Dies ift in legter Inſtanz bei allen evolutioniſtiſchen 





1) La Contr. I, 1. 8, 4. II, 6, Cf. II, 7. 


110 Schanz⸗ 


Theorien der Fall. Darin liegt auch der Grund, warum 
auf ihrem Standpunkt von einer Moral nicht die Rede 
ſein kann außer in Worten. Der Hauptvertreter der 
unabhängigen Moral, der Engländer Spencer, welcher 
dieſelbe vielen mundgerecht gemacht hat, fanm deßhalb 
in ber neueſten Apologetik nicht fehlen). „Eine Surüd- 
führung der Moral auf bie phyſiſche Ordnung heißt in 
befremdlicher Weile die Wechſelwirkung mißbrauden, 
melche zwiſchen beiden, weſentlich verichiedenen Gebieten 
vorhanden ift, heißt bie Freiheit unterbrüdem, bie Ber- 
antwortlickeit, bie Pflicht. Was haben wir aber dann 
mit der Moral und ben Moraliften anzufangen? Sprechen 
Sie nur von phyfitalifchen Wiſſenſchaften, Chemie, Natur⸗ 
geſchichte, aber bei Leibe nicht mehr von Philofophie, 
bejonbers nicht mehr von Moral, dies wäre eine Ber: 
fpottung". Spencer weist oft auf ben Widerſpruch hin, 
in welchen fid) viele Menſchen burd) ihre Praxis gegen 
ihre Theorie fegem. Und wenn e$ richtig ift, daß Fara- 
day geſagt habe, er ſchließe fein Laboratorium, wenn 
et fein Oratorium öffne und umgekehrt, fo ift damit 
nur ein in England bejonber8 ausgebildeter Gewohn: 
beitszuftand bezeichnet, welcher beweist, daß es unmög- 
Tid) ift, bie Moral auf ber Phyſik aufzuerbauen. 
Endlih will id nur im Vorbeigehen eine in den 
legten Jahren aud) bei ung wielverhandelte philoſophiſch⸗ 
naturwiffenfhaftlihe Hypothefe, ben Spiritismuß, 
berühren. Ein Aufiag über ben Spiritismus in Deutſch⸗ 
. land in ben Annalen der chriſtlichen Philofophie (1880 


1) Les nouvelles bases de la Morale, d'aprés Herbert 
Spencer, p. Elie Blanc. La Contr. II, 11. 12. 18. 14. 


Die frangöftfche Theologie der Gegentvatt. 111 


Nov.) ift eim Stejumé aus meinem Aufſatz ἢ). Aus: 
führlicher Handelt über den Spiritismus Abbe Elie 
Meric?), der fid) aud) mehr als andere Franzojen von 
dem Einflufe der Dämonen fernhält. Er ift jer ffep- 
fif gegen bie Erklärung ber fpiritiftifchen Phänomene 
durch Geifter, ob fie gute oder böfe feien. Miele fog. 
Experimente feien betrügertih. Außerdem offenbare fid) 
die Natur, deren verborgene Kräfte unà mod) longe 
nicht alle befannt feien, manchmal anf außerordentliche 
und Auffehen erregenbe Weife. So in den Erſcheinungen 
der Hallucinationen, ber phyſiſchen Unempfindlichkeit, 
bet wunderbaren und anßerordentlihen Activität. Ihre 
müdtige Wirkung Tönne in getoiffen Fällen die befremd⸗ 
Tien Thatſachen, welche man den verfammelten Geiftern 
augufchreiben vorgibt, erklären. 

Der dritte Theil der Apologetik betrifft bie D. 
Schrift, bie bereit8 im Borhergehenden prinzipiell 
vertheidigt worben if. Auch bier ift ba3 Gebiet wieder 
ein ungemein ausgebehntes. Denn e8 erfiredt fid) von 
der Leugnung des kanoniſchen Charakters und ber Offen: 
borung überhaupt bis zur Beftreitung einzelner Schriften, 
einzelner Theile, einzelner Erzählungen. An zahlreichen 
Angriffen in allen diefen Beziehungen fehlt es in Frank— 
teid) nicht, bod) konnen wir ung nad) bem Biöherigen 
auf ein paar Qauptpuntte beſchränken. Gegenüber ber 
pringipiellen 2eugnung des Uebernatürlichen und Wunder: 
baren vom Standpunkte der Naturwiſſenſchaft und Philos 
fopbie aus hat zunächſt ber theologifhe Beweis feinen 

1) Liter. Rundſchau 1880. N. 10-12, 


2) Revue cath. t. XIII N. 75. 76: Le Merveilleux, la 
Theologie et la Science. Of. Bonniot, La Contr. III, 31—83. 


112 Shan, 


Werth. Wenn aljo Voltaire, Strauß, Renan, Havet 
u. A. jeden Beweis gegen bie Echtheit der b. Schrift 
ablehnen, weil er burd) bie Unmöglichkeit des Wunders 
überflüffig gemacht fei und das einzige fidjete Datum 
aus bem Leben Jeſu ber Tod Jeſu unter Pontius 
Pilatus [εἰ 1), fo find zuerft bie Vorfragen zu erledigen 
und ift der Beweis anzutreten, daß burd) bie Leugnung 
be übernatürliden Charakters bes Chriftentbums feine 
Entftehung und Ausbreitung zu einem Räthſel gemacht 
werde. WIN man aber die Wunder ber D. Schrift auf 
gleiche Linie mit denen anderer Religionen, namentlich 
ber orientalifhen, ftelen, um fie nad bem befannten 
Sage: das Wunder ijt be8 Glaubens liebftes Kind, zu 
befeitigen, fo ift bie vergleichende Religionswiffenfchaft 
als Bundesgenoffin beigugiebew. Gerade fie, welche in 
Frankreich feit langer Zeit in Blüte fteht, zeigt, daß 
Lehre, Sitte und Wunder der orientaliihen Religionen 
fo jehr ben hriftlichen Dogmen und Erzählungen nad 
ftehen, daß an eine Entitehung der chriſtlichen Lehre 
aus ben orientalifhen Speculationen nicht zu denken 
und bie Entftehung des Chriſtenthums meit über ähn- 
lide religiöſe Entwidlungen erhaben ift. Eine Reihe 
von Artikeln meist bie Unzulänglichkeit für beide Be 
hauptungen nad. Die Sogmatit des Brahmanismus 
fann mit der hriftlihen feinen Vergleich aushalten, bie 
Greuel feiner Givilijation follte man aber billigermeife 
nicht als Mufter für ba8 Abendland vorhalten?). Da 


1) Faivre, Le rócent blasphbme de la Revue des Deur- 
Mondes, La Contr. II, 12. 

2) Harlez, Le Brahmenisme, sa lógislation. La Contr. I, 
1.2. Civilisation qu'il produite I, 4. II, 6. 


Die franzöfiiche Theologie ber Gegenwart. 118 


machen fid) nod) bie Engländer butd) ihre Civilifation 
verbient, obwohl ihre Motive gewiß wenig chriſtlich find. 
Richt viel befier ſteht es mit dem vielbehaupteten Ur- 
ſprung des Chriſtenthums aus ber perfijdjen (Zoroafter) 
und indifchen Religion. Denn weder bie heitere Lebens⸗ 
anſchauung des Horoaftrismus, mod) bie vorgeblidje 
Humanität, nod) bie Leugnung ber Ewigkeit der Höllen- 
ſttafen können mit bem verjühnen, was er von buali- 
ſtiſcher Weltanfhauung und peinlihem Obſervanzen⸗ 
weſen, ba3 and Lächerliche grenzt, aufgenommen hat). 
Die Wunder, welche von ben Drientalen für ihre Lehre 
borgebracht werden, find aber derartig pueril und lächer⸗ 
li$, daß man fie unmöglich mit denen des Herrn und 
der Apoftel vergleichen fann?). Es wäre vieleicht gut, 
wenn bie Franzofen aud) in ihren Legenden und Wall: 
fahrten dem Sat, daß möglichite hiſtoriſche Genauigkeit 
zu erftreben und ber höhere Zweck der Wunder im Auge 
zu behalten ijt, mehr Rechnung tragen würden. Doch 
füge ἰῷ gern hinzu, daß id) einzelne diesbezügliche (ὅτε 
Hhlungen in ber Revue catholique mit Intereſſe ge: 
leſen habe. 

Bon einzelnen Wundern, melde immer wieder zum 
Gegenftand des Angriffs gemacht werden, ift zunächſt 


1) Harlez, Les prétendues origines Persanes ou Indoues 
do la religion II, 23. 24. Les prétendues origines du ohristianisme, 
daprds M. Em. Burnouf. IL, 26. 28. Christianisme et Zoro- 
arme, prétendue supériorité de la religion de Zoroastre. 
IL 14. Bracker, Em. Burnouf et Jacolliot, l'origine chrétienne 
du christianisme II, 9. 

2) Bonniot, Les faux miracles du Bouddha II, 15. 16. 
entre Larroque. Les faux miracles d’Esculape et de Serapis. 
1121.92. Les faux miracles d'Apollonius de Tyane IIT, 41. 42. 

Yet Duartaljgrift: 1888. Heft 1. 8 


114 San, > 


die Sintflut zu nennen, menn man fie als aufer- 
ordentliches Strafgericht Gottes unter biefer Rubrik 
paffiren Taffen mill. Die Univerfalität derfelben ift 
von ben Phyſikern ſchon lange beftritten und von den 
Theologen aud) jo ziemlich aufgegeben. Sud Sean 
b'Gftienne 1) dehnt diefelbe wur auf bie gefammte Menfch- 
beit aus, führt aber bie in Frankreich nicht feltene Be: 
férünfung auf das Centrum der Menſchheit mit Aus- 
nahme der Neger an. Denn bieje haben abjolut Feine 
Erinnerung an die große Flut und bieten ber Ableitung 
von Noe wegen bet Kürze ber Zwiſchenzeit feine geringen 
Schwierigkeiten. Er nennt ald Vertreter diefer Anſicht 
Shöbel, Dmalius d’Halloy, Duatrefages, Lenormant. 
Der Jeſuit Bellynd habe wenigftens ihre Verträglichkeit 
mit ber Orthodoxie anerkannt. Der Jefuit Delſaulr 
brüde fid üpalij aus. Das Dogma ber Crb[üube 
wird felbftverftändlih davon nicht berührt. Der Berf. 
ſelbſt ift weder für nod) gegen bie Theſe. Doch fei 
biejelbe zu neu, jebenfallà zu unficher und zu wenig 
für bie Apologie geeignet. Noch entſchiedener ſpricht fid 
Hamard dagegen aus ?). 

Mit dem Wunder Joſna's hat e$. eine ähnliche 
fBetoanbtnip. Zwar fawa man für die mörtlide Er- 
klärung anführen, daß fid) die Sonne nad) der mobet- 
nen Afttonomie wirklich bewegt, aber man wird daraus 
für den fpeciellen Fal wenig gewinnen. Dasfelbe würde 
geſchehen, wenn man eine Arretirung des ganzen Syſtems 
fupponiren wollte. Auch wenn man jagt, Gott habe 


Die frangöfifche Theologie bet Gegenwart. 115 


wie ben Stillftand der Erde, fo befjen Folgen verhindert, 
Bt man nur bie Schwierigkeiten. Denn Gott greift 
mut zu einem Wunder, wenn alle anderen Mittel zur 
Grreihung feines Zweckes fehlen, und wählt gewöhnlich 
diejenigen Proceduren, welche fij am tvenigften von den 
Gefegen der Natur entfernen. Somit ift bie Ausdrucks- 
weile eine populäre und eine einfache Verlängerung bet 
Xageshelle anzunehmen’). Das Manna wunder unb 
der Durchgang durch das rothe Meer feien zur Ber: 
volfändigung genannt ?). Diefes Tann nicht burd) bie 
Ebbe, jenes nicht durch ba8 Manna ber Tamarix 
mannifera oder anderer Pflanzen erflärt werden. 
Daraus Tann ſchon geſchloſſen werden, daß bie 
franzöfifhen Theologen alles was bie Wiſſenſchaft zur 
Aufhellung ſchwieriger Bibelftellen bietet herbeiziehen. 
Sie zeigen fid) auch febr wohl bemanbert in ben neuen 
für die Gregeje des 4. T. ungemein wichtigen Ent: 
dedungen im Drient. Ich verweife beſonders auf bie 
Erflärung der Cherubinen mad) den aſſyriſchen Aus— 
grabungen ?). Trochon erhebt zwar einige Zweifel gegen 
diefe Erklärung Lenormant’3, fügt aber bod) bei: „er 
habe begriffen, baf in der Kirche der Glaube des Chriften 
fehr vereinbar ift mit der Forſchung be8 Gelehrten“ *). 
Dem N. S. fommen wir näher mit bem Ausfüh- 
rungen über bie Prophetie der Jungfrau Mutter und 





1) Jean Estienne II, 17. 18. 

2) Vigouronz, II, 8. 9. 16. 

3) Vigouroux, La vision des Chórubins du prophbte Ezé- 
chil. IL, 20. 21. Cf. Vigouroux, La Bible et les découvertes 
modernes en Palaestino, en Egypte et on Assyrie. Paris 1882. 

4) Ball. cr. I, 51. 


8* 


116 Schanz, 


des Immanuels), welche mit großer Erudition ge— 
ſchrieben ſind. Zum Theil iſt auch die Prophetie Jakobs 
hierher zu redjuen ?), und noch mehr bie prophetiſchen 
Weisfagungen und die rationaliftifhe Kritike). Die 
Evangelien werden gegen Courp, einen Schüler 
Renan’s vertheibigt. Diefer beftreitet natürlich bie Gott: 
heit Jeſu und bezeichnet ba8 Chriftenthum als eine fran 
bafte Erſcheinung feines neroöfen Stifters. Suerft habe 
Jeſus nur wie viele andere feiner Beitgenoffen bie An: 
kunft des Meſſias verfünbigt; erft allmählich [εἰ er zur 
Meinung gefommen, ec felbft fei der Meſſias. Geiftes: 
krankheit, Narrheit, Tolheit, fire Ideen u. U. find die 
Blasphemien, mit welchen ber Stifter des Chriſtenthums 
verfolgt wird. Auch bei uns gibt e8 viele, melde eine 
almählihe Entwidlung des meſſianiſchen Bewußtſeins 
annehmen, aber fie halten fid) bod) in der Regel nod 
mehr innerhalb der Grenzen des Anftands und der ges 
funden Vernunft. Es ift natürlich unſchwer zu zeigen, 
daß bie religiófe Eraltation zur Zeit Jeſu von Soury 
übertrieben wurde, bie fire Idee nicht nachweisbar ijt 
und die progreffive Abnahme des Bewußtſeins der Per- 
ſonlichkeit mit der Darftellung der Evangelien im Wider: 
ſpruch fiebt*). Der Auffag über die Authentie des 
dritten Evangeliums von Fillion 5) hat unterdeſſen in 
feinem Commentar zu diefem Evangelium Aufnahme 
gefunden. Der Kürze halber darf ich vielleicht auf 


1) Faivre, La Contr. III, 37. 38. 89. 
2) Lamy, ΠῚ, 38. 

3) Lamy, II, 25. 

4) Elie Philippe, Les Rvangiles et M. Jules Soury 1, 1. 
5) II, 21. 


Die franzöfifcge Theologie ber Gegenwart. 117 


meine Anzeige der Gommentare zu ben jpnoptijden 
Evangelien verweifen ἡ. Da id) neueftens in der Con⸗ 
troberje eine Antwort auf einzelne Bedenken gegen bie 
Juſpiration, namentlich aud) binfichtlic bes Blinden in 
Jericho, gelefen habe, fo will ἰῷ e8 nicht unterlaffen zu 
bemerken, daß hierin bie franzöfifchen Bibelkritiker fid) 
wj von manchem Hergebrachten emanicipiven bürfeu. 
Die Erflärung ber Heilung eines Blinden vor bem Ein- 
tritt in Jericho und eines nah dem Austritt ift zwar 
alt, aber burdjaus ungenügend. Mit Recht hat Fillion 
bie Einheit des Wunders vertheibigt. 

Auch die Vertheidigung des D. Apoftels Paulus 
ift zu verzeichnen. Denn ber ſchon genannte Havet mußte 
mit ber Gottheit Jefu aud) den größeren Theil bes 
9. $. aus dem Kanon entfernen und Fam fchließlich 
mit der Tübinger Schule zu den befannten 4 großen 
Baulinen. Dagegen vertheidigt Trochon ?) in trefflicher 
Beife bie Authenticität der anderen und madt nament- 
ἐφ, zum Theil im Anſchluß au Sabatier, geltend, daß 
es Unrecht fei a priori ben Charakter be8 Apoftels nach 
den 4 Briefen zu entwerfen und biefen Maßſtab Heinz 
lij an bie anderen Briefe zu legen. Da alle Briefe 
Gelegenheitsichriften find, fo Tann nur aus möglichft 
vielen ein Charakterbild gewonnen werben. Während 
in den Briefen vor ber Gefangenidjaft der Kampf gegen 
das Subentum im Vordergrund fteht, find e8 jeit der 
Gefangenſchaft neue Irrthümer philoſophiſcher Art, welche 
den Apoftel veranlaffen, fein Spftem erft voll zu ent 


1) Liter. Rundſchau 1882, N. 18. 
2) III, 34. 85. 


118 Shan, 


wideln. In ben Paftoralbriefen gebe er fid) Mühe, 
bie Zufunft ber firde zu fihern. Im zweiten Artikel 
wird das Leben und der Charakter de3 Apoftels be 
ſprochen. Darin wird vielleicht bem äußeren Unterricht 
zu viel zugefchrieben und werden bie Differenzen mit 
den Urapofteln und Judenchriſten etwas zu niedrig 
taritt. Als Guriojum fügen wir no bei, daß mad) 
Havet die Theologie „eine enorme Maffe von Sub: 
tilitäten und Wortkämpfen“ ift. Um Re zu conflituiven 
mußte man mit bem Vermögen, Getrenntes zu vereinigen, 
welches im orientalijdjen Geift ift, jenes zu argumen- 
tiren, das den griechiſchen Geift charakteriſirt, verbinden. 

Die bibliſche Kriik, die hohe und niedere, 
ſpielt gegenwärtig eine große Rolle. Soury Dat deß— 
halb auch nicht verfehlt, den Katholiken vorzuwerfen, 
daß fie feit 9t. Simon hierin nichts mehr geleiſtet haben, 
ein Vorwurf, den Faivre in feiner Allgemeinheit Leicht 
zurückweiſen fonnte!). Freilich die „höhere“ Kritik iſt 
für den fatbolifen eine faum zu verwendende Disciplin 
und man kann Angeſichts ber Ungeheuerlichkeiten, melde 
biejelbe ſchon zu Tage gefördert, fid) darüber faum 
grämen. Da gilt e8 allerdings, baB bet Kern mehr 
werth ift al die Rinde. Ein vernünftiger und mäßiger 
Gebraud ber Kritik findet fi) aber bei bem fatb. Gre- 
geten bis auf ben heutigen Tag. Gewiſſe Anfehtungen 
müſſen fie fid) eben nicht verbrieBen Laffen, denn bie 
proteftantifhen Exegeten find häufig fammt ihrem freien 
Schriftprinzip nicht viel befier daran. In Betreff der 
Tertkritit wird man aber freili jagen müflen, daß 


118 


Die franzöſiſche Theologie der Gegenwart. 119 


Iatholifcherfeits hätte mehr gethan werden Tónnen. Wenn 
man bie reihen Schäge Dettadjtet, melde in Italien 
und Frankreich biefür aufgefpeichert find, fo ift e8 ge 
wiß beihämend, daß wir nicht eine einzige gute Text: 
ausgabe haben, während bie Namen Tiſchendorf, Tre⸗ 
gelles, Weftcott, Hort an bem großen Fortſchritt in der 
Tertkritik auf proteftantifcher Seite erinnern. Man mag 
über die Grundſätze bei der Feſtſtellung ber englifhen 
Bibelüberſetzung vom Tatholifhen Standpunkte feine 
Bedenken äußern ), aber glaube ja nicht, daß baburd) 
bie Tertſchwierigkeiten befeitigt feien. Die neue enge 
liſche Tertausgabe ift vielmehr eine Mufterausgabe, bie 
wir nicht ignoriren dürfen ?), fo einfeitig auch unberufene 
Kritiler und befangene Dogmatifer urtheilen mögen. 
Man wird von mir nicht erwarten, daß ich mein 
Referat in gleicher Weiſe über alle Digciplinen fort: 
fege. Von Anderem abgejehen würde mid darin bie 
zur Verfügung ftehende Literatur im Stiche lajjem. Es 
find ja aud) im Vorhergehenden bie allgemeinen Fragen 
aus der Dogmatik nnd Moral binläuglih zu ihrem 
Reht gefommen. Die fpeciellen Fragen aber möchte ich 
bier nicht behandeln und dies wird mir, ohne Nebenabficht 
fei e8 gefagt, ber Lefer aud) gern erlaſſen. Nur bie 
Kirchengeſchichte will id) noch erwähnen, meil fie in ben 
Seitfepriften nicht bie legte Rolle fpielt. Die hiſtoriſchen 
Zeitſchriften habe ἰῷ nicht gut Hand, aber das Bulletin 
eritique beweist, wie ernft und ftreng bie neue Schule 
«ud hierin zu Werke geht. Die Errungenfchaften der 


1) II, 24. 
2) Duchesne, Bull. cr. II, 17, 329 ij. 


120 Schanz⸗ 


hiſtoriſchen Kritik werden gewiſſenhaft berückſichtigt und 
die ſtrenge Arbeit zur Pflicht gemacht. Will ſich jemand 
über bie verſchiedenen Richtungen orientiren, jo empfehle 
ἰῷ ihm bie Schrift Jungmanns ?) mit ber dasſelbe 
Sujet behandelnden Schrift des Jefuiten be Smebt zu 
vergleichen und dazu bie Stecenfion Duchesne's zu Lejen ?). 
„P. de Smebt ift vor allem Kritifer, während Jung: 
mann vor allem Theolog ift. Jener ſucht zu fehen, wie 
fid die Dinge zugetragen haben, biejer zu bemeifen, 
daß fie gut gegangen feien. Dies heißt aber manhmal: 
gegangen entſprechend ben theologischen Borftellungen 
des Verfaſſers“. Die Arbeiten Gilbert’3 über Galilei 
find befannt ®). Sie erreichen aber die Arbeiten Henri 
de l'Épinoi8 nidt. Er geht mit Franzelin und Grifar, 
bat aber die Zurückhaltung des legteren hinſichtlich der 
Congregationsentſcheidungen nicht recht beadtet. Zu 
erwarten wäre gemejen, daß er die Angriffe Reuſch's 
gegen bie Jefuiten irgendwie berüdfichtigt hätte. Ueber 
weitere biftorifche Auffäge in der Gontroberje muß ἰῷ 
hinweggehen, um nicht zu lang zu werben. Die Blüte 
bet archäologiſchen Studien ift ſchon bud) bie framgó- 
fide Ausgabe des archäologifhen Bulletin Roſſi's be- 
wiefen. Bekanntlich wurde das Martigup’fche Werk über 
die Archäologie *) das Vorbild für bie Real-Encyklopädie 
der chriſtlichen Alterthümer von Kraus und rühren bie 
meiften Holzſchnitte von ben Clichss jenes Werkes ber. 


1) Dissertationes selectae in historiam ecolesiasticam, t.I. 
Regensburg 1880. 

2) Bull. cr. I, 24. 

8) La Contr. I, 4. II, 7. 20. 28. 

4) Dictionnaire des Antiquités chrétiennes. 


Die franzöſiſche Theologie der Gegenwart. 121 


Die Lettres chrétiennes bej&äftigen fid zum Theil 
eud) mit diefem Gegenftande. Außerdem find fie nament: 
lid) für die Patrologie und bie klaſſiſche Literatur werth⸗ 
vol. Wie das reichhaltige Polybiblion geben fie eine 
vollftändige Weberfiht über bie franzöfiihe und einen 
großen Theil ber ausländiſchen Literatur. 

Ueber die Revue du Monde catholique muß ἰῷ 
mod) wenige Worte beifügen. Sie dient ebenfo zur 
Unterhaltung als Belehrung, indem fie Erzählungen, 
Romane, Steijebefd)reibungen, geograpbilde und Kultur 
geſchichtliche Schilderungen, Ueberſichten über belletriftiiche 
Kiteratur, Theater u, f. m. in reicher Menge bringt. 
Sie will fidtlid) bie Lectüre anderer Revilen, bie un— 
oder antichriftlich find, aus den katholiſchen Familien 
verbrängen. (δ ift zu wünſchen, daß e8 ihr gelinge. 
Auch der deutihe Lefer wird Manches mit jyutereffe 
leſen. Sind aud) bie deutſchen Verhältniffe öfter mit 
übertreibendem Sarkasmus dargeftelt, [o ift e8 bod 
intereffant, bie eigene Angelegenheit in franzöfiihem 
Spiegel zu fehen. In manchen Erzählungen erhält man 
einen tiefen Ginblid in das intime Familienleben. 

Ich babe e$ nicht als meine Aufgabe betrachtet, 
eripöpfend zu fein ober überall den firengen Kritiker 
zu fpielen. Ich weiß wohl, daß es fid vielfad) erft 
um einen energifchen Anfang handelt und der Hinder- 
niffe nit wenige find. Aber was id)jagte bürfte bod) 
beweifen, baf aud) bie katholiſche Theologie Frankreichs 
ihre Aufgabe begriffen Dat. Sollten fid) mandje deutſche 
Theologen baburd) zu erneutem Eifer anfpornen laffen, 
fo würde ich es mut freudig begrüßen. 


IL 
Recenfionen. 





1. 


Jakob und Gau, Typik unb Kaſuiſtik. Eine hiſtoriſch⸗ 
bogmatijdje Unterfuchung von P. Petrus Dil, O. S. F. 
Lektor ber Theologie im Franciskanerkloſter München. 
Mit Genehmigung ber Provinzialobern. München. 
Drud und Verlag von Ernſt Stahl. 1881. VI und 
64 €. 8. 


Die hier vorliegende „hiſtoriſch-dogmatiſche“ Unter: 
ſuchung über Genef. 27 fónnte mit gleichem Rechte eine 
etbifde genannt werden, wie aud) die Titelbezeich- 
nung „Typit und Kaſuiſtik“ anbeutet. Ihr Zweck geht 
dahin, zwiſchen ber dogmatiſch⸗typiſchen und ber hiſtoriſch⸗ 
grammatifchen Auslegung jener bedeutungsvollen Bor: 
gänge in der Familie des Patriarchen Iſaak, von melden 
Genef. 27 berichtet, das richtige Verhältniß ober bie alle 
Schwierigkeiten Löfende Ausgleihung zu finden. Die 
exegetifchen Probleme, von denen Genel. 27 mur ein 
Beifpiel ift, find urfprünglic durchweg auf bem Boden 
der fittlihen Reflexion über bie Erzählungen bes 9. T. 
entftanden. Der religibje Unterricht der älteften Zeit 


Högt, Jakob und Efau. 123 


war auf bie Einführung in ben Geift der göttlichen 
Offenbarung auf dem Wege ber gefchihtlichen Betrach⸗ 
tung angewiefen, und dabei ftieß man auf Vorgänge, 
welche bem gemeinen Bewußtjein von Sitte und Recht 
Anftoß bereiteten. Diefen Anftoß zu befeitigen wurde 
Aufgabe ber wiſſenſchaftlichen Exegefe, welde in zwei 
Methoden oder Schulen auseinandergieng, bie dogmatiſch⸗ 
allegorijdje und bie biftori]de, von denen bie erftere 
unter Umftänden bereit war, den Buchftaben der Schrift 
geradezu fallen zu laflen, wenn nemlih anders über 
die Schwierigkeit nicht hinwegzukommen war, während 
die legtere im Buchſtaben ber heiligen Schriften den ges 
ſchichtlichen Vorgang refpeftirte, ohne damit eine geiftige 
Auslegung im Sinne der Allegorie ober der Typik 
principiel ausfchließen zu wollen ). Das Verfahren 
der erfteren Richtung fiügt fid) auf wirklich oder aud) 
mur vermeintlih bogmatijde Gründe. Auf bet einen 
Seite nemli erkannte man in den Ereigniffen, welche 
bie h. Schrift erzählt, bedeutungsvolle Momente aus 
ber Führung des Volkes Gottes nad) beftimmten Plänen 
der göttlichen Providenz, [o daß bie handelnden Per- 
fonen wur wie Werkzeuge in einer höheren Hand zur 
Erſcheinung fommen; auf der andern Seite tragen bie 
nad) Gottes Rathſchluß eingetretenen Ereigniffe und bie 
von Gott felbft zu Typen Tommender Dinge ermüblten 
Berfonen fo fehr den Charakter des Heiligen und Bor: 
bildlichen, daß e8 unmöglich ſcheint, benjelbem Abfichten 
und Thaten unterzulegen, welche mit bem Sittengefege 

1) 891. Kihn, Ueber ϑεωρία und ἀλληγορία nad) ben bet: 


Iorenen hermeneutiſchen Schriften der Antiocener. Du.Scht. 1880. 
© 591 ἢ. 


124 $8gt, 


im Widerſpruch fteben. Bon diefen bogmatildjen Voraus: 
fegungen aus gelangte man zu jener befaunten Theorie 
von allegorifher Schriftauslegung, wonach man brei 
Arten von Schriftſtellen unterſchied, joldje, toeldje mut 
eine hiſtoriſch-buchſtäbliche, ſodann andere, melde 
bie buchſtäbliche und die geiſtige (allegorifche 
oder typiſche, reip. moralifche), und endlich ſolche, 
melde blos bie geiftige Auslegung mit Preisgebung 
des Buchſtabens erfordern oder zulaffen. In Anwendung 
auf ba8 Thema ber vorliegenden Schrift num ift ganz 
beſonders berühmt des h. Auguftin Eregefe von Genef. 
27 geworben, wo von bem erfahren des Jakob bie 
Haffiide Sentenz ausgeſprochen wird, baffelbe [εἰ nicht 
mendaeium fondern mysterium. Auguſtinus tritt bem- 
nad für die bogmati[de (allegoriſch-typiſche) Auslegungs⸗ 
methode ein, und nach feinem Vorgange fortan bie 
großen mittelalterlichen Theologen, fofern fie eben über: 
haupt das bogmatijóe Princip in ber Eregefe adop⸗ 
tierten. Nur haben weder Auguftinus mod) bie 
Shholaftifer bis auf Duns Scotus fid beftimmt 
barüber ausgefprohen, ob fie Genef. 27 (und ähnliche 
Stellen) zu jenen Schriftterten zählen, welche eine bud: 
ftáblide und eine geiftige, oder zu denen, welde blos 
eine geiftige Auslegung mit Preisgebung be8 Buch 
ſtabens zulaffen. Sowie nun im Laufe bet Zeit ber 
nnvermeidliche Uebergang on der rein dogmatiſchen 
zur hiſtoriſch-⸗wiſſenſchaftlichen Exegefe fid) vollzog, mußte 
die Schwäche ber Allegoriften zu Tage treten, b. D. fie 
mußten zu einer beftimmten Antwort bariüber genöthigt 
werben, ob fie wirklich bereit wären, ben Buchſtaben 
oder den hiſtoriſchen Vorgang als ſolchen fallen zu laſſen, 


Jakob und Efau. 125 


um mur den geiftigen Sinn zu retten. Durfte man bie 
Geſchichte als folge nicht preis geben, fo mat man 
im Interefje der Moral genöthigt, zu ben in ihr mit 
getheilten ethifchen Handlungen Stellung zu nehmen unb 
die Kategorien kaſuiſtiſcher Beurtheilung auf fie anzu: 
menden. 

€o verfteht ber gelehrte H. Verf. bie Ausdrücke 
Typik und Kaſuiſtik“. Seinem Schriften felbft fdrei- 
ben wir vor allem das Verdienſt zu, nicht blos eine 
anziehende ethiſche Unterfuhung wieder in Fluß gebracht 
zu haben, fondern in einer gelungenen geſchichtlichen 
Cfige über die Auslegung von Genef. 27 die Methode 
für weitere Unterſuchung angebahnt zu haben. Was 
aber des Verf. eigenen Standpunkt zum angeregten 
Broblem anlangt, fo möge er aus deſſen eigenen Worten 
entnommen werben. Es heißt im Vorwort: „Das Re: 
fultat, welches erreicht worden zu fein geglaubt toitb, 
läßt fi kurz angeben: Die in Frage ftehende bibliſche 
Thatfahe wurde von der Auslegung bald im ide 
bogmatijdjer Typik, bald im Lichte moralijdjer Kaſuiſtik 
angefehen. Die eritere SBetradjtung8tveije ift die ältere, 
tiefere, ber Patriftit und Scholaftit im Ganzen eigen- 
thümliche. Die legtere ift jüngeren Urfprungs, weniger 
tief als faßlih, feit bem 17. Jahrhundert aber in bet 
latholiſchen Schriftauslegung fo alleinherrſchend, daf ihr 
gegenüber bie auguftinifche Auffaffung mie ein „„Mähr- 
den aus alten Zeiten““ klingt. Beide Auslegungs⸗ 
weiſen ſchließen f$ aber, [o [dien mir, nicht aus 
fondern ein. Das verklärende Licht, in meldes bie 
Typil unfere Thatſache ftellt, muß fid) in etwas in ben 
Schatten, worin bie Kaſuiſtik fie auffaßt, theilen, auf 


126 5g, 


daß hieraus eine objektive Wirkung entitehe*. Wie bie 
gemeint fei, und in welchem Sinne ber Verf. beiden 
ftreitenden Parteien zugleich Recht geben mollte, erfehen 
wir aus den Schlußworten €. 63 f. Darnach „Lohnt 
es fid) nicht der Mühe, das auguftiniihe Paradoron: 
non est mendacium sed mysterium, im ber ftrengften 
Bedeutung ber Worte aufrecht halten zu mollem. Co 
geiftreih und tieffinnig es ijt, fo fommt babei bic an: 
mittelbar biftorifhe Wahrheit zu fury, droht fi in 
Schein aufzulöfen. Die auguftiniihe Auslegung der 
Stelle ift nicht durchgebildet, greift blos bie myſtiſch 
bebeutfamen Momente aus ber Handlung auf und ver: 
nadhläffigt zum Theil bie pſychologiſchen und ethifchen 
Seiten derfelben. Dagegen wäre die Anftrengung, mit- 
telft eines tein kaſuiſtiſchen Maßſtabes und unter SBer- 
Tennung aller höheren, propbetijden und probibentielleu 
Züge, das Faktum in bie Niederungen gewöhnlicher 
Greignif]e herabzuziehen, ober ihm gar einen Abſchuitt 
in ber chronique scandaleuse, oder in ber jyntriguems 
geſchichte anzuweiſen, ober e8 al8 Argument für eine 
antifemitifche Bewegung vorgufefren, nod) weniger dans 
kenswerth“. „Vielleicht liegt, mas id) ausführlicher zeigen 
wollte, ſchon in den Worten des ἢ. «Bonaventura: 
non intendebat fallere patrem sed dirigere, angedeutet. 
Jedenfalls hatte bie Heine, wenn auch nicht völlig, bod) 
bis zu einem gewiſſen Grade entſchuldbare Täuſchung, 
in ber ἰῷ bie Züge ber Pietät unb ber Schomung nicht 
verfennen Tann, fid) als Zweck die Leitung Iſaaks auf 
die Wege des göttlichen Willens gefegt. Und wenn aud) 
ber Zweck das Mittel nicht heiligen Tann, fo fann bod) 
Gott bem weniger heiligen und gebredjlidem Thum 


Jakob unb Efau. 127 


ber Menjchen eine Rolle im Plane feiner heiligen und 
volfommenen Weltleitung einräumen”. 

Wir find mun mit bem Verf. vollftändig darin εἶπε 
verftanden, baß weder bie typiſche noch bie kaſuiſtiſche 
Auslegungsweiſe für fid) allein berechtigt ift. Wir ge: 
ſtehen aud zu, daß über bie vom Verf. gefundene 
Bereinbarung beiber Wege nit um ein Bebeutendes 
wird binauszufommen fein. Do geftatte man uns 
einige Bemerkungen, bie nicht fo faft zur Berichtigung 
als zur Erweiterung der vom Verf. unternommenen 
Studie dienen möchten. 

Es fónnte nad) den Ausführungen des Verf. ſchei— 
uen, als ob ſchließlich fid) ber ganze Streit darum drehe, 
ob das Verfahren des Jakob, ber Rebekka u. f. tv. im eigent⸗ 
liden Sinne als ein ſchwer ſchuldhafte s, ober aber 
als ein menjdfid) entfhuldbares, etwa als läßliche 
Sünde im Sinne ber Kafuiftif, zu betrachten fei. 
Gerade bier aber ſcheint uns ber kaſuiſtiſche Maßſtab 
nicht auszureihen. Wenn man überhaupt einmal eine 
moraliſche Makel, eine Schuld, annimmt, fo dürfte es 
febr fchwer fein, jene mildernden Umftände zu finden, 
welche fafuifti[d) von ſchwerer Sünde entſchuldigen; ber 
Gegenftanb felbft, um welchen fid) bie Schuld dreht, ijt 
eim eminent wichtiger; bie Mittel, wodurch das Biel 
erreicht werden follte, ermeijen fid) dem einfachen Men- 
ſchenverſtand als unefrlidje, als gemeine Lüge und Ver- 
ſtellung; die Veranftaltungen werden mit Vorbedacht 
getroffen, Gewiſſensbedenken ſophiſtiſch beſchwichtigt; und 
von einer Noth, mie fie etma zum Begriff des Noth⸗ 
ſtandes ober ber Nothwehr erfordert wird, fomnte nicht 
wohl geredet werben. Im beiten Falle, was war das 


128 9L, 


für ein Glaube, vermöge deſſen man meinte, ber 
göttlihen Vorſehung duch menjjlide Arglift zu Hülfe 
fommen zu müſſen! Alſo bieje Unterſuchung fcheint uns 
ziemlich unfruchtbar zu fein. Nimmt man einmal eine 
menſchliche Schuld an, fo ift damit im Princip für bie 
biftorifche Auslegung [don ein entjdiebene8 Präjudiz 
geſchaffen. Wir bedauern dabei nur, daß der Verf. aus 
Gründen, bie er nur anbeutet, fid) genöthigt fab, feinen 
Gegenstand etwas zu eng zu begrenzen, und baf et 
nit in eine principielle Unterfuhung eines ganzen 
Complexes von Darftellungen des A. T., melde nad 
ihrer buchſtäblichen Interpretation fittlihen Anftoß bes 
teiten, eingetreten ift. Es handelt fid um Schriftterte, 
in welchen nicht etwa einfach Handlungen menſchlicher 
Unvolltommenheit oder Leidenihaft berichtet werden, 
fondern in welchen etbijde Afte, welche bem natürlichen 
Sittengejege widerſprechen, eine Art von höherer Genef» 
migung zu erhalten feinen; man benfe z. ®. am die 
bem Abraham befohlene Tödtung feines Sohnes Iſaak, 
an bie gepriefene That der Judith. Für die Beurthei- 
lung folder Schriftterte fommen nun zwei Voraus— 
fegungen vornehmlid in Betracht. 

a. Die b. Schrift aud) des A. T. ift Offenbarung 
religiöfer Wahrheit; mas mir im ihr fuchen, ift bie 
Wahrheit ſowohl in religiöfer ober dogmatifcher, als in 
ſittlicher Richtung; fie muß und darum über das Gitt- 
lidjgute belehren und fann uns nicht irre führen; in 
den aus ihr zu ſchopfenden fittlichen Urtheilen fann nur 
unverfälſchte Sittlichkeit enthalten fein. Solche Urtheile 
bilden fij aber vorgüglid) mad) dem Leben und Schid- 
jalen derjenigen Perfonen, toelde in befonderer Weile 


Sjatob unb Efau. 129 


Träger einer Dffenbarung, Werkzeuge göttlier Heils- 
plane oder Vorbilder künftiger Ereigniffe find; oder 
fie bilden fid) aus denjenigen Vorkommnifien, welche 
entweber unmittelbar auf Gottes Befehl zurüdgeführt 
werben, ober melde fidj in den Gang ber wunderbaren 
göttlihen Provibenz [o einfügen, baf fie als Ausflüſſe 
göttliher SBeranftaltung erjdeinen fónnen. 

b. Was im einzelnen bie Pflicht der Wahrhaftigkeit, 
Sxeue und Gerechtigkeit gegen den Nebenmenfchen be- 
teifft, fo muß auch hierin bte b. Schrift maßgebend fein; 
was fie verbietet, das ift verboten, was fie erlaubt, das 
bleibt aud) uns erlaubt; aus ihr alfo muß bie Lehre, 
beziehungsweiſe die Definition der Lüge entnommen 
werden. Würde bie p. Schrift 2. B. bie Nothlüge an 
irgend einer Stelle für erlaubt erklären, fo wäre fie 
quj uns erlaubt. 

Nach biefen Vorausfegungen ſcheint von zweien nur 
eines übrig zu bleiben; ba bie Geredten des 9[. T. 
nicht zugleich als Lügner und Betrüger angefehen mwer- 
den dürfen, fo muß man entweder ben Buchſtaben des 
hiftorifchen Berichtes aufgeben, ober man muß bie in 
Frage ftehenden Handlungen Tafuiftiih fo zurechtlegen, 
daß fie von Sünde freigefprochen werden können. Zu 
diefem Zwede erweist fid) nun als das weitaus wirkungs⸗ 
vollfte Mittel die richtige Begrenzung bes Begriffs ber 
Rüge nach der Theorie Auguſtins, wonach zum Bes 
griff der Lüge weſentlich bie Abſicht, ben Nebenmenfchen 
zu täuſchen, gehört, alfo überall feine fündhafte Unwahr⸗ 
haftigfeit vorliegt, wo jene Abſicht fehlt, alfo 4. $8. in 
ber Parabel, ber Zabel, überhaupt in ber bildlichen 
Rede und in jener befannten räthjelartigen Sprud- 

Veol. Ouaral($jrift 1888. Heft I. 9 


130 tt, 


weisheit des orientalifhen Lehrvortrags, berem fid) aud) 
Jeſus uidjt felten bedient. Daß nemlid in biejer Aus- 
drudsweiſe der Buchſtabe der Wahrheit an fij nicht 
ganz entfpricht, ift mur ber Schein einer Unmwahrheit, 
eine poetiſche Geftaltung, moburd) gerade das Auge bed 
Nebenmenſchen geſchärft und fein Sinn auf bie verbor- 
gene geiftige Wefenheit gelenft werden fol. Wenn 
alfo etwas an bem Buchftaben bem natürlichen Rechts 
betoußfein zu widerſtreben fcheint, fo ſoll bief eine An- 
deutung barüber jeim, daß mir Hinter ber empirifchen 
Hülle einen geiftigen Sinn zu fuchen haben. In biejem 
Sinne fónnte man auf Gott felbft gewiſſe Täufhungen 
ober Illuſionen zurüdführen, ja die ganze itbijde Er: 
ſcheinung Chriſti felbft wird als eine Art von Täuſchung 
oder Simulation dargeftellt, da Chriſtus in ber Geftalt 
des fündhaften Fleiſches und des Knechtes erſchienen 
ſei. So vollzieht fid) nun fpielend Leicht ber Uebergang 
von. dem ſcheinbaren mendacium be8 Buchftabens zu 
mysterium des verborgenen göftfichen Gedanfens. Die 
Anmendung nun, melde Auguftin von biefer Theorie 
fpeciell auf Genef. 27 macht, ift vollberehtigt, wenn 
wir das dort Geſchehene ex parte Dei betradjten. Wir 
find berechtigt, bie weiſen und gerechten Fügungen 
Gottes anzuerkennen, auch wo uns die dazu eingefchla- 
genen Wege unverftändlich bleiben. An dem Rechte und 
ber Abſicht Gottes, auf Jakob bie Erftgeburtsrechte zu 
übertragen, ift ebenfomenig zu zweifeln, al8 an bem 
göttlichen Rechte, das Land Kanaan ben Jiraeliten ans 
zuweiſen, menn aud) beides für unfer menfchliches Auge 
nicht ohne Verlegung eines beftehenden menſchlichen 
Rechtes geichehen founte. Betrachten wir aber jene Vor— 


Sjatob und Efau. 181 


gie ex parte hominis, b. b. vom Gtanbpuntte ber 
dabei betbeiligten Perſonen, fo ift bie auguftiniihe (ὅτε 
lümmg völlig unzureichend, fie weicht bem Fragepuntt 
einfach aus, ber Frage nemlih nah bem fubjektiven 
Antheil der handelnden Perfonen am jenen Vorgängen, 
μὰ ihren fubjeftiven Abfihten, Thaten und Irrungen. 
Konnte Jakob fih wirklich in feinem Gewiſſen für be- 
πάρ! halten, fo wie er getban zu handeln, wenn bie 
Erzählung ber BL. Schrift buchſtäblich wahr it? Gott 
wollte nicht tüujden, fondern einen höheren Plan in 
Gfülung geben laſſen; bier erkennen wir ba8 myste- 
rum. Jakob aber wollte tüujdjen, fein ift das men- 
dacium. 

Erſt in zweiter Linie tritt jet bie Unterfuchung 
tin, ob denn überhaupt jede Unwahrbeit, aud) mit beab- 
fichtigter Täuſchung, für fündhaft erklärt werden Lönne, 
(8 könnte ja vielleicht die Handlungsweiſe unter jene 
Alte eingereiht merben, für melde man [eit bem D. 
€prpjoftontus ben Ausdrud οἰκονομία aufgebracht 
fat; unter leßterem nemlich verfteht man eine gewiſſe 
fuge Technik, ein berechnetes Maphalten und Zurüds 
halten im Dffenbaren und Verbergen der Wahrheit. 
Denn aud) weiſes Verbergen bet Wahrheit fónne, fo 
Wimmt man am, Tugend fein oder von ber Noth gefor⸗ 
dert werden. Kurz e8 find bie Fragen über Exlaubtheit 
der Rothrebe, der Dienftlüge, der Amphibolie und Mental: 
tefernation, Ablenkung ber Intention u. ſ. w., melde 
hier in Betracht kommen und durch deren weiſe Applica- 
tion e8 etma gelingen fónnte, einzelne ſittlich bedenkliche 
Handlungen von Sünde entweder ganz zu entſchuldigen 
oder fie wenigftens unter dem Geſichtspunkt ἐπὶ} dub. 

9" 


132 9g, 


baret Unmwiffenheit in milberem Lichte erſcheinen 
zu laſſen. Daß wir mur aber fpeciell auf Genef. 27 
davon feine Anwendung machen können, teil e8 am 
aller Vorausfegung eines Stotbftanbe8 oder eines wirk- 
lid) ber guten Gadje zu leiftenden Dienftes fehlt, haben 
wir ſchon oben angedeutet, wie toit überhaupt bieje 
Art von Kafuiftit für faum berechtigt halten. 

Am leijteften haben e8 fif mit ber in Frage 
ſtehenden Schwierigkeit diejenigen gemacht, melde nad 
bem Borgange des Petrus Sombarbus auf eine 
göttliche Jufpiration oder Eingebung (divinus instinctus) 
ecurrieren, toobutd) die Gedanken ber handelnden Per- 
fonen gelenkt und moburd ihnen mitgetheilt werde, es 
let eine fonft unerlaubte Handlung in diefem Falle bent 
göttlichen Willen entfpredyenb, folglich ſittlich gerecht- 
fertigt. Weber diefe Theorie erlaubt fidj Ref. auf fein 
Lehrbuch ber Moraltheologie €. 69 ff. zu verweifen. 

Gegenüber von folden Kunftmitteln der Kaſuiſtik 
vertritt bie Theorie be8 Suma Scotus unb feiner 
Nachfolger immer mod) beu Standpunkt ber geraberen 
umd gefunberen Moral. Scotus gibt einfad) zu, daß 
bie Perfonen des 9(. T. neben großen Tugenden aud) 
ihre Fehler gehabt, da fie ja aud) ein weniger voll- 
tommenes Gejeg und ein weniger reiches Maß von 
Gnade, als wir, gehabt haben; jene Tugenden joll man 
nachahmen, nicht aber ihre Fehler nachahmen ober fie 
bartnädig vertheidigen. Bei diefer Annahme läßt fij 
ben göttlichen Werken ber Charakter ber Wahrheit und 
Heiligleit bewahren, ohne daß wir im ben Menfchen, 
bie Gott zu feinen Werkzeugen wählt, vollendete fittlihe 
Vorbilder erbliden müßten, und ohne daß tir mit Bes 


Jakob und Efau. 133 


rufung auf bie leßteren Lift und Zweideutigkeit, Lüge 
und Simulation für erlaubt halten dürften. 

Aber e8 bleibt bod) noch etwas zurüd, was uns 
hindert, biefe Löfung als eine ganz befriedigende anzu= 
leben. Es entipricht entjdjiebem nicht bem Geifte des 
N. Sj. und der Art unb Weife, mie 4. 38. Paulus unb 
Syacobus von bem fittliden Verhalten der Frommen 
be 9f. S. reden, wenn man biefelben ganz in die Sphäre 
gemeinmenſchlicher Irrungen, Leidenſchaften oder Lafter 
herabdrückt. Der wahre Iſraelit muß doch ſittlich höher 
ſtehen als der Heide, und unter den Iſraeliten müſſen 
diejenigen ſittlich höher ſtehen als bie übrigen, zu wel⸗ 
den Gott in befonderer Weife fid) niederläßt, zu denen 
Er redet und bie Er zu Trägern höherer Myſterien 
madt. Es mag bie Ginrebe mohl im ihrem Werthe 
beftehen bleiben, daß Gott, indem Er Sünder zu feinen 
Berkzeugen erwählt, darin ein bejonbere8 Geheimniß 
der Erbarmung und Gnadenwahl habe niederlegen wollen. 
Aber e8 toibetftrebt und ebenfo, nad) gemeinmenſchlicher 
Beife uns den Crgoater Iſaak in einer fo entſcheidenden 
Angelegenheit wie einen thörichten Alten vorzuftellen, 
der ſich in kaum glaublicher Weife von Weiberlift 
dupieren läßt, als e8 uns ſchwer fällt, in ba8 erhabene 
Bild einer Patriarhenfamilie fole Züge von Hinterlift 
und gemeinem Betrug hineinzubenfen, tie man fie auf 
gewiſſer Seite mit Vorliebe aus bem bibliſchen Bericht 
herausliest. 

Wir möchten vielmehr ben Buchſtaben der h. Schrift 
vor einer fleifchlihen Auslegung, melde bem Abfichten 
der göttlihen Offenbarung nicht geredt wird, vetten, 
indem toit ihn zwar ftehen laffen, aber ihn nicht für 


134 9n, 


mehr nehmen, als er felbft fein will. Der biblijde 
Bericht ift niht barauf abgelegt, ein Sitten 
bild darzubieten. Merkwürdigerweife enthalten fid) 
bie a. tl. Schriftſteller faft durchweg in ihren hiſtoriſchen 
Mittheilungen ber ſittlichen Urtheile. Die Berichte find 
aufgenommen, nit damit etwa eine hervorragende 
Perſonlichkeit mad) ihren fittlichen Eigenſchaften in ein 
günftiges ober ungünftiges Licht gefegt werde, ſondern 
um als Momente in der Gefchichte des Reiches Gottes 
zu dienen, 3. 9. um zu zeigen, wie fid) an ein Familien 
ereigniß Folgen Tnüpften, welche in den Gang ber a. tl. 
Geſchichte bebeutungsvoll eingreifen und in ihrer Art 
providentiell gefügt worden find. 

Man bemerkte ferner an der Darftellung, befonders 
ber mofaifchen SBeridjte, bie harakteriftiihe Brevilo- 
quenz, eine Art von Lapibarftyl in den chronikartigen 
Erzählungen. In wenigen Verfen ift enthalten, was 
einem Dichter Stoff zu einem ganzen Drama ober Ro- 
man geben würde; mander Vers ber Genefis würde 
einem Homer für einen ganzen Gefang genügt haben. 
Für bie ΠΗ ὥς Beurtheilung mum aber eines Vorgangs 
wird befanntlih nicht nur die Kenntniß des objektiven 
Thasbeftandes erfordert, jonberu aud) der fubs 
jettiven Momente, melde dazu mitgewirkt, ber 
Motive und ber näheren Umftände; ohne genaue Kennt 
niß ber Legteren läuft man ja immer Gefahr, fij) vom 
äußeren Scheine tüujden zu laſſen und bielleit eine 
verwerfliche Handlung zu entſchuldigen oder eine berech⸗ 
tigte That gu mißdeuten. Gerade für bie Beurtheilung 
biejer fubjeftiben Momente aber verjagt uns ber bib. 
liſche Bericht bie Anhaltspunkte; bie furge, abgerifjene, 


Jakob unb Eau. 135 


ein objeftive Erzählung reicht hiefür widt aus. Der 
Buchftabe enthält nicht ble Elemente zur Geſchichte einer 
Familie oder eines Stammes, bie biblile Erzählung 
ἐᾷ nicht Gefdidte in bem auf gemeinmenſchliche Ver: 
haͤltniſſe anwendbaren Sinne bieje8 Wortes. Inſofern 
ſetzen wir allerdings ber τοῦ empirtfchen ober hiſtoriſchen 
Ausdeutung des Schrifttvortes eine andere entgegen, 
welche dem Geifte der b. Schrift beffer entſpricht, und 
die deßhalb aud) eine geiftige  (ϑϑωρία) heißen mag, 
wenn fie aud) nicht mit der fpirituellen Auslegung ber 
Megorifer zufammenfält. Unſere Anficht läßt fi) Kurz 
im fölgenden Sägen zufammenfaffen. 1) Die Vorgänge, 
welche in ber b. Schrift im rein objeftiver Kroniftifcher 
Weiſe berichtet worden, fünnem am dem gemeinen fitt- 
lichen Bewußtſein oder an unferer Auffaffung von gut 
und böfe nichts ändern; e8 liegt in ihnen nichts, was 
uns 3.99. anzunehmen berechtigte, e8 fei in einem Falle 
Rüge und Betrug geftattet worden und könne deßwegen 
allenfalls aud) unà geftattet fein. 2). Weber Die fub- 
jeltive Berechtigung ber betheiligten Perfonen gu der 
ihnen zugefchriebenen Handlungsweife, über Schuld unb 
Sünde, Täßt fid) ein abichließendes Wrtheil nit aus: 
ſprechen, da bie Schrift felbft ung nicht bie erfotber- 
lichen Anhaltspunkte bietet. Es bleibt immer ber jube 
jectiven Betrahtungsmeife anheimgeftellt, mie man fid) 
etwa den Geſammtcharalter eines Abraham, Gau, Jakob, 
Moſes, Aaron u. A. conftruiren werde. Selbſt bezüg⸗ 
lich ſolcher Männer, über melde bie a. tL. Geſchichte 
viel reichlichere Mittheilungen und poſitive fittliche tr: 
theile enthält, wie über David ober Salomon, bleibt 
das Geſammtcharalterbild ein unſicheres iub fubjektives. 


136 Sides, 


Bir find darum gerade auf dem Standpunkt einer 
wiſſenſchaftlich theologiihen Cregeje burdjaus nicht ges 
nöthigt, an dem fittlidjen Charakter der in die Djfen- 
barungsgeſchichte hereinragenden Perfonen Anſtoß zu 
nehmen, ober gar biejelbem als Typen einer ſchwer zu 
fibermimbenben fittlihen Rohheit oder einer perfiden 
Politik aufgufaffen. Man muß nur nicht fei denken 
von Dingen, in melden fid etwas von güttlidjer Weis- 
heit und Güte ab[piegelt. 

Wir glauben mit biejem Bemerkungen in voller 
Uebereinftimmung mit bem bochgeehrten Verfaſſer zu 
ftehen; das Schriften ſchien und einer einläßlichen 
Berüdfihtigung werth zu fein. 

Linfenmann. 


2. 


Handbuch ber theologiſchen Wiſſenſchaften in enchlopädifcher 
Darftellung mit befonderer Rüdficht auf bie Entwicklungs⸗ 
geſchichte ber einzelnen Disciplinen in Verbindung mit 
Prof. DD. Cremer, Grau, Harnad, Kübel, Luthardt, 
v. Schiele, ὅτ. 38. Schuld, 9. Schulze, Strad, Bold, 
v. Bezihwig, Plath, Schäfer u. a., herausgegeben von 
Dr. Otte Zödler, o. Prof. b. Theol. in Greifswald 
Nördlingen, Bed. 1882. 1. Halbband 288 S. M. 5, 50- 


Zwei Erwägungen haben bem Berfafler den Plan 
zu dem „Handbuch ber theologifchen Wiſſenſchaften“ 
eingegeben. Einmal [εἰ bie theologifhe Wiſſenſchaft, 
melde feit mehr als zwei Menfcpenaltern bie Begrün- 
dung und Ergründung ber diftfidem und evangelifchen 
Wahrheit vertiefte und erweiterte, wenn aud) mod) nicht 


Sanbbud) ber theol. Wiſſenſchaften. 137 


an ihrem befinitiven Abſchluß, fo bod an einem Stube- 
und Cüttigungspunft angelangt. Hinter bem praktifch- 
kirchlichen Intereſſe ftebe heutigen Tags das tien: 
ſchaftlich⸗theologiſche zurück. Der gegenwärtige Zeitpunkt 
fei aber gerade deßhalb vielleicht ein geeigneter, „um bie 
Refultate der wiſſenſchaftlichen Arbeit, bie hinter uns 
liegt, einmal in wmfaffenber unb erihöpfender Weife zu 
Duden und damit zu ihrer Sicherftellung beizutragen.“ 
Dazu komme zweitens, daß e8 dem in ber Paftoration 
draußen ftehenden Theologen immer ſchwerer werde, das 
toiffenfchaftliche Material, welches bie gläubige Theologie 
während zweier Menfchenalter zufammengetragen und 
aufgeftapelt Dat, zu bewältigen. Ueberdies erichwere 
die immer zunehmende Spezialifirung der Wiſſenſchaft 
aud) für den burdjgebilbeten Theologen die Gewinnung 
einer Gejammtüberfiht und Lege ibm bie Gefahr eines 
Sichverlierens in unfruchtbare Gelefrjamteit naf. Das 
Handbuch fol demgemäß den ,Steinertrag" der großen 
Arbeit ber teologijdjen Wiſſenſchaft ber erſten beiden 
Drittel unferes Jahrhunderts für Kirche und Leben feft- 
fielen, andererjeit3 aber dem Stubirenden und fanbi- 
daten, dem vielbeſchäftigten Geiftlihen, bem forſchenden 
Theologen bie Möglichkeit einer zuverläffigen, fachges 
Vehrten Drientirung im Gejammtbereid) der theologifchen 
Wiſſenſchaft verfhaffen. Seine Aufgabe befteht darin, 
„auf: bem Grund der geſchichtlichen Cntmidlung ber 
einzelnen theologiſchen Wiſſenſchaften eine Geſammt⸗ 
darſtellung der Theologie nach ihrem dermaligen Stande 
aufzubauen; melde — wenn aud) in gebrängterer Faf- 
fung — bod) alles Wefentliche erfhöpfen und bem Lefer 


138 ttes, 


für alle bebeutenderen Punkte eine fefte Directive in 
die Hand geben foll". 

Das Werk foll in 6 Halbbänden erfcheinen. Der 
1. Band enthält bie Grunblegung und Schrift: Theologie, 
der 2. die kirchenhiſtoriſche und dogmatifhe Theologie, 
ber 3. Band die Ethik und praktiſche Theologie. Das 
ganze Werk fol in diefem und dem nächſten Jahre 
volftändig ericheinen. 

Der vorliegende 1. Halbband enthält das theolo- 
giſche Wiffensganze in feiner Hiftorifhen Entwidlung 
und organiſchen Gliederung von Dr. Zödler und bie 
Lehre vom Alten Teftament (Einleitung ins 9L 7, 
Archäologie, Geſchichte unb Theologie des 9L. T.), dar⸗ 
geftellt von Dr. Germ. 2. Strad, a. o. Prof. ber Theol. 
in Berlin, und Dr. ὅτ. 58. Schultz, o. Prof. der Theol 
in Breslau. Der wichtigſte Theil ift der erfte, weil er 
vollen Aufſchluß gibt über den Standpunkt der Ber- 
faffer und bie leitenden Grundfäge bes ganzen Unter 
nehmens. Der Name Zöckler's ijt eigentlid) ſchon ein 
Programm. Denn er hat e8 tie wenige verftanden, 
den gläubigen Standpunkt mit ben ftrengen Forderungen 
ber fortgefchrittenen Wiſſenſchaft zu vereinigen, bie alte 
Wahrheit im Lichte der modernen Wiſſenſchaft leudjten 
zu laffen und das Gefammtgebiet der theologifchen 
Wiſſenſchaften bis zu ben äußerften Hilfswiſſenſchaften 
zu beherrſchen. Er hat and) niemals einen Hehl daraus 
gemacht, daß er auf bem orthodoren, ſymboliſch⸗luthe⸗ 
riſchen Standpunft ftebt. Darnach ift das Qanbbud) in 
der Hauptfadhe als eine Gejammtbarftellung ber Theo: 
logie im Lichte des lutheriſchen Glaubens zu betrachten. 
Diefer Charakter tritt um fo ſtärker hervor, als e8 fid) 


Handbuch der theol. Wiffenfchaften. 139 


nicht um eine Cncpfíopübie nach Art der von Herzog 
oder Weger und Welte, beziehungsweife Kaulen handelt, 
fondern um ein von bemfelben Geift getragenes Werk, 
welches bem ganzen Organismus der Theologie metbo- 
diſch behandelt. Wie demgemäß bie Beuriheilung ber 
tatholifhen Lehre und Theologie größtentheils ausfallen 
muß, braudt faum bemerkt zu werden. Zöckler hat 
eine beſſere Kenntniß ber katholiſchen Theologie ala bie 
meiften feiner Glaubensgenoſſen. Er gibt fid) au Mühe, 
ba und dort bie guten Leiftungen anzuerkennen, aber 
prinzipiell muß er fid gegen bie katholiſche Theologie 
errem, wenn ber coufejfionelle Charakter zur Sprache 
kommt. 

Nur in ihrer Beſtimmtheit als evangeliſche 
leiſtet die Theologie das (hier) Geforderte. Das nor⸗ 
male Verhältniß zwiſchen h. Schrift und kirchlicher 
Tradition beſteht nur für ſie. Der Katholicismus hat 
eine ſchädliche Entzweiung zwiſchen Schrift und Trabi 
tion einteißen laſſen, fraft deren bie legtere mehr unb 
mehr in einen Zuftand des Wildwachſens und der 
Emanzipation von den gottverorbneten bibliſchen Nor—⸗ 
men geraten ift. Doch ift Zödler aud) nicht blind 
gegen bie Ertravaganzen auf proteftantijder Seite und 
zeigt wenigftens ein veblidje8 Streben, ein richtiges Ver⸗ 
fünbniB vom Katholicismus zu erlangen. „Wo bie 
Forderung der Evangelizität mit Einfeitigfeit betont 
wird, unter gänzliher Verdrängung und Berpönung 
aller Katholizität, da reſultirt jener nur negative Prote⸗ 
Rantismus, bem der Vorwurf fauatijder Intoleranz 
und Erflufioität ebenfomwohl gebührt, wie bem ſchroffen 
evaugeliumfeindlichen Katholizismus oder Ultramontanis⸗ 


140 Bitter, 


mus“, „Die echte evangeliſche Theologie wird in ent- 
fptedjenber Weife bie Beftimmtheit ihres Glaubenaftanb- 
punktes mit meitherziger Milde und Beurtheilung der 
nihtzevangelifhen Erſcheinungsformen des Chriſtenthums 
paaren müffeu. Wie fie e8 an römiſchen Theologen zu 
tadeln berechtigt ift, menn fie jedes verftänbnißvolle 
Eingehen auf evangeliſch-kirchliche Anſchauungen und 
Beftrebungen hartnädig verweigern, ebenfo wird aud) 
fie ihrerfeitö ein möglichſt eindringendes unb umfaffen- 
be8 Verftändniß der römiſch-kirchlichen Lebensformen 
fid verfhaffen müfjen. Luthern und ben übrigen 9te- 
formatoren gemeine egoiftifhe oder unfittliche Motive 
unterlegen, der Reformation alle Greuel der Revolution 
und alle Verirrungen be8 modernen Unglaubens ins 
Schuldregiſter ſchreiben, ift gemiß ein Uebel; aber nidt 
minder tadelnswerth ift e8, vom Standpunkte eines 
krankhaft überreigten Proteftantismus aus mur Ver 
merfliches und Häßlihes im katholiſchen firdjentbum 
erbliden zu wollen unb zumal gegenüber ben vielen 
herrlichen Erſcheinungen des mittelalterlihen Katholizis- 
muß, fotoie den mandherlei edlen Beftrebungen und tüdj- 
tigen Leiftungen einzelner fatfolijder Theologen und 
Laien ber Gegenwart, aus ber Tampfbereiten Stellung 
des Borghefiichen Fechters nicht heraustreten zu fónnen." 
(S. 11 f) 

Es ift eben ſchwer, ben eigenen Menfchen, der burd) 
Erziehung und Bildung ein beftimmtes Gepräge erhalten 
bat, auszuziehen oder aud) nur zu mobificiren, e8 ift 
befonders ſchwer, wenn bie veligidfe Weberzeugung ind 
Mitleiden gezogen wird. Ich will nicht unterfuchen, wie 
viel hierin durch abfichtliche Pflege und Förderung hand» 


Handbuch der theol. Wiffenfchaften. 141 


greiflicher Vorurtheile gefündigt wird, obwohl mir viele 
Beifpiele bekannt find, aber vom größeren ober gerin= 
geren Grade abgefehen wird e im Weſentlichen leider 
immer fo bleiben. Der Verf. befennt fid) mit Recht 
ganz offen zu ber Anfiht, daß an eine Aufhebung bet 
die einzelnen proteftantifchen Bekenntniſſe trennenden 
Schranken nicht zu denken ift. „Ja, e8 muß bie Mei- 
nung, als ob jemals eine Rückkehr zu diefen früheren 
Ginpeit&- und Einfachheitszuftänden möglih werben 
würde, überhaupt αἵδ᾽ ein unpraktifcher Wahn vermorfeu 
werden“. An eine Union zwiſchen fatbolifen und Pro— 
teftanten ift ohnehin nicht zu denken. Die diesbezüg- 
liden Beftrebungen des Altkatholicismus find faum ber 
Erwähnung wert. Diejenigen Katholiten, melde ben 
deutſchen Proteftantismus wegen ber negativen Theo- 
logie, be8 crafjen Unglaubens und be8 meitverbreiteten 
Indifferentismus demnächſt zu den Todten legen tollen, 
täufchen fid) ebenjo febr als ber Philoſoph des Unbe— 
wußten mit feiner gerfegung be8 Chriſtenthums. Die 
confeffionellen Gegenfäe bleiben beftehen, jo weit menſch⸗ 
liches Urtheil überhaupt gelten Tann, und die Aufgabe 
der wahren Gbriften Tann mur bie gemeinfame Arbeit 
gegen den Unglauben fein. Dan follte fid) gegenfeitig 
vertragen und ben Feinden nicht das Schaufpiel des 
Kampfes unter gläubigen Chriften bieten. 

Ein näheres SBerftünbniB ift bloß auf hiſtoriſchem 
Wege müglij. Die Gefdidte muß ben beften Beweis 
erbringen können, wenn e8 fid) um Qyuftitutionen handelt, 
welche mit der Stiftung be8 Chriſtenthums zufammen- 
hängen. Ich billige es deßhalb burdjaus, daß bie Verff. 
des fanbbud ber hiftoriihen Entwidlung große Aufs 


142 8 αϊεν, . 


mertjamfeit geſchenkt haben. Für bie Eregefe 3. 88. ift 
dies um fo nothwenbiger, al8 man bei der Lectüre protes 
ftantifcher Arbeiten Häufig zu der Vermuthung fommen 
önnte, als ob bie Cregele erſt mit ber Reformation 
begonnen abe. Einen Fehler hat H. 3. bier aud 
nit vermieden. Er ftellt bei ber Beurteilung ber 
proteftantiihen Exegeſe das proteftantiihe Material: 
prinzip viel zu ftark in bem Vordergrund. Wohl haben 
freilich diefe Arbeiten baburd) an Einheit unb Gonje- 
quen gewonnen, aber nicht ebenfo an Objectivität. Man 
darf ja zu dem Ende nur an bie Geſchichte des Jakobus⸗ 
briefes bis in die neuefte Seit herein erinnern, um bie 
Voreingenommenheit vieler proteflantijder Eregeten zu 
eonftatiren. Die mittelalterlihen Exegeten tagire ἰῷ 
gerade aud) nicht zu θοῷ. Sie haben bie leidige Ge- 
mohnheit gehabt, das mas fie von ben Vätern, von 
melden fie größtentheils lebten, entlehnten, in bie fdo- 
laſtiſche Zwangsjacke zu fteden. Aber Maldonat, ber 
ältere Janfen, Solet, Lucas Brugenfis u. A. dürfen fid) 
ganz wohl neben ben anderen zeigen. Wenn Maldonat 
ben Eontroverjen einen großen Raum geftattete, fo war 
er durch bie damalige proteftantiihe Cregefe, melde 
offenfin vorgieng, hinlänglich berechtigt. R. Simon mag 
manchmal in feinem Urtheil zu ftreng fein, aber er hat 
bod) bie Methode gut gekennzeichnet, welche gerade das 
Materialprinzip der alten proteftantijden Gregeje vor- 
geſchrieben hat. 

Die Geſchichte felbft verdient eine befondere Berüd- 
ſichtigung. Ih bin mit bem Verfaſſer ganz einver- 
ftanden, menn er bie Kirchengefchichte mit der biblifchen 
Wiſſenſchaft boranftellt. Wenn dies bei den katholiſchen 


Handbuch ber theol. Wiſſenſchaften. 148 


Methobilern. nicht [o entſchieden hervortritt, fo liegt ber 
Grund jedenfalls nicht in der Vernadläffigung der 
Kirchengeſchichte. An Diefiger katholiſcher Facultät be 
flebt feit einem halben Säculum die Cinridjtung, daß 
mad) den philofophifhen Vorftudien mit der Cregeje und 
firdjengeld)idote begonnen wird. Die Dogmatik und das 
Kirchenrecht treten erft im dritten Studienjahr ein, wäh- 
rend die Moral und bie praftifhe Theologie dem 4. 
Eurfus refervirt find. In der Behandlung der Kirchen: 
geſchichte ift freili auf beiden Seiten aud) nit alles 
zu loben. Haben fid) Tatholiihe Polemiker vom Eifer 
oft zu weit Dinreifem laſſen, jo leidet das Werk des 
Flacius, die Magdeburger Genturien, jedenfalls aud) 
mod) an Anderem als an feiner „Formloſigkeit“. Eine 
halbwegs objective Geſchichte über die Reformation war 
vor ber Publication der zahlreihen Quellen gar nicht 
möglid. Die Quellen bieten aber ein wenig ſchmeichel⸗ 
fafte8 Bild von ber Moral und Politit im Lager bet 
lutheriſchen Fürften und ihrer geiftlichen Helfer. Das 
neben ift die aud) hier wieder vorgeführte Jefuitenmoral 
mit ihrem Probabilismus und ihrer Cafuiftif ein un: 
ſchuldiges Ding. 

Ueber die eregetifche Theologie bemerfe id) nur, daß 
bie Verff. fid große Mühe gegeben haben, ihre Dar- 
ſtellung auf dem Standpunkte der neueften Wiſſenſchaft 
zu halten. Sie haben bie meueften Hypotheſen über 
das 9. T. durchgehends berüdfichtigt, aber freilich bie 
Sectüre einigermaßen erſchwert. Dies gilt namentlich 
von ber Einleitung, welche einen ziemlich eingemeihten 
Leſer vorausfegt. Die anderen Theile dagegen leſen 
fij leicht und angenehm. Die Fatholifche Literatur ijt 


144 Mäler, 


wenigſtens theilmeife verzeichnet. Zur SJtalaliteratur 
vermißte ἰῷ Dit, ber in Fledeifens Jahrbücher gegen 
Biegler geſchrieben hat, zur Bulgataliteratur wäre neben 
Kaulens Handbuch der SSulgata deſſen Gejdidte ber 
Bulgata zu erwähnen geweſen. €. 188 hätte der Gober 
Teplenfis genannt merben follen. 
5 Shanz 


3. 


1) Göttliches SBiffen und göttliche Macht bes Johanneiſchen 
Chriſtus. Ein Beitrag zur Löfung ber Johanneifchen 
Frage. Won Dr. theol. Karl Müller, Gymnafial«, Reli- 
gion$- unb Oberlehrer in Breslau. Freiburg. Herder. 
1882. 143 ©. 

2) Kurzgefaßter Gommentat zu den Bier heiligen Enangelien. 
Von Dr. Sram; X. Plögl, o. b. Prof. der Theologie 
an ber f. k. Univerfität zu Graz. Im bier Bänden. 
Dritter Band. Grjter Theil. Kurzgefaßter Commentar 
zum Evangelium des 5. Johannes mit Ausſchluß ber 
Leidensgeſchichte. Graz. Styria. 1882. XLIX u. 228 ©. 
M. 3,20. 

3) Die Entftehung ber Apotalypſe. Ein Beitrag zur Ger 
ſchichte des Urchriſtenthums bon Dr. phil. Daniel Bölter, 
Repetent am evangeliſch⸗theologiſchen Seminar in Tü- 
Bingen. $reiburg und Tübingen 1882. Mohr (88. Sie 
bed). 72 €. M. 2. 

Die Johanneiſche Frage ift wie bie parallele ſynop⸗ 
tiſche Frage eine Frage ohne Ende. Schon bie Art wie 
fie aufgeworfen wurde beweist, daß e8 fid in legtet 
Inſtanz um philofophifhe und dogmatiſche Gegenfäge 


Johanneiſcher Chriſtus. 146 


handelt, welche in das Urchriſtenthum zurückverſetzt wer⸗ 
den und ben hiſtoriſchen Unterſuchungen vielfach präfu- 
biciren. Andererſeits ift aber zuzugeben, daß namentlich 
die Behandlung Baur’3 zur hiſtoriſchen Auffaſſung der 
Evangelien viel beigetragen hat. Man wird heutzutage 
Tein Evangelium, aud) ba8 be8 Johannes nicht, befrie- 
bigend zu erflären im Stande fein, wenn man nicht 
bie hiſtoriſchen Vorausfegungen einer genauen Unter: 
ſuchung unterzieht. Diefe wird bann von felbft dazu 
beitragen, bie eigenthümlichen, tief einfchneidenden Diffe- 
renzen be8 4. Evangeliums zu den ſynoptiſchen Evan- 
gelien, begreiflih, ja nothwendig erſcheinen zu laffeu. 
Es if hierin aud) in neuerer eit fo viel gearbeitet 
worden, daß man wohl bie Diftorije Frage bei den 
gegenwärtig zu Gebot ftehenden Hilfsmitteln für bei 
nahe erihöpft betrachten muß. Die Arbeiten von Gobet 
und Luthardt einerjeits, von Weizfäder und Beyihlag 
andererfeit3 verfolgen bie Frage bis zu ihren äußerften 
Gonjequengen. Katholiſcherſeits ift freilich feit Hug und 
Maier nichts Bebeutendes mehr in biefer Frage geleiftet 
worden. Der neuefte Commentar zum Evangelium von 
Haneberg-Schegg fonnte ſchon wegen be8 befannten 
„katechetiſchen“ Standpunktes die hiſtoriſch⸗kritiſchen Fra⸗ 
gen nicht weſentlich fördern. In der Erklärung wird 
man aber Haneberg nicht Unrecht thun, wenn man ſagt, 
daß er durchaus auf altem Boden ſtehen geblieben iſt. 
Manchmal glaubt man gar, Tolet ſpreche zu uns. Der 
Herausgeber konnte daher unmöglich einen ganz be— 
friedigenden Commentar daraus machen, ſo hoch auch 
ſeine Mühewaltung anzuſchlagen iſt. Es bleibt alſo für 
Theol. Quarialichrift. 1888. Heft I. 10 


ἀπὸ Niler, Johanneiſcher Chriſtus. 


katholiſche Theologen in dieſer Frage noch win ziemliches 
Arbeitsfeld übrig. 

1) δ. Müller gibt [don im Titel feines Buches 
ben Zweck und Inhalt defielben ziemlich vollftändig an. 
€x behandelt im erften, mehr worbereitenden Theil beu 
geſchichtlichen Charakter des Johannesev., feine Gegner 
und Vertheidiger. Im zweiten Theil wird das göttliche 
Wiſſen und die göttliche Macht des Johanneiſchen Ehriftus 
an ber Hand der einſchlägigen Stellen und Grgüblunpen 
des Evangeliums und unter forimährender polemifcher 
Berüdfihtigung der Gegner und halben Bertheidiger 
nachgewieſen. (8 ift alfo nur etu Theil ber Johannoiſchen 
Frage, ipeciell bie innere fiti, melde ber Verf. ber 
handelt. Er fucht nachzuweiſen, daß die Zuvückführung 
ber ebangelijden Erzählungen auf eine Idee, welche im 
Prolog ausgeſprochen fei, unftatthaft fei. Dies thut ες 
mit vielem Geſchick und großer Gelehrſamkeit, obwohl 
er meines Erachtens in der Vertheidigung zu meit ‘geht. 
Beat faft er den Prolog nicht ‚gang hiſtoriſch, weil es 
unmöglich ijt, aber bod) urgirt er den biftoriihen Cha- 
after zu ſtark. Wenn er ſchon V. 5 nicht bloß über 
haupt hiſtoriſch, fondern aud) Kriftlich deutet, wenn er 
bie vorhergehenden ἦν in biejem Sinne premirt und ben 
Evangeliſten Thatſachen eigener Erfahrung und Erinnes 
rung mit metapbpfifchen Debuctionen verflechten läßt, 
fo läßt fid) dies bei bem Gegenja, die Geſchichte in 
bet bee aufgehen zu laſſen, begreifen, aber eine be- 
friedigende ‚Einfiht in den Prolog des Johannes wird 
man baburd) nicht erlangen. Dazu wird man .gegen 
Baur und feine Schule genau auf die Diftorijie Situa- 
tion der Schrift einzugehen haben. Beſſer ift was über 


Böll, Connnentar zum Johanuaden. 447 


bie Johanueiſchen Wunderberichte gefagt mirb. Diefelhen 
werben genau analyfirt und gegen die vorgebliden Un⸗ 
wahrſcheinlichkeiten, Widerſprüche, mythologiſchen Bil- 
dungen u. X. vertheidigt. Daß fie im Organismus bes 
Evangeliums παῷ 20, 30. 31 einen weſentlichen Factor 
bilden, kann füglid) nicht beftritten werden. Nur muß 
auch 12, 37 ff. genau berüdfictigt werben, um die 
Tendenz be8 Evangeliften zu erkennen. Daraus mirb 
dann aud) klar, warum Johannes ftatt ber ſynoptiſchen 
Todtenerwedungen die des Lazarus aufgenommen bat. 
Ein Recurd auf bie geringere Schulung der Synoptiker 
als Biographen ſcheint mir weniger am Plate zu fein, 
wenn bod) ber Hauptgrund „in ber wejentlich verfchiedenen 
Anlage und Defonomie ber Euangelien zu ſuchen“ ift 
(6. 138). Barum das Moment ber Steigerung in der 
Auferwedung des Lazarus beftritten werden fol, kann 
wur aus dem Gegenjag zu Baur erklaͤrt werden. Denn 
daß Johannes nicht bloß bei diefem Wunder, fondern 
bei feinen SBunberberidjten üherhaupt bieje8 Moment 
berüdfidtigt hat, ift eine Thatſache, welche bei der Auf- 
fafjung des Evangeliums wohl im Auge behalten met. 
den muß. 

2) Der erfte Band dieſes Evangelicommentars wurde 
1880 €. 658 ff. angezeigt. Der zweite, dad Marcus: 
und Lucasev. umfaflende Band flet nod) im Stüdftanbe, 
weil der Verf. ε mit Rüdfiht auf die SBebür[nifje ber 
Theologie-Studirenden für angezeigt gehalten hat, zuvor 
das Zohannesevangelium zu commentiren. Der vor- 
liegende erfte Theil enthält neben einer verhältnißmäßig 
langen Einleitung die fieben erften Kapitel des Evans 
geliums. Nad bem Zwecke feiner Arbeit mar e8 nicht 


10* 


148 Böll, Commentar zum Johannedeb. 


feine Aufgabe, „neue Refultate der Bibelforfhung zu 
Tage zu fördern“, fondern nur „die fiheren Ergebniſſe 
der Schriftforſchung zu acceptitem, zu erläutern und zu 
begründen”. Doc joll der Gommentar „Leine einfache 
Ercerpirung und LZufammenftelung von Erklärungen 
anderer Cregeten fein. Vielmehr vindicirt er feiner 
Arbeit „mit vollem Bewußtſein jenen Grad von Gelb. 
fändigfeit, wie er Schriften von diefem Umfange unb 
Zwecke überhaupt eigen ἐπ". Legteres [oll wohl bie 
Antwort fein auf einen Angriff gegen bie Selbftändigfeit 
bes Verf. im erften Band, ben bie Z/beologijde Literatur- 
zeitung gemacht hat. Ob e8 in biefem Falle nicht beſſer 
gewefen wäre, die Stellung zum Meyer'ſchen Commentar 
überhaupt klar zu machen, will id) dahingeſtellt fein 
laſſen, aber wenn katholiſche Eregeten jo häufig Meyer’ 
Gommentate benüßen, fo follten fie ihre Selbftändigfeit 
in einem Hauptoorzug berfelben befunden. Meyer ijt 
fid in der Auffaffung und Methode vom Anfang an bis 
zum Schluß glei und liefert, wie man feinen Stand- 
punkt fonft beurtheilen mag, etwas Driginelles und 
Einheitliches. Die katholiſchen Eregeten müſſen aljo 
darnach fireben, daß fie nidjt mur Kapitel für Kapitel 
erklären, fondern dem Ganzen den eigenthümlichen Cha— 
rakter aufprägen und daburd bie eigene Gebanfenaxbeit 
zeigen. Andernfalls bleibt man bei einer mehr ober 
weniger guten Reproduction und Zufammenftellung des 
Alten. Diefe Anforderung ift aber m. Er. aud an 
einen furggefaBten Commentar zu ftellen. Auch bet 
Studirende faun nur auf diefe Weife in den Geift einer 
Schrift eingeführt werden. Deßhalb hätte id) gewünſcht, 
baf der Verf. bie einleitenden Fragen über das Vers 


Volter, Apotalypſe. 149 


hältniß zu den ſynoptiſchen Evangelien, ben geſchichtlichen 
Charakter des Johannesev., bie Echtheit, die Gegner 
ber Echtheit mehr vere und zum Theil zuſammengear—⸗ 
beitet unb bem für bie eigene Auffaſſung entſcheidenden 
8 über Beranlaffung und Zwed eine größte Ausdehnung 
gegeben hätte. Die Eintheilung des Prologs V. 1. 2, 
3—13, 14—18 ift unzutreffend und zwar um jo mehr, 
wenn der Zufammenhang zwiſchen dem Prolog und ber 
evangelijden Gefchichte ein febr enger if 5, 1 ent 
ſcheidet fid) der Verf. für das Paſſafeſt. Im Uebrigen 
bat fid) der SSerfaffer febr häufig an Maldonat und a 
Lapide angefchloffen und zwar mitunter fo eng, daß er 
bie patriftifhen Irrthümer berjelben reprobucirt; 4. B. 
4, 27 ben 5. Eyprianus citirt, obwohl die Schrift de 
singul. clericorum ſchon von ben Maurinern al unter- 
ſchobene bezeichnet wurde. Den beiten älteren Gom 
mentar von Tolet jdjeint ev nicht zu Nathe gezogen zu 
haben. Die Erklärung ift mehr periphraſtiſch als ftreng 
philologiſch⸗ δἰ ποτῷ, genügt aber bem  vorgefegten 
Sed, [αἴ man überhaupt den Stubirenden mur den 
weſentlichen Inhalt, nicht aud) die harakteriftiihe Form 
vorführen mil. Dies dürfte gegenwärtig bie Anficht 
vieler Fatholifhen Theologen fein, toelde vor fireng 
wiſſenſchaftlicher Cregefe einen gewiſſen Horror haben. 
Als einen gefunden Zuftand fünnen wir biefen aber 
gewiß nicht bezeichnen. 

3) Nicht den geringften Einwand gegen die Johannei- 
ſche Auffaffung des vierten Evangeliums bietet bie Apo- 
talypfe dar. Denn ifr ſprachlicher Charakter wurde ja 
ſchon von Dionyfius von Merandrien in ſchroffen Gegen- 
fag zu dem Evangelium gefet und die kritiſche Schule 


150 Bölter, 


bat nur eine andere Gonfequenz gezogen, indem fie 
gerade in ber Apokalypſe den echten Donnerzfohn er- 
kannte. Sie ift im Ganzen darin einig, daß nur bie 
Apofalypfe vont Apoftel Johannes herrührt umb vor 
bem 3. 70 verfaßt ij. Die Bweifel an der Einheit 
der Schrift haben zwar auch nicht ganz gefehlt, aber fie 
waren vereinzelt und haben wenig Zuftimmung erhalten. 
Dagegen unternimmt e8 mun ei junger Gelehrter 
nachzuweiſen, daß die Apofalypfe nichts meniger als 
eine einheitlihe Schrift fei. Diefelbe habe vielmehr 
folgende verfchiedene Beftandtheile: 1) Die Urapofalypie 
des Presbyters Johannes aus bem J. 6b ober 66: 
1, 4—6. 9. 4, 1-5, 10. 6, 1—17. 7, 1-8; c. 8. 9. 
11, 14—19. 14, 1—3. 6. 7. 18, 1-20. 19, 1—4 
14, 14—20. 19, 5—10, 2) Die im 3. 68 entftandene 
Weisſagung deſſelben Berfaflers: c. 10. 11, 1—18. 
c. 17. 18, 21—24, 3) Die erfte größere Einfchaltung 
unter Antoninus Pius zwilchen 140—150: 11, 15. 18. 
e. 12. 13. 14, 9—12. c. 15. 16. 17, 1. 19, 11—21, 8. 
4) Die zweite fleinere  Cinjjaltung unter Antoninus 
Pius um 150: 1, 7. 8. 5, 11—14. 6, 16. 7, 9—17. 
14, 1.4. 5. 21, 9-22, 5. 6. 8—11. 14. 15. 5) Die 
legte Einfhaltung unter Marc Aurel um 170: 1, 1—3. 
1, 10—3, 22. 5, 6. 14, 18. 16, 15. 19, 10, 22, 7. 12. 
18. 16—21. 

Die Gründe für diefe gründliche Zerſchneidung des 
großartigen, aber febr ſchwer verſtändlichen Wertes find 
theils bogmatijder, theils und vorwiegend hiſtoriſcher 
Natur. Die erfteren tarire id ganz gering. Denn weder 
bie Anlehnung ber Vorftellungen von Gott und Chriftus 
an bie altteftamentligen Bilder und Begriffe in ber 





Apolalypfe. 161 


ujptüsgltden Apodalypfe, uod) die Auffafſung der Perſon 
SHrifte als einer durchweg menſchlich⸗hiſtoriſchen, nod) 
hie monarchiauiſche Chriſtologie in vorgeblich ſpäteren 
Theilen iſt in einer apokalyptiſchen Schrift von Bedeu— 
tung. Die Ausdrücke find derartig, daß fie unſchwer 
mit denen in den andern Theilen in Lebereinftimmung 
gebracht werden Tonnen. Ein Wechſel hierin ift aber 
duch den häufigen Scenenwechlel im ganzen Buch Teicht 
erklärlich. Mehr Beweiskraft haben allerdings bie hilto- 
riſchen Gründe. Man wird wohl nie dazu gelangen, 
eine ganz befriedigende Erklärung für diefe Punkte zu 
geben. Der beutlidjjte Beweis dafür if bie Zuflucht 
nenerer Gregeten zur endgefchichtlichen Erklärung. Sollen 
die Verfolgungen, Martyrien, häretiſchen Erſcheinungen 
u. A. vom zeitgeſchichtlichen Standpunkte aus erklärt 
werden, ſo reicht die Neroniſche Verfolgung nicht aus. 
Anders ift es aber ſchon wenn man bis zum Ende bes 
1. Jahrhunderts herabgeht und, was die Schrift abfolut 
verlangt, bem prophetiichen Charakter nicht außer Acht 
läßt. Wie aber aud) die Erklärung hierüber ausfallen 
mag, fo ift e8 bod) hiſtoriſch unmöglich, bie legte 9te- 
daction [o tief ins 2. Jahrhundert herab zu verlegen. 
Die Apokalypfe ift [o gut als irgend eine fanonijde 
Schrift bezeugt, denn bie fpäteren Zweifel find bog. 
matijdew Urfprungs amd das Verhalten des Eufebius 
beweist nieht, daß er für fie Feine genügende Bezeugung 
vorfand, jondern daß er zu wenig hiftoriihe Daten gegen 
fie zur Hand hatte. Anders wäre ihre Stellung unter 
den ὁμολογούμενα und νόϑα gar nicht begreiflih. Sie 
hätte unter ben ἀντιλεγόμενα ihren Platz finden müſſen. 
Für bie erfte Stelle ſpricht die Bezeugung, für bie 


152 Bölter, Apolalypſe. 


zweite bie Neigung be8 Cujebius. Als eine Mißachtung 
aller hiſtoriſchen Beweisführung muß id e8 aber be- 
zeichnen, wenn ber Verf. e8 plaufibel madjen will, daß 
bie legte Einfhaltung ber Apofalypfe dem Juſtin um 
160 und den Gemeinden von Lyon unb Vienne in dem 
vieleicht von Jrenäus verfaßten Schreiben an bie Ge- 
meinden Afiens und Phrygiens um 177 nod) unbekannt 
war, aber bem Irenäus bei der Abfaſſung feines Haupt: 
werks vorlag, jo daß bie Apofalypfe in ihrer heutigen 
Geftalt ber gallifchen Kirche um 180 befaunt wurde. 
Denn bie Zumuthung, baf fid) Irenäus innerhalb eines 
halben Dezenniums unvermerft eine fo weſentlich ver⸗ 
änderte famonijdje Schrift habe in bie Hände fpielen 
lafen, ift fo flarf, daß jedes Wort darüber zu viel 
wäre. Es ift gewiß eine naive Beweisführung, wenn 
ber Verf. meint, fo große Einſchaltungen ſeien möglich 
gewefen, ba bie Apofalypfe nicht ſowohl meil fie nicht 
apoftolijd als vielmehr weil fie von ben Ereigniflen 
raſch überholt war, weder eine weitere Verbreitung nod) 
ein größeres Anfehen erlangt hatte, fondern bald in 
Vergeſſenheit gerathen war! Und doch nennt Juſtin beu 
Namen des Verfaſſers und wagt e8 bet heftigfte Gegner, 
Dionyfius von Merandrien, nicht, ihr ben infpirirten 
Charakter abzufprehen. Das Buch mit den fieben Sie- 
gel wird aljo nad) mie vor weiterer Aufklärung be 
dürfen. Diefe Art der Behandlung der neuteftament- 
lien Schriften dürfte heuzutage faum mehr als eine 
vorübergehende Beachtung finden. 
Shanz. 





Fleifchlin und Wicht, Monat:Rofen, 153 
4. 

RonatsRofen. Organ und Eigenthum des Schweizerifchen 
Ghubentenbereinà umb feiner Ehrenmitglieder. Redigirt 
von Bernhard διε απ und g. Wicht. XXV. Jahrg. 
1880— 81. XXVI. Jahrg. 1881—82. Luzern. Drud und 
Expedition ber Buchbruderei I. Schill. 488. 548 ©. 8, 
Die „Monatrofen”, eine von bem Verein der katho— 

liſchen Schweizer Studenten herausgegebene Zeitſchrift, 

von welcher ung bie oben verzeichneten zwei Jahrgänge 
in je 9 Heften vorliegen, verdienen es aus mehreren 

Gründen, daß wir fie der freundlichen Beachtung unferer 

Seler empfehlen. Die als Vereinsorgan: dienende perio- 

diſche Publication bat zwei verſchiedenen Aufgaben zu 

genügen, von denen wir bie eine bie literarifche, bie 
andere die gefhäftlihe nennen fónmen. Ob e8 gmed- 
mäßig fei, in einem und bemfelben Organe beide Zwecke 
miteinander zu verbinden, ober ob bie gejchäftlichen 

Angelegenheiten des Vereins, 3. 9B. bie Mitgliedervers 

zeichniſſe, Semeftralberichte der einzelnen Sectionen, 

Referate über Vereinsfeſte, Mitteilung ber an bem lege 

teren gehaltenen Reben und Trinkſprüche, und enblid 

Berfonalnotizen verjdjiebener Art, vielleicht beſſer von 

dem literariſchen oder wiſſenſchaftlichen Theil der Publis 

tation abgetrennt würden, bieB ift eine Frage, melde 
in erfter Linie aus ben Bebürfniffen und Erfahrungen 
des Vereins felbft heraus zu beurtfeilen ift unb über 
die wir bier hinweggehen können. Immerhin geben aud) 
biefe geſchäftlichen Mittheilungen einen nicht unintereffan= 
ten Einblid in ein Stüd öffentlichen, kirchlichen und 
politifchen Lebens der Fatholifhen Schweiz. Dem Namen 
nad nemlich befteht zwar ber Verein zunächſt aus 


154 Fleiſchlin und Wicht, 


Studierenden an den höheren Klaſſen ſchweizeriſcher 
Mittelſchulen ſowie an beu Hochſchulen in und außer 
halb der Schweiz, in der Weiſe, daß je die an einer 
ſolchen Schule ſich befindenden Schweizer Studenten ſich 
zu einer Section vereinigen und durch dieſe mit dem 
Geſammtverein zuſammenhängen; in Wirklichkeit aber 
bleiben diejenigen unter ihnen, welche ihre Studien ab- 
folvirt haben, als Ehrenmitglied dem Vereine verbunden, 
und auf bieje Weife fließen dem Vereine und beffeu 
Organ verſchiedene Quellen geiftiger und materieller 
Subfiftenzmittel zu, und ba8 Gange veprüjentütt nicht 
etwa blos den „Staat der Zukunft“, ober dad heran- 
wachſende Geſchlecht, ſondern faft in fij) einen Kreis 
von in Amt und Brod und Würden ftehenden Männern, 
melde mit bem Centrum verfchiedentlih, 3. 8. burd) bie 
gemeinfamen geftverfammkungen, bie Sectionsverſamm⸗ 
lungen, und ganz befonders burd) die „Monat:Rofen“ 
in Verbindung fteben; e8 gibt fi barum in dem Ber 
einsorgane nicht bloß ber ſchäumende Jugendmuth einer 
aufftrebenden und für ideale Ziele begeifterten Ctubenteu- 
ſchaar Fund, fondern auch das Dichten und Trachten ber 
Alten, bie Anjhauungen und Grundfäge, welche von 
den gereiften Männern in ihren verſchiedenen Lebens: 
Treifen vertreten werden. 

Unter allen Umftänden kann e8 nur einen guten 
Eindrud machen, daß der Verein von Studenten feinem 
Namen Ehre zu machen beftrebt ijt durch bie Früchte 
feiner Studien, bie ben Haupttheil der Zeitſchrift bilden. 
Es läßt fid) gar wit ermefjen, wie viele nützliche Ans 
regung in den einzelnen kleineren Kreiſen gegeben wird 
durch wiſſenſchaftliche Vorträge unb Beſprechungen, durch 


Monat-Rofen, 155 


Darbieten von literariihen Aufgaben und burd) bem 
Neiz der Publicität, welche bem aufftrebenden Talente 
aufgeſchloſſen wird; freilich ift auch die Gefahr nicht zu 
überfshen, daß etwa die Luft zur Schriftftelerei vor: 
zeitig ſtimulirt werde, baf die Mittelmäßigfeit fid) breit 
made, und daß, menm aud) in verkleinertem Maßftab, 
die Schattenfeiten be Literatenthums, 3. B. das Haſchen 
uad) Effekt und Phraſe, Eiferfüchtelei, pevjóntide Empfind- 
lichkeit, Zank und Streit, fij einftellen. Es ſcheint 
jebod, baf ein edler Patrivtismus biejen Gefahren zu 
begegnen weiß; wenigſtens haben bie Monat-Rofen be= 
reits ihren 26. Jahrgang in Ehren vollendet, und zwar 
dur das Zuſammenwirken der beutjd)en und franzöfis 
iden Gectiomen, in der Weile, dab aud) ba3 SBereind: 
organ zweiſprachig erſcheint, b. D. unter je einem deut⸗ 
fien (Fleiſchlin) und einem franzöfiihen Stebacteur 
(Wit) Auffäge und Berichte in deutſcher oder [rame 
zöſiſcher Sprache aufnimmt. 

Da der Berein Studierende aller Fächer umfaßt, 
fo if m ben Monat-Rofen aud Raum gewährt für 
Abhandlungen aus den verſchiedenſten Gebieten, Philo- 
fopbie, Theologie, Gejdbidte, Rechtswiſſenſchaft, Naturs 
kunde, Aeſthetik, giteraturgejdjid)te, Biographie; felbft 
die Lyrik ift nicht ausgefchloffen. Die Arbeiten treten 
durchweg in einer anſpruchsloſen Form auf, mie fie 
auch in ber Regel aus ben eigentlichen Studentenkreifen 
hervorgehen; fie find felbftverftändlih, wiſſenſchaftlich 
angefehen, von verſchiedenem Werthe, zeugen aber durch 
weg von einem ernften Streben und von einem nobeln 
und warmen Zuge, δὲς durch deu Verein hindurchgeht. 

Bon Arbeiten, die und pier bejonders intereffizen, 


156 Fleiſchlin und Wict, 


möchten wir im erftet Linie nennen die Abhandlung von 
bem jegigen Rebacteur ber beutjdjen Abtheilung „Aus 
ben Annalen des Gymnafiums zu Luzern; eim Beitrag 
zur Geſchichte der Tatholifchen Schweiz". Sie befteht in 
einer Reihe von Artikeln, die erft fpäter ihren Abſchluß 
finden werden und denen als Hauptquelle eine hand⸗ 
ſchriftliche Chronik bes Jeſuitencollegiums zu Luzern, 
»Series Historiae Collegii Societatis Jesu«, zu Grunde 
liegt. Die „Annalen des Gymnafiums zu Luzern“ er- 
meitern fi thatſächlich nicht mur zu einer Geſchichte des 
gelehrten Schulwefens zu Luzern überhaupt, welches mit 
dem Collegium ber Jefuiten ungertrennlid) verknüpft ift, 
fondern zu einer Geſchichte Luzerns felbft, ja der fatbo- 
lichen Schweiz innerhalb von zwei Jahrhunderten, jomie 
ber religiöfen und kirchlichen Reform in ber fatbolijden 
Schweiz feit dem Tridentinum. Sind aud) die hand» 
ſchriftlichen Mittheilungen nur al8 Berichte ber einen 
Partei aufzufaffen, jo ift bod) durch den Verf. ber Ab: 
handlung Licht und Schatten möglihft gerecht vertheilt 
und die fenntniB von bem Zuftänden jener eit und 
von ben in ihr einflußreihen Männern um vieles ge- 
fördert. — Eine weitere recht inftruftive Arbeit ijt von 
Th. Holenftein „Die Reception des römiſchen Rechtes“ 
(Sabrg. XXV ᾧ. VII—IX); ferner von dem Kanoniker 
Eug. Gros »Martyre de la légion thébéenne« (XXV 
$. II—IV). Von literargeſchichtlichen Arbeiten hat 
ung beſonders gefallen eine Studie über „Annette von 
Drofte-Hülshoff“ (zweiter Theil Jahrg. XXV... I—III) 
fotoie ber Efjay über » Voltaire a Fernex« (XXV $.1—II). 
Gut orientierend ift ber Auffag über „Das Alter des 
Menſchengeſchlechtes“ von G. Thüring (XXVI ᾧ. 


Monat: Rofen. 157 


V—VI). Andere werden Anderes befonders hervor- 
zuheben finden; wir müfjen uns bier um des Raumes 
willen beſchränken. 

Eine geſteigerte Bedeutung erhalten nun aber fortan 
die „Monat-Rofen“ dadurch, daß bie Akademie des D. 
Thomas zu Luzern feit 1882 beſchloſſen hat, diefelben 
für einen Theil ihrer Bublicationen zu benügen, zunächſt 
für Arbeiten von mehr philofophiihem Charakter. Der 
legte Jahrgang verdankt demnach ber 9(fabemie ſchon 
zwei Vorträge, nemlih von Nic. Kaufmann „Be 
weis be8 b. Thomas für den ,,etften Beweger““ ©. 
183 ἢ. und von C. Alb. Kaifer „die Diftorijden 
Entwicklungsgeſetze ber chriftliden Kunfl“ €. 355 ff. 
Bir haben hier wenigftend Anfänge, bie zu ſchönen Hoff: 
nungen berechtigen. 

Wenn nun aber bie Zeitihrift immer mehr über 
die Bedeutung einer blojen Vereinscorrefpondenz hinaus- 
wächst, [o möchte Ref. in freundſchaftlichſter Weife bie 
Frage nahe legen, ob die Redaction nicht in Bezug auf 
den gefchäftlichen Theil ber Monatshefte, auf Sections: 
berichte, Feftreden, Stefrofoge für Studierende u. f. w., 
einen ftrengeren Mapftab anlegen möchte, damit ber 
Verein um fo fiherer jedem Einzelnen aud) eine Schule 
bes guten Geſchmacks und ber Erkenntniß des wahrhaft 
Maßvollen und Schönen werde. Denn aud) bief ift 
ein Moment zur SBertoitflidjung des hohen Zweckes, den 
fij der Verein gejegt Dat: „Tugend, Wiſſenſchaft und 
Freundfpaft, nad) Sitten und Glauben der Väter, im 
Sinn unb Geift der fatfolijden Kirche zum Frommen 
des Vaterlandes”. 

Rinfenmann. 


158 Gebhardt und Harnack 
b. 

Texte und Unterſuchungen zur Geſchichte der akichriſtlichen 
fiteratut von Ὁ. von Gebhardt und A. Germ. 3. Band. 
Heft 1 und 2. Die Ueberlieferung ber griechiſchen Apo- 
fogeten beà II. Jahrhunderts in der alten Kirche und 
im Mittelalter von U. Harnad. Leipzig, Hinrichs. 
1882. VII, 300 ©. Preis 9 M. 

Das verdienſtliche Unternehmen, von dem einft- 
weilen ein Doppelheft vorliegt, oll nad) bem Profpect 
als Archiv für altchriftliche Literaturgeſchichte bringlide 
Vorarbeiten zu einem Handbuch biejer fiteratur um 
faſſen und einerfett8 Texte enthalten, theils ungedruckte, 
theils auf Grund ſchlechter Handſchriften gebvudte ober 
nur im Ueberfegungen bekannte u. |. w., anbererjeits 
Unterfuhungen, auf alle Fragen fid) erfüredenb, bie 
innerhalb einer Literaturgeſchichte zu ‚behandeln find, mit 
Bevorzugung derjenigen Probleme, welche in einem Hand» 
bud) nur in Kürze erörtert werben Tönnen, wie ber 
Ueberlieferungs- und Tertesgeſchichte u. dgl. 

Das vorftehende Heft enthält zwei Unterfuchungen. 
Die erfte (1—97) handelt von ber haudſchriftlichen Ueber⸗ 
Vieferung der Apologien im Mittelalter, und als ijr 
wichtigſtes Ergebniß wird €. 85 ff. Folgendes hervor: 
gehoben. 1) Aus bem byzantinischen Zeitalter (10.—14. 
Jahrh.) find uns drei von einander weſentlich unab⸗ 
bängige Sammelwerke überliefert worden, deven älteſtes, 
914 von bem gelehrten EB. Arethas von Gájavea zu: 
fammengeftelt, ein Corpus Apologetarum ber älteften 
Zeit bis auf Eufebius enthält (Par. 451). Es ift zwar 
nidt ohne Fehler gefchrieben; bod) fdeimt ber Tert 
nirgends abſichtlich entftellt zu fein. Die beiden anderen, 





Zur Geſchichte ber altchriftlichen Literatur. 459 


febr viel jüngeren, die verlorene Straßburger Handſchrift 
und Cod. Paris. 450 v. J. 1364, ftellen fih a8 Samm⸗ 
lungen ber Werke Juſtin's bar. In jener, welche aus 
telatio befjerer Ueberlieferung ſchöpfte, aber febr ſorg⸗ 
loà gefchrieben ift, ſcheint nur bie zweite Hälfte eines 
Instrumentum Justini enthalten zu fein. Dieſer bietet 
eine große Anzahl „juftiniiher” Werke, bezeugt aber 
eine ſtark getrübte Weberlieferung, fomohl was die Aus: 
wahl bet Stüde ald was ihren Tert anlangt. 2) Alle 
Handſchriften ber apologet. Werke des 2. Jahrhunderts 
(ausgenommen Theoph. ad Autol. fowie Hermias, bet 
überhaupt nicht in Betracht fommt) gehen auf bie drei 
genannten Sammlungen zurüd, fo jebod), baf der meit- 
aus größere Theil berfelben mittefbar ober unmittelbar 
aus dem Arethascoder ftammt. 3) Der Arethascoder 
ift (saec. XI vel. XII), als et fid) noch im Drient, bezw. 
in ber Heimath feines erften Beſitzers befand, mehrere: 
male theilweife ausgeſchrieben worden, und brei 
folder Apographa befigen wir nod) (Par. 174, Mutin., 
Mareian. 343). Die Abſchriften, melde in 15. Jahr: 
hundert wahrſcheinlich über Eypern nad) Venedig und 
fo nad) Wefteuropa gelommen find, find bie Grundlagen 
für eine Reihe jüngerer Gobice8 des Renatflancegeitalters 
geworden, von denen fieben allein aus der Feder des 
Regularkanonikers Balerian von Bologna geflofien find. 

Der Verf. war nicht in ber Lage, bie wichtigeren 
der in Betracht fommenben Handſchriften aufs neue ein: 
zuſehen. Seine Studien fußen vielmehr zum größten 
Seil auf ben Beſchreibungen ber Handſchriften burd) 
andere Gelehrte, namentlich durch v. tto. Diefer Um⸗ 
fand iſt wohl in Erwägung gu ziehen. Die Haupt: 


180 Gebhardt und Qarnad, 


ergebniffe zwar, zu denen er gelangt ift, mögen richtig 
fein. Aber im einzelnen erſcheinen feine 9fufftellungen 
vorerft nod) als fraglich und eine volle Sicherheit wird 
erſt bei ermeuerter Unterfuhung der Handſchriften zu 
gewinnen fein. Die bisherigen Befchreibungen von Hands 
ſchriften find nad) den Erfahrungen, bie ich felbft auf 
diefem Gebiete gemacht habe, felten völlig gureidjenb. 
Enthalten fie aud) bie wichtigeren ber Lesarten, fo 
übergeben fie bod) Häufig olde Dinge, melde zwar 
unmittelbar zur Tertesrecenfion nichts beitragen, aber 
für bie Ermittelung des Filiationsverhältniffes ber Hand» 
fáriften febr bedeutfam find. So möchte id) nad) unferer 
bisherigen Kenntniß der Handſchriften nicht fo unbedingt 
behaupten, als e8 €. 23 und 67 geſchieht, daß nicht 
Par. 174, fondern nur eine mit ihm nahe verwandte 
Handſchrift der Archetyp der drei dort erwähnten Vale: 
Tiancobice8 fei, und ebenjotig, baf feiner diefer drei 
Codices aus dem anderen abgefchrieben jei. Ih war 
zwar mod) nit in der Lage, bie Eigenthümlichkeiten 
biefet Handſchriften jo genau zu verfolgen, um ein Ur- 
theil nad) ber entgegengefegten Seite bin wagen zu 
fónnen. Aber ſchwerlich dürften bie Auffaffungen des 
Verf. ſchon völlig gefidjert fein. 

Die zweite Unterfuhung (98—298) ift der Kennt: 
niß unb Beurtheilung ber Werke ber Apologeten im 
Hriftlihen Alterthum und Mittelalter gewidmet und 
fomit weſentlich literarhiftorifher Art. Die Männer, 
um bie e8 fid) handelt, find Duadratus, Ariftides, Arifto 
von Pella, der mabrideinlide Verfaſſer der Schrift: 
Jaſon's und Papiscus' Disputation über Chriftus, 
Juſtin, Athenagoras, Tatian, Apollinaris von Hierapolis, 


Zur Geſchichte der alichriſtlichen Literatur. 161 


Melito, Miltiades, Theophilus. Den größten Raum 
nehmen die Erörterungen über Juſtin, Tatian und Melito 
ein. Bezüglich des erſteren wird bie, fo viel id) ſehe 
werft von Zahn aufgeftellte, Anficht vertheidigt, daß bie 
beiden Apologien, die wir von ihm befigen, urſprünglich 
ein Werk bildeten, indem die kleinere fid) al8 bloßer 
Rachtrag zu der größeren, nod) vor Veröffentlichung der= 
felben hinzugefügt, barftelle, und dargethan, da man 
das Werk (fpäteftens im 7. Jahrh.) zunächſt in zwei 
Theile und Dermad) (im oder vor bem 14. Jahrh.) in 
wei Werke zerlegte, wahrſcheinlich weil man bie zweite 
von Eufebius erwähnte Apologie midt mehr befaß 
(€. 145, 171 f). Außerdem wird nachzuweiſen ver. 
fujt, Zuftin habe eine zweite Apologie überhaupt nicht 
verfaßt; bie von Cujebius ibm zugeſchriebene εἰ nichts 
Anderes als die Schugfchrift des Athenagoras und ber 
Bater der Kirchengefchichte fei baburd) zu feinem irrigen 
Berihte gefommen, daß man [don im dritten Jahr⸗ 
hundert den Namen be8 Autors in ber Infcription ber 
Iepteren getilgt und die Schrift fefbft ben Werken Juſtin's 
beigefelt Habe. Bei Tatian wird hauptſächlich auf bie 
neueſte Unterſuchung von Zahn Stüdfidt genommen und 
defien Chronologie (196) eine andere gegenübergeftellt 
(212). Die Belehrung wird insbefondere auf das Jahr 
150 angefegt, ein Jahr, das inbeffen aud) Zahn (For: 
ungen 4. ©. b. n. f. I, 283) fid) gefallen läßt, wenn 
tt gleich als mittlere Zahl 155 annimmt. Der Leber: 
tritt zum Chriſtenthum erfolgte in Rom. Nach demfelben 
ſoll T. die Hauptftabt auf längere Zeit (c. 152—165) 
derlaffen Haben und fpäter mod) einmal in fie gurüd- 
gelehrt fein. 172/73 habe er mit der Kirche gebrochen. 
Be, Quartalfgrift- 1889. Heft I. 1 


162 Gebhardt und Harnadl, 


Beit und Drt feines Todes feien völlig unbekannt. 
Doc ftehe widt8 der Annahme entgegen, ba er bis zu 
feinem Ende in Rom geblieben fei. Zahn dagegen läht — 
ihn von feiner erften Ankunft bis 172/78 in Rom ber. | 
weilen, c. 165 ober bald nad) bem Tode Juſtin's aus | 
ber Kirche austreten und endlich mad) SRe[opotamien 
zurückkehren. | 

Der Verf. will für diefe Gonftruction Feine Sicher: | 
beit beanfprudjen, und dieß mit Recht, da Sicherheit 
bier überhaupt nidt mehr zu gewinnen (jl. Doch wird 
bie 8abn'ide Chronologie für völlig unwahrſcheinlich, 
bie Daniel'ſche für jedenfalls falſch erklärt. Die mid. 
tigfte Frage ift, ob bie Oratio in Rom entftand und 
in welche Zeit demgemäß bie von Epiphanius berichtete 
Neberfiedelung von Rom nach Mefopotamien zu verſetzen 
ift. Diefe Frage i aber ſchwerlich jo fider zu ent 
ſcheiden, als ©. 198 f. angenommen wird. Was für 
bie auswärtige Entftehung ber Schrift angeführt wird, 
beweist wmenigftens nicht jo viel, al8 man gemöhnlid 
glaubt. Man hat mur ernftlih im Betracht zu ziehen, 
daß X. βῷ den Römern gegenüber als Hellene fühlte 
and mit feiner Schrift fi in erer Linie an Freunde 
und Bekannte unter den Hellenen menbet. 

Noch weniger famm bie Ausführung über Juſtin 
und Athenegoras auf Beifall vedymen. €3 ift nit ein- 
zuſehen, daß bie Inſcription ber Schugichrift des leg: 
teren verftümmelt fein fol. Der Scholiaft vermißte in 
ihr allerdings ba8 χαίρειν (184). Dasfelbe fehlt in: 
deſſen auch bei Juſtin. Und was ben vom Verf. ver: 
mißten Namen bed Autors anlangt, jo läßt fi fein 
Sehlen hinlänglich erklären. Man braucht mur an das 


Bur Geſchichte ber altchriſtlichen Literatur. 163 


eine zu benfen, baf Athenagoras mit Nennung feines 
Namens der Gefahr einer Anklage fid) ausfegte. Was 
€. 184 vorgebracht wird, εὖ fei ſchlechterdings undenk⸗ 
bar, widerſpreche auch allen Regeln einer Adrefle, veip. 
einer Eingabe, daß ber Autor fid) nicht genannt habe, 
wird nur auf diejenigen Eindrud machen, bemen bie 
quverfichtliche Sprache allzufehr imponirt. Andere wer 
den fib davon um fo weniger überzeugen, al8 aud) ber 
angebliche Gorrector durchaus feinen Anftand nahm, bie 
Apologie in einer folden vermeintlich unbentbaren Form 
ausgehen zu laſſen. Die Hypotheſe, bie bie brüdenbften 
Rathſel [Ofen foll, welche über ber zweiten 3(pologie 
Juſtin's und über ber Schutzſchrift des Athenagoras 
fütweben (186), ift demgemäß als unbegründet abzu- 
lehnen, und mit ihr erweist fid) aud) die Behauptung, 
be Juſtin eine zweite Apologie überhaupt nicht ges 
fürieben babe, daß ihm vielmehr eiue folge und zwar 
ſchon in ber voreufebianifhen Zeit fälſchlich beigelegt 
worden jei, fowie bie daran gefwiüpfte Folgerung als 
hinfällig, daß möglicherweiſe auch nod andere von 
Eufebins als juſtiniſch aufgeführten Werke nicht von 
dem Apologeten herrühren (189). Auch mit der Frage, 
ob bie jet f. 4. zweite Apologie ibentij) ift mit 
der von Eufebius erwähnten, dürfte e8 mod) etwas 
anders ftehen, al8 €. 143 ff. behauptet wird, und 
imar um fo eher, je weniger bie Hypotheſe be8 Vers 
jaſſers zu befriedigen vermag. Denn fo iff der Thate 
beftand folgender. Juſtin hat nad bem ausgeſproche⸗ 
nen und ſchwerlich auf SXipoerftánbniB beruhenden 
Zeugniß des Eufebius zwei Apologien verfaßt. Euſe— 
bins nennt H. E. IV. e. 18 ausdrücklich zwei mit 
11* 


162 Gebhardt unb Harnach 


Beit und Drt feines Todes feien völlig unbefannt. 
Doc ftehe nichts der Annahme entgegen, baf er bis zu 
feinem Ende in Rom geblieben [εἰς Zahn dagegen läßt 
ihn von feiner erften Ankunft bis 172/78 in Rom ver- 
weilen, c. 165 oder bald nad) dem Tode Juſtin's aus 
ber Kirche austreten und enbli nad) Mejopotamien 
zurückkehren. 

Der Verf. will für dieſe Conſtruction feine Sicher: 
heit beanfprudjen, und dieß mit Net, da Sicherheit 
bier überhaupt nidjt mehr zu gewinnen ifl. Doc wich 
bie Zahn'ſche Chronologie für völlig unwahrſcheinlich, 
die SDanie [de für jedenfals falfch erklärt. Die tid 
tigfte Frage ift, ob bie Dratio in Rom entftand und 
in welche Beit demgemäß die von Epiphanius berichtete 
Ueberfiedelung von Rom nad) Mefopotamien zu verfegen 
ift. Dieſe Frage if aber ſchwerlich fo fider zu ent 
ſcheiden, als ©. 198 f. angenommen wird. Was für 
bie auswärtige Entftehung ber Schrift angeführt wirb, 
beweist menigftend nicht fo viel, al3 man gewöhnlich 
glaubt. Man hat nur ernftli im Betracht zn ziehen, 
daß T. fid) den Römern gegenüber als Hellene fühlte 
und mit feiner Schrift fi in erfter Linie an Freunde 
und Belannte unter ben Hellenen wendet. 

Stod) meniger Fann die Ausführung über Juſtin 
umd Athenegoras auf Beifall rechnen. (8 if nit eur 
zuſehen, daß bie Infeription ber Schugiärift des Leg- 
teven verftümmelt fein fol. Der Scholiaft vermißte in 
ihr allerdings ba8 χαίρειν (184). Dasfelbe fehlt ἐπ’ 
befien auch bei Juſtin. Und was ben vom Berf. ver: 
mißten Namen bed Autord anlaugt, jo läßt fi fein 
Fehlen Hinlänglich erklären. Man braucht mur an das 


Zur Gejdidite ber alichriſtlichen Literatur. 163 


eine zu benfen, daß Athenagoras mit Nennung feines 
Namens der Gefahr einer Anklage fid) ausſetzte. Was 
©. 184 vorgebracht wird, ε fei ſchlechterdings undent- 
bar, widerſpreche auch allen Regela einer Adrefle, velp. 
einer Eingabe, daß der Autor fij) nicht genannt habe, 
wird mur auf diejenigen Eindrud machen, denen bie 
zuverſichtliche Sprache allzufehr imponirt. Andere wer: 
den fid) davon um fo weniger überzeugen, als aud) ber 
angebliche Gorrector durchaus feinen Anftand nahm, bie 
Apologie in einer ſolchen vermeintlich unbentbaren Form 
ausgehen zu laſſen. Die Hypotheſe, bie die brüdenbften 
Räthjel Löfen fol, melde über der zweiten Apologie 
Juſtin's und über der Schupihrift des Athenagoras 
ſchweben (186), ift demgemäß als unbegründet abzu- 
lenem, und mit ihr erweist ſich aud) bie Behauptung, 
daß Juſtin eine zweite Apologie überhaupt nicht ges 
ſchrieben habe, daß ihm vielmehr eine jolde und zwar 
ſchon in ber voreufebianifhen Beit fälſchlich beigelegt 
worden fei, ſowie bie daran gefnüpfte Folgerung als 
hinfällig, daß möglichermeife aud nod) andere von 
Eufebius als juftinii aufgeführten Werke nicht von 
dem Apologeten herrühren (189). Auch mit der Frage, 
ob die jet ſ. 4. zweite Apologie ibentij ift mit 
ber von Gujebius erwähnten, dürfte e8 nod) etwas 
anderd ftehen, al3 €. 143 ff. behauptet wird, und 
zwar um fo eher, je weniger bie Hypotheſe des Ver 
faſſers zu befriedigen vermag. Denn fo ift der That 
beftand folgender. Juſtin hat nad bem ausgeſproche⸗ 
nen und ſchwerlich auf Mißverſtäudniß beruhenden 
BeugniB des Eufebius zwei Apologien verfaßt. Eufe- 
bius nennt H. E. IV. c. 18 ausdrücklich zwei mit 
11: 


164 Gebhardt und Qarnad, 


dem Beifügen, bie eine [εἰ an Antoninus Pius, feine 
beiden Söhne und ben römifhen Senat, die andere an 
Antoninus Verus (oder Mark Aurel) gerichtet worden. 
Er ſpricht ferner zweimal (II c. 13; IV c. 17) von 
προτέρα ἀπολογία, einmal (IV c. 16) vom δεύτερον 
ὑπὲρ τῶν xa9' ἡμᾶς δογμάτων βιβλίον. Daneben redet 
er allerdings aud) von einer Apologie oder von X. über- 
haupt (IV c. 8. 11) und er bringt in diefem Zufammen- 
bang ſelbſt (IV c. 8) ein Gitat aus unferer zweiten 
Apologie (c. 12). Ya er führt einmal (IV c. 17) fogar 
ein Citat aus pol. II c. 2 al8 aus ber προτέρα 
ἀπολογία herrührend an. Aber das ijt m. C. alles 
noch fein hinreichender Grund, um bie beiden Apologien 
in eine aufgehen zu laſſen. Eufebius fonnte fid) bod) 
viel eher in ber Bezeichnung der Stüde als über bie 
Zahl der Apologien táujd)en oder verjebem, und erfteres 
ift um fo eher anzunehmen, al8 er bei bem Citat aus 
dem δεύτερον βιβλίον in ber That aus unferer zweiten 
Apologie (c. 3) ſchöpft und je leiter eine bezügliche 
Verwechslung war, wenn in feinem Exemplar, mas 
angefiht3 ber Codd. Paris. 450 und Ottob. gr. 274 gar 
nicht unwahrſcheinlich ift, bie zweite Apologie vor ber 
erften ftand. Die äußeren Zeugnifje find alfo der frag- 
lichen Thefe nicht günftig. Und mit ben inneren Grün- 
den fteht e8 nicht viel anders. Allerdings weist Zuftin in 
ber zweiten Apologie mit προέφημεν ober ox zug. brei- 
mal (c. 4. 6. 8) auf bie erfte zurüd. Ebenfo ift richtig, 
daß ähnliche Verweiſungen in der erften Apologie felbft 
(c. 21—23. 26. 48. 45. 54) vorkommen, und e8 mag 
auffallen, daß in der zweiten nicht deutlicher auf jene 
als eine [don früher übergebene Schrift Dingemiejen 


Zur Geſchichte ber altchriftlichen Literatur. 165 


wird. Allein bei ber Schreibart Juſtin's und befonders 
bei der erregten Stimmung, bie fid in der zweiten Apo- 
loge funb gibt, kann das nit allzu febr befremden 
und ift der Schluß nod) nicht gerechtfertigt, bie zmeite 
Apologie fei bloß ein Beftandtheil ber erften. 

Der Raum geftattet nicht, weiter auf bie Arbeit 
einzugehen. Nur die Art und Weife, wie der Verf. mit 
Eufebiug umgeht, fol nod fura beleuchtet werben. 
Derfelbe wird bald ber abſichtlichen Täufhung (138), 
bald ber Gewiſſenloſigkeit (141), bald ber Erfindung 
und Faͤlſchung (142), bald einer Heinen Täuſchung (142) 
oder Teichtfertigen Gombination (196) u. f. το. bezichtigt, 
das eine Mal, weil er H. E. IV c. 11 ein Gitat aus 
Juſtin's Schrift gegen Marcion in Ausſicht ſtellt und 
ein foldes aus Apol I. c. 26 bringt, ba8 andere Mal, 
weil er ib. c. 16 eine Stelle aus Tatian's Oratio uns 
tihtig wiedergibt. Ich bin nicht gefonnen, derartige 
Anlagen von dem Vater der Kirchengeſchichte zum vor: 
aus als unbegründet abgutoeijen. Wohl aber verlange 
i$, daß fie, wenn man fie erheben will, genügend ber 
gründet werden, und bie vermißt man in ber bor: 
liegenden Schrift. Denn bezüglich des erften Falls darf 
man wohl fragen, ob hier zu einer abſichtlichen Täuſchung 
überhaupt ein vernünftiger Grund denkbar ift, und wenn 
man bieje Frage nicht wird bejahen wollen, fo wird 
man eher an ein Verfehen denken oder annehmen, Juſtin 
babe die betreffenden Worte eben doppelt gejchrieben, 
ſowohl in der Schrift gegen Marcion als in der Apo- 
logie. Auch im zweiten Fall toirb man eine derartige 
Frage aufwerfen müffen, und wenn aud) hier fein zu 
teichender Grund für eine Fälſchung wahrzunehmen ift, 


166 Gebharbt u. Harnack, Zur Geſchichte der altchr. Siteratur. 


fo wird wiederum eine andere Erklärung den Vorzug 
baben. Der Ser. bemerkt zwar, baf mad) ben Aus: 
führungen Zahn's an einen bloßen Irrthum nicht zu 
denken jei. Aber ift denn die bloße Bemerkung, bie 
bezüglide Tertesänderung [εἰ von Eufebius entweder 
ſchon vorgefunden oder, mas weitaus wahrſcheinlicher 
Tei, erft vorgenommen worden (Zahn a. a. D. ©. 275), 
ein Beweis, ober ijt ettoa, wenn ber Verf. je über feinen 
Gewährsmann fid) getäufcht hätte, in ben leeren Behaup: 
tungen von Dembowski (Quellen ber hr. Apol. I, 60) 
ein folder zu erbliden? Sein unbefangener Kritiker 
wird dad behaupten wollen, und man könnte [omit den 
Vorwurf ber Täufhung, mit bem ber Berf. fo leicht 
gegen Euſebius bei ber Hand ift, gegen ihm felbft erheben, 
ba er eine Sache, bie er nicht beweifen kann und bie 
überhaupt nicht zu bemeijen tft, für bereit3 bewieſen 
erklärt unb den Lefer, um ihn nicht fo fehnell zur Ein- 
fidt Tommen zu laffen, von fid) ab an einen anderen 
Autor weist. Indeß will id) ben Verf. keineswegs mit 
dem Maßftab meflen, den er jelbft an Andere anlegt, 
ba id) nicht gewöhnt bin, Hinter jedem Irrthum fofort 
Betrug zu mwittern. Ich will vielmehr bie mildefte Er: 
Härung zulaſſen und das Verfahren auf eine da und 
dort hervortretende Leichte und burſchikoſe Art des Verf. 
zurüdführen, ber meint mit Worten zu erfegen, was an 
Beweiſen abgeht, und id) würde aud) das nicht hervor: 
heben, ba id) mir wohl bewußt bin, wie aud) ber ge: 
wiſſenhafteſte Forſcher in einzelnen Fällen fid) irren kann, 
wenn ber Verf. mit bem Vorwurf ber Leichtfertigfeit 
nicht Alten und Neuen gegenüber ebenfo freigebig wäre 
wie mit bem Vorwurf ber Täufhung. 


Keen, Buddhismus und feine Gejgichte in Indien. 167 


Zum Schluß fei nod) bemerkt, daß bie Annahme, 
das Edict Qabrian'8 an M. Fundanus [εἰ ächt, feines: 
wegs jo grundlos ifi, als €. 101 mit Verweiſung auf 
Dverbed behauptet wird. Vgl. Duart.-Schr. 1879 ©. 
108—128. 

gunt. 


6. 


Der Buddhismus und feine Gefchichte im Indien. Eine 
Darftellung ber Lehren und Geſchichte ber Bubbhiftifchen 
Kirche von Heinrih Kern, Profeſſor an ber Hochſchule 
zu Leiden. Vom Verfaſſer autorifirte Ueberfegung bon 
Hermann 3atobi, Profefjor an ber Vifabemie zu Münfter 
in Weitfalen. Erfter Band. 1. Theil. Leipzig, Otto 
Schulze. 1882. VIII und 356 ©. 

Mit erneuten und vervielfältigten Kräften find bei 
vermehrten Quellen und Erkenntnigmitteln die nter» 
ſuchungen über die großen Religionsfyfteme des Oſtens 
wieder in Angriff genommen worden, und es ftellt bie 
Schulze'ſche Firma biesfalls neben und nach bem hier zu 
befpredjenben Werk, das baldige Erſcheinen verwandter 
Arbeiten fiber bie Religion ber Sikhs, ben Rigveda, bie 
ältefte Literatur ber Inder (im zweiter umgearbeiteter 
Auflage von fügi), über Mohammed und den Mo: 
bammebanismus, Zorvafter und bie Religion des alt- 
tranifhen Volkes in beitimmte Ausſicht. Eine neue 
Wiſſenſchaft, die vergleichende Religionsgeſchichte ift in 
rajdem Entftehen begriffen, zahlreiche Baufteine find 
ſchon Berbeigefdjafft und werben fort und fort durch 
rüftige Kräfte bei allen Culturvöllern gehoben, um ben 


168 Keen, 


großen monumentalen Geiftesbau vorzubereiten. Ob 
derfelbe ba8 Zeichen des Erlbſers tragen werde, ober 
ein mit größtem Kräfteaufmwand gethürmtes Babel in 
Ausſicht ftehe? betrachten wir nod) auf lange hin als 
müßige Frage, ba bie Vorarbeiten, melde das Roh— 
material beifhaffen unb auffdidten, für mande Theile 
des Baues in gründlich umfafjender Weife erft begonnen 
haben. Weniger inbeffen gilt Lepteres von bem Glauben: 
ipitem, über das uns H. Kern und fein gewiſſenhafter 
Tleberjeter Jakobi von zum Theil neuen Geſichtspunkten 
aus orientiven wollen. Weber Buddha, Buddhismus 
und Nirvana fcheint, wie Manche glauben, nicht eben 
gerabe viel Neues mehr gejagt werden zu Tönnen !), na= 
mentlich da die Philofophie in unferen Tagen nad) bem Bes 
Eenntniß mancher ihrer nampafteften Vertreter im βτεὶδε 
lauf beim Nirvana angefommen ift. Andererfeit3 madjen 
fid), nachdem gleihlaufend mit der philofophifchen €pecu- 
lation mwieberholt aud) ſchon vorgeblid) praftijdje Rüd- 
fidten für beffere Werthſchätzung und felbft Gleidjftellung 
des oſtaſiatiſchen Glaubensſyſtems mit dem Chriftenthum 
geltend gemacht morben find, meueften8 Europa's unb 
des Chriſtenthums müde Ruſſen im Bunde mit Yankee's 
bie Verbreitung eines durch fie gereinigten Buddhismus 
als ber univerjalen Sufunftéreligion zur Aufgabe. Diefe 
feltfamen Miffionäre, Theofophen und Hierophanten, wie 
fie fid nennen, ftellen fidj im bemußte Oppofition zum 
Chriſtenthum unb zu ben riftlichen Miffionären und 


1) 9. ftern gefteht dieß in ber Vorrede felbft ein, meint aber 
damit nur bie [egenbarijdjen Beftanbtheile an fij, bie er in ber 
Folge völlig, ohne einen geſchichtlichen Riederſchlag zu belaffen, in 
Mythe auflößt. Dieß it das Neue in feiner Behandlungsweiſe. 


Buddhismus und feine Geſchichte in Indien. 169 


gedenken Bekehrung auch der Chriften zum buddhiſtiſchen 
Seibentbum zu betreiben, Zu diefem Zweck hat ba8 
Haupt ber blafitten, getauften Buddhomanen, Colonel 
Henry Dlcott einen bei Trübner in London erfchienenen 
Katehismus verfaßt, melher Genehmigung und Im— 
primatur des buddhiſtiſchen Oberpriefters der Inſel 
Eeylon erhalten hat und in den Schulen bieje8 Gentral- 
punktes ber füdlichen buddhiſtiſchen Kirche, melde bie 
ältere ift und zuverläffigere Traditionen zu befigen be— 
bauptet, eingeführt if. Der Katechismus thut fid) natür- 
lid viel auf den ftatiftiihen Nachweis zu gut, daß 
Buddha nad) 5 Monaten feiner Wirkfamkeit ert 60 Jün- 
ger zählte, heute aber feine Anhänger fid auf 500 
Millionen, ftarf ein Drittheil des ganzen Menjchen- 
geihlehts, belaufen; ferner darauf, daß feine Priefter 
midt Vermittler zwiſchen den Menſchen und Gott 
fein wollen, fondern die Menſchen Selbfterlöfung und 
Selbftvergeltung, ^ ba8 Buddhawerden in einer Art 
teflerionsmäßiger und zugleich moralifch asketiſcher Ver- 
abfolutirung des Ih lere, daß er feine Schöpfung, 
überhaupt feine Wunder braude, keine Götzen zu ver- 
ehren, jonbern nur Buddha's Bildern als Erinnerungen 
en ihn Ehrfurcht zu erweifen, bie Wiflenfchaft zu bes 
treiben und zu ehren, ba8 Böſe mit Gutem zu vergelten 
mabne. Im Gegenfag zu Hartmann und Schopenhauer 
wäre aud) nah unferm Gemwährsmann das Nirvana 
mad) echter buddhiſtiſcher Lehre keineswegs als Ber- 
nidtung ſchlechthin zu betrachten, fondern ein Zuftand 
vollfommener tvedjjellofer Ruhe, des Aufhörens aller 
Begierden, Empfindungen, Hoffnungen und Befürchtungen, 
Freuden und Leiden, ein Abthun alles diezfeitig Natür- 


170 Kern, 


liden des Menſchen. Damit haben wir [don bie Auf- 
gaben berührt, melde das Buch des Dollinbijden Ge— 
lertew im weitern Verlauf feiner Unterfuhungen zu 
behandeln gebenft. Denn bie vorliegende Hälfte be 
erften Bandes, toeldjem in Bälbe ein zweiter folgen foll, 
gibt bie legendariſche Gedichte des Lebens und ber 
Thaten Buddhas mit Fritiihen Betrachtungen über diefelbe 
und einem Schlußcapitel über „Buddha in der Dogmatik”. 
Aeußere und innere Geſchichte des Buddhismus, oder 
mie e$ gewöhnlich heißt, der buddhiſtiſchen Kirche, find 
den folgenden Theilen vorbehalten. 

Im Buche herrſcht eine ganz verſchiedene Ausdrucks- 
weiſe in Betreff der Perſon des Religionsſtifters. Wir 
haben anfangs keinen Grund, daran zu zweifeln, daß 
er biejelbe für völlig hiſtoriſch Hält, wie bisher alle, bie 
über bem Buddhismus geſchrieben, gethan haben. Denn 
es beißt, daß ber Stifter feine ganz neue Lehre ver: 
kündigt habe, wenn er aud) in Oppofition zu einzelnen 
in feiner Zeit herrſchenden Satzungen geriet; daß ber 
Inhalt feiner Lehre wenig verſchieden von der feiner 
Beitgenoffen war, wie fie befonders im den Upaniſchads 
lautet (Untermeifungen, Abhandlungen über fpeculative 
Vhilofophie, die als Theile ber h. Schrift galten und 
aud) SBebanta: Endziel, Kern be8 Seba DieBen) Im 
gleiden Sinn einer hiftorifhen Perſönlichkeit Buddha's 
beißt e8 von ihm: bie große That Buddha's beftand 
darin, daß er lauter und beftimmter als Andere feiner 
Zeitgenoffen und Vorgänger ausſprach, wie Jeder, gleidj- 
gültig von welchem gefelihaftlihen Range ober von 
toeldjer gelehrten Bildung, darnach ftreben könne und 
müfje, das höchſte Heil zu erreichen, und daß feine 


Vuddhismus und feine Geſchichte in Inbien. 171 


Steuerung in der Bopularifiung ber metaphyſiſch ethiſchen 
Lehren der Schulen beftanden habe. Faft unmerklich 
verliert fid) bieje Ausdrudsmeife in der Erflärung und 
ben kritiſchen Deutungsverfuchen ber legendariſchen Lebens⸗ 
beſchreibung des alten Religionsſtifters, welcher mit 
Vorzug bie Weberlieferung ber in der Palifprache abge: 
faßten heiligen Bücher ber füdlichen Buddhiſten (Singha= 
lejen, Birmanen, Siam, Annam) zu Grunde gelegt ijt. 
Als Vorbild, aus beffen Gigenjdjafteu bie Idee Buddha's 
als Erlöfers gewoben worden wäre, tritt mehr und mehr 
der Sonnengott heraus, den Indern „der große Erlöfer 
der Welt, der Ueberwinder der Finfterniß, die geöffnete 
Pforte der Erlöfung, das leuchtende Mufterbild für bie 
Menſchheit, alle Finfterniß, Unreinheit und Schmutz, aud) 
des Geiftes und Gemüthes, zu entfernen“. Es wird 
mit Scharffinn zu zeigen geſucht, daß aftronomijde und 
aſtrologiſche Vorftelungen der Inder ber Legende vom 
Buddha zu Grunde liegen, in ihr geſchichtlich verkörpert 
und zu Perfonen und deren mannigfaltigen Beziehungen 
und Berhältniffen untereinander verwandelt worden feien. 
Einige Beifpiele werden das Verfahren, bem es feines: 
wegs an Methode und fdarfem Eindringen in ben Stoff 
fehlt, verdeutlichen. Der Königsfohn Buddha bettelt 
nad) ber Legende als Mönch um Nahrung; der Vater, 
bem man e8 berichtet, ſchlägt den Mantel um und eilt 
ſchnell herbei, macht dem Sohne Vorwürfe, wird aber 
zuletzt mod) bes dritten Grades ber Heiligkeit (be8 eines 
Anagamin, b. Ὁ. ber nicht wieder fomunt: auf Erben 
geboren wird, fondern in einem ber höchften Himmel, 
100 et fid) auf das Nirvana vorzubereiten hat) getoütbigt. 
Der Bater, Qubbfobana, ift, vernehmen wir ©. 130, 


172 Kern, 


bag reine Fluidum, ber Nether, wie VBaruna-Wodan, 
und fein Mantel Wodans Mantel. Nach dem Mahl bei 
Hofe famen fodann fümmtlide Damen, um ben Mönd 
gewordenen Königsfohn zu begrüßen; nur feine Gemahlin 
blieb in ihrer Kammer. Dabei follen wir bebenfen, daß 
die Erde damals al8 unbeweglic gebadjt wurde, und 
ber Sonnengott vielmehr fie zu befuchen fommt, nicht 
umgelehrt. Der Meifter geht mit bem bornehmiten 
Schülerpaare mirflid) in den Saal feiner von ihm längſt 
verlafienen Gemahlin, bie ibm huldigt; dabei werden 
mir an ein Geftivnpaar be8 Widders und daran erinnert, 
daß ſchon einige Jahrhunderte vor Chr. die Sonne am 
21. März diefelbe Länge tole jene Sterne hatte (€. 132). 
Wenn jobann ber fünftige Thronfolger Nanda auf Zus 
teben des Meifters, feines Bruders, ben geiftlihen Stand 
ergreift, gefegnet und mitgenommen wird, fo „ſcheint 
diefer Sohn des Himmels der Mond zu fein während 
be8 Lenzmonates oder des Mai” (S. 188), um fo eher, 
als er aud im Mahabharata einer ber Genofien des 
Skanda (δε Marjchierenden), des ſchnelllaufenden Jahres⸗ 
gottes ijt, und unfer eigenes Wort Jahr urfprünglich 
Marih, Lauf bedeutet. Der junge Prinz Rahula, 
Buddha's Sohn, verlangt darauf auf Zureden ber 
Mutter fein Erbtheil vom Vater, ba er Weltherrfcher 
werben will, begleitet diefen und wird zulegt ebenfalls 
zum Geiftlichen ordinirt. Hier erinnert Verf., daß ber 
Knoten (der Schnittpunkt der Bahnen be8 Mondes unb 
der Sonne), als fi) mitbemegenb gedacht wird. Das 
Klofter von Jetavana, das ein überaus reicher fauf- 
manı an Buddha und feine fünftige „alumfaffende Ge— 
meinde" jdenfte und burdj Goldſchätze ohne gleichen 


Buddhismus unb feine Gefchichte in Indien. 173 


ſchmückte, ift ba8 Mondhaus ober bie Sonnenherberge 
Magda, bie Cdjagfammer im Löwen, in bet Zeit als 
bie Plejaden nod) mit bem Drt der Sonne am 21. März 
zufammenftelen. Zudem ift das Wort dafjelbe mit ſans— 
kritiſchem Dmaitavana: Zwielichtwald, Schattenreich, 
deſſen Beherrſcher Plutus (der reiche Kaufmann S. 140) 
mühelos das Geld reichlich wie einen Nibelungenſchatz 
ſchaffen konnte. Daſſelbe Ereigniß hatte fid) in der Ver— 
gangenheit unter fünf anderen Buddhas ſchon zugetragen. 

In ſolcher Art wird die überaus reichhaltige Le— 
gende Buddha's fort und fort, öfters wie mir dünkt 
ſehr gewaltſam, dafür in Anſpruch genommen, eine 
aſtronomiſche, ſodann auch mythiſche Grundlage ihr 
abzugewinnen, welche ſich ſpäter in Perſonen und 
einen zuſammenhängenden Verlauf ihrer Lebensgeſchichte 
verdichtet haben ſollte. Der Buddha der Sage loft fid) 
in ein mythiſches Gebilde auf, wer immer aud) ber ober 
die Stifter und Fortbildner des nad) feinem Namen 
benannten Religionsſyſtems getoejen fein mögen. Die 
mythiſche Perfönlichkeit des Buddha, heißt e8 ©. 298 
ohne Umfchweife, ift der höchſte der Götter, mie er jelbft 
von fid) ausfagt; daß er menfhenähnlich bargeftellt wird, 
geihieht bei allen Göttern. Er ift Menſch und Gott 
zugleich, wie alle andern Götter. Jeden Tag, jedes 
Jahr, jede neue Weltperiode wird die Sonne geboren 
und ftirbt. Aber von bemjelben Gotte glaubt man, daß 
ex e$ immer getan habe und mod) thun werde. Die 
Buddha's find unzählbar. Inſofern ift das göttliche 
Weſen unfterblih. Seine Erſcheinungsformen find zahl⸗ 
los, fein Wefen ift eins. Die Zeit ift ewig, aber jeder 
Theil der Zeit ἐξ enblid), oder wie bie Inder jagen, 


m. gem, 


bie Gotiheit ift ewig, aber ihre Avatara's find endlid. 
Ein folder Avatar und amat des Sonnengottes und 
Zeitmeſſers Viſchnu, ift der Buddha, τοῖς den Judern 
jer mobi befannt ift. Nur ift in ber Sage an Viſchnu⸗ 
Kriſchna ber übermenſchlich ftarke Held, Herakles, an 
Buddha die Weisheit des Sonnengottes, Apollo, haupt: 
ſächlich geblieben. 

Ob fid) alle, aud) bie bisher allgemein für gefehicht- 
lid) gehaltenen Momente aus bem Leben Bubdhas in 
Mythus auflöfen laffen, ift aber febr fraglid. Daß bas 
Leben des Meifters, bie Entftehung und Weiterbildung 
feiner Anftalt mit Legenden und Mythen faft bis zur 
Unbkenntlichkeit überfponnen ijt, berechtigt am fid) nod) 
keineswegs zu bem bier eingehaltenen radikalen Ver 
fahren. Hat man unter allen Umftänden einen Haupt- 
fifter ber aſiatiſchen Glaubensgemeinfhaft mit ihren 
Hunderten von Millionen Anhönger anzunehmen, jo 
ſcheint es natürlicher, ble ung einftimmig überlieferte Per- 
fönlichfeit Gautama'8, als die jenes Stifter, des Königs⸗ 
fobu8 von Kapilapaftu aus dem Geſchlecht der Qafpa 
unangetaftet zu laſſen, welche bie fruchtbare aber allezeit 
vegellofe Phantafie des iubijdjeu Volkes zum Wunder: 
thäter und Gott, ſchließlich zum oberſten Beherricher 
eines unermeßlihen Pantheond umgeftaltet hat. Denn 
bie Anficht Köppen's (Die Religipn des Buddha ©. 481: 
„Die Thatſache der Menſchlichkeit Catpamunt'a ftebt [o feft, 
ba felbft bie pütefte Legende und Scholaftif e8 nicht 
gewagt bat, ihn zum Gott zu fteinpeln") ift unhaltbar, 
und e$ läßt fid) nur jagen, daß die Spuren ber Menſch⸗ 
heit Buddha’ nie völlig verwiſcht werden fomnten, unb 
bier bie Natur ber Sache bie befte uud ſtärkſte Neigung 


Buddhismus und feine Geſchichte in Indien. 175 


gum Gegentheil ftet3 wieder bemeifterte. Unfer Buch 
findet im Gegentheil einen mythiſchen Sonnengott in 
Buddha, ber vermenſchlicht worden ift (Higig in ber 
Auffaſſung Hiobs ift hierin vorangegangem), aber mit 
Beibehaltung feiner göttlichen Natur. Es weiſt die Ent- 
Hebung ber mythiſchen Beftandtheile in fehr alte, bie 
Ausbildung der Lehre in febr fpäte Zeit und muß offen 
befemuen (&. 324), daß bann das einzig Gemilje ift, 
daß der Buddhismus als geiftfider Orden mit feiner 
Laienkirche im dritten Jahrh. Ὁ. Chr. beftand, wir aber 
mod) nit mifjen, wann und wie et fid) dazu entmidelt 
hatte, wenn er aud) in anderer Form, als Volfsreligion 
ſchon lange vorher beftanden hatte. Ein geringer Erſatz 
für bie ung zugemuthete Preisgebung aller pofitiven 
Daten aus bem langen, ahtzigjährigen Leben des Reli 
gionsftifters bünft es uns, wenn (S. 325) nicht geläugnet 
wird, daß der Drben von einer hochbegabten Perfon 
geftiftet worden ift, „wie aud) immer man fid das 
benfen mag", und daß ſchon vor 300 v. Chr. Jemand 
auftrat, ber durch feine Weisheit und Hingabe an bie 
geiftigen Intereſſen feiner SRitmenjden einen ſolchen 
Eindrud gemacht, daß einige feiner Zeitgenoffen ihn mit 
einem [don anerfannten Ideale von Weisheit und Güte 
verglihen (dem Sonnengott) und bie fpäteren Gene- 
rationem ihn vollftändig damit identifizierten. Damit 
nähert Verf. fid) aber wieder auffallend der oben von 
und geltend gemachten Anfhauung, melde nur meit 
einfader ift, indem fie ben Meifter zum Gott gemacht 
und nicht aud) nod) zuvor den Sonnengott in ben Men- 
ſchen und dann erft wieder einen fpäter lebenben Mens 
iden in den Sonnengott verwandelt werben läßt. 


176 Neem, Buddhismus und feine Geſchichte in Indien. 


Unter dem mafjenhaften legendariſchen Stoff, ber 
febr gut mit Auswahl des Bedeutenderen zufammengeftellt 
ift, findet fid) manderlei Auffallendes, wie bie wunder: 
bare Empfängniß und Geburt des Buddha, bie frühe 
Kundgebung feiner außergewöhnlichen Anlagen, und bes 
ſonders bie Verſuchung beffelben burd) Mara, den Böfen, 
als er von der Welt fid) abwandte, um Mönch zu wer 
ben. Im Luftraum ftehend rief der Satan: Berlaßt 
bod) Euer Haus nidi, um al8 Monch umberzumandeln. 
Heut in 7 Tagen wird Cud) bie Herrſchaft über bie 
ganze Erde mit ihren 4 Welttheilen unb 2000 Inſeln 
zu theil werben. Der Prinz fagte: Verfucher, ich weiß, 
daß die Weltherrfchaft mir beftimmt ift, aber id) begehre 
ihrer nicht; id) mill unter dem Zujauchzen der ganzen 
Welt ein Buddha werden. Bon da lauerte der Böfe 
auf ihn, ſchlimme Gedanken unb Gelüfte in ipm zu 
erweden und folgte ihm tie fein Schatten. 

Himpel. 


Theologiſche 


Quartalſchrift. 


In Verbindung mit mehreren Gelehrten 
herausgegeben 


D. v. fiubn, D. v. Simpel, D. v. ober, D. v. £infen- 
mann, D. Funk unb D. Schanz, 


Vrofeſſoren ber kathol. Tpeologie an ber ft. Univerfität Tübingen. 


Fünfunbfeigigfter Jahrgang. OFEN. 
c Eu 
ATS 5e 


Zweites Quartalheft. 








Tübingen, 1883. 
Berlag ber 9. Laupp'ſchen Buchhandlung. 


Sud von ᾧ. Laupp in Tübingen. 


L 
Abhandlungen. 


1. 


Schriftſtellerthum und literariſche Kritik im Lichte der 
ſittlichen Verantwortlichkeit. 





Von Prof. Dr. Linſenmann. 





Zweiter Artikel. 





IH. Gibt e8 entſcheidende Reungeiden des 
Berufes zur Shriftftellerei? 


Mag man e8 nod) fo uachdrücklich für eine gemagte 
Behauptung erklären, daß zur Schriftftellerei ein befon- 
derer Beruf gehöre, wir fónnen una immerhin auf jene 
unbewußte Logik be8 gemeinen Menfchenverftandes be: 
rufen, welche das große Weltprinzip der Ordnung aud) 
für dieſes Gebiet menſchlicher Thätigkeit geltend madjt 
und fid nicht ſcheut, gegen einen läftigen und aufdring- 
lichen, aber geift- und formlofen Schreiber den Vorwurf 
unberufener Arbeit zu ſchleudern. Eine Thätigkeit, melde 
in das Menfchenleben mit feinem Grnft und Scherz, mit 
feinem Schmerz und feiner Freude, — denn aud bie 

12* 


180 Sinfenmann, 


tedjte Freude ift eine gar ernfte Cade!) — fo tief 
eingreift, mie bie Gabe des Wortes und der Schrift, 
dürfen wir unmöglid dem blofen Spiele menfchlicher 
Willkür und Laune überlaflen; gerade weil mir fie fo 
body ſchätzen, nennen wir fie Sache bes Berufes, felbft 
auf die Gefahr hin, daß ung bie feriti, bie wir ber: 
ausfordern und bie unfere Beweisgründe vielleicht für 
unannehmbar erklärt, unfern eigenen Beruf, im biejer 
Sache mitzureden, abſpreche. Verfaſſer biejer Abhand- 
lung fümpft nidt für feinem eigenen perjóntiden Beruf; 
er bat von Erfolgen ber Schriftftellerei nicht viel zu 
boffen, und wenn er fchließlih aud) zu denen gezählt 
Toürbe, welche nad) Wolle ausgehen und felbft geſchoren 
mad) Haufe kommen, fo hätte er aud) davon nicht viel 
zu fürdten. Aber er möchte eintreten für bie Ehre und 
Würde der Literatur, melde von den unberufenen Ein 
bringlingen am ſchwerſten geſchädigt wird. 

Man hat ber Reihe nad) gegen jeden Stand, wenn 
er allmälig innerhalb der Geſellſchaft eine gebieteriſche 
und bevorredjtete Stellung errungen, das Grfenme bid 
jelbft ! ausgerufen, ift feinen Anſprüchen entgegengetreten, 
bat feine Anmaßungen ber öffentliden Meinung denun⸗ 
citt und für die Rechte der anderen Stände Raum und 
Achtung verlangt. Man hat darauf aufmerkfam gemacht, 
baf ein Stand innerhalb einer beftimmten Entwidlungs: 
periode der menjdliden Gejellihaft eine probibentielle 
Aufgabe Hatte, daß biejer Aufgabe eim gewiſſes Maß 
von Auftorität und Herrfchaft, von Auszeihnungen und 
Begünftigungen billigerweife entſprach, weil von biefet 


1) Res severa est magnum gaudium, 


Seiftftelertfum und literariſche fitit 181 


moralifhen Zulage der Erfolg des Wirkens bis auf 
einen getoiffen Grad mitbedingt mar, daß aber dann 
almälig ein Mißverhältniß zwiihen ber angenommenen 
Euperiorität und der wirklichen Bedeutung, zwiſchen ben 
beanspruchten Ehren und Vorrechten und den wirklichen 
Reiftungen fid) ergeben, baf man mit ber fortfchreitenden 
Entwicklung der Dinge das wirkliche Schwergewicht des 
öffentlichen Lebens nicht mehr in den früher bominiren- 
den Ständen finden fünne, daß vielmehr der Leuchter 
von den alten Ständen hinweggerüdt werde, neue Kräfte 
in Funktion treten, und daß biefem nun, mie fie bie 
Herrſchaft angetreten, fo audj bie Inſignien der Herr 
ſchaft, Freiheit und Spielraum, Ehre und Anfehen und 
Glanz, gufommen müflen. Es löfen fi in der Herr: 
ſchaft ab der Adel und das bezahlte SBeamtentfum oder 
bie Bureaufratie; bie Herren vom Schwerte und bie 
von ber Feber; unter den legteren felbft wieder ber Lehr- 
ftanb oder das Profeſſorenthum mit feiner in Zunft und 
Zopf eingezwängten Gelehrfamkeit, mit feinem pebanti- 
ſchen Allüren und bem Formenzwang feiner 9[fabemien, 
und amdererfeit3 bie freie Wiſſenſchaft und Preſſe, bie 
ungebundene Demokratie der Literaten und der Künftler. 
Es ift nahe daran, daß bie Herrſchaft der freien Preſſe 
über alle anderen Mächte im Staate proflamirt werde. 
Welche Gebiete hat die Preffe fid) nicht erobert! Wie 
viele Mittel der Puhlicität, ber Belehrung und Auf 
Härung, der Communication zwifchen den Organen ber 
Staatsmaſchine werden nicht heute durch bie Preſſe er- 
fet unb außer Dienft geftelt! Selbft das Gotteswort, 
welches an eine kirchliche Ordnung gebunden ift und in 
biſchoflichen Hirtenbriefen, auf der Kanzel und in ber 


182 Linfenmann, 


Katecheſe fid) vernehmen läßt, fol almälig fid) der Herr: 
ſchaft und ben Gewohnheiten ber Tagezliteratur unter- 
werfen; an bie Stelle der Chriftenlehre tritt bie Zeitung! 

Das ift nun nicht aufzuhalten; mir haben nur bie 
Folgen aus den Prämiffen zu ziehen. Rückt bie Preſſe 
ein als Macht neben den andern Öffentlichen Mächten 
ober gar über ihnen, jo entfteht damit ein neuer Stand 
neben oder über den anderen Ständen. Der Kampf 
gegen bie alten Stände ift bod) nur müglid und hat 
nur dann eine verhältnigmäßige Berechtigung, wenn dies 
jenigen, melde bie alte Herrſchaft ftürzen, felbft wieder 
zu einem Stande erftarfen, um mit ben Anfprüchen eines 
Standes auftreten zu können. Gewöhnlich ſchließen fid) 
diejenigen, welche bod) bie Ariftofratie eines in fid) ge- 
ſchloſſenen Standes als eine Anmaßung abmeijen, jo 
bald als möglich zu einer engeren Körperſchaft zufam- 
men. Während man das mit Amt und Rang ausge— 
ftattete Gelehrten und Profeſſorenthum zerpflüdt unb 
fid an ben Präceptoren für den mang unb bie Plage 
ber Schulftube mit literariſchen Nadelftihen rächt, fot- 
bert man in literarifhen Verbänden, Schriftftellervereinen, 
auf SJournaliftentagen u. ſ. w., die Anerkennung und 
Rechte eines eigenen ſchriftſtelleriſchen Standes und richtet 
Schranken ber Ausſchließung auf. Ja gerade diejenigen 
Zweige ber Titerarifchen Produktion, melde fij am 
menigften einer Berufsftellung unterorbnen und irgend: 
welche Schranken anerkennen möchten, die „freien fünfte", 
pflanzen fid) jegt al8 Stände auf. Die „freie Wien: 
ſchaft“ und die „freie SBrefje" ift jet [don daran, zwi- 
{hen Berechtigten und Unberedhtigten unter ihnen felbit 
zu unterfeiden; es bildet fid) von felbft die Zunft; 


Schriftſtellerthum unb literariſche Kritik. 183 


nur eben mit:der Folge, daß überall da, wo man nidt 
die höheren ethifhen Kriterien für das Vorhandenfein 
der Berechtigung und des Berufes anlegt, die Ausſchei— 
bung παῷ niedrigeren egoiftifhen Motiven, nah Rück— 
fihten auf Partei und Tendenz, oft genug auf bem 
Wege des Terrorismus, fid vollzieht. Vielleicht 
gibt es jegt [don ein höheres Jntereſſe 
ber menjdliden Geſellſchaft, fid gegen eine 
Herrihaft des zunftmäßigen Literaten 
tbums ober Journalismus vorzufehben und 
zu ſchützen, und bie 9tedte und das Anſehen 
der übrigen Stände nidt preiszugeben. 

Mit dem Begriff de3 Standes fommen wir aber 
zu bem des Berufes gurüd. Im tiefften Seelengrunde 
will der Schriftiteller jelbft und till der Stand ber 
Schriftſteller ben „Beruf“ nicht verleugnen. Wenn wir 
nun nicht bei ber im fi widerſpruchsvollen Annahme 
ftehen bleiben wollen, daß es zwar einen Beruf gebe, 
berjelbe aber an feine wahrnehmbaren ober berechen⸗ 
baren Bedingungen geknüpft fei, jo merden mir mit 
Iogifher Nothwendigkeit dazu geführt, daß es, fo ſchwer 
durchdringlich uns bieje8 Gebiet ift, bennod) Kennzeichen 
des wirklichen Berufes geben müſſe, unb daß es ſchließlich 
auch eine über bem fubjeltiven Ermefjen des Einzelnen 
flehende Auftorität geben müſſe, welcher ein Urtheil über 
den Beruf zufteht. Man braucht aber bei diefer Auf- 
torität nicht fogleid) an Genjuren, feien e8 nun Schulen 
furem oder bureaufratijdje Inquifitionsproceffe mit Cin« 
fujroerbot ober VBücherverbrennung, zu denen. 

1) Unter den Anzeichen des Berufes, nad) denen 
wir mun forjdjen möchten, Laflen wir und gerne an erfter 


184 Linfenmann, 


Stelle jene innere Flamme gefallen, von welcher Wärme, 
Luft und Kraft zum Schaffen ausgeht, bie innere Bes 
gabung und Begeifterung, melde mit Naturgewalt zur 
Dffenbarung drängt. „Wer inneres eignes Leben in 
fid) trägt, der athm' e8 aus und frage feinem Richter”. 
So fagt man. Das Talent fhafft fid) Bahn, fudt 
fid einen Wirkungstreis und wird duch das Schaffen 
felbft immer aufs neue befrudtet. Es find Gaben von 
oben, welche burd) die Bildung ber Zeit und buch bie 
Gunít ber Verhältniffe geweckt werden. Diefelben kün- 
digen fid zumeilen mit folder Energie und Klarheit an, 
daß man den von ihnen Erfülten wohl einen Schrift 
fteller von Gottes Gnaben nennen mag. Seinen Lehr: 
brief braudjen wir nicht weiter zu prüfen; fein Können 
zeugt für ihn, und too er fid) naht, da erwedt er Freude, 
wie einer, der frohe und fröhliche Botſchaft bringt und 
wie e8 ber Apoftel von ben Boten des Evangeliums 
fagt (9tóm. 10, 15). Solche Männer find ja wirklich 
Boten Gottes, bie mobltbuenb duch das Land gehen. 
Ihre Spuren find leuchtend. Sie fragen nicht, ob fie 
teben dürfen, fondern ob Jemand fei, der fie höre und 
verftehe, und ber gutem Botſchaft würdig fei. Sie bie- 
ten Schäge aus, von melden bie Mitwelt iüberrajdt 
wird. Cie tragen das Bewußtſein ihrer Sendung in 
fid) fe[6ft und machen fid) geltend, mag aud) das Publi- 
fum fid fpröde und ablehnend dagegen verhalten oder 
gar eine höhere Gewalt ihre Thätigfeit hemmen und 
ihre Schriften unterdrüden. Man hat ehebem die θεῖς 
ligen Schriften der Chriften aufgeſucht, um fie zu zer 
ftören; feitbem haben in manden Feuerbränden Bücher 
gelodert, bie man durch Henkers Hand glaubte unter: 





Schriftftelertfum unb literariſche Kritik. 185 


drüden zu können; tbatjád)lid) hat man weder bie guten 
mod) bie fehlechten Bücher baburd) wirkungslos machen 
tönnen. Das wahre Können, das edte Talent, 
fireitet nit erft mit ben Mächten der phy— 
fildeu Gewalt um feine Beredtigung. 
Sollte nun aber damit gefagt fein, daß bet wahre 
Beruf fid) vom felbft offenbare in ber von der Natur 
verliehenen und durch Uebung und Studium verboll- 
kommneten Gabe be8 Schaffens, fo wären wir bod) in 
unferer Frage nod) nicht weit gefördert; ja mir wären 
nicht ganz vor dem Vorwurfe fidet, daß wir über eine 
biofe Redensart ohne beftimmten greifbaren Kern nicht 
binausgefommen. Am Können zweifelt ja Keiner, wenn 
et ber Mitwelt feine Dienfte barbietet. Es gibt, wie 
viel zu boe, [o aud) zu niedrige Anfprüdhe an dad 
Talent, und e8 ijt ftaunenswerth, mit wie unbedeutenden 
Leiftungen fih ein Theil ber Mitwelt zufriedenftellen 
läßt. Schon anders urtheilt das fpätere Geſchlecht. Um 
vor den umerbittlihen Richtern einer andern Generation, 
deren Urtheil nicht mehr von menſchlichen Zufälligkeiten 
Beftodjen wird, als berufen zu gelten, muß man etwas 
Nechtes geleiftet haben und zu leiften vermögen, etwas 
das ber Menfchheit zu Nutzen ift und fie fördert, das 
Ideen mie Fruchtkeime ermedt und geiftige Bedürfniſſe 
hervorruft, um fie befriedigen zu fónmen. Und dabei 
entjdeibet nicht die Größe allein, nicht einmal bie voll⸗ 
endete Meifterfchaft. „Iſt es nothwendig“, fagt Biſchof 
Dupanloup, „Meiſterwerke hervorzubringen, um die 
geiſtige Arbeit zu rechtfertigen? Nein, Gott bewäſſert 
die kleinen Blumen ebenſowohl wie die großen Bäume; 
die kleinen Blumen geben weniger Schatten, aber mehr 


186 Linfenmann, 


Wohlgeruch“ ἢ. Zum Blüthenfrühling gehören aud 
Heine und unfheinbare Blüthen, unb zur Garbe gehören 
taujenbe von Kleinen Fruchtlörnern; aber eines vom bei- 
den muß fein, Blumen, melde ba8 Auge erfreuen und 
bie Luft mit Wohlgeruch erfüllen, Blüthen, meldje Früchte 
anfegen, und enblid) ba8 reife Korn. Oder um ohne 
Bild zu fpredjen, das Können zeigt fid) darin, daß man 
entweder etwas Neues zu jagen weiß, ba8 einen Werth 
für die Menfchheit bat und das Andere nicht ſchon zuvor 
befler und wahrer gefagt haben, ober daß man das Alte 
in neuer angemefjener Form fagt und dadurch der alten 
aber geſchmähten und veradhteten Weisheit burd) den 
Reiz ber Neuheit und durch fünfilerijde Faſſung der 
alten Juwelen erneuerte 9fufmerfjamfeit zumendet und 
Ehre erweist. Auch nicht in ber Fülle der Produktion, 
in vielen und großen Bänden, liegt dad Merkmal ber 
Auserwählung, mod) viel weniger in ber autem Auf: 
dringlichkeit. Gleichwie nah einer ſchalkhaften Bemer: 
tung Lihtenberg’3 „in ber Kirche diejenigen am 
lauteften fingen, bie falſch fingen“, fo maden fid) vor 
bem großen Publitum gar oft diejenigen am lauteften 
bemerklich, welche nicht gottgelenbete Propheten find. 
Semnad) ift aud) die Driginalität nod) fein Zeugniß für 
das Talent; denn originell find aud) bie, melde „falſch 
fingen". Wenn Jemand ber Mitwelt vergeffene und 
verſchüttete Werke aus älterer Zeit wieder aufſchließt, 
jo wollen wir nicht darüber mit ihm rechten, ob er de 
Eigenen genug geleiftet, um feinen Namen mit Ehren 
genannt zu fehen, noch aud) darüber, ob die neue Form, 


1) Die Mädchenerziehung. Deut ton SRoftbaf. Mainz 
1880 ©. 77. 


Schriftftelertfum und literariſche Kritit. 187 


unter welcher alte Ideen oder Bücher neu erftehen, ab: 
fefut beffer oder Fünftlerifcher fein müffe ala das Alte. 
Ser mit gebildetem Geihmade die Ilias des Homer 
oder das Lied der Nibelungen in unfere moderne itera: 
tutfpradje überjeßt, überbietet unmöglich den äfthetifchen 
Werth des Driginals und leiftet bod) der funft ber 
SYegtgeit einen Dienft. Wer eine alte Chronik in urkund⸗ 
lid getreuer Form zum Abdrud und zur Kenntniß ber 
Forſcher bringt, hat weder nad) Yuhalt noch nad) Form 
etwas objektiv Neues geidjaffen, und. doch liegt Werth 
und Bedeutung darin, baf die Publikation etwas ſub⸗ 
jektiv Neues ift, bei welchem am Ende gar ber Haupt: 
werth auf ber Beibehaltung der alten Form liegt. Hier 
ift alfo allerdings alles relatio; aber bie allgemeine Auf- 
ftellung wird baburd) nicht umgeftoBen werden; bevu- 
fen zu fhreiben ift, mer etwas Rechtes zu 
fóreiben weiß, fei es nun daß es nad [εἰς 
nem Inhalte oder nad feiner Form für bie 
Menſchheit in engeren oder weiteren 
Kreifen einen ibeellen Werth hat. 

Aber aud) in diefer Faſſung ift unfer erftes Kriterium 
od) viel zu allgemein und fördert una nod) zu wenig in 
der Erfenntniß befjen, was man ſchriftſtelleriſchen Beruf 
nennt. Was für bie Menſchheit einen ibeellen Werth 
habe, ba8 läßt fid) nicht einzig darnach beftimmen, daß 
ἐδ von bet Site und Nachwelt aufgenommen wird, in 
ihr zur Wirkung fommt, Beifall findet, Spuren hinter 
läßt. „Der Baum ber Menſchheit vergibt des ftillen 
Gärtners, der ihn gepflegt in der Kälte, getränft in der 
Dürre und vor jdübliden Thieren geſchützt hat; aber 
er bewahrt treulid) die Namen, bie man in feine Rinde 


188 Sinjenmann, 


unbarmberzig eingeſchnitten mit ſcharfem Stahl, und er 
überliefert ſie in immer wachſender Größe den ſpäteſten 
Geſchlechtern“. Der dieſe Worte ſchrieb, H. Heine, hat 
freilich ſelbſt am wenigſten verſtanden, ſich unter die 
Wohlthäter der Menſchheit, unter die pflegenden Gärtner 
des Baumes der menſchlichen Cultur einzureihen; er lehrt 
uns vielmehr durch das, was ihm fehlte, dasjenige et- 
Tennen, was den wahrhaft berufenen und gottbegnabeten 
Schriftſteller ausmadt, bie fittlide Seite des 
Könnens, die etbifhe Verantwortlichkeit 
be8 Talents. Was einen wahren Werth für bie 
Menſchheit haben fol, muß ethiſcher Art fein, und ba- 
rum muß aud) ba8 Können, von toeldjem wir als einem 
Kriterium des Berufes vebem, nicht blos ein intelleftu- 
elles, fonberm aud) ein ethiſches fein, ein Können und 
ein Leiſten innerhalb ber Bahnen, welche in der Richtung 
des ewig Wahren und Guten liegen. Die Ablenkung 
von biefen Bahnen Tann nit im Willen der höheren 
göttlichen Vorfehung liegen; und wer bie falfdeu 
Bahnen gebt und Andere auf fie führt, 
Tann feiner göttlihen Sendung tbeilpaftig 
fein. 

Um nicht am unrechten Drte in Gittenvidterei zu 
verfallen, wollen wir ſchon ganz im allgemeinen zwiſchen 
Männern zweier Richtungen wohl unterfheiden. Zu der 
einen gehören diejenigen, welche vermöge ihrer geiftigen 
und fittlichen Tendenz zwar in mandjen Dingen von ber 
Bahn, bie wir für die vedjte halten müffen, ablenfen, 
aber bod) den eigentlichen Pol im Auge behalten, aus 
ber mandherlei Jrrungen be8 Lebens bod) den Glauben 
an bie ewigen göttlichen Grunblinien der Weltordnung, 





Schriftſtellerthum und literariſche Kritik. 189 


an bie Wahrheit und Tugend retten und barum bod) 
zur Belehrung und Veredlung der Menfchheit beitragen, 
wie wir ja einen Platon und Ariftoteles, einen Homer 
und Sophofles al8 bie Vertreter einer ethiſchen Welt: 
anfhauung zu ben größten Geiftern zählen dürfen; 
zur anderen Richtung rechnen wir diejenigen, melde nad) 
ihrer ganzen Bildung und Geiftesverfaffung centrifugal, 
bem feften Mittelpunkt einer unverrüdbaren fittlihen 
Ordnung abgetenbet, Tebiglich fid) jelbft Geſetz und Gott- 
heit find. Ob e8 unter ihnen Männer gibt, denen um 
eines göttlichen Berufes willen die fieblidje ober ſchreck⸗ 
lide, befruchtende oder verfengende Gabe ber Sprade 
und des Styls verliehen worden, wer will bie bejahen 
Ober verneinen? Gewiß gibt e8 Berufene vermöge ihres 
Talentes und vermöge be8 Bebeutenden, was fie durch 
dasfelbe hätten leiften können, bie aber ben feften Boden 
ber fittlihen Pflicht nicht immer gefunden haben. Wer 
möchte einen Leſſing, Wieland, Goethe, einen Heine oder 
Gutzkow unberufen nennen? Aber mie ganz anders hät: 
ten fie, und Viele neben ihnen, große Männer und Wohl: 
thäter unferes Volkes werben fónnen, wenn fie ihre Gaben 
vol unb ganz in den Dienft der riftlih-fittlihen Welt: 
ordnung geftellt, wenn fie von ihr aus ihre Probleme 
fid) gebildet hätten, und wenn fie von der Gnadenfonne 
ber von Chriftus geoffenbarten Religion beftrahlt und 
befrudjtet worden wären. So aber befteht ein Mißver- 
hältniß zwiſchen dem, was nad) göttlihem Berufe hätte 
geleiftet werden fónnen, und dem, was bie Menſchen aus 
den Gottesgaben gemacht haben, ein Mißverhältniß, das 
fi) ung vielleicht am beften erklärt im Lichte des Bibel: 
wortes: Viele find berufen, aber Wenige auserwählt. 


190 Sinfenmann, 


Nah al bem müſſen wir daran fefthalten, daß e8 
ethiſche Eigenſchaften find, die wir für das echte Können, 
für den Beruf zur Schriftftellerei fordern müſſen. Unter 
ihnen, von denen wir jedoch feine einzige Tugend bes 
chriſtlichen Katechismus ausſchließen, nennen wir Dei. 
ſpielsweiſe al8 erfte den Sinn für Wahrheit. Das 
ift keineswegs fo etwas Gelbftverftändlihes! Viele 
haben diefen Sinn für Wahrheit nicht, da fie nicht wahr 
fein und belehren, fondern mur glänzen, überraſchen, 
blenden wollen. Wer feine Feder in den Dienft von 
Einzelintereflen ftellt, wer Anderen zu lieb oder zu leid 
tebet, wer Anderen nachſchreibt, ohne ihre Glaubwürdig⸗ 
Teit jelbft zu prüfen, wer Geſchichte ſchreibt wie einen 
Roman, wer Dramen fchreibt blos für den Bühneneffekt, 
wer eine Sentenz formulirt nicht wie die Logik, fondern 
wie ber Reim es fordert, wer das Hohe und Heilige 
zum Gegenftand ber Komik mad, der hat ihn ebenfalls 
nit. Dagegen erbliden wir den Sinn für Wahrheit 
und ben Beruf fie mitzutheilen da, wo einer über ben 
Trug und die Lüge der Welt erröthet und den Muth 
bat, ben faliden Schein daran zu geben um ber bitteren 
Wahrheit willen; wo e8 ihn drängt, das erkannte SBeffere 
zum Gemeingut zu machen, unbefümmert um bie mög- 
lien Folgen, und to er ben faljjen Göttern diefer 
Welt den Muth der eigenen Weberzeugung entgegenftellt. 
Der Sinn für Wahrheit bedeutet ung aber mehr als 
blofe Liebe zur Wahrheit. Letztere kann blofer Affekt 
bleiben, ber im der Freude an bem erfannten Befferen 
und in der Trauer über die Schidfale ber Wahrheit in 
unferer Menſchenwelt befteht; der Sinn für Wahrheit 
aber lehrt und der Wahrheit nadjfpiren und fie finden, 


Schriftſtellerthum unb literariſche Kritik, 191 


mo fie verborgen ober entftellt war; er gibt ung bie 
JBünjdelrut9e in die Hand, mit deren Qülfe mir ben 
wrjjütteten Quellen nachgraben; er läßt dem Geifte 
nicht Ruhe, bis er von einer entbedten Wahrheit Bots 
ſchaft geben Tann. 

Mit biejem Wahrheitsfinn oder diefer geiftigen 
Spürkraft muß fid als zweite ethiſche Eigenfchaft unb 
ala Probe des Berufes eine rechte Mannhaftigkeit 
verbinden. Denn das Apoftolat der Wahrheit hat jein 
Martyrium. Wir verftehen aber unter Mannhaftigkeit 
nicht blos den Muth im gewöhnlichen Sinne Zum 
Opreden und Schreiben gehört ja in unferer Beit im 
ganzen wenig Muth; oft mehr zum Schweigen. Man 
fibt ja unter dem Cdjuge ber Preßfreiheit, unter bem 
Schuge der Partei, und, wenn man will, der Anonymi- 
tät. Wohl zuweilen visfirt eine Iterarifche Läfterzunge, 
baB fie — mit vornehmer ober gemeiner Waffe — zur 
Rechenſchaft gezogen werde, ober e8 risfirt ein Ange: 
ftellter, daß er vom derzeit regierenden Minifter bie 
wänfhenswerthe Beförderung nicht erlangt oder von 
einer weltlichen oder geiftigen Behörde einen andeutenden 
Wink erhält. Aber im Gegenteil find e8 ja viel eher 
die Schriftfteller, vor denen man fidj fürchtet, ift es bie 
"efle, vor welcher die Regierungen felbft ihre Maß— 
tegeln rechtfertigen oder ihre Mißgriffe beihönigen. Wer 
die Feder zu führen verfteht, macht Garriere, wenn er 
εὖ wur will. Auch in der Richtung auf bie entidjeibenbe 
Stage, ob eine Titerarifche Leiftung werde für vollwichtig 
erfannt werben oder nicht, legt unfere heutige Leſewelt 
dem Schriftfteler wenig Wagniß auf; man fauft ja bie 
Spreu theurer als das Korn, und derjenige Schriftfteller 


192 Sinfenmann, 


ift ber beliebtefte, teldjer bem Lefer am wenigſten durch 
Gedankenarbeit Beſchwerde macht. 

Wir aber verſtehen unter Mannhaftigkeit ben Muth, 
nidt zur Majoritätzu gehören, fid den 
Forderungen des Pöbels oder der Bar- 
tei nöthigenfalls entgegenzuftellen, den 
Muth, vornehm zu fein Wir halten εὖ nicht, 
tie jene Philofophen, melde ihre beffere Weberzeugung 
für fid) behalten und im übrigen bie Sprache ber Menge 
reden‘), Martyrium bedeutet Zeugniß, 
Belenntniß, Einfegen bereigenen Per 
fon für die verfolgte und verfannte Sade. 
Und nod) einen andern Muth gibt e$, den wir ala Probe 
des Berufes fordern, ben Muth, fid Correk— 
turen und Kritiken gefallen zu lafjen, 
der Belehrung von anderer Seite fid zu 
unterwerfen, einen Irrthum zu befennen 
und zurüdzunehbmen, und ε zu ertragen, 
wenn man nidterreidt, was manerrer 
den wollte Der Mißerfolg, das Ausbleiben bet 
fBilligung und des SBeifallà, aud) von Seiten der Cblen 
und Urtheilsfähigen, darf den Mann im Glauben an 
feinen Beruf nod) nicht irre machen. Wie ber inbijdje 
Weiſe fagt, baf die Flamme ber gefenftem Fackel fid) 
bod) ſtets emporrichte, jo muß ber feines Werthes be: 
mußte Mann, aud) wenn er niebergebrüdt wird, bie 
Richtung des Geiftes nach oben behalten und nicht um 
des leichteren Erfolges willen feinem wiſſenſchaftlichen 
Gewiſſen untreu werden. 

1) Loquendum cum multis, wapiendum cum paucis. 
(Geulinx) 


Schriftſtellerthum unb literariſche Kritik. 193 


Wir nennen unter bem fittlihen Cigenfdjaften des 
Schriftftellers von Gottes Gnaben meiter bie Fähig— 
feit, fid an das Gange hinzugeben, das 
Wohl und Wehe der Menfchheit in der eigenen Bruft 
mitzufühlen und Opfer zu bringen. Das Gegentheil 
hievon ift bie Selbſtſucht, die Ausnügung der bewußten 
Meberlegenheit der eigenen Kraft zum zeitlichen Vortheil 
oder zum eitlen Ruhme; vielleicht gehört hieher ſchon 
eine gewiffe Sorte von Reclame; ganz gewiß aber jene 
Agitation um jeden Preis, jenes Berühmtwerdenwollen, 
bem fein menſchlich erlaubtes Mittel zu gering ijt, jener 
Appel an bie große Menge, in meldem man fid) nicht 
ſcheut, den unzufriedenen und begehrlihen Maſſen zu 
ſchmeicheln. Die wahre Hingabe an das Ganze beftebt 
nit darin, daß man fid aus der rohen Mafje ein Fuß: 
geftel bildet für feine Perfon, fondern in einem edlen 
Gemeinfinn, ber zuerft an das Ganze denkt unb bem 
unter Umftänden der Schmerz und der Zorn um das 
Gange die Feder in die Hand drüdt. Facit indignatio 
versum. Der Gemeinfinn erzeugt fodann eine hefondere 
Sorm der Geredtigteit; er verlangt gleiches 
Recht für Alle, läßt aud bem Gegner Gerechtig- 
leit widerfahren und lehrt und, wie man fid) in den 
Gebanfenfrei8 einer fremden Anſchauung Dineimbenfen 
und ihm eine beredjtigte Seite abgewinnen müffe. Die 
Selbftfuht ift unduldfam und verfteht feinen Wider- 
ſpruch; der Gemeinfinn weiß zu [donen und 
iu erhalten, umniht das gefnidte Rohr 
gat zu gerbreden unb ben glimmenben 
$odt nidt aus zulöſchen. (Matth. 12, 20.) 

Und endlich gibt e8 aud) eine Tugend, bie fid) auf 

Sie. Quartaliggeift. 1883. Heft IL. 13 


194 Linfenmann, 


bie Form ber Darftellung bezieht. Wie mad) einem 
Worte von Alban Stolz eine lejerlid)e Handſchrift For: 
derung ber Humanität ift, mas ihm gewiß die Schrift: 
feßer bezeugen werden, fo möchten wir jagen, e8 fei aud) 
eine gute und edle Formgebung eine Forderung 
ber Humanität; bod) meinen wir damit an dieſer Stelle 
nicht ſowohl ben Styl, fondern eine Eigenſchaft der Rede, 
wie fie ber Pjalmift meint, mo er vom Worte Gottes 
jagt: „des Herrn Worte find keuſche Worte, 
Silber in Feuer bewährt“ (Pf. 11,7. Nicht 
Alle verftehen e8, was reiner feufdjer Ausdrud fei und 
mas e8 heiße, das Erz des rohen Gedankenausbruches 
im Schmelztigel zu läutern;; e8 ift nicht blos ein äftheti- 
fer, fondern ein fittliher Bartfinn dazu nothwendig; 
meil e3 hieran fo vielfach fehlt, darum entfteht au8 ber 
gegenfeitigen Berührung ber Geifter in ber literariſchen 
Slugeinanberjegung fo viel Unfriede und fo viel Nergerniß. 

Doch, tie viele geiftige Fähigkeiten und ethifche 
Eigenſchaften wir aud) noch aufzählen wollten, fo wären 
ale nod fehr fubjeltive Zeichen der Legitimation für 
den Schriftftellerberuf. €8 kann ein Mann fie alle zu— 
ſammen befigen, und er braucht bod) nit Schriftiteller 
zu werden, um feine Gaben und Kräfte zur Wirkung 
Tommen zu laffen. Viele wären fähig gut zu ſchreiben, 
und bod) ift e8 gut, daß fie nicht Ale fchreiben, weil 
wahrlich ſchon zu viel geſchrieben wird. 

2. Schon näher zur Sache fommen wir, menn wir 
die große Erfahrungsthatſache ins Auge fallen, daß nicht 
der Menſch fid felbft in feiner Berufswahl beftimmt, 
fondern daß er von außen beftimmt wird. Unfer Schid- 
fat liegt ja nicht in unferer Hand allein, jondern geftaltet 





Sqhriftſtellerthum und literariſche Kritif. 195 


fid duch Fügungen von oben und von außen; e8 ift 
abhängig von den Lebensbedingungen, melde in den all 
gemeinen Weltzuftänden gegeben find. 

Man wird Cdriftfteller, weil nun einmal der gei— 
flige Verband der Menſchen untereinander bie literarifche 
Mittheilung verlangt, weil in bie von den Vorfahren 
ſchon begonnene Arbeit junge Kräfte eintreten müffen, 
weil ein Bedürfniß nad) fchriftlihem Gedankenaustauſche 
beftebt. Und dann wird man Schriftfteller, weil bie 
Schriftftellerei gemiffe Reize Dat, weil man butd) fie zu 
Aemtern, Ehren und Brod, zu Anfehen, Macht und Eins 
fluß gelangt. Es ift Arbeit für Viele vorhanden, Grof- 
und Kleinarbeit; e8 gibt literariſche Handlanger, teil 
es Meifter, und Epigonen, weil e8 Heroen gibt. 

Das Schriftſtellerthum unterliegt gewiſſen Entwid- 
lungsgeſetzen, wie jede andere Form des öffentlichen 
Dienftes oder der gejelljjaftlidjen Funktion. Wie auf 
einem üppigen und gut gepflegten Boden reihlihe Frucht, 
jo wächst die Schriftftellerei unter der Gunft ber mos 
dernen Zeitverhältniffe üppig auf. Wenige werben fid) 
von Anfang an darüber Rechenſchaft gegeben haben, von 
welchem Geifte getrieben fie zur Feder gegriffen haben ; 
Zeit und Umftände haben e8 mit fid) gebradht. 

Bon ben Berfaffern der Bücher der heil. Schrift 
heißt es, daß fie vom heiligen Geifte infpiritt geſchrie— 
ben haben. Bon ben Prieftern unferer Kirche anderer 
ſeits fagen wir, daß fie durch innere Einſprechung, durch 
eine gewiſſe innere Mittheilung der göttlichen Abfichten 
berufen werden; wir ſetzen bei beiden übernatürlidhe 
Alte der göttlichen Vorfehung voraus; aber aud) biefe 
übernatürliden Einſprechungen be8 göttlichen Gedankens 

13* 


196 Sinjenmann, 


oder Willens vollziehen fid in Gemáfbeit jener großen 
Weltordnung, nad) welcher die göttliche Vorfehung Jedem 
feinen Plag beftimmt und Jedem feine irdifhe Aufgabe 
gumeift. Wenn wir nun aud) nicht für bie fchriftftelle- 
rijde Thätigfeit im allgemeinen ein übetnatürlide8 do- 
num vocationis im theologifhen Sinne vorausfegen, To 
find e8 immbin die verborgenen Führungen ber 
göttliden Sorfebung, in melden eine befondere 
Bürgfhaft für den Beruf zu finden ift, Wie wenige 
unter una, bie wir unà nun einmal zur Mitarbeit an 
bem geiftigen eben ber Zeit berechtigt glauben, haben 
von Anfang an ihr Abfehen auf eine ſchriftſtelleriſche 
Tätigkeit geworfen! Den Meiften haben in den Jahren 
ihrer Jugendentwwidlung ganz andere Ziele vorgeſchwebt, 
und ganz anders haben fie fi ihr Arbeitögebiet für 
bie Zukunft vorgeftelt, a8 e8 ihnen dann zu Theil gez 
worden ijt. Man mußte fie in SBertrauenaftellungen be- 
rufen, mußte ihnen Aufgaben ftellen, fie zu ſchriftſtelle— 
riſchen Verſuchen ermuthigen, mandmal faft πιοτα 
nöthigen; e8 ift nicht ihre Wahl gemejen, daß fie in 
Lebensſtellungen eintraten, im melden Anfpornung und 
Gelegenheit zur DVeröffentlihung von Erftlingsarbeiten 
gegeben oder pofitive Proben fhriftftelleriichen Geſchickes 
gefordert werden, oder in melden gar wiſſenſchaftliche 
Forſchung und Verwerthung der gewonnen Erkenntniſſe 
auf dem Wege der Deffentlichkeit zur Amtspflicht wird, 
Der Beruf geht in folhem Falle, die zeigt wenigſtens 
der Augenschein, von ben Menfchen aus, in deren Händen 
unfer Schickſal liegt und die für ung bie Stelle ber Vor— 
fehung einnehmen und ung einen Pla in ber mend 
liden Geſellſchaft anweiſen. IR bie fo, liegt in ber 


Schriftftellertfum und literariſche Kritik. 197 


Berufung duch bie Menſchen bie legte praktiſche Ent- 
ſcheidung, fo ftehen mir allerdings al8balb wieder vot 
einer unabjehbaren Schwierigkeit. Denn was Menſchen 
thun, darin herrſcht der Irrthum und der falſche Schein, 
Selbſtſucht und Parteilichkeit, zum mindeften Willkür, 
Laune, Zufall. Es ift ſchwer zu fagen, baB man Diet- 
auf feinen Beruf bafiren fóume; man wird bod) wohl 
wit fagen wollen, daß bie Dispofitionen, melde bie 
Menfhen untereinander treffen, jedesmal der volle Aus: 
bud ber Weisheit und Gerechtigkeit ſeien, daß alle 
Empfehlungen, Berufungen und Anftellungen jeweilig 
hen Tüchtigften zu Theil werden, und daß an Allen, 
welchen auf foldjem Wege die Gunft des Sdjidjala fid) 
zugeneigt, eine höhere göttliche Führung unb Berufung 
fichtbar geworben. 

Und bennod) muß aud) hierüber gefagt werben, daß 
der äußere Anfchein, bie empirifhe Erfahrung, nicht ent: 
fájeibet, und da wir der menschlichen Willfür, ber Irrung 
und dem Zufall jene eben bezeichnete Rolle nicht ein- 
tüumen; der Schein trügt, wie überall. Zwar unter 
ſcheiden fid) bie Gefege der geiftigen Welt von denen 
der Natur dadurch, daß jene ber Freiheit des Menſchen 
Spielraum geben und daher zahlveihe Ausnahmen zu= 
laſſen, und daß die Ausnahmen fid) auffülliger und em- 
pfindlicher machen αἴ die Negel, jo daß man bie Aus- 
nahmen mehr beachtet, von ihnen redet umb gegen fie 
teagirt, woburd mum eben ber Schein entftebt, als fei 
Alles hienieden auf Zufall, Glüd und Gunft geftellt. 
€3 wäre thöricht zu leugnen, daß Sander feinen Stand 
und feine Berufsftellung durch die Nachhilfe jehr menjd- 
liber Mittel gefunden, durch Bevorzugung auf Grund 


198 Linſenmann, 


ſeiner Geburtsanſprüche, durch Protektion, Kriecherei 
u. dgl. Aber was vermag dieß Alles gegen die Ver— 
bältniffe im großen, too der Mann feinen Pla fid) er⸗ 
ringen muß burd) Talent, Arbeit, Selbftüberwindung 
und Wagniß, manchmal unter ſchweren Entbehrungen und 
Demüthigungen und unter Opfern an körperlichen und 
geiftigen Gütern. Es ijt daher weder weiſe nod) geredit, 
in bem Gange der Dinge in biejer fublunaren Welt 
überall nur das Kleinlichmenſchliche, das Zufälige und 
Störende beroorzufehren und darüber die großen nnd 
gemeingiltigen Gefege ber fittlihen Weltordnung, das 
Walten einer höheren Hand, zu überfehen. Bon biejet 
höheren Betrachtungsweiſe haben wir nun aud) 9Intoen- 
dung zu machen auf diejenigen, welche durch einen εἶπε 
faden Gang ber Dinge, durch die ihnen zugefallene 
Sebensftellung, vielleidjt aud) dur wechſelnde Schickſale 
verfchiebenfter Art, dazu geführt werden, unter bie Schrift 
fteller zu gehen. Es ift, wir wiederholen e8, bei Vielen 
nit ihre eigene Wahl gemefen. Die Jagd nah bem 
Glüd oder der gemeine Drang nad) Amt und Brod kann 
e8 nicht fein, was zur Schriftftellerei führt; denn felbft 
wenn man bie legtere von ihrer glängendften Seite be= 
tradjtem wollte, jo gibt e8 bod) feinen andern Beruf, 
welcher wie der des Schriftftellers verbunden ift mit 
Aengften und Sorgen, mit Furt vor Mißerfolgen und 
SBeranttoortungen, ber fo reid ift an Enttäufhungen, 
Unbilden und Tüden jeder Art, und ber fo febr wie 
ein verzehrendes Feuer im Lebensmarke figt und in bie 
Seele brennt. 

Go fteht aljo über der Wahl des Einzelnen eine 
höhere Macht, bie wir mun zunächſt Schidfalsfü- 


Schriftſtellerthum unb literariſche Kritik. 199 


gung nennen wollen und melde den Einen über feinen 
Beruf zur Titerarifchen Arbeit aufklären, den Anderen 
beruhigen mag. Wer duch fie in eine Lage verjegt 
worden ift, in melder er feine Kenntnifje mittheilen, 
feine Talente literarifh fruchtbar anlegen, in den öffent: 
lien Angelegenheiten ein Wort mitfprehen unb im 
Ernſte ber Profa oder im Deiteren Spiele der fröhlichen 
Mufen ber Menſchheit nügen Tann, der möge fpreden 
und fingen, wie e8 ihm eim Gott gegeben. Wir bannen 
wiederum das Net dazu nicht an einen oder mehrere 
ber geſellſchaftlichen Berufsftände, fondern überlaffen es 
den bejonberen Verhältniſſen, darüber zu enticheiden. 
Der Eine politifirt oder bidjtet, weil ibm Muße gegeben 
ift; und daß fie ihm gegeben ift, kann ein Zeichen des 
Berufes fein. Ein Auderer forſcht unb unterjudjt und 
ſchreibt, weil darin fein Officium befteht, unb aud dies 
mag al3 Zeichen des Berufes gelten. Wir können aud) 
nicht jagen, daß gerade immer bie objektiv Tüchtigften 
in ben verfchiedenen Zweigen der öffentlichen SDienft 
Teiftung nun aud zur literarijdjen Vertretung der Qyu- 
tereffen ihres Dienftes berufen. feien; e8 find vielleicht 
nicht immer bie vortrefflihften Aerzte, denen neben ihrer 
Prarxis fo viel Muße gewährt ift, um aud) nod) ἠῴτί 
ftellerijd) aufzutreten, und e8 find ſicherlich nicht immer 
die bebeutendften Theologen und Prediger, melde bie 
Predigtliteratur bereichern; und bod) Fünnen jene wie 
bieje berufene Schriftfteller fein. 

Aber was und mum auch bei diefem Verſuche, dem 
Berufe zur Schriftftelerei beizufommen, Schwierigfeiten 
macht, das find bie Ausnahmen von der Regel; denn 
fie fpringen in die Augen und möchten erklärt fein. 


200 Linfenmann, 


Wenn bie Shidjalsführung allein eine Bürgihaft für 
ben Bernf gibt, wie Tann man dann pon Unberufenen 
teben? Und wenn e8 unter Taufenden nur einen Unbe- 
rufenen gibt, wer jagt mir, daß ich nicht diefer eine bin? 

8) Es ift nothwendig, die Führungen des Schickſals 
oder ba8 Walten ber göttlihen Vorſehung concreter zu 
faffen, indem mir ung burd) die Betrachtung ber com- 
creten Vorgänge im Leben orientitem. Die Schidjale 
der Einzelnen werden im Menfchenleben beftimmt durch 
beftebenbe Einrihtungen, melde mit bem 
gefellidaftliden Bedürfniffen einer 
Beit im Ginflange ftehen; burd fie wird bie 
Erfenntniß ber eigenen Befähigung gewedt, bie Kraft in 
Thätigfeit gefegt, ber Beruf geprüft, ber Funke des 
Genius angefadjt. 

Man könnte eine vieleicht ſchmerzliche Reflerion 
darüber anftellen, wie viele Geiftesgaben und Talente 
unentwidelt und ungenügt bleiben, weil ber niebrige 
Gulturftanb eines Volkes ihrer Entfaltung entgegenfteht. 
Man fragt fid) unwillkürlich, ob in den fráftigen Völkern 
einer unenttoidelten Culturepoche fid) nicht ſollten Geiſtes⸗ 
anlagen gefunden haben, melde zu glänzenden Werken 
ber Wiffenfaft und Kunft befähigt hätten. Wir glau- 
ben nit, daß man aus bem Mangel 2. B. an fünft- 
lerijdjen Leiftungen eines Volkes den Mangel an der in 
ber Natur angelegten Fünftlerifchen Begabung erſchließen 
dürfe; e8 ift nicht jo unbedingt richtig, daß das Talent 
Ober ba$ Genie fid) felbft Bahn breche. Es Tann zwar 
ein Aufblühen der Kunft nicht gedacht werden, ohne jene 
höheren Gaben, melde man nicht in ben Schulen er- 
werben Tann und melde von ben Aufträgen der funft- 


Schriftſtellerthum und literariſche Kritik. 201 


mäcene unabhängig find; aber es ift bod) aud) nicht 
möglich in einem Lande, in welchem e8 an bem gefell- 
ſchaftlichen Vorausfegungen für Cntmidlung, Studium 
und Berwerthung ber Kunft fehlt. Die Gaben, melde 
auf niedrigeren Stufen der Gultur eines Volles latent 
bleiben, werden auf der höheren Stufe als ein geiftiges 
Kapital erkannt, mit welchem man wuchern muß, indem 
man ihm Gelegenheit gibt, fid zu befruchten und nüg- 
lid zu machen. Die Geſellſchaft gibt gewiffermaßen ihre 
Mandate, ſchlägt die verborgenen Quellen an, leitet fie 
in die rechten Gefilde, und nimmt fie in ihren Dienft; 
ja fie nimmt bie Kräfte.in ihre Ordnung und Zucht, und 
ift dafür aud) in einem gemiflen Grade verantmott- 
lij. Es klingt parabor, daß bie menidlide Geſellſchaft 
einen Beruf ertheile oder ibm wenigſtens zu Hilfe komme, 
und bod) Liegt eine Wahrheit darin. 

Gà liegt nahe, den Beruf für den geiftlihen Stand 
zur BVergleihung berbeizuziehen. Wie groß in einem 
Rande bie Zahl der nad) geiftigen und fittlihen Anlagen 
jum geiftliden Stande Befähigten fei, entzieht fij) aller 
Berechnung; aber deutlich ift erkennbar, daß bie wirkliche 
Berufung zu demfelben im engften Zuſammenhange ftebt 
mit denjenigen Einrichtungen in der Kirche eines Landes, 
melde die Heranbildung eines Klerus fowie die redjt- 
mäßige Verwendung ber in den Lehr: und Erziehungs- 
anftaften gewonnenen neuen Kräfte bedingen. Wer über 
ba8 Geſchick und die Mittel verfügt, um einen tüdtigen 
Merus heranzuziehen und bemjefben bem rechten Geift 
einzuflößen, ber wird baburd) zum Organe, durch welches 
die göttliche Vorſehung den Beruf an Viele ertheilt. 
So hängt ja auch auf anderen Gebieten der focialen 


202 Sinfenmann, 


Arbeit bie Verwendung ber im Volke jhlummernden 
Gaben und bie Vertheilung der Kräfte von den öffent: 
lien Einrichtungen ab, von den Schulen, in denen bie 
Anlagen entdedt, die Neigungen gemedt und geleitet 
werben, von ben Lebensausfichten, melde bem Geifte bie 
Richtung zu geben pflegen, unb von ben lohnenden Ge- 
legenheiten zur Webung und Erprobung der Kräfte. Auch 
bieB ift eine Art von Schickſal, welches über ben Beruf 
enticheidet. 

Gibt e8 mum aud) fole gejellidaftlide Einrich- 
tungen, melden ein Einfluß auf ben Beruf zum Schrift: 
ftellertbum zufommt? Wir glauben ſolche allerdings 
bezeichnen zu können, und zwar ſolche mit pofitiver, und 
folde mit negativer Bedeutung. 

Zu ben erfteren Tönnten wir (don ben Fall zählen, 
daß ein Mandat ertheilt und aus Gehorfam gegen beu 
Befehl zur Feder gegriffen würde; bie ſittliche Berech⸗ 
tigung eines Autor3 läge dann in bem Gehorfam 
gegen eine höhere Stimme unb Auftori- 
tät. Und zwar madt ung bie Frage fein großes Be— 
denen, ob e8 denn ein Recht gebe, ein joldje8 Mandat 
zu ertheilen, und ob eine durch Befehl erzivungene 
Schriftitellerei aud) eine berufene fei. Gehorſam ift nicht 
nothwendig Zwang; es können gang wohl Befehlende 
und Gehorchende einander auf halbem Wege begegnen, 
indem bie erfteren mad) kluger Auswahl Befehle ertheis 
len und die anderen mit Bereitwilligfeit auf bie Befehle 
warten. Die menſchliche Geſellſchaft verlangt die Dienfte 
derer, denen fie in ihren Einvihtungen die Mittel dar- 
geboten bat, um ihre Talente auszubilden, und denen 
fie Stellungen bietet, in welchen ihr Wort Gewicht haben 


Schriftſtellerthum unb literariſche Kritit. 203 


kann. Im kleineren Kreife läßt fid) vielleicht anſchaulich 
machen, wie wir dieß meinen. Die Obern einer Ordens⸗ 
genofienihaft verfügen über bie leibliden und geiftigen 
Fähigkeiten und Fertigkeiten der Mitglieder des Ordens, 
indem fie dem einzelnen Mitgliede die naturgemäße Ent- 
faltung feiner befonderen Anlagen ermöglichen und bie 
entwidelten Talente dann in entſprechender Weile ver: 
merthen. Die Genoffenfhaft al8 fold legt ein Bil: 
dungsfapital an in Schulen, Bibliothefen, Archiven, 
Kunſtwerken, Sammlungen ver[djiebener Art. Bon ba 
beginnt ein Wechfelipiel von Geben und Empfangen, von 
Dienft und Gegenbienft, bie beiderfeit3 gerne geleiftet 
erden. Denken wir uns nun, daß bie Abſicht bet 
Dbern auf ein großes wiſſenſchaftliches Unternehmen, 
fagen wir etwa auf eine größere, weit außgreifende 
hiſtoriſche Arbeit gerichtet fei, [o werden bie tüchtigeren 
füngeren Talente dafür ausgewählt und ausgebildet und 
endlich mit beftimmten Aufträgen bedacht werben, Jeder 
mad) Maßgabe feiner fpeciellen Befähigung, über melde 
oft ein verftändiger Vorgefeßter weit richtiger urtheilt, 
a8 wer nur fid) felbft mißt und wägt. Go vertritt der 
Dbere in feiner Art die Vorſehung und entjdjeibet über 
den Beruf zum Gelehrten oder Künftler, zum Prediger 
oder Schriftfteler. Man möge dabei nicht unnöthiger 
Weiſe von einer Vergewaltigung der berechtigten Eigen- 
art und Celbftünbigfeit oder von einer Verkröpfung des 
Talents burd) den Zwang in feiner Entwidlung reben; 
im Gegentheil zeigt fid) darin — wir benfen an ver- 
nünftige und tooblbebadjte Einrihtungen — nur bet 
Segen einer rechten Leitung und Zucht des Geiftes. Wie 
Mancher fehnt fid) und firedt bie Hände aus παῷ Auf: 


204 Kinfenmann, 


gaben, Problemen und Aufträgen, und ift glüdlih, wenn 
man ihm ein rechtes Thema flellt und Vertrauen zeigt; 
ja Mancher verliert fid) in die Irre und Tann zu einer 
rechten Eriftenz nicht gelangen, weil e8 ibm an Man- 
daten fehlt; er gleicht dem Pferde, das wild der Frei 
heit genießt aber verhungert, während das Pferd, wel⸗ 
ches den Sattel trägt und dem Sporn gehorcht, genährt 
und gepflegt, geſchmückt fogar und geliebfost wird. Man 
geht ſicherer, wenn man fid) unter den Gehorfam ftellt. 
Bon den Mandaten hängt oft genug die georbnete und 
erjprieBlide Leiftung ab. Ein ausbrüdlide8 Mandat 
von Gott hatten, wie fie felbft berichten, mehrere SBet- 
faffer der bibliihen Schriften, z. B. ber Apokalypſe; 
eine jedenfalls beachtenswerthe Annahme ift e3, daß bie 
Verfaſſer unferer Evangelien einer Art Auftrag von Sei— 
ten ihrer Brüder und Mitapoftel nachgekommen feien. 
Aber bie menſchliche Gefelihaft ann ihre Mandate in 
verſchiedener Form ertheilen; manchmal ift es ein beut- 
liches Wort, manchmal nur ein unausgeſprochenes Be: 
bürfniß, das man belaufen kann. Die menſchliche Ge—⸗ 
fellidaft hat nicht blos Einen Obern, fondern fie hat 
viele Herren, welche Dienfte anweifen und Aufträge er 
teilen; Herren oft, denen man dient, ohne zu merken, 
daß man fid) der Freiheit begeben hat. 

Ein weiteres Moment in dem Einfluß der gefell- 
ſchaftlichen Einrihtungen auf die Erfenntniß des Berufs 
erbliden mir in pofitiven SBeranftaltungen, vermöge deren 
die Einzelnen fid) freimilig der Prüfung unb Controle 
unterftellen. Zwar gibt ε glüdlicher Weife nod) keine 
Schriftſtellerſchulen, wie e8 funftjulen unb bald aud) 
Schauſpielerſchulen gibt. Dichterſchulen laſſen fi, wie 


Schriftſtellerthum unb literarifche Kritik. 205 


einften8 die Prophetenſchulen, nicht vom Staat beftellen. 
Dagegen benfeu wir an bie gelehrten Gefellihaften, bie 
Akademien, literarifhen Clubs, in gewiſſem Sinne ge- 
hören bieher aud) Kleinere Unternehmungen, wie Zeit 
ſchriften. Die Art und Weile, wie diefe Societäten, 
Gelehrtenrepublifen im Kleinen, Arbeitskräfte und Hilfs— 
truppen an fid) ziehen, wie fie die Aufgaben vertheilen, 
der Individualität zugleih Spielraum gewähren und 
Grenzen ziehen, die Arbeit Vieler einem Princip unter: 
ordnen, alle Mitarbeiter mit einem Corpsgeiſt erfüllen 
und ſchließlich aus den Leiftungen der Vielen das Brauch⸗ 
bare und Dauernde erlefen, wirkt erziehend, anregend, 
fördernd, wehrt Ginbringlinge ab und läßt die Beten 
und Auserwählten zur Geltung fommen. Wenn man 
bod) einmal von einer Gelehrtenrepublif redet, fo madıt 
fid) gerade von ihr bie alte Erfahrung geltend, daß 
Stepublifen nur beftehen burd) einen hohen Grab per- 
Tóntider Tüchtigkeit ihrer Bürger und burd) einen Geift 
edler Ariftofratie, der duch alle Schihten ber Bevöl— 
terung und durch alle öffentlichen Einrichtungen gebt. 
Daß aud) folhen Inſtitutionen, wie wir fie angedeutet, bie 
Keime zu Entartungen nicht fehlen, faun ihre Bedeutung 
am fid nicht abſchwächen. Vom Pythagoräerbunde an, 
von meldem die nicht ber Wiſſenſchaft der Zahlen Kun: 
digen ausgeſchloſſen wurden, bis auf unfere Tage haben 
bie wiſſenſchaftlichen und literariſchen Gefellihaften ben 
etbijden Werth, daß fie bie Ausſchließung von Unbes 
Tufenem anftreben. Freilih aud) nur ein Moment unter 
ben mehreren, bie in Betracht fommen. 

In einer anderen vorherrfhend negativen oder vers 
bindernden Weife wird in bie Angelegenheiten des Schrift- 


206 Linfenmann, 


ſtellerthums und in die Scheidung der Berufenen von 
ben Unberufenen eingegriffen burd) bie verſchiedenen ge: 
fegliden Cinvidtungen, bie wir unter bem 
Gemeinbegriff der Cenſur gufammenfaffen, bie eigent: 
lid) nur mod) ber Geſchichte anzugehören [deinem und 
über deren Berechtigung bie Anfihten der heutigen Welt 
weit auseinandergehen. Hieher gehören Approbation 
oder Reprobation literarifher Werte, 
bie Einrihtung von eigentlidhen Genfur 
bebürben, Grtbeilung von Privilegien 
für Drud und Verlag, Maßregeln zur 
Verhinderung ber Verbreitung von Shrif 
ten, bie einmalvon ber Genfur betroffen 
find, Berdammungsdecrete der Parla 
mente und Index librorum prohibitorum. 

Für bie Veurtheilung der genannten Einrichtungen 
fei mum vor allem gefagt, daß wir uns durch Zeitftrö- 
mungen und burd) Vorurtheile des Zeitgeiftes, wodurch 
bie Gefihtspuntte verrüdt und die Urtheile gefälſcht 
werden, nicht dürfen beirren laffem. Sodann wiſſen wir 
zu unterſcheiden zwifchen dem gemeinjamen Gebanten, 
der zu jenen Inſtitutionen geführt hat, und der zufälli- 
gen, unoolfommenen und vergängliden Form, melde 
biejelben in der Erfheinung angenommen haben. Die 
Formen tragen das Geprüge ber Zeit ihrer Entftehung; 
fie entſprechen einem Bedürfniſſe, welches fid) mad) dem 
Grade ber Eultur der menſchlichen Geſellſchaft richtet, 
fowie nad) dem Umfange der Macht, melde zur Durd: 
führung der Anorbnungen zu Gebote fteht; fie können 
und müſſen aber fallen, wenn fie entweder ihren Zwed 
erreicht haben und gegenſtandslos geworden find, ober 


Schriftftelertfum unb literariſche Kritik. 207 


wenn berjelbe Zweck burd) andere, beffere Mittel erreicht 
werden fann und menn bie Nachtheile ihrer Aufrecht- 
erhaltung größer geworden find als die Vortheile. Fer: 
wr muß davon abgejehen werden, daß bie beften ge: 
ſehlichen Einrihtungen zeitweilig in die Hände unge 
ſchidter und nicht fompetenter Organe gegeben werden; 
denn wir mifjen, daß ber Mißbraud, den bie legteren 
vielleicht mit bem Gejege treiben und welcher baéjelbe 
Dbio$ unb oft wirkungslos macht, nod) feinen Beweis 
gegen bie innere Berechtigung folder Gejege ober Ein- 
tihtungen abgibt. Endlich fei daran erinnert, daß ſolche 
Einrihtungen, wie wir fie im Auge haben, nicht für fid) 
allein, jonberm nur im Zufammenhange mit vielen au- 
deren Faktoren wirkſam find, daß man von einer ver: 
ainzelnten Anordnung nicht einen vollen Effekt erwarten 
darf, fo[glid) aud) aus dem Mißerfolg mod) feinem un— 
günftigen und ent|deibenben Schluß auf ben Charakter 
und Werth einer Maßregel im allgemeinen ziehen Tann. 

Schon Platon ſchreibt in feinem Buche vom Staate bem 
Sokrates die Worte zu: „Halte id) e8 bod) für ein ge 
tingereß Vergehen, unborjüglid) an Jemanden zum Mör: 
der zu werben, als Hinfichtli des Schönen, Guten und 
Gefegmäßigen einen Menfchen irre zu führen”. Wenn 
es nun eine Pflicht der Obrigkeit ift, die Bürger des 
Staates gegen jene materiellen Gefahren und Angriffe 
zu ſchützen, fo fdeint e8 nur folgerichtig zu fein, gegen 
ein Uebel, welches ſchon bie alten Weifen richtig für ein 
υἱεῖ größeres gehalten haben, den Bürgern ebenfalls 
einen Schuß zu gewähren, und mur über bie beite Art 
dieſes Schuges kann man verſchiedener Meinung fein. 
Dieß ift der Standpunkt, den bie Fatholifhe Kirche mit 


208 Linfenmann, 


ihren Bücherverboten, und bie Staaten mit ihren Genfur- 
gefegen eingenommen. 

Gin Index librorum prohibitorum ijt ung daher 
πο burdjaus fein verbrecheriſches Attentat auf bie Rechte 
und Freiheiten des menſchlichen Geifte8; aber wir haben 
an diefer Stelle aud) fein Interefje daran, für irgend 
eine biftorifche Form, 3.8. ber ftaatlihen Büchercenfur, 
einzutreten. Ueber den mirflihen Erfolg folder ber 
Geſchichte angehörenden Einrichtungen mad) gerítreuten 
und fragmentarijden Weberlieferungen ein Urtheil zu 
ſprechen, ift ebenjo wohlfeil als leichtſinnig. Es läßt fid) 
ſchlechterdings nicht mehr ermitteln, mie viel eine Gen: 
furanftalt genügt und wie viel fie etwa geichadet habe, 
wie viel fie zur Verhinderung ſchlechter Literaturerzeug⸗ 
niffe beigetragen, oder wie viel fie der Verbreitung beà 
wahrhaft Guten im Wege geftamben; ob vielleicht bie 
Behörden mandhmal beim beten Willen fehlgegriffen, ob 
die Genfur die Raben fliegen laffen, aber bie unfchuldi- 
gen Tauben mißhandelt habe, all dieſes kann ja nichts 
entſcheiden, wenn e8 nur zufällig und nicht mejentlid) 
mit der Genjur verbunden ijt. Wenn mir heute Genjur 
und obrigkeitliches Eingreifen in das Gebiet der geiftigen 
Produktivität al8 Anachronismus und als unzuläfjigen 
Eingriff in bie Dódften geiftigen Güter brandmarfen 
mollten, fo würden wir bereits felbft einem Anachronis: 
mus verfallen; denn es ergeht ja ſchon wieder mit immer 
machfender Energie der Ruf nad) Preßgefegen unb nad 
Ueberwachung, beziehungsweife Unterbrüdung gewiſſer 
Gattungen von Erzeugnifjen der Literatur und Kunft. 
Alſo bod) fol es ein Recht geben, die Produktion zu 
überwachen, und demgemäß eine Auftorität, um zu unter: 


Schriftſtellerthum und literariſche Kritik. 209 


ſcheiden und zu richten! Wir geſtehen es, wenn man 
irgendwo in dieſen Sachen an die Auktorität appellirt, 
da fühlen wir uns heimatlich angemuthet. Denn das 
it es ja, was bem ernſter Denkenden überall vorſchwe— 
ben muß, daß „ein Richter wieder auf Erden” fei, daß 
über bem fubjeftiven und gerfabrenen 
Steinen, Negieren unb Zerfiören ein Feſt— 
Rebendes, Unantaftbares und Heiliges 
fei, worüber eine Auftorität qu maden 
und zu walten berufen ift. Wilde unb zuchtloſe 
Anarchie muß aud) für bie geiftige Tätigkeit, und für 
fie erft recht, als fchädlich erfannt werden, und e8 muß 
zu ben Aufgaben ber Obrigkeit gehören, aud) bier ein 
Oberhoheitsrecht geltend zu maden. Es ift Feine 
Dpiumvergiftung, gegen bie man Gefege 
madt, jo verberblid für Leib und Seele, 
ala bie Vergiftung des Volkslebens burd 
tine zügellofe Preffe unb eine unfitt 
lide Literatur. 

Wir fteben wieder bei unferem Grundgebanfen; e8 
muß einen Richter geben, welcher ſcheidet zwifchen be: 
rufener und unberufener Schriftftellerei, jo ſchwer es 
«ud fein mag, in diefen Dingen gerechtes Gericht zu 
üben. Daß mir bie Aufftelung einer auftoritativen 
Gewalt in unferer Angelegenheit nur da mit Fug und 
Recht genehmigen, mo biefelbe zugleich eine höhere als 
gemein menſchliche Sanktion hat, daß wir zu Genforen 
und Richtern in legter Inſtanz nicht Polizeipräfidenten 
und Bureaubeamte acceptirem, bie ift mur eine Gon- 
fequenz aus ben Vorausfegungen einer hriftlichen Welt: 
anfhauung. Beraltete Inftitutionen einfach neu aufgue 

Test. Duartaffgrift. 1889. Heft IL. 14 


210 Sinjenmann, 


legen und für neue Verhältniſſe zu empfehlen, müre 
thöriht; man muß aus den Fehlern der Vorfahren 
lernen, anftatt fie zu erneuern. Ein Syſtem von ftaat: 
lider Genfur und bureaufratifher Benormundung gehört 
nit zu unferen Wünfden. Wit müffen aber in ber 
Sybee, mit Vorbehalt ber von der Gegenwart erforberten 
Modifikationen, bie Berechtigung der kirchlichen Geſetze 
auf bem bier berührten Gebiete aufred)t halten und 
Tonnen, ftreng genommen, nur innerhalb der Kirche jene 
Auftorität finden, von der wir gefprochen haben. Den 
idealen Werth eines höhern, mit wirklicher Auftorität 
ausgeftatteten Areopages oder Richterftuhles über Ber: 
geben gegen bie höchſten Güter ber Menfchheit wird man 
anerkennen müffem, aud) menn man an ber Verwirk⸗ 
lichung dieſes Gebanfens für bie Gegenwart verzagen 
müßte. Man müßte fid aber zuvor über den Gedanken 
ſelbſt Mar werben, und dürfte vor allem einem ſolchen 
Gerichte nicht mehr zumuthen, al8 e8 feiner Natur nad 
Teiften Tann, und ihm feine größere Wirkung zufchreiben, 
als es jelbft für fid) beanfprucht. Es entgeht ung nicht, 
welche Einwendungen aud) von ftreng religiös und kirch⸗ 
lid) gefinnten Männern gegen die heutige Bedeutung oder 
Handhabung bes kirchlichen Inder der verbotenen Schrifs 
ten gemacht werden. Noch neueftens ſchreibt P. Curci 
in feiner Schrift: Das neue Jtalien und die alten e: 
Toten: „So ift die einzige ernfthafte Bedeutung, ble 
heutzutag ber Inder zu haben feheint, bie, in den Hän- 
ben der Zeloten ein febr bequemes Werkzeug zu fein, 
um Männer und Bücher zu bi&crebititem, welche ihnen 
unbequem find; mie ein Damobklesſchwert über ben 
Schriftſtellern allein hängend, welche ber firdje ergeben 


Schriftſtellerthum unb literariſche Kritik, 211 


find, tar und ift er eines ber wirffamften Mittel, um 
in gewiſſen praktiſchen Punkten bie Anfiht vieler Katho— 
lem auf dem falſchen und verberbliden Wege zu et- 
helten, auf den fie von ben eloten geführt find.” Man 
febt, e8 find Worte eines aufgeregten Parteimannes, 
die ba8 Weſen ber Gad nicht treffen; ob faktiſch feine 
Beobachtungen richtig feien, berührt und gar nicht, weil 
fie auf 9tebenjád)lidje8 und Zufäliges gehen. — fein 
Eenfor aber und fein Mitglied der Indercongregation 
lebt heute in dem Wahne, durch das Verbot eines Bu- 
ches die Verbreitung ber in bemjelben erhaltenen Lehren 
verhindern zu Tönnen; infofern trifft ein verwerfendes 
Urtheil mehr die Perfonen al8 die €adje; aber dieß ift 
niht wider den Zweck; bie Berfonen find e8 ja, welche, 
berufen oder unberufen, bie Dinge machen. Ein Urtheil 
darüber aber, ob ein Auftor berufen gemejem, in einer 
€ade mitzuſprechen, ftebt mir höher, wenn e8 von einer 
Stelle ausgeht, toeldje eine höhere Berechtigung reprä— 
fentirt, als wenn es felbft vom gemifjenhafteften Recen- 
fenten ohne Auftorität erlaflen wird. Ja wir münidten 
etwas weniger entſchiedene Machtſprüche von Stecenjenten, 
welche fid) oft mit einer angemaßten Aultorität umklei- 
den, unb würden dafür gerne einige Urtheile ber wirt: 
lien Auftorität hinnehmen; letzteres allerdings unter 
der Borausfegung, daß befolgt würde, mas eine Synode 
von Aachen a. 817 ben kirchlichen Vorgefegten vorſchreibt, 
περ fie follen bedenken, daß die Kirche der Taube 
gleiche, welche nicht mit Krallen, fondern nur mit fanfs 
tem Flügelſchlage ftraft. 

Um Mißverftändniffen vorzubeugen, als ob wir 
werthvolle Errungenſchaften preisgeben und Verrath an 

14* 


212 Sinjenmann, 


einer Cadje, bie wir bisher zu vertreten flolj waren, 
begehen Tönnten, nemlid) an einer vernünftigen Freiheit 
der miflenfchaftlihen Forſchung, fei hier nod) Folgendes 
zur Erklärung beigefügt. Wenn wir von Gefegen und 
Einrichtungen, [εἰ e8 innerhalb ber ftaatlidem ober ber 
kirchlichen Rechtsordnung, ſprechen, jo jegeu wir nidt 
blos ein loyales Verfahren im Aufftellen unb im Hand⸗ 
haben ber Gejege voraus, jonbern wir verlangen vom 
Gefege, daß es in fid gut und vernünftig, fomie bap 
εὖ feinem mede wirklich entiprechend fei. Wenn mir 
oben Attentate auf bie geiftigen Güter ber Menſchheit 
mit Vergehen gegen körperliche oder materielle Güter in 
Vergleich gebrad)t haben, jo wollen wir burd) den Hin 
weis auf die Aehnlichkeit Teineswegs den geneigten Leer 
über den großen Unterfchied zwifchen beiden hinwegtäu— 
ſchen, fonberm mir fegen die Gabe der Unterſcheidung 
bei ihm voraus. Es können darum aud) bie zur Auss 
übung einer Genjur über literarijdje Leiftungen gewähl- 
ten Mittel, wenn fie dem Zwecke entſprechen follen, nicht 
mad) den gewöhnlichen Normen des polizeilichen Schutzes 
oder Zwanges eingerichtet werden. Wo man in der 
Aufrichtung oder Handhabung einer Cenſuranſtalt oder 
eines Inder ber verbotenen Bücher dieß faktifh über— 
ſehen hatte, da hat ſich der darin gemachte Fehler bitter 
gerächt. Die das Geſetz hätten vollziehen ſollen, ſahen 
ſich machtlos, weil ihre Maßregeln den Dienſt verſagten; 
der Macht⸗ und Hilfloſigkeit folgte das Odium, weil von 
dem Gejeg Einzelne muglo8 und unverftändig verit 
wurden; dem Odium folgte die Lächerlichkeit und der 
Hohn, welche ber Colb für oftentative vergebliche Kraft: 
anftvengung zu fein pflegen; unb endlich folgt bie Selbſt⸗ 


Schriftſtellerthum unb literariſche Kritik, 213 


Hilfe, bie man dem Gefegcábrude entgegenftellt und wo⸗ 
duch das Gefeg illuforiih gemacht wird. Daß butd) 
verbietende Maßregeln mandmal erft recht bie Luft am 
Verbotenen gereizt wird, ift ohnehin befannt. Ebenfo 
befannt aber find bie Mittel ber Selbfthilfe gegen ein 
underftändiges Preßgeſetz und ein geiftigeB Schutzzoll⸗ 
fohem Wir nennen unter ben wirkſamſten und ein- 
greifendften nur bie geheimen Verbindungen 
oder Gefellfhaften mit bem beftridenden Reize 
ihres Geheimniſſes, ihrer eſoteriſchen Weisheit, ihres 
myſtiſchen Symbolismus, und mit ihrer alle Schlöffer 
und Riegel fprengenden Ausdehnungskraft. Man hat 
über bie Schlagbäume gefpottet, womit man geglaubt 
hat, ben Büchern und den Ideen den Eingang in ein 
Land verfperren zu können; allerdings, Schlagbäume 
find nicht geeignete Mittel, um eine neue Geiftesftrömung 
und ein burd) bie Beitliteratur verbreiteteg ſittliches Con⸗ 
tagium von einem Lande abzuhalten. Aber daß es nun 
gar feine Maßregeln geben folle, um bie geiftige Atmo⸗ 
fpbáre eines Volkes vor bem Fäulnifgifte zu bewahren 
ober dem Geiftesleben eine normale Richtung zu geben, 
darf daraus aud) nicht gefolgert werden. 

Es ift ungerecht und nicht folgerichtig, wenn man 
bei bem Namen Genjur oder Inder in erfter Linie an 
Geiftesprud und abſichtliche Verdummung des Volles 
ober gar an mittelalterliche Folterfammern und Scheiter 
haufen denkt. Der Idee nad bedeutet Genfur 
Schutz, nidt ünterbrüdung, einen Schuß, ben 
wir fo gerne und unwillkürlich für ung felbft anrufen, 
den wir aber nicht dulden wollen, wenn ihn Andere ges 
gen und in Anſpruch nehmen. Wenn bie im Dienfte 


214 infenmann, 


ber kirchlichen Sache ftebembe Preſſe in ihren Mitthei- 
lungen ober ihrem Tone den Gegnern unbequem wird, 
fo fordern diefe, bie fid) gewöhnlich liberal nennen, das 
Einſchreiten ber kirchlichen Behörden; die Liberalen for 
dern die Genfur! — Der Schuß, den bie Perſonen für fid) 
beanfprudjen, foll aber eigentlih um ber Cade willen 
gefordert und gewährt werben. Wer ift es denn eigent: 
lid; — mir fegen geordnete Zuftände eines civilifirten 
Landes’ voraus —, der die Genjur fürdtet? Doc wohl 
nit der, ber einen reden Glauben an die Wahrheit 
und Geredtigfeit feiner Sache hat! Nicht ala ob nie 
mals die Wahrheit verfannt und bie Gerechtigkeit ver- 
legt worden wäre oder werden könnte, ober al8 ob mie- 
mal3 neuen Cntbedungen und Ideen ein unberechtigtes 
Mißtrauen entgegengebraht würde. Aber der rechte 
Glaube an bie Güte einer Cad würde bem Auftor, 
aud) wo er Wiberftand findet, nur zu um fo intenfiverer 
Arbeit anfpornen in der Hoffnung, daß die Wahrheit 
ſchließlich bod) zur Anerfenntniß gelangen müffe, wenn 
e8 wur erft gelungen fein würde, fie in überzeugungs- 
voller Weife darzuftelen und annehmbar zu maden. 
Sprechet eure Gedanken und Cntbedungen fo aus, daß 
fie dem Publitum in die Augen leuchten, legt nicht an 
ehrwürdige und theure Weberlieferungen den Feuerbrand 
an, ehe ihr an deren Stelle etwas Befleres zu ſetzen 
wißt, prüfet eure Hypotheſen, ob fie mit demjenigen 
übereinftimmen, was Allen für fittlih unb unverletzlich 
gilt, gebet nicht blofe Meinungen für neue Glaubensfäge 
aus, dann werden euch Inderxurtheile nicht fürchterlich 
werden. Andererjeitd wird aber aud) bafür geforgt 
werden fónnen, daß bie Genforen mur über [olde Dinge 


Schriftftelertfum und literariſche Kritik. 215 


zu richten haben, über melde ihre Auftorität in ber 
Form unb in der €adje eine fompetente ift. Wir Könn- 
ten una wenigſtens einen Zuftand vorftellen, in welchem 
Eenforen, die nicht nothwendig Dunkelmänner fein müß- 
ten, der menſchlichen Geſellſchaft wirkliche Dienfte leiſte— 
ten duch eim zielbewußtes, auf reife Studien und Er- 
fahrungen gegründetes und von fittlichen Geſichtspunkten 
geleitetes Eingreifen in die Literatur mit ihren mannig- 
fajen Strömungen. Wohin wir biejem Areopag ver- 
Legen, welche Organiſatirn wir ihm geben, melde Com: 
petenz ihm zutheilen möchten — das wollen wir hier 
lieber nicht verraten; man founte an unferer eigenen 
Competenz zweifeln. — 

Bas wir mun im bisherigen über bie Kennzeichen 
des ſchriftſtelleriſchen Berufes theils ausgeführt, theils 
wut angebeutet haben, macht nicht ben Anſpruch, jeben 
Anftand zu befeitigen und eine glatte Zöfung einer fdjtoie: 
tigen Frage durch eine bequeme Formel zu ver[predjen ; 
unfere Bemweismomente haben nicht die Bünbigfeit eines 
unantaftbaren fertigen Schlußverfahrens, oder einer, Ziffer 
für giffer nachweisbaren, Abrechnung. Die einzelnen 
Kriterien, wenn man jedes für fid) nimmt, entfprechen 
nur annähernd und fozufagen nur gelegentlich ber von 
uns ihnen zugemutheten Aufgabe; fie fóunen unter Um: 
fünben gerade in ber Hauptfache unwirkſam bleiben, in 
allen Fällen bleiben febr erhebliche Ausnahmen von ber 
Regel beftehen. 

Allein nun müflen wir uns daran erinnern, baf 
bir in die Unterfuhung über die Kennzeichen des ſchrift⸗ 
Relleriichen Berufes unter bem Eindrud eingetreten find, 
daß e8 aus ganz ſchwerwiegenden Gründen einen bejon- 


216 Linfenmann, 


dern Beruf dafür geben müſſe und baf e8 für bas Wohl 
ber menſchlichen Gefellihaft von ganz eminentem Werthe 
wäre, wenn bie Unberufenen ausgefchieden werben könn— 
ten. Sodann glauben wir, von bem einzelnen bisher 
befprodenen Kriterien den Nachweis erbracht zu haben, 
daß fie zu unferem Zweck wenigſtens in einer nahen 
Beziehung ftehen und daß jedes für fid) [don jedenfalls 
in ber Richtung liege, welche e8 geeignet macht, um auf 
unfern med Einfluß zu üben. Faſſen wir fie aber in 
richtiger Verbindung miteinander, jo erhält je eines ber- 
felben feine Verſtärkung burd) das andere; fie erflären 
und befeftigen einander gegenfeitig, ja fie können am 
rechten Orte ftellvertretend einander erſetzen. Endlich 
aber haben wir darauf aufmerkſam gemadt, daß wir 
bie Frage mad) einem Berufe für eine fhriftftelerifche 
Thätigfeit mur bis auf einen getoiffen Punkt hin nad 
ihrer Aehnlichkeit mit anderen Berufsfragen behandeln 
Tonnen, baf vielmehr der ganz eigenartige 
Charakter diefes Berufes fid aud an 
ganzeigentbümliden Symptomen werde 
tund geben, dunkel zwar und myſteriös, aber darum 
nit weniger real. 

4) Es liegt aber das, wornach wir fuchen, im innern 
Marke des Schriftſtellerthums felbft, ift ein Glied von 
ihm. Das ShriftftellerthHum trägt eine 
Gorreftur feiner felbft iu fid; wir met 
nen die literarifhe Kritik. In ihr kommt 
ein altes und edles Rechtsprincip zur 
Geltung, mornad Jeder nur bon Seine 
gleiden und Ebenbürtigen geridtet zu 
werdenden Anſpruch hat. Wir reihen demnach 


Schriftſtelerthum und literariſche Kritif. 217 


die Funktion der literariſchen Kritif, das Recenfenten- 
thum, unbedenklich unter die Kriterien des fchriftftelleri- 
iden Berufes ein; erft dadurch wird, wie toit glauben, 
die Kette derfelben richtig geſchloſſen. 

Indem τοῖς aber der literarifhen Kritik bieje Aufs 
gabe zumeifen, haben wir auf einmal bie ganze hohe 
tide Bedeutung derfelben ausgeſprochen unb fühlen 
und für bie Folgerungen hieraus vol verantwortlid. 
Wir weifen bem Kritiker oder Recenjenten eine wohl be- 
tehtigte und verantwortungsvolle Stelle an auf bem 
Arbeitsgebiete der Wiffenfhaft und Kunft; tiv erbliden 
in ber Kritif nicht etwa ein Paraſitengewächs auf dem 
Felde der Gefammtliteratur, nicht ettoa nur den unver 
meiblihen Einſchlag von gemeinmenfd)lider Streitluft und 
Tadelfuht in bem Gewebe der miflenihaftlihen und 
lünflerifdjen Produktion, bie magenbe Weſpe an ber 
füßen vollen Frucht, die perjonificitte Scheelſucht gegen- 
über dem Talent und der Arbeit; fie ift vielmehr eine 
Meifterin von hohem Beruf und Amt, zu urtheilen und 
zu richten, Einlaß zu gewähren und auszuſchließen. 

Haben wir hiemit angedeutet, was die Kritik nad 
ihrem principiellen Rechte leiften Tönnte und folglich aud) 
follte, fo ift damit freilich nod) nicht behauptet, daß fie 
es aud) thatſächlich überall vermöge und wirklich leifte. 
Bir fómmen im Gegenteil zugeben, daß bie Rritif, je 
höher, ivealer und ethiſcher wir ihre Aufgabe anfegen, 
um fo weiter oft in ber Wirklichkeit hinter derſelben 
zurückbleibe. Auch bief ift zunächft aus allgemeinen Er- 
fahrungen des Menſchenlebens erklärlich; aber nur wer 
felbft der ecclesia militans auf bem Gebiete der Litera- 
tur angehört, Kann bie ganze Fülle von Schwierigkeiten 


218 Linſenmann, Schriftſtellerthum unb literariſche Kritik. 


ermefjen, welche fid) zwiihen dem 9[uftor und bem Ari: 
tifer auffbürmen und von denen jede Fiber der Per: 
ſönlichleit auf beiden Seiten in Bewegung verfegt wird. 

Wären unfere literarifche Verhältniffe durchweg ger 
funde oder normale, fo ließen fid) aus bem einzelnen 
Erſcheinungen auf dem Gebiete ber geiftigen Produktion 
die leitenden Gedanken und Kegeln leiht ableiten, und 
εὖ wäre ung leicht, aud) über bie berufsmäßige Aufgabe 
der literariſchen Kritik einfadje Wahrheiten aufzuftellen 
und aus bem Leben heraus zu illuftriren; die Kritik 
wäre eim leidenfhaftslofer Gedankenaustauſch, bei wel- 
dem beiderfeit3 ein freunblidje8 Geben unb banfbare8 
Empfangen wäre. Die Kritif müßte dann in ben beften 
Händen fein, und fie fónnte nie ba8 wahrhaft Gute 
bemmen und das entſchieden Unberechtigte gut heißen 
und fördern. 

So aber, wie bie literavijdjen Verhältniffe in Wirk: 
lidfeit find, too bie geiftigem Organismen ebenfo an 
ihren Zeitkranfheiten leiden, wie die menſchlichen Körper 
an Neroofität und mangelhafter Blutmifhung, mag e8 
allerdings zweifelhaft erfcheinen, ob die literarifche Kris 
tif aud) mur halbwegs in einer folgen Verfaſſung fid) 
befinde, daß man fie fo Dod) ftellen und ihr fo hohe 
Aufgaben, wie wir e8 vorhin gethan, zumeifen Fönnen. 
Nun wohl, e8 ift wenigftens ein Problem, einer eigenen 
Unterſuchung werth! ! 

(G&tuf folgt.) 





2. 
Zur Chronologie Tatiau’s. . 





Bon Prof. Dr. Zunt. 





Früher wurde allgemein angenommen, die Apologie 
Tatian’3 [εἰ erft mad) Juſtin's Tod, fomit erft nad) den 
Jahren 163—167 entftanden, in welche diefer mad) ben 
neueften Berechnungen fält. In jüngfter Zeit wurbe 
aber bieje Annahme, da bie eigenen Worte Tatian's 
(Orat. c. 19) Juſtin nicht als todt, fondern im Gegen- 
theil nod) al8 lebenb erfcheinen laſſen, energifch beftritten 
und das Schriftftüd bis gegen bie Mitte des zweiten 
Jahıhunderts hin vorgerüdt. Zahn Ὁ) meinte, weil Tatian 
ebenfo wie Juſtin be8 Cynikers Crescens gebenfe, fo 
tönnten bie Apologien beider Männer ziemlich gleiche 
zeitig gefchrieben fein, alfo etiva um 150. E3 würden dann 
die 9tadjftellungen, welche Crescens gegen Tatian, den 
bereits Bekehrten, alfo Kurz vor Abfaſſung ber Griechen- 
tede richtete (Orat. c. 19), mit denjenigen, deren Ziel 
Yuftin tar (Apol II c. 3), zeitlih zufammenfallen, 
was fer natürlich wäre. Doch fol die Möglichkeit nicht 
iu beftreiten fein, daß jene 9tadjftellungen zeitlich aus— 


1) Tatian’3 Diatefjaron 1881 S. 274—280. 


220 unt, 


einander fallen, und jo würden fid) für bie Abfafungs- 
zeit die Jahre 150—161 ergeben, da biefe8 Jahr, das 
erfte des Lucius Verus als Mitregenten des Kaifers 
Mark Aurel, wegen der in der Rebe vorfommenden 
Alleinherrſchaft als terminus ad quem zu gelten habe. 
Harnad?) glaubte bie Apologie auf 152/3 anfegen zu 
follen und er ftügte fi, von ber aus der Erwähnung 
des Crescens folgenden zeitlichen Zufammengehörigkeit 
der Apologien Tatian’3 und Juftin’3 abgefehen (bie des 
legteren werden ober vielmehr wird, ba bie zmei in 
Wahrheit nur eine fein follen, παῷ der Chronik be 
Eufebius, bezw. Julius Africanus, dem Jahr 152 zus 
gewiefen), auf bie Erwähnung des Cynikers Proteus 
(Or. c. 25), indem er aus ben lebhaften Farben, mit 
denen Tatian desfelben gebenft, fließt, der Apologete 
babe befjen Treiben mit eigenen Augen und zwar zu 
Rom um 152 gefeben, ba derfelbe um bieje Zeit aus 
der Reihshauptftadt ausgewiefen worben fei. 

Ich führte kürzlich (€. 161 f.) diefe Chronologie an, 
ohne fie weiter zu prüfen. Als id) bald darauf Ge: 
legenbeit erhielt, mid) näher mit ihr zu befaffem, fliegen 
mir fofort die gewichtigſten Bedenken auf, und fie be 
treffen nicht bloß bie bereit früher beftrittene Anficht 
über die zweite Apologie Juſtin's als einem bloßen Nach⸗ 
trag zur erften, fondern aud) die übrige Beweisführung. 
Zahn und Harnad betrachten ben Sext der einſchlägigen 
Stelle der Tatian’chen Apologie, fo wie er in den Hand: 
ſchriften vorliegt, ohne weiteres al unantaftbar und be: 
sihtigen Eufebius, der uns einen abweichenden ert 

1) Die Ueberlieferung ber chriſtlichen Apologeten des zweiten 
Jahrhundert? 1882. ©. 196—213. 


Zur Chronologie Tatian’s. 221 


überliefert (H. E. IV c. 16), ber Fälſchung. (8. wurde 
bereit3 früher bemerkt, daß diefe Beſchuldigung nicht ge- 
rechtfertigt ijt. Bei genauerem Nachſehen dürfte fid) der 
eufebianifhe Tert fogar als ber beſſere herausftellen. 
Unterziehen wir ihn deshalb einer näheren Prüfung. 
Indem wir ben Tert nad) ber zweiten Ausgabe 
von Otto in ber Weife folgen [affem, daß wir die in 
Frage ftehenden Worte mit gefperrter Schrift geben und 
bie Lesart des Eufebius in Klammern beifegen, lautet 
der in Betracht kommende Sag (Or. c. 19) folgender: 
maßen: Κρίσκης οὖν (γοῦν) ὁ ἐννεοττεύσας τῇ μεγάλῃ 
πόλει παιδεραστίᾳ μὲν πάντας ὑπερήνεγκεν, φιλαργυρίᾳ 
δὲ πάνυ προσεχὴς ἦν. Θανάτου 0) € καταφρονῶν 
txazaggoveiy συμβουλείων͵ οὕτως αὐ v ὃν (αὐτός) ἐδεδίει. 
τὸν ϑάνατον, ὡς xol ᾿Ιουστῖνον καϑάπερ καὶ ἐμὲ ὡς 
(μεγάλῳ) κακῷ τῷ ϑανάτῳ περιβαλεῖν πραγματεύσασϑαι, 
διότι κηρύττων τὴν ἀλήϑειαν λίχνους xal ἀπατεῶνας 
τοὺς φιλοσόφους συνήλεγχεν (τοὺς φιλ. καὶ dr, 
ἐξήλεγχεν). (ὃ handelt fid) aljo, da die erfte Differenz 
ebenfo wie bie legte auf fid) beruhen fann, vor allem δα: 
vum, ob Tatian καταφρονῶν oder καταφρονεῖν συμβουλεύων 
ſchrieb, und e8 ift einzuräumen, daß hier eine Entſchei— 
dung [dimer ift. Die Lesart der Handſchriften ift präg- 
mantet als der euſebianiſche Tert und fie ſcheint infofern 
bie Präfumption der Urfprünglickeit für fid) zu haben. 
Aber ba$ καταφρονεῖν συμβουλεύων läßt ben Gegenjag 
ziifchen ber Lehre unb dem Verhalten des Cynifers 
ftärfer hervortreten. Es findet zudem eine gewifie Be: 
ftátigung an dem furg vorausgehenden λέγοντες ϑανάτου 
καταφρονεῖν, und dürfte vielleicht infofern den Vorzug 
verdienen. Doc [εἰ dem, wie ihm wolle. Bon größe 


222 gunt, 


rer Bedeutung ift bie Differenz nicht, und eine idet. 
heit ift faum zu gewinnen, ba bie Gründe für bie beiden 
Lesarten fid) fo ziemlich das Gleichgewicht halten. 

Aehnlich verhält e8 fid) mit ber zweiten Stelle. 
Beide Lesarten laffen fid) rechtfertigen. Das αὐτόν dient 
zur Verſtärkung des Gedanfens, daß e8 gerade der Tod 
mar, den Erescens zu verachten lehrte, den er anderer- 
feit8 wieder [o fehr fürchtete. Nehmen wir dagegen 
αὐτός, jo wird ber Umftand in ein ftärkeres Licht ge: 
rüdt, bab derfelbe Mann, ber den Tod verachten 
wollte, vor bem Tod Dinmieberum eine fo große Furdt 
empfand. Die Entfepeidung ift aud) hier ſchwierig. Dod) 
möchte id) mit 9tüdfidjt auf die Stellung das Iavarov 
am Anfang des Sages den Handſchriften gegen Eufebius 
den Vorzug einräumen. 

Anders dagegen dürfte in bem dritten Fall zu ent- 
ſcheiden fein. Die Handihriften bieten hier nicht einmal 
einen le8baten Tert. Sie enthalten nämlich ble oben 
ftehenden Worte felbft nicht. Wir Iefen vielmehr καὶ 
ἐμὲ οὕς (ftatt ὡς), und ihr Sert ift fo unmöglid ganz 
beizuhalten. Wir miffen ung vielmehr eine Emendation 
erlauben, um ihn ertrüglid) zu machen, und biejer Um: 
fand dient ihm gewiß nicht zur Empfehlung. Dazu 
fommt, daß das μεγάλῳ aus inneren Öründen vor ber 
anderen Lesart ganz entſchieden den Borzug verdient. 
Der Stadjbrud in dem Gafglieb liegt offenbar auf dem 
κακῷ, und bie Voranftellung be8 μεγάλῳ ftellt fid) daher 
ebenfo als angemefien dar, als das καϑάπερ καὶ ἐμέ 
wie eim überflüfjiges und fchleppendes Einſchiebſel aus: 
fiebt. Hier dürfte alfo über ben urfprünglichen Text 
Tein ftarfer Zweifel obwalten, unb mit der Sicherheit, 


Bur Chronologie Tatian’s. 223 


die überhaupt zu gewinnen ift, wird zu Gunften des 
Euſebius zu entſcheiden fein. Die Worte, mad) denen 
zur Zeit ber Cntjdeibung der Tatian’ihen Apologie 
Juftin ποῷ al8 lebend erfceint, Tommen bemmad) in 
Begfall. 

Synbeffen follen aud) nod) die folgenden Worte des 
Schülers für das fortbauernbe Leben des Lehrers geu- 
gen. Im unmittelbaren Anſchluß an das oben Ange: 
führte fährt námlid) Tatian fort: Τίνας δὲ ἂν καὶ διῶξαι 
τῶν φιλοσόφων el um μόνους ὑμᾶς εἴωθεν; und man 
betont, daß e8 εἴωϑεν heiße, und nicht εἰώϑει, und daß 
εἴωθεν die Bedeutung be8 Präfens, nicht des Präteri- 
tums habe. Laffen wir biefe8 zunächft auf fid) beruhen, 
fo ift einzuwenden, daß Juſtin gar nidt, wie Zahn 
wollte, als Subject in dem Gage zu benfen ift, fondern 
vielmehr Erescend. Wäre ber Otto'ſche Tert richtig, fo 
würde freilid) jene Annahme zuläffig fein. Aber das 
ift fchwerlich anzunehmen. Das Wort, daß bier den 
Ausſchlag gibt, das ὑμῖν ftebt allerdings in den Hand: 
ſchriften. Allein e8 ift nichts weniger al8 haltbar, und 
bie gelebrten Franzofen Gotelier (Eccl. gr. Monum. III, 
678) und Maran haben in ihm mit Recht ein Beifpiel 
ber häufig in ben Handſchriften vorkommenden Verwechs⸗ 
lung der zweiten Perſon mit der erften gejehen. Man 
braudt, um bie Richtigkeit dieſes Urtheils zu erkennen, 
die Stelle wur genauer ins Auge zu faſſen. Ih mill 
nicht bie Frage aufwerfen, ob wohl Tatian feinem Lehrer 
Öffentlih ein Verfolgen von Perfonen zugefhrieben 
haben würde, wenn fid) berjelbe bieje Handlung je hätte 
zu Schulden fommen laffen. Die Worte S,atian'8 felbft 
zeigen mit aller Beftimmtheit, wer als Verfolger anzu: 


224 Sunt, 


jeben ift. Bon Juſtin wird wohl bemerkt, daß er, indem 
et die Wahrheit verfündigte, die Philofophen der Leder: 
baftigfeit und des SBetruge8 überführte. Bon Gre8- 
cen aber wird ausgeführt, daß er damit umging, ben 
Apologeten dem Henker zu überliefern. Das 
διῶξαι kann bei diefem Sachverhalt nur auf den Cyniker 
bezogen werden !). 

Es it aljo zweifellos ἡμᾶς ftatt ὑμᾶς zu lefen, und 
unter dem „wir“ find entweder die Chriften überhaupt 
oder, wenn das in Frage ftehende καὶ ἐμέ urſprünglich 
fein ſollte, Juſtin und Tatian gu verftehen. Letztere 
Auffaſſung legt fid infofeın nahe, als die ἡμεῖς im 
Sage einen Theil der Philofophen bilden und Juſtin 
und Tatian wirklich Philofophen waren. Daß aber aud) 
jene Deutung zuläßig üt, zeigt die Ausführung Tatian’3 
in c. 32. 33, wo die Chriften überhaupt al8 Philofophen 
erſcheinen. Wie e8 fid) aber damit verhalten mag: bie 
Lesart ἡμὸς ijt außer Zweifel, und demgemäß fällt aud) 
der aus biejem Sage gezogene Beweis für das [orte 
dauernde geben Juſtin's in fid) zufammen. 

Freilich fónnte man einwenden, daß Syuftin, wenn er 
auch nicht der SBerfolgenbe fei, bod) alà Verfolgter nod) 
am Leben geweſen fei müffe, und gegen biefe Argus 


1) Higenfeld, der in „Zeitſchr. f. miff. 25." 1888. ©. 38—43 
bie Frage nad) ber Entftehungszeit der Tatian'ſchen Apologie eben: 
falls einer genaueren Prüfung unterzog, weißt ©. 41 inàbejonbete 
darauf Hin, daß ba8 ὑμᾶς, wie ed bod) nach der fraglichen Aufs 
faſſung fein folte, gar nicht auf bie Gynifer gehen fann, ba bie 
Gynifer vorher gar nicht genannt werden, ert c. 25 burdj die An- 
ſpielung ὦ ζηλῶν ἄνθρωπε τὸν κύνα berührt werden, und ba8 
ὑμεῖς in der ganzen Schrift Tatian's Lediglich auf die Qellenen 
geht. 


Bur Chronologie Tatian’s. 225 


mentation ift am und für fid) nidjt8 zu erinnern. ber 
fie hält wenigftens hier nicht Stand, weil das εἴωϑεν 
an unferer Stelle überhaupt feine Präfensbedeutung 
haben kann ober, wenn das Wort je nicht anders zu 
m deuten wäre, die Form nicht aufrechtzuerhalten fein 
wire‘). Man eriväge nur, um fid davon zu über 
zeugen, wie Tatian von Crescens durchweg im Präteri— 
tum ſpricht, indem er bemerkt, er babe bezüglich ber 
Nuabenliebe alle übertroffen (ὑπαρήνεγκεν), ex fei durch- 
aus gelbgierig gewefen (ἦν) unb er Habe ben Sob 
fo ſehr gefürchtet (ἐδεδίει). So ſpricht man ſchwerlich 
von einem Lebenden, e8 müßte denn mur fein, derfelbe 
wäre im Laufe der Zeit ein anderer Menſch geworden, 
was aber im vorliegenden Fal ſchlechterdings nicht am« 
qunehmen ift, und demgemäß mar zur Zeit der Ent 
ftehung ber Apologie Tatian’3 aud) Crescens nicht mehr 
am eben. Die Herausgeber bet Apologie haben diefen 
Sachverhalt wohl gefühlt. Sie überjeten das δἴωϑεν 
ebenfo mit Recht mit solebat (nicht solet), al8 der Tadel, 
den Zahn über diefe Ueberfegung ausſprach, umgeredjt- 
fertigt ift. Nach dem Vorausgehenden ift eine andere 
Ueberfegung gar nicht möglich. Fraglich Tann nur fein, 
9b die Form δἴωθεν b Io B eine Präfensbedeutung hat 
und nicht bisweilen aud) in der Bedeutung des Präteri- 
tums vorfommt. Die Frage mögen diejenigen entjchei- 
den, bie fid) dazu für Tompetent eradjtem. Für bie bot» 
liegende Aufgabe hat fie nicht viel zu bedeuten. Denn 
wenn fie je im erfterem Sinne zu eutſcheiden ift, fo ijt 

1) Diefen für unfere Frage nicht untvichtigen Punkt hat aud) 
Hilgenfeld überfehen, beffen Ausführungen aber im übrigen mit ben 
borftehenben in ber Qauptjadje übereinftimmen. B 

Kool. Quartalfärift. 1888. Heft IL. 15 


226 gunt, 


ftatt εἴωθεν eben εἰώϑει zu lejen. Die Emendation ift 
fo leidjt zu wagen und zugleich jo unbedingt nothwendig, 
daß fie feiner Beanftandung unterliegen Tann. 

Mit biejem Ergebniß haben wir endlich einen feften 
Anhaltspunkt in unferer Frage gewonnen. Ich erklärte 
mid) zwar fchon oben für bie Anficht, daß aud) Juſtin 
gut Zeit ber Tatian’ihen Apologie nit mehr unter den 
Lebenden gemeilt Habe, unb id) neige mid) biejer An- 
fit um fo mehr zu, als aud) bie Worte Tatian’s c. 18: 
Kai ὁ ϑαυμασιώτατος Ἰουστῖνος ὀρϑῶς ἐξεφώνησεν 
ἐοικέναι τοὺς προειρημένους λῃσταῖς, iof ber Gegen 
bemerfungen Harnad’3 auf mich den Giubtud machen, 
ber Apologete, werde bur) fie ebenfalls ald tobt vor- 
ausgefegt. Aber ἰῷ räume ein, daß, von biejer Stelle 
ganz abgejefen, aus bem SBerpültnif der beiden Texte, 
des handſchriftlichen und des eujebianijden, eim hin 
veichender Beweis nod) nicht zu führen if. So viel 
qud) für die Urſprünglichkeit des lepteren Textes ſpricht, 
fo if bod) die Möglichkeit nicht zu beftreiten, daß aud 
ber erftere au8 der Feder Tatian’3 hervorgegangen fei. 
Hier aber bleibt nicht einmal ein folder Zweifel übrig. 
Crescens war zur Zeit ber Apologie Tatian’3 unleugbar 
todt, und fo ift ba8 fjauptargument nichtig, das Zahn 
und Harnad für die zeitliche Zufammengehörigfeit ber 
Apologie Tatian’3 mit der (zweiten) Apologie Juſtin's 
vorbrachten. Crescens wird wohl in beiden Schriftftüden 
erwähnt: Aber in bem einen erfcheint er al8 lebenb, 
in dem andern als todt, und bieje Art der Erwähnung 
nöthigt uns, bie beiden Schriftftüce nicht zufammenzu: 
rüden, fondern auseinanderzuhalten. Das Maß, um 
das das fpätere über das frühere herabzurüden ift, 


Zur Chronologie Tatian's. 221 


bleibt dabei freilich unbeftimunt. Immerhin aber wird 
& nicht bloß auf ein paar Jahre zu beichränfen fein, 
und jo wirft unfer Ergebniß aud) auf die ältere An- 
nahme ein günftiges Licht zurüd, mad) ber Zatian feine 
Apologie erft mad) dem Tode feines Lehrers im Chriften- 
tum ſchrieb. Iſt diefelbe auch nicht über jeden Zweifel 
erhaben, fo darf fie toenigíten8 bie Wahrſcheinlichkeit 
für fid in Anſpruch nehmen, unb wenn Juſtin zur Seit 
der Apologie feines Schülers je mod) am Leben mar, jo 
muß er bod ganz nahe am Ende feiner Tage geweſen 
fein. Wir dürfen daher, ba ja ein genaues Datum 
ohnehin nicht zu gewinnen ijt, ben Tod Juſtin's bei ber 
Beitbeftimmung der Tatian'ſchen Apologie ohne Anftand 
als terminus a quo betrachten. 

Harnad glaubt bie Schrift nod) aus einem anderen 
Grund ziemlich gleichzeitig mit der (zweiten) Apologie 
Juſtin's entftehen laſſen zu follen. Er meint, daß Tatian 
um 152 ba8 Xreiben be8 Gonifer8 Proteus in Rom 
gejehen haben müffe. Allein diefe Annahme ift durchaus 
wilfürlih. Ein Mann, der fo viel auf Reifen war wie 
Tatian, konnte bem Cyniker aud) anderswo αἵδ᾽ in Rom 
and zu einer anderen Beit al8 um 152 begegnen, und 
Zahn verzichtete mit Recht darauf, bieje8 Moment zu 
einer [o knappen Zeitbeftimmung zu benügen. Ya e8 
befteht nicht einmal ein Dinreidjenber Grund zu der An- 
nahme, daß Proteus zur Zeit der 9[pologie mod am 
Leben geweſen, bieje aljo jedenfalls vor 165 entftanden 
fei. Tatian konnte allerbing8 c. 3 und 19 aud) des 
Todes bieje8 Gpnifer8 gedenken. Da er aber in era: 
Tüt und Anararchus ſchon bedeutende Nepräfentanten 
eines auffallenden Todes, bezw. philoſophiſchen Gelbft- 

15* 


228 gunt, 


mordes batte, founte er Proteus ganz wohl auf fid 
beruhen laſſen, und fo bietet ung bie Nichterwähnung dieſes 
Mannes an den fraglichen Stellen lediglich feinen Stüg- 
punkt zu näheren hronologiihen Schlüffen. Webrigens 
mag, mem e8 beliebt, mit Zahn immerhin fo viel feft: 
halten, daß ber Tod des Proteus, wenn bereit erfolgt, 
von Tatian hätte erwähnt werden müſſen. Die Sache 
wird baburd) nicht wefentlich geändert. Jener Tod er« 
folgte 166. Juſtin's Tod füllt in die Jahre 163—167. 
Die beiden Annahmen, daß Proteus zur Zeit ber Tatian’- 
ſchen Apologie nod) gelebt habe, Juſtin aber bereits ge- 
ftorben geweſen fei, ſchließen fid) aljo keineswegs aua. 

Der Tod Yuftin’3 hat aljo bei bet Zeitbeftimmung 
ber Apologie Tatian’3 a[8 terminus a quo zu gelten. 
Der terminus ad quem Tann aber jenem Zeitpunkt nicht 
gar ferne liegen. Da Tatian von den Alten?) als 
Schüler Juſtin's bezeichnet wird, fo muß er nod zu 
deſſen Lebzeiten das Chriftentbum angenommen haben 
ober wenigſtens in nähere Beziehungen zu demſelben 
getreten fein. Diefer Webertritt Tann aber nicht allzu 
lange vor Juftin’3 Tod erfolgt fein. Denn bie Apologie 
Tourbe, wie allgemein angenommen wird, bald nad der 
Belehrung geldyrieben; fie ſollte ja zum Theil zur Recht⸗ 
fertigung derfelben dienen. Zwiſchen Apologie unb Be— 
kehrung liegt alfo mur ein Heiner Zeitraum, und ba in 
diefen der Tod Juſtin's fält, fo ijt diefe in die [egtem 
Lebenstage Juſtin's zu verlegen, jene der nächſten Zeit 
nad bejjem Tod gugutpeifen. 

Verhält e8 fid) fo, jo kann Tatian gerade in der 


1) Iren. Adv. haer. I c. 28, 1 ed. Stieren. 


Bur Chronologie Tatian’s. 229 


Bett, in die παῷ ben fiherften Berechnungen ber Tod 
Juſtin's fält, in ben Jahren 163—167 ebenfowohl das 
Chriſtenthum angenommen als feine Apologie geldyrieben 
haben, und ba tir jenen Tod nit näher beftimmen 
linnen, fo dürfte e8 am angemefienften fein, gerade bei 
bien Zahlen aud) für Tatian ftebem zu bleiben. Bon 
einer Geburt um 110, wie Zahn fie behauptet und 
Hamad fie annehmen muß, wenn er ba8 Datum aud 
nijt ausdrücklich angibt, fann hienach feine Rede mehr 
fein. Tatian erſcheint in ber Apologie wohl als reifer, 
zugleich aber aud) nod) als junger Mann, und wir haben 
den Verfaſſer der Schrift etwa al8 einen angehenden 
Bierziger zu benfem. Er ift demgemäß ſchwerlich oot 
120, vielleidjt erft um 125 geboren. Gbenjo ijt bei bie- 
fem Sachverhalt ein allzu langer Aufenthalt in Rom 
παῷ ber Belehrung nicht anzunehmen. Nach Epiphanius 
(8. 46 c. 1) febrt Tatian nah bem Tode Juſtin's in 
den Drient gurüd und fällt bort der Qürefie anheim, 
und die Wahrſcheinlichkeit Spricht dafür, daß er jenen 
Schritt bald nad bem Hingang feines Lehrers that, 
wenn er zuvor auch nod) bie Apologie fchrieb. Die 
Gründung einer Sefte erfolgte nad) demſelben Gewährs— 
mann um da3 12. Jahr des ft. Antoninus Pius. Diefes 
Datum Tann ziar nicht richtig fein. €8 widerfpricht ſelbſt 
der meiteren Angabe be8 Epiphanius, mad) der Tatian 
«ft nad) dem Tode Juſtin's im den Orient gurüdge- 
lt iſt. Doch ift e8 nicht ganz werthlos. (8 beruht 
wohl auf einer Verwechslung des f. Antoninus Pius 
mit Mark Aurel, da das Auftreten Tatiau's als Häre— 
iier in ber Chronik des EufebiussHieronymus bem 12. 
Jahre diefes Kaifers oder dem Jahre 172 gugemiejem 


230 Funk, 


wird‘). Die Angabe darf in Ieterer Form als glaub⸗ 
wilrdig gelten. Da aber Tatian wahrſcheinlich nicht 
unmittelbar πα feiner Ankunft im Drient eine Sekte 
ftiftete; ba er wohl einige Seit fid) bemühte, feine Son= 
derlehren innerhalb der Kirche zur Geltung zu bringen, 
fo ift feine Abreife von Rom etwas früher, etwa auf 
170 anzufegen. So viel dürfte fid) mit der Sicherheit 
behaupten laſſen, die bier überhaupt zu gewinnen ift. 
Wie lange aber Tatian nad) feinem Ausscheiden au8 ber 
Kirche nod lebte, darüber wird uns von ben Alten 
lediglich nidjt8 mitgeteilt. Wir können uns [omit über 
die Zeit feines Todes nur in allgemeinen Bermuthungen 
ergehen, und ba fid) diefes Vergnügen jeder ohne größere 
Mühe felbft erlauben fann, fo verzichten wir hier auf 
dasfelbe. Nur das ift nod) zu bemerken, daß ber Tod 
wahrſcheinlich da erfolgte, wo mir Tatian zulekt ans 
treffen, b. i. im Orient. Dieſes wurde zwar von Qat- 
nad beftritten und behauptet: die 9tüdfebr Tatian’ in 
die Heimath habe allerdings bafb mad) feiner (um 150 
erfolgten) Bekehrung ftattgefunden; aber fpäter (um 165) 
habe fid) derjelbe wieder nad) Rom gewendet, fei hier um 
172 wegen feiner Irrlehre aus der Kirche ausgeſchieden 
worden und wahrſcheinlich bis zu feinem Tode dafelbft 
verblieben. Allein der zweite Aufenthalt in Rom ift nur 
haltbar, wenn Tatian ſchon um 150 zum Chriftentbum 
übertrat, und ba'bieje8 zweifellos nicht der Fall mar, 
fo ift er hinfällig. Er miderfpriht aud) bem Bericht 


1) Die Gage findet fij aud) im Chron. pasch, I, 486 ed. 
Bonn., jofern bier bie Tatian'ſche Härefie unter bem Jahre 171 
fteht, und fie darf deshalb für eujebianijd) gelten, wenn fie auch in 
ber armeniſchen Weberfegung fehlt. 


Zur Chronologie Tatian's. 231 


be3 Epiphantus, und bevor Harnad für feine Behaup⸗ 
tung, daß bdiefer auf einer bloßen Gonftruction berufe, 
Glauben beanspruchen Tann, wird er vor allem feine 
eigene Conftruction beffer begründen müffen. — 

Das zweite Werk, das dem Namen Zatian'8 eine 
größere Berühmtheit verfhaffte, δα Diateffaron, 
blieb bisher ganz unberüdfihtigt. Seine Abfaflungszeit 
Tann überhaupt nicht näher beftimmt werden, fondern 
εὖ Tann fid) bei ihm bloß darum handeln, ob e ber 
latfolijd)en oder ber häretifhen Periode des Verfaſſers 
angehört. Auf Grund des einfchlägigen Berichtes von 
Theodoret, welcher (Haer. fab. I c. 20) nidjt bloß er⸗ 
wähnt, daß Tatian bie Genealogien und alles Andere 
toeggelafjen habe, was den Herrn al3 aus dem Samen 
Davids mad) dem Fleiſche geboren erſcheinen laſſe (ὅσα 
&x σπέρματος Δαβὶδ κατὰ σάρκα γεγεννημένον τὸν κύριον 
debovow),jondern aud) von τῆς συνθήκης καχουργία ſpricht, 
wurde bisher ba8 Leßtere angenommen. Durch Zahn's 
Forſchungen wurde aber bie Anfiht in Frage geftellt. 
Das Urtheil Theodoret’3 ward geradezu für bornirt er⸗ 
Hört. Bon einem häretiſchen Geifte, der in ber Ginfled)- 
tung apokrypher und ber Sonderanfiht des Compilators 
günftiger Zufäge ober in ber Ausmerzung Heiner ober 
großer Stüde, welche der häretiſchen Auffaffung unbequem 
waren, oder endlich in einer Umformung ber ebangeli- 
ſchen Texte fid) zeigen fünnte, wodurch bieje eine bet 
widerkirchlichen Anfiht günftigere Geftalt erhielten, [εἰ 
in dem Werk nad) den gefammelten Fragmenten nichts 
zu verfpüren. Die Befeitigung der Genealogien fei 
nit eine antifatbolijde, fondern hyperkatholiſche That, 
ba fie für Tatian’3 Anſchauung bedeutungslos gemejen 


232 Bunt, 


und von den Häretifern (Epiph. H. 30 c. 14; 51 ο. θ) 
dazu gebraucht worden feien, die bloße Joſephsſohnſchaft 
Sefu zu beweiſen). Harnad ftimmte zu, und daß bie 
Zahn'ſche Auffaffung möglicherweiſe richtig ifl, werden 
alle zugeben müſſen. Schon die große Verbreitung, die 
ba8 Diateffaron audj in ber katholiſchen Kirche in Sy— 
tien fand, beweist bie hinlänglih. Daß die Auffafiung 
aber unbedingt richtig [εἰ und das Diateffaron von dem 
Häretifer Tation gar nicht herrühren könne, ift meines 
Erachtens nod) nicht bemiejen. Es läßt fid ja bod 
wohl benfem, daß Tatian aud) mad) feinem Austritt aus 
ber Kirche fo viel heilige Scheu vor den ſchriftlichen 
Urkunden der chriſtlichen Religion bewahrte, daß er fij 
an bem Inhalt derjelben, von den befannten Auslaf- 
fungen abgefehen, nicht weiter zu vergreifen wagte, wenn 
er demſelben aud) eine eigentbümlide freie Bufammen- 
ftellung gab. Daß feine apokryphen Zufäge gemadt 
würden, hätte gar nicht betont werben follen. Tatiau 
wollte ja laut bem Titel feines Werkes in diefem gar 
nichts Anderes bringen, als was in bem vier Evange 
* lien ftebt. Man fónnte nur jagen, baf er als Häretiker 
fid) diefe Schranke gar nicht auferlegt haben würde, m. 
a. 98. ein Diateffaron gar nicht hätte verfaflen fónuen. 
Diefe Behauptung wird aber wohl ſchwerlich gewagt 
werden. Sie würde im weſentlichen auf eine bloße 
petitio principii binauslaufen. Zudem dürften mad 
den Nachweiſen Hilgenfeld’3?) die Genealogien bod) 
nicht fo gar umfonft ausgelaffen und die ſpätere Au—⸗ 


1) Zatian’8 Diatefjaron €. 263—207. 
2) Zeitſchrift f. mij. Theol. 1883. ©. 122 j. 


Bur Chronologie Tatiand, — ^ 233 


ſchauung Tatian's von ber Ehe nit fo gar verborgen 
fein, als man mad) den Behauptungen Zahn’3 glauben 
könnte. Es bleibt aljo die Möglichkeit nieht ausgeſchloſſen, 
daß atiam das Diateflaron nad) feinem Bruch mit der 
Kirche zufammenftellte, und die Möglichkeit wird zu einer 
gewiſſen Wahrſcheinlichkeit, ſobald man in Erwägung 
sieht, daß der Aufenthalt des Mannes in der firdje 
nit, wie Garnad will, fid) auf zwei Decennien erftredte 
ober gar, wie Zahn 1) annimmt, gar nicht aufhörte, ſon— 
dern mur etwa fünf Jahre dauerte. 


1) Tatian’3 Diateffaron €. 284 jf. 


3. 


Die Lehre von der Auferftehung des Fleiſches, nah 
1 or. 15, 13—53. 
Bon Joſebh Holl, Pfarrer und t. Difr.-Schulinfpektor in Hopferau 
bei Züffen, Bayern. 





908 ber b. Paulus vor dem hohen Rathe in eru 
falem ftand, ba rief er aus: „Männer, Brüder! ἰῷ bin 
ein Pharifäer, wegen der Hoffnung ber Auferftehung ber 
Todten werde ich gerichtet” ?). Darüber entftand ein 
Streit zwifchen den Pharifäern unb Sadduzäern; „denn 
die Sadduzäer fagen, e8 fei feine Auferftehung, weder 
Engel noch Geift, bie Pharifäer aber bekennen beides“ °). 
In ber That hätte ber b. Paulus bie Gegenfäge beider 
SBarteien nicht ſchärfer bezeichnen fónnen. Durch heib: 
nijde Ginffüffe, namentlich bie epikuräiſche Philoſophie, 
irregeleitet, vertoatfen bie Sadduzäer fogat bie Unfterb: 
lidjfeit ber Seele; natürlih mußten fie mod) vielmehr 
die 9fuferftebung läugnen, wie au8 den Evangelien be: 
Tannt. ift ®). 

Dagegen gehörte nicht bloß bie Unflerblichfeit ber 


1) Aps. 28, 6. 
2) Apg. 23, 8. 
8) Matth. 22, 28, Mark. 12, 18, Sui. 20, 27. 


J. Hol, die Lehre von der Auferftehung bes Fleiſches. 285 


Seele, wofür fid) [don bei Mofes Anhaltspunkte genug 
finden Ὁ, fondern aud) die Auferftehung des Fleiſches 
zu den Hauptlehren des alten Bundes. Beides ift ſtets 
in den engſten Zufammenhang gebracht, wie an vielen 
Stellen ber 5. Schrift ausgeſprochen ift. Belannt find 
die Worte Jobs: „Denn id) weiß, daß mein Erlöſer 
lebt, und id) werde am jüngiten Tage Ji^) von ber 
Erde auferjteben und werde umgeben werden mit meiner 
Haut und in meinem Fleifhe werde ἰῷ meinen Gott 
ſchauen“ ?). Ebenfo lautet die Verheißung Daniels: 
„Pie Menge derer, bie im Staube ber Grbe ſchlafen, 
werden aufwachen; einige zum ewigen Leben, einige zur 
Schmach, um fie ewig zu fhauen“°). Und bie makka— 
bäifhe Mutter und ihre Söhne ließen mit bem Belennt: 
niß ber Auferftehung auf den Lippen fid) hinrichten *). 
Daher fonnte Chriſtus ben Sadduzäern mit Recht be: 
merken: „Ihr kennet meber die Schrift mod) bie Kraft 
Gottes" 5). 

In der That bot ſchon die Lehre, daß die fihtbare 
Welt vom wahren höchſten Gotte (nidt einem Demiur- 
gen) geſchaffen und der Leib des Menfhen von Gott 
felbft gebildet wurde, fomie das ganze moſaiſche Geſetz 
eine paffenbe Unterlage zu dem in Iſrael ) allgemeinen 
Auferftehungsglauben und ein heilfames Gegengift gegen 
einen zur Läugnung verleitenden Spiritualismus. 

Daher ift aud) ber mit ber Meffiashoffnung zus 

1) Haneberg, telig. Alterthiimer, 2. Aufl. ©. 195. 

2) Job, 19, 25. 26. 

8) Dan. 12, 2. 

4) 2 Macc. 7, 9. 14. 15. 

5) Matth. 22, 29. 

6) 3l. Joh. 11, 24. 


236 Joſeph Gott, 


Tammenbángenbe Auferftehungsglaube ben gläubigen Su: 
ben in fpäterer Zeit verblieben und in ba8 von Jai 
monides verfaßte, nod) jebt in den jübtidjen Gebetbüchern 
enthaltene Glaubensbefenntniß übergegangen. Hier lautet 
nämlih ber 13. Artikel: „Die Todten wird Gott be: 
leben nah ber Fülle feines Erbarmend. Gepriefen fei 
in alle Ewigfeit ſein lobwürdiger Name“ 1). 

Dagegen fand das Evangelium unter den Heiden 
wenig Auhaltspunkte für den Auferftehungsglauben: 
eher bei den öftlihen Völkern in Afien?), weniger im 
Abendlande bei Griehen und Römern. Hier treffen wir 
wohl das Gefühl von der Fortdauer der Seele und von 
ber Verantwortlichkeit nadj bem Tode, aber wenig von 
einer Auferftehung. Die viel verbreitete SBorftellung der 
Pythagoräer und Platoniker, als fei der Leib nur der 
Kerker der Seele und deren Austritt aus ihm ber Ein 
gang zur wahren Freiheit und Geligfeit, war direkt 
gegen bie Auferftehungslehre?), So finden wir e8 be 
greiflih, warum ber b. Paulus mit ber Auferftehungs: 
lere foviel Anftoß fand. Zu Athen wurde er verladt‘) 
und in allen feinen Briefen an Griechen, in Korinth, 
Philippi, Teffalonifa muß er auf biefe Lehre bejonders 
hinweiſen ). Die τινὲς ἐν ὑμῖν zu Korinth, melde bie 
Auferftehung lüugnenb, bieje8 metfmürbige 15. Kapitel 
veranlagt haben, mögen wohl in ähnlichen Vorurtheilen 


1) Haneberg, I. c. S. 117. 

2) Dölinger, Heidenthum und Judenthum €. 380. 

8) Auch die Cffüer und Samariter follen dieſelbe geläugnet 
haben. 

4) Upg. 17, 32. 

5) Tertull. de resurr. carnis cap. 39. 


Die Lehre von bet Auferſtehung des Fleiſches. 287 


befangene Heidenchriften geweſen fein, welche burd) etwa 
zu grob⸗ſinnliche Vorftellungen der Juden nod) gereizt 
wurden. 

Indem ber Apoſtel dieſe Läugner widerlegt, ver⸗ 
ἤιει er auf bie von Apologeten gegen Heiden und 
Häretifer au8 der Idee bea Menſchen !), feiner Stellung 
im Univerfum, der Würde des menfchlichen, Seibe8 und 
feinem Zufammenhang mit der Seele oder von ber Ge- 
rechtigleit und Allmacht Gottes Dergenommenen Beweiſe. 
Sein Verfahren iſt viel einfacher, er ſtellt ſich mitten in 
das Evangelium hinein und beleuchtet von da aus, wie 
dasſelbe in feinem fern eine Auferſtehungslehre fei. 
Bon ber Thatfache ber Auferftehung Jeſu Chrifti aus— 
gehend, beweist er als notwendige Folge bie Aufer- 
ſtehung Aller in Chrifto und corrigirt zugleich zu rob. 
ſinnliche Vorftellungen, indem er das Unverwesliche und 
Geiftige be8 Auferftehungsleibes darlegt und daraus 
Folgerungen zieht für das Schickſal derer, melde bie 
2. Ankunft des Herrn erleben werden. Diefe 3 Punkte 
wollen wir genauer befpredjen. 


I Bnfammenhang der allgemeinen Auferftelyung der Gobten mit 
der Auferfteung Seu Chriſti und mit der Erlöſung. 


Ueber diefen Punkt lehrt der Apoftel 3 Stüde: 
1. Auferftehung Chrifti und allgemeine Auferftehung 
— beides fteht und fällt miteinander, V. 12—20. 


1) Sehr ſchön fagt 3. 8. Zertullian: „Weber bie Seele für 
fid allein ift der Menfch, nod) auch der Leib ohne bie Seele. Das 
Vort Menſch ijt gleichfam ber Ritt für bie 2 verbundenen Gub» 
Ramgen" 1. 6. cap. 40. 


238 Joſeph Hol, 


2. Chriſtus ift im Gegenfage zu Adam ber Stamm: 
vater eines neuen Geſchlechts; daher feine Auferftehungs- 
natur folgerichtig auf feine Jünger übergeht, V. 20—22. 

3. Die allgemeine Ueberwindung be8 Todes und 
allgemeine Anferftehung ift, madbem fie in Chriftus 
prinzipiell vollbracht wurde, geradezu Zweck und Endziel 
der ganzen Erlöfung, (8. 23—28.) 

Ad 1. Nachdem ber Apoftel erzählt hat, daß er 
zu Korinth unter den Kauptpunften (ἐν πρώτοις) beu 
erlöfenden Tod Ehrifti und feine Auferftehung geprebigt 
babe und nachdem er bie Beweiſe für bie Auferftehung 
Chriſti fury in's Gedächtniß zurüdgerufen — bie Er: 
ſcheinung an Kephas, die Eilfen, 500 Brüder, Jakobus, 
ipn felbft — fährt er weiter: „Wenn aber Chriſtus gepre- 
biget wird al8 ber, [o von den Todten auferftanden ift, 
tie fagen einige unter eudj, e8 fei Feine Auferftehung von 
ben Todten? Wenn eine Auferftehung der Todten nicht 
ift fo ift aud) Chriftus nicht auferftanden“. Sofort 
führt ber Apoftel die Folgerungen an, bie dies mad) 
fi) zöge: 

Predigt und Glaube find eitel (14), 

bie Apoftel find Lügner und Verbrecher (15), 

dann gibt e8 feine Sündenvergebung (17), 

bie in Chriſto Entſchlafenen find verloren (18), 

bie Lebenden, bie auf Chriftus hoffen, elender als 
alle Menihen (19). 

Dan fieht, bier fagt ber Apoftel, wie von andern 
Lehren des Evangeliums, fo befonders von ber &obten- 
erftehung, daß fie mit ber Auferftehung Jeſu ftehe und 
falle. Stande Ausleger meinen, ber Apoftel habe hier 
den Beweis vom Aehnlichen (Induftionsverfahren) ges 


Die Lehre von ber Auferftehung des Fleiſches. 289 


braucht, wie etwa: bie Seele be Petrus ift unfterblid, 
daher find alle Seelen unfterblih. Dieſe Auslegung ift 
offenbar faljd. Der Schluß vom Individuum aufs 
Allgemeine fonnte am allerwenigften bei Chriftus an: 
geben, ba eine ihm al3 dem Würdigſten gewährte Aus- 
zeihnung nicht ohne Weiteres auf alle übertragen wer: 
den fonnte. Der Gedanke des Apoſtels bewegt fid) 
vielmehr im einfachften Syllogismus. Seine Gegner 
ftellen den Sag auf: Resurrectio mortuorum non est: 
Eine Todtenerftehung gibt e8 nicht, ift nicht möglich, ift 
ein Unding. Mochten fie nun bieje8 Urtheil auf Er- 
fahrungs: oder fpefulative Gründe zu fügen fuden, in 
jebem Fall traf diefes allgemeine Urtheil aud) bie Auf- 
erftehung Jeſu. Aus dem Mittelfag: Chriſtus ift aud) 
geftorben und begraben worden, folgt von felbft, aljo 
ift aud) Chriftus nicht auferftanden. Der Gedanke des 
Apoftels ijt ähnlih, wie man aus der Behauptung: 
Wunder find unmöglich, die Heilung des Blingeborenen 
ober Erwedung ber Lazarus oder ein anderes Wunder 
der Bibel, ala unmahr ableitet. 

Der Apoftel will den Eorinthifchen Läugnern be: 
greiffid) machen, daß e8 nicht angehe, in Weisheitsdünkel 
aus bem Evangelium eine ber gewöhnlichen Erfahrung 
entgegenlaufende Lehre mie bie Todtenerftehung heraus: 
zureißen und zu läugnen. Er mill zeigen, daß biefe 
Läugnung, wie fie aus dem unerlösten Qeibentbum 
ftammt, das ganze Heil in Chrifto nieberreiBe und in's 
Heidenthum troſtlos zurüdführe. Merkwürbig hiebei ijt, 
daß fid) der Apoftel ein glüdliches Leben der Seele im 
Syenfeit8 ohne Auferftehung gar nicht benfen Tann, ſogar 
deren Fortdauer [djeint ibm ohne Auferftehung undenk⸗ 


240 Joſeph Hol, 


bar!) Jedenfalls müßte fie ohne Günbembergebung 
verworfen werden, und fónnte fie, bie zum Leibe gehört 
und mad) befien Vereinigung ftrebt, ohne dieſe Hoffnung 
und beren einftige Erfüllung nit wahrhaft glüdlid) 
fein. Diefe Anſchauung entfpricht durchaus der h. Schrift. 

So liegt alfo dem Apoftel in der Auferftehung des 
Herrn die Vollendung und Befiegelung des ganzen Er: 
lüfungstoerfe8. „So wenig eine öffentliche Urkunde ohne 
Siegel Kraft unb Geltung anſprechen Tann, fo wenig 
würde alles Lebens- und Leidensverbienft Chrifti für 
uns ohne die nachfolgende Auferftehung Nuten ober auf 
unfern Glauben Anſpruch haben" ?). Erft in der Auf 
erftehung zeigt fid) die Thatſächlichkeit der Erlöfung, 
weil bie Wegnahme der Sünde und deren fühlbarfter 
Folge, des Todes, damit bewieſen ifi. Daher bauten 
bie Apoftel als Augenzeugen der Auferftehung auf dieſe 
Thatſache das ganze Chriſtenthum ®). 

Die firde gibt diefer hohen Bedeutung ber Auf: 
erftehung Chrifti flet baburd) Ausdruck, baf fie das 
Dfterfeft als das höchſte aller Fefte feiert und ba fie 
an jedem Sonntage bie wöchentliche Nachfeier ber Auf: 
erftehung begeht. Deshalb ift e8 eine wichtige Aufgabe 
für den GSeelforger, in Predigt und Katecheſe auf dieſe 
Grundthatſache gehörig aufmerffam zu machen und auf 
ihren Zufammenhang mit allen Wahrheiten des Glaubens, 
namentlich bie allgemeine Auferftehung, hinzuweiſen. Wie 
bet Apoftel den die Möglichkeit bezweifelnden Grüblern 
die große Thatſache und Wirklichkeit entgegengeftellt hat, 


1) 8. 19 vgl. 8. 32. 
2) Dr. Seifenberger Abhandlung über dieſes Kapitel ©. 55. 
8) 8. 9. Apg. 2, 24. 8, 15 x. 


Die Lehre von der Auferftehung bed Fleiſches. 241 


fo follen wir namentlich beim apologetiichen Verfahren 
ſtets diefe Methode Gottes und feiner Zeugen handhaben! 

Ad 2. Der Mpoftel fährt in Vers 20 meiter: 
„Nun ift aber Chriftus erftanden von den Todten — 
ber Erftling der Entfchlafenen; denn da burd) einen 
SRenjden der Tod ift, fo aud) burd) einen Menſchen 
Auferftehung der Todten; denn wie in Adam alle fter: 
ben, jo werden aud) in Ehrifto alle belebt werden“. Hier 
nimmt ber Apoftel das Faktum ber Auferftehung Jeſu 
als bewieſen an und zeigt bem tiefern realen Zuſammen⸗ 
hang zwiſchen ber Auferftehung Jefu und der allgemeinen. 
Er fließt von der Perfon Chrifti auf das Allgemeine, 
aber nicht indem er Chriftus blos als Glied der menſch⸗ 
lien Geſellſchaft auffaßt, jonberm indem er Chriftus 
als Stammvater ber Kriftlihen Menſchheit im Gegen- 
fage zu Adam darftelt. Wie biejer Stammvater des 
alten fündigen Geſchlechts ift, jo Chriftus der Stamm: 
vater eines neuen fündelofen. Kinder aber tragen natut- 
gemäß das Gepräge ihres Vaters am fid. Als Kinder 
Adams haben mir alle bie Sünde, den vermesliden, 
ſchwachen Leib und theilen alle den Tod. Als Kinder 
Chrifti haben wir aus bem Glauben Heiligkeit und 
Gerechtigkeit und zugleih das Unterpfand eines unver 
weslichen geiftigen Auferftehungsleibes. Wie Sünde und 
Tod eine Erbſchaft find, [o aud) Rechtfertigung und 
Auferftehung. Der Zufammenhang beruht alfo bier auf 
bem fog. myſtiſchen Leibe Chrifti, deflen Lehre der Apoftel 
jo gern zur Grumblage feiner Erörterungen macht. 
(Std) einen Geift find mir alle zu einem Leibe getauft, 
fuedte ober Freie?)... Ihr feid der Leib Chrifti und 

1 Cor. 12, 18. 

Ses. Quarialſchrift. 1889. Heft IT. 16 


242 doſeph Holt, 


Glieder unter einander“ Ὁ — fo ruft ber Apoftel beu 
gleichen Korinthern zu. „Gott hat ihn zum Haupte über 
bie ganze Kirche gelebt, melde fein Leib iſt“?). AS 
Miterben und Miteinverleibte find wir aud) Mitgenoflen 
feiner Auferftehung®). . . Chriftus iff das Haupt bes 
Seibe8 ber Kirche, et ift ber Anfang und Erfigeborene 
aus den Sobten: wir find durch bie Taufe mit ihm 
begraben und dur) ben Glauben an bie Macht Gottes 
ber ihn von ben Todten aufetmedt hat, aud) auferftan- 
den" *). Auf diefen für das chriſtliche Bewußtſein fo 
wichtigen Zufammenhang zwifchen Chriftus und ben Sei- 
nigen baut der Apoftel aud) bie allgemeine Auferftehung. 

Indem er Chriftus den „Erftling ber Entſchlafe— 
nen“ 5) nennt, fpielt er auf die altteftamentlichen Grft- 
lingBopfet an®). Dadurch, daß Chriftus als ber Grfte 
nad Zeit und Würde bezeichnet wird, if aud) ber Zu— 
fammenhang mit Nachfolgern in ber Auferftehung an« 
gedeutet. Cum primitiae referantur ad ea, quorum 
primitiae sunt, consequitur et alios mortuos e terra 
surrecturos esse"). Wie bie Erſtlingsfrucht ber Crnte 
bie Ernte überhaupt anhebt, fo involvirt dieſe Bezeidh- 
nung von felbft die nachfolgende Auferftehung der Uebri— 
gen?) In ber Auferftehung Chrifti ijt aud) die Weihe 
zur Auferſtehung ber andern gegeben; denn, „wenn ber 


1) 1 Cor. 12, 27. 

2) Eph. 1, 22. 

3) Eph. 3, 6. 

4) Gol. 1, 18. 

5) Apg. 26, 28, Gol. 1, 18. 
6) Rum. 15. Deuteron. 26. 
7) Estius ad huno locum. 
8) Djf. 1, δ. 


Die Lehre von ber Auferftehung bes Fleiſches. 248 


Erftling beilig ift, fo ift e8 aud) bie Maffe und wenn 
die Wurzel heilig ift, fo find es aud) die Aeſte“ ?). 

Ferner hat der Apoftel hier ein befonderes Interefle, 
darauf hinzuweiſen, baf ber Tod von einem SRenjden 
verſchuldet ift und daß er, vom erflen Stammvater ans 
bebend, fid) in feinen 9tadfommenu al8 Sündenitrafe 
auswirkt. Diefer im Nömerbrief?) weiter ausgeführte 
Gedanke dient dazu, um darzulegen, daß der Tod nicht 
etwas von Gott Gemwolltes und Erſchaffenes jei — ſonſt 
hätte man einwenden können: menn Gott eine bleibende 
Verbindung von Seele und Leib beabfidtigt, warum 
bat er den Tod überhaupt erſchaffen? — Danıı will 
ber 5. Paulus dadurch, daß er die Urſache und Aus: 
dehnung des Uebels angibt, darlegen, mas der von Gott 
gelandte Heiland als 2. Stammbvater zu leiften hat: fo 
„erden aud) in Chrifto alle lebendig gemadjt werden“. 
An und für fid) fteht die Stelle nicht entgegen, fie aud) 
auf die Böfen zu beziehen. Doc zeigt ber folgende 
SBer8 und ber Tenor be8 ganzen Kapitels, baf ber 
Apoftel zunähft die Geredjten im Auge gehabt Habe. 
In Chrifto werden die Gläubigen auferftehen, b. i in 
feiner Gemeinjdjaft, ala Glieder feines Leibes, durch bie 
Taufe in fein Geſchlecht eingefügt, duch das heiligfte 
Altarsfaframent von ihm genährt. — Es leuchtet von 
felbft ein, wie wichtig es ift, daß ber Seelforger nament- 
lid bei ber Gnaden- und Saframentenlehre auf dieſen 
Zufammenhang aufmerkfam made. Eine febr geiftreihe 
zum Theil überſchwängliche Betrachtung enthält Deu: 
tinger3 Johannes-Evangelium IL ©. 121 ff. 

1) 5m. 11, 16. 

2) Röm. 5, 12. B 

16* 


244 Joſeph Hol, 


Ad 3. Den Verlauf diefer Auferftehungsvermitt- 
lung durch Chriftus befereibt nun der Apoftel in groß: 
artigen Zügen: „Ein jeder aber in feiner Ordnung; ber 
Erftling ift Chriftus: fodann bie, welche Chrifto ange: 
bören bei feiner Ankunft '); dann ift das Ende, wenn 
er das Reich Gott (und) dem Vater übergeben und jede 
Herrſchaft, Macht und Gewalt vernichtet hat... . . ber 
legte Feind, der vernichtet wird, ift der Tod... Wenn 
ihm alles unterworfen fein wird, dann wird fih auf 
der Sohn jelbft dem unterwerfen, der ihm alles unter: 
worfen bat, damit Gott fei Alles in Allem“ ?). 

Mit diefen Worten bringt der Apoftel feine Dar: 
legung des Zufammenhanges ber Auferftehung Chriſti 
mit ber allgemeinen Auferftehung und dem Weltende 
zum Abſchluß. Chriftus als der Erftling ift bereits be: 
lebt worden; in ihm ift ber Tod bereits überwunden. 
Einen herrlihen, unverweglichen, ftarfen Auferftehungs: 
leib hat er angenommen. So ἐξ er im Himmel und 
übt zur Rechten des Vaters feine meſſianiſche Herrſchaft 
(Reknum) aus. Bermöge berfelben ſucht er alle in ber 
Belt gottentfremdeten und feindfeligen Mächte zu vet 
nidten. Solange bieje8 wicht gelungen ift ), dauert bie 
gegenwärtige Weltperiobe 9. Wenn e8 aber gejdjefen 
fein wird, dann kommt das Ende ber jepigen Dinge 
(finis). Der Herr wird beim Aufgebot, bei ber Stimme 
de3 Erzengel3 und bei der Pofaune Gottes vom Himmel 
berabfteigen 5) (parusia), Mit feinem Erſcheinen wird 

1) Vulg. bie an feine Ankunft glaubten. — 

2) ἐν πᾶσιν als Neutr. gefaßt. 

3) τὸ χατέχον. 

4) 2 Thefl. 2, 6. 

5) 1 Teff. 4, 15. 


Die Lehre von ber Auferftehung des Fleiſches. 245 


verbunden fein, baf diejenigen, bie ibm angehören, wenn 
fie entſchlafen find, belebt werben, wenn fie mod) Leben, 
eine Umwandlung erfahren.  SDabutd) wird ber Tod 
als legte feindliche Macht vernichtet werden. Es ift 
das Ende, toeldjem die ganze Entwidlung des Reiches 
Gottes entgegenftrebt und fid) entgegenfehnt, erreicht, bie 
Feinde find burd) das Gericht fämmtlihe zum Schemel 
der Füße gemacht. Die irdifhe Kirche ift mit ber himm⸗ 
liſchen völlig Eins geworden. Das Königthum Chrifti, 
fofern e8 in ber Unterwerfung des Böfen und Aufhebung 
der Folgen der Sünde beftand, wird aufhören. Sofern 
wird er alfo das Reich, welches er bisher zur Ehre des 
Later? und mad) jeinem Willen geführt hat, dem Bater 
übergeben und fid) ihm unterwerfen. So wird dann 
Gott der Dreieinige Alles in Allem fein. „AS Meufh 
wird Chriſtus eins mit den Seligen, deren Haupt er ift, 
an beffen Leibe fie die Glieder find, dem Vater unter 
worfen, al8 göttliher Logos aber bem Vater wejend- 
fiij fein. So wird die Herrlichfeit der Geligen bie 
ihres Hauptes fein und die Herrlichkeit Chrifti wird bie 
feines Vaters fein; in ihm wohnend fraft feiner ewigen 
Geburt vom Vater wird fie feiner menſchlichen Natur 
und burd) fie den ihm einverleibten Geligen fid) mit- 
teilen, und fo wird Gott in jedem Wefen ohne Bes 
ſhränkung ober Erlöfchen der Individualität Alles fein 
— Mes burd) bie mun einzig auf ihn gerichteten, burd) 
ihn gefättigten beiden Grunbfrüfte des Menſchen, Vers 
ſtand und Wille — Alles aud) burd) bie felbft bie Sei 
ber burdjleudjtenbe göttliche Glorie“ "). 





1) Dölinger, Chriſtenthum und fire. 1. Aufl. ©. 269. 


246 Joſeph Hol, 


So ftelt ber Apoftel ben Läugnern dev Auferftehung 
neben den gähnenden Abgrund des Todes und ber Trof- 
lofigfeit bem hohen Berg des Reiches Gottes !), darauf 
das himmlische Jerufalem ftebt, wie e8 ber Auferftehungs- 
glaube erbaut. Die Auferftehung Chrifti macht er zum 
Ausgangspunkt einer Bewegung, melde erft ihren Ab: 
ſchluß findet, wenn Gott „Alles in Alem“ ift; er macht 
fie zum Grundftein, auf welchem das Reich Gottes auf 
gebaut ift; er madt fie zum Samenkorn, aus welchem 
fij ber große Baum be8 Lebens entjaltet. — Resurgendo 
Christus vitam reparavit und zwar das Leben im vollen 
Sinne, ba8 Leben der Gnade, das Leben ber Aufer: 
ftehung, ba8 Leben der Verjöhnung be8 Univerfums und 
der PBalingenefie der Schöpfung?). Die korinthiſchen 
Süugner ftellt ber b. Paulus vor die Wahl, ob fie das 
ganze Gbriftentfum mit feiner herrlichen Hoffnung feft: 
halten, oder mit der Auferftehungsläugnung Alles ver- 
lieren wollten. 

Faßt man diefen Zufammenhang in'8 Auge, bann 
findet man e8 begreiflih, warum ber Apoftel, deſſen 
Leben in Chriſtus und in der feligen Erlöfungshoffnung 
aufgegangen ift?), von ber Auferftehung ber Böfen und 
ihrem Schickſale nichts erwähnt; er mollte eben fein 
Kompendium ber gejammten Eschatologie ſchreiben. Man 
findet e8 aber aud) unbegreiflih, wie mande Erklärer 
feft jedes Wort werdrehen mochten, um mas nicht darin 
ftebt bineinzubringen. Weder eine pantheiftifche 4) Welt: 


1) Off. 21, 10. 
2) App. 3, 21. 
8) Phil. 1, 21. 
4) Tub. theol. Quartalſchrift 1876. ©. 79. 


Die Lehre von ber Auferftehung des Fleiſches. 247 


anfauung, nod) eine originiftiihe Apofataftafig noch 
einen mehr oder weniger feinen Chiliasmus ) wollte er 
lehren, bod) Tann man all bieje8 und πο mehr in den 
großartig angelegten Entwurf des Apoſtels hineinzeich— 
en, wenn man nämlich mit einiger Kunftfertigfeit ver 
führt und diefe Stelle aus dem Zufammenhang und der 
Bibel überhaupt herausreißt! — 

NB. Set ἢ. Thomas?) bemerkt, von dem Grunde 
ber Auferftehung handelnd, Chriftus felbft habe feiner 
menſchlichen Natur nah alle Gnade zuerft von Gott 
erhalten, bie Menſchen erhalten fie durch Vermittlung 
der Menſchheit Chriſti. Sofern ift Gott bie prima et 
quasi aequivoca causa; bie Auferftehung Chriſti ift 
bie proxima et quasi univoca causa. Divina virtus me- 
diante Christo ad similitudinem resurrectionis Christi 
faciet nostram resurrectionem. Das Werkzeug ift der 
Wille Chrifti, feine Stimme; bie Trompete bezeichnet ben 
Befehl, das Signal des großen Feldheren. Sofern bie 
Seele mit der Gubftang be8 Leibes wieder verbunden 
wird, ij e8 das Werk Gottes; bei der Ummandlung ber 
Körperwelt tritt dazu ber Dienft der Engel, — 


lL Möglicjkeit der allgemeinen Auſerſtehung und Beſchaffenheit 
des Auferſtehungsleibes. 


Nachdem der Apoftel nod) weitere Beweiſe für bie 
Auferftehung angeführt hat — nämlich die Taufe für 
die Verftorbenen und die vielen Gefahren des Apoftel- 


1) Dr. Geijenbesget 1. o. 76. 
2) 8. theol. Suppl. qu. 76. 


248 Sofeph Hol, 


amtes, welche nur ber Auferftehungsglaube erträglich 
madt — nachdem er nod) vor den verderblichen fittlichen 
Folgen ber Läugnung gewarnt hat; — handelt er von 
bem Wie ber Auferftehung. Damit will er bie Läugner 
vollends zum Schweigen bringen, ba es ftet8 bie Eigen- 
thümlichfeit der Ungläubigen ift, das zu läugnen, wovon 
fie das Wie nicht einfehen. „Aber ed wird Jemand 
jagen, wie werden bie Todten ertoedt, mit welcherlei 
Leib fommen fie zum Vorſchein?“ — Der Apoftel fept 
bier vielleidt Emmendungen voraus, wie fie von trivialen 
Gemeinvorftellungen gegen die Auferftehung ftet3 erhoben 
wurden: ber ewige Fluß der hemifchen Uxftoffe in der 
organiſchen Welt; daß ber im Grabe vermobernbe Leid: 
nam Pflanzen unb Thieren zur Nahrung diene, die fpäter 
wieder andern Menſchen materielle Stoffe zuführen, zu 
geſchweigen von Anthropophagen u. dgl. Vielleicht bad 
ten mande, iie Tertullian die Gegner fagen Yäßt: 
„Natürlih e8 geben die Flammen, bie Wogen, bic 
Wänfte ber wilden Thiere, bie Kröpfe der Vögel und 
die falbaunen ber Fiſche ba8 verzehrte Fleiſch wieder 
ber“ '). Darauf ſcheint wenigftend ber jdjarfe Ausruf: 
O stulte zu deuten. Seine Tendenz geht jedenfalls ba: 
bin, roh⸗ſinnliche SSorftellungen zu befämpfen und zu 
zeigen, daß e8 fid) nicht um eine einfache Wiederbelebung 
des Körpers, ſondern um eine Tod und SBermejung völlig 
dberminbenbe Umgeftaltung des Leibes handle. Der 
Apoftel beantwortet bie vom ihm gedachte ober wirklich 
erhobene Frageeinwendung, indem er: 

1. Das Wie ber Auferftehung an verfchiebenen 
Gleichniſſen aus der Natur erörtert (®. 86—42). 


1) Tertull. 1. c. cap. 4, fiberj. v. Kellner IL, 232. 


Die Lehre von ber Auferftehung des Fleiſches. 249 


2, Die beftimmten Eigenihaften bezeichnet, worin 
fih der Auferftehungsleib vom jegigen unterfcheibet. 
(8. 42—49.) 

Ad 1. Da wir uns über die Weife ber Aufer: 
Refung und die Beichaffenheit ber zufünftigen Leiber 
kine adäquate Vorftellung machen können, fo liegt e8 
nahe, die Möglichkeit burd) Analogien aus bem Natur: 
leben zu begründen. Das tfut aud) der Apoftel. Das 
von bem Herrn jelbft gebrauchte Gleichniß aus bem 
Mlanzenreiche wendet er an, indem er fagt: „Du Thor, 
mad du fäeft, wird nicht belebt, wenn e8 nicht zuvor 
fibt. Und was bu aud) jáeft, jo ſäeſt du nicht ben 
Leib, meldet werben fol, fondern bloßes Korn, etta 
Baizen oder einen ber übrigen Samen. Gott aber gibt 
ihm einen Körper, tie cr mill und einer jeden Samen: 
art ihren befondern Körper”. Auf bieje8 Bild legt der 
Moftel ein befonderes Gewicht mie man fieht, ba er 
aud unten in demfelben fortfährt: Gefäet wird ein 
verweglicher Leib ac. 

Wohl gibt e3 für bie Auferftehung andere Bilder: 
Das Abbrechen des irdifhen Wohnhaufes und das Auf: 
bauen eines neuen, das Ablegen eines Gewandes und 
Belleidung mit einem herrlicheren'), das Hinfterben des 
Tages und fein Wiedererftehen am Morgen, der Wechfel 
der Jahreszeiten, des Mondes, das Neuaufleben ber 
Bäume im Frühling, die Sage vom Vogel Phönir 5), 
die Entwidlung des Schmetterlinge. Doc ſcheint das 
Gleihnig von dem Samenforn das pafjenbfte, weil e8 
ba8 Andersfein be8 neuen Körpers und ben innigen 


D2Co.5,1f. Joh. 2, 19. 
2) Tert. 1. c. cap. 12. 





250 Joſeph Gott, 


Zufammenhang mit bem alten in gleicher Weile aus: 
brüdt. Daher ijt aud) von daher der Name „Önttes: 
ader" fo ſchön gewählt. 

Die BVergleihungspuntte, welche der Apoftel her⸗ 
aushebt find 3: a) Beim Samenkorn ift ba8 Sterben 
und Vermefen fein Hinderniß, fondern gerade bie Be— 
bingung für dag Neuaufleben. So (ergibt fi) ift auf 
beim Menſchen das Sterben und Verweſen der Weg zur 
Auferftehung. Ὁ) Beim Gamenforn ift das, was aufs 
gebt, verihieden von bem, was gefäet wird, fo ift aud) 
ber Auferftehungsleib anders al8 der ins Grab gelegte. 
€) Dem Samenkorn, das in die Erde gelegt wird,. gibt 
Gott einen Leib, wie er will und zwar jeder Samenart 
ihren befondern; fo ift aud) der Auferftehungsleib nad 
dem Willen Gottes geftaltet und jedem Menſchen ange- 
mefjen. Durch legtern Gedanken deutet der Apoftel nicht 
bloß an, daß Gott in ber Natur fortwährend wirkfam 
ift und eine Entwicklung der Natur ohne Gott midt 
eriftirt, fondern aud, δαβ aus bem Samenkorn bes 
begrabenen Leibe ein mannigfaltiger Aufer 
ftehunggleib entfteht. 

Diefen Gedanken führt er weiter aus in Folgen 
dem: „Nicht alles Fleiſch ift basjelbe Fleiſch, ſondern 
ein anderes ijf ba8 ber Menſchen, ein anderes ba8 bet 
vierfüßigen Thiere, ein anderes ba8 bet Vögel, ein 
anderes ba8 bet Fiſche. So gibt e8 himmlische Körper 
und irbijde Körper, aber ein anderer ijt der Glanz bet 
himmliſchen Körper und ein anderer ber der trdifchen. 
Anders ifi ber Glanz der Sonne, anberà ber Glanz beà 
Mondes, anders der Glanz der Sterne; denn ein Stern 
unterjheidet fid) von dem andern an Glanz. So ver 


. Die Lehre von ber Auferftehung des Fleiſches. 251 


hält e fih aud) mit der Auferftehung ber Todten“. — 
Indem ber Apoftel hier eine [oldje Reihe von Körpern 
anführt, indem er das Pflanzenteih, bie thierifhen Or— 
ganiàmen, bie Grbfüórper und Geftirne burdjgebt und 
bei jedem Einzelnen bemerkt, daß er anders jei al8 der 
andere, hat offenbar fein Gedanke den Zweck, darzulegen, 
daß der Auferftehungsleib nicht mothwendig die Eigen— 
ſchaften des jegigen habe und ihm nicht vollfommen 
glei) fein müfle. Wenn e8 bie verſchiedenſten Organis- 
men in Bezug auf Eigenfchaften und Arten gibt, bie 
einen höher und prächtiger al8 die andern, fo kann und 
darf angenommen werben, baB die Kraft Gottes aud) 
den Auferftehungsleib anders, als den gegenwärtigen 
bilden faun. Mit Recht hat man von jeher audj bemerkt, 
daß ber Apoftel hier andeute, Jeder werde einen feinen 
Berdienften angemefjenen Auferftehunggleib erhalten. Und 
wenn man unter der Sonne Chriftus, unter bem Monde 
die fide (oder Maria), unter ben Sternen den Samen 
Abrahams (ober den übrigen himmlifhen Hof) ver: 
Randen bat), fo war das jedenfalls eine fdóne Anz 
wendung. — 

Man hat zum Theil im Anflug an biefe Gleich 
niffe des D. Paulus, theils aus anderen Prämiffen 
Schlüſſe gezogen, im wie weit ber Verweſungsleib das 
Subftrat zum Auferftehunggleibe fei, und in tie weit 
zwiſchen beiden Identität beftehe. Zur Beleuchtung der 
folgenden Lehre über bie Beichaffenheit ber Auferfteh: 
ungsleiber wollen wir die Meinungen von 3 hierin her⸗ 
torragenben Theologen furg anführen: Tertullian, Ori— 
genes, b. Thomas. 


1) Teri. 1, c. cap. 52. 


252 Joſeph Hol, 


Tertullian fagt, e8 gehe [dm aus ber Analogie 
des Samens hervor *), daß fein anderer Leib lebendig 
wird, ala eben ber, welcher geftorben ift. . .. „Niemals 
bricht, wenn Waizen gejäet wird, Gerfte hervor... . 
„Gott gibt ihm einen Leib, wie er will“ — fidet, bod) 
eben dem Korn, wovon er fagt, daß e3 (πα!) gejüet 
murde. Alfo ift aud) das gefidjert, „dem Gott einen 
Körper zu geben vorhat“. .. Bleibe alfo bem Gleichniſſe 
treu und halte e8 al3 Spiegel für das Fleiſch feft, in- 
bem bu glaubft, daß eben dasfelbe Frucht bringen wird, 
e3 felber, wenn aud) vervollftändiget, nicht ein anderes, 
wenn aud) in anderer Weile zurückkehrt“. Alle feine 
Beweiſe für bie Auferftehung zielen auf diefe Identität 
ab; der Leib, melden der Menjch jegt trägt, ift von ber 
Hand Gottes erſchaffen und baburd) geadelt, wie bet 
olympifche Zeus nicht durch das Elfenbein, fondern die 
Künftlerhand des Phidias ?); ber Leib, den wir jegt tra 
gen, ift ber Angelpunft des Heils (caro est salutis 
cardo); denn ber Leib wird abgemajden, damit bie 
Seele von ihren Fleden rein werde 2c.°), Dem Leibe, 
den wir jet haben, gehören alle guten und böfen Werke 
gemeinjdjaftlid) mit der Seele an‘), Aus folden Be 
Toeijem und dem Auferftehungsleibe Chrifti zieht er den 
Schluß, daß der Auferftehungsleib mit dem gegenmärtigen 
nidt bloß-identifch fei, fondern, daß er alle einzelnen 
Drgane mur mit andern Zwecken und Verrihtungen 


1) L. c. cap. 52. 
2) Cap. 6. 

3) Cap. 8. 

4) Cap. 15. 


Die Lehre von ber Auferftehuug des Fleiſches. 253 


von Törperlihen Gebrechen und Unfällen befreit im vere 
Härter Geftalt an fidj haben werde !). 

Biel ſpiritualiſtiſcher ift bie Lehre des ibealifirenben 
Drigened. Vom Gleihniß be8 GCamenforn8 hebt er 
das Andersfein hervor. Er jagt: „Wir behaupten nicht, 
daß bie frühere Beichaffenheit wieder zurüdfehre, ebenfo 
wenig, al ba8 verfaulte Samenkorn wieder zu einem 
Korn wird. Wie vielmehr aus dem Korn ein Halm 
wird, [o ift aud) dem Leibe irgend eine Kraft eigen, 
welche nicht wermodert, fondern bewirkt, daß der Leib 
in Unvergänglichkeit erſteht“. Diefe Kraft, die Subftanz 
des Körpers, ein den Pflanzenäderchen ähnlicher Bil— 
dungstrieb, das über dem Stoffwechſel erhabene Seins: 
und Lebensprincip be8 menjdjlidjen Leibes wird von 
Tod und Verwefung nicht berührt; Fleiſch und Blut 
lejren unabfonderbar in die Elemente zurüd, mie wenn 
man eine Maß Milh oder Wein ind Meer fchüttet. 
Crflere8 wird als urfprünglicher Anfag zur Auferftehung 
am jüngften Tage auf Gottes Geheiß in einer geiftig 
ätherifchen Timfleibung erftehen. Dieſer Auferftehungs- 
körper theilt mit dem jegigen nicht: Fleifh und Bein, 
Gefihtsbildung, Glieberbau, und Bebürfniffe; ev bat 
nijt mehr die Dichtigkeit des Fleiſches, das Flüſſigſein 
de3 Blutes, die Stärke ber Nerven, bie Geflechte ber 
Adern, die Härte ber Knochen. Er wird nicht mehr mit 
Füßen wandeln, mit Augen fehen, mit Ohren hören, 
mit Händen arbeiten, fondern ganz eben, hören, arbei— 
ten, wandeln. Den feinen Luftlörpern ber Engel 
ähnlich, wird in ihm kein Unterfhied mad) Alter und 


1) 8. fatfolif. Jahrgang 1860. €. 299 ἢ. 


254 doſeph Hol, 


Gejdfedt, fondern mut mad) dem Tugendgrade be— 
fteben ?). 

Beſſer ift bie vom Dogma geforderte Identität 
beim b. Thomas gewahrt. Diefer ift, geftüßt auf baa 
Ariom: anima est forma corporis, vor allem der Mei— 
nung entgegen, daß ber menfchlihe Leib mad) bem Tode 
in einer unfiditbaren Monas forterifiirem merbe?) Es 
bleiben nur bie materiellen Elemente übrig, welche eine 
natürlide Inklination zur Seele, mit bet fie verbunden 
waren, nit haben. Aus biefem Weberreften (cineres) 
wird ber Auferftehunggfeib gebildet; denn ejusdem est 
surgere et cadere, Dies folgert der b. Thomas [don 
aus dem Worte „Auferftehung“ °), weil es fonft bie 
Annahme eines neuen Leibes wäre. Der Auferftandene 
ift mumeri[d der gleiche Menſch, weſentlich die gleiche 
Seele und ber gleiche Leib *). Ja es ift fogar wahr: 
ſcheinlich, daß fid) die tvefentlidjen und organischen Theile 
be8 Auferftehungsleibed bilden aus den bezüglichen 
Theilen ber Weberbleibfel®). Der 5. Thomas meint 
nämlich, der Leib werde auferftehen mit allen Gliebern, 
Haare und Nägel 5) nicht ausgeſchloſſen, aud) den flüffi- 
gen Theilen ſammt allem was »de veritate humanae 
naturae« ift"). In Bezug auf diefen ſchwankenden Be- 
geiff meint er, daß ber Auferftandene von ber im be- 
fländigem Fluß mwechfelnden Materie nur foviel aufs 

1) Frei nadj Dr. Kraus, Regensburger Ctubienprogramm 1859. 

2) In B. theol. Suppl. qu. 78, III. 

3) qu. 79, I. 

4) qu. 79, II. 

5) qu. 79, III. 


6) qu. 80, II. 
7) qu. 80, III. 


Die Lehre von bet Auferftehung des Fleiſches. 255 


nehme, als zur Bildung des Auferftehungsleibes paßt. 
Im übrigen findet er e8 angemeflen, daß alle Menſchen 
in Zugendfrifche, in der Mitte zwiſchen Cutmidlung und 
Verfall auferftehen, und daß (normale) Natur und ge 
ſhlechtliche Verſchiedenheit bleiben "). 

Die Lehre der Kirche hat neben ber Univerfalität 
be Auferftehung und der Verſchiedenheit zwiſchen ben 
frberm der Guten und Böfen fpeziell über diefen Punkt 
mr ausgefprodhen: Omnes cum suis propriis resurgent 
torporibus, quae nune gestant, ut recipiant secundum 
opera sua sive bona fuerint sive mala. Conc. Lat. IV ?). 
Daß bie Verſchiedenheit der Geſchlechter bleibt, ift ge- 
möhnliche theologifhe Annahme). In neuefter Zeit 
dagegen Döllinger Gfriftentbum und Kirche. I. Aufl. 
€. 266. Neuere Theorien über die Identitätsfrage 
enthält P. Leo feel, die jenfeitige Welt IIT, 229—237, 
deſſen Buch über Fegfener Hölle und Himmel febr viel 
brauchbares Material für Seelforger enthält. 

Ad 2. Kehren wir nad) diefer Digreflion zur Lehre 
des 5. Paulus zurüd. Diefer baut feine ganze Dar- 
legung auf bie Identität, wenn er fie audj nicht au8- 
brüd(id) hervorhebt. Ohne Fragen zu beantworten, 
tede mehr ber Neugierde als ber Erbauung dienen, 
gibt er 4 Eigenfchaften an, welche die bleibende Ver— 
herrlichung ber auferftanbenen Leiber bilden. Er fagt: 
»Gejüet wird er (der Leib) in Verweſung, auferftehen 
in Unverweslichkeit; gefäet wird er im Unehre, aufets 
ftehen wird er in Herrlichkeit (Glanz); gefäet wird er 





1) L. c. qu. 78-81. 
2) Denzinger, Enchiridion No. 956. 
3) Jungmann tract. de novissimis pag. 216. 


256 Joſeph Hol, 


in Schwachheit, auferftehen wird er in Kraft; gejüet 
wird ein thieriſcher (pſychiſcher, animaliſcher, ſeeliſcher) 
Leib, auferſtehen wird ein geiſtiger Leib. Man ſieht, 
daß der Apoſtel auf das Bild vom Samenkorn in dem 
4 mal wiederholten σπείρεται zurückgreift; ſowie daß 
er in 4fadem Gegenfag ben Unterſchied zwiſchen bem 
jebigen und Auferftehungsleib durchführt. 

a. Verweſung (Verweslichkeit) — Unverweslichkeit. 

Die Verweslichkeit des jetzigen Leibes zeigt fij 
ſchon in den vielen Leiden, Krankheiten und Unfällen, 
welchen er ausgeſetzt ift, ein ganzes Heer von Kranl: 
beiten, wovon fein Alter, Fein Stand, fein Glied des 
eibe8 ausgenommen ift?) Darin zeigt fid) bie Un: 
ordnung, die Auflehnung der Materie gegen den Geift, 
wovon bie gänzliche Löfung des Bandes im Tode mur 
bie legte Erſcheinung ift »in rebus corruptibilibus forma 
non perfecte dominatur supra materiam«?). Daher fagt 
ein finniger Schriftfteler: Unfer Leben ift eim Leichen: 
zug, wo jeder auf eigenen Füßen feinem Grabe zugeht; 
nur bie paar legten Schritte noch wird er getragen“). 
Sofern man das: „Gefäet wird, ins Grab gelegt wird“, 
bejonber8 betont, ift zunächft bie Verwefung des Leid: 
nams, die Auflöfung in feine Elemente gemeint. Dieſes 
nun, Verweslichkeit und Hinfälligkeit, ift am Auferftehungs: 
leibe wieder befeitigt, wie e8 vor der Sünde nicht ge: 
weſen ift. Auch ifi diefer nicht mehr bem Leiden aus: 
geſetzt. Beides verfteht man gewöhnlich unter Umper: 
weglickeit und faßt e8 in das Wort impassibilitas 

1) Man bene an Job cap. 18 und 14. 


2) S. Theol. 1. c. qu. 82, 1. 
3) Alban Stolz. 


Die Lehre von ber Auferftehung be3 Fleiſches. 257 


zuſammen. Die 9. Schrift fagt uns dasſelbe in den 
Borten: „Gott wird abwiſchen alle Thränen von ihren 
Augen; ber Tod wird nicht mehr fein, mod) Trauer, mod) 
Mage, nod) Schmerz wird mehr fein“ !). Die Poefie 
ſhildert unà biefe Eigenihaft unter bem Bilde emiger 
Jugendfrifhe und Lebenskraft. Als deren Urſache be: 
zihnet der Ὁ. Thomas, daß dann bet Leib vollftünbig 
der Seele unb bieje Gott unterworfen ift und er findet 
in ber Fortdauer der Sinnesthätigkeit fein. Hinderniß ?). 

b. Unehre — Herrlichkeit (Glanz). 

Diefe Unehre ift hier natürlich zunächft ein phyfi- 
ſcher Begriff, die Folge ber Verweslichkeit. Man mag 
dabei gunüdjft an das Häßliche und ab[djredenbe Aus— 
ſehen des tobtem Leibes, an deſſen widrige Farbe und 
Geruch denken; dann an das Entftellende von Leiden 
und Krankheiten, dann an bie niedern Bebürfniffe und 
Bufünbe, ba8 Erdartige be8 jegigen Leibes, lauter 
Dinge, worin ber jepige Leib ba Geprüge ber Sünden- 
ſchmach trägt. Dem mum ift entgegen die Herrlichkeit, 
die Dora bet Auferftehung. (δ ift der Lichtglanz, mel: 
der von ber Seele, bie nun in Gott weilt, und feine 
Anfgauung genießt, aud) auf den Leib übergeht (quae 
daritas a gloria animae in corpus redundabit ὅ). „Es 
wird ber fürperlidye Grundftoff durch Mitteilung himm⸗ 
liſcher Herrlichkeit verfeinert und verklärt, wie ein ſolches 
der Beftimmung und ben Bedingungen des Lebens in 
einer höhern Weltorbnung unb verherrlihten Umgebung 





1) of. 21, 4. 
2) L. c. qu. 82, 1. 
3) 8. Theol. 1, c. qu. 85, I. 


Sie. Quarialſqrift. 1885. Heft II. 17 


258 Joſeph Hol, 


angemefien ift!) Es ift ein Bug bet h. Schrift, Gott, 
das Göttliche, Wahrheit und Tugend, unter dem Bilde 
bes Lichtes darzuftellen; e8 find bie Engelserſcheinungen 
gewöhnlih mit Lichtglang begleitet); wir leſen von 
Mofes, im Leben der Heiligen?) von einem geheimniß- 
vollen $idte, in bem fie feudjteten: im höchſten Maße 
nun nad Graben unterjchieden — wird ein folder Lit: 
glanz ben Auferftehungsleib durchftrahlen. „Man wird 
nicht mehr bebürfen des Lichtes der Comme; Gott der 
Here wird fie erleudjtem *). Das Vorbild diefer Ber: 
Härung ift Chriftus auf Sabor; er felbft jagt von ben 
Gerechten: „Sie werden leuchten, tie die Sonne im 
Steide ihres Vaters“. Im Phil.Brief wiederholt ber 
h. Paulus, „Chriftus wird den Leib unferer Niedrigkeit 
umgeftalten, auf daß er gleichgeftaltet [εἰ dem Leibe 
feiner Herrlichkeit“ ). Die kürzefte Darftellung dieſes 
Gegenfages ift Eece homo — neben bem Auferftehungs: 
Chriſtus. 

e. Schwachheit — Kraft. 

Die Schwäche drückt ſich aus in dem Unvermögen, 
ber Verweſung Widerſtand zu leiſten; bamm πο mehr 
in bet völligen Ohnmacht des in's Grab geſenkten Leibes. 
Man Tann aud) denken an bie vielen Schwächezuftände 
und deren Neußerung im den Bebürfniffen von Nahrung, 
Schlaf, in der ſchweren Beweglichkeit. Dem fteht mm 
entgegen bie Kraft, welche folder Unterftügung nicht 


1) Dollinger 1. c. ©. 266. 

2) 3. 88. Sut. 2, 9. 

3) Biele Beifpiele bei Reel, ©. 259 ff. 
4) Of. 22, 5. 

5) Phil. 8, 21. 


Die Lehre von ber Auferftehung be8 Fleiſches. 259 


mehr bebarf, Stärke der Sinne, namentlich Beweglichkeit 
nad dem Willen des Geiftes. Der b. Thomas nennt 
bie bezügliche Eigenſchaft agilitas und leitet fie ab von 
der Unterwerfung unter bie verherrlihte Seele. „Für 
die SBereitmilligfeit, mit bet fij bie Seligen hier auf 
Erden ber göttlichen Herrſchaft unterwarfen, finden fie 
in ihrem Leibe biefelbe SBereitmoilligteit, fid) der Herr- 
ſchaft der Seele gm unterwerfen. — 8 wird die Kraft 
der Seele butd) bie enge Verbindung mit Gott und bie 
Theilnahme an feiner Macht unglaublich erhöht und 
fo theilt ber Wille in feiner Vollendung dem Körper 
jede beliebige Bewegung mit aller nur denkbaren Schnellig- 
keit mit“ ). „Die auf den Herrn hoffen, erneuern ihre 
Kraft, heben die Schwingen mie die Adler, fie laufen 
und werben nicht müde, fie gehen und werden nicht 
matt“ 3). 

d. Der thierifche Leib — ber geiftige. 

Die Schwierigkeit, melde bie Auslegung diefer Bes 
zeichnung und der fid daran reihenden SBerje bietet, zeigt 
fi fhon darin, daß man das σῶμα ψυχικόν im beutz 
ſchen nicht adäquat geben Tann, daher man e8 verſchieden 
überfegt: thiertich °), ſeeliſch *), manche laſſen den Vul— 
gata-Ausdrud animalif 5), mande den griedijden 
pſychiſch. Gemeint ift unter ψυχή das ben irdiſchen Leib 
befeelende und belebende Princip, wodurch derjelde wahr: 
nimmt, fühlt, empfindet. In biefem Sinne. hat aud) das 





1) Wilmers Lehrbuch. 2. Aufl. IT. 961. 
2) 3j. 40, 31. 
8) zumeift, aud) Allioli. 
4) Bißping, Seiſenberger. 
5) Döllinger. 
17* 


200 Joſeph Hol, 


Thier eine Pſyche. Es ift das febr. δ, jenes Prin⸗ 
cip, welches fid) bem Körper wie ein Gewand webt und 
burd) denfelben auf die Außenwelt wirkt. Diejes gab 
dem aus Lehm Gebildeten Leben, e8 herrſchte nad) der 
Sünde faſt ausſchließlich und ftammt in uns Mlen vom 
1. Adam ber. Dagegen ift Pneuma das höhere un 
mittelbar von Gott fommenbe Princip, welches das 
höhere Leben, bie CrfenntuiB und Liebe Gottes vermit: 
telt. Es wird uns verliehen durch Chriftus, den novis- 
simus Adam. Wie fid) nun bie Pſyche ihren Leib bildet, 
fo wird fih aud) das Preuma fein Gewand bilden, ben 
Auferftehungsleib; das ift unter dem geiftigen Leibe zu- 
nächft gemeint. Durch bem erftern find wir irdiſch wie 
Adam, butd) ben legteren werden wir himmliſch, erfterer 
wird gefäet, ins Grab gefenft, diefer wird auferftehen. 
Darnach ergibt fi von felbft das SBerftünbniB der mei- 
teren Verſe: „Wenn e8 einen thieriichen Leib gibt, fo 
gibt e8 aud) einen geiftigen, wie geſchrieben ftebt: ber 
erfte Adam ward zur lebenden Seele — ber legte Adam 
zum lebendig madenben Geifte. Das Geiftige aber ift 
nicht das Erfte, fondern das Thierifche, dann das Geiftige. 
Der erfte Menſch aus Erde ift irdiſch, der zweite Menſch 
vom Himmel ift himmliſch. Wie ber Irdiſche, jo auf 
die Irdiſchen, und wie ber Himmliſche, fo aud) die Himm- 
lichen. Gleichwie wir aljo das Bild des Irdiſchen ges 
tragen haben, fo follen ?) wir aud) das Bild des imm: 
liſchen tragen". Es leudjtet vor Allem ein, daß unter 
dem geiftigen Leibe nicht ein in Geift verwandelter Leib 
gemeint ift — fo daß feine Subſtanz eine andere ge: 


1) Shaft zu φορέσομεν und φορέσωμεν. 


Die Lehre von ber Auferftehung des Fleiſches. 261 


worden wäre, fondern ein folder, der vom Geifte aus 
den Elementen des pſychiſchen gebildet, dem Geifte an- 
gemeffen ift und ihm als Organ dienen wird, wie das 
Fleiſch jet der Pſyche. Deshalb wird der Leib nicht 
aufhören ein materielle8 Weſen zu fein, wenn aud) das 
Grobftoffliche, das ber Thätigkeit der Seele Dinberlid) 
if, abgeftreift fein wird, „Hineingetaudt in ben Strom 
be göttlichen Lebens und der göttli—hen Liebe wird ber 
Geift gottähnlich, der Leib geiftähnlic. Wie der Geift 
duch die Gnade und Glorie hinausgehoben wird über 
die Grenzen alles Menſchlichen und Greatürlihen zur 
Aehnlichkeit und Vereinigung mit Gott, jo giebt er aud) 
den Leib mit hinauf in eine höhere Dafeinzftufe, wo bie 
natürl. Eigenſchaften ber Materie ſchwinden, das Dunkle 
Licht, das Verwesliche unverweslich und Teidensunfähig, 
das Materielle ätheriſch, δα Schwere behend wird ?). 
Auch in dieſem Stücke iſt der Auferſtehungsleib des 
Hertn das Vorbild; denn von ihm wird Beides erzählt, 
ſowohl daß er „Fleiſch und Bein ?)" Hatte, αἴ aud) daß 
tt bei verſchloſſenen Thüren gefommen und fo ber Herr 
plöglich in der Mitte ber Jünger geftanden fei ®). 

Die Schultheologie nennt diefe Geiftigfeit dos sub- 
tilitatis und verbindet damit namentlid) bie Fähigkeit, 
jen Gegenftand ohne Mühe zu durchdringen, wie jegt 
bon fein materieller Gegenftand unferm Gedanken ein 
undurchdringliches Hinderniß wird. 

Wie bem Apoſtel fol aud) ung bet Auferftehungs- 
leib des Herrn als Vorbild in diefer Lehre vor Augen 

1) €» Hettinger, Apologie II. ©. 358. 


2) Zul. 24, 39. 
3) Joh 20, 19. 26. 


262 Joſeph Hol, 


ſchweben, denn hierin ift wie bie Thatſache fo aud) bie 
Art und Weile ber Auferftehung begründet. Wie bet 
b. Paulus roh⸗ſinnliche Vorftellungen befämpfend neben 
Gleichniſſen mur bie weientlihen Eigenihaften des Auf: 
erftehungsleibes mitteilt, fo fol aud) der Geelfotget 
mit Weglaffung der Schulmeinungen biefe Lehre behan- 
deln und namentlih bei Einfhärfung gewiſſer ſittlicher 
Tugenden von diefer bogmatijdjem Grundlage ausgehen, 
mehr als dies gewöhnlich gefchieht. 


1II. Kehre des Apoftels Über das Schickſal jener, welche die 
weite Ankunft Sefu Chriſti erleben. 

Was ber hl. Paulus hierüber im fraglichen Capitel 
lehrt, ift eigentlich in einem einzigen Worte enthalten, 
πᾶπι ὦ) ἀλλαγησόμεϑα 1) = immutabimur, toit werden 
verändert, verwandelt werden. Ueber das Wann und 
Wie fanm 1 Theſſ. 4 unb 2. Cor. 5 zur Beleuchtung 
dienen. 

Seine Grunbanjdauung über ben Auferftehungsleib 
faßt ber Apoftel fchließlih in die Sentenz zufammen, 
melde er aud) zum Ausgangspunkt für das Folgende 
madt: „das aber fage ἰῷ, Brüder, daß Fleiſch unb Blut 
das Reich Gottes nicht erben können, nod) aud) wird dad 
Verwesliche die Unverweslichkeit erben“. Da bieje Sen: 
ieng von ben Gegnern ber Auferftehung des Fleiihes 
als Hauptwaffe und Parole gebraucht wurde, jo wird 
fie von den Kirchenlehrern eingehend behandelt. Sertul- 
liam bezeichnet fie als „Fleiſch und Blut feiner ganzen 
Unterfuhung“ und behandelt fie in 4 Kapiteln ?), Er 


1) Fut. 2 pass. von ἀλλάσσω von ber Wurzel ἄλλος. 
2) cap. 48—51. . 


Die Lehre von ber Auferſtehung des Fleiſches. 263 


meint mit Recht, Fleifh und Blut begeidjme bier das 
Gleiche, was im vorigen Vers „das Bild des Irdiſchen“; 
wenn er jebod) bem Begriff blos etbifd) auffaBt unb 
vom „alten Wandel“ verfteht, jo ift ba8 in biejem Zu: 
fummenhang zu eng genommen. Es iſt vielmehr ber ᾿ 
ganze unerlögte von Adam ftammende Menſch gemeint, 
und fordert ba8 Thema der Erörterung und ber im Pa: 
tallelismus wiederholte Gedanke, befonder3 an beffen 
Ürperliche Befchaffenheit zu denken. Der Körper in 
feiner jegigen groben Stofflikeit, in feiner Schwäche 
und Hinfäligkeit Tann das Reich Gottes nicht erben; 
diefe muß erft abgelegt werben, wie bie Sünden als 
Berke des Fleiſches. Damit ift eine Auferftehung, wie 
fie mande Juden fid) vorftellten und jegt nod) die Mu: 
hamebaner haben, mit Ernährung und Fortpflanzung, 
allerdings vom Reiche Gottes ausgeſchloſſen ?). 

In fofern enthält ber Saß bereits einen negativen 
Aufſchluß über das Schickſal derer, meld die 2te Ans 
kunft Gorifti erleben. Somie fie jet auf Erden man: 
deln, gleichfam stante pede, kann Niemand von ihnen 
ἐπ Bürger be8 Reiches Gottes werden. Erſt muß eine 
Veränderung eintreten, welche? befagen bie folgenden 
Verſe: 

„Siehe ein Geheimniß melde ich euch, alle werden 
wit zwar nicht ſchlafen, aber alle werden wir verwandelt 
werden ?). Plötzlich, in einem Augenblicke, bei ber legten 
Poſaune — denn erfhallen wird die Poſaune, werben 





1) cf. 1 Gor. 6,13. 

2) Nach ber wahrſcheinlichſten Lefeart. Vulg. „Ale werben 
τοῖς goat auferftehen, aber nicht alle berfvanbelt werben. Siehe 
Betins zu diefer telle. 


264 Joſeph Gott, 


ſowohl bie Todten unverweslih auferftehen, αἵδ᾽ aud) 
τοῖς werben vertandelt werben; denn dieſes Verwesliche 
muß anziehen bie Unverweslichkeit, und diefes Sterbliche 

die Unfterblicgfeit". — Soweit bie Lehre δε Apoftels 
bier; denn im folgenden Triumph ob des Ciege8 über 
ben Tod ijt auf ähnliche Gedanken mie in Vers 26 gu- 
rüdgegriffen. 

Der Apoftel beginnt hier damit, daß er bie fto- 
rintfer aufmerffam macht, e8 handle fi; um ein Ge- 
beimniß, ba8 er nod) mittheilen wolle. Dieſes befteht 
darin, daß nicht alle Geredte — um biefe handelt e8 
fid) hier allein — den Schlaf des Todes, Grabesruhe 
und Verwefung durchmachen, wohl aber bie Berwand- 
lung eine allgemeine fein werde. Natürlich, weil Fleiſch 
und Blut das Reich Gottes nicht erben können, müfjen 
alle erft das Verwesliche abftreifen, bie einen, indem fie 
als ἄφδαρτοι erftehen, bie andern, indem fie ohne 
Grabesruhe vertvanbelt werden. 

Beide Theile hält ber Apoftel ftreng auseinander. 
In gleicher Weile jagt er, Auferftehung und SBermanb- 
lung werde 

a) Plöglih, febr ſchnell geſchehen (in momento, 

in ictu oculi), 

b) Bei bem Schall ber legten Poſaune geſchehen ?), 

€) Parallel neben einander vor fid) geben (et-et). 

Das gleidje Stefultat, ein unverweslicher, früftiger 
und geiftiger Auferftehungsleib wird bei ben einen 
durch resurrectio, bei den andern durch immutatio θεῖς 
beigeführt. Denn bei beiden Theilen — fo wiederholt 


1) dff. 10, 7; 11, 15. 


Die Lehre von ber Auferftehung des Fleiſches. 265 


er den Gedanken von Vers 50 pofitio — muß biefea 
Verwesliche bie Unverweslichkeit, diefes Sterbliche bie 
Unfterblichfeit anziehen. Da bem Apoftel in ber Bifion 
die fallende Pofaune und bie Schaaren ber Aufer- 
ftanbenen vor Augen (deben, faßt er zum Ziele eilend 
fid) und bie, an welche er fchrieb, in feiner lebhaften 
Weiſe unter bie Weberlebenden — im Momente be8 
Schreibens waren fie e8 ja — ohne damit hier gerade 
fagen zu mollen, daß er die Ankunft Chrifti wirklich 
für fo nahe halte. 

Große Aehnlichkeit hat diefe Stelle mit jener aus 
bem 1. Briefe an die Tefjaloniter, toeldje wir in ber 
Beerdigungsmeffe fo oft Iefen. Nos qui vivimus etc. 
„Wir, bie wir leben und übrig bleiben bis zur Ankunft 

- be8 Herrn, werden denen, bie entſchlafen find, nicht zu: 
vorkommen; denn ber Herr felbft wird beim Aufgebot, 
bei der Stimme des Grgengelà vom Himmel herabfteigen 
und die Todten, bie in Chrifto find, werden zuerft aufs 
erftehen, dann werden mir, bie mod) leben und übrig 
geblieben find, zugleih mit ihnen entvüdt merben in 
Wolken Gorifto entgegen und fo werden wir immerfort 
bei dem Herrn fein“. Vieleicht ift [jon mandjem, wenn 
er am Altare diefe Epiftel las, bie Frage gefommen: 
„Ja werden dann diefe Webriggebliebenen mit bem Fleiſch 
und Blut, wie fie auf Erden wandelten, in Himmel 
auffahren?" — Das wohl niht! Zwiſchen resurgent 
primi und deinde rapiemur (πρῶτον und ἔπειτα) ift 
zu ergänzen aus 1 Kor. 15, 52 et nos immutabimur, 
fo daß der Gedankengang folgender wird: Primum mor- 
tui, qui in Christo sunt resurgent, et nos, qui vivimus, 
qui relinquimur, immutabimur. Deinde simul cum illis 


266 Joſeph Hol, 


rapiemur etc. Warum aber hat ber Apoftel dieſes 
Mittelglied hier ausgelaffen? Der Grund ift leicht cin 
äufeben; er wollte bie Teſſaloniker wegen ber Ent- 
fchlafenen ?) tröften, er wollte ihnen darlegen, ba biefe 
bei ber Ankunft be8 Herrn nicht verkürzt feien und jene 
feinen Vorrang haben, welde al8 lebenb?) befunden 
werben. Diefen Zwed bat er jehr gut erreicht, ba er 
fagte, daß erft bie Auferftehung ftattfinde, dann wer— 
beu beide Theile zugleich °) in bie Wolfen entrüdt. So 
erſcheinen alfo jene nicht verkürzt und bieje nicht bewor- 
zugt. In diefem Zufammenhang, wo der Apoftel wegen 
ber BVerftorbenen tröften und nicht über die Beichaffen: 
beit bes Auferftehungsleibes unterrichten mollte, hatte 
er feinen Anlaß, von ber Verwandlung zu reden. So 
wird eine Stelle burd) bie andere beleuchtet. 

Werfen wir mod) einen Bli auf 2 Kor. 5, 1—4. 
Hier fehreibt der b. Paulus: „Denn wir wiflen, daß, 
wenn unfere irbijde Zeltwohnung aufgelöst wird, wir 
einen Bau von Gott erhalten, ein nidjt von Händen ges 
machtes ewiges Haus in ben Himmeln. Und eben darin 
ſeufzen wir, vol Verlangen, mit unferer himmlischen 
Wohnung überfleidet zu werden, objdon toit je aus: 
gezogen *), nicht al8 nadt erfunden werden. Denn wäh: 
vend wir in bem Zelte find, feufzen wir gebrüdt, weil 
toit nicht entfleibet, fondern überfleidet werden wollen, 
damit das Cterblide vom Leben verjdlungen werde”. 
Hier vergleicht der Apoftel bem Leib als Hinfällige und 


1) 1 Theſſ. 4, 12. 

2) 1 Theff 4, 14. 

3) ἅμα. 

4) ἐκδυσάμενοι ftatt ἐνδυσάμενοι. 


Die Lehre von ber Auferftehung bed Fleiſches. 267 


vorübergehende Wohnung der Seele mit einem Zelte, 
das heute aufgeſchlagen und morgen niebergeriffen wird; 
den Auferftehungsleib bezeichnet er al8 einen unver 
güngliden himmliſchen Bau. Und menn er aud) weiß, 
daß durch bie Auflöfung die gerechte Seele zu Chriftus 
Tommt?), fotoie baf bem Tod immerhin bie Auferftehung 
felgt?), fo Tann er bod nit umbin, bem natürlichen 
Drang nad) unmittelbarer Weberfleivung Ausdrud zu 
geben. Die vielen Drangfale, denen er eben ausgefegt 
war, mochten dazu beitragen, bie Wiederfunft des Herrn 
ala nahe bevorftehend zu wünſchen. Der Apoftel lehrt 
aljo bier über das Schickſal derer, melde bie zmeite 
Ankunft Chrifti erleben, daß fie fofort überfleidet 
werben (supervestiri, ἐπενδύσασϑαι, von ἐπενδύω 
eigentlich das Oberfleid anziehen). 

€o flat nun ber Apoftel an den erwähnten Stellen 
von deren Umwandlung, Ueberkleidung und Cntrüdung 
tebet, jo wenig haben wir Anhaltspunkte, wie diefer 
Umwandlungsprozeß vor fid) gehen fol und in welchem 
Verhältniſſe er namentlich zur Reinigung ber Welt durch 
ba$ Feuer und zum allgemeinen Gejege des Todes ftehe 
Es haben mande gemeint, „wenn bie Himmel mit 
großem Krachen vergehen, bie Elemente vor Qige auf: 
gelöst und die Erde und ihre Werke auf ihr verbrannt 
werden“ 5), fo werden im Zufammenhang mit diefer Reis 
nigung und Erneuerung ber Erde aud) der Tod und 
die Umwandlung ber gulegt Lebenden erfolgen. Doch 
toiffen wir über bie Zeitfolge bieje8 Weltbrandes nichts 


1) Sit. 1, 23. 
2) 8. 8. 
8) 2 Betr. 8, 10. 2 jeff. 1, 8. 





268 Joſeph θοῦ, 


Beftimmtes; man nimmt aus ben Worten be Apoftels!) 
getoóbnlid) ab, daß bie Verwandlung der Leiber der 
Sebenbigen fo bligfchnell gefchieht, daß fie fid) der Be: 
obachtung entzieht und feine Dintembreintommenbe Re: 
flerion das Geheimniß zu ergründen vermag). Die 
Blitzesſchnelle fdjeint felbft ben Tod auszuschließen. 

In ber That ift dies aud) bie Meinung vieler 
Theologen; fie wird von Gbrpfoftomus8 angenommen, 
Epiphanius fagt geradezu: Wer entrüdt wird, ift nod) 
nit geitorben; aud) Drigenes und Tertullian vertheidi- 
gen fie*). Selbſt Hieronymus fagt, die Verwandlung 
geldebe sine morte, qua corpus ab anima deseratur. 
Daß übnlide Anſichten in der apoſtoliſchen Seit nicht 
ganz unbelannt waren, ſcheint audj das Johannes- 
Evangelium angubeuten *). 

Doch die Rückſicht auf viele Schriftftellen, in welchen 
die Allgemeinheit be8 Todes für bie gefammte SRenid- 
beit ausgeſprochen ift ®), hat die größere Zahl der Theo: 
Togen zu der Annahme beftimmt, daß aud) bie gulegt 
Lebenden jämmtlihe evft bem Tode unterworfen feien, 
efe fie überfleidet werden. Sie ſuchen dann mit den 
Worten des Apofteld fo zurecht zu kommen, daß fie 
fagen, ein menn aud) rajd) fi vollziehender Umtmand: 
lungsprozeß jchließe den Tod nicht aus. So ſchon Am: 
brofius und Auguftinus; erfterer jagt geradezu cum 
tollentur, morientur: während ber Cntrüdung werden 


1) 1 Cor. 15, 52. 

2) bei teet III, 208. 

3) Tert. 1. c. cap. 41 unb 42. 
4) Joh. 21, 23. 

5) Röm. 5, 12, 1 Gor. 15, 22. 





Die Lehre von ber Auferftehung des Fleiſches. 269 


fie fierben. Unter den neueren Theologen nimmt D3: 
wald an, daß der Tod und bie Schreden des Todes 
allerdings aud) diefe Menſchen ergreifen, jebod) jo, „daß 
an einen eigentlichen Todeszuftand und an eine Beit- 
dauer in Anſpruch nehmende Auflöfung und SBermejung 
des Leibes ſchwerlich zu denken fein möchte” '). Wirklich 
ift eine Umwandlung des irdifchen zum Verklärungsleibe, 
fo ba das Gterblide vom Leben verſchlungen, aljo 
günjid) abgethan und befeitigt wird, ohne ein bem 
Sterben ähnliches Moment nicht wohl zu begreifen. 
Daher neigt fid) aud) die Lehre ber Kirche zur zweiten 
Anſicht Hin®), ohne bie erftere als häretiſch auszu— 
ſchließen. 

Der h. Paulus bemerkt nicht umſonſt: Ich ſage 
euch ein Geheimniß; ein ſolches mag dieſer Punkt 
immerhin bleiben; um ſo mehr als deſſen Enthüllung 
für unà zum Heile nicht nothwendig iſt. Ueberhaupt 
liegt es in der Natur der aufs Zukünftige gehenden 
Glaubenswahrheiten, daß ihnen mehr Dunkles anhängt 
als den übrigen. Es geht hier dem betrachtenden Geiſte 
ähnlich wie einem Wanderer, der eine Gebirgskette von 
entfernter Ebene aus betradjtet: viele Berge [deinem in 
andern Formen und näher beifammen, als fie es in 
Wirklichkeit find. Daher bleibt hierin doppelt wichtig, 
uns genaueftens an das zu halten, was von ben Höhen 
göttlicher Offenbarung mitgetheilt wurde. Zudem ges 
hören diefe Wahrheiten zu den michtigften; beum wie im 
irdiſchen geben, fo müßte nod) mehr im religiöfen Leben 
alles erjchlaffen, wenn nicht mehr der hoffnungsvolle 


1) Dewald, GBdjatologie ©. 18. 
2) Jungmann, 1. c. Seite 214. 


270 Joſeph Hol, bie Lehre v. b Auferftehung bed Fleiſches 


Ausblid in die Zukunft bie Segel ſchwellte. Gerade in 
unferer Zeit ſcheint eine Vertiefung des veligiöfen Lebens 
mad) biejer Seite in mehrfacher Beziehung geboten. Die 
centrale Bedeutung der Auferftehung Chrifti und bie 
darauf gegründete Hoffnung ins rechte Licht zu fegen, 
dazu bietet die Geelforge fo vielfachen Anlaß, an ben 
kirchlichen Feſten ebenfo wie an den Gräbern unferer 
Eutſchlafenen. Nach diefer Seite anregenb zu wirken 
ift der Zweck biejer Abhandlung, was ihre Veröffent: 
lichung in diefer Zeitfchrift rechtfertigen möchte. 


4. 
Der Kanon XXXVI von Elvira. 





Bon Prof. Dr. Funt. 





Der Kanon XXXVI der Synode von Elvira: Pla- 
cuit pieturas in ecelesia esse non debere, ne quod coli- 
tur et adoratur in parietibus depingatur, hat zu ben 
vielfachften Verhandlungen Anlaß gegeben und bie ver: 
ſchiedenſten Deutungen erfahren. Gam3!) nennt bie 
Zahl feiner Erklärer Legion, unb e8 waren hauptſächlich 
confeffionele Rückſichten, wodurch die Aufmerffamfeit fo 
häufig auf ihn gelenkt wurde. Die Proteftanten beriefen 
fi$ auf ihn, um ihre Stellung zur SBilberfrage zu recht⸗ 
fertigen, und bie Katholiken fahen fid) baburd) zur Unter: 
hung veranlagt, ob er denn wirklich die Bilderver⸗ 
ehrung jo unbedingt verbiete, als jene behaupteten. Wir 
führen, bevor ivit ben Kanon einer erneuten Prüfung 
unterziehen, zunächft bie bemerfensmwertheften ber biß: 
berigen Erflärungen an. 

Die wie e8 [djeint ältefte Deutung, zu ber fid) u. 





1) 8-6. von Spanien IL 1,95 . Eine fehr eingehende, wenn 
auch nicht richtige Erklärung gibt Mendoza in ber Schrift De 
tonfrmando concilio Mliberitano, abgebrudt von Manfi, Conc. 
Coll. IL, 57—897. Die Erklärung unſeres Kanons fteht p. 265—281. 


272 Sunt, 


a. aud) ber Garbinal Bellarmin ?) bekannte, ift folgende. 
Indem man bie Worte in parietibus bejonber8 betonte, 
erflärte man, die Synode habe nur bie Wand ge— 
mülbe verboten, fei e8 damit nit dur das Ab— 
brödeln der Wände bie den heiligen Bildern ſchuldige 
Verehrung Noth Ieide, fei ed, damit fie nicht zur Zeit 
ber Verfolgung den Heiden zum Gefpötte dienen, da fie 
bet Natur der Sache παῷ nicht entfernt werden können; 
Safelbilber aber feien duch ihr Verbot nicht be- 
rührt worden. 

Die Erklärung wird ſchon burd) Baronius (Ann. 
57, 124) berüdfibtig. Sie ſcheint ihn aber nicht be- 
friedigt zu haben, und fie ift in ber That ſchwerlich 
ftihhaltig. Der erfle Sag be8 Kanons fehließt in feiner 
allgemeinen Faſſung ebenfo die Tafelbilder wie bie 
Wandgemälde au8?). Der große Kirchenhiſtoriker fuchte 
deßhalb bem Kanon auf eine andere Weife beizufommen. 
Gr erklärte ihn für eine fpätere Fälſchung, näherhin für 
das Product eines Schülers des ikonoklaſtiſch gefinnten 
Biſchofs Claudius von Turin. Doc befriedigte ihn audj 
bieje Löfung nicht ganz, ba er beifügte: Sed esto, absit 
fraus et impostura; ecquam tandem fidem meretur 
tam paucorum episcoporum canon, quem totius catho- 
lieae ecclesia usus contrarius continuo abolevit, immo 
antequam nasceretur exstinxit? 

Eine andere Deutung, bei ber das Hauptgewicht 
auf ba$ adoratur gelegt wird, geht dahin: e3 feien wohl 
bie Bilder des unfihtbaren Gottes, nicht aber bie 

1) De imagin. Il. c. 9. 


2) Of. Natal Alex, H. E. Saec. ΠῚ, Dies. XXI. Ed. 
Paris 1677 p. 688 sq. 


Der Kanon XXXVI von Elvira. 273 


Bilder Chriſti und der Heiligen verboten worden. Sie 
beruht aber auf mangelhafter fenntnif des althriftlichen 
Sprachgebrauchs, fie ift aud) nicht einmal mit dem Wort- 
laut des Kanons zu vereinbaren und deßwegen jo uns 
haltbar als bie erfte?). 

Nah einer britten Deutung ?) hat bie Synode ben 
Gebrauch der Bilder wohl überhaupt verboten, aber 
nicht, weil fie etwa geglaubt hätte, biejelben feien nicht 
ju verebrem, da fie ihre Verehrung mehr vorausfegt 
als unterfagt, fondern weil biefe Uebung der chriftlichen 
Religion in jener Zeit mehr jhädlich als nützlich geweſen 
τοῦτο, wenn fie in allen Kirchen Eingang gefunden hätte, 
indem fie ben Heiden zum Glauben Anlaß geben fonnte, 
bie Chriften hätten die Götterbilder eher gewechſelt als 
verlaſſen. 

Am Anfang des vorigen Jahrhunderts endlich wurde 
die erſte Deutung durch Burnarotti etwas modificirt. 
Es wurde geltend gemacht, in den gottesdienſtlichen 
Localen über der Erde ſeien die Wandgemälde ver— 
boten worden, weil fie bier den Heiden lijcht zugänglich 
und jo ber Zerftörung und Verunehrung preisgegeben 
waren, nicht aber aud) in den fehler zugänglichen und 
dor Profanation geſchützten fatafomben, und zur Be- 
gründung dieſer Erklärung morb neuerdings auf bie 
von be Roſſi gemachte Beobachtung bingetoiejen, baf 
aud in Rom bie über der Erde gelegenen Dratorien 


1) Οὗ Natal Alex. 1. c. p. 698. Die Deutung ijt eben- 
fal ſehr alt. Bereits Bellarmin a. a. D. erwähnt fie. U. a. ver- 
tat fie aud) Aubefpine in feiner Erklärung bec Kanonen von Elvira. 
BL. Manft II, 46. 

8) Natal. Alex. 1. c. p. 691 sq. 

XjeL Duartalfägrift. 1889. Heft lI. 18 


274 Sunt, 


und Gellä feine ſymboliſchen, bibliſchen oder liturgiſchen 
Gemälde, jonbern nur einfaches Drnament, allenfalls 
Weinranken, als Dekoration erhielten). Die Deutung 
fand, feitbem fid) aud) der große ftatatombenforidjer ber 
Gegenwart ihr zuneigte, großen Anklang und fie wird 
gegenwärtig ziemlich allgemein als die allein richtige 
angejehen ?). 

Aber ift die Erklärung ebenfo richtig, als fie all- 
gemein ift? Wer ben Kanon unbefangen betrachtet, 
wird bie Frage ſchwerlich bejahen. Er fol mut bie 
Bilder in ben unfideren überirdiſchen gottesbienftlichen 
Localen verboten haben. Man fünnte dagegen gunüdjft 
fragen, ob denn ber Ausbrud ecclesia damals fo 
fiher und unbedingt auf diefe mit Ausſchluß ber unter 
irdiſchen Locale fid) bezogen habe. Indeſſen foll biejes 
Moment nicht weiter betont werben. Die Deutung 
erſcheint nod) unter einem anderen Gefidtspuntt als 
unbaltbar. Das Motiv der Verordnung [ol fein, eine 
Provocation der Heiden oder eine Verfpottung ber Bil- 
ber butd) bieje zu vermeiden. Aber davon enthält ber 
Kanon eben aud) nicht ein Leije8 Anzeichen. Das Motiv 
lautet vielmehr: e8 foll verhindert werden, baf das, 
mas Gegenftand der Anbetung und Verehrung ift, auf 


1) al. fraus, Roma Sotterr. 2. Aufl. ©. 221 f. 

2) So bemerkt Kraus a. a. D., indem er auf be Roſſi's 
Roma Sott. IH, 475 verieißt. Unter denjenigen, welche bie Er— 
riarung aboptirten, if audj Hefele, Gonc.Gejd. 2. 91. I, 170. 
Er bezieht fid auf Roma Sott. I, 97. Ich bemerke inbeffen, bafi 
an biejem Orte faum von ber Sache bie Rebe ift. Der Kanon wird 
wenigftend gar nicht genannt. An ber auberen Stelle wird bet- 
ſelbe allerbing8 erwähnt. Aber eine eingehenbere Erörterung vers 
mißt man aud) dort. 


Der Kanon XXXVI von Elvira. 275 


bie Wände gemalt werde. So heißt e8 wörtlich. Die 
Faſſung iff allerdings nicht ganz glücklich. Das darf 
aber bei der Sprache ber Synode von Gloira nicht 
befremden, und immerhin if der Sinn des Kanon 
far genug. Man darf mut aus bem Finaljag einen 
Gaufalfag machen, und der Anftoß ijt gehoben. Die 
Synode verordnete aljo näherhin, e8 follen feine Bilder 
in der Kirche fein, ba das, was verehrt und angebetet 
werde, nicht auf die Wände gemalt werden folle, und 
der Kanon ijt, ſobald man ihn an und für fid) betrachtet 
und in der Erklärung fid) nicht burd) anderweitige Mo— 
mente beirren läßt, jo fíar als mur möglid. Die An- 
fertigung von veligiöfen Bildern wird überhaupt ver- 
boten. Der Wortlaut be8 Kanons läßt darüber feinen 
Zweifel auffommen. Jene Deutung ift daher unbedingt 
abzulehnen. Sie ift durchaus grundlos und es ſtehen 
ihr ähnliche Schwierigkeiten entgegen wie ber erſten, 
deren bloße Modifikation fie ift. Baronius würde fid) 
ſchwerlich mit ihr mehr befreundet haben al8 mit diejer. 

Die Frage ἔαππ nur bie fein, m ie die Synode zu 
ihrem Verbote fam, und in biefer Beziehung läßt fid) 
allerdings mit ber oben in britter Linie angeführten 
Deutung an bie Rüdfihtnahme auf die Heidenmelt ober 
an pädagogiſche Motive benfen. Doc) ift diefe Deutung 
feimeBtoeg8 fiher. In bem Kanon ſelbſt ift fie nad) 
feiner Seite hin angedeutet. Die Worte ne quod coli- 
tur etc. legen im Gegentheil bie Auffaffung nahe, daß 
die Synode die Anfertigung von religiöfen Bildern in 
der Kirche nicht bloß als gefährlich, fondern vielmehr 
deßwegen verbot, weil fie in ber Bilderverehrung an 
fij etwas Unzuläfiiges jab, und man wird fid) bieler 

18* 


276 gunt, 


Deutung um fo weniger entziehen können, als die Stel 
lung, bie bie fpanifhen Biſchöfe mad) ihr zur Bilder: 
frage einnahmen, in ber alten Kirche keineswegs etwas 
Vereinzeltes war. 

Es darf als feftftebenbe Thatſache gelten, daß es 
in ben erftem drei Jahrhunderten feine Statuen von 
Heiligen gab. Gemalte Bilder gab e8 zwar, wie bie 
Ausgrabungen in ben Katafomben zeigen. Aber dad 
bloße Vorhandenfein von Bildern ift noch keineswegs 
ein Beweis für bie Verehrung derjelben. Nach bem, 
was τοῖς aus ber altriftlichen Literatur erfahren, ἐξ 
legtere für jene Zeit nichts weniger als wahrſcheinlich, 
und wenn fie je am einigen Orten vorhanden war, fo 
war fie jedenfalls feine allgemeine Uebung. Die ein- 
idiügigen Ausſprüche des Alten Teftaments umb bie 
Stellung ber Chriften mitten in ber Welt des bilber- 
anbetenden Heidenthums waren nicht geeignet, eine Bil- 
derverehrung auffomunen zu laſſen. (δ laffen fij ja 
auch in der fpäteren Zeit, als bie SBerpültuifje fid) be— 
teit8 zu ändern angefangen hatten, nod) Stimmen gegen 
die Bilder vernehmen. Es [εἰ nur an drei Fälle er- 
innert. Als bie Kaiferin Gonftantia den Biſchof €uje- 
bius von Güjarea um ein Bild Chrifti bat, exfláxte 
biejer ihr Verlangen für verkehrt unb für einen Rückfall 
in den Gügenbienft des Heidenthums, von bem τοῖς bod) 
burd) das Blut des Erlöfers befreit worden feien. Bon 
Chriſtus fei weder nad) feiner göttlichen, noch nad) feiner 
menſchlichen Seite ein Bild zu gewinnen, in jener Be- 
ziehung nicht, weil nad) feinen eigenen Worten (Matth. 
11, 27) den Vater niemand al8 der Sohn und ben 
Sohn niemand ald der Vater würdig erkenne, in diefer 


Der Kanon XXXVI von Elvira, 277 


nicht, weil die menfchliche Geftalt von der Herrlichkeit 
der Gottheit burdjbrungen und in ein unbefchreiblices 
ud unausſprechliches Licht verwandelt fei. Auch von 
Wt in bie Gottheit noch nicht verwandelten Geftalt fei 
kin Bild anzufertigen, ba Gott im Gefege (2 Mof. 20, 4) 
verordnet habe, man folle durchaus Fein Bild maden 
weder von dem, was im Himmel broben, nod) von dem, 
mas auf der Erde unten je. Er habe daher, als er 
bei ‚einer Frau angebliche Bilder des Apoftels Paulus 
und bes Erlöfers angetroffen habe, ba8 Gemälde ge- 
nommen und bei fid) behalten, bamit es nicht ben An- 
deren befannt werde und mir nicht πα Art der Göpen- 
biener unferen Gott im Bilde umberzutragen fcheinen !). 
Achnlih erklärt e8 ber DL. Epiphanius für [drift- 
widrig, in der Kirche ein Heiligenbild aufzuhängen, und 
durchdrungen von biefer Anſchauung zerriß er das Bild, 
das er in Anablatha in Paläftina antraf?). Der Hl. 
Auguftin endlich ſpricht einmal?) tadelnd von pictu- 
raum adoratores und erblidt im der Bilvderverehrung 
näherhin eine superstitio. Darf e8 unter biefen Um- 
fänden befremden, wenn die Väter von Elvira eine 
gleiche Mißbilligung ausſprachen, und bürfen mir und 
beftimmen Laffen, in ihrem Ausſpruch etwas anderes 
finden zu wollen, als was nad; dem Wortlaut allein in 
im liegt? Die Frage ift ſchwerlich zu bejahen. Die 
firenge Stellung, bie die Synode zur Bilderverehrung 


1) Wir erhalten einen Auszug von bem Brief des Euſebius 
an Gonftantia durch Nicephorus, Antirrhet. c. 9. Bol. Pitra, 
Spicileg. Solesm. I, 888—886. Harduin IV, 406. 

2) Ep. ad Joann, Hieros. inter Hieron. ep. 51 c. 8. 

8) De mor. eccles. cath. I. c. 84 n. 75. 


278 unt, ber Kanon XXXVI von Elvira. 


einnahm, ift um jo weniger im Bmeifel zu ziehen, als 
diefelbe ja auch in anderen Dingen fehr firenge, um 
nicht zu jagen überftrenge Grundfäge hatte. Daß man 
an manchen Orten damals [dou $eiligenbilber hatte, 
würbe dagegen aud) dann nichts beweifen, wenn bie 
Verehrung berfelben für jene Zeit ficherer zu erhärten 
wäre, als e8 thatſächlich der Fall ift, da die Praris in 
biejer Beziehung unbeftreitbar verfchieden war. Der 
Kanon fet ja felbft für einige ſpaniſche Kirchen bereits 
bie Anfertigung von Heiligenbildern voraus, ba er fonft 
ſchwerlich erlaffen worden wäre. Aber er zeigt aud) 
zugleich, daß bie Mehrzahl ber ſpaniſchen Biſchöfe mit 
der Neuerung niit einverftanden war ?). 

Wenn der Kanon aber aud in der angeführten 
Weife zu erflären ift, fo ergibt er bod) keineswegs, wie 
er früher vielfad) in Anfpruch genommen wurde, einen 
Beweis für den angeblichen Kunfthaß der alten Chriften. 
Denn er verbietet nicht die funft Aberhaupt, fondern 
nur das Anbringen von Gemälden in der firde. Er 
legt überbieß nur für die Praxis ber fpanifchen Kirche 
BeugniB ab, und melde Stellung man in Rom zu der 
Kunft einnahm, zeigen zur Genilge die verſchiedenen πο 
in bie vorconftantinifche Zeit gurüdreidenben Bilder in 
ben dortigen ftatafomben. 


1) Diefe Auffaffung vertrat, wie e [djeint, früher aud) Hefele. 
gl. Conc.-Befd. 1. 9. I, 141; III, 886 und Rirdenlerilon 1. W. 
II, 519 f. 


II. 
Recenfionen. 


1. 


Die Philoſophie des HI. Auguſtiuus, von Dr. 3. Storz. Mit 
Approbation be8 hochw. Herrn (b. v. Freiburg. Herder 
1882. VI und 206 4.91. ᾿ 


Stuguftinus, zu den größten Denkern aller Zeiten 
gehörig, ift ein Geift, in welchem hundert andere wohnen. 
Einer der objeftivften und ſcharfſinnigſten Literarbiftorifer 
jagt von ihm: ſcheinbar entgegengefebte Eigenſchaften 
vereinigte Auguftinus in fid, Ueberſchwänglichkeit ber 
BVhantafie und [dueibenbe Verſtandsſchärfe, leidenſchaft- 
lide Rüdfichtslofigfeit und gemüthvolle Zartheit, Weit: 
herzigkeit und Zelotismus, Auftoritätöglauben und Dri- 
ginalität, Eifer für die Einheit der Kirche und inbibi- 
buelle Frömmigkeit, Romantit und Scholaſtik, die Bes 
gabung des Dichters mit ber des Philofophen. Durch 
ba8 eigene heiße Blut in SBerirrungem bineingezogen, 
verjenkte fid Auguftin in bie Geheimniſſe be& Seelen- 
lebens und Dat er ba8 Dogma, nachdem e8 durch bie 
Drientalen in unfrudtbaren Spekulationen über tfeo- 


280 Story, 


logiſche und chriſtologiſche Fragen bineingeführt war, 
wieder der Betrachtung des Menſchen zugewandt, auf 
deſſen inneren Zuftand und bie Mittel zu feiner Er 
Löfung und Befeligung bingelenft *). In ähnlicher Weile 
fagt der Verfafler der vorliegenden Schrift, einer erſt⸗ 
maligen Gejammtbarftellung ber auguftinifden Philofophie 
in beutíder Sprache, ganz zutreffend: zufolge feiner 
intellektuellen Entwidlung gewann Auguftins Geift eine 
Univerfalität ber Erfahrung und des Gefühls, melde 
ihm das Verſtändniß für alle Seiten be8 Daſeins et: 
ſchloß und ihn nicht abftraft, [onberm aus bem Leben 
heraus benfem Tieß (€. 4). Dagegen läßt Storz mit 
Unrecht den Schatten im Charafterbilde des größten bet 
Kirchenlehrer nad) der wiſſenſchaftlichen Seite hin fo 
gut wie ganz fort. Wenn er ©. 3 ſchreibt: Auguftins 
Verftand verlor fid) nidyt (nie?) in leere Spekulation, in 
falſche Spigfindigfeit und abftraften Formalismng — 
fo brauden wir biejen, in feiner Allgemeinheit durch 
Auguſtins Retraktionen felber widerlegten Sag nicht zu 
accentuiren gegen bie „gemüthlofe Dialektif” der fpäteren 
Scholaftifer, um bod) das harmoniſche Zufammenmirken 
von Gemüth und Verftand in Auguftins Denkrichtung 
principiell fefthalten zu können. Wir müffen wohl das 
„Pathos des Rhetors“ neben ber „Silbenftecherei bed 
Grammatifers“ in der Zeichnung be8 genannten iterat: 
hiſtorikers ftehen laffen, fo febr mir die Einheit von 
„Schwärmerei und Sophiſtik“ in bem chriftlichen Philos 
phen al8 eine Verzeichnung an feinem Bilde bedauern. 
1. Dr. Storz führt und gunüdjft den geiftigen Ent 


1) 39. ©. Teuffel, Geſch. der röm. Literatur. 8, 9. ©. 1099. 





Philofophie des HL. Auguftinus, 281 


widlungsgang des hl. Auguftinus vor, tie et in zartefter 
Kindheit von feiner gottinnigen Mutter mit den Wahr- 
beiten ber Erlöfung befannt gemacht, in feinem 19. 
Rebensjahre aus ber finnlich-heidnifchen Berſunkenheit 
burd) Gicero'8 Hortenfius zum Studium der Philofophie 
aufgerufen wird, bie bL. Schriften der katholiſchen Kirche 
ungenießbar findet, fid) in dem Gewebe ber pantheifti- 
fen und phantaftiihen Ideen des Manichäismus ver: 
fängt, von beffen gaufelnden Trugbildern meg bem Glepti 
cismus ber neueren Afademie verfällt, von ber ſchwanken 
Smeifelfucht zum Spiritualismus der (neu⸗)platoniſchen 
Philoſophie fortfchreitet, durch deren Idee von der Gott- 
beit al8 der abfoluten immateriellen Wefenheit für 
die tiefere Erfaffung des Chriftentbums vorbereitet und 
endlih burd) den hl. Ambrofius in dasfelbe eingeführt 
wird. Auf ber Höhe ber religiös-geiftigen, der rift- 
lihen Weltanſchauung entmidelt nun Auguſtinus die 
Grundfragen des philofophiihen Denkens. Gegen bie 
Irrthümer des Senfualismus und Skepticismus, denen 
fein Geift felber fid) entrungen, vertheibigt er die 9teali- 
tät der inneren geiftigen Erfahrungsmelt und verfidt er 
namentlich bie Thatfache einer evften unmittelbaren 
Gewißheit im Selbitbewußtfein des Geiftes. Nach 
diefem Gewißheits⸗ und formalen Wahrheitskriterium 
legen fid) dem Denken zwei Hauptprobleme vor, das 
der Selbſterkenntniß und das der Gotteserfenntniß; fie 
find das Eine Endziel des philofophiichen Unterfucheng, 
und ein nicht unumgängliches Mittel hiefür ift aud) bie 
Welterkenntniß. Was fo bie Philofophie ſucht, ohne 
doch αἰ eigener Kraft zur Vollendung des Wiffens 
gelangen zu Tönnen, ba8 gibt das Chriftenthum, ver- 


282 Story, 


mittelt ber Glaube an ben menfchgemorbenen Logos 
des Ewigen. — Die Erkenntnißlehre Auguftins begründet 
vor allem bie Gemißheit des Selbftbewußtfeins und 
ſchafft jo bem philofophifchen Denken eine fidere Unter: 
lage, bie von bem unphilofophiihen Dogmatismus der 
pantheiſtiſchen und fenfualiftifhen SRanidjüer weſentlich 
verſchieden und zugleich bie Schutzwehr gegen bie unver⸗ 
nünftige Skepſis ift. Einbildungen (phantasmata) fón- 
nen nidt bie Wahrheit fein, fofern fie unfijer find; 
unfiher aber Tann nicht alles fein, fofern minbeftens 
ba8 fidet ifi, daß id, der Zmeifelnde, Fragende, 
Suchende, Nichtwiffende unb Wiffenwollende bin. jf 
aber dieſe Eine Wahrheit naturnothwendig fier, fo 
muß bie Wahrheit fein und erkennbar fein; (neque 
enim) ullum verum nisi veritate verum est (de ver. 
relig. c. 39), Wirklich erkannt nun wird die Wahrheit 
zunächſt burd) bie Sinne, deren Gegenftaub bie finnlide 
Erſcheinung ift. Iſt aud) bie Crfenntui ber Außenwelt 
nicht unmittelbar gewiß (für bie pbilojopbildje Reflexion 
im Unterſchiede von der unmittelbaren Wahrnehmung), 
fo ift fie bod) garantirt gemifjermaßen butd) das oberfte 
Wahrheitskriterium. Denn eine abfolute Sinnentäuſchung, 
mie bie Akademiker meinen, Dat nicht flatt: nicht bie 
Sinne täufhen den gefunden Menfchen, fondern fein 
vorſchnelles lirtfeilem über die Meldungen der Sinne 
trügt oftmals. — Weber allen ftet der Gemeinfiun 
(sensus interior), welcher Richter und Norm ber Außen- 
fume ift. Er felber unterfteht mit feiner Tätigkeit ber 
geiftigen Urtheilskraft be8 Verflandes (ratio), be8 eigent- 
lien Erkenntnißmittels: ego ratio ita sum in menti- 
bus, ut in oculis est aspectus (Solilog. 1. 1). Das 


Philoſophie be8 HL Auguftinus. 283 


Ertennen näherhin ift ein doppeltes, sentire und intelli- 
ger. Das geiftige Wahrnehmungsvermögen ift bie 
Vernunft (intellectus). Ihr Gegenftand iff das In- 
telligibile (Begriff, Zahl, — numerus quo numera- 
mus, im Unterfhied von bem numerus quem numera- 
mus — Geſetz, Idee). Die Frage nah bem Urſprung 
der intellektuellen Erkenntniß gehört zu bem fehwierigften 
philofophifchen Unterſuchungen. Auguftinus läutert dies⸗ 
bezüglich bie platoniſche Ideenlehre im Sinne des Chriften- 
thums; fein Thema lautet: veritas foris admonet, 
intus docet. Die Frage über das Verhältniß von Glau- 
ben und Willen hat 9L zwar nicht endgiltig gelöst; 
aber zu deren Löfung hat er den allein möglichen Weg 
gezeigt, ben der pſychologiſchen Sisfufion der Bes 
griffe Glauben, Meinen, Denken, Wiffen, Erkennen. Der 
Grundgedanfe biejer Erörterungen, deren gujammen: 
faſſende Wiedergabe wohl beu gelungenften Abſchnitt bei 
Storz bildet (€. 85—101), ift ausgefprochen de prae- 
dest. sanct, c. 2: Ipsum credere nihil aliud est quam 
cum assensione cogitare; non enim omnis qui 
cogitat, credit, cum ideo cogitent plerique, ne credant; 
sed cogitat omnis, qui credit: credendo cogitat et 
cogitando credit. 

Die Hauptflärke ber auguftin’ihen Spekulation 
liegt in ihrer Piychologie. Sie erweist die Symmateriali- 
tät, Einfachheit und Unſterblichkeit der Seele au8 ben 
Innenzuftänden des ſelbſtbewußten Geiftes (Leben, Er⸗ 
tennen, Wollen). Die Einheit von Leib und Seele ergibt 
fib daraus, daß legtere das Form: und Geftaltgebenbe, 
der Leib aber Subſtrat und Organ be8 Geiftes ii: 
homo substantia rationalis constans ex anima et cor- 


284 ton, 


pore. Die Art ber Wechſelwirkung zwiſchen Leib und 
Seele gehört nah A. zum Wunderbaren und Unbegreif- 
liden. Daß zur Löfung diefer Frage feine aprioriftis 
iden Theorien (3. B. bie harmonia praestabilita u. &.), 
Sondern nur pſycho⸗phyſiſche Forſchungen beitragen können, 
bat der tieffte Kenner des menichlihen Herzens Har 
durchſchaut. Die Unterfcheidung zwiſchen „Seele“ und 
„Geiſt“ ift durchaus gegen ben manichäifchen, aber aud) 
gegen den modernen (güntherianifhen) Trichotomismus; 
bie Eine natura spiritalis im Menden ift zugleich 
anima und mens. Die Vermögen ber pars inferior 
in ber Seele find sensus und appetitus sensitivus, bie 
bet pars superior find intelligentia und voluntas ?); 
beide Arten find verbunden durch bie memoria. Das 
Charafteriftiihe des höheren Strebungsvermögens ift bie 
Freiheit bea Wollen: und des Wählens. Diefelbe ift 
aber nit ba8 aequilibrium voluntatis des Pelagius; 
denn damit bie Willensentſcheidung nicht dasſelbe fei, 
was blinde zufällige Thätigkeit, muß fie ihre vernünftig 
beurtbeilbaren Motive haben; ber pelagianijdje jubes 
terminismus ift nicht weniger falſch als der manichäiſche 
Determinismus. 

Sym vierten und legten Theile behandelt Storz bie 
pefulative Theologie des Hl. Auguftinus, indem bie 
vielen und allenthalb in den auguftinijdjen Werken zer- 
ftreuten Gedanken über die Gotteserfenntniß und ben 


1) Was dad Gefuhls leben ber Seele anlangt im Unter- 
ſchiede bon bem Git ie bleben, fo fagt Storz ganz richtig (S. 136 fT), 
daß biejer Unterſchied bem Hl. X. nicht unbefannt geblieben fel. 
Die intereffante und tvidjtige Frage hätte e8 aber verdient, viel 
genauer bißfutirt zu erben, 





Philoſophie des HI. Auguſtinus. 285 


Gottesbegriff, über bie Ideen Gottes und deren Ver: 
bältniß zum endlichen Sein fleißig zufammengetragen 
werben. Der Akt des göttlichen Schaffens, der Ver: 
wirklichung ber Ideen zu dem zeitsräumlichen Dafein, 
ift ewig; die Schöpfung felber aber muß zeitlich fein, 
weil fie, im Unterfchiede von ber Weſens zeugung des 
göttliden Sohnes, in einer freien Willensthat Gottes 
begründet if. Was bie Erſchaffung der Menſchenſeelen 
anlangt, fo vermirft U. jede Art von Präeriftenz und 
die „aller gefunden Vernunft Hohn fpredenbe Lehre 
von ber Seelenwanderung“; ob aber ber Generationis⸗ 
mus oder ber Sreatianismus anzunehmen fei, mill er 
nicht entjdeiben. Gegen den erfteren ftehen mehr philo: 
ſophiſche Gründe (Materialismus), gegen den anderen 
mehr theologifhe (Crbjünbe). Die Schöpfung in ihrer 
Gefammtheit endlich ift ſchon unb gut, tro der Sünde 
und de3 llebel8 in der Welt. Denn daß das Webel 
ba ift al3 bie unmittelbare Strafe der-Sünde, gehört 
zur Vollkommenheit ber Weltordnung durch die Offen» 
barung ber Idee der Gerechtigkeit. Daß aber die Sünde 
jelber da ift, hat feinen Grund in feiner Wirkurfache, 
tToeber in mod) außer Gott; das Böfe, weil es fein jub- 
ftanzielles Sein, fondern eine Verderbniß am bem ſub⸗ 
ftanziellen Sein ift, hat feine causa efficiens, fonbern 
mur eine causa deficiens. Die Möglichkeit berjelben 
aber, baà posse peccare mußte Gott ποῖ menbig 
fegen, wenn et freie Weſen mit bem posse non peccare 
ſchaffen wollte. 

τ 2. Wir haben im Vorftehenden möglichft bie be- 
faunten Sbeen des hl. Auguftinus nad) ber uns vor. 
liegenben Schrift zufammengefaßt, um baburd) bie Grunb- 


286 Storz, 


tenbeng be8 Verfaſſers zum Ausdrude zu bringen. Dr. 
Storz läßt fid nicht ober faft gar nicht (f. €. 208 f. 
gegen Dornerd unrichtige Auffaffung bes auguftinifchen 
Schöpfungsbegriffes) im bie Kritif ein, teil fonft bie 
Hauptoorzüge feiner Schrift, bie Klarheit und Faplichkeit, 
gurüdgetreten wären. Man muß in ber That dad Be 
fireben als berechtigt anerkennen, die unerſchöpflichen 
Gedanken eines fo gewaltigen Geiftes, mie Auguftinus 
ift, mögliäft in ihrer ungetrübten Urfprünglicpkeit und 
ungemijdt burd) fremde Meinungen fid darlegen zu 
lafen. Uber vergefien darf nicht werden, baf eine 
foldje Behandlung viel ſchwieriger ift, als jene andere, 
melde bie ſämmtlichen kritiſchen und exegetiſchen Hilfs: 
mittel befrägt (gl. Vorwort). Völlig gelingen fóunte 
die freie Darftelung nur einem ber auguftinijdjen Denk⸗ 
kraft fongenialen Geifte. Darum wird für ge 
wöhnlich, zumal in unferer „Eritiihen“ Beit, bie um 
fafjenbe kritiſch-ſpekulative Darftellungsweife bod) mohl 
eher zu empfehlen fein. Was Dr. Storz beigezogen bat, 
ift gemwifjenhaft angegeben (Huber, Bindemann, Gangauf 
— aber nur die „metaphufifche Pſychologie“, nicht aud) 
bie philoſophiſch bedeutendere „Ipefulative Lehre von 
Gott dem Dreieinigen“ —, Dorner, van Endert). Die 
Citationsweiſe jedoch im ber nadten Formel „wie NN. 
jagt”, kann nicht gebilligt werden, namentlid) wenn ziem- 
lid untergeordnete Autoren gemeint find. Auch ver 
fteben wir e8 nicht redit, wenn S. 166 eine Reminis- 
ceng, deren Duelle einen Tadel gegen Auguftinus ent 
hält, in ein Lob umgebildet wird. Es handelt fi) um 
den ſpecifiſch auguftinifchen Gottesbeweis (de libr. arb.), 
und fagl.Storz, wie be8 öfteren v. Enbert: in ,edt 


Philoſophie des HI. Auguftinus. 287 


vlatonijder" Weiſe bypoftafirt Auguſtin den Begriff 
„Wahrheit“ und nennt Gott bie Wahrheit u. f. m. 
oder bie Wahrheit Gott. Das ift entſchieden mangel- 
haft, wie Ὁ. Crnbert (ber Gottesbeweis in der patrifti- 
fben Zeit mit befonberer Berüdfihtigung Auguſtins) 
auch hervorhebt. Auguftin „bypoftafirt” eigentlich bie 
Denknothwendigkeit unb folgert: entweder bie 
bem Denkgeifte ſchlechthin als Norm und Regel über- 
geordnete Wahrheit ober deren Grund ift Gott. Diefe 
Folgerung aber aus bloßen Denkbegriffen, welde nur 
bie Gefegmäßigfeit meines Denkens umjdreiben ober 
platoniſch „hypoſtaſiren“, ift aber noch Fein Beweis, 
daß Gott ift, der Gegenftanb und der Urheber meiner 
Denkkraft. Es ift logiſch unftatthaft, bie Idee, wor: 
nad) ἰῷ urtheile (nil nisi veritate verum est), in das 
Sein umzubilden, das id) beurteilen, erweiſen foll. 
Hier find Auguſtins Gedanken zum minbeften unfertig: 
richtig beginnt er mit der Gottesidee, um auf der Sand: 
bank des ontologifchen Gottesbeweiſes figen zu bleiben. 

Diefe eine Bemerkung ftatt vieler führt uns auf 
einen anderen Punkt, ben u. €. Dr. Storz mehr hätte 
iu feinem Recht kommen lafjen dürfen, nämlich, neben 
der ausgedehnteren fritijden Verwerthung ber Darftel- 
lungen über auguftinifhen Philofophie, bie Kritik dieſer 
Bhilofophie ſelber. Sicherlich ift eine olde, geübt mit 
ernfter, Lediglich der Sache gewidmeter Bejonnenheit, von 
der Pietät gegen ben tiefften chriftlihen unb gegen einen 
ber bedeutendften Denker aller Zeiten nicht verboten, 
fondern gefordert. Das gereinigte Gold iff ba8 merth- 
vollſte. Schon Auguftinus felber hat fid) retraktirt, und 
feitdem ift bie Seit nicht ftehen geblieben. Die dies: 


288 Sion, 


bezüglihen Stanbgloffem, welche bie wiederholte Lektüre 
von Ctory anregender Schrift mur vermehren dürfte, 
füónnen nicht jümmtlide vorgeführt werden. Zudem 
müßte einem befcheidenen Zweifel gegen gemifje augufti- 
niſche Säge jofort ein gelinder Zweifel gegen deren 
Faſſung dur ihren Darfteller und wieder gegen befjen 
Auffaffung burd) den Lefer u. f. f. madfolgen. Nur 
weniges [εἰ angemerkt. Der Begriff der „Idee“ ift bei 
Auguftinus „et platoniſch“ im guten Sinn, aber nod) 
unentwidelt. Dr. Storz behandelt das noetiſche und 
metaphyſiſche (theologiiche) Moment der intellektuellen 
Erkenntniß (vgl. €. 59—85 mit €. 156—178) faft 
mod) unterjdiebslojer al8 Auguftinus felber gethan. 
Namentlih wäre ſchärfer auf den eigenthümlihen Sinn 
ber auguftinijdjen memoria zu adjten, was Storz ziem- 
lich farblos mit (nieberem und höherem) „Bewußtfein“ 
gibt. Die memoria (vgl. namentlich bie begeifterten 
Schilderungen berjelben in ben Confessiones) ift bie Ber: 
innerungd- und Erinnerungskraft der Seele, dann aber 
Gud der Fundus und ber Habitus ber been (sensus 
intimus, Vernunftfinn). Dadurch gerade bekommt ber 
auguftinifhe intellectus feine eigenthümlihe Färbung 
gegen bie ratio (Verfiandesvermögen) und ratiocinatio 
(Berftandesbemwegung). Die oft miederfehrende, ganz 
Torreft gemeinte Bezeichnung einer „unmittelbaren“ Er: 
fenntnig Gottes durch den menſchlichen Geift dürfte trot 
der Verwahrung gegen ben neueren Ontologismus (©. 
66 f.) nidt ganz von aller Mißdeutbarkeit befreit fein. 
Auguftinus felber mar zu febr Noetifer, um bei feinen 
vorwiegend theologiſch⸗poſitiv gehaltenen Schilderungen 
ber „unmittelbaren“, gnadengewirkten Einigung be gött- 





Philoſophie be8 HI. Auguftinus. 289 


lien mit bem menſchlichen Logos vergefien zu können, 
daß alle GotteBerfenntmiB, aud) jene auf Grund ber 
immanenten Gottesidee, burd) das bioleftijde Denken 
vermittelt ift, wenn aud) nicht immer bie Vermitt: 
lug ins Bemußtfein tritt. — Im allgemeinen halten 
bit dafür, daß in einer wiſſenſchaftlich volllommenen 
Darftellung ber auguftiniihen Philofopie eine pilo: 
ſophiſch erafte Geſchichte und Würdigung der auguftini 
fen Schriften nicht fehlen darf. Es ift unerläßlich, 
um beu von Dr. Storz fo gut ſtizzirten Gedanfenfort- 
ſchritt bei Yuguftinus beurtheilen zu fünnen, daß bet 
Inhalt und Charakter jeder Einzelfehrift und womöglich 
der Einfluß, unter bem fie entftanben ift, Kurz gefenn- 
zeinet werde. Sonft läuft man Gefahr, daf, wenn 
«u$ den verſchiedenſten Schriften bie Stellen ganz gleich: 
werthig neben einander geſetzt werden, gerade ber med 
folder erit wieder zu begründender Belege verfehlt wird. 
Dber wie hat fid) a. 9B. der Theolog Auguftinus, welder 
im Rampfe mit den Pelagianern und Semipelagianern 
die freie Selbftbeftimmung des Menfhen hinter der 
„unfehlbaren" Gnadenwirkſamkeit gurüdtretem läßt, zu 
dem „Meiſterſtück“ des Philofophen Auguftinus, zu der 
Entwicklung be8 Freiheitsbegriffes (Storz 188 ff) ge- 
felt? Diefe febr Schwierige, wiſſenſchaftlich aber prius 
cipielle Frage ift von Dr. Storz ganz ungenügend bes 
Tüjtt (€. 146 f), und zwar in bem Sinn, als ob es 
niemals eine Kontroverfe über bie Jrrefiftibilität der 
Gnade bei Auguftin gegeben hätte: „bie Gnade wirkt, 
ebenſo wie die Motive überhaupt, nit neceffi- 
tirend, fondern bloß bewegen, antegenb" (dasfelbe?). 
Test. Quartalfggrift. 1889. Heft I. 19 


290 Siegfrieb, 


Und gerade hier find die Belege aus Auguftind Schrif⸗ 
ten ganz unzulänglich gegeben. 

Vieleicht jdjenft ber verehrte H. Bf. biejen Punkten 
bei einer etwaigen neuen Auflage feine Aufmerkſamkeit. 
Stud) dürfte e8 fid dann empfehlen, bie metaphyfi- 
Shen Probleme, (Begriff von Materie, Raum, Zeit, 
Subftanz u. ſ. m.), deren Erörterung jet an zer: 
freuten Orten eingeflochten ift, ſowie namentlid) bie 
etbijden und religionsphiloſophiſchen Fragen, in einem 
eigenen Abſchnitte und präcifer zu behandeln. Mir 
wünſchen bem ſchönen Werke, dem erfreulidjen Erzeug: 
mif ber ernften Muße eines Geeljorger8, ber feine Be: 
rufsarbeit mit gediegenen Studien zu würzen mußte, 
aufs wärmfte den verdienten Erfolg. 

Repetent Dr. Braig. 


2. 


Aftenftüde, betreffend ben preußifgen Culturkampf, nebft 
einer geſchichtlichen Einleitung. Von Rikolaus Siegfried. 
Freiburg i. B. Herder 1882. CX, 441 ©. 8. 


Mehr als ein Decennium ift nunmehr verffoffen, 
feitbem das Vorgehen ber preußiihen Regierung in 
kirchlichen Dingen die Geifter in Deutſchland aufregt 
und trennt. Es war baher ganz angemeffen, bie beu 
Kirchenſtreit betreffenden Aktenſtücke zu fammeln, und das 
vorliegende Werk fommt wirklich einem SBebürfnif ent- 
gegen. Die Sammlung befteht aus 198 Numern. Die 
legte Numer enthält eine Statiſtik der preußifchen Did- 
cefen vom Januar 1881, bie vorlegte das Gefeg vom 


Culturkampf. 291 


14 Juli 1880 betreffend die Abänderungen der früheren 
firhenpolitiichen Gefege. Den Maigefegen des Jahres 
1873, ber Hauptgrundlage des Guíturfampfe8, voran 
sehen 89 Numern. In ber 92 Seiten zählender Ein- 
kitung wird eine kurze Gefchichte des Culturfampfes 
überhaupt, im Anhang (€. 408—428) ein geſchichtlicher 
Ueberblick über ben Gulturfampf in der Diöcefe Trier, 
entnommen der Trierifhen Landeszeitung, gegeben. Ber 
Verf. widmete fid) feiner Aufgabe geraume Zeit, und 
die Sammlung läßt daher etwas annähernd Vollſtän— 
diges erwarten. Die Reihenfolge ift nicht ſtreng ὥτοπος 
logi. Die Dokumente folgen fid) vielmehr in der 
Drbnung, in ber fie in der geſchichtlichen Einleitung zu 
fehen fommen. Der Herausgeber empfand bie Anord⸗ 
nung felbft al8 einen Webelftand und fügte, um bem- 
felben möglihft abzuhelfen, am Schluß vor bem Per- 
fonen- und Sachregiſter ein chronologiſches Verzeichniß 
aller mitgetheilten Aftenftüde bei. Noch befjer wäre e8 
gewefen, die Dokumente felbft in diefer Folge zu geben- 
Der geſchichtliche Weberblid wäre baburd) keineswegs, 
wie €. V behauptet wird, beeinträchtigt worden. Denn 
wenn aud) in ber Sammlung der hier allein angemefjene 
Sronologifche Gefihtspunft befolgt ward, jo mußte bie 
geſchichtliche Einleitung nod) keineswegs rein chronologiſch 
gehalten werden. Der Verf. konnte den Stoff im Gegen- 
theil mit gleicher Freiheit nad) ſachlichen Gefihtspuntten 
gruppiren. Die in den Tert zur Bezeichnung der Alten 
füde eingefegten Numern würden dann allerdings nicht 
fortlaufender Art fein. Aber was hätte das gemacht? 
Jedermann weiß ja, mo er in einer Sammlung bie 
Rumer 139 aufzuſuchen hat, wenn er fie in einem Gitat 
19* 


292 Siegfried, 


qud) vor ber Numer 138 findet, und ebenfo leicht hätte 
ber Verf. 189 vor 138 fchreiben Fünnen. Eine derartige 
firenge Chronologie erwartet man in Abhandlungen 
nicht, wohl aber in Sammlungen von Aftenftüden. 
Was bie gefdjidtlide Einleitung beſonders anlangt, 
fo wird fie bem Lefer gute Dienfte leiften. Sie wird 
ihm einen Weberblid über ben Verlauf des Eulturfampfes 
gewähren und das Verftändniß ber Aftenftüde vermitteln. 
Daß ber Verf. dabei den fog. ftreng kirchlichen Stand- 
punkt einnimmt, braucht faum gejagt zu werden. Ein 
gemüfigte8 oder vermittelndes Urtheil hat ja einerfeits 
in unferer Literatur leider kaum einen Platz. Anderer: 
feit find bie Maigefege derart, daß fie jegt almälig 
in den tveiteften Kreifen als ein Unrecht gegen die Kirche 
und als ein politischer Mißgriff angefehen werben, und 
ihre Ausführung mar vielfach von einer Härte und Rüd- 
fihtslofigfeit begleitet, daß man in das Detail bes 
Eulturfampfes nicht ohne ftarfen Widerwillen eindringen 
Kann, felbft wenn man duch andauernde Beſchäftigung 
mit ber Geſchichte gelernt hat, etwas zu ertragen und 
mid bei jedem Vorkommniß feine Ruhe und feinen 
Gleihmuth zu verlieren. Wieberholt muß man fid ba 
fragen, wie denn bergleiden Dinge in unjerem 19. 
Jahrhundert mod) vorkommen fonntem, und ob e8 denn 
Mangel an SBerftanb oder Mangel an jeglihem Gered- 
tigfeitägefühl fei, mas gemiffe Vorkommniſſe gefdeben 
ließ? Und die Frage drängt fid) auf, felbft wenn zu— 
zugeben wäre, daß bie jüngften kirchlichen Ereigniffe für 
den preußifchen Staat ein Grund maren, feine Stellung 
zur fatfolijden Kirche zu ändern; denn in allen Fällen 
ift das mirklide Vorgehen desfelben nicht zu billigen. 





Gulturtampf. 293 


Daß bem fo üt, braucht heutzutage für mur halbwegs 
Billige und verftändige Leute nicht weiter bemiejen zu 
nerden. Die Geſchichte hat bereits den Beweis geliefert, 
und ich fann mid) daher enthalten, näher auf den Punkt 
einzugehen. Ich führe das nur an, um zu zeigen, wie 
der Standpunkt des Verf. begreiflich ift. 

Auf der andern Seite kann id) aber bod nicht 
unterlaffen hervorzuheben, ba ber Berf. in feiner Gin- 
leitung mehr als Anwalt, denn als Hiftorifer auftritt. 
Er verräth dieß nicht bloß durch ben nicht immer wiffen- 
ſchaftlichen Ton feiner Darftelung, fondern nod) mehr 
dadurch, daß er bie Sache fo behandelt, alà ob die fei- 
tens be8 preußiichen Epiffopates gegenüber den Mai- 
geſetzen thatfächlich eingenommene Haltung die einzig 
mögliche und beilfame gemejen fei. Ich begreife zwar 
qud) bieje8 Verfahren und bin meit entfernt, e8 befon- 
ber8 zu tabeln. Les extrémes se touchent. So lange 
t8 Leute gibt, welche den Gulturfampf als eine preufi- 
ſche Großthat verherrlihen — und leiber find biefelben 
wur nod) allzu zahlreih — wird der Eifer aud) auf ber 
anderen Seite fo aufgeregt werben, daß man am fid) 
felbft nod) feine Kritik übt, fondern einfach alles ſchön 
und gut findet, was eben geſchehen ift. Aber zu billigen 
ift ba8 Verfahren gerade bod) nicht, wenn bie Samm- 
lung ber Aftenftüde neben ber Wiſſenſchaft nicht etiva 
Tod anderen Zwecken dienen fol. Die Frage nad) ber 
Nichtigkeit der Taktik war m. (δ. nicht völlig zu über 
gehen, und wenn fie vieleicht aud) im ganzen bejaht 
werden wollte, jo fonnten bod) bezüglich einiger Ein- 
zelnheiten Bedenken auffteigen. Die Darftellung des 
Verf. jelbft ift fo angetan, fie manchmal mit einer ge- 


294 Siegfried, Eulturfampf. 


ioiffen Nothivendigfeit Hervorzurufen. So lejem mit | 
begüglid) ber Vorlage ber preußifhen Regierung be: 
treffend bie Vermögensverwaltung in den Fatholifchen 
Kirchengemeinden €. LXXIV zunähft: „Der Erzbiſchof 
von Köln wandte fij Namens ber übrigen preufijden 
Biſchöfe mit einer Gegenvorftelung am den Landtag, 
in ber er u. a. hervorhob, der Gejegentwurf verletze 
nit mur die göttlihen!) und ftaatlid) anerkannten 
Rechte der Kirche, fondern enthalte gewiſſermaßen eine 
Säcularifation des Kirchenvermögens, indem er als 
Eigenthum ber Kirchengemeinden behandle, was fomohl 
mad) dem fanonijden aí8 bem Allgemeinen Preußifchen 
Sanbredt Gigentjum ber Kirchen felbft fei", und einige 
Zeilen fpäter, madjbem das Buftanbefommen des Ge 
fege8 erwähnt ift: „Im Auſchluß an das vorgenannte 
Geſetz erließen bie Biſchöfe nad) gemeinfchaftlicher Weber: 
einkunft ein Schreiben an den Klerus bes Inhaltes, 
ba8 neue Gejeg verlege zwar wichtige Rechte der Kirche 
und fei einjeitig vom Staat erlaffen; nachdem e8 aber 
publicirt fei, fónme e8 von ber fire tolerirt wer 
den, damit nicht das ganze Kirchenvermögen in Feindes⸗ 
band gerathe; denn bie won den Gläubigen geforderte 
Mitwirkung enthalte nichts, was abjolut mit bem Ge: 
wiſſen unvereinbar fei". Mit dem zweiten verglichen 
erjdeint das eríte Schreiben ſchwerlich in einem günfi- 
gen Lichte, zumal wenn man erwägt, daß ber fraglide 
Gefegesentwurf in den Kammern nicht gemilbert, ſondern 
vielmehr nod) etwas verfhärft wurde. Ich bim natürlih 
aud) bier weit entfernt, gegen den Verfaſſer besfelben 


1) on bem Referenten unterftrichen. 





Pflugk · Harttung, bie Urkunden ber päpftlichen Kanzlei. 295 


einen Tadel aus[preden zu wollen. Die an fi zu 
migbilligenden Ausbrüde in dem Schreiben erflären fid) 
hinlänglich aus ber Hitze be8 Streites. Aber bie Sache 
bar anzuführen zum Beweis, daß der Anwalt in bem 
Berf. bod) allzu fehr über bem Hiftorifer die Oberhand 
behauptet, bezw. baf wir eine wiſſenſchaftiche Darftellung 
bes Eulturfampfes in der ber Aktenſammlung voran- 
geſchickten Einleitung nicht zu erbliden haben. 
Sunt 


Die Urkunden ber püpfüliden Kanzlei vom X.—XIIL Jahr- 
hundert. Bon I. t. Pilugt-Harttung, Privatdocenten 
in Tübingen. Münden, Adermann 1882. 76 ©. 8. 


Die päpftlichen Urkunden, bie in biefer dem Carb. 
Hergenröther gemibmeten Schrift, einem Separatabdrud 
aus der Archiv. Zeitſchr., zur Beſchreibung fommen, zerfallen 
in 4 Klaſſen: Bullen, Breven, Judicate, Spnodalien. 
Innerhalb der einzelnen Klaffen werden wiederum unters 
ſchieden: 1) feierlihe Bullen, Mittelbullen, unfeierliche 
Bullen; 2) feierliche und unfeierlihe SBrepen; 3) reine 
Syubicate, Syubicatbullen und Judicatsbreven ; 4) Syno= 
balbullen, Synodalzuſchriften und Synodalakten. Ber 
züglic ihres Charakters werben bie Schriftftüde folgen- 
dermaßen unterihieden: „Sind bie Bullen feierliche 
Alten auf großen Bergamentftücen ausgeführt, fo treten 
und die Breven als Heine, unſcheinbare Schriftftüde 
entgegen. Jnhaltlich ergibt fid) als Girunbgug ber Bulle, 
namentlich in ihrer Hauptart, im Privilegium, bie Rich: 


296 Pflugl-Harttung, bie Urkunden ber päpftlichen Kanzlei. 


tung auf das Allgemeine, das allfeitig, ewig Verbindende, | 
weßwegen in ber burdjgebifbeten Kanzlei bie Adreſſe | 
qud) regelmäßig mit ber Verewigung, mit »in perpetaum« 
ſchließt. Das Breve dient mehr bem bejonderen Falle, 
das Judicat ift Gerichtsakt, ift ein Protofol über Ver: 
bandlungen vor bem päpftlihen Gerichte, das Synodal 
eine Darlegung von Synodalbeſchlüſſen. In den Bullen 
pflegt etwas gewährt, in den Breven befohlen, verboten, 
verlangt, mitgetheilt, erörtert, im Judicate und Syno— 
bale einfach berichtet zu werden ohne Ge: und Verbote. 
Wurde die Bulle in der Regel nur auf Anſuchen aus: 
geftellt, fo diente ba8 Breve bem unzähligen Vorkomm- 
niffen des Tages“ (©. 2). 

Der Verf., aud) in theologiſchen Kreifen, namentlih 
burdj feine Acta pontifieum Romanorum inedita, be 
Tannt, ift auf bem Gebiete, ba8 er hier bearbeitet, vor: 
züglih bemandert. Das ihm zu Gebote ftefenbe Ma— 
terial berechnet er nad) ungefährer Schägung, von ander: 
mweitigen Notizen abgefehen, auf etwa 1000 Beſchrei⸗ 
bungen von Driginalien, ungefähr 500 Paufen und 300 
Ciegelabbrüde. Die Zahl ber von ihm eingefehenen 
Driginafurfunben dürfte 2000 erreichen, bie der heran 
gezogenen Archive 100 überfhreiten. Unter diefen Um: 
ftänden lie fid eine tüchtige Arbeit erwarten. Die 
Darftellung ijt im allgemeinen Har und bündig. Ju 
einzelnen wenigen Fällen verleitete ba8 Streben nah 
Kürze fogar zu Heinen ſprachlichen Incorrectheiten. 

Sunt. 


Schneemann, thomiftifh-moliniftiiche Controverſe. 297 


4. 


1. Die Entftehung und weitere Entwidlung ber thomififd- 
molinififgen Gontroverje. Dogmengeſchichtliche Studie 
bon 6. Schneemann, S. J. Mit den authographen Auf- 
zeichnungen Pauls V. über die Schlußfigung der Congre- 
gatio de auxiliis, in Lichtdrud.  $reiburg, Herder 
1879/80. I. ᾧ. 160, II. $. 230 ©. 8. 


2. Controversiarum de divinae gratiae liberique arbitrii 
concordia initia et progressus enarravit G. Schnee- 
mann, S. J. Friburgi, Herder 1881. VIII, 491 
Seiten 8. 


Jeder Theologe weiß von dem heftigen Streit, der 
von den Dominifanern und Jeſuiten vor 2 Jahrhunder⸗ 
ten über die Gnadenlehre geführt worden ift. Die vor= 
liegende Studie will mun diefen Streit nicht aufs neue 
anfahen. Sie toil vielmehr bie Gnabenlehre ber Ge- 
ſellſchaft Jeſu gegen bie Angriffe vertheidigen, bie von 
verfchiedenen katholiſchen Theologen Deutſchlands gegen 
fie gemacht wurden, damit nicht fortdauerndes Schweigen 
zu der Meinung Anlaß biete, al8 feiem jene Anklagen 
gegründet. Die Auflagen werden ©. 1 f. ber beutjden 
Schrift mitgetheilt. Die Gegner werden dagegen nicht 
näher bezeichnet, und der Verf. unterließ wohl die 9(m- 
führung ihrer Namen, um aud) den Schein zu vermeiden, 
als ob ihn ein anderes als eim ſachliches Intereffe Leite. 
Das Verfahren verdient infofern gewiß Billigung. Doch 
wäre e8 amberjeit8 für mande Lefer erwünſcht getvefen, 
bie Kläger näher fennen zu lernen. Der Verf. hätte 
auch fo rein fachlich vorgehen fünnen, unb e8 märe ihm 


298 Schneemann, 


ver Vortheil erwachſen, nidt bloß jenem Bereditigten 
Wunſche zu millfahren, fondern aud) unter Umftänden 
feiner Ausführung ein größeres Gewicht zu verleihen, 
da vielleicht [don die Nennung von Namen genügt hätte, 
um bie Anklagen als wenig oder nicht begründet erfcheis 
nen zu laffen. In der Vorrede zur Iateinifhen Aus: 
gabe lejen tit zwar einige Namen oder erhalten wir 
toenigften8 ſolche Andeutungen, daß mir bie Perſon Leicht 
errathen fónnen. Aber zwei von ben genannten Männern 
gehören nicht Deutſchland an, und von dem dritten, bem 
gegenwärtigen Profefior der Dogmatik in Bonn, gingen 
jebenfall8 die aufgeführten Klagen nicht aus. 

Die Vertheidigungsſchrift erfchien zuerft deutſch in 
ben Ergänzungsheften zu den „Stimmen aus Marias 
aad". Auf ben Wunſch von einfihtsvollen Männern, 
fie weiteren Kreiſen zugänglid zu maden, wurde fie 
aud) Lateinisch veröffentlicht, und bie Weberfegung beforgte 
ber Ordensgenoſſe des Berf., B. Gietmann. Die latei- 
nifhe Ausgabe ift indeffen nicht eine bloße tleberfegung 
der deutfchen. Sie enthält auch verfchiedene Aenderungen, 
bezto. Berbefferungen und außer einigen anderen Doku: 
menten zwei mod) ungebrudte Abhandlungen, bie Re- 
sponsio P. L. Lessii ad Antapologiam ven. Facultatis 
S. Theol. Univ. Lovan. (869—462) und einen Aufſatz 
von 9. fleutgen über bie Inſpirationslehre be8 Leſſius 
(463—491). Die Arbeit zerfällt in zwei Theile. Der 
erſte Theil handelt von der Entftehung der Gontroverje 
zwiſchen ben Thomiften und Moliniften, indem klarzulegen 
verſucht wird, welches bie Lehre ber Thomiften über 
bie flreitigen Punkte war, bevor fBaneg und SRolina 
mit ihren Syſtemen auftraten. Im zweiten wird ein 





Thomiſtiſch⸗moliniſtiſche Gontroberfe. 29 


hiſtoriſcher Abriß ber weiteren Entwidlung ber Gontto- 
verje gegeben. 

Die Frage, um bie fid bie große Gonitoverje 
drehte, war bie, worauf fid) ber unfehlbare Zufammen- 
fang ber gratia efficax mit ber aktuellen Buftimmung 
de3 freien Willens gründe, und biefe Frage wurde aufs 
geworfen, teil die Unfehlbarfeit der Gnade mit ber 
Freiheit (und demgemäß Fehlbarkeit) des Willens in 
Widerſpruch zu ſtehen ſchien. Die Sefuiten leiten biefe 
Unfehlbarfeit ber wirkſamen Gnade von ber scientia 
media ab, die Thomiften von der physica praedetermi- 
natio, bezw. im legten Grund von ber untiberftebliden 
Wirkſamkeit der göttlichen Allmacht. Sene laflen fie 
demgemäß von außen kommen, bieje leiten fie au8 bet 
inneren Beichaffenheit der Gnade ſelbſt ab. Der Gegen: 
fag ift alfo ein weſentlicher. Die Löfungen ſchließen 
fib, wie ber Verfaſſer (L 40) mit Recht betont, noths 
wendig aus und fie laſſen ſich jo wenig vereinigen wie 
Waſſer und Feuer. Die Vermittlungsverſuche, bie bis- 
her angeftellt wurden, find nichtig, ba fie entweder auf 
Umgehung be8 eigentlichen Fragepunktes beruhen oder 
im Grunde genommen eben auf eine Seite fid) ftellen. 

Der Verf. tritt für das moliniftiihe Syſtem in bie 
Schranken, und e8 begreift fid) das nicht bloß aus feiner 
Zugehörigkeit zur Gefellfhaft Jeſu, fondern aud aus 
den Borzügen, die dasfelbe vor bem anderen hat. Aber 
gleichwohl mird ihm nicht jeder beiftimmen, aud) wenn 
er πίῶ! zu der Schaar ber Thomiften gehört. Die 
seientia media, der 9[mgelpunft der moliniftifchen Lehre, 
it (darin werden bie Thomiften Recht behalten) eine 
Halbpeit, ein falſches juste milieu, und fie leiftet nicht, 


300 Schneemann, . 


was man von ihr erwartet. Sie verlegt in Wahrheit, 
wenn aud) die Worte anders lauten, den Schwerpunft 
im Heilsproceß von ber göttlihen auf die menſchliche 
Seite, und von einer unfehlbaren Wirkjamkeit der 
Gnade fan befbalb ernftlich bei ihr nidjt bie Rede 
fein. Auf der anderen Seite ift e8 aber ebenjo ſchwer, 
eine physica praedeterminatio anzunehmen, teil neben 
berfelben die Freiheit des Willens mehr mit Worten 
als in Wahrheit fid) behaupten läßt. 

Wenn e3 fid) aber fo verhält, menn jedem Syſteme 
bie gewichtigſten Gründe entgegenftehen, legt fid) dann 
nicht bie Frage nahe, ob ihre Vorausfegung richtig und 
Db wirkli eine unfehlbare Wirkfamkeit der Gnade zu 
behaupten ift? Die Moliniften dürften ſchwerlich Ur— 
fade haben, fid) der Verneinung ber Frage zu wider 
fegen, ba bie Annahme ber scientia media im Grunde 
bereit3 bie Negation der Unfehlbarkeit der Gnade ent- 
hält. Auch dürfte dogmatiih ber SBerneimung nichts 
entgegenftehen. Wohl aber fpreden anbererjeit8 ge- 
nügende Gründe für fie. Es fei nur einer erwähnt. 
Der Urjprung der Idee ber Unfehlbarkeit ber Gnade 
ift bei Auguftin zu fuden. Nur ift der Ausdrud bei 
bem Bilhof von Hippo ein anderer und zwar fhärferer. 
Er faßt den göttlichen Gnadenmwillen als „ftet3 unbe: 
zwungen“ (Enchir. e. 102 n. 26). Er läßt feine Wirk— 
famteit invietissime und indeclinabiliter et insupera- 
biliter eintreten (De corr. et gr. c. 12 n. 38). €t be 
hauptet geradezu, daß ber menſchliche Wille ber Gnade 
nicht etwa mur nicht widerftehe, fondern auch nicht miber- 
ftehen fóune (ib. c. 14 n. 45), unb er lehrt fomit eine 
ivrefiftible Wirkfamkeit der Gnade. Diefe Ausfprüde 


Thomiſtiſch⸗ moliniſtiſche Controverſe. 301 


find aber nicht etwa gelegenheitliche Uebertreibungen, 
fondern fie entfpredyem vollftändig der Lehre, mie wir 
fie bei ihm feit bem Jahre 418 antreffen. Man Tann 
fie deßhalb nicht etwa mit der Bemerkung entkräften 
oder abſchwächen, daß fie nicht gar oft in feinen Schrif⸗ 
ten vorkommen. Wenn man nun aber bem Sirchen- 
lehrer nicht fo meit folgen und mit ihm eine irrefiftible 
Wirkſamkeit der Onade annehmen mill, menn man fein 
Bedenken trägt, auch andere unerträglich ſcheinende Här—⸗ 
ten in feinem Spftem aufzugeben, was nöthigt unà 
bann, eine unfehlbare Gnadenwirkfamfeit anzuneh: 
men, eine Annahme, die zwar im Ausdrud milder ift 
als jene, bie aber dem denkenden Geifte nicht geringere 
Schwierigleiten darbietet und bie, fo viel aud) bie Do— 
minifaner und Jefuiten mit ihrer Begründung fid) ab- 
gegeben haben, noch feine8meg8 genügend erklärt und 
gerechtfertigt ift? Doch ich greife damit über bie Grenzen 
meiner Aufgabe hinaus. Vielleicht erhalten wir von 
berufener Seite in Bälde Aufſchluß über bie Cade. 
Kehren wir zu unferer Unterfuhung zurüd, fo ift 
anzuerkennen, daß fie mit viel Fleiß und Umficht vet- 
anftaltet wurde. Insbeſondere wird ber zweite Theil 
banfbare Lejer finden. Aber id) fürchte faft, daß bem 
Bf. bie erforderliche Unbefangenheit fehlte. In dem 
Abſchnitt über bie auguſtiniſche Gnadenlehre wenigftens 
brüdt er fid) fo aus, daß eine derartige Beforgniß nur 
allzufehr begründet ifi. Er bringt zweimal (I, 49 f.) 
die Behauptung, daß es im ganzen Hl. Auguſtinus feinen 
einzigen Satz gebe, welcher, richtig verftanden, ber Gna- 
denlehre der Geſellſchaft Jeſu widerſtreite. Wie Tann 
man fo etwas behaupten? Lehrt denn bie Geſellſchaft 


302 Scäneemann, thomiſtijch⸗moliniſtiſche Controverje. 


Jeſu eine irrefiftible Wirkfamfeit der Gnade? Oder 
wenn man je einwenden wollte, daß das eben aud) nicht 
Auguftin’8 Lehre fei, nimmt denn die Gefelligaft Jeſu 
einen bloß particularen Heilswillen Gottes an? Denn 
diefer liegt bei dem Bifchof von Hippo in feiner fpäteren 
BVeriode (Ausſprüche aus der früheren Periode fommen 
biegegen nicht in Betracht, ba fie für Auguftin burd) bie 
Fortentwicklung feiner Lehre ihre Bedeutung verloren) 
fo Har und fo ausgefprodhen war, daß man ihn nicht 
in Abrede ziehen Tann, wenn man nicht etwa abfidjtlid) 
feine Augen verfeließen will. Es fei nur auf De corr. 
et gr. c. 13 n. 39 und De praedest. sanct. c. 8 n. 14 
verwiefen und, was nodj mehr in's Gewicht fällt, an 
bie drei befannten, zwar völlig vergeblichen, aber bie 
Sache jelbft mehr als alles Andere beftätigenden Ver— 
fude erinnert, die fraglide Lehre mit dem ausdrücklich 
ba$ Gegentheil enthaltenden Schriftwort 1 Timoth. 2, 4 
in Einklang zu bringen. 3861. De corrept. et grat. c. 
14. 15 n. 44. 47. Ep. 217 c. 6. Hat denn ber gelehrte 
Vf. al das überfehen, oder glaubt er etwa, die Sache 
felbft megdemonftriren zu fónnen? Das ift ſchwerlich 
anzunehmen. Uber der Mangel iff in allem Fällen zu 
bedauern, und zwar um fo mehr, je weniger ein eigent: 
lider Grund vorlag, bie jefuitifhe Lehre mit bem An: 
Teben des Kirchenlehrers zu beden. Die auguftinifche Lehre 
ijt ja, wie I, 44 ff. ganz mit Recht betont wird, mod) 
nicht als jode aud) ſchon Kirchenlehre. Die Kirche fab 
fi) im Laufe ber Zeit im Gegentheil veranlaßt, gewiſſe 
von Auguftin aufgeftelte Säge, namentli die Lehre 
von bem particularen Heilswillen Gottes, freilich ohne 
Nennung be8 großen Kirchenlehrers zu cenfuriren. Es 


Sitgog, Kirchengeſchichte. 808 


liegt alfo aud) gar Fein Grund zu bem Verſuche vor, 
ba Unmöglihe möglich unb Auguftin zu einem Moli-— 
uifte zu madent. 

Sunt. 


5. 


Handbuch ber allgemeinen Kirdengeiiäte von Dr. Joh. 
Alzog. Behnte Auflage, neu bearbeitet von Dr. ὅτ. €. 
Kraus. Mit zwei djronologijden Tabellen und drei 
kirchlich⸗ geographiſchen Karten. — Brei Bde. Mainz, 
Kupferberg. XVI, 869. VII, 892 ©. 8. Preis 14 M. 


Bei der Bearbeitung bet 10. 9L ber Alzog’fchen 
8.6. wurde mit 9tedt von ber Vorausfegung ausge: 
gangen, daß bie ejer im toefentlid)en ben alten Alzog 
wiederzufinden münjden. Die Aufgabe des Hg. be- 
ſchränkte fid) demgemäß auf bie 9tadjtragung der über- 
fehenen oder jeit 10 Jahren Dingugefommenen Literatur, 
auf Verwerthung ber neueften Forfhungen, auf die Aus: 
merzung offenbarer Fehler und Irrthümer. Auch waren 
einige 88. new zu bearbeiten. Sie werben in der Vor: 
tede aufgeführt. Fünf, nämlich 93, 141, 201, 282 und 
983 find indeflen zu ftreichen, da fie keineswegs als 
neue Arbeit gelten können. Ob bie formale Weber: 
arbeitung, bie in der Vorrede ebenfalls betont wird, am 
Blage war, ideint mir zweifelhaft; denn das Wert 
Rreifte bie ibm urſprünglich anhaftenden formalen Mängel 
und Härten im Laufe ber Zeit im mefentlihen ab und 
erlangte almählig eine befriedigende Geftalt, und an 


304 Alzog, Kirchengeſchichte. 


eine Arbeit, die neun Auflagen hinter ſich hat, ſollte 
nur da die Hand angelegt werden, wo es wirklich noth⸗ 
wendig iſt. Indeſſen macht ſich, ſo viel ich ſehen konnte, 
die formale Hand des Hg. glücklicherweiſe nur wenig 
bemerkbar. 

Wie die Vergleichung der vorliegenden Auflage mit der 
vorausgegangenen zeigt, hat ſich der Hg. ſeiner Aufgabe mit 
Fleiß und Umſicht gewidmet. Doch laſſen ſich immerhin noch 
manche Fehler in der Darſtellung und Lücken in dem Litera⸗ 
turverzeichniß wahrnehmen. So blieb insbeſondere der 
ſchon in ber 9. A. veraltete 8 93 faſt unverändert ſtehen. 
Ueber den Diognetbrief ift fein Wort weiter gefagt, als 
bereit3 in ber 9. 9L fteht, obwohl feitbem. jo viel über 
ihn verhandelt und fo verſchiedene Urtheile über ihn 
ausgeſprochen wurden. Bei ber Frage nad) dem Autor 
der Nachfolge Chriſti ift, von anderen Arbeiten abgefeben, 
bie treffíide Monographie von Spitzen nicht erwähnt. 
Beim Montanismus fehlt die Monographie von Bon: 
wetſch, bei ber Synode von Liftinä bie Unterſuchung 
von Nürnberger (Qu.Schr. 1879). I, 274 ijt Hippolyt 
unter ben Gegnern ber fepertaufe zu ſtreichen. I, 272 
war ber ver[djiebeme Standpunkt Mayer’3 in ber Frage 
nad der Zahl ber Katechumenatsclaſſen kurz zu erwähnen. 
I, 269 Anm. war zu bemerken, daß bie alte Datirung 
des Glemensbriefes jegt fo ziemlich aufgegeben ift, u. 
f.m. Doch id) will in diefer Aufzählung nicht alzumeit 
geben. Indem ich noch hervorhebe, daß bie neue Auf: 
lage ihre Vorgängerinnen bezüglih der Ausftattung 
um ein Beträchliches überragt, fehließe ich bie Anzeige 
mit ber Vorrede: Und fo möge Alzog's Werk aber. 
mals hinausgehen und verjuhen, ob es in feiner 


Bonweiſch, Montanismus. 305 


neuen Geftalt zu den alten Freunden fid neue hinzus 
gewinne! 
Funk. 


6. 


Die Geſchichte des Montanismus von G. R. Bonweiſch, Docent 
der Theol. in Dorpat. Erlangen, Deichert 1881. VIII, 
210 S. 8. 


Dieſe Monographie zerfällt in drei Theile. Der 
erſte zählt die Quellen der Geſchichte des M. auf. Im 
zweiten wird das Weſen, im dritten die Geſchichte des 
M. dargeſtellt. In der Einleitung werden die bisherigen 
Auffaſſungen namhaft gemacht. In den zwei Beilagen 
am Schluß werden die Ausſprüche der neuen Propheten 
zuſammengeſtellt und das Verhältniß des Paſtor Hermä 
jum M. — ganz im Anſchluß an bie Zahn'ſche Auf: 
faſſung — beſprochen. Aehnlich Tieß aud) Ritſchl in 
ſeiner „Altkatholiſchen Kirche“ der Geſchichte des M. 
eine Erörterung ber Form und bes Inhaltes ber neuen 
Dffenbarung vorangehen, und bie Dispofition liegt ziem⸗ 
τῷ nahe. Auf der anderen Seite führt aber das Ver— 
fahren zu manchen Wiederholungen und läßt aud) bie 
geſchichtliche Entwicklung nicht zum vollen Ausdruck fom: 
men. Die beiden Seiten, Inhalt unb Geſchichte, wären 
m. €. beſſer in ihrer natürlichen Verbindung belaffen 
worden. In einem zufammenfaflenden Gapitel konnte 
ba8 Weſen und der Grunbdjarafter des M. nod) immer 
überſichtlich dargeftellt werben. 

Die Arbeit zeugt von Fleiß, Geſchick und Gelehr- 

Veel. Ousrtaffärift. 1889. Heft II. 20 


806 Bonweiſch, Montaniamus. 


ſamleit. Doch fehlt e8 nicht aw mehreren ſchwachen 
Seiten. Wenn die Unterſuchung im ganzen auch eine 
ſtreng quellenmäßige ift, fo läßt fid) der Vf. bod) bis: 
weilen verleiten, die Grenzen zu überſchreiten, die unſe— 
tem biftorifchen Wiffen geftedt find, oder er übergeht um- 
gekehrt Punkte, bie in einer Monographie nicht fehlen 
dürfen. So vermißt man Seite 174 eine genauere 
Darlegung be8 Verhaltens ber römifchen Kirche zum M., 
bezw. be8 Verhaltens bet praecessores be8 Papſtes, bet 
mad) Tertulian (Adv. Prax. c. 1) auf Grund der Mit: 
theilungen be8 Prareas feine Stellung änderte. Sofa 
ie8 wird €. 148 ohne meiteres den 9tovetiauerg bei 
gezählt. €. 150 und 203 wird als fidjet angenommen, 
daß zur Zeit des SBaftor Hermä Presbytercolegien bie 
römiſche Gemeinde leiteten, während bie8 bod) aud) ein 
proteftantifcher Hiftoriter idjmerlid) behaupten kaun, fo 
bald er den Urfprung bet bezüglihen Schrift mit dem 
Muratori’ihen Fragment in die Mitte des zweiten Jahr: 
hunderts verjegt. Auch vermißt man ba unb dort bie 
erforberlihe Genauigkeit bei ben Gitatem. &. 96 if 
einfad) von des Hieronymus Brief an die Marcella bie 
Rede, während der ftitdjenvater an bieje Frau bod) eine 
ganze Reihe von Briefen ſchrieb. 

Am Shluß des dritten Theiles finden toit einen 
Abſchnitt mit ber Ueberſchrift: Montaniſtiſches in ber 
Kirche. Der Bf. fucht hier nachzuweiſen, daß bie Reform, 
bie burd) Montanus verſucht worden, fpäter in ber 
Kirche auf andere Weile angeftrebt wurde, daß aber er 
Luther das begüglide Problem zu loſen und bem m 
Montanismus Berechtigten feinen Platz anzuweiſen ver ⸗ 
flaub, indem er die Forderung wahren Chriſtenthums 


Freiburger Dibeeſan⸗Archiv. 307 


an alle Chriften und nicht bloß an den Stand der fieri: 
ler und Mönde geftellt habe. Der Vf. hätte diefen 
Abſchnitt demgemäß aud) überfchreiben fónnen: Monta- 
nus, ein Verläufer Luther’3, und e8 wäre biefe8 υἱεῖς 
lift fogar beſſer geweſen. Denn bie Weberfärift hätte 
ihn wohl einfehen laffen, wie fchief und einfeitig bie 
einfehlägigen Ausführungen find, und ber Abſchnitt wäre 
baun wahrſcheinlich umgearbeitet oder einfah — ohne 
Schaden — geftrihen worden. 
Sunt. 


7. 


Greiburger Didcefon-Argin. Vierzehnter und fünfzehnter 
Band. Freiburg, Herder 1881, 1882. XVI, 304; 
XVI, 308 ©. 8. 


Es liegen unà wiederum (Qu.⸗Schr. 1881 €. 823 ff.) 
imei Bände des Freiburger Didcefan-Arhives vor. Sie 
enthalten verſchiedene wichtige Publicationen. Ermähnt 
werben mögen hauptſächlich: Catalogus Rhenaugiensis, 
Fortfegung und Schluß zu 80. XII; Geſchichtliches aus 
€t. Peter, 18.—18. Jahrhundert, mitgetheilt von Dr. 
Baumann, Aufzeihnungen von Abt Peter Gremelspach 
+ 1512, bezw. von Abt Berthold I. (1192—1220), da 
bet Bericht über die Anfänge des Kloſters vermutblid) 
von ihm herrührt; die Kataloge ber Aebte von Ettenheim= 
münfter, Schuttern, Thennenbah und St. Georgen aus 
beu Monumenta historico-chronologica be8 38, Gallus 
Mezler (Manufcript v. 3. 1798) herausgegeben von 
Mayer, fowie Beiträge zur Geſchichte be8 erítgenannten 

20* 


308 Freiburger Dibceſan · Archiv. 


Kloſters (Abt Johannes Ed 1710—1740 und tto. 
logien 1779—1801) von Kürzel; bie Anniverfarbüder 
ber Klöfter Beuron und Gorheim (Schnell); Rotulus 
Sanpetrinus (Weed); Anweiſung des Abtes GBL. Qet: 
mann von €t. Trubbert (1737—1749) an bie die Kloftere 
pfarreien beforgenden Gonventualen (König); Nekrologien 
der Klausnerinnen zu Munderlingen (Scyöttle); Mit: 
theilungen über die Gefchichte des Münſters von Freiburg. 

Unter den Auffägen ift für einen weiteren Leferkreis 
die Abhandlung fünig'8 über Walafıied Strabo und 
fein vermeintliche S/agebud) von Jutereſſe ala Beweis, 
wie aud in unferer vielfad) hyperkritiſchen Zeit fij 
literargeſchichtliche Mythen bilden können, indem ein vor 
25 Jahren verfaßtes Libell bei vielen Zeitgenofjen ſeit⸗ 
dem als Schrift des berühmten Mönches von Reichenau 
im neunten Jahrhundert gegolten hat und ποῷ gilt. 
Der SBerfaffer hatte zwar don 1868 (Diöcefan-Archiv 
III, 360 Anm.) auf ben Irrthum aufmerffam gemadit. 
Aber die Notiz blieb zumeift unbeadjtet unb ber Irr⸗ 
thum verbreitete fid) feitbem in einer Reihe von Werken 
weiter. Die Sache ift folgende. Dem Jahresberichte 
ber Erziehungsanftalt Maria-Einfiedeln über das Stubien- 
Sjabr 1856—57 mar als literarifdje Beilage eine Ab: 
handlung beigegeben mit der Weberfchrift: „Wie man 
vor taufend Jahren lehrte und letnte, bargeftellt an 
einem Zeitgenofien be8 bL. Meintad, Walafried Strabo". 
Das Wörthen „an“ zeigt bereits jur Genüge an, dab 
Strabo nicht der Autor ber Mittheilungen ift. Zudem 
mird bieB in der Schrift felbft febr deutlich erklärt. 
Nachdem der Verfaffer nämlich bemerkt, daß er Strabo 
jelbft vedend einführen wolle, fügt er bei: Die Geſchichte 


Holgmann-Zöpffel, Lexikon für Theologie. 309 


desfelben fei nirgends im Zufammenhange aufgezeichnet, 
fondern erft mühſam aus feinen und feiner Zeitgenoſſen 
Schriften Zug für Zug zufammenzufuchen gewefen. Allein 
ber erſte literariſche Berichterftatter (im Katholit 1857 
Dit) überfah bief. Er hielt bem bloß al8 rebenb εἰπε 
geführten berühmten Walafried Strabo felbft für den 
Berfaffer be8 Berichtes, und ba mur ber von ibm ver: 
anftaltete Abdruck, nidt aber das Driginal in weitere 
freie gelangte, fo erklärt fid) die weitere Verbreitung 
be Irrthums. Der Berf. führt 14 Autoren, bezw. 
Schriften auf, bie ihn annahmen. Der wirkliche Verf. 
des Berichtes ift aber P. Martin Marty, geboren 1834 
in Schwyz, feit 1879 Biſchof von Tiberiad und apoftoli- 
ſchet Vilar von Dakota, 
Sunt. 


8. 


Reriten für Theologie uud Ktircheuweſen von Dr. $. Holtz- 
mann und Dr. R. Zöpffel, o. Prof. an b. U. Straß- 
burg. Vehre, Geſchichte und Kultus, Verfaffung, Bräuche, 
Weite, Selten und Orden ber hriftl. Kirche, das Wich⸗ 
tigfte aus bem übrigen Religiondgemeinfchaften. Leipzig, 
Vibliograph. Inſtitut 1882. VI, 728 ©. 8. 


Vorftehende Schrift bildet einen Band in der Reihe 
der Meyer'ſchen Fachlexika. Ste nimmt für die Lectüre 
weniger Theologen, wenn dieſe aud) keineswegs ausge: 
ſchloſſen find, als vielmehr Laien in Ausfiht, melde 
πᾷ für kirchliche Dinge intereffiren. Vermöge einer 
fnappen und überfihtlih gehaltenen Darftellung wird 


810 Holgmann-Böpffel, Seciton für Theologie. 


ein febr veichliher Stoff geboten. Ein Firchlich-theologi- 
ider Standpunkt foll zwar laut ber Vorrede nicht zur 
Geltung fommen. Aber das ließ fid) leichter ausſprechen 
als ausführen, indem einzelne Punkte fid) gar nicht be: 
handeln laſſen, ohne daß eine beftimmte Partei genom- 
men wird. Ich zweifle bafer, ob verfchiedene Artikel 
nicht aud) Proteftanten unbefriedigt laſſen werben, fo 
der Artikel über Petrus, beffen römifcher Aufenthalt ein- 
fad) als Sage bezeichnet wird, der Artikel über Sygnatius 
von Antiochien, deſſen Briefe in allem Recenfionen ohne 
weiteres für eine Fiction erklärt werden, um von anderen, 
wie dem Artikel Chriftentbum, gar nicht zu reden. Daß 
Katholiken mit zahlreichen Artifeln nod) weniger einver⸗ 
ftanden fein können, braudt unter biejem Umſtänden 
kaum bemerkt zu werden. Selbft die Auswahl des 
Stoffes ἐξ vorwiegend für proteftantijde Leſerkreiſe be: 
meffen. Während foft ſämmtliche proteftantijd)e Theo: 
logen Aufnahme fanden, werden nur fer wenige katho⸗ 
lijde erwähnt. Neue Refultate darf man bei ber An- 
lage und dem med ber Arbeit nicht erwarten. Doch 
finden fid nit wenige DVerfehen und Incorrectheiten, 
bie die Verfaſſer bei größerer Sorgfalt wohl hätten 
vermeiden fónnem. Ich verweiſe nur auf bie Artikel 
9,656, Arnobius, Audientes, Barnabas, beziv. bie Be 
metfung über bie neueften Ausgaben des Barnabas: 
briefes, Bafilides, Bußftationen, Hippolytus, Katechu⸗ 
menen, Conzil, Dftern, «Papias. 
Funk. 


I. Sheffold, 8. Geſchichte b. Landkapitels Amrichshauſen. 811 


9. 


Bur Geſchichte des Landkapitels Amrichshauſen. Bon 3. 
Sqeffold, Pfarrer in Kupferzell. Heilbronn, Schell 
1882. X, 202 ©. 8. 


Zahlreiche Geſellſchaften und Vereine fegten fid in 
den legten. Jahren in faft allen Gauen Seutidjlanb bie 
Erforſchung ber Heimathgefchichte zum Ziel. Auch auf 
bem Gebiet der kirchlichen Localgeſchichte ift jon man- 
ches Tüchtige geleiftet worden. Es jet nur an die muſter⸗ 
giltige Gefdjidjte des Augsburger Bisthums von bem 
Herrn Erzbiſchof Steidjele von Münden, früher Dom- 
lapitular und Domprobft in Augsburg, erinnert. Es 
wäre zu wünſchen, daß ähnliche Arbeiten aud) an anderen 
Drten unternommen würden. Freilich gehört dazu, von 
ber erforberlihen Begabung ganz abgefehen, eine aus: 
geſprochene Liebe zu hiſtoriſchen Forſchungen und ein 
Eifer und eine Ausdauer, wie fie fid) nicht gar häufig 
finden. Wem es indeffen nicht gegeben ift, feine Studien 
über εἰπε ganze Didcefe auszudehnen, ber ift vielleicht 
in ber Lage, den Boden der Gefchichte in einem kleineren 
Kreife zu bebauen. Eine derartige Arbeit lieferte auf 
Anregung des H. Dekans Bierlein der Verf. ber vot: 
Hegenden Geſchichte des Landfapitels Amrichshauſen. 
Die Schrift zerfällt im zwei Theile Im erften und 
allgemeinen Theil wird und das ganze Landkapitel nad) 
feiner äußeren und inneren Geſchichte vorgeführt. Der 
weite und befondere Theil ift den einzelnen Pfarreien 
gewidmet. Die Arbeit zeugt von großem Fleiß; bie 
Dispofition bes Stoffes ift jachgemäß, bie Darftellung 
Tat und durchſichtig, bie Sprache vein und edel Bu 


312 Röhm, 


wünſchen wäre nur geweſen, ber Verf. möchte die nicht 
feltenen Einſchiebſel in Klammern vom Terte abgetrennt 
und in Noten unter dem Striche verwiefen und am 
Anfang ein alphabetiſches SBergeid)ni feiner Duellen 
und Hilfsmittel gegeben haben, fo daß er dem Titel ber 
citirten Schriften nicht immer zu wiederholen brauchte 
und ber Lejer leichter in ber Lage wäre, fi über bie 
benügte Literatur zu orientiven. Indem mit dem Verf. 
und dem Landfapitel zu der Arbeit Olüd wüuſchen, 
geben mir der Hoffnung Ausdrud, der Vorgang möchte 
bald in anderen Kapiteln Nachahmung finden. 
Sunt. 


10. 
Aufgaben ber proteftantifhen Theologie. Bon 3. 8. Röhm, 
Domcapitular zu Paſſau. Augsburg, Huttler 1882. 
237 Geiten. 


Dieſes Werk, das in den Bereich der ſymboliſchen, 
zum Theil der apologetifchen Studien gehört, ift infofern 
von durchaus neuer Anlage, ol8 bier nicht eine zu 
Jammenfaffenbe Darftellung der proteftantiichen Theologie 
verſucht, fondern einfad) die Lehren der Hauptdogmatifer 
und Wortführer der proteftantiichen Theologie über die 
brennendften Gontroperápunfte zufammengeftellt werden. 
Soviel möglih mit den eigenen Worten der proteftan- 
tijden Theologen bringt der Verf. zur Darftellung bie 
proteftantifhe Lehre über das Formalprinzip 
(Glaubensquelle, Lehramt), über das Sozialprinzip 
(firdenbegrif, über ba8 Materialprinzip (Ur 
ftand, Erbfünde, 9tedjtfertigung). In einem weiteren 





Aufgaben ber proteftantifhen Theologie. 313 


Kapitel wird die Xoleranzfrage beſprochen und das 
Schlußkapitel ftellt ben Feftfhriftftelleen aufs Jahr 1883 
eine Reihe höchſt intetefjanter, noch nie behandelter 
Themate. 

Auffalen möchte, marum ber H. Verf. grundfäglih 
die Namen feiner vielen Gewährsmänner nidjt nennt. 
Ex bemerkt uns, daß er die Namen ſämmtlich in feinem 
Manufcript ad marginem genommen babe und jedem, 
ber fid) weiter dafür intereffirt, fundgeben molle. Im 
Bud aber nennt er fie nicht, um bie möglichfte Objektivi- 
tät zu wahren und um zu verhindern, daß irgendivie 
bie Discuffion vom Sadlihen aufs Perfönlihe abge: 
lenkt werde. 

Gegen die Methode des Buchs wird ſich nicht viel 
einwenden laſſen. Es wird bekanntlich in ben ſymboli— 
ſchen Verhandlungen ſtets von beiden Seiten die Klage 
über Niptverftändniß und unrichtige Auffaſſung erhoben; 
dem Tann vielleiót dadurch einigermaßen abgeholfen 
werben, daß man gat feine eigene Darlegung ber frem⸗ 
den Lehre verjucht, fondern fie aus dem Munde bes 
Gegners nimmt, unb ba man aus den Zahlen, melde 
bie Gegner felbft angeben unb anfchreiben, lebiglid) bie 
Summe zieht. Der Verf. hat wohl aud) beabfichtigt, 
einen Dienft, melden die proteftantiihe Theologie feit 
langem ber Tatholifchen leiftet, burd) einen Gegenbieuft 
zu erwiedern und ba8 hartgetretene Streitfeld zur Ab: 
wechslung mit einem andern zu vertaufhen. Ton und 
Form feiner Schrift ift burdjau8 zu loben. Mit voller 
Seelenruhe und Leidenſchaftsloſigkeit find alle Materien 
befproden; mit ebenfoviel Müheaufwand als Liebe zur 
Sade, mit unerbittlihem ‚Ernft und ruhiger Befonnens 


314 Rleinermennd, 


heit, mit vühmlicher Irenik, durch bie mur bie und ba 
eine feine und mwohlerlaubte Ironie bligt, führt er feine 
Aufgabe zu Ende; dafür muß man ihm in Deiben Lagern 
banfen. Das Nep ber wiſſenſchaftlichen Dog 
inatik wird büben unb brüben fleter Ausbeflerung be: 
dürftig fein; fo möge benn jeder wenigſtens ein Auge 
für fein Neg und. beffen Mängel offen behalten; das ift 
ber Wunſch des Q. Berf. und er möchte offenbar mit 
feiner Schrift bas Wort Matth. 7, 3 aud) auf biejem 
Gebiet in Erinnerung und Empfehlung bringen. 
Gonnftatt. Keppler. 


11. 


Der HI. Petrus Damiani, Mönch, fBijdjof, Cardinal, Kirchen 
lehrer. In feinem Leben und Wirken nad; beu Duellen 
dargeftellt von Dr. theol. Joſeph Kleinermauns, Prieiter 
der Erzdiöcefe Eöln. Steyl. Drud und Verlag ber 
Mifjionsbruderei 1882. 


Wie der Titel obengenannten Werkes befagt, febt 
fid der SSerfaffer vor, ben DL Petrus Damiani als 
Mönch, Biſchof, Garbinol, firdjenlerer bem Lefer vor 
Augen zu fielen. An's Vorwort fließt er zunähft 
eine „Überfichtlihe Zufammenftellung der Schriften von 
und über Damiani”, wobei die letzteren, namentlich die 
neueften von Gapecelatro, Wambera und Neukirch einer 
kurzen Kritif unterworfen werden. SRadjbem bet Ber 
faſſer fobanm einen Blick auf den traurigen Zuftand ber 
Kirche zu Damiani's Zeit geworfen und bie wenigen 
Nachrichten über feine Jugendzeit und feine Wirkſamkeit 


Petrus Damiani. 315 


als Lehrer zufammengeftellt, führt er uns ins Kloſter 
von Fonte-Avellana, gibt und ein Bild von ber Regel 
und bem ascetiſchen Geift, ber in jener Zeit be8 Ber: 
derbens in biefem Klofter herrſchte, und ſchildert ung 
dann, wie Damiani biejem Geift der Abtödtung und 
Ascefe in fid) aufnahm, mit tiefer Gelehrſamkeit verband 
und defhalb bald im Klofter eim fo großes Anfehen er: 
langte, daß er mit der Reform anderer Klöfter beauf: 
tragt und zum Prior gewählt wurde, in welcher Eigen- 
ſchaft er mehrere neue Ordensniederlaffungen gründete. 
Unter feinem Priorat verbreitet fih von Fonte-Uvellana 
aus die Verehrung des bL. Kreuzes, die Sitte, täglich 
das Dfficium der allerfeligften Jungfrau zu beten, den 
Freitag der Erinnerung an das Leiden Chrifti, dem 
Samftag der Verehrung ber alerfeligften Jungfrau zu 
weihen, in immer weiteren freijen. Zugleich ſehen wir 
beu Heiligen aber auch ſchriftſtelleriſch für die Her— 
ftellung des fanonijden Lebens unter den Geiftlichen 
und gegen bie beiden Grunbübel jener Zeit, Simonie 
und Nikolaitismus, eifern. Er zieht al8 Bußprediger 
burd) Jtalien, eine Reihe von Streitigfeiten beilegend. 
Bald tritt er aud, um feinen Reformbeftrebungen ben 
nöthigen Rückhalt zu geben, mit den KHäuptern ber 
Kirche und bes Staates, SBapft und faijer, in Verkehr. 
In kurzer Zeit fteht er mit an der Spige der Reform 
beivegung und arbeitet unter den Päpflen Gregor VI., 
Klemens? IL, Leo IX, Viktor IL, Stephan X. (nit 
Stephan IX. mie Kleinermanns €. 113 fagt), der ihn 
gegen feinen Willen zum Kardinalbiſchof von Dflia et- 
nannte, unter Nikolaus II. und Alerander IL raftlos 
mit feinem Freunde Hildebrand duch Wort und Schrift 


316 aleinermanns, Petrus Damiant. 


für bie Abftelung der Mipftände. Bor feiner Mühe, 
Teinem Opfer fchredt er zurüd. ym Auftrag des Papſtes 
sieht er mad) Mailand, um den Streit der Patariner 
und ber Lombarbijden SBijdjófe zu fehlichten und bem 
fimoniftiihen Treiben zu feuern, geht nah Frankreich, 
um zwiſchen bem Klofter Glugnp und bem Biſchof Drago 
von Macon zu vermitteln. Im Schreiben an bie fran- 
zöſiſchen Biihöfe nennt ihn Alerander IL. „unfer Auge 
und be8 bl. Stuhles unbemegbare Gtüge". Nach 
Deutſchland wird er im hohen Greifenalter gefandt, um 
einrid IV. wegen feiner beabfichtigten Ehefcheidung zu 
Rede zu ſtellen. Mit flammender Berebtfamfeit, in theil: 
weiſe nad unfern Begriffen faft zu derber Schreibmeile 
vernichtet er bie Gegenpäpfte SBenebift X. und Honorius IL 
(Kadalous). 

Bon diefer ganzen reihen Wirkſamkeit unferes Hei: 
ligen entwirft Kleinermanns ein lebensvolles, überficht- 
liches Bild. Und wenn er [don während der Dar: 
ſtellung wiederholt auf feine hervorragende Gelehrſam⸗ 
Teit, bie ihn zum doctor ecclesiae gemacht, und auf feine 
heroiſchen Tugenden zu fpreden kommt, fo gibt er zum 
Schluß nohmals einen Weberblid über feine Studien 
und Werke, feine literarhiſtoriſche Bedeutung (dies im 
Anſchluß an Werner), fein Tugendleben. Dabei führt 
er möglichft oft den Heiligen felbft redend ein und gibt 
uns fo Gelegenheit, feine edle und phantafievolle, dabei 
aber friihe und Eräftige Gprade zu bewundern. So 
hat er gewiß erreicht, was et in der Vorrebe als fein 
Biel bezeichnet, „zur Verehrung bes Heiligen und zur 
richtigen Würdigung feiner Verdienfte beizutragen“. 

Auffallen muß jedem Lefer, daß ber Verfaffer eine 


Hartmann, bie Selbfizerjegung 2c. des Chriſtenthums. 317 


Reihe von Vermuthungen bezüglich ber Thätigkeit Da= 
mianis aufftellt, um ihm bei allen mwichtigeren Begeben⸗ 
heiten jener Zeit einen hervorragenden Antheil zuzu⸗ 
mweifen, ohne daß fij in den Duellen ein Anhaltspunkt 
dafür findet. So liegt 4. 8. für bie Anmwefenheit Da- 
miani's in Sutri im Jahre 1046 feine Nachricht vor. 
€. 80 ift fie als möglich begeid)net, ©. 84 aber ala 
gewiß vorausgeſetzt. Aehnliche Hypothefen finden fid) 
€. 78. 79. 110. 118. 173. 174. 181. 191. Drudfehler 
notirten wir €. 76 geile 10 v. o. das ftatt baf, 
€. 140 B. 11 v. u. ent-durch umb 8. 9 v. u. bof flatt 
das. ©. 163 3. 17 v. o. wss flatt mas. €. 197 
B. 6 v. u. verbeitete ftatt verbreitete. ©. 216 8. 8 
Ὁ. D. Mikrosmus ftatt Mikrokosmus u. a. Die Aus: 
flattung macht der Mifjionsdruderei alle Ehre. 
Tübingen. Dr. Schmid. 


12. 


1. Eduard ν. Hartmann, die Gelbfizerfekung des Chriſten⸗ 
ilum unb die Religion der Zukunft. 2. Aufl. Berlin, 
Dunder. 1874. XVI und 122 ©. 

2. €buarb ν. Hartmann, bie Kriſis des Chriſteuthuus in 
der mobernen Theologie. Berlin, Dunder. 1880. XVI 
und 115 Geiten. u 

3. Eduard v. Hartmann, das religidfe Bewußtſein ber 
Menfägeit im Gtufengang feiner Entwidlung. Berlin, 
Dunder. 1882. 627 ©. 


Vorftehende Schriften des ,unbemuften" Philofo- 
phen an der Spree gehören zufammen. Hartmann till 


318 Hartmann, 


in ben beiden etften negativ und in dem legten pofitio 
den „Beweis“ führen für die Nothwendigkeit einer neuen, 
auf „indultio-fpefulativer” Grundlage ruhenden Religion. 
Seine Zuverfiht ift dabei fo fiegeögewiß, fein Verfahren 
fo breift, fein Urtheil jo vefolut, daß, mer mit religions⸗ 
philoſophiſchen Fragen und den wiſſenſchaftlichen Mitteln 
zu deren Löfung weniger vertraut ijt, Leicht fij impo 
miren laſſen könnte. „ES ift mur Ein Abfolutes, das 
‚Unbemußte‘, und Hartmann ift fein Prophet; auch 
Buddha, Cdelling-Qegel und Schopenhauer waren ‚ab- 
iolute* Gefandte; aber größer als alle ift Hartmann!“ 
Das ift das Grundthema, welches der Philofoph bes 
Peſſimismus in unzähligen Wendungen unermüdlich 
varürt, daß bem Lefer leidjt die „Befinnung ftoden" 
mödte. Darum und weil Hartmann entidieben bie 
jämmtlichen Vertreter be8 Antichriftianigmus weit über- 
ragt, was bie mephiſtopheliſch ägende Schärfe feiner 
„Argumente“ betrifft, darf die hriftliche Apologetik nidt 
an ihm vorübergehen. Vieleicht feine ber taufend und 
abertaufend Negationen, welche gegen das Chriſtenthum 
aufs und neben demfelben wieder untergetaucht find, 
ftürmt fo rüdfihtslos wider die legten Gründe alles 
SBeftebenben und Poſitiven in ber religiöfen und ftaat- 
lien Ordnung der Menfchheit an, wie die „Philoſophie“ 
des ,fonfteten" Pantheismus, des „PBanmonotheismus”. 
3980 immer eine Religionsform etwas enthält, das einiger 
maßen bent theiftifchen Gotte3gebanfen, aljo ber Wurzel 
ber Auftorität, üfnlid) fiebt, da mirb uns vou 
Hartmann mit einem eigentlihen Fanatismus unb mit 
einer Ueberfüle von Morten verfiert: alle und jede 
denkbar mögliche Borftelung von einem jenfeitigen 





Die Selbftzerfegung ᾿ς, bed Chriſtenthums. 319 


Gotte ἐξ „Irreligion“ und führt zu ber „Pſeudo— 
moral“ ber „Heteronomie", if unnöthig, unnüg, ver⸗ 
derblich, gottlos für ein echt, ,lonftet" veligiöfes Ge- 
πᾶ. — ,9[utonomie" be8 vom „Fluche beà liberum 
arbitrium" entledigten Geiſtes — das ift allein das 
löſende Wort, und in demfelben find die jämmtlichen 
teligiög-ethifchen Merkmale des Zukunftsglaubens gu- 
fommengefaßt. Dieſe „Selbftheit“ aber, melde nur 
ihren „unbewußten“ Impulfen und Inftinkten folgt und 
zu folgen hat, um „Sittlickeit" zu fein, ift deshalb zu 
fordern, meil fein Menſch metaphyſiſch ein Selbſt ift, 
meil überhaupt fein Wefen eine Eigen: und Sonder: 
exiſtenz hat, weil alle Dinge nur „Sonderſtrahlen“ find 
aus dem aud feim Selbft, fondern die Gejammtbeit 
bildenden Allwejen und Allwillen und Allwirken bes 
„Unbemwußten“. Zwar ift das „Unbewußte” in bem 
Urmotiv feines Seinwollens „völlig ſinnlos“ und ,boben- 
loà unvernün[tig". Aber, nachdem ber leere, blinde 
„Wille“ zu fein in das Sein felber hervorgebrochen und 
jo ein „Urdummheit“ begangen ift, welche bie Urquelle 
alles matürlideu und moralijden Uebeld in ber Welt 
darftellt, da konnte fid) dad Unbewußte nicht anders mehr 
belfen, als dadurch, baB es mittelft feines ,, unbetouften", 
blöden „Vorfellens“ Ordnung in ben Strom feines 
Billensdranges, daß e3 das Wiefein in das Daß des 
Dafeins hineinbrachte. Der Endzweck biejer Ordnung 
beftept darin, bem erften Schritt be blinden Willens, 
herauß aus bem unbewußten Ueberjein des Abjoluten, 
wieder zurüdzutfun, das „Elend be8 Daſeins“ aufzu: 
heben und das Abfolute von ber „Dafeinsqual“ zu 
nerlöfen“ in das Nirwana feines ur[prünglideu Richt⸗ 


320 Hartmann, 


dafeins, feines „nichtathmenden“ Anſichſeins. Das ift 
die „Xeleologie” der Weltentfaltung, die „göttliche Bro: 
videnz“ des Weltlaufes. Den ganzen Entwicklungsproceß 
von bem Nochnicht des Anfanges bis zu dem Nichtmehr 
be& Endes in al’ feinen Stabien und in feiner inneren 
Nothwendigkeit durchſchauen, das ift ſpekulative, meta- 
phyſiſche CrfenntniB, das Willen ber legten Principien, 
ber σπέρματα be8 Geienben. Im legten Punkte muß 
bie Metaphyfit „myfterids“ fein; denn fie beichäftigt 
fib aud mit ber ,unvernünftigen" Wefensfeite, bem 
alogifhen Wollen im Ahfoluten. — id) felber wiſſen und 
empfinden als eine Wefensfulguration des Abfoluten, 
und mit bem Gemüthe „reagiren“ auf biefe theoretiſche, 
metaphyſiſche Erkenntniß, fo daß ber menſchliche Wille 
den vom unbemuften Vorftellen vorgefepten Zweck des 
Allwillens, nicht mehr fein zu wollen, zu feinem Sonder: 
zwecke madjen, daß der menſchliche Wille ben „Egoismus“ 
in feiner ontologifhen Wurzel ausfchneiden will — dad 
ift das „religiöfe" und „fittlihe” Bewußtſein des Men- 
iden, und beffen Bethätigung in der Gejdidjte ift die 
Religion” und „Sittlichkeit“. Die einzelnen Religions 
formen find bie von ber unbewußten Teleologie, aljo 
mit ber Stotbmenbigfeit bes Abfoluten gefegten Ent: 
widlungsftufen des religiöfen SBemuftfeina. — Weil fie 
Stufen find von einem unvolllommenen, principiell nod) 
unwahren Anfang aus, barum ift je bie folgende bit 
Verneinung ber vorhergehenden, melde, ein „Wider: 
ſpruch“ gegen bas religiöfe Grunbbemuftfein, jemeilig über 
fid „binausweist“ und verſchwindet, wenn bie höhere 
Stufe erftiegen ijt. Die höchſte Stufe der Religion ift 
bie Negation aller Vorftufen, auf welchen fie aber 


Die Selöftzerfegung ac. des Chriſtenthums. 821 


bod) ftehen muß, um ſich halten zu können. Das ift bie 
alle Entwidlungsformen des religiöfen Bewußtſeins in 
fih „aufhebende“ Religion des ,fonfreten Monismus“, 
bes „Panmonotheismus“ im Unbewußten. 

Damit haben wir in engftem Rahmen bie Grund: 
liem ber ganzen ,unbemuBten" Weltanfhauung ge- 
zeichnet, welche, völlig „neu“, bie ,tiefften" vernünftigen 
und gemüthlichen, philoſophiſchen und veligiöfen Bedürf⸗ 
niſſe des Geiftes befriedigen fol. Noch ift diefe philofo- 
phiſche Religion aus ihrem Ueberfein in das Dafein nicht 
berauögetreten. Aber indem Hartmann in unferer namen- 
108 zerfahrenen und endlos zerflüfteten, religious: und 
fittenlofen Gegenwart die Baufteine der Zufunftsreligion 
zuſammenträgt, will er der „unermeßlihen Gefahr“ einer 
Teligion3lojen Sufunft vorbeugen — der Mann ber 
„Providenz“! Wahrlih, nicht in ber Stärke feiner 
Gründe — denn ber Grund alles SDajein8, folglid) aud) 
Denkens ift die „myſtiſche“ Grunblofigfeit be8 abfoluten 
Willens zu fein — liegt die Gefährlichkeit Diefer „Zufunfts= 
religion", fondern ganz anderswo, völlig außer bem Be- 
teid) des Wiſſenſchaftlichen. Ausgehend von einer naturas 
liſtiſch unwürdigen Vorftellung des geſchlechtlichen Gegen- 
fages in der Welt unb Menſchheit, denkt fid Hartmann 
in gnoftifch-unfauberer Weife das Abfolute als Zwitter, 
αἵδ᾽ bie hermaphroditiſche Einheit bes „Willens“ und 
der „BVorftellung“. Die „Zufunftsreligion® ift von 
dem Dämon be8 „ſpecifiſch Geſchlechtlichen“ inſpirirt. 
Daran lag und liegt heute mod) bie dämoniſche Zugkraft 
der „Philofophie des Unbewußten“ für gewiſſe Kreife. 
& ift ein wiffenfhaftlider Schwindel — 
dies Wort fommt feinem ernften Kritifer bec Reli 

Se Quartalfrift: 1889. Heft 11. 21 


322 Hartmann, 


gionsphilofophie be8 Unbewußten zu hart vor — es ift 
eim Shwindel, wenn Hartmann von ber „reinen“ 
Sittlicpkeit des „autonomen“ religiöfen Bewußtſeins redet. 
Das Princip des Pantheismus ift als Princip gott: 
und fittenlos, und wenn Hartmann von ber Nothmendig: 
keit ber Selbftverleugnung fpridt, der ethiſchen 
Grunbpfíidt, fo haben feine Worte einen fpecifiich unfitt- 
liden Sinn. Selbftverleugnen fol fid) ber Menſch, weil 
alles Streben nad perjönlicer Glüdfeligfeit illuſoriſch 
ift, weil die Glüdjeligleitstriebe des Menſchen mur die 
Mittel find in der Hand des „Unbemwußten“, den Welt: 
zweck, die Erlöfung vom Sein zu erreihen. Darum 
Kann bie ,autonome" Gelbftverleugnung midt8 anderes 
fein als die Selbfthingabe an den unbewußten Weltzwed, 
als das „ethiſche“ Sichgehenlaſſen des in „ſubjeltiver 
Einſchränkung“ als Menſchengeiſt erſcheinenden objektiven 
Abſoluten. Das ift der ſpekulativ auftorifirte Rihilis⸗ 
mus des Sittlichen, die Metaphyſik der Paſſionen, welche 
für all ihre Aeußerungsformen eine endgiltige Ent: 
ſchuldigung haben an bem nicht trivial, fondern onto: 
logijó gemeinten Gage: ἕν καὶ πᾶν — Alles ift Eins, 
und am beften wäre Nichts. Ober ijt es nicht der Hohn 
be8 Cynismus, wenn ber Pefimismus bie Vorſcrift 
gibt: fei „moniſtiſch“ religib8 und ſittlich; denn mens 
bu bid durch Unſittlichkeit zu Grunde vichteft, fo hat 
das feinen Werth für die „allgemeine“ Sittlichkeit, für 
die Surüdbringung des Seins in das Nichts?! Religion 
und Sittlichkeit find „objektiv“ nothwendige Räder in 
bem Entwidlungsgetriebe be8 Alls, und basfelbe treibt 
unaufhaltſam bem Auseinanderfallen zu; darum ift ὦ 
„zweckwidrig“ und „unfittlih", wenn ein. „autonomes" 





Die Selbftzerfegung ac. des Chriſtenthums. 323 


Rad aus. dem Getriebe herausfällt und fo eine Ver: 
Iongfamung bes „Erloſungs“-Proceſſes berbeiführt! 
Darin aljo, daß Hartmann principiell alles, mas 
Metaphyſik und Ethik heißt, verneinen muß, liegt nicht 
bie Stärke feiner Gründe, fondern in ben längft vor 
der heutigen Form des Peſſimismus von ben Paffionen 
des menfchlichen Herzens „unbewußt“ gezogenen Folger- 
ungen aus ben „neuen“ Principien bed „autonomen 
Unbewußten“. Dazu kommt die Schwäche be8 heutigen 
wiſſenſchaftlichen Proteftantismus, welche (nament- 
Τῷ im Norden) eine große Verbreitung der „Philofophie 
des Unbewußten“ ermögliht und theilmeis eine be: 
geifterte Jungerſchaft der , Sufunftéreligion" erzeugt hat. 
Nah biejer Seite hin ift bie modernfte Religionsphilo: 
ſophie bejonber8 beachtenswerth für bie hriftliche Apolo- 
getil. Eine Cnbblüte des Subjektivismus, mas 
Hartmannd ,autonome" Denkrichtung ift, meist mad, 
be bet theologische Subjektivismus in feiner. fon: 
fequenten Form, als „liberaler Proteftantismus“ näm- 
Tib, uuchriſtlich, konfeſſionslos unb religionslos tft (Selbft- 
jerſetzung 2c. SS. 01/91). Auch Strauß hatte das 
ſchon gejagt, ohne jebod), mie Hartmann richtig betont, 
felber aus ben auögetretenen Geleiſen des liberalen, 
vulgären Rationalismus herauszukommen. — Der fpe: 
lulatioe Proteftantismus“ mit Hegel’ Stirnzeichen 
(Biedermann, D. Pfleiderer, Lipfius), jagt Hartmann 
meiterhin, ift aud) unchriſtlich; denn er Bat, tro aller 
gegentheiligen Rettungsverſuche, das chriſtliche Gentral- 
bogma von der Menſchwerdung Gottes zerfegt und über- 
haupt bie ganze Gotteslehre, trot feiner theiſtiſch Klingen- 
den Terminologie, in ben Pantheismus umgedeutet (Krifis 
21* 


324 Hartmann, 


des Chriſtenthums in ber modernen Theologie). Soweit 
ber heutige Proteftantismus Wahrheit hat, ift er un 
Griftlich, verneint er ba8 mit ber modernen Kultur ab. 
folut unverföhnbare Chriſtenthum, (Selbftzerjegung 
©. 17 ἢ); ſoweit er noch chriſtlich fein möchte, weicht 
er von ber Wahrheit, von bem Pantheismus ab. 
Legterer fließt von felber au8 dem „religiöfen Grund: 
phänomen“ be8 Geiftes, aus feinem Sicheinswiſſen mit 
bem Abfoluten, dem Gubjelte feines und aller einzelnen 
„Bewußtſeine“ (Krifis €. 100 ff.) Abgeſehen von ben 
chriſtlich infonfequenten Anhängfeln, hat der Proteftan- 
tismus feine geſchichtliche Aufgabe erfüllt, hat er das 
'fdon vor ber Reformation tobte Gyriftentjum be 
ftattet (Selbftzerfegung €. 7 ff). Hier mum treibt 
ber „Philoſoph“ am ber Spree eine Sophiſtik, wie fie 
ungeheuerlicher faum die Geſchichte aufmeifen dürfte: bad 
Chriſtenthum ift tobt, nadjbem es feinen Tobtengräber, 
ben Proteftantismus geboren; bie einzige hiſtoriſch 
edte unb fonjequente Form des Chriftenthums, 
bet Katholicismus, bat fidj gugleid) bod) „in 
ſtaunen⸗ unb [dytedenertegenber Gewalt“ (Selbftzerfegung 
©. 2) erhoben, um die gefammte moderne Kultur, welche 
bem Chriſtenthum durchaus beterogen, aber au 8 bem: 
felben getmorben ift, zu verſchlingen. Ob ber „Ring: 
kampf auf Leben und Tod“ fid) für den ,tobten" Ka— 
tholicismus ober für bie allein Iebensfähige Zukunftö- 
religion entſcheiden werde, bleibt πο ungewiß; das if 
ber „Vorſehung“ zu überlaffen (frifi& €. XIII f). 
Alſo wär e8 „wiſſenſchaftlich“ völlig motivirt, biefem 
Zweikampfe zuzufehen, die Hände im Schoß. Dod um 
ipm neue und immer neue „Motivationskräfte“ zuzus 


Die Selbftzerfegung 2c. des Chriſtenthums. 325 


führen, ift es nod) „wiſſenſchaftlicher“, den „Stufengang 
be religiöſen Bewußtſeins“ im ber Menſchheit nachzu⸗ 
zeichnen, aufzudecken, wie bie religiöfen Ideen in bem 
„Nenſchenthiere“ des Naturalismus an ber Naturbe- 
trachtung fid) entzündet haben, ähnlich wie das „relis 
gibfefte" Thier, ber Hund, den „Begriff“ be8 Geiftes, 
von bem er im fid nicht das leifefte Bewußtſein Dat, 
außer fi, im Menſchen, ,entbedt" (Relig. Bewußtſ. 
€. 1—100). Das im Princip durhaus „moniſtiſche“ 
Gottesbemußtfein zerftel mun theils in Polytheismus; 
theils erfuhr e8 eine äſthetiſche, juridifche, ethiſche Sev: 
geiftigung bei den Griechen, Römern und Germanen 
(a. a. D. 109—181); theils ward es theologifch [Ὁ ἢ e— 
matifirt bei ben Aegyptern und Parfen (190-—262). 
So aber gerieth es ſchließlich in eine „Sadgaffe“, um 
fid einen neuen Ausweg fuden zu müffen im Supras 
naturalismus bei den Brahmanen und Buddha, 
fotie in dem jüdiſch-chriſtlichen Theismus (271 bis 
Ende). Solange jebod) das „religiöfe Bewußtſein“ nicht 
ganz unb voll, rein und ,fonfret" pantheiftiich fid) 
felber verftand und verfteht, findet es fid) überall „ges 
prellt“, 

Dies ift das Stefultat der hartmann'ſchen Religions» 
philoſophie, deren „Wiſſenſchaftlichkeit“ ganz beſonders 
durch den Umſtand in ein blendendes Licht geſtellt wird, 
daß Hartmann bie Cntmidlung des religibſen Bewußt⸗ 
ſeins in der ganzen Menſchheit geben will unb dabei, 
neben einigen anderen „Verſehen“, gleich bie ganze weit: 
lije Halbkugel unferes Planeten unberüdfichtigt läßt. 
Freilich ift für ben Peſſimismus biefer unfer Grbfürper 
ur eine „Hägliche Verſuchsſtation“ der Statut. Darum 


326 Kalter, 


könnte die „Philoſophie“, welche ihren Blick ja auf das 
Welt ganze richtet, von bem Boden, auf welchem fonft 
aud) bie „Philoſophen“ fußen müſſen, gleich ganz ab: 
feben, und fie bliebe bod) mod) bie „Philofophie des 
Unbewußten". — 

Stepetent Braig. 


18. 


Routab son Marburg unb bie Inquifition in Deutſchland. 
Aus ben Quellen bearbeitet von Dr. Balthafer Raltner. 
Prog 1882. Tempsky. IX, 198 €. 8. Pr. 4 S. 


BVroteftantifcherfeits hat das Leben und Wirken 
Konrad's von Marburg wiederholt eine Bearbeitung 
gefunden. Eine Reihe von Unterfuhungen liegt über 
ihn vor. MS bie befte läßt fid) die von ente (1861) 
bezeichnen. Selbft zum Vorwurf des Romans (6. v. 393. 
Ein Suder ber féger unb ein Mehrer des Chriften 
glaubens. Bilder au8 bem XIII. Jahrhundert von 
Louiſe Guno 1877) und be8 Dramas (9. Wollf 1881) 
wurde ber beut[dje Stegermeifter neueſtens gemacht. Ju 
ber vorliegenden Schrift erhalten wir endlich aud) eine Be: 
arbeitung aus Fatholifcher Feder, und biejefbe unterſcheidet 
fi von den früheren nicht bloß durch ben confeffio: 
nellen Standpunkt des 3Bj., fonbern fie empfiehlt fid) aud) 
duch Gründlichkeit und Umſicht der Forfhung und Ob⸗ 
jectivität be8 Urtheils. ine tüchtige Vorarbeit lag für 
fie in der Schrift von Henke vor. Der 3Bf. holte mit Recht 
etwas weiter aua. Um den Mann richtig zu würdigen, 
mit beffeu Namen die Inquifition auf beutjdjem Boden 


Konrad von Marburg. 3% 


ungertrennlih verbunden ift, indem fie, wie f. ebenfo 
kurz als treffend bemerkt, durch fein Eingreifen erftarkte, 
duch feine Fehler erlahmte und mit feinem Tode er- 
lof, mußten aud) die juridifchen Grundlagen der Inqui— 
ftion zur Sprache kommen und bie Lehre und die 9[u8- 
breitung der Kegereien bargeftellt werden, gegen melde 
biefelbe gerichtet war. Nur auf biefem geſchichtlichen 
Hintergrund erhielt das Bild Konrads feine rechte Bes 
leujtung. Die Arbeit von Sy. Fider über die gefegliche 
Einführung ber Todesſtrafe für fegerei (Mittheilungen 
bes Inftituts für öfterreih. Geſchichtsforſchung 1880 I, 
177—226) leiftete ihm in jener Beziehung treffliche 
Dienfte. Bezüglich ber Ketzergeſchichte vermißt man 
die Benithung einiger neuerer Literariicher Erſcheinungen. 
Aud die Thätigkeit, die Konrad als Beichtvater und 
Gewiſſensrath ber HI. Elifabeth von Thüringen ent- 
faltete, fonnte nicht übergangen werben, ba fein eigen: 
iümlidjer Charakter bier nicht weniger deutlich hervor⸗ 
tritt als in feinem Wirken als Inquiſitor. Dagegen 
wurden bie Gtebinger mit Recht bei Seite gelaffen. 
Deren Kämpfe berühren weder das Leben Konrad's 
noch bie Geſchichte ber Inquiſition in Deutfchland, indem 
jener weber perjönlich unter ihnen thätig war, nod) aud) 
ih feinen Berichten von ihnen ſpricht, mie Raynald und 
im folgend andere fäljhlih angenommen haben (vgl. 
€. 164), und Inquiſitoren nie unter ihnen auftraten, 
da der Gtreit ber Stedinger mit dem EB. Gebhard II 
von Bremen in erfter Linte überhaupt nicht ben Glauben 
betraf. Die Arbeit verdient, wenn fie aud) von Schwä⸗ 
Gen nicht frei ift, bod) großes Sob. 
Funk 


828 Loofs, 


14. 


1. Antiquae Britonum Scotorumque ecclesiae quales 
fuerint mores, quae ratio credendi et vivendi, quae 
eontroversiae cum Romana ecclesia causa atque vis, 
quaesivit Friederiens Loofs, Lic. Theol. et Dr. Phil. 
Lipsiae et Londini, Fock et Nuit 1882. 120 ©. 8. 


2. Bonifatius, ber Berftörer des columbanijden Kirchen⸗ 
tums auf bem Feftlande. Won Dr. Auguſt Ebrard. 
Gütersloh, Bertelsmann 1882. VIII, 258 ©. 


1. Die fonderbarften Beftrebungen machten fid in 
ber legten Seit auf bem Gebiete der altbritifchen ftitden- 
geſchichte geltend. Der Pfarrer und Gonfiftorialtat$ 
Ebrard in Erlangen glaubte nachzumeifen (zuerft in 
ber Zeitſchr. f. b. Dift. Theol. 1862/63, dann in ber 
Schrift: bie iroſchottiſche Miſſionskirche 1873, an bie 
fih 1882 al8 Nachtrag bie oben angeführte Schrift an 
ſchloß), daß die alten chriftlichen Briten nicht bloß in 
teiner Verbindung mit der römiſchen Kirche geftanden 
haben, fondern aud) in Lehre, Disciplin und Verfaffung 
weſentlich von derſelben abgewichen feien, daß fie insbe⸗ 
fonbere nicht die vömifche oder altkirchliche Hierarchie, 
nicht bie Mönchsgelübbe und bem Gölibat, nicht bie Qe 
ligen⸗ und Reliquienverehrung, umgekehrt aber bie Lehre 
von ber Rechtfertigung buch bem Glauben allein und 
ohne bie Werke gefannt, mit einem Worte im wefent- 
lichen bie proteftantifche Lehre gehabt haben, baf bit 
Herrſchaft diefer Lehre nicht auf bie britiſchen Juſeln 
fid beſchränkt, fondern über einen großen Theil de 
Feſtlandes, namentlich über Deutſchland fid) erſtreckt habe, 





Ant. Brit, Scotorumque ecclesia. 329 


bis endlich Bonifatius fid) gegen fie erhoben und bet 
tümijfen Lehre ben Weg gebahnt habe. Die Auf- 
fellungen, menn aud) nicht ganz meu, ba Aehnliches 
ſchon die Magdeburger Genturiatoren und neuerbings ein 
gewiſſer Heber (Die vorkarolingishen Glaubenshelden am 
Rhein 1868 2. A. 1867) behauptet hatte, erregten großes 
Aufiehen, da fie, wenn aud nicht gerade immer in toiffen: 
ſchaftlichem Tone, fo bod) mit einem gewiſſen wiſſenſchaft⸗ 
liden Aufpug vorgetragen wurden, und e8 fehlte nicht an 
Proteftanten, bie fid) freuten, ba& nun ihr Stammbaum 
mit Sicherheit in das chriſtliche Alterthum zurüdgeführt 
fe. Doch gab e8 anbererfeità aud) foldje, melde bie 
Haltlofigkeit der Ebrard'ſchen Behauptungen im vers 
ſchiedenen Punkten nachwieſen, und jelbftverftändlich ge: 
ſchah dasfelbe auf fatbolifdjer Seite. Insbeſondere war 
man bemüht, an die Stelle be8 Zerrbildes, das Cbrarb 
von bem HI. Bonifatius entworfen hatte, wieder bie 
geſchichtliche Wahrheit treten zu laſſen. Weniger forgs 
fältig umb allieitig ging man auf Phantafiegebilde ein, 
welde €. auf dem Boden ber altbritifhen Kirchenge— 
ſchichte errichtet hatte. — ier mar alfo burd) bie Wiflen- 
ſchaft immer nod) eine Aufgabe zu Löfen, und fie murde 
in der vorliegenden Schrift in Angriff genommen. Bald 
mad unb zum Theil gleichzeitig mit dem Verf. hat audj 
der Referent die einſchlägigen Punkte einer Unterfuhung 
unterzogen, und feine Abhandlung (Hift. Jahrb. 1883 
€, 5—44) war im mejentlidjen vollendet, als ihm deſſen 
Schrift gufam. Beide Unterfuhungen find jomit unabs 
hängig von einander entftanden, und ε ἐξ um fo 
günftiger für bie Sache, daß fie in ber Hauptſache 
völlig zufammentreffen. Beide ergänzen aud) einander 


330 Loofe, 


in einer getviffen Beziehung, indem id) mid) vorwiegend 
auf bie Fragen ber firdjliden Disciplin unb SBerfaffung 
beſchränkte und fie dementſprechend ausführlicher bes 
handelte, mährend Loofs aud) bie übrigen ftreitigen 
Punkte, ſowie bie Geſchichte der britiichen und ſchottiſchen 
Kiche berüdfichtigte und zugleich fenntniB von einigen 
bebeutfamen Werken der englijdem Literatur hatte, bie 
mir unzugänglic blieben. 

Was nun die Schrift ſelbſt anlangt, jo zerfällt fie 
außer Einleitung und Schluß in zwei Theile. Der erfte 
handelt von ber britifchen Kirche und zwar zunächſt von 
ihren Anfängen, ſodann von der Periode 450—597, 
ferner von ben britifchen Kirchen in Gallien und Spanien, 
enblid von bem Zeitalter 597—800. Der zweite und 
größere (€. 29—114) ift der iriſch-⸗ſchottiſchen Kirche 
gewidmet. 

Bezüglich der Frage πα dem Uriprung des Chriſten⸗ 
thums in Britannien ſchließt fid) der SBerf. mit Rüdfiht 
auf den verwandten Ritus der beiden Kirchen denjenigen 
an, meldje bie neue Religion von Gallien, von ben Ges 
meinden Lyon und Bienne aus mad) ber Inſel fommen 
lafen. Doc geht er nicht näher auf bie Sache ein, ba 
e8 ihm genügt nachzuweiſen, baf bie britiſche Kirche in 
ihrer erften Zeit durchaus orthobor mar. Den gleichen 
Beweis erbringt er für bie zweite Periode aus Gildas. 
Er thut inabejonbete bat, ba das Mönchthum Gelübde 
und namentlich ba8 Gelübde ber Keufchheit hatte, dab 
wahrſcheinlich aud) ber Höhere Klerus Enthaltfamteit 
übte; daß, wenn aud) ber Berfehr mit der römifchen 
Kiche feit dem Einfall der Angelfachien unterbroden 
war, bod nichts weniger als ein Haß gegen biefelbe 








Ant. Brit. Scotoromque ecclosia. 831 


anzunehmen ſei. Seine Anſicht über bem Gólibat findet 
er burd) einen von Gregor von Tours (H. F. IV c. 4) 
erwähnten Fall in der Bretagne beftätigt. Als Eigen: 
thümlichkeiten ber britifchen Kirche gegenüber der römi⸗ 
ſchen läſſen fid daher für bie ältere Zeit mut bie pete 
ſchiedene Dfterbereinung und bie Form ber Tonfur 
nachweiſen. Jene und bie Taufe (mie e8 fdeint, hatten 
die Briten nur eine Untertauchung) bildeten befanntlid) 
bie Streitobjekte, αἵδ᾽ feit bem Ende des 6. Jahrhunderts 
die römifhe Kirche in Folge ber Miffton unter ben 
Angelfachfen mit der britiihen in nähere Berührung 
fam. Man hat gefragt, welches bie eigentlichen Motive 
ber Ablehnung ber römifchen Forderungen feitens ber 
Briten getoefen feien. Der Verf. macht mit allem Grund 
geltend, daß e8 nicht Abneigung gegen Rom, baf es 
vielmehr allein der Haß gegen bie Augelſachſen war, 
denen bie Briten gemäß bet britten Forderung bes 
Abtes Auguftin fortan gemeinfam mit den Römern das 
Evangelium  verfünbigen follten, was bie angeftrebte 
nähere Verbindung nicht zu Stande kommen lief. 

Die ſchottiſche Kirche wurde befonders behandelt, weil 
fie wohl bie gleiche Dfterberedjmung, bie gleiche Tonfur und 
einen ähnlichen Ordinationsritus hatte wie bie britifche, 
aber einen verfchlebenen Meßritus, eine andere Taufform, 
eine eigenthumliche hierarchiſche SBerfaffung und ein ganz 
anderes BVerhältniß zu den Angelſachſen. Ihre Anfänge 
find faft mod) dunkler als die der britiihen Kirche. Ins- 
befondere ift e8 fraglich, in welchem Verhältniß Palla- 
dius und Patricius zu einander fichen. Der Verf. hält 
mit Recht die Angabe be8 Prosper von Aquitanien über 
bie Sendung bes eriteren burd) Papſt Galeftin gegenüber 


332 Loofs, Ant, Brit. Scotorumque ecclesia. 


den modernen Anfechtungen aufrecht. Er kommt ferner 
zu dem Refultat, bag Patricius in Italien und in Ber: 
ler mit der römiſchen Kirche tar, und erklärt daher die 
Dicta Patrieii im weſentlichen für ächt (€. 50), während 
er ben bem Apoftel Irlands gewöhnlich beigelegten 
Spnobalftatuten einen andern Urfprung beimiBt (&. 40). 
Auf der anderen Geite glaubt er aus verjdjiebenen 
Gründen annehmen zu follen, Palladius ſei identiſch mit 
Patricius (51). Die Vermuthung wurde bereits burd) 
Schöll (De eccles. Brit. Scotorumque historiae fontibus 
1851 p. 77) ausgelptodjem, ſpäter (Herzog, 9t. €. 1. 
A. XI, 209) aber wieder. verlaffen, und fie dürfte in 
ber That, fo mondes aud) für fie ſpricht, ſchwer Dalt- 
bat fein. 

In bem Gapitel über den Abt Golumba von Hy 
(€. 53—73) beſchäftigt fid) ber Verf. mit ber Ber: 
faffung und Hierarchie ber ſchottiſchen Kirche und er tritt 
u. a. nidt bloß den Behauptungen €brarb'8 über den 
Epiſkopat unb Diakonat entgegen, fondern er bezweifelt 
«ud bie Behauptung von Todd und Gfene, baf alle 
Kleriker in der irofdottijden Kirche Mönche geweſen 
feien. In der Unterfugung über die Kirche Northumber: 
lands (€. 73—89) fommt er näher auf bie Firchlicen 
Drdines zu fpredjem und weist er den Ebrard’fchen Ein: 
fall von ber Möndgehe und von bem großen Gegenſah 
zwiſchen der ſchottiſchen und römifchen Kirche kurz zurüd. 
Der Abſchnitt über Gofumbam oder Golumba b. j. gibt 
ipm Gelegenheit, die Anerkennung des römiſchen Pri⸗ 


mate8 burdj bie ſchottiſche Kirche nachzuweiſen, die 


Ebrard'ſchen Aufſtellungen über bie Stóndj8- und Prieſter⸗ 
ehe einer erneuten Prüfung zu unterziehen und näher 





Ebrarb, Bonifatius. 888 


auf bie ſchottiſchen Klöfter oder bie columbaniidje Regel 
einzugeben. Der Schluß enthält eine Vergleihung zwi⸗ 
hen Gofumban und Bonifatius. 

Dies ber tidtigite Inhalt ber trefflichen Unter 
fudung. Die chronologiſche Anordnung bedingte, wie 
aus bem Bisherigen hervorgeht, Wiederholungen oder 
Behandlung berjelben Sade an verſchiedenen Drten. 
Es wäre daher wohl gmedbienlidyer gemefen, den Stoff 
mehr nad fachlichen Gefichtspuntten zu gruppiren, und 
dies namentlih in dem Abſchnitte über bie fchottifche 
fide zu thun, menn aud) bie beiden Kirchen je bes 
ſonders behandelt werden wollten. Der Eindrud müre 
fiderlid) ein ftärferer geworden und das Grundlofe und 
theilweiſe Ungeheuerlihe ber Ebrard'ſchen Aufftellungen 
wäre mod) deutlicher zu Tage getreten. Oder wenn ber 
Verf. bei feinem Plane bleiben wollte, fo wäre ein ge= 
naueres Inhaltsverzeichniß am Plage gemejem, damit 
bet Leſer fid) leichter über bem Stoff orientiren könnte. 

2. Den Anlaß zu ber zweiten Schrift gab bie 
Fiſcher'ſche Monographie über Bonifatius (Qu.-Schr. 
1882 €. 656 jf), in ber bie Ebrard'ſchen Aufftellungen 
vielfach beftritten und berichtigt wurden, und fie ift in 
fo fern eine Ctreitjdyrift. Andererfeit3 nimmt fie aud) 
eine pofitive Bedeutung für fih in Anfprud, indem C. 
die Quellen nod) einmal durcharbeitete und „den ges 
fammten Schag aller vorliegenden Urkunden in deren 
fortlaufendem Zufammenhang fórmlid) eregetijd) durch» 
forfchte unb prüfte". Nach bem bereit Angedeuteten 
amm id) zu ber Arbeit mur einem durchaus ablehnenden 
Standpunkt einnehmen, wenn id) aud) nicht umhin kann, 
bie Geleprjamteit anzuerkennen, bie der Verf. an einzelnen 


384 Θάπείδες, 


Drten an ben Tag legt. Das columbanijde Kirchen⸗ 
thum bat fo mwenig einen geſchichtlichen Boden als die 
Culdeer⸗ und irojdottijdje Miſſionskirche, von denen eà 
nur burd) den Namen unterfchieden ift, und es ijt daher 
eim verfehrtes Unternehmen, Bonifatius zu einem jer 
ſtörer desſelben zu ftempeln. 

untl 


15. 


Der neuere Geifterglanbe. Thatfahen, Täufhungen und 
Theorien. Bon Dr. Wilelm Schneider. Paderborn. 
Drud und Verlag von Ferdinand Schöningh. 1882. 
8. VII und 430 ©. Pr. M. 4. 50. 


Die reihe Literatur über den Spiritismus, von 
welcher wir hier nur bie Arbeiten von katholiſcher Seite, 
von Shneid, Gutberlet, Shanz, Hagemann, 
&nabenbauer, Wiefer, Dippel u. 9L im Auge 
haben, hat einen neuen Zuwachs butd) bie obengenannte 
Schrift erfahren, welche bereit3 von competenten Beur: 
theilern eine fo anerfennende Aufnahme gefunden, bof 
ung eigentlih mur übrig bleibt, aud). unfererjeits bit 
rückhaltsloſe Zuftimmung zu jener Anerkennung auszu⸗ 
fpredyen. Faft möchten wir erwarten und münchen, 
daß nun eine Pauſe einträte und fid) bie lefende Welt 
an ber Fülle von Schriften über den heutigen Stand 
ber wiſſenſchaftlichen Frage bezüglich des modernen 
Geifterglaubens genügen ließe. Das vortrefflich gt. 
ſchriebene Buch be8 geehrten Seminarlehrers in Rüthen, 
M. Schneider, fónnte als ein tüchtiger vorläufiger 





Der neuere Geifterglaube. 335 


Abihluß gelten, jo lange nicht wieder neue Incidenz⸗ 
punkte eintreten und neue Thatſachen vorgebracht met: 
ben, melde neue Aufflärungen bringen ober neue (ὅτε 
Härungen verlangen. Freilich wird die ſpiritiſche Bes 
megung, menm aud) wifßenfchaftlih überwunden, nod 
midt zur Ruhe kommen, weil fie ebenfoweuig vor ben 
ein wiſſenſchaftlichen Widerlegungen ftille ftehen wird, 
ala fie aus einem rein wiſſenſchaftlichen Intereſſe her 
vorgegangen ifi; biefelbe Dat viel weniger eine philo: 
ſophiſche ober apologetifche, ala eine ethiſche Bedeutung, 
und fo muß aud mit etbifden Mächten gegen fie ans 
gelümpft werben; dazu bedarf e8 aber vieler und manig- 
fader Kräfte. Es ift ein Kampf um die drijtlide 
Religion und um bie fittliche Weltanſchauung gegen neues 
Heidentbum und neuen Aberglauben; und in biefem 
Kampfe können ε der Mitarbeiter wie zu viele fein, 
fofern fie mur nidt*gu jenen gehören, um berentmillen 
wir ffeben müflen, Gott möge und vor unferen Freun- 
deu bewahren. 

Der Werth der vorliegenden Schrift num liegt vot: 
nehmli in zwei Dingen. Sie bietet exftemà eine lift: 
volle Drientirung über den Urſprung und die gefchicht- 
lide Entwidlung be8 Spiritismus und über bie θέτε 
ſchie denen Metamorphofen, melde ber univerjelle Glaube 
an bie Fortbauer der Beziehungen zwifchen ben 9[bge- 
ſchiedenen und den Hinterbliebenen, ſowie ber Glaube 
an das Geifterreih innerhalb der verfhiedenen alten 
und meufeibnilden Religionen durchlaufen; meiterhin 
‚dann eine Weberficht über den heutigen Stand der Frage 
und eine gemwiflenhafte Unterfuhung des Thatſächlichen 
an den bog ben Anhängern des Spiritismus producirten 


836 Sqhneider, 


Phänomenen, welche ihrer Erklärung harren und auf 
welche bie „neue Religion“ gegründet werden fol. So— 
fern ber Spiritismus eine neue Phafe eines in ber 
Geſchichte der Völker immer wiederkehreuden Wahn: 
glauben barftellt, hätte vielleicht ber Frage etwas näher 
getreten werden fünnem, ob für jein Entftehen, ba er 
bod) einmal feinen Urfprung in ber neuen Welt Dat, 
nicht ähnlich wie für das Mormonenthum aud) befondere 
Erklärungsgründe in bem genius loci Amerikas, in ben 
bejonberen Nachwirkungen altamerifanijden Heidenthums, 
das fid) bem modernen Gejammtleben des merfmürbigen 
transatlantifhen Volkes mehr oder weniger deutlich auf: 
prägt, gefunden werben lünntem. Bol. Hepworth 
Diron, Neuamerifa. 1868. ©. 43. 

Das zweite Hauptmoment aber liegt in bet Stellung, 
welche H. Schneider zu bem fpiritiftiichen Beweismaterial 
nimmt, indem er bemüht ift, ba8 SBovgeblidje und Schein: 
bare vom Thatſächlichen auszufceiden und auf Grund 
der dxiftliden Weltanihauung bie Erſcheinungen auf 
ihre wirklichen oder möglichen Urſachen zurüdzuführen. 
Gr läßt zunächft bie verſchiedenen bis jegt aufgewendeten 
SBerjudje, bie ſpiritiſtiſchen Erſcheinungen zu erklären 
und nad ihrem wahren Werthe zu beftimmen, vor 
unferem Auge vorübergehen, wobei zwiſchen bem be: 
rechtigten Zweifel und ber gläubigen Zuftimmung über: 
al mur die ſtreng objektive Prüfung ber einzelnen That 
ſachen entidjeiben fol. 

Die Erklärungsverſuche felbft ober bie verſchiedenen 
zur Ermittlung des Weſens des Spiritismus aufge 
bradjten Theorien werden ber Reihe mad) in ber Art 
beiproden, daß jeber Theorie madjgemiejem wird, was 





Der neuere Geifterglaube. 337 


fie leiften und mas fie nicht leiften Tann; jede derjelben 
bat memlid) in bem großen Wirrwarr des fpiritiftiichen 
Treibens eim Gebiet für fij, in welches fie ein gewiſſes 
fibt Dineintrügt; jebe aber läßt eine Reihe von anderen 
Gebieten unaufgellärt. 

Zuerſt bie Betrugstheorie. Es ift ja leicht, auf 
die maucherlei Tajchenfpielerfünfte hinzuweiſen, womit 
man die große und bie Heine Welt betrügt; aber es ijt 
nicht Philofophie, ſondern nur Blafirtheit und theilmeife 
Frivolität, wenn man alles, was über den Bereich ber 
gemeinen Sinneswahrnehmung hinausgeht, lebiglid) als 
Betrug und Blendwerk wegwirft; auf ſolche Weiſe laſſen 
ſich die Räthſel des Lebens überhaupt nicht löſen. Nicht 
beſſer ſteht es um bie Hallucinationstheorie oder um 
die Annahme von blos ſubjektiven Sinnestäuſchungen. 
Man müßte an der Realität der finnlichen Erſcheinungen 
überhaupt und an der Möglichkeit einer wirklichen Er- 
tenntniß des Wefens der Dinge irre werden, wollte man 
fij bei ihr beruhigen. — Von größerem Werthe find 
die Theorien, welche fid) auf die Borausfegung von 
mechaniſchen, vitalen und pſychiſchen Kräften aufbauen. 
Es find ung in dev That burd) Forihung und Prüfung 
auf diefem Gebiete ſchon mande Aufihlüffe über Lebens- 
vorgänge zu Xheil geworben, bie auf einer früheren 
Stufe ber Phyſik, Anthropologie und Pſychologie uner- 
launt blieben und bem Aberglauben veichlihe Nahrung 
gaben. Aber wir gefteben mit bem Verf., daß unfere 
bisherige fenutni nod) nicht ausreicht, fämmtliche Phä- 
nomene be8 Spiritismus zu erklären, ja daß man bod) 
ſchließlich mit incommenfurabeln Größen rechnet und 
daß man, top fefte Begriffe mangeln, zu Hypotheſen 

Xe. Quartalfgrift. 1888. Heft II. 22 


338 Schneider, 


greift, welche nicht viel mehr Bedeutung als leere Worte 
baben; bie8 gift namentlid) won ber Theorie ber mag 
{hen Kraft“, mit ber nichts gefagt und nichts erflärt 
iſt. Aehnlich urtfeift der Verf. audj über gewiſſe Ber- 
mittlungsverſuche, melde mit bem Appell an „unbe 
kannte Naturkräfte” ende; er hält die Berufung auf 
„ewig verborgene Naturfräfte” für werthlos und ftatuit 
unverrüdbare Grenzen alles Naturwirkens, jenjeit8 deren 
das 9teid) ber geiftigen oder intelligenten Sträfte liegt. 
Nachdem er dann bie fpiritiftifhe Theorie im engeren 
Sinne, b. D. die Annahme einer burd) bie Medien und 
den menſchlichen Willen vermittelten Manifeftation bet 
Seelen Abgeſchiedener in unferer Menfchenmelt, ſowie 
endlich bie Hypotheſe von den „vierdimenfionalen Weſen“ 
einer ſcharfſinnigen Kritik unterworfen, fteht er vor ber 
eigentlich brennenden Frage der „bämoniftifhen Theorie‘. 

Es bat fid) dem Verf. bei der Prüfung der früher 
genannten Theorien ergeben, daß nicht mur jede einzeln 
für fij, fondern aud) alle zufammen genommen ποῷ 
einen unerflärten Reſt von Erſcheinungen übrig Laffen 


und daß dabei namentlid) ba8 Hereinragen von Kräften | 


^ intelligenter Art fupponirt werben müſſe; immer aber, 
bemerkt er ©. 14, [εἰ die kühlſte Referve, felbft Stepfis 
idt bloß ein Gebot ber Klugheit, fondern aud) eine 
religiös ſittliche Pflicht. Er fühlt fid) nicht gemöthigt 
ober geneigt, in allen ben Phänomenen des Spiritigmus, 
deren Thatſächlichkeit füglid) nit runbmeg beftritten 
werden Tann, mur Teufelsfpud zu erbliden. „Self 
die fatomofogijde Erflärungstheorie muß folde (umet: 
forſchte Natur) Kräfte zu Hilfe nehmen, da nad) allge 
meiner Annahme bie Machtſphäre der Dämonen nijt 


Der neuere Geifterglaube. 839 


Aber die in ber Natur thätigen Potenzen binausreicht, 
mithin bümonijóe Manifeftationen nichts anderes find 
als Effekte natürliher Urſachen, berem Erifienz ober 
Wirkungsweiſe dem Menſchen unbekannt ift. Auch eine 
bümomijde Ingerenz erklärt nod) nicht alles, was in 
feinem erfichtlihen Zuſammenhange mit einer rein natür: 
ligen Caufalität ftebt. Ohne Zweifel ift e8 eine Täu- 
fjung, zu glauben, daß bie mwiffenidjaftlide Begründung 
ber fpiritiftifhen Phänomene auf's befte beforgt ei, 
wenn biefelben in Bauſch und Bogen zu infernalen 
Brobuctionen -geftempelt werben. Aber nidt nur bie 
Wiſſenſchaft, fondern aud) die Religion hat ein Intereſſe 
daran, daß ungewöhnliche und unbegreiflih ſcheinende 
Thatſachen nicht voreilig dämonifhen Einflüffen zuge— 
ſchrieben werden. Sowohl bie principielle Uebertreibung 
der diabolifhen Macht, als die leihtfertige Zulaſſung 
derfelben bei der Löſung gemifler Räthſel ijt fündhafter 
Aberglaube” (©. 16 f.). 

Andererjeitd darf aber aud) bie Möglichkeit eines 
bämonifchen Eingreifens nicht abgemiefen werden, und 
es muß zu folder Annahme der Recur offen ftehen 
bei Erfheinungen, toelde fid jeber anderen mit einer 
gefunden Philofophie und Theologie vereinbaren Erz 
Hörung entziehen; und folde feinen denn bod) vot. 
handen zu fein. Wie aber immerhin das Einzelne et^ 
Hört werben möge, heißt es ©. 421 f., fo „müflen wir 
den Spiritismus als ein Wahnſyſtem verurtheilen und 
als eine geiftige Cpibemie fürchten, deren Entftehung 
und Ausbreitung burd) ſchadenfrohe Lug: und Trug⸗ 
geifter moralii angeregt und gefördert ward. Selbſt 
wenn al” bie feltjamen Begebniffe der Seancen fpäter 

22 + 


340 Schneider, 


entweder αἵ Wirkungen natürlicher Kräfte oder als 
Producte von Trug und Täufhung fid) herausftellen 
follten: der moderne Spiritismus als Inbegriff theoreti- 
ſcher Verirrungen und abergläubifher Praktiken bleibt 
mit dem Mal des Grund: und Urböfen gebrandmarkt. 
Bir erbliden darin bie Spur einer gefährlichen, mit 
dem verkehrten Beitgeifte auf's innigfte vertrauten In— 
telligenz, einen in feiner Art großartigen Erfolg teufli- 
ſcher Verfuhung im großen Stil“. 

Stef. kann fid) der ebenfo theologiſch correften wie 
wiſſenſchaftlich vorfichtigen Bemeisführung des Berf. 
mur anſchließen, felbft auf die Gefahr hin, bap Gut 
berlet 9teót bebielte, to er (Liter. Rundſchau 1883 
n. 1 Sp. 12) meint, daß bie von Dr. Sch. gegen ben 


weitergehenden Ctanbpuntt € d) n eib 8 geltend gemachten 


Gründe conjequent allen Einfluß der böfen Geifter 
befeitigen würden, was fid δοῷ wohl mut auf ben 
direkten finnenfälligen, nicht auch auf ben moraliſchen 


oder, wenn man will, aud) myſtiſchen Einfluß ber Dü | 


monen beziehen wird. 


(8 hat bem Ref. ſchon Lange fo vorfommen toller, | 


daß, menn man von bem fpiritiftiihen Erfcheinungen 
alles abzieht, was fid) entweder auf Betrug und Täw 
ſchung oder auf Vitalkräfte irgendwelcher Art oder υἱεῖ 
leicht aud) auf einen immerhin möglichen Bufammenhang 
mit abgeſchiedenen Seelen u. ſ. m. zurüdführen läßt, 
mur mod) ganz weniges überbleibt, mas ung etwa nöthi⸗ 
gen Tönnte, zur dämoniſtiſchen Theorie unfre Zuflucht 
ju nehmen, unb von bem wenigen wäre immer nj 
etwas abzuziehen, wovon ſich nad) den bisherigen (τ: 
fahrungen hoffen ließe, daß e8 aud) mod) eine natürlide 


Der neuere Geifterglaube. 341 


Erklärung bei einer fortgefährittenern Erkenntniß ber in 
der Schöpfung liegenden Kräfte finden werde. Denn 
wer gibt uns das Recht vorauszufegen, daß nit aud) 
in ber Zukunft mod) meitere natürliche Erklärungen fid) 
ergeben fónnen? Auf eine „ewig verborgene Natur 
kraft“ wollen wir nicht recurriren, teil dies einen Wider⸗ 
fprud) enthält, aber menigften8 auf Kräfte, bie uns jebt 
ſchon aus ihren Wirkungen ihre Natur ahnen lafjem, 
menn wir uns berfelben aud) nicht fomeit bemädhtigt 
haben, daß wir fie zum Erperiment gebrauchen fónnen. 
Bas una heute erft Ahnung ift und wofür wir ein 
Bort fudjem, das kann der nahlommenden Generation 
eine Crrungenfdjaft werben. 

Gejebt aber, e8 bleibe wirklich ein Reſt von Er» 
ſcheinungen übrig, welche beftimmte Spuren des Dämo- 
nismus verrathen, was ifi bamit gewonnen? Und um- 
gelehrt, wenn wir auf alle dämoniftifhe Erklärung 
verzichten, was ift bann verloren? 

Man fünnte, wenn man auf gewiſſe Stimmen in 
theologifchen Kreifen achtet, wirklich meinen, e8 gebe ein 
Tüigibfe8 oder dogmatiſches Intereffe, fid) bie im Spiris - 
tismus und ähnlichen Vorkommniſſen liegenden Beweiſe 
für das BVorhandenfein und ber Macht des dämoniſchen 
Sides nicht entgehen zu laffem. Hiegegen muß ent: 
ſchieden vom Standpunkt der hriftlichen Glaubens und 
ber Theologie Verwahrung eingelegt werben. 

Schon wenn τοῖς bie Thatſachen rein empirijd) 
uchmen, welche eine andere al3 dämoniſtiſche Erklärung 
nicht zuzulaſſen feinen, fo find fie jo nichtsſagend als 
möglih; über bie Natur des bümonijden Reiches und 
über fein Wirken erfahren wir jo viel wie nichts; und 


342 Säneiber, 


es bat in ber That, wenn man einmal bei bet bümo- 
niſtiſchen Hypotheſe fteben bleiben will, mehr Goujequem 
zu jagen, baf das ganze Getriebe und ber ganze 
Apparat be8 Spiritismus, des animaliihen Magnetis- 
mus u. f. w. Manifeftation der Dämonen feien; auf 
bieje Weife würde denfelben bod) eine großartigere Auf: 
gabe gugemiefen, al8 wenn man fie nur für einzeln 
Experimente in Anſpruch nimmt. 


Was aber den Glauben am bie Realität und boi 


Hereinragen be8 bümonijden Reiches in unfre Siuner 
welt anlangt, jo beftreiten wir, daß ber wirklich then 
logijde Glaube am ben fpiritiftiihen Phänomenen be 


ifeiligt ijt. Hängt unfer theologifher Glaube vom ba | 


ganz gemeinen Spuckgeſchichten ab, oder nicht vielmehr 
von der diftlijen Offenbarung? Iſt e8 ein theolog: 


ider Glaube, der duch den Anblid einer ſpiritiſtiſchen 
Manipulation erzeugt wird? Stehen fole Mai | 


feftationen ſataniſcher Wirffamkeit in ihrem Beweiswerthe 
in gleidjer Linie mit ben göttlichen Wundern? Wer in 
allen ſchwer verftändlihen Vorkommniſſen des Natur: 
und Geelenlebens an bümowijde Einflüffe glaubt, der 
bat nod) [ange nicht den theologifchen Glauben bezüglid 


des Reiches der gefallenen Engel, fondern ἐξ viel ehr | 


des Aberglaubens verbädhtig; und umgekehrt fans ber 


theologiſche Glaube bezügli des bümonijdyem Std | 


ober bie rüdhaltslofe Annahme aller in ber h. Scrit 
und ber kirchlichen Ueberlieferung gelegenen Lehen 
darüber beftehen, wenn man aud) nift eim eimi 
Phänomen aus bem Nachtſeiten des Menſchenlebens, wit 
Somnambulismus, Hyſterie, Geiſteskrankheit, Spiritis 


Der neuere Geifterglaube. 343 


mus, auf direkte und finnenfällige dämoniſche Einwirkung , 
wurädführt. 

Man fagt, und glaubt damit ein proftijd) ent 
ſcheidendes Argument auszufprechen, am liebften fei es 
dem Teufel jelbft, meum man an ihn nicht glaube. 
Darauf erwiedern wir, daß wir unterſcheiden zwiſchen 
glauben und glauben. Den tjeologilden Glauben for: 
dern wir durchaus; aber wir unterſcheiden non ihm ben 
Glauben, der erzeugt wird burd) dämoniſche Mirakel- 
geſchichten; in legterer Beziehung jagen wir vielmehr, 
ba man, felbft bie dämonifche Marifeſtation voraus— 
geſetzt, bie Abſichten Satans am fiderften vereitelt, 
wenn man feinen Werken keine 9fufmerfjamteit, feinen 
Blendwerken feimeu Glauben fdenft; er wird machtlos, 
mo man ihn ignorirt, dagegen gewinnt er Spielraum 
und Gewalt, wo man fid) non ihm imponiren und fid 
burd bas Auffehen, ba8 er erregt, verwirren läßt. 

Und wie erfi, wenn doch ſchließlich, was ja immer 
πο möglich ift, die ganze Vorausfegung ber bämonifti- 
iden Theorie hinfällig würbe? 

Was ift denn überhaupt burd) bie bámoniftijje 
Hppothefe erklärt? Bleibt nicht alles im der Luft 
hängen? Muß man nicht bod) wieder auf Naturkräfte 
iurüdfommen, von deren Ausdehnung und Wirkungskreis 
wir nichts wiſſen? Weber die Frage, wie Satan fi 
verförpern und wie er zugleich als intelligentes SBejen 
auf unfer Geiftesweien einwirken könne, geben uns alle 
ſpiritiſtiſchen Experimente. feinen Aufihluß, und ber 
Recurs auf den Dämonismus ift miffenigaftli um 
keinen Grab befier al8 das Geftänbniß beà ignoramus 
& ignorabimus. 


344 aleutgen, 


Daher bleiben mit vorerſt, wie H. Sch., bei ber 
Tüplftem Stepfis; daß fie nicht ſchaden Tann, glauben 
wir erwiefen zu haben; baf fie aber aud) Pflicht und 
Nothwendigkeit wird, möchten toit allen denen zu bes 
denken geben, melde nicht ganz vergefien, baB e8 aud 
jet noch einen Aberglauben und Wahnglauben zu be 
Tümpfen gibt, und daß überall, wo man bem bümoui 
ſchen Wahne bie Zügel gelaffen, und gegen bie Auf- 
Härung auf biejem Gebiete Partei ergriffen hat, man 
den mahren Glauben unb die Sache der Religion und 
Kirche compromittirt hat. 

ginfenmann 


16, 


1. Das Evangelium des HI. Matthäus nad) feinem inneren 
Bufammenhang, auch für gebildete Laien zur anbächtigen 
Betrachtung des Lebens unjere8 Heilandes, in Kürze 
erflärt von Joſeph Rleuigem, Priefter ber Geſellſchaft 
Jeſu. Nebft einer Abhandlung über ba8 Wunderbare. 
Mit Gutfeifung ber Oberen. Freiburg i. Br. Herder. 
1882. 286 ©. 

2. Das Rene Tefigment, überjept bon Carl Weizſäder, D. 
Th. Zweite, neu bearbeitete Auflage. Freiburg i. Br. 
Sitabemijdje Verlagsbuchhandlung bon I. (δ. $8. Mohr 
(Bau! Giebed). 1882. 406 ©. 

3. Die exegetiſche Theologie ober Schrifttheologie (Wiffen- 
ſchaft von berf. Schrift). 2) Die Lehre vom Neuen 
Teftamente insbejonbere (neutejtamentlide SDigcipli- 
nen) bargeftellt von Dr. 8. Säule, o. Prof. in Ro- 





Matthäußevangelium. 845 


food uub Dr. W. Qr. Gran, o. Prof. in Königsberg. 

Bweiter Halbband des Handbuchs ber theologiſchen 

Wiſſenſchaften von Dr. Ὁ. Zöckler. Nördlingen, Bed. 

1883. G. 339—684. 

1) Diefe Schrift wurde ſchon im Jahre 1833 ὑεῖ: 
faBt und wird jegt ohne SBerüdfidtigung beffem, was 
feitbem über bie Gompofitiot des 1. Evangeliums ge⸗ 
férieben worden ift, abgefehen von unweſentlichen Ver— 
änderungen und einigen Zufägen, in ihrer urfprünglichen 
Geftalt veröffentlicht. AS Grund wird ber erbaulidje 
Zweck angegeben, der gelehrte Polemik und unpopuläre 
Erörterungen ausſchließe, aber mit wiſſenſchafticher Exegefe 
wohl verträglich ſei. Obwohl mir biefe8 ohne Weiteres 
zugehen, fo hätten wir bod) gewünſcht, daß ber H. Df., 
ohne auf eine Polemik einzugehen, feine Arbeit nod) 
einmal auf Grund ber neuen Verhandlungen über dad 
Matthäusevangelium umgearbeitet hätte. Denn mir 
find überzeugt, daß er feine Anfhanungen über den 
Plan de3 Evangeliums einigermaßen modificirt und im 
Intereſſe des beſſeren BVerftändnifles erweitert haben 
würde. Aber aud) jo tole die Schrift nun vorliegt, ver: 
dient fie unjere Beachtung. Sie ift ein Beweis dafür, 
daß zwar bie Smedbeziehung des 1. Evangeliums von 
den Alten ungenügend beftimmt worden ift, diefelbe aber 
wur im Anſchluſſe an bieje Beſtimmung richtig erfaßt 
werben Tann. Darüber, ba man überhaupt πα feinem 
ſchriftſtelleriſchen Plan fragen darf, glaube ἰῷ far nicht 
mehr fireiten zu jollen. 

Dem ganzen Evangelium be8 ἢ. Matihäus feine 
folgender Gedanke zu Grunde zu liegen: „Das Reich 
Sefu Gpriftt tft nit von dieſer Welt; tit wer- 


346 fileutgen, 


ben in ihm nicht vom Ungemach bieje8 Lebens befreit, 
fondern vielmehr durch dieſes zu bem geiftigen Gütern 
und bem ewigen Reihe in ben Himmeln geführt: nichts 
beftoteniger ift Jeſus Chriftus jener 
Meffias, der ben Vätern verheißen und 
von den Propheten vorherverfündigt 
wurde". Indem ber Verf. mod) beifügt, daß bieje 
Wahrheit ſowohl in fid) felbft vorgelegt und erläutert, 
als aud) burd) den Gegenjag ber Gefinnung der Phari- 
ἴδεν, bie ihr toiberfirebem, und des Volkes, dad fie 
nicht faBt, gehoben werde, hat er in der That beu 
Grundgedanken des Evangeliums richtig dargeftellt. Nur 
hätte er bie ſchon im ber Kindheitsgeſchichte fichtbare 
und bis zu bem legten Ctreitreben, ja bis zum Schluß 
des Evangeliums zu verfolgende Strafandrohung Jeſu, 
bas Rei) den Juden zu nehmen unb den Heiden zu 
verleihen, beſſer berückſichtigen follen. Danır hätte et 
die zahlreichen univerjaliften Stellen und Erzählungen 
befier würdigen und mit den particulariften in beften 
Einklang bringen fónnen. Denn jene dienen nicht etwa 
blos „zur Reinigung ber Idee, toeldje fid) bie Juden 
vom Meſſias gemacht hatten“ (S. 65), unb diefe mochten 
nit nur „der Vorftellung, welche die Juden von bem 
Meſſias fij gebildet hatten, entſprechen“ (S. 75), fou- 
bern beide im Verein Demeijem, baf Matthäus Jeſus 
als firengen Meſſias der Juden barftellen wollte, bet 
erit burd) bie Unempfänglichkeit der Juden von feinem 
Bolt mweggedrängt wurde und deshalb bem Juden bie 
Strafe anbrobte, ben Heiden das Heil in Ausſicht ſtellte. 
Von biefer Wahrnehmung aus erhält aud) ber 4. Theil, 
welcher von ber Unterweifung ber Jünger handelt, mehr 





Matthäusevangelium. 847 


fidt. Die Zweifel über bie Adreſſe, melde nothwendig 
auf eine Unſicherheit in der Zweckbeſtimmung ſchließen 
laffem, fallen dann toeg. Man verweist nicht nur mit 
Grund darauf, baf Matthäus, nad) ber übereinftimmen- 
ben Angabe ber ülteften Kirchennäter, zunächft für bie 
zum Chriſtenthum befehrten Juden ſchrieb (S. 2), fon- 
dern man Tann aud) unmöglich eine andere Beftimmung 
gelten lafjen. Alles Andere ift fecundär, mie man ja 
überhaupt von ben h. Schriften in gewiſſem Sinne jagen 
laun, daß fie für weitere Kreife, für alle Chriften ge- 
ſchrieben feien. Der Verf. hat diefe Inconfequenz aud) 
wohl gefühlt. Denn während er €. 2 von den Juden 
fpricht umd Seite D zunächſt für bie Juden ſchreiben 
läßt, fügt er bod) bei: „Mag e8 immer fein, baf er, 
wie bie übrigen Evangeliften, viel mehr bie Befeftigung 
and Erbauung der Gläubigen, als bie Belehrung der 
Ungläubigen im Auge hatte: aud) bie [don gläubigen 
Juden bedurften ganz gewiß immer nod) des Schutzes 
wider ein Vorurtheil, welches das hauptſächliche Hinder- 
niß ihrer Belehrung gemejen war“. Auch bie „Eins 
ſchaltuugen“, toeldje der Verf. nad) bem Grundjag: 
exceptio firmat regulam für feine Darftellung bes 
Blanes zugibt, möchte ἰῷ nicht ohne Weiteres als ſolche 
anerkennen. Sie kommen zum Theile daher, daß er mit 
andern Eregeten bie fachliche Anordnung des 1. Evan: 
geliums zu ſtark premirt. 

Den Hauptinhalt ber Schrift madjt bie in großem 
Sorud gegebene Ueberfegung nad ber Vulgata aus, 
welche giemlid) am Allioli erinnert. Der Anmerkungen 
unter bem Terte find wenige, dagegen folgt jedem Ab» 
ſchnitt eine kurze unb genaue Darlegung des Zufammen- 


348 Veizfäder, 


banges in Verbindung mit praktiſchen Anweiſungen. In 
dieſem durchgehenden Beſtreben, den Plan des Ganzen 
überall nachzuweiſen, wie man es ſonſt in derartigen 
Schriften nicht zu finden gewöhnt ift, liegt das Haupt⸗ 
verdienſt der Schrift. 

2. Schon im Jahre 1875 hat H. Weizſäcker eine 
Weberfegung des Neuen Teftamentes herausgegeben, 
welde den heutigen Anforderungen ber eregetijden 
Wiſſenſchaft gerecht wurde und aud) fpradjlid) fid) im 
Unterſchiede von der revidirten lutheriſchen Ueberſetzung 
dem Gebrauche der Gegenwart anſchloß. Muß man 
qud) in den Bibeln für das Volk jdjon megem bes litur 
giihen Gebraudes auf die hergebrachte Form möglihft 
Rüdfiht nehmen, fo fónnen bod) bie Gebilbeten, welche 
die 5. Schrift im Urtert nicht Iefen Tönnen oder wollen, 
nur durch eine tertkritiſch fidjere und ſprachlich genaue 
Ueberſetzung annähernd in ben urfprünglichen Sinn und 
Bufammenhang berjelben eingeführt merben. Einem 
doppelten Vorwurf wird freilich ein ſolches ſchwieriges 
Unternehmen nie ganz entgehen. Dem Worte ber ἢ. 
Schrift wird gleihlam das ehrwürdige Gewand, mit 
welchem e3 feit langer Zeit von Jugend an gelernt und 
ins Herz aufgenommen wurde, abgeftreift und bie Arbeit 
eines Einzelnen Tann fid) nie bie Auctorität, mit welcher 
eine Kirchliche Weberfegung außgeftattet ift, verfchaffen. 
Legterer Punkt ijt für bie Katholiken viel wichtiger ald 
für bie Proteftanten, während ber andere weniger für 
fie ins Gewicht fällt, weil bie Vulgata der officielle, 
allgemeine Text ift und die Ueberſetzungen in die Lande: 
ſprachen nur Privatarbeiten mit oberhirtlicher Appro: 
bation find. Aber es ijt immer zu beachten, daß εὖ 





Neues Teftament. 349 


fid) um eine fireng wiſſenſchaftliche Weberfegung für 
das richtige Verftändniß handelt, melde eine andere 
nit ausſchließt. 

Die uns vorliegende zweite Auflage hat innerlich 
und äußerlih eine neue Geftalt befommen. Sie ijt 
handlicher, überfihtlicher, brauchbarer geworben. Das 
Format ift etwas Kleiner, die Kapitel und Verſe find ganz 
aus bem Texte vertoiejen, um alle Störung des Leſers zu 
entfernen, dagegen find fie in der Ueberſchrift angegeben, 
um das Auffuhen und $Bergleiden zu ermöglichen. 
Einige Schwierigkeiten werden babei freilich fo immer 
vorhanden fein. Dagegen trägt e8 mejentlid) zur Ueber: 
fihtlicgkeit bei, daß im Drucke dreierlei Abtheilungen 
be8 Textes angewendet find, durch Abſchnitte mit Strich, 
durch neue Zeilen und duch Zwiſchenraum innerhalb 
der Zeilen. Demfelben Zwecke dienen die verjdjiebenen 
Schriften. Die fette Schrift Debt diejenigen Worte θεῖς 
vor, in melden dad Thema eines einzelnen Abfchnittes 
enthalten ift. Die gothiſche Schrift ift für bie afttefta- 
mentlichen Gitate angewendet. Die Heine Schrift zeichnet 
alles dasjenige aus, was man fonft nod) mit Anführungs- 
zeichen verfieht (4. 99. Magnificat, Benedictus). Endlich 
wird ber Gebrauh nod) weſentlich erleichtert burd) ein 
febr reichhaltiges Regifter. 

Ber die großen Schwierigkeiten einer ſolchen Arbeit 
ennt, wird dem H. Verf. für feine mühevolle und ges 
lehrte Arbeit dankbar fein. Selbft ber Fachmann wird 
fie oft mit Nugen gebrauchen, denn er wird an ben 
ſchwierigen tertkritiſchen und exegetiſchen Stellen ftets 
den gewiegten Kritifer und Eregeten erkennen. Er wird 
fih auch bei einer Vergleihung mit der erften Auflage 


350 Beizfäder, Neues Teftament. 


Veicht überzeugen können, baf eine toefentlid) umgearbeitete 
und vielfach verbefferte Arbeit vorliegt. Ich vermeile 
beifpielshalber auf Marc. 1, 4. 11, 8, 14, 72, Joh. 
6, 22. 7, 10. 2 Joh. 1. Epbef. 1, 1. Ueber bie 
Nichtigkeit folder Verbefferungen wird man natürlid 
immer ftreiten können, e8 ift aber bier nicht der Drt, 
darauf einzugehen, weil fid) ber Weberfeger dabei immer 
im Nachtheil befindet, da er feine Anficht nur aufftellen, 
nicht aber bemeifen Tann (€. XI). In ber 1. A. hatte 
fid) ber Verf. im Wefentlihen an bie ed. VIII von 
Tiſchendorf angeſchloſſen, dieſes Mal hat er mod) mehr 
dem eigenen Urtheil Raum gegeben und insbejondere 
aud) bie trefflihe Ausgabe von Weftcott und Hort zu 
Rathe gezogen. Durch bieje wurde er wahrſcheinlich 
«ud zu der Hervorhebung der Gitate und Anführungen 
veranlaßt. Die Eintheilung des Magnificat, Benebictus, 
Nunc Dimittis, Ephef. 5, 14, 1 Tim. 3, 16 ift gleid- 
falls dieſelbe. Auf biejelbe Rechnung ift wohl aud 
das ,Dber" (ἄλλως) am Scdhluſſe des Marcusevange: 
liums zu [dreiben. Daß die Stellung für Job. 7, 
53—8, 11 beibehalten worden ift, Tann nur gebilligt 
werben. Beide Abſchnitte find übrigens mit Tiſchendorf 
unter ben Seri verwiefen. Der Hebräerbrief ift entgegen 
ber Tiſchendorf'ſchen und englifhen Ausgabe, welche mit 
demfelben die Gemeinbebriefe fließen, an den Schluß 
ber paulinifchen Briefe geftellt, dagegen ftehen bieje wie 
dort hinter den katholiſchen Briefen. 

8. Diefe Schrift bildet den zweiten Halbband zu 
dem Handbuch der theologiihen Wiſſchenſchaften von 
D. Bödler, befjem erften Halbband mir €. 186—144 
bejproden haben. Die Einleitung ins N. T. und bie 


Schulze u. Grau, Handbuch ber theol. SBiffenidjaften. 351 


bibliſche Geſchichte des N. Ts. ift von Dr. Schulze, bie 
bibliſche Theologie des N. Ta. von Dr. Grau dargeftellt. 
Die Grundſätze find die dort bezeichneten der pofitiven 
proteftantifchen Theologie. In Folge biefe8 Stand» 
punlts ift die Schrift vielfach apologetijd) gehalten und 
berührt fid) namentlih im den erften Xheilen häufig 
mit der fatbolijóen Behandlung diefer Gegenftünbe. 
Der neuteftamentfihe Kanon wird feinem ganzen Um— 
fange nad) vertheidigt und das Leben Jeſu als das des 
Gottmenidyen auf bem richtigen Grund aufgebaut. Ziem- 
lid anders verhält es fid mit dem dritten Theil, in 
welchem dem Thema zufolge das confeffionelle Element 
weit mehr zur Sprache fommen mußte. Ich behalte 
mir vor, bei einer anderen Gelegenheit dieſen Gegen: 
fand eingehend zu behandeln, bemerfe aber ſchon bier, 
daß ber Verf. zu einem ziemlich abweichenden Stejultate 
hätte Tommen müſſen, wenn er bie Gonjequeng feines 
Standpunkts ftreng gezogen hätte. Die Wiſſenſchaft 
ſcheint ihm eigentlich im Gegenjag zu ber 9. Schrift zu 
Reben. „Se breiter im Mittelalter der Strom kirchlichen 
Lebens und fo auch ber Theologie, meldje alle Wifjen- 
haften umfaßte, fid) ergoß, befto mächtigere Fluten 
natüzliden Wejens — Deibnijdjer Philoſophie und hierar⸗ 
chiſchen Streben verſchlangen immer mehr bie ftillgeben- 
den Duellwafler des Wortes Gottes; bis endlich Gott 
auf das Schreien ber bürftenden Seelen mit ber Onaben: 
that -ber Reformation antwortete" (€. 550 f.). Die 
Reformatoren find mächtige religiöfe Genien, nicht 
Männer der Wiflenfhaft. Sie find Propheten. „Je 
weniger alfo ein Luther wiſſenſchaftliche Zwecke im Auge 
hatte ‚und wiſſenſchaftliche, b. i. ſyſtematiſche umfaflende 


352 Säule und Grau, 


Form, befto größer erſcheint er al8 Prophet und kirchen⸗ 
gründende Perfönlichfeit. Die Größe Luthers als eines 
SBropbeten und Reformators und die heroorragende Ber- 
wandtſchaft feiner Theologie mit ber Theologie bet b. 
Schrift gegenüber Bmingli und Calvin, ja aud) gegen- 
über Melanchthon, hängt aufs Innigfte zufammen mit 
bem unfpftematifchen Charakter feiner Schriften, melde 
mad) Inhalt und Form aus bem paulinijden Briefen 
oder aud) den Palmen herausgeboren find“ (S. D51). 
Iſt aber damit idon bie Loslöfung von ber Gemein- 
ſchaft und bie Einfeitigfeit zugegeben, 1o mird bet 
Widerſpruch nod) größer, wenn bie orthodoxe Dogmatik 
des 17. Jahrhunderts vertheidigt wird, meum aud) bet 
Glaube an bie Identität ihrer Dogmatik mit der Schrift 
lebre nur „an feinem Theile“ berechtigt war (€. 552). 
Wird nun vollends gegen Beck's fubjectiviftiicde Glaubens» 
lebre entſchieden Front gemacht, weil fie eine ſchwär— 
merifche Verirrung ift, „welche nicht weit von der τεῖοτε 
mirten Seftenbilbung abliegt, bie eben daraus entipringt, 
daß ein einzelnes gläubiges Individuum der p. Schrift 
fid gegenüberftelt und feine fubjeftive Schriftauffaflung 
als ben weſentlichen Schriftinhalt zum Fundament einer 
Glaubensgemeinſchaft meint maden zu können“ (S. 557), 
fo find wir ja wieder glüdlid) zu der anfangs verpönten 
Kirchengemeinſchaft aurüdgeleprt. Schützt vor folder 
Berirrung nur ber wahrhaft firdlide Zufammenhang 
mit ber allgemeinen Entwiclung des Reiches Gottes, fo 
ift, wenn nit ein „Strom kirchlichen Lebens“, bod) ein 
Surrogat dafür nothwendig. Gewiß ift e8 „eine hoch⸗ 
müthige Gelbftüberpebung des Individuums, Tosgelöst 
von jenem Entwidlungsgang fij für den adäquaten 





Handbuch ber theol. Wiſſenſchaften. 858 


Spiegel zu halten, ber ba8 Wahrheitsbild der h. Schrift 
wiedergäbe“ (€. 668), obwohl id) diefe Anklage gegen 
Θεά trotz des befannten Urtheils Hofmanns über den 
Standpunkt desſelben nicht hätte erheben mögen. Dies 
it eine glückliche Inconſequenz zwiſchen Theorie und 
Praxis, toeldje die Tradition und ba& Glaubensleben 
in der Gemeinjdaft mit ber Gemeinde und der Kirche 
erjegen muß. Aber man made uns bann unjer frd 
lide8 Leben nit zum Vorwurf unb made uns nicht 
glauben, daß der Sujammenbang mit der „allgemeinen Cnt- 
toid(ung" fo bedeutend beffer [εἰ al8 mit einer vom Geifte 
Gottes geleiteten apoftolijden und katholiſchen Kirche, 
Der Berf. fdeint von der „großen Lebensbewegung 
des feinem Siele zuwachſenden Reiches Gottes“ große 
Hoffnungen zu hegen. Wir geben „einer gewaltigen 
pode bieje8 großen Werdeganges entgegen, in welcher 
auf Grund der Errungenſchaften des ſechszehnten Jahr: 
hunderts für eine große Mannigfaltigkeit von Fragen 
die Antwort gefucht werben fol“. „ES gilt eine Ans 
eigmung ber 5. Schrift, wie fie in ber kirchlichen Ent- 
wicllung bis jegt nicht vorhanden gemejen ift Denn 
der in nicht gar ferner Zeit alle Völker ber Erde um 
fpawnenben Kirche werden weit mannigfaltigere und 
umfaffendere Lebensfragen geftellt werden“. Ich will 
nun die Slufionen des Verf. nicht zerftören, aud) gerne 
glauben, daß er bie Zeichen ber Zeit in unferem Norben 
beſſer ectemnt als ich, aber fehr nüchtern bleibe id) bod) 
bei ſolchen Ergüffen und nehme fein Wort von bem 
zuräd, was ἰὼ in ber vorigen Anzeige zum Theil im 
Anfhluffe an den ruhigen Zockler gejagt habe. Da ber 
Berf. zum Schluſſe feiner geſchichtlichen Wendt feinen 
Veel. Ouaraljórit. 1888. Heft IL 


964 Gute unb Bau, 


Führer für diefe Zufunftsweltreligion nemnt, fo muß 
id bod an ein Ereigniß aus ber legten Vergangenheit 
erinnern. Als Zödler auf einer Eonferenz die bibliſchen 
Arbeiten Hofmann's der biftorii - Fritiichen Richtung 
gegenüber als Mufter aufftellte, entgegnete ihm Zeitungs: 
berichten zufolge ein Baftor, daß dieſelben gar nicht mehr 
auf hriftlihem Boden ftehen. Der SBorfipembe faud εὖ 
für nöthig, die weitere Discuſſion darüber zu fuspendiren. 

$. Schulze vertheidigt die pebráijdoe Abfaſſung des 
Matthäusevangeliums, ſchreibt aber bie griechiſche Weber: 
fegung dem Matthäus felbft zu, um bie Schwierigkeit 
der griechiſchen Originalität zu befeitigen. Die Bmed: 
beftimmung dürfte beftimmter lauten, Denn daraus, bo 
Matthäus das Evangelium auf Bitten feiner (judenchrift⸗ 
lien) Gemeiube ſchriftlich verfaßte, Iaffen fid) bie antijübi- 
ſchen Stellen nicht erflären, mie id) ſchon zu Nr. 1 bes 
merkt habe. Unrichtig ift zu Marcus angegeben (€. 886), 
daß er uad) Euf. 2, 16 in Alerandrien gewirkt und ca. 
61 als Biſchof geftorben fei, beun mur erſteres wird 
daſelbſt erwähnt und ετῇ 2, 26 (27) wird bie Nachfolge 
bes Anianus im 8. J. beà Nero ohne Angabe des 
Todes genannt, Im Webrigen bin ἰῷ mit ber Cha: 
tafterifirung beà 2. Evangeliums einverftanden, obwohl 
id) trog der fireugen Einheit die SBeuügung des Mat 
thäusenangeliums annehme. Doc gibt ber Verf. dies 
nachher (S. 394) menigitens für die Anordnung ju. 
Die Abfaffung des Lucasevangeliums wird zwar häufig 
ἐκ bie Beit vor 64 verlegt, aber m. ©. mit Unrecht. 
Quca8 hat dad Marcusevangelium benügt. Dem law 
man sicht mit ber Unterjchiebung von Marcusaufzeihs 
sungen (€. 390) außweiden. Wird die Srenäusftele 


Sanbbud) ber theol. Wiffenfchaften. 855 


für bie Beitbeftimmung ber beiden erften Evangelien 
benügt, fo muß fie aud) für das dritte gelten. In Ber 
treff des Johannesevangeliums muß id) aud) geftehen, 
baf die gewöhnliche Annahme ber Ergänzung der Syn, 
optifer mir immer problematifcher wird, bie Voraus: 
fegung derſelben ift freilich felbftverftünbíid. Anderer: 
feità möchte ἰῷ aber aud) den bogmatilden Zweck, „die 
Meflianität ber hiftorifhen Perfon Jeſu burd) eine ge- 
ſchichtliche Darftellung aus ber reihen Fülle feines Lebens 
zu erweifen“ (Θ. 396), nicht fo eng fafjen. 

Für die Eintheilung ber paulinifhen Briefe ift bie 
hiſtoriſch bezeugte zweite Gefangenfdjaft, welche der Verf. 
wiederholt gut vertheidigt (€. 386. 388. 411. 541), ent- 
féeibenb. Die Gefangenfdjaft8briefe verlegt er mit Recht 
ſchon wegen des Philipperbriefes nad) Rom, bie Paſtoral ⸗ 
briefe in die Zeit παῷ ber erften Gefangenfhaft. Bei 
beu Korintherbriefen negirt ber Verf. nicht mur ben 
von vielen neueren Cregetem vorausgefegten verloren 
gegangenen Brief gmijden unferem 1. und 2., fondern 
aud ben unferem erften vorangehenden, indem er 1 Kor. 
5, 9 aus bem Briefftil erflärt. Der Römerbrief hat 
den Zweck, die Reife nad) Spanien vorzubereiten. Der 
Hebräerbrief ift von Apollo gefchrieben und nad) eru: 
ſalem adreffirt. Der erfte Petrusbrief ift wirklich in Babys 
lon verfaßt worden. Jakobus, ber Verfaſſer des fatpoli- 
den Briefes, ift ein wirklicher Bruder des Herrn und nicht 
ibentijd mit bem Jakobus Alphäi. Der Brief ift erſt 
vor ber Zerftörung Jeruſalems gefchrieben worden. Die 
Apokalypfe fällt in bie Lepte Regierungszeit des Domitian. 

Der Abſchnitt über die Ueberſetzungen ift etwas kurz 
ausgefallen. Die SBulgata wurde aber von bem Concil 


356 Schulze und Grau, 


zu Trient nicht im Gegenſatze zu den Proteſtanten „als 
ber allein gültige, in allen Unterfuchungen, Disputationen, 
Predigten zu gebraudjenbe Text“ hingeftellt, fondern für 
bie editio authentica erflärt, ut nemo illam reicere 
quovis praetextu audeat vel praesumat. Dadurch wird 
bem Grungtert nicht berogirt, fondern nur bie Vulgata 
als authentiſches Aequivalent bezeichnet. Die deutſche 
Ueberfegung Luthers wird gewiß mit Recht bod ges 
werthet, doc ift e8 unrichtig, da ſämmtliche voran: 
gehenden beutfden Ueberjegungen „nah ber Vulgata, 
unbehülflich, fehlerhaft, nicht volfsthümlich find“. Die 
Anordnung und der Umfang der Bulgata find allerdings 
beibehalten und im Wefentlihen aud) der im kirchlichen 
Gebrauch befinblide Tert zu Grunde gelegt, aber ber 
Grunbtert wurde bod) zu Rathe gezogen. Wenn man 
3. B. ben Gober Teplenfis, welcher wahrſcheinlich beu 
älteften Druden zu Grunde liegt, mit ber Weberfegung 
Luthers vergleicht, fo findet man, daß mande deutſche 
Ausdrüde, melde von ben Eregeten als Eigenthum Luthers 
aufgeführt werden, auf ältere Rechnung zu fegen find. 
Die Literaturangaben find fleißig gemacht, zeigen 
aber begreifliherweife mande Lücden und Ungenauig: 
leiten. So fehlt zum Hebräerbrief Bill, zu den Petrus: 
briefen Hundhaufen, zum Leben Jeſu I. Grimm. Kuhn's 
Leben Jeſu ift mit Adalb. Kuhn eingeführt, Sepp’3 2.4, 
bat die Jahrzahl 1859, Keim’s hat 4 Bände u. A. Aug 
in der Chronologie be8 Lebens Jefu wäre €. 483 größere 
Genauigkeit zu wünſchen, aber bei bem umfangreichen 
Stoff find [olde Dinge unbermeiblid. Im Ganzen wird 
fid gewiß das Buch als funbigen Führer erweiſen. 
Shanz. 





Verzeichniß ber feit Juli 1882 bei der Redaktion ein. 
gelaufenen unb nod nicht bejprodjenen Bücher. 


att, ©. Leitfaden für den Refigiontunterzict | in ben oberen Klaſſen 
höherer Schulen. Jena, 9. Dabiß 1 

Barbenhewer, Ὁ. Die pleubos aiftoteliige Schrift Über dad reine 
gute ac PAR scd Herber 1882. 

ie Wiſſenſchaft betet, Brebigt. teiburg, Gerber 1882. 
$4 eren des Brieſes an Diognet. Freiburg, Herder 1882. 

Vascotti, Clari, Institutiones historiae ecclesiasticae. Edit. IV. 
emendata et aucta a M. Hiptmair. Tom. L II. Vindob. 
Mayer et Comp. 1881. 

Male, : Die innere Entwidlung be8 Pelagianismus. Freiburg, 

erber 1882. 
BBruber, Pet. St. Rupertusblichlein. Dülmen, Baumann 1882. 
Bist ber Kirdenväter. 371—882 Qefden. fempten, Köfel. 
. Die Sürforge ber Kirche für ben Unterhalt bet Geift« 
κε de Paderborn, Schöningh 1882. 

Süiner halbäiiche Grammatik für Bibel und Targumim. 3. Aufl. 
vermehrt burdj eine Anleitung zum Studium de Midraſch 
unb Talmub von Dr. Bernhard Fiſcher. Leipzig, Barth 1882. 

Breviarii Romani editio nova Tornacensis 1882 collata Va- 
ticanse Urbano Papa VIII evulgatae 1632. Tornaci Ner- 
viorum, Desclóe, Lefebre et Soc. 1882. 

€djmibt, βατί, Jus primae noctis, Eine gefchichtliche Unterſuchung, 


reiburg, Qerber 1881. 
, P. Angelo, Die Größe ber Schöpfung. Βιοεὶ Borte 
us bem Italieniſchen von G. Güttler. Leipzig, Biber 1i 
Ωρ, Job. Qanbbud) ber allgemeinen hir d Ar CM 10. Stuff. 
meubeatbeitet von ὅτ. 58. Mai Rupfer 
berg 1882. 
τ ine. aer D Sabes Fi LM i Hii Eos 
nero -} jahrg. I 88r; 
burg, Lue iu $ 5 i i 
Int. Anti wareſe. Heraudgegeben mit einem Xı 
von "Peter Knoodt. Wien, Braumüller 1883. dans 
Bernd. Tagebuch ber unglüdlidjen Schottenkönigin Maria 
Smart während ihres Aufenthalts zu Θίαδροίυ bom 23.—27. Jan. 
1567. Ründen, Lindauer 1882. 


Steichele, Y. v. Das Biethum Augsburg, hiſtoriſch u. ſtatiſtiſch 31. 9. | 
Siugébutg, Schmid 188: 

Corpus scriptorum ἌΤΑΝ icorum latinorum eto, vol. VIII. 
Salviani opp. ed, Pauly. Vindob. Gerold 1883. 

Grifar, Hartın. Galileiftubien. Hiftorifchetheologifhe Unterfuchungen | 
über bie Urtheile ber römihen Gongregationen im Galilei 
proce. Regensburg, Buftet 1882. 

Hentrahe, G. Th. Rea ismus ober SbealiBmu8? Eine erfenntnik 
Xa Stubie zur Begründung bed Letzteren. Leipzig | 

feifcher, 1883. 

Stecher, Chrift. S. 3. Deutiche Dichtung für bie hriftliche Familie 
und Schule. 23—25 Q. Der Erlöfer ober neue Evangelien 
Sacmonie, umgedichtet bon Eprift. Stecher. Gray, Styria 1882. 

Sipfug, Rich. Adalb. Die apofryphen Kpofteigeffichten und Spo | 
legenben. Gin Beitrag zur altchrif pot Literaturgeſchichte I. 
Braunfgtmeig A. Schtwetige und Sohn 1883. 

Apberger, 9. Die Znfonduicteit eim, Biftozifdjebogmatijd bar. 
seite. —— Stahl 1888. 

KRatholiiche Religionslehre für die ftubierenbe Jugend an ben Gm. | 
nafien unb anderen höheren Unterricht8anftalten, mit Sue 
fegung beB Stablbaur’fhen Sebrbudj bearbeitet. 8. Aufl 
Dünen, im tgl. Zentral-Echulbücherverlag 1883. 

Eihultze, lictor, Der ibeofogifdje Ertrag ber Katafombenforfäung | 
Zur Drientitung und zur Abwehr. Leipzig, Jul. Dreſcher 1882. 

Braig, Carl, Tie Zutunftsreliglon des Unbeivußten und bad Prim 
Cip de8 Subjeftiviamus. Freiburg, Herder 1889. 

Brüll, Andreas, Der Hirt be8 Oerma8, nad) Urfprung und Inhalt 
amterfudjt. Freiburg, Gerber 1882. 

Monat Aofen. Organ und Eigenthum des Schweizerifchen Studenten: 
vereind, Ned. von 5B. Fleiſchlin u. Jean Devaud. XXVIL 9b. 
I—IV $. 2ugern, Schill. 

Schriften Rotgers unb feiner Schule. Herausgegeben von Paul 
Piper 1.8. 1, Lief. Einleitung. Vontius. an 2 Soafanitten. 
Freiburg und Tübingen, Mohr (Paul Ciebed) 1882. 

Die Tatoitiäen Mitfionen. Süujtritte Monatfrift. Freib, Herder 


Jungmann, Berat, Dissertationes selectae in histor, eoclesisst. 
tom. III. 1888 Ratisb. Pustet. 
μὴ [1 Mehenreit, beraußgegeben von Dove und Fried: 
—2 9. Freiburg u. Tübingen. Mohr 
ΓΝ po —S 


Lederer, Steph. Die Katechismusfrage der kath. Kirche und ihre 
inde Löfung. Qetau&gegeben bon Karl Leberer. Seh: 


SBirmininsbote, Kath. Volkskalender für 1888, Verlag von fui 
Leberer. dead 

Schueider, Ceslaud, Natur, Vernunft, Gott. Abhandiung über 
bie natüclide Ertenntniß Gotte&, nadj ber Lehre be8 5. Thomas 
τ. Aquin. Regensburg, Manz 1888. 





Biber, 3. Die fanonijden Ehehinderniffe nach bem geltenden ge 
meinen firdjenredjte. ben furatfleru8 in Deutſchland, 
Öfterreich unb ber Schweiz praktifch bargeftelt. 8, Aufl. 
Freiburg, Gerber 1888. 

Dereta authentica sacrae songregationis indulgentiis sacris- 
[e reliquiis propositae ab. a. 1668 ad a. 1882 edita. 

tisbonas, Pustet 1883. 


Theologiſche 


Quartalſchrift. 


In Verbindung mit mehreren Gelehrten 
beraudgegeben 
von 
D. », Auhn, D. v. Himpel, D. v. flober, D. v. £iuftu- 


mann, D. Funk unb D. Zchanz, 
Vrofeforen ber kathol. Theologie an ber ft. Univerfität Tübingen. 





Fünfundfechzigfter Jahrgang. 





Drittes Ouartalfeft. 


Tübingen, 1883. 
Berlag ber 9. Laupp'ſchen Buchhandlung. 


πιά von . Laupp in Tübingen, 








I 
Abhandlungen. 


1. 


Schriftſtellerthum unb literariſche Kritik im Lichte ber 
ſittlichen Verantwortlichkeit. 





Von Prof. Dr. Linſenmann. 





Schlußartikel. 





IV. Rechte und Pflichten ber literariſchen 
Kritik. 


Vielleicht ſcheint es, daß wir nach den voran⸗ 
gehenden Erörterungen eine Genugthuung an die Schrift⸗ 
fteller jdyulbig wären, von denen mir Ausweis über ihren 
Beruf verlangt. Die Billigfeit mwenigftens könnte e8 
fordern, daß mir mun aud) für bie Ehre und bie 
Rechte der Auktoren eintreten gegenüber von zwei feind- 
lichen und unberedenbaren Gewalten, bem Publicum 
nemlich und den Stecenjenten. Die ebelften Geifter ber 
Nation fegen ihr beftes Wiffen unb Können daran, um 
ihrer Mitwelt Schäge darzubieten, und fie ſehen fid) 

24 * 


360 Sinjenmann, 


einem Publicum gegenüber, ba8 wohl für Stich und 
Hieb und jede leije Verlegung ber Volfsmajeftät ἐπι: 
pfindlich, aber für das Edle unb Gute fo wenig empfäng- 
τῷ, ja in Saden des äfthetiichen Urtheils fo gar un— 
zuftändig ift; einem Publicum, weldes wie ein Tyrauu 
fid) feiner Macht bewußt ift, feinen Widerſpruch erträgt, 
geſchmeichelt fein mill, und, mas man ihm bietet, als 
ſchuldigen Tribut anfieht, wofür e8 feinem Dank gibt. 
Wenn das Publicum nur menigftens bem Auftor eben- 
bürtig wäre! Aber ε ift ja urtheilsunfähig, fteht tief 
unter ihm, ift ein ſchwer beweglicher Koloß, befjeu Bafis 
und Schwergewicht der Pobel ausmacht; e8 Dat feine 
Grundfäge, feinen. Geihmad, jondern nur Launen; e8 
erhebt und preist das Mittelmäßige und Gemeine, und 
verfhmäht das Edle und Große, unb rubet nift, bis 
e8 aud) bie hochftrebenden Geifter verborben und ermie- 
miebrigt hat, daß fie ihre Sachen ſchlechter maden, als 
fie fónnten. Lope de Vega äußerte fid) einmal über 
feine fehlerhaften Komödien: „Ich weiß und befenne, 
daß meine Stüde Fehler tiber die Regeln haben; aber 
id made fie defienungeadtet jo, weil man jegt gute 
Werke ausziſcht und ſchlechte erhebt.“ 

Und in biefem Publicum befteht num mod eine 
eigene Zunft, melde e8 barauf ablegt, dem Schrift- 
fteller ba8 Leben ſchwer zu machen, das find die Res 
cenfenten, von denen man noch milde rebet, wenn man 
fie nur mit jenen Gäften vergleicht, meldje wohlleben an 
der Tafel des freigebigen Gaftfreundes und, wenn fie 
gejättigt find, mit Tadel und Spott lohnen. Welcher 
Schriftfteler hätte fij micht über bie 9tecemjentem zu 
beklagen! Sollte man nicht eher bie Auftoren in Schuß 


Schriftſtellerthum und literariſche fitit. 361 


nehmen, anftatt gar.-den Recenſenten einen Pla über 
jenen anzuweifen? Sollen wir biejenigen, welche im 
Bewußtſein ihres Könnens und ihrer Pflicht zur Feder 
greifen, an bie Saunen be Publicums und feiner Worts 
führer, der Recenfenten, ausliefern? 

Aber bie Auftoren können e8 ja faum erwarten, 
bis fie Recenfenten finden, fie bewerben fid) um bie 
Gunft derfelben; fie zürnen, wenn fie fid) nicht zeigen 
wollen. Und leicht wird den legteren ihr Gefchäft aud) 
nicht gemadjt! Das ift fein Amt, das man blos aus 
müffiger Laune treibt; hart geldymiebet wie ein Ambos 
muß der fein, der am gewerbsmäßigen Recenfiren Freude 
bat; er muß gefeit fein und eine Drachenhaut haben, 
um alle die Pfeile oder Stöße unbefriedigter Auftoren 
und ihrer Parteigänger auszuhalten. 

Das SBerbültni zwiſchen Schriftftelern und ihren 
Kritikern bietet mande belehrenden Einblide in das 
verborgene Seelenleben bar. Warum begegnet man mehr 
jüngeren als älteren Stecenjenten? Warum find bie 
älteren im allgemeinen ſchonender und milder, die jünge- 
ten genauer unb fivenger? Dieb erklärt fid) daraus, 
daß e8 immer noch günftiger ift, Auftor,-ald Recenſent 
iu fein; der Auktor findet fchließlich immer nod) einen 
wohlwollenden und billigenden Recenjenten ; ein ftrenger 
Kritiker aber erhält den Autor jelbft, alle beffen Freunde, 
und im ganzen aud) das große Publicum zu Feinden. 
Denn diejenigen, welche die öffentliche Meinung machen, 
wollen feine vollendeten Werke und find leicht mit Waaren 
äufrieden geftellt, welche ein gründlicher und fachmänniſch 
gebildeter Beurtheiler nicht billigen Tann; bie große 
Menge erblickt Vorzüge, wo das geübte Auge be8 Kenners 


362 Linfenmann, 


duch Mängel verlegt wird. Die Menge läßt fij im- 
poniren von der Maſſe des Dargebotenen und fhägt 
mehr die Quantität als bie Qualität; das Publicum 
ift im allgemeinen von gröberer Eonftitution und erträgt 
vieles, wogegen ein empfindliches kritiſches Gewiſſen 
teagitt. Dieß trifft befonders zu, too das äfthetiihe 
Empfinden in Frage kommt; bie große Menge wird von 
Geſchmacksurtheilen beherrſcht, die bem feiner gebildeten 
Sinne Zwang anthun. Wie wenig wird bod) auf un 
ſerem heutigen literariſchen Markte bie eigentliche Schön⸗ 
heit ber Rede, der Geſchmack der Darftellung, bie Fein- 
beit der Geftaltung, bie Bornehmbeit ber Form geſchäht 
und gewürdigt! Der Kritifer, melder im biejer Be 
ziehung Anfprüde macht, verfält dem Scherbengeridt, 
weil man bei der allgemeinen Verwilderung des Styls 
feine Forderungen nicht mehr verfteht. 

Im Smeifelfalle ift die Stimmung zu Ungunften 
des Recenfenten, weil man e8 ibm übel nimmt, wenn 
er ettoa8 befjer wiſſen will, und weil, mie man zu fagen 
pflegt, ba$ Tadeln immer Leicht ift. Der Mahner und 
Tabler, der Anderen Fehler nachrechnet, wird geflohen 
wie bas böfe Gewiſſen, und ftebt bod) immer brofemb 
im Hintergrunde, 

Wenn dann ettoa bem Stecenjenten jelbft ein Irr⸗ 
thum begegnet, er ein Wort zu viel jagt ober gu wenig, 
fein Auge ihn getäufcht oder eine literariſche Notiz ihn irre 
geführt hat, fo fallen die Schläge, Reclamationen, Anti 
kritiken, Streitfchriften fo wuchtig gegen ihn herein, dab 
die Stellung deſſen, ber von Berufswegen Kritiker ifi, 
von Keinem beneibet zu werben braucht. Wer in biejem 
Felde ſchon gedient und feine Erfahrungen gefammelt 


Schriftftelertfum und literariſche Kritik 363 


und feinen Lohn von ben Auftoren eingeerntet Dat, bet 
fent fid) früher, als es jonft im Berufsleben zu ge- 
ſchehen pflegt, nad dem Stubeftanb, legt ben Rothſtift 
nieder, und überläßt bie Aufgabe jüngeren unb muthi- 
geren Kräften; ober wenn er mod) zumeilen eine Klinge 
[lagen möchte, fo gibt es flache Hiebe. Die Biene hat 
den Stachel eingebüßt und ift zahm geworden. 

Aus dem Gefagten erklären fid) mancherlei Klagen 
über ba8 Recenfionswefen, bie an fid) nicht ganz unber 
rechtigt find. Es ift auf bem erſten Blick ein Mifver- 
hältniß, wenn, toie e8 oft genug der Fall ift, der Schüler 
über denMeifter, der Anfänger über den gereiften Mann 
zu Gericht fit, und temm Dilettanten oder literariſche 
Streber den Männern von Fach und Beruf vorſchreiben, 
maß fie hätten leiften ſollen; e8 jcheint dann wirklich 
fo, als ob bie jugendlichſten, unveifften und unerfahren- 
fen Kritiker die anſpruchvollſten und unbejdeibenften 
Tadler wären; und von da aus füllt Unehre auf den 
Stand der Kritiker überhaupt. 

Go wenig wir nun folgen Klagen jebe Berech⸗ 
tigung abſprechen und jeden Fehlgriff im Siecenjenten- 
weſen — in eigener oder fremder Gad — leugnen 
oder beſchönigen möchten, fo wenig Tönnen wir unà bod 
einfeitig nur auf den Standpunkt der Auftoren ftellen und 
über bie ganze Angelegenheit nur mit dem gewöhnlichen 
bie Recenfenten verurtheilenden Achſelzucken hinweggehen. 

Vielmehr behaupten wir auf das entſchiedenſte, daß, 
fo wie unfere ſchriftſtelleriſchen Verhältniſſe beſchaffen 
find, die Kritiker ben Auktoren gegenüber im Nachtheile 
ſtehen und um ihr Recht und ihren oben Beruf ftreiten, 
und darum gilt unfere fernere Unterfuchung in erfter 


364 Linſenmann, 


Linie dem Rechte, und erſt hernach den Pflichten 
der literariſchen Kritik. 


1. 


(δ endet ſelten ein Prozeß, in welchem beide Par⸗ 
teien mit dem Spruche bes Richters zufrieden find; ber 
Berlierende will nicht Unrecht haben, eher Unrecht leiden. 
So glaubt jeder Schriftfteller, aud) too er weiß, daß er 
Viele gegen fid hat, im Rechte zu fein, meift ohne zu 
beachten, daß er, gerade indem er feine Gebanfem und 
Studien publiei juris gemacht, nun eben aud ber 
Sejetoelt ein Recht eingeräumt hat, bie ihr bargebotene 
Frucht zu verfuhen und ſchmachaft oder unfhmadhaft 
zu finden. Und das Sprachorgan ber Lefewelt, das 
find bod) bie Kritiker, ob fie mun höher ftehen mögen 
als bie große Menge oder nicht. 

Dbne Kritik verfehlt bie fhrifftelleri 
ſche Arbeit ihres erften Bieles, bet Deffent 
lidfeit Was dem Maler bie Kunftausftellung, das 
ift bem Schriftfteller das Tritiiche Journal. Den Dienft, 
ben einem 9[uftor der Stecenjent leiftet, Tann ihm in 
gleicher Weife oder mit gleicher Wirkung feine andere 
Art der Publicität, nit bie Infertion und nicht bie 
buchändlerifche Reclame, leiften. Durch ben Recenfenten 
ετῇ fommt ber Name bes Schriftitellers zur Geltung; 
dieß wiſſen bie legterem wohl, und räumen bamit fe[bft, 
ſtillſchweigend, toibermillig, mit flopfenbem Herzen, bem 
Kritiker fein Recht ein. 

Sodann ift ja der Verfaſſer eines Schriftwerkes in 
feiner Art felbft aud) Kritiker; er weiß Befleres als 
bie Anderen, als bie Früheren, er fegt fi) mit ihnen 





Schriftſtellerthum und literariſche Kritik, 365 


auseinander, ftellt Meinung gegen Meinung, Gründe 
gegen Gründe, man muß bagu die Erlaubniß gegen- 
feitig erbitten und gewähren. Er fordert jelbft auf, daß 
bie Schiedsrichter fid) melden, um zu ſcheiden zwiſchen 
ihm und den Anderen. So erhält die Kritik ihr objef- 
tives Recht. 

Endlich iſt nun einmal nicht zu beſtreiten, daß die 
in einem Werke niedergelegten Ideen, Anregungen oder 
Andeutungen ihre rechte Wirkung erſt erhalten durch die 
Discuſſion oder literariſche Erörterung, wodurch erſt eine 
allſeitige Betrachtung eingeleitet, der dunkle Ausdruck 
richtig geſtellt, bie Gefahr ber Täuſchung und des Miß- 
verftändniffes zerftreut und aus bem Wirrfal der Worte 
ber rechte Kern erhoben und herausgefhält wird. Die 
Kritik muß mandem neuen Gedanken erft auf bie Beine 
helfen und bem Auftor zu meiterer Erplication Anlaß 
und Gelegenheit geben; hat fid) einmal eine Stimme laut 
vernehmen laſſen, jo werden al3bald wie beim Erwachen 
des Morgens im Walde weitere Stimmen tad; ein 
Ruf wet den andern und gibt ihm Antwort, fo ent 
ftebt Schall auf Schal dur die Welt Din, in welcher 
der Auftor vernommen werden will; wahrlich biejer 
verbanft oft einem Stecenjenten mehr al8 er weiß und 
mehr als er verdient! 

(8 gibt freilich überall Schriftfteller, bie e8 am 
liebften mit Jean Paul hielten, der einmal den Bor: 
ſchlag machte, e3 follte „eine Compagnie waderer Autoren 
von einerlei Grundfägen und Lorbeerkränzen zufammen- 
treten und fo viel aufbringen, daß fie fid) ihren eigenen 
Recenſenten bielten, ihn ftudiren ließen und falarirten,“ 
matürlid) unter ber Bedingung, daß derjelbe nun alle 


366 Linſenmann, 


ſeine Brodherren „ſtreng aber unparteiiſch“ beurtheilte. 
In der That beſtehen ſolche Gelüſte da und dort, und 
man fünnte von Leibrecenſenten mie von Leibſchneidern 
und von Leibhufaren reden. Doch mollen mir bier 
nicht auf die weniger ehrenvollen Seiten unferer moder- 
nen Preffe eingehen, fondern trot allem und allem das 
Beflere glauben und der fritif ihr Recht wahren; mir 
halten immer noch dafür, daß bie Zahl derer, bie e& 
ehrlich meinen, größer [εἰ als derer, bie in gröberer ober 
feinerer Weife ihre Federn den Auftoren oder Verlegern 
Tüuffif machen. 

Daß e8 Kritiker gibt, dieß hält, wie bie Erfahrung 
lebt, die Schriftfteller nicht ab, zu arbeiten und zu 
ſchreiben; aber bie Rüdfiht auf die Kritiker, oder, was 
daſſelbe ift, wenn man es ſchon anders nennt, bie Scheu 
vor ber Deffentlichkeit nöthigt ihnen Behutſamkeit, 
Orünblidfeit und menigftens leiblid) gute Form auf, 
ſchärft das Gewiſſen und läutert den Gejdjmad; oder 
too von beidem Feines zutrifft, da waltet bie Kritik ihres 
hohen Amtes, wenn fie ben Schriftfteller moraliſch mund⸗ 
tobt madt und feinen Werken ein Grab gräbt. Den 
Kritikern tout ſolches zuerft wehe, unb erft Detnad) beu 
Auftoren. (δ ift feine Luft, Bücher zu lefen, bie nicht 
gut find, und mod) meniger verwerfende Urteile zu 
Tpredjen, welche ihre Spite ebeujo rüdwärts auf den 
Richter als vorwärts gegen den Gerichteten kehren; „wer 
auf Geifter ſchießt, trifft fij"; man follte darum bie 
Männer ehren, melde den moralijden Muth haben, der 
Wahrheit aud) in biejer Form Öffentliches Zeugniß zu 
geben und dafür einzuftehen. Wenn man aber einmal 
bie Einrichtung als folde mil, fo darf man fie nidt 





Sqriftſtellerthum und literariſche βίη, 367 


wieder verwerfen um folder Mängel willen, melde von 
menſchlichen Einrichtungen mum einmal nicht ganz zu 
trennen find. 

Wie nun aber, wenn man fid) wohl das Ge- 
rift, aber nicht den Richter gefallen läßt? Wenn bet 
Shriftteller wohl das Recht ber Kritik im Grundfage 
anerkennt, aber gerade dieſen ober jenen unter feinen 
Richtern ablehnt? Muß nicht der einzelne Kritiker vor 
allem fein Recht bocumentiren, damit man fij feinem 
Urtheil unterwerfe? 

Die Antwort, welche auf foldje Fragen am nächſten 
iu liegen jdjeint, erweist fid) in Wirklichkeit felten als 
ganz zutreffend und entjdjeibenb. Man möchte nemlich 
vorausfegen, daß Keiner ein Richter in einer Sache fein 
könne, in meldet er fid nicht eine fidere Weberlegen- 
heit über dem gegnerifchen Theil zufchreiben bürfe; denn 
nur wer bie Sache wirklich beſſer weiß, foll corrigiren. 
Es ift ja ganz natürlich, daß ber Verfaffer eines Buches 
verlegt wird burd) eine feriti, mo er fid jagen darf, 
daß gerade er und Fein Anderer jene Forihungen und 
Detailarbeiten aufgemenbet, welche über einen Gegen- 
fand neues Licht verbreiten fóunen. Hatte ex vielleicht 
manches Jahr feines Lebens daran gefept, um neue 
Quellen anzubohren, ba8 verworrene Material zu fichten 
und das Gange zu einem Kunftwerfe zu geftalten, fo 
ift es ihm ſchwer, fid) unter einen Stecenjenten zu ftellen, 
der vielleicht erft durch ba8 eben gelefene Buch von dem 
Gegenftand der Abhandlung Kunde empfangen hat. Das 
Werk von Jahren und Jahrzehnten fol derjenige zer⸗ 
lagen dürfen, ber faum in den Anfängen [teft und 
noch bie Schalen be8 Gie8 an fid) trägt, aus meldem 


368 Linfenmann, 


ihn bie künſtliche Wärme der Schulftube ausgebrätet! 
Es ift ja gewiß wahr, daß ber Verfaffer felbft und 
vielleicht allein die befte Erflärung feiner geiftung geben 
Tann, und daß er e8 mit Vorbedacht und aus guten Grün: 
ben wird getan oder unterlafien haben, wo ber Stecen- 
Tent etwas zu viel ober zu wenig findet. Unter zwan⸗ 
sig Einmwürfen, jagt Leffing, wird ber Auktor fij 
von neunzehn erinnern, fie während der Arbeit fid) felbft 
gemadt zu haben. Er felbft Dat mit fchärferem Auge 
geſchaut, al8 jeder dem Gegenftand ferner Stehende. 
Alfo mur wer ivirklic etwas Befleres zu fagen weiß, 
wer ein wirklicher Kenner ift und 9[uftoritát Dat, follte 
richten dürfen! 

Die Forderung hat gewiß ihre Berechtigung, bof 
fid) ein Kritiker über feine guftánbigfeit, in einer Frage 
mitzufprehen, ausmeife, und darum erjegen meilt 
jüngere Recenfenten burd) ausführlihere Nachweifungen, 
was bie älteren an wiſſenſchaftlicher Auftorität und an 
Gewicht ihres bloßen Namens voraus haben. Aber jene 
Forderung darf nicht zu meit geben, wenn nicht das 
ganze literariſche Weſen in Stilftand fommen foll; das 
Höchfte läßt fid) nun einmal, fo wie bie Dinge zwiſchen 
Auftor und Publicum beſchaffen find, nicht erreichen; 
und e8 ift aud) nicht nothwendig. Der Schriftfteller 
felbft feßt ja gerade burdj feine Arbeit den Genfor in 
ben Stand, fid) ein Urtheil zu bilden; er bietet ihm 
Nahrung, damit er davon fofte, er führt ihm felbft zu 
ben Quellen und in die Werfflätte des Forſchens und 
Prüfens, und fegt ihn in den Stand, feinen Wegen 
nachzugehen, zwar geführt oom Auftor, aber nicht noth: 
wendig geblenbet bom bem neuen Glanze, in melden 


Schriftſtellerthum unb literariſche Kritik, 369 


dem Verfaſſer felbft feine Cntbedungen ftrahlen; und 
endlich drückt der Schriftiteller auf ben von ihm beherrſch⸗ 
ten Stoff den Stempel feines Styles, unb e3 muß er- 
laubt fein, denfelben zu prüfen. Um eine Münze zu 
prüfen auf Echtheit oder Fünftlerifhen Werth, braucht 
man nicht felbft Goldſchmelzer oder Alchymiſt zu fein; 
der Verfertiger Dat die Arbeit vorgethan, bie Anlegung 
be8 lapis lydius ift von der Technik des Münzmeifters 
unabhängig. 

Zum Glüd Dat fid) bie Kritit nod) nie babutd) ab- 
ſchrecken laſſen, daß bie Schriftfteller mit vorne)mem 
Selbftgefühl bie Gompeteng der fritifer anfedjten. In 
Wirklichkeit Tann fid) bie Kritif nach zwei Richtungen 
bin geltend machen. Im einen Falle weiß fie eigentliche 
Fehler aufzuweilen, wie irrthümliche Angaben, Süden 
im Beweismaterial, mangelnde Bündigfeit im Schluffe 
vom Großen auf das Kleine oder vom Kleinen auf dag 
Große oder vom Allgemeinen auf ba8 Befondere und 
umgefehrt. In biejer Hinfiht ſchützt den vornehmſten 
Verfaſſer eines Werkes weder Fleiß mod Scharffinn 
mod) die Zuverſicht in feine Geſchicklichkeit oor thatſäch— 
lihen Irrthümern, und es hat fdjon manchmal ein ganz 
gewöhnlicher Bachkiefel wie jener au8 ber Schleuder des 
Hirtenknaben David einen ftolzbewehrten und gepanzer 
ten Rieſen niedergeftredt. Die Detailarbeit unb bie 
fortgefegte ausfchließliche Beſchaͤftigung mit einem Gegen⸗ 
ftanbe ſchützt nicht immer gegen Ginjeitigfeit und Vor⸗ 
eingenommenheit, und Mander ſchon hat bei dem Stre⸗ 
ben nad allen Höhen und Tiefen das Nächſtliegende 
nicht gefehen; einem fonderbaren, vielleicht geiſtreichen 
Einfalle zu lieb werden Quellen mißhandelt, Thatſachen 


370 Linfenmann, 


verzerrt; die Luft am Widerſpruche gegen die Leiflungen 
der Vorgänger verleitet oft zu einem gemagten Spiele, 
und indem der Verfaſſer eines Buches mit Fingern bar 
auf hindeutet, wo er glaubt, Neues oder Großes ge- 
leiftet zu haben, macht er e8 bem Stecenjenten. vieleicht 
mebr al8 bequem, bie verwundbare Seite zu entbeden 
und die Sonde anzulegen. 

In einem anderen Falle aber handelt e8 fid) beiber- 
feitig um fubjeftioe Urtheile, Meinungen und Anfichten, 
Fragen des Geſchmacks oder ber perſönlichen Neigung 
und Stimmung; in foldem Falle will dag Urtheil Feine 
Verurtheilung fein, es werden Meinungen gegen Mei- 
nungen geftellt und Gründe gegen Gründe oder Empfin- 
dungen gegen Empfindungen; mehr will der Kritiker 
nicht, als die Discuffion in Fluß bringen und bas End» 
urtheil Anderen, einem weiteren Freundes⸗ oder Lefer: 
kreis anheimftellen. 

Damit kommen mit auf einen anderen Punkt, der 
über bie Rechte beider Parteien gleihmäßiges Licht zu 
verbreiten unà geeignet bünft. 

Das Urtheil über eine Schrift, fo wie 
baffelbe fid in ber Deffentlidfeit enbgil 
tig feftíegt, hängt nie von einem Manne 
allein ab. Wir meinen dieß nicht blos in bem Sinne, 
daß e8 ber Kritiker, berufener ober unberufener, viele 
find, fo daß in mandem einzelnen Falle Einfeitigfeiten 
fid) ausgleichen und bie Urtheile fid) ergänzen; auf einen 
bitteren Kelch, ben der Eine bem Verfaſſer zu fofteu 
gibt, folgt auch wieder eine füße Gabe, auf den Aerger 
ein Troft; eine Erſcheinung, bie darum nichts am ihrer 
Bedeutung verliert, daß fie dem Recenſententhum mit 





Schriftſtellerthum unb literariſche Kritik. 371 


immer zur Ehre gereicht. Was wichtiger ift, das liegt 
darin, daß regelmäßig der Stecenjent ſelbſt nicht blos 
feine einzelne Perfon und fein ſubjektives Dafürhalten 
einzufeßen bat, jondern daß er eine Dedung hat, indem 
er wohl momentan aus ber Reihe eines größeren Gans 
gen bernortritt und für baffelbe dag Wort führt, bie 
Berantwertung aber mit bemjelben theilt. Iſt e8 ja 
bod) ein altes Herfommen, daß fij der Einzelne unter 
bem €dug ber Anonymität fielt, nibt wie wenn 
et aus einem Hinterhalte treffen wollte, fondern weil 
er nicht mit bem Anfprudy auf perſönliches Anjehen aufs 
treten mag. 

Man kann gegen ben Brauch, ſchriftſtelleriſche Ar- 
beiten und beſonders kritiſche Referate mit Verſchweigung 
des eigenen Namens zu veröffentlichen, mancherlei ge 
wichtige Bedenken erheben, und im allgemeinen geht ber 
Zug der Seit in Sachen des fehriftftelleriihen Verkehres 
und Rechtes dahin, baB man nit mit gefchloffenem 
Viſir gegen einander trete, jondern ben Muth be8 per- 
ſonlichen Wagnifjes habe. Es läßt fid) namentlich nicht 
beftreiten, daß e8 etwas Unangemeffenes und Unbilliges 
bat, wenn auf ber einen Seite die Perfon des Schrift: 
ſtellers dargegeben wird, während die Perfon des Geg- 
ners fid) dem Angriff entzieht und fid) Hinter einen All⸗ 
gemeinbegriff ohne verwundbare Korperlichkeit zurüd- 
sieht; es ift ein ungleiher Kampf; uns [dint bie grs 
fere Chrenhaftigkeit auf Seiten derer gefunden zu wer: 
ben, deren Devife lautet: Hostibus haud tergo, sed 
forti pectore notus. Die Träger der Bildung follten 
nicht hinter den Tartaren zurüdftehen, von denen man 
erzählt, baB fie auf ihre Pfeile ihren Namen ſchreiben, 


372 Linfenmann, 


damit man toiffe, von mem fie abgejenbet feien. An fi 
aber hat der Gedanke mod) immer eine gemifje 3Bered)- 
tigung, daß für bie Bedeutung einer Publication und 
namentlich einer fritijdjen Arbeit nichts au dem Namen 
bes Einzelnen, alles vielmehr an bem Anfehen derjenigen 
gelegen fei, melde dem Einzelnen zum Ausbrude ver- 
belfen, ihm bie Spalten eines publiciſtiſchen Organes 
öffnen und damit bie Verantwortlickeit für feine Arbeit 
übernehmen. In foldem Falle erhält der Namenlofe 
Anfehen von ber Körperfhaft, deren Stimme er zu 
führen ermächtigt wird. Der Kritiker ift alfo nicht 
Einer allein. 

Eine andere Gepflogenheit, bie in ähnlicher Weiſe 
wie die Anonymität Manchen aus ber Lefewelt [don 
Aergerniß bereitet Dat, liegt in bem fohriftftelerifchen 
„Wir“, welches fid fo großmächtig aufpflanzt, too bod) 
mut Einer fij ausſpricht. Ein Majeftätsplural wird 
das bod) nicht fein wollen, denn zu foldem Stolze be. 
rechtigt und wahrlich nichts; was wir leiften, ift bod) 
wohl immer nod) weniger al8 toa8 wir find, und um 
das auszudrüden, was wir find oder ung zu fein bünfen, 
bebarf e8 Feiner Mehrzahl, Andere nennen den Ge- 
braud) be8 „Wir“ Beicheidenheit und ziehen e8 dem 
anfpruchsvollen und fury angebunbenen „IH“ im Munde 
des Schriftftellers vor. Die Wahrheit ift, daß felten 
ein Schriftfteller ganz allein ſtehen und nur feine fub. 
jeftive Eigenart und Weberzeugung ausfprechen will; 
alle anderen fühlen fid) als Glieber eines Ganzen, als 
Mandatare einer Partei ober einer Richtung Es ift 
Beſcheidenheit und ein Gefühl ber Sicherheit zugleich 
in dem „Wir“ enthalten, vorausgejegt, daß man wirklich 





Schriftftelertgum und literariſche fitit. 373 


ein Recht habe, im Sinne oder im Namen von Meh- 
teren oder Vielen zu fpredjem. Der Plural, oder bie 
Deckung des Einzelnen durch eine Mehrheit, kann eine 
reale oder eine mur ibeelle Größe fein. Im erfteren 
Falle lehnt man fid) an eine Körperihaft, ein mit ge- 
wiſſem Anfehen ausgeftattetes Organ, eine Zeitung oder 
Beitidrift, am eine gelehrte Societät an, im andern 
Falle fühlt man fij als Vertreter eines Standes und 
feiner Ehren und Interefien, und ſchöpft von ba aus 
ein Urteil, welches ins Gewicht fällt, meil e8 einen 
feften Standpunkt vorausfeßt. Viele Dinge laffem eine 
ganz verſchiedene Betrachtung zu je mad) bem Stand- 
punkte, von bem aus fie in das Auge gefaßt, oder je 
mad) ben Bweden, denen fie bienflbar gemacht werden 
jolen; e8 ftehen fid) gegenüber die Betrachtungsweiſe 
des Philofophen und bie be8 Theologen, des Moraliften 
und des Juriften, des Theoretiter3 und des Praktikers, 
des Jpealiften und des in Amt und Brod ftebenben 
ober batum vingenden Stealiften. In biejer Divergenz 
der Standpunkte Liegt nicht etwa ein Ausſchließungsrecht, 
fondern vielmehr gerade ein Recht, aud) vom entgegen 
gejegten Poften aus ein Wort mitgureben; ber Realift 
foll dem Sjbealiften, der praftiihe Schulmann dem Ctuben- 
gelehrten, der Geſchichtsforſcher dem Staatsmanne von 
feinen Anfichten und Anfprüchen reden dürfen; und δας 
raus folgt, daß e3 nicht immer nur bet ebenbürtige 
Fachgenoſſe fein muß, der befähigt ift, zu recenfiren 
und kritiſche Winke zu ertheilen; das „Wir“ fällt in 
das Gewicht. 

Im ganzen aber geftehen wir e zu, e8 folle 
Keiner fid über ben Andern zum Genfor 

Spe. Ouartalfigeift. 1889. Heft IIL 25 


514 Linfenmann, 


aufmerfen, berfid) nidt bar&ber ausmweifen 
Tann, baf er aud) felbft etwas gu leiſten ver: 
mag, was fid der Öffentlichen Beurtheilung 
preisgibt; bie hierin liegende Gegenfeitigkeit entipriht 
ber Gerechtigkeit, ber humanen Sitte und Mäßigung in 
den Smfprüden; man lernt den Gegner befier achten 
und Fehler leidter verftehen und ent[djulbigen, wenn 
man bie fchriftftelerifche Arbeit mit al ihren Paffionen 
und Aufregungen, ihren Tüden und Jlufionen aus 
eigener Erfahrung fennen lernt. 

Doch begegnet und hier eine Klippe, auf melde 
aufmertjam gemacht werden muß, weil fi aus ijr 
Uebelftände im ſchriftſtelleriſchen Gebanfenaustaujde et: 
geben, melde fi gang fchreiend bemerklich machen, zu 
deren SBejeitigung aber Alle fid) ſcheuen Hand anzulegen. 
Die Gegenfeitigleit, von ber wir oben [pradjem, erzeugt 
eine Art von Gollegialitát, aus teldjer Sympathie oder 
Antipathie, freundſchaftliche ober feindfelige Nebenbuhler- 
ſchaft entfteht, fo baf bas Urtheil entweder burd) Liebe 
oder durch Haß beftoden und gefüljdjt wird. Fir das 
ſchreiendſte Unweſen auf biejem Gebiete kann man Ad 
die Augen nicht mehr verfchließen;; e8 gibt Bündniſſe 
zu Shug und Trug, gobajfecutangem, um 
andererfeits ἔτ εἰ ὦ ἐ Hinrihtungsftätten. Aber 
qud) im Heineren Maßftabe begegnen uns monde ft 
lich bebenflide Erſcheinungen. Da haben wir einen 
Schriftſteller, der e$ motpmenbig hat gelobt zu toerben, 
und darum muß e8 einen anderen geben, welder ihn 
lobt, denn man muß leben und leben laſſen. Ange: 
hörige einer Gorporatiou oder Congregation, Mitarbeiter 
an einer Zeitſchrift vecenfiren, b. h. fie loben fid) gegen: 


Schriftſtellerthum und literariſche Kritik. 375 


ſeitig und erzwingen fomit als eine geſchloſſene Macht, 
von welcher man Widervergeltung zu fürchten hat, aud) 
von Anderen und ferner Stehenden Anerkennung oder 
wenigſtens Stillſchweigen; fie erzeugen künſtlich, was 
mon öffentliche Meinung und [doriftftelleriide Reputation 
nennt, unb zwingen am Ende aud) bie SBiberfirebenben 
in ihren Bann, weil e8 immer nur Wenige gibt, bie 
bem Baal das Kniee nicht bengen und welche fid) nicht 
burd) bie jeweilig gebietende Macht imponiren lajfen. 
Aber mit blos burd) Liebe, fondern aud buch 
Haß wird das Urtheil beftoden. Die Gelehrten ver- 
zeihen einander ihre Fehler am alleriwenigften, und wenn 
das Auge durch Haß und verlegte Eitelkeit geſchärft 
nah Fehlern fpäht, ba taucht fid bie Feder in Galle 
und bie Rede toirb bitter. Die Waffe bes verlegten 
Gelehrten ift eben ber Rothftift und bie Feder; und 
tud im Haffe macht fid) die Macht der Partei geltend, 
die fid) ein Schriftfteller zur Feindin gemacht hat. 
Aber alle bieje Mibftände, bie im einzelnen zu 
ſchildern nit unfere Abſicht fein Tann und bezüglich 
derer wir nur jagen können, daß innerhalb und aufet- 
halb bet Mauern Ilions gefündigt wird, Tönnen bem 
geundfäglichen Rechte feinem Eintrag thun. Das Recht 
ber Gegenwehr ſteht ſchließlich aud) dem ungerecht Ge- 
kränkten zu. Daraus daß die Kritik nicht unfehlbar und 
mit immer unparteifch ift, folgen zwar viele Uebel in 
ber literariſchen Welt und berechtigtes Mißtrauen gegen 
ausſchweifendes Lob wie gegen allzu herben Tadel; aber 
wir müffen diefe Ercefie doch immer nur zu ben Aus- 
nahmen rechnen. Die Kritil leitet ihr principielles Recht 
«u$ unverrädbaren Principien ab, und mer ein be: 
25 * 


376 Linfenmann, 


rufener ober unberufener Kritiker jei, ba8 kommt zeitig 
genug an ben Tag. 


2. 


Auf breiteren Spuren fóunen wir wandeln, wenn 
wir num im weiteren von den Pflichten ber literati 
ſchen Kritif veben. Denn wo es gilt, den Stebenmeniden 
ihre Pflichten vorzutragen und madjgutoeijeu, da wird 
bie menjdlide Zunge doppelt beredt. Nur fürchten wir, 
daß e8 auch hier vielerlei Zungen und vielerlei Geift 
gibt, und daß eine Angelegenheit, im welcher gar fo 
Viele das Wort ergreifen, baburd) nicht am Klarheit 
gewinnt. Was Dielen felbftverftändlich ſcheint, das ift 
darum uod) nidjt das Richtige, unb wenn zu einem 
Biele ein breiter Qeermeg führt, jo folgt daraus mum 
bod) nit, daß Alle bie dorthin kommen wollen, nur 
auf bem breiten Wege behaglih und bequem wandern 
müſſen, und daß e8 feine erlaubten Geitentege und 
fürgenbe Fußpfade gebe. olde Gedanken fließen dem 
Verfaſſer biejer Blätter auf, als er bei einer Umſchau 
nah dem, was mohl berufsmäßige Schriftfteller und 
fuitifer von ben Principien und Obliegenheiten bet 
Kritik zu fagen müßten, eine Abhandlung zu Geſicht 
befam, die ihm ganz aus der Seele geſprochen war und 
die dennoch, afabemijd) correft wie fie ift, in der Ans 
wendung auf bie thatſächlichen Verhältniſſe mehrfache 
Einſchränkungen erleiden muß. 

Der angefehene frangófilde Gelehrte Uly ſſe Che— 
valier, auf deſſen unten verzeichnetes Schriftchen 1) 


1) De l'utilité et des conditions de la critique d’erudition. 


Schriftſtellerthum und literariſche Kritik. 377 


τοῖς hiemit Bezug nehmen, hat im engeren Sinne bie 
wiffenfhaftlide SBevidterftattung im Auge, 


Lettre à M. Cazajeux, Directeur des Lettres chretiennes, par 
Ulysse Chevalier, chanoine honoraire de Valence. Lille- 
Bruges 1880. — Der Auffag erſchien zuerſt in ber Zeitſchrift 
Lettres chretiennes, 1880, 1. $. als eine Art von Programm 
über bie Grunbfäge, welche für ben fritijjen Theil ber Zeitſchrift 
maßgebend fein folle. Ὁ. Chevalier beginnt mit ber Frage: 
Behauptet inmitten ber toiffenjdafttiden Thätigteit, toeldje unferer 
Bit (in Frankreich) eigentbümfid) ift, bie katholiſche Welt wilrdig 
iren Platz? Iſt man genötigt, ernſtlich mit ihr zu vechnen in 
allen Stveigen dev gelehrten Arbeit? Machten wir, oder machen 
τοῖς jet, Jeder in feinem Wirkungskreiſe, jene Anftrengungen, um 
unfeen Anteil zu ber gemeinfamen Summe ber Forſchungsergeb⸗ 
niffe beizutragen? Er will als Antwort auf bieje Fragen in lauter 
füage ausſprechen, was im ftillen viele feiner Mitbrüber benfen: 
»Il y a bien des points faibles et des lacunes dans notre vie 
intellectuelle (pag. 4). Es gibt mande ſchwache Punkte unb 
Süden im unjerem geiftigen Leben! Man fei, meint Ch., zurück-⸗ 
geblieben, indem man fid daran genügen laſſe, bie Werke ber Alten 
aufzufriſchen; neu [εἰ daran in ber Regel nur bie oratorijde Am⸗ 
Hifiention. Was kirchliche Wiſſenſchaft betrifft, [o ift Ch. geneigt, 
unfere Zeit das Jahrhundert der „Wiederabdrude” zu nennen; 
und zwar fo, baB bie von Katholiken veranftalteten SBieberabbrude 
wenige ober gar feine Zuſätze und feine ober bedeutungsloſe Ver⸗ 
befferungen enthalten. Selbft 9556 3Rigne, bejfen SBerbienfte in 
hoöchſten Ehren bleiben, biete in feinen hunderten von Bänden bei—⸗ 
nahe feine nicht zuvor ſchon herausgegebenen Zerte, unb geftehe ed 
offen, daß e8 ifm eben an intelligenten unb ffeiBigen Mitarbeitern 
hiezu gefehlt Habe. Einen Hauptgrund aber des Niederganges ber 
Yatholiichen Gelehrjamfeit findet Ch. in der Grjdeinung, daß unter 
der Flagge der Drthodogie das Mittelmäßige, ja 
die werthlofe unb [αι ὅς Waare ungeprüft hin 
genommen wird. Zu ben Bemühungen um Hebung ber fo» 
tolifchen Literatur umb Gelehrtenarbeit gehört daher vor allem, 
daß bie Nothwenbigteit und bie Vebeutung ber wiſſenſchaftlichen 
Kritik erkannt werde, Denn biejelbe ift, toie ein anderer Vertreter 
der katholiſchen Prefie Frankreichs, M. Ch. Dejace, fij ausbrüdt, 


378 Linfenmann, 


wie biejelbe von einer kritiſchen Zeitſchrift gu Leiften ift. 
Nah feiner Theorie muß bie Verichterftattung zwei 
Theile enthalten, bie er Analyfe und Discuffion 
nennt. Was den erften Theil anlangt, fo darf man 
nicht leidt vorausfegen, daß bet Lefer im SBefipe des 
zu beiprechenden Buches und daß er über deflen Gegen: 
fand auf dem laufenden ſei; man muß ihn deßhalb mit 
bem Gegenftand und Plan des Werkes, mit feinen ver: 
fchiedenen Beftandtheilen und mit ber SBerfettung ber 
Ideen bekannt machen; zuweilen wird man Bemerkungen 
über den Stand ber Wiſſenſchaft in der fraglihen Ma- 
- terie vorauszuſchicken haben, jet e8 zur Empfehlung des 
Buches, [εἰ e8 um auf Fehler beffelben aufmetffam zu 
maden. Die Analyfe wird ausführlicher fein müſſen 
bet joldjen foftipieligeren Publicationen, welche wegen 
ber bejdyrünften Auflage oder des ſehr hohen Preifes 
bem großen Publicum fo gut mie unzugänglich bleiben. 
Die Erörterung (discussion) aber ihrerjeit8 muß mo 
möglich in eine ernfte und abftrafte Form gekleidet fein. 
Das Vertrauen, welches man ber Zeitſchrift ſchenkt 
bijpenfirt den Mitarbeiter nicht von der Pflicht, für feine 
Einwendungen Beweife beizubringen. Niemals erſcheine 
die Anführung einer Stelle ohne Beleg, niemals werde 
eine Vermuthung ausgefproden, bie jeder Bewährung 


eine wahrhaftige Macht, teil fie über dad Anfehen eines Schrift 
ftelers entjdjeibet, auffeimenbe Talente ermutigt, die Auswahl ber 
feftüre diktirt unb bie Anſchaffung von Bücern beftimmt. Nade 
bem Ch. über bie Beziehungen beà Kritilers zu ber Perfon bed 
Auftord fid zu dem unverbrüchlichen Grundfage bekannt: ni om 
meraderie ni hostilitó systématique, geht er auf bie toejentliden 
Erfordernife der kritiſchen Berichterftattung über, wovon τοῖς im 
Xexte reden. 





Schriftftelertgum und literariſche Kritik. 379 


entbehrt; jede Fritiiche Bemerkung muß unmittelbar ge: 
rechtfertigt und der Leer in den Stand gejegt werden, 
felbft zu controliven ?). Die S8eridjterflattung hat an 
jedem Werke das hervorzuheben, mas bafjelbe für bie 
Wiſſenſchaft Neues bringt, ſodann aber aud) bie Fehler 
und Lücken aufzudeden. Bei jedem Verfaffer hat man 
darnach zu fragen, ob er für feinen Gegenftanb burd) 
feine bisherigen Studien gemügend vorbereitet geweſen, 
0b er bie vor ihm vorhandenen Specialarbeiten über 
feinen Gegenftand gelaunt unb benügt, ob er, mo es 
fid um Veröffentlihung oder Ueberfegung von Texten 
oder Documenten handelt, ber erforderlichen Sprachen 
binlänglih mächtig geweien, ob er alle Handfchriften 
gefanut und menigftens bie beften verwerthet habe. Auf 
folde Weile wird ein boppelte8 Ziel erreicht, eine ge 
börige fenntui der Principien wird verbreitet und deren 
Anwendung felbft vervollkommnet ?). 

1) Jamais d'allégation dénuée de preuve, jamais surtout, 
@insinuation qui ἀδῆθ toute verification. Chaque observation 
critique doit ótre immediatement justifie et le lecteur mis 
en état de contröler lui-méme. Ces conditions sont indispen- 
sables pour légitimer au début notre sévérité et y accutumer 
le publie. L. c. pag. 7. 

2) Les points sur lesquels nous appelons l'examen special 
de nos collaborateurs, sont les suivants: a) l'auteur était-il 
suffisamment préparó par ses études antérieures à traiter la 
matibre qui fait l'objet du livre en question? b) a-t-il connu 
et mie en profit les trevaux déjà publiós sur le sujet spécial 
qui l'a occupé? c) lui a-t-il appliqué la móthode veritable- 
ment scientifique? d) pour la publication ou la traduction 
des textes ou documents, a-t-il possédé suffisamment la langue 
dans laquelle ile sont écrits? e) en a-t-il connu tous les ma- 
nuscrits, a-til au moins utilisé les meilleurs? C'est ainsi 
que nous parviendrons à répondre la connaissance des prin- 
cipes, à en perfeotionner l'application. L. c. 


380 Linfenmann, 


Da e8 fid) bei diefer Betrachtung des franzöfiihen 
Gelehrten um die Kritik von Werken ftreng wiſſenſchaft⸗ 
liden Charakters mit pofitiven Refultaten handelt, und, 
mie er felbft fagt, das Genre ber leichten Literatur 
außerhalb feiner Biefe liegt, fo find natürlich aud 
bie entfpredemben Aufgaben des Berichterſtatters bie 
benfbat ftvengften und fegen fachmänniſche Beherr: 
ſchung des Gegenftandes fowie eigentliche eigene Arbeit 
voraus, wofür e8 oft genug Teinen andern Lohn gibt, 
als das Vergnügen, die Wahrheit zu fagen, und das 
Bewußtſein, ein gutes Werk zu tbun ?). 

Da aber die eigentlich wiffenfhaftlihen Werke mit 
Ergebnifien erafter Forſchung meitaus nicht bie Haupt: 
mafje der literariſchen Production ausmachen, ba viel 
mehr die fubjektive Stefferion, das perſönliche Meinen 
und Abſchätzen, oder die rein Afthetiiche Betrachtung der 
Dinge über die gelehrte Forſchung ſichtlich vorherrſcht, 
fo fónnen bie genannten Kennzeichen einer wiſſenſchaft 
liden Kritik nicht überall in gleicher Weiſe angelegt 
werden; e8 tollen nicht alle iteraturmerfe mit bem 
Maßſtabe ber Nittzlichkeit gemeſſen werden; atat etwas 
von geiſtigem Nutzen bezwecken, ſelbſt da wo man die 
Abſicht leugnet, auch die Poeten und die Schöngeifter, 
beſtehe nun der Nutzen in Bereicherung des Geiſtes mit 


1) Les articles que la revue attend de ses collaborateurs 
ne sauraient donc rentrer dans le genre de 18 littórature fa- 
cile: outre qu'ils demanderons toujours pour étre compétente, 
des connaissances spéciales, ils exigerons d'habitude un vrai 
travail. Sans rapporter à leurs auteurs une notoriété propor- 
tionnée, ils jleur attireront plus d'une difficulté ; et en óchange 
d'un surcroit d'efforts on n'aura souvent que le plaisir de dire 
la vérité et la conscience d'une bonne aotion. 





Schriftſtellerthum und literariſche Kritik, 381 


Kenntniffen und Gedanken, oder des Gemüths mit an- 
genehmen Gefühlen; aut prodesse volunt, aut delectare 
poetae. Ein ganz anderes JIntereſſe als bie ſchöngei—⸗ 
fige Literatur, nehmen wieder Erbauungsiäriften und 
erbauliche Volksſchriften für fid) in Anſpruch; aud) fie 
wollen mien burd) Belehrung, aber für ihre fitit muß 
εὖ andere Kriterien geben. Doc wir können uns kurz 
faflen. Jedes Merk will beurtheilt fein nad) bem Zwecke, 
bem e3 dienen fol; aber e8 muß fid) der Berfafler aud) 
gefallen laffen, daß über Zweck und Mittel Verſchiedene 
verſchieden urtheilen; denn bieje8 muß bod) unerſchütter⸗ 
lid) feftftehen, daß ein Schriftfteller der Welt verant- 
wortlich ift für das, was er ihr anbietet, und daß er fid) 
nicht einzig mut a8 den Spender einer Gabe betrachten 
darf, meldje man mit Dank und geziemender Beſcheiden⸗ 
beit entgegenzunehmen hätte. Wenn bie Schriftfteller 
aufdringli find, auf den öffentlichen Markt treten, in 
die Pofaune ftoßen, ihre Waaren, die Niemand gefordert 
noch beftellt, feil bieten, wenn fie jelbft den Markt und 
ben Preis machen, die öffentlihe Meinung leiten, den 
Geſchmack erzeugen, dem geiftigen Leben ihrer Mit: 
menfchen Richtung und Stellung geben wollen, fo dürfen 
fie fid) nicht über den 9tumor wundern, ber um ihret⸗ 
tollen entfteht, und über einige kritiſche Köpfe, melde 
nad ber Urſache diefes Rumors fragen. Die Poeten 
und Philofophen beftimmen über Religion und Sitte 
einer Zeit, bie Geſchichtsſchreiber lenken die Politik; e8 
ift daher mur folgerichtig, daß man fie aud) vor bet 
Deffentlicfeit zur Verantwortung zieht. 

Und werm mun die Art der fchriftftelerifchen Thätig- 
teit e3 jo mit fid bringt, daß fie fid an weite Kreije 


382 Sinfenmam, 


wendet und bie Intereffen aller iu Mitleivenihaft zieht, 
fo fdrünft fid) aud) das Recht der Kritik nicht auf einen 
engen Kreis von Fachgenoſſen ein, wie bei einer ftreng 
gelehrten Arbeit. Einen viel größeren Kreis von Ur- 
theilsfähigen geht bie Frage an, mas mit einem Buche 
genügt oder gejdjabet fei für das Ganze, ob ein guter 
oder ſchlimmer Einfluß auf bie SDenfmeije, die Sitten, 
ben Geſchmack der jeitgenofjen ausgeübt werde. Ob 
man im fahmännifhen Sinne ein Philoſoph fein müſſe, 
um gewifle Werfe von philoſophiſcher Richtung, etwa 
populãrphiloſophiſcher Art, zu beurteilen, wollen wir 
babingeftellt fein laffen; gewiß aber braucht man nidt 
felbft in der Verſekunſt geübt zu fein und Romane oder 
Tragddien geſchrieben zu haben, um über den geiftigen, 
füttlichen und äfthetiihen Werth eines Dichterwerkes ein 
Urtheil abzugeben. 

Kehren mit aber zu der eigentlichen Gelehrten 
arbeit zurüd, von melder U. Chevalier redet, fo 
find wir der Anfiht, baB aud) auf diefem Gebiete bie 
Keitit fid nicht ausfhließli im den von bem Manne 
der Gelehrfamfeit vorgezeichneten Wegen bewegen müfje 
und könne, obſchon toit feine Vorſchläge ala eine Art 
von Ideal feftbalten. - Auch in diefer Richtung hat, fo 
ideint e8 uns, bie firifte Gebundenheit au akademiſche 
Regeln einen Beigefhmad von Pedanterie und erzeugt 
eine Schwerfälligkeit, über melde der raſche Schritt ber 
ſchnell Iebenden und fchreibenden Menihen hinwegeilt. 
Wollten wir aud) wur bie gewöhnliche Erfahrung au. 
rufen, fo wide fie uns zeigen, daß bie Berfafler von 
gelehrten Werken wohl felbft am menigften damit zu: 
frieben wären, wenn nit früher ber Ruf von ihrem 


Schriftftellertfum unb literariſche Kritik. 883 


Namen und ihren Werken an die Deffentlichleit dränge, 
als bis ein vollftändig ebenbürtiger und fachmänniſch 
auàgerüfteter und mohlgewappneter Gelehrter fid) eines 
Buches bemächtigt hätte, demfelben auf allen feinen 
Gängen von ber erften Quelle an bis zum legten Aus: 
fluffe nachgegangen wäre, eine ausführlihe Inhaltsan- 
gabe davon gemadt, über jeden Fehler mit Nachweis 
aus bem gelehrten Apparat Buch geführt hätte und 
endlich über jede Meinungsverſchiedenheit in gründliche 
Erörterung eingetreten wäre. Dieß wäre unter Um— 
fänden nicht allein eine ſchwerfällige und langfame, fone 
bern nit einmal immer eine geredjte umb objektive 
Kritik; gleichwie vielmehr felten ein Arzt bem anderen 
anerkennt und lobt, fo füllt e8 aud) gerade bem Fach: 
mann in der Gelehrtenarbeit oft am ſchwerſten, bie Lei- 
Rungen feines Fachgenoſſen unparteiiih zu prüfen. Der 
Eine freilich ift dankbar für das Neue, mas er beim 
Anderen gelernt; ein Anderer aber wieder iſt eiferfüch- 
tig auf ben Ruhm bes Genoflen und hat ein befto ſchär—⸗ 
fere8 Auge für beflen Fehler, und wieder ein Anderer 
ift vielleicht beides zugleich, dankbar gemieBenb und bod) 
eiferfüchtig und mißftimmt, und es ift ſchwer berechen⸗ 
bar, melde von ben wechſelnden Stimmungen in ber 
Recenfion vorherrſchen werde. . 

Die gefagt, wir halten an der Forderung ber εἰπε 
läglichen Analyfe und Discuffion wie an einem Ideale 
fet, müffen aber für Ausnahmen Erlaubniß erbitten, 
fon barum, teil jene Forderung nicht allgemein burd* 
führbar ift, wenn man e8 nicht für wünſchenswerth hält, 
daß jedem Buche ein zweites, vielleicht ebenſogroßes 
oder größeres, entweder gut Belobung oder zur Wider: 


384 Zinfenmann, 


legung an bie Seite geftellt werde. Wie groß müßte 
ber Artikel einer kritiſchen Zeitfhrift werden, menn eine 
in das einzelne gehende Discuffion für unerläßlich er- 
achtet wirde, und wie gründlich müßte bie Auseinauder⸗ 
fegung werben, bis bet vecenfirte Auftor und die Lefe: 
toelt felbft befriedigt wäre! Eine Discuffion würde eine 
weite, eine Kritik eine Antikritit hervorrufen fo fider 
als Berg und Thal einander fordern. Nun gibt es 
unbedingt Bücher, meldje eine Erörterung ihres Inhaltes 
in mäßigen Grenzen zulafien, und Recenfenten, welde 
mit firemgem Gerechtigfeitsfinne fo viel Geſchick und 
Taft verbinden, um allen billigen Anforderungen einer 
fahmännifhen Auseinanderfegung im Rahmen einer 
Necenfion oder Ctreitjd)rift zu genügen; wir benfem εὖ 
ung aud) möglich, daß es wiſſenſchaftliche Organe gebe, 
die programmmäßig nur Referate nad) ben obengenannten 
Ornndfägen aufnehmen. Aber wir behaupten, daß es 
auf bem Gebiete ber literarijden Kritik mede gibt, 
welche nicht volftändig erreicht werden würden, wollte 
fid bie Kritik auf jene afabemijde Form und auf bie 
dafür beftimmten kritiſchen Organe bejdyrünten. 

Wir möchten ferner jagen, daß dem erften Grfor. 
derniß aller Kritik, nemlid) ber Gerecht igkeit gegen 
SBublicum und Auktor, aud) nod) in anderer Form 
genügt werden Tann. 

Bum Beweiſe des Gefagten möchten wir einmal 
vorschlagen, Bücher wie Kunftiverfe zu betrachten. Denn 
ein Meines Kunſtwerk jollte bod) jede literariſche Publi- 
cation fein, menn aud) nicht jedesmal ein großes. Nun 
Toll e8 ein Wort von dem großen Meifter Cornelius 
fein: An meinen Gemälden fol man nicht ſchnüffeln, 





Schriftftellertfum und literariſche feitil. 385 


bie Farben find ungefund! Gr wollte jagen, man muß 
fij in eine gewiſſe Entfernung ftellen, um bie Wirkung 
eines Bildniſſes richtig aufzufaflen und zu genießen. 
Ein Kunſtwerk will aud) nicht wie ein Stüd Beug be- 
bandelt fein, am bem man mit der Lupe bie Fäben 
zählt und Seide von Wolle und Baumwolle unterfcheidet. 
Ein Kunſtwerk ift eher mie eine Blume, deren höchſten 
Preis nicht derjenige am geredteftem würdigt, der bie 
Staubfäden zählt oder gat bie Blätter abreißt, um fie 
unter das Vergrößerungsglas zu legen und etta bie 
Beſchaffenheit ober Dauerhaftigkeit des Farbenpigments 
zu unterfuchen. Die Arbeit des Botaniker und Pflanzen⸗ 
anatomen muß freilich aud) geſchehen, aber fie ift nicht 
bie höchſte. Auch au Büchern aljo fol man nicht ſchnüffeln, 
fondern fie von einer richtig gemählten Entfernung aus 
betrachten; man muß die Prüfung nicht mit einem klein⸗ 
lien Handwerksgeiſte vornehmen. 

Vom eigentliden Kunftwerke jagt mau, daß mur 
derjenige e8 zu würdigen wife, ber dem Künftler con 
genial fei, was freilich ein etwas unfiderer Begriff ift, 
weil über Genie und Genialität gar oft bie melde fie 
wirklich befigen anders denken, als bie melde fie zu 
befigen glauben. Keinenfalls aber ift die Gongenialität 
an bie Gleichheit ber Kunftübung oder Richtung geknüpft; 
man will eben ausbrüden, daß im Geifte eines bod 
angelegten und edel gebildeten Mannes etwas enthalten 
fei, das ihn befähige, das Große und Echte aud in 
ber fremden Erſcheinung zu entbeden und anzuerkennen, 
ein gewiſſer ficherer Blick für bas Rechte und Meifterhafte. 
Co muß es nun aud) für die Beurtheilung literariſcher 
Reiftungen einen geübten und ficheren Blid geben, fo 


386 Linfenmann, 


gewiffermaßen von bem erhöhten Standpunkt bet Vogel⸗ 
{hau aus, eine durch Philofophie und Aeſthetik gebilbete 
Beobachtungsgabe, welche den Kritiker befähigt, an einem 
Buche den gelungenen Wurf und bie Kunft ber Com: 
pofition ober bie Angemefjenheit ber Darftellung zu 
entbeden und dafür, ohne weitläufige Analyfe, ben ber 
zeichnenden Ausdrud zu finden. Auch zur Ausſprache 
des fritijdjen Gebanfens gehört ein Gejdjid ; man kann 
ja nicht wieder mit den Worten be8 Auktor reden, 
fondern muß künſtleriſch veproduciren, muß zu biejem 
Zwecke umbilden, verkürzen, umſchmelzen fónnen. 

Soll der Recenfent über den Inhalt einer Shrift 
Mitteilung madjen, fo Tann dieß bod) mur mit Aus: 
wahl geſchehen; unb aud) zur richtigen Auswahl gehört 
ein feiner Sinn, bier reicht blos mechaniſche Arbeit ober | 
pedantiſche Loyalität nicht aus; ber Leer erhält ja bod 
kein völlig richtiges Bild von bem Inhalte und bem 
Werthe εἰπε Buches, menn man defien Inhalt im 
Stelett oder in Regifterform herausſtellt, ebenfo wenig 
al3 wenn man ein andermal auftatt ber tragenden und 
verbindenden SBauglieber blos Theile ber Füllung ober 
Decorationsmufter herausheben wollte, um bem Lejer 
eine Vorftellung von bem Charakter des Werkes zu geben. 
Da nun aber einmal eine Auswahl zu treffen ift, fo 
läßt fid) wiederum nicht vermeiden, baf man eben auf 
bie Discretion be8 Recenfenten angemiejen ift; 
derfelbe" muß fid) bod) ſchließlich von fubjeftiven Ein 
brüden, bie er von einem Buche empfangen bat, in 
feiner Behandlungsweife leiten laſſen, und entſcheidend 
wird bald ber fubjektive Gejhmad, bald bie Vertraut⸗ 
beit des Recenfenten mit dem Gegenftand ber beſprochenen 


Schriftſtellerthum und literariſche Kritik. 887 


Shift, bald bie Rüdfict auf ben Leferkreis des Re: 
cenfenten, am Ende gar noch auf den ber Kritik ver: 
flatteten Drudraum werden. Ob man aus einem Bude 
wirklich eimas Neues gelernt und geiftige Anregung 
und Befriedigung erhalten, oder ob man entäufcht und 
dur Inhalt oder Form abgeftoßen worden; ob man 
in einem Buche eigene Anfchauungen wieder findet, ober 
einen Gegner vor fid) fieht, vieleicht der Art, ba man 
fib mit befjen Methode und Beweismitteln unmöglich 
ſcheint verftändigen zu können; ob man etwa geradezu 
in eigener Cade und Perfon angegriffen und verlegt 
worden, oder ob man bem Verfaſſer geiftig unb perſön⸗ 
lid) verbunden fei: alles biefe8 wirft auf bie Stimmung 
und auf ben Ginbrud, den ber Recenſent von einem 
Buche empfängt, und wird fij bemmad) aud) in bet 
Berichterftattung geldend machen. 

Dieß find einfache pſychologiſche Nothwendigkeiten, 
über bie man nicht mit alademiſchen Regeln hinmeg- 
kommt. So gewiß fein Schriftfteller feinem Gegenftanbe 
ſelbſt ganz felbitlos gegenüber fteht, fondern “Jeder 
etwas von feiner Perfönlichkeit, von feinen Seelenftim- 
mungen und Neigungen aud) in der rubigften und leiden 
ſchaftsloſeſten Darftellung mitllingen läßt, fo wenig aun 
man vom Stecenjenten erwarten, daß er vollſtändig fid) 
feiner felbft entäußere und feinem Style eine Farblofig- 
teit und feinen Gebanten eine Kälte aufnöthige, bie mit 
allem Intereſſe des Schreibenden am feinem Gegenftande 
in Wiederſpruche ftünben. Einen vollftändig ἐπε 
tereffelofen und Fühlen Kritifer mürbefaum 
ein Auktor lieben. Man möge fid aljo nidt 
mit unmöglihen Forderungen plagen, und 





388 Sinfenmann, 


fid nuidt daran ftoBen, menn bet Kritif ein 
Beigeihmad von fubjeltivem Wohlgefallen 
oder Mißfallen anklebt. 

Daher muß man aud) darauf verzichten, in einer 
kritiſchen Berichterftattung eine abfolut richtige, 
von feiner menſchlich-eigenthümlichen 
Klangfarbe afficirte Würdigung zu erwar- 
ten. Was müßte das entmeber ein Meiſterwerk — 
Ober eine ganz gewöhnliche Pfufcherarbeit fein, welche 
auf Leſer verfchiedener Anlage, Stimmung, Bildung und 
Fachkenntniß nicht aud) wieder verſchieden einwirkte und 
daher eine verjhiedene Aufnahme fände! Daher Tann 
jede Würdigung einer fremden Leiftung, und zwar um 
To mehr, je höher und idealer fie ift, nur eine annähernde 
fein, und e3 ift unweife von dem Berfafjer eines Werkes, 
vom Steceujenten zu verlangen, daß er überall baffelbe 
empfinde wie ber 3Berfafjet ſelbſt, und baf er durchaus 
nur mit liebendem Auge die Vorzüge jdüge und bie 
Gebreden unb $üdeu beſchönige. 

Man liebt in ber wiſſenſchaftlichen Darftellung bie 
Kürze, und hat allen Grund dazu Recenſionen 
follen aud die Lectüre eines Sudes nidt 
erfparen. Es ift nicht mehr ſchriftſtelleriſcher Brauch, 
in Streitſchriften den ganzen Juhalt ber gegneriſchen 
Schrift mitaufzunehmen ; genug daß er einmal gebrudt und 
ihnen zugänglich ift, bie fid barum kümmern. Man 
muß deßhalb dem Stecenjentem eben zutrauen, baf er 
jo viel jagen wollte, ald er von feinem Standpunkte aus 
für recht und erſprießlich hielt. Ja mir fehließen dieſe 
Auseinanderfegung über ba8 Recht ber Subjekt ivi⸗ 
tät in der Kritik mit dem Sage: Einem Recem 


Schriftſtellerthum und literariſche Kritik. 389 


fenten von Namen und Beruf muß man aud 
etwas auf8 Wort glauben und nidt für 
jebe Bemerkung, jedes Lob oder jeden 
Tabeleine meitläufige unb detaillitte 
Begründung mit gelehrtem Apparat ver- 
langen. Man fol eine Recenfion bod) nicht wie ein 
landgerichtliches Urtheil mit bem ganzen Tenor ber 
Entieidungsgründe auffaffen. Wenigftens find bie Ge: 
bräude innerhalb ber Gelehrtenwelt andere geworben, 
und wir fónnen die nicht unbedingt tadeln. Die Schrift: 
fteller Können fid) ja aud) wieder ſchützen gegen Recen- 
fenten, von denen fie fid) beeinträgtigt fühlen, und oft 
genug kommt e8 vor, daß ein Auktor mit irgend welchen 
Mitteln bas lejenbe Publikum zum voraus fo für fij 
ju fimmen wußte, daß es einem gewifjenhaften 9tecen- 
fenten ſchwer genug füllt, mit feiner mahnenden und 
warnenden Stimme in bem Chorus ber beftellten Kory⸗ 
banten oder Thyrſusſchwinger einzufallen; er wird ent- 
weder gar nicht gehört, ober zerriffen. 

Es bieße Eulen mad) Athen tragen, wollte man 
eft darauf aufmerfjam machen, baf Gerechtigkeit bie 
erfte Pflicht des Kritikers ift, ber ja bod) aud) ein Richter 
fein will und bem deßhalb das Wort im Buche ber 
Weisheit (1, 1) gilt: Liebet die Gerechtigkeit, bie ihr 
Gericht übet auf Erden! Aber für bieje Gerechtigkeit 
gibt es mod) ein anderes Kennzeichen und eine andere 
Bürgſchaft, als bie, mie wir nachgewieſen haben, that 
Tádjlid) undurchführbare abjolute Objektivität. Auch nicht 
einmal die Forderung, daß man gleiches Maß für Alle 
haben miüffe, genügt uns, fofern fie nemlid vorauszus 
fegen 1deiut, daß man fij aller Sympathie oder Antis 

Sol. Quartolf$rift. 1888. Heft III. 26 


890 Linfenmann, 


patbie entihlage, was unmöglich ift. Dagegen verlangen 
wir bie mit fleigender Bildung fid) fteigermbe Fähig— 
feit, fid mit feinen Gebanfenauf beu Stand: 
punit des Gegners zu vetjegen unb nad 
bem zu fragen, mas man von jenem Stand: 
punkt aus billigerweife verlangen könne. 
Der glüubige Katholik 2. B. braucht feiner perfönlichen 
Weberzeugung nicht zu vergeben, wenn er fid) einen 
Augenblid in die Möglichkeit Dineinbenft, daß er durch 
irgend melde Schidjale und Zufälle des Lebens in bie- 
ſelbe Lebenzftellung, fittlihe Stidótung oder Gonfeffion 
bineingeführt worden wäre, auf welcher nur diejenigen 
Reben, bie er als Andersgläubige unb Andersdenkende 
anfieht, unb wenn er fid) darüber Gedanken macht, wie 
et in biejem Falle glauben und denken, wie er feine 
Studien einrichten, wie bie geſchichtlichen Ereigniſſe auf 
fid) einwirken laffen würde. Iſt e8 denn unfer Ber- 
dienft und nicht vielmehr Gnade, wenn wir unfern 
tichlihen Glauben bewahrt haben? Die Gerechtigkeit 
verlangt zum menigften von ung, daß wir auch ben 
Andersgläubigen bie gute Meimung zufrauen, das 
Wahre zu erfennen und ba8 Gute zu wollen, (o lange 
als nidt für das Gegentbeil Beweilg vor 
liegen. Für die Beurtheilung eines Menfchen, feiner 
Senf: und Handlungsweiſe, alfo aud) feines ſchrift⸗ 
ſtelleriſchen Charakters, fommt e3 viel darauf an, ob 
man fij in defien Lage, Gebanfem- und Bildungskreis 
verfegen Tönne ober nit. Nun darf man fij aud 
darüber nicht täufhen, als ob ber Kritifer nur bie 
Bücher und bie Meinungen, nicht aber aud) die Berfon 
bes Verfaſſers treffe oder treffen molle. Der Ser 


Schriftſtellerthum und literariſche Kritik. 391 


faſſer legt ſeine Seele in ſeine Werke, und 
wer dieſe antaftef, taftet feine Seele an. 
Bir dürfen nach den Intentionen ber Verfaffer fragen, 
aber eben darum ihnen nicht Abfichten unterlegen, bie 
fie auf ihrem Standpunkte nicht haben können. 

Wir können barum das Verfahren derjenigen nicht 
billigen, welche bie Gefammtbeit ber Menſchen und ber 
Säriftfteller zum voraus in zwei Mafjen theilen, bie 
Gefegneten und bie Verfluhten, und barmad) ihr fri. 
tiſches Verdikt fprechen. Nicht al8 ob mir e8 ums gu 
mutbeten, ſchwarz mit weiß, Irrthum mit Wahrheit für 
ibentijd) zu nehmen oder bie Gegenſätze zwiſchen Glauben 
und Unglauben, Pofitivismus und Liberalismus u. f. v. 
du ignoriren. Aber man muß aud) dem Gegner eine 
bona fides zutrauen fónnem und darf fie ihm erft ab- 
ſprechen, wenn er fid) diefes Vertrauens pofitiv unwür⸗ 
big erweist. Daraus daß wir bieje Art von Geredjtig- 
let nicht immer von Seiten unferer Gegner erfahren, 
daß man 4. 39. literariſchen Arbeiten von ausgeſprochen 
tatholifcher Färbung zum voraus mit grundſätzlicher 
Seindfeligfeit begegnet, folgt für un8 fein Recht, unet- 
läßlihe Attribute ber Gerechtigkeit umb Billigkeit zu 
fufpenbiten. Crproben wir das Vertrauen auf unjere 
eigene Sache darin, baf mit felbft gegen ben Ungerechten 
gerecht find! Und wenn e8 uns zumeilen ſchwer vor- 
lommen will, an der guten und ehrlihen Meinung des 
Vertreters einer falſchen Richtung zu glauben und feinen 
Aufftellungen einen guten Sinn abzugewinnen, fo ver: 
gefien wir nit, baB e8 bem Gegner ebenfo mit uns 
ergeht und bof mir e8 ihm auch nicht immer leicht 
machen, unfere — wir meinen bie lirchlichen — Lehren, 

26 * 


392 Sinfenmann, 


Anfichten, Gebrüude unb Uebungen zu verſtehen, unfere 
Bemweisführungen zu würdigen ober unfere Forderungen 
zu billigen! Woher fümen fonft unter una felbft jo viele 
Mißverftändniffe, ſchulmeiſterliche Zurechtweiſungen, Saut 
und Streit um Worte und Meinungen im eigenen Lager!— 

Sol nun aber, zum richtigen Abſchluſſe, aud) nod) 
von ben Pflichten der literarifhen Kritik 
in Hinfiht auf Form unb Tom geredet werden, 
fo fühlte man fid) faft verfucht, das Inftrument neu zu 
befaiten und in eine andere Tonart umzuftimmen. Denn, 
toir müſſen e8 uns offen gefteben, c'est la guerre, es 
gebt nicht anders; Aultor und Kritifer unb ber beiber. 
feitige Anhang fteben zu einander auf dem Kriegsfuß, 
und was wir als etfijde Forderung auf biejem Felde 
anſprechen fünnen, ift mehr oder weniger in bem Worte: 
humanes Kriegsrecht enthalten. Der Sybealift wird 
aud) bier vom Stealiften befiegt, in freier Luft erftidt wie 
von Heralles ber Rieſe Antäus. Und gleihiwie wir 
für das Kriegsrecht viel greifbarere Anhaltspunkte im 
mofaifhen Gejege der Furcht, al8 im evangelifchen ber 
Liebe finden, fo ift e8 auch für beu literarifhen Ber: 
kehr viel leichter, einen Dekalog von Pflichten unb 9tüd- 
ſichten aufzuftelen, bie ſchon den natürlichen Menſchen 
verbinden, als eine Application vom chriſtlichen Gebot 
der Liebe zu machen. Der Delalog hat nemlid) bie 
verbietende Form: Du folft nicht; und das nun Tann 
man ziemlich deutlich fagen, was ber Recenfent nicht [01]. 

Unfer SDefalog würde etwa fo lauten: Du fol 
nidt ben Gögen biejer Welt huldigen und bem Mächtigen 
nicht ſchmeicheln; dem guten Willen und Streben die 
verbiente 9tnerfemmung nicht vorenthalten; den ſchüchter⸗ 





Schriftſtellerthum und literariſche Kritik, 393 


nen Anfänger nicht entmuthigen; das wahre Verbienft 
nicht um ber fremden Farbe willen verkleinern; ben 
Gegner nicht erbittern, mod) ihm ohne Noth mebe thun. 
Du folft nicht ohne Grund des Anderen Abfihten ver 
bidtigen unb ihm feine Fehler in das Gewiſſen fehieben. 
Bo ber Zweck mit fanften umb gehaltenen Worten er: 
teiht wird, ſollſt du nicht herbe und ftrafende gebrauchen; 
ſollſt nicht den Titerarifhen Brauch und Anftand ὑεῖς 
leen; follft bir nicht eine ungehörige Auftorität an 
maſſen; und endlich jol[ die Sonne nicht über deinem 
dorne untergehen! (Ephef. 4, 26). 

Sollen aber nun nad) bem evangeliſchen Sprude: 
was ihr tollet, daß bie Leute eud) thun, das thuet 
auch ihr ihnen (Matth. 7, 12), pofitive Vorſchriften auf» 
geftelt werden, fo ift daran zu erinnern, daß bie Regeln 
fi$ nad) der Situation zu richten haben, meldje immer 
bieder mad) der Natur des Gegenftandes eine wechſelnde 
iſt. Jede Gattung der fehriftftellerifhen Production, wie 
fie ihre eigenen Anſprüche macht, erzeugt aud) ihren 
eigenen Ton und eigenen Kriegsruf. 

Wir rechnen auf allgemeine Zuftimmung, menn 
bir fordern, daß ber Kritiker jedem ehrlichen 
und gutgemeinten Streben liebevoll ent 
gegentomme und bereit fei, ba8 Geleiftete aud) ba 
anzuerkennen, wo man eB erſt aus ben Trübungen 
mancher Irrthümer oder Formgebrechen herausholen muß. 
Denn ohne Rauch brennt feine irdifhe Flamme; es ift 
oftmal3 genug, wenn uns der Rauch menigften8 an- 
deutet, wo ein Feuer glüht. 

Nicht viel weniger allgemein wird man zuftimmen, 
wenn wir bie Beſcheidenheit eine befondere Zierde 


394 Sinfenmann, 


be8 Kritilers nennen, melde bie Milde ber Strenge 
vorzieht unb zum Maßftabe bie Mäffigung nimmt. Dem 
bie Mäffigung in bem Anfprüden und in ber Form if 
ein Beweis ber eigenen Bildung und eigenen fittlihen 
Werthes; fie muß daher aber aud), mie jede Tugend, 
fittlich errungen werden und ift vielmehr eine Frucht de 
gereiften Alters, als eine angeborne Eigenſchaft des 
Statutell8; und zwar fo febr, ba man bem feurigen 
Blute der Jugend einigen Mangel betfelbem aud) muß 
verzeihen können um anderer Vorzüge millen. 

Iſt aud) die fritif mit bem Kriege verwandt, fo 
muß bod) menigftens aud) für fie gelten, daß ber 
Btwed des Krieges der Friede fein müſſe; 
bie Kritik foll belehren, gewinnen, vereinigen, nidt ent: 
zweien. Es ift etma8 Unfittlihes um das Duell mit 
friegerijden Waffen, und bod) liegt mod) etwas vor 
Größe darin; wie midrig aber wird oft der Kampf mit 
ber Feder, wenn er zum Duell ausartet, in meldem 
die ganze Pointe in der Verwundung ober Tödtung 
ber literatijden oder moraliſchen Griftem gelegen if! 
Es ift traurig, daß ber Streit überhaupt Leidenschaften | 
aufregt; vor eigentlicher 9tobbeit aber follten die Schrift: 
fteller ſchon durch ihre höhere Bildung geſchützt fein; 
über allem literarifchen Hader follten bod) niemals bit 
guten Formen beà gejelligen Verkehrs verlegt merben. 
Nur möchten wir bieB aud) wieder nicht im Sinne jene 
morgenlánbijdjen Sprichwortes gemeint haben, welches 
fagt: Küffe dem Feinde die Hand, bift bu fie abpu⸗ 
bauen nicht im Stand! Eine männliche Haltung 
erwarten τοῖς von jedem Krieger; bie toeibijdem und | 
feigen, bie falſchen und heuchelnden vetadjtet alle Welt. | 


Schriftftelertgum und literariſche fitit. 395 


Dogegen ift wieder Großmuth und Edelfinn ein 
Garaltermerkmal der wahren Männlichkeit, welche lehrt, 
perſönliche Erlebniſſe zu vergefien und Gefühle ber Rache 
und Gelüfte unedler Wiedervergeltung zu unterdrüden. 

Und wie wir zu ber Gabe des Wortes und ber Dar- 
ftellung immer aud) eine Zugabe von Anmuth, Bart: 
heit und Grazie münfdten, jo möchten wir aud) für 
bie Kritik entidjieben bie 9Inmutb unb Vornehm— 
beit unb fefbft im Wige bie geinbeit unb in 
ber Strenge das attiſche Salz als Grforber- 
aiß der Humanttät aufftellen ἢ). 

Das lieBe fid) mun Alles vom Standpunkte bes 
Jealismus aus nod) weiter ausführen; aber da das 
Kriegsrecht fid) nicht von bem Idealiſten diktiren läßt, 
fo ift e8 vielleicht gut, einen Augenblid auf den realen 
Boden ber Erfahrung herabzufteigen, melde uns be- 
lehrt, ba eben in ber Regel der Ton der fritit 
fh nad den Sitten der Auftoren ſelbſt richtet, 
und daß aus bem Walde es zurückhallt, mie man in 
benfelben bineingerufen hat. Wohlgemerkt, wir con- 
Ratiren blos, ohne unfere Billigung auszuſprechen. 

Es ift aber aud) ganz natürlich, baf fid) der Ton 
der Rede nad) ber Perſon bes Angerebeten ober des 
von ber Gegenrebe Betroffenen richtet, und e8 bedarf 
nur einer angemefjenen Steigerung der natirlihen Tugend 
ber Klugheit zur fittlichen Cigenjdjaft ber Befonnenheit 
und des Maßes (σωφρονύνη), um einem Schriftfteller 
den rechten Ton anzugeben. Denken wir ung, daß ein 

1) Quelque aménité doit se trouver möme dans la critique ; 


sie elle en manque absolument, elle n'est plus littéraire. 
Goubert) . 


396 Linfenmann, 


jüngerer Mann als Recenjent einem älteren Schriftfteller 
von Namen und erprobter Tüchtigkeit gegenüber ftehe, 
fo wird [don die Klugheit ihm eingeben, mas das 
Sprihmwort jagt: Wer über fid) haut, bem fallen die 
Späne in die Augen. Der riftliden Weisheit aber 
tónt'e8 aus ber ἢ. Schrift: „Einen Älteren folft du 
nieht anfahren, fondern ihn gemahnen wie einen Vater, 
Jüngere aber wie Brüder“ (1. Tim. 5, 1). 

Mehr Gewicht jedoch als auf die Perfon bea Autors 
müdten wir darauf legen, ob der Ton des Buches 
ſelbſt für fid) ein maßvoll bejdyeibener, oder ein anmaßender, 
füffifanter und herausfordernder fe. Beſcheidenh eit, 
bie befondere Zierde des echten Verbienftes, nimmt von 
felbft ein und entwaffnet den firengften Kritiker; aber 
ja nicht jene Art von Beſcheidenheit, bie fi oft in 
Vorreden fo breit und aufdringlid macht und bie fo weit 
geht, daß, wenn man fie für wahr nähme, fie bem 
Auftor hätte verbieten follen, am bie Deffentlichkeit zu 
treten. Rein wir meinen die Beſcheidenheit, deren 
fid nidtber 9 uftor rühmt, fondern bie der 
Sejer bon felbft entbedt, bie Beſcheidenheit cines 
Schriftſtellers, der in ſchüchternem Verfuche feine Gabe 
darbietet, bem Vöglein gleih, das zum erften Fluge 
bie Flügel Lüfte. Einen ſolchen bejdjeibenen Mann foll 
man nicht rauh anfaffen, ſchüutteln und fieben, bis am 
Ende nicht Eigenes von ihm mehr übrig bleibt. Wir 
geben ja Ale aud) mur wieder, was wir empfangen 
haben, -ber Eine mehr, der Andere weniger, ber Eine 
in originiller, der Andere in gewöhnlicher Faffung. Eine 
Heine Gabe, freunblid) dargeboten, Tann ja willkommen 
und werth fein. 





Scheiftftellertjum und literariſche Keitif. 397 


Wer aber mit ftedem Schritte einherteitt, fid) mit 
fremden Federn ſchmückt, ohne denen zu banfem, von 
denen er gelernt oder entlehnt, wer felbft feine Krallen 
überall einfchlägt, nichts neben ſich gelten läßt, jeben 
Gegner oder Vorgänger verkleinert, wer vollends mit 
bervorftechender Arroganz eigene Unfähigkeit verbindet, 
der möge nur einem muthigen Genfor im bie Hände 
fallen, welcher eine kräftige Geißel führt und bie fried- 
lichen Tauben gegen ben krächzenden Geier ſchützen Tann. 
(8 ift genug, daß überhaupt das oberfládjlidje Wiſſen, 
die fabe Nichtigkeit der modernen Weltbildung einen fo 
breiten Raum beherrſcht und man genöthigt ift, in das 
ſtagnirende Sumpfwaffer von Zeit zu Zeit ein paar 
Träftige Steine zu toerfen. Wenn aber dann gar bie 
gleißende Nichtigkeit auf den Thron gehoben wird und 
der Literatur Regeln und den Sitten Befehle geben 
mil, da bedarf e8 eines Gegenftoßes, der ſtark genug 
ift und laut genug, um fi den Beſſeren in der menſch⸗ 
lichen Geſellſchaft vernehmlich zu machen, unb ba bedarf 
es aud) ftarker und firenget Worte, 

An ftarker Rede braucht man fid überhaupt nicht 
fo febr zu floßen. Ehemals erkannte man bie wahren 
Propheten vor den faljden daran, daß jene herbe und 
ſtrenge vebeten, bieje aber janft und ſchmeichleriſch. Der 
Herr fefbft machte hart bie Stirne Ezechiels, und wie 
Diamant und Kiefel fein Angeſicht, ,bamit er nicht bie 
unbeugfamen Stirnen des Haufes Iſrael fürchte” (Ezech. 3, 
7—9). Und welch firenger Beurtheiler war nicht Goriftua 
gegen bie SBiffenidjaft und Cafuiftif der Schriftgelehrten 
und Pharifäer! Wahrlih, Er hat harte Worte nicht ges 
part! 3561. Matth. 15,3 ff. 23, 13 ff., 305. 8, 88 ff. u 





398 Sinjenmann, 


Ganz bejonberà aber muß bier aud) davon geredet 
werben, dab Ton und Methode ber Kritik nicht unbe 
rührt bleiben Tann bon bem Ton und dem ganzen Ges 
babren der Reclame, womit fehriftftellerifche Arbeiten 
in bie Deffentlichfeit eingeführt werden, weil e8 oft vor 
allem nöthig ift, der inneren Unwahrheit der mit raffi— 
nirten Mitteln arbeitenden Empfehlung zur Ermedung 
und Beftehung des öffentlichen Intereſſes mit Nachdrud 
und mit einem Aufgebot von fittlihem Grufte entgegen- 
zuwirken. Der Kritifer hat nicht blos einen offenen 
und ehrlichen Kampf mit bem Auftor zu beftehen, ſondern 
ud) nod) einen anderen mit unfihtbaren Mächten, melde 
das Urtheil irre führen möchten. 

(8 ift in einem Theile unferer Prefle bereit? kaum 
mehr ba einem Schriftfteller gebührende und aufrichtige 
Lob von ber gewöhnlichen Reclame — oder jollen wir 
es Marktfchreierei nennen? — zu unterſcheiden, da man 
zuweilen wirklich nicht weiß, ob eine fog. Recenfion nicht 
aus einer vom Verleger verfendeten Anzeige abgebrudt 
ift und ungefähr auf gleicher Linie fteht mit jenen 
„Runftnotizen“, welde reijenbe Virtuofen vor fid) ber 
enden. ᾿ 

Nicht daß wir die Steclame an fid) verwerfen wollten, 
denn fie ift zu einer Stotbmenbigleit im Kampfe ums 
Dafein geworden; mod daß τοῖς dem Scpriftfteller ein 
wohlwollendes unb wohlthuendes Lob mißgönnten; im 
Gegentheil wir fordern vom Stecenjenten, daß er aud 
feine Anerkennung vor jeder wirklichen und ernften Leiftung 
ausfprede; wir haben ja ſchon bie Geredtigleit als 
Pflicht der Kritik genannt, und brauchen bem bier nichts 
hinzuzufügen. Aber e8 gibt ein Lob, vor welchem bie 





Schriftftellertjum umb literariſche Keiti, 399 


Sefer erröthen, und vor welchem ber Auftor ſelbſt zumeift 
erröthen müßte, wenn nicht die, welche Anderen Weisheit 
lehren, ſelbſt mandmal jehr unmeife wären. (8. gibt 
ein Lob, das burd) Webertreibung fid felbft aufhebt, und 
es gibt verfhämtes Lob, auf das bie Worte Rüderts 
gehen: 

„Bon 2ob und Tadel hängt mit nidjten ab bein Abel; 

„Doch eh’ als halbes Lob toünjd! id) bir ganzen Tabel.“ 
Wiſſen denn bie Schriftfteler nicht, daß man bie großen 
Männer miBt nad) ihren Haffern, wie die Thürme nad) 
ihrem Schatten? Was Tann uns ein falſches, eitles 
Lob bedeuten, ein Lob von bem wir wiſſen, daß e8 
lebiglid) conventionel ijt? Wo alles gelobt wird, ver: 
liert ja das Lob allen Werth, unb wo das Geringe mit 
Sobfprüden erhoben wird, bleibt ja nichts mehr übrig, 
um das mirflid) Gute auszuzeihnen, und [o wird man 
ungerecht gegen bie wirklich lobenswerthen Bücher und 
gegen das publicum, dem man geringe Waare für 
gute anpreist. 

Nun denken wir nicht fo febr an abfichtliche Fälſchung 
des Urtheils, al8 an eine einfeitige Voreinge— 
nommenheit für beftimmte Leiftungen. Hie— 
ber gehört eine mehr ober weniger ausſchließliche 3B e- 
founberumng be8 Fremden und Ausländiſchen, 
welche ja pſychologiſch wohl erklärlich ift, aber eben 
gegen das Einheimiſche unbillig wird. Wenn aus der 
Ferne der Klang eines Namens oder der Glanz eines 
Ruhmes bis zu uns dringt, fo ſcheint ſchon in diefer 
Fernwirkung bie Bürgihaft für den Werth eines Mannes 
zu liegen, während bod) die tägliche Erfahrung und be« 
lerem fóunte, mit welchen Mitteln man einem Namen 


400 Rinfenmann, 


Klang und einem Buche Renomme verihafft, überdieß 
in einer Zeit, wo alle Entfernungen und nationalen 
Schranken für literariſche Aneignungen bedeutungslos 
geworben find und fo viele müßige Hände darauf warten, 
um mit Weberfegungen Brod zu erwerben. Aber ber 
Ruhm bat diefes an fih, baf er in bie Ferne heller 
ſtrahlt als im der Nähe; in der Nähe erfcheint Jeder 
Hein, nicht weil man ihn mit dem gewöhnlichen Maße 
mißt, fondern weil man die menſchlichen Gebrechen, das 
Kleinlihe an jedem Menſchenweſen, deutlicher erfennt. 
So fpriht uns aud) eine Landſchaft viel Liebliher au 
aus einer gehörigen Entfernung, al8 wenn mit auf 
Schritt und Tritt von der rauhen Wirklichkeit derfelben, 
von al ihren Unebenheiten und SSerfrüppelungen, θὲς 
rührt werben. 

Das günftige Vorurtheil für eine literarifche Leiftung 
ſcheint aber zuweilen einen ganz bem bisher genannten 
entgegengefegten Grund zu haben, nemlid eine falſche 
Vorliebe für das Einheimifche, einen beſchränkten 
Localpatrivtismus Das ausSjdlaggebenbe Mo: 
ment dabei ift aber nicht das Eigene im örtlichen 
oder beimatLiden Sinne, fondern im geiftigen 
Sinne, dad ma8 ber eigenen Rihtung, Ten 
benz oder Partei angehört. Hier gibt es aller- 
dings einen bejdyrünften Standpunkt, von toeldem aus 
man nicht die wirkliche Leiftung, fondern mur die „gute 
Gefinnung* oder „correcte Richtung“ abjhägt unb um 
diefer willen aud) das Mittelmäßige erhebt und bem 
Unbedeutenden befte Empfehlungen mitgibt. Wer baun 
an fold) mittelmäßigen und geringen Leiftungen Mängel 
entbedt, der gilt ala Feind ber guten Richtung, wird 





Schrjftftellertfum und literariſche feitif. 401 


in feiner Gefinnung verdächtigt und entweder waffenlos 
gemacht oder von bem offenen Bekenntniß der Wahrheit 
abgefhredt. Daher kommt ein falſcher Ton in unfer 
Schriftweſen. 

Wäre dieſer Ton blos durch bie begreifliche Vor⸗ 
liebe für die Vertreter einer guten Sache biftitt, ober 
mürde er mur die größere Schonung und einen Fort 
ſchritt zur Humanität bedeuten, fo hätten wir an ihm 
nichts auszufegen; e8 könnte die Anerkennung be8 von 
unfern Freunden Geleifteten eine gerechte Genugthuung 
werden für bie Mißachtung, womit ihnen aud um 
ihrer Gefinnung willen von anderer Seite begegnet wird. 
Aber in Wirklichkeit ift bie Parteiprefie der verſchiedenen 
Richtungen bei Zuftänden angelangt, meldje man gerade- 
zu als unheilvoll bezeichnen muß. Um ber Gefinnung 
willen begünftigt man bie Mittelmäffigkeit, befördert 
das Maulheldenthum und bie Hypokriſie, fet burd) 
das Lob des Schlechten den Werth des Guten herab, 
täufcht bie Leſer, corrumpirt bie Schriftfteller jelbft, denen 
man einen falfchen ‚Begriff von ihren Leiftungen θείς 
bringt, und drüdt das Niveau unferer Preſſe herab, teil 
es eitel ift nad) bem Höchften zu ftreben, wo der Mittel: 
mäßigfeit Kränze dargereicht werben, und weil ba3 wahre 
Verdienft fih nicht mit ber aufbringlihen Anmaflung 
in den Wettlauf einlafjen mag. 

So ift bie Lage verſchieden, in welcher ber Kritiker 
fib befindet; fo verfchiedener Art ift feine Verantwort⸗ 
lichkeit, fo verſchieden find feine Bmede, und mad) bem 
Bede müffen fij die Mittel richten. Wo bie Arzneien 
nicht helfen, jagten die Alten, da muß das Eifen helfen; 
und wo das Cijen nicht hilft, da muß das Feuer daran. 


402 Sinfenmann, 


Wo bie gelinden Mittel und Formen der ſchriftſtelleriſchen 
Auseinanderfegung nicht wirken, ba muß man zu if. 
figerem greifen. Dem Humor fónnen wir wieder mit 
Humor begegnen, auſpruchsloſer Treuherzigfeit mit freund: 
licher Belehrung; die geipreizte Eitelfeit reizt zum Lädeln 
ber Sronie, gegen freche Simmafung muß man auf 
bie Geifel der Satyre ſchwingen fóunen; was aber foll 
man tun gegenüber von mattherziger Mittelmäßigfeit, 
bie ben Fräftigeren Geift antibert mie laues Waſſer? — 

€3 handelt fid), jo Hein aud) die einzelne Perfon 
und ihre Leiftung innerhalb des Weltganzen erſcheinen 
mag, bod) um die höchſten Güter der Menfchheit. Je 
höher die Anſprüche ber Preſſe fteigen, um fo ernfter 
werden audj bie Pflichten. Die Kritik Dat einen hohen 
Beruf, und wenn fie ihrer Aufgabe nicht immer gereht 
wird, fo verdient fie ebenjo wohl mie jedes andere 
ideale Streben die Cntjdjulbigung: In magnis voluisse 
sat est. Die feriti muß fid) aud) ihrer Grenzen bewußt 
werden; unb an bem Grenzgebiete liegen zwei Dinge, 
deren bier mod) zum Schluffe gedacht werden muß, das 
Urtheil über den fittlichen Charakter eines Schriftftellers 
und das Urtheil über den reinen und unverfälichten 
Glauben, bie Gittenridterei unb bad feger 
gericht. 

Schon dieſe Worte haben etwas gemüthlich ſo 
Wehethuendes in fid), daß wir uns gerne auf das Wort 
des Apoſtels zurüd ziehen möchten: „Wer bift bu, der 
bu einen fremden Knecht richteſt? Seinem Herrn ſteht 
er ober fällt er" (9tóm. 14, 4). Die Sittenlehre bei 
Evangeliums warnt einbringlid) genug davor, über bad 
Innere des Nebenmenfchen zu richten, und Jeder barf 


Schriftſtellerthum und literariſche fritil. 403 


einen gewiſſen Anfprud) darauf machen, daß man feine 
geiftig-fittlihe Integrität unangetaftet laſſe. 

Deſſen ungeachtet darf e8 die Kritik nicht ganz ab- 
lehnen, literariſche Erſcheinungen mad) ihrer Stellung 
gut Religion, zur Glaubens: und Sitteulehre 
der Kirche zu prüfen, felbft auf die Gefahr bin, daß 
man bie verwundbarften Seiten be8 Verfaſſers antafte. 
Wer zu uns fommt mit bem Anfprude, einen neuen 
Glauben zu. verkünden, unfere Religion zu verbefjern, 
bie firdjide SDoftrim auf neue Grundlagen zu ftellen, 
oder wer an ben Grundpfeilern ber kirchlichen, ſtaatlichen 
und gefellidjaftliden Ordnung rüttelt, der Tann fid in 
bemjelben Momente, mo er Andere des Irrthums zeibt, 
midjt darüber beklagen, wenn man ihn um feine Legi: 
timation befragt, den Maßftab der kirchlichen Principien 
anlegt und auf Grund berjelben ihn als falſchen Bros 
pheten gurüdtoeit. Es muß zwar Spaltungen geben, 
fagt ber Apoftel; aber daraus folgt nicht, daß man ung 
on ba$ Kleinod unferer religiöfen Dogmen und Ueber: 
zeugungen beliebig taften, daß man ben Irrthum für 
gleichberechtigt mit der Wahrheit darftellen dürfe oder 
daß man fid) die Verbreitung verberblidjer Lehren ges 
fallen laſſen müſſe. Es muß geftattet fein, die Gefahr 
rechtzeitig zu fignalifiren, wie e8 geftattet fein muß, bem 
Sriebbreder das Gaſtrecht zu verweigern Nur mer 
den Werth des religiöfen Glaubens und der reinen Sitte 
nicht fennt, fann ben Gedanken mißverftehen, ber bem 
Glaubensgericht zu Grunde Liegt. 

Bei diefem Gerichte, wir überjehen dieß nicht, kaun 
bie literarifche Kritik felbft nur eine untergeordnete Rolle 
fpielen; der Recenfent famn hier nicht der Richter felbft 


404 Linfenmann, 


fein; aber für ganz entbehrlich Können wir die Funktion 
ber fitit auf diefem Gebiete bod) aud) nicht erklären; 
die Funktion ift wenigſtens eine vorbereitenbe, fignalifi- 
vende, oft aud) verhindernde; fie kann aud zur Ber 
fändigung führen und als Schiedsgericht weitere Prozeſſe 
abſchneiden. Es ift felbftverftändlich, baf mir bie Ehre 
und den Charakter eines Schriftftellers nicht bem nádjften 
beften Literaten ohne Beruf oder Legimation preisgeben; 
wer über Orthoborie unb correcte Richtung urtheilen 
Toll, der muß fid) zuvor darüber ausweifen, ob er felbft 
verftehe was Stedjtgláubigfeit und kirchlicher Charakter 
bebeute. 

Aber felbft wo biefe Vorausfeßungen zutreffen, möge 
bod) bie Kritik fid) ftet8 defjen bewußt bleiben, von wie 
befonderer Art die Sitten- und Keßerrichterei unter allen 
Umftänden ift. Im Mittelalter jagte man: drei Dinge 
find, bie feinen Schimpf leiden, ber Glaube, das Auge 
und die Zungfraufhaft! Daran fol man nicht ohne 
Stotb, aus blofer Streitluft taften! Hier darf nicht mit 
bloßen Verdächtigungen, Anfpielungen, vom verborgenen 
Winkel aus, vorgegangen werden, fondern man muß 
Beweiſe bringen und ehrlich dafür einftehen; im folder 
zarter Angelegenheit gilt nicht vorlautes Abſprechen 
ohne gründliche Prüfung, eine Anfeindung blos um bet 
Schule willen, welder ein Schriftfteller angehört, oder 
blos um des Stufe willen, der ihm vorausgeht und 
ben ihm eine übelwollende Kritik vorausgeſchickt. Jeder 
ernſte theologiſche Schriftfteller weiß, wie ſchwer es ift, 
fid) in den tieferen Beziehungen der religiöfen Wahrheiten 
vor jedem Irrthum und jeder Illuſion zu bewahren, 
und wie ſehr wir von Tag zu Tag mod) zu lernen haben, 





Sehriftſiellerthum amb literariſche Kritik, 405 


wie wenig toit und alfo aud) auf unfer eigenes Urtheil 
in den ſchwierigſten Streitfragen verlaffen fónnen. Ebenſo 
weiß jeber, ber nicht ganz ohne eigene Erfahrung ift, 
wie leicht man fid) über Worte entzweien, oder aber 
bei einigem guten Willen aud) verftändigen fan, und 
wie ſchwer e3 einem Schriftfteller ift, feine Darftellung 
gegen jedes Mißverftändnig und jede SRiBbeutung fidet 
zu fielen. Wie oft hat man nicht eine Meinung ver 
fegert, blos weil fie neu war, ohne zu unterjuden, 
ob fie nicht gerade zur befleren Crfenntui ber Wahr- 
heit und zur Förderung der Religion biente! 

Wenn toit trogdem ber Kritif aud) in diefer Richtung 
einen Beruf zufchreiben, [o ift e8 bod) fein erfreuliches 
und beneibenswerthes Amt. Die Morgenländer haben 
bie Sage, baB Lucifer dem Engel, der ihn in den Ab- 
geund ftieß, einen fo entjeglihen Blick zugeworfen, daß 
der Engel ihn nimmer vergefien und nimmer tedjt froh 
werben Tonnte. Dieß kann man nun freilih vom chriſt⸗ 
li$en Standpunkte aus anders auffaflen. Der Sieg 
Gottes über den Widerſacher, des Glaubens über ben 
Unglauben ift groß unb ruhmvoll, und bie Berufenen, 
melde ihn haben erfireiten helfen, haben ein gutes 
Berk vollbracht; aber — es ift ficherer, wenn Engel e8 
ijum, al8 Menſchen. Menſchliches Richten muß uns 
immer etwas bange machen, oft nicht fo jer um ben 
Gerichteten, jondern um den Richter felbft. 

Wir find zu Ende. Wir wollten Rechte und Pflichten 
des fchriftftelleriichen Berufes abwägen und bejonber8 
ber Titerarifchen Kritik ihre Bedeutung für Wiſſenſchaft 
und geiftiges Leben der Menfchheit fihern. Den Schrift: 
ftellern, bie fid) über bie Mißgriffe der Kritif beflagen, 

Sel Quarialſchtift. 1888. Heft III. 27 


406 Linſenmann, Sqhriftſtellerthum u. literariſche Kritil. 


ſagen wir: Wer von euch ohne Sünde ift, werfe den 
erften Stein auf fie! 

Allen aber, bie ihres hoben Berufes warten, für 
die Wahrheit fümpfen unb ijr Licht Leuchten lofjtm, 
Lehrer und Meifter genannt werden und nad) Ruhmes-⸗ 
kraͤnzen ringen; Allen cud), welche der Eifer für bit 
gute €ade verzehrt, muß immer und immer wieder 
gefagt werden ober fie müſſen e8 fid) felbft fagen: 
„Wenn id in den Zungen ber SRenidjem rede und ber 
Engel, habe aber bie Liebe nicht, fo bin id) ein tönenbes 
Erz und eine flingenbe Schelle geworben. tmb mem 
id) bie Gabe ber Weiſſagung habe und kenne alle c 
heimniffe und jegliche Wiſſenſchaft; und menm ich allen 
Glauben Habe, fo daß ἰῷ Berge verfege, habe aber die 
Liebe nicht, fo bim id) nichts“ (I. Kor. 18, 1. 2). 


2. 
Sur Galileifrage 





Bon Prof. Dr. Funt. 





As f. von Gebler fein Wert: Galileo Galilei und 
bie römifche Curie 1876, veröffentlichte, flagte ev in 
ber Vorrede, daß, während Italiener und Franzofen 
eine äußerft teidje Literatur über ©., feine vielum- 
fitittenen Schickſale und epodjemadyenben Errungenfhaften 
aufzuweifen haben, im Deutſchland über diefen Heros 
ber Wiſſenſchaft verfhwindend wenig geſchrieben worden 
fd. Inzwiſchen ift es etwas anber8 geworben. Kommt 
unfere Galilei - Literatur der jener Nationen aud) mod) 
wicht gleih, fo ftebt fie Hinter ihr bod) nit mehr fo 
gar weit gurüd. Weber ben Procek des großen Ge. 
lehrten wurde in ben legten Jahren in Deutſchland nicht 
υἱεῖ weniger verhandelt als anderwärts. Auf die Schrift 
Gebler's folgte, von kleineren Arbeiten abgefehen, 1879 
bie eingehende Unterfuhung von Reuſch (Der Proceß 
Galilei's und die Jefuiten). Jüngſt (1882) erjdienen 
die Galileiftublen von Grifar. Die hervorragende Publi- 
cation gibt ung Anlaß, über den Stand ber Angelegen- 
heit in diefer Zeitſchrift kurz zu berichten. Zuvor mögen 

27* 


408 gunt, 


aber mod) bie übrigen michtigeren Publicationen aus 
der neueren Zeit aufgeführt werben. 

Den Anfang mit Veröffentlihung ber Acten bes 
SBrocefje8 G.'s machte 1860 der Präfect des vaticaniſchen 
Archives Marino Marini?), aber aud) nur den Anfang, 
da bie Documente nicht ganz und vollftändig mitgeteilt 
wurden. Die Acten befanden fid damals [εἰς 1846 
toieber in Rom, nachdem fie ungefähr 35 Jahre in Paris 
gelegen, wohin fie unter Napoleon I., wubefamnt iu 
weldem Jahre, gefommen waren. Gebler (&. 387) 
bemerkt, fie feiem von der franzöſiſchen Regierung dem 
päpftlihen Ctuble mur unter ber Bedingung gurüdge- 
geben worden, daß fie vollinhaltlich veröffentlicht würden ?). 
Er ftüßte fid) wohl auf den Bericht Biot's im Journal 
des Savants (1858 p. 397), in bem übrigens das „voll 
inhaltlich" nicht fteht, und diefer ftammt wahrſcheinlich 
aus zuverläffigen Quellen, wenn biefelbem aud nicht 
angegeben find. Der Zweifel, den Grijar €. 2 Anm. 1 
bezüglich des römischen Verſprechens äußerte, wurde deß⸗ 
halb €. 369 mit Recht etwas gemildert. Wenn bei- 
gefügt wird, daß bie franzöfiihe Regierung zweifellos 
tein 9tedjt "hatte, bei ber Uebergabe Bedingungen zu 
ftellen, da e8 fid mut um pflihtmäßige Stüderftattung 
des Eigenthums Danbelte, jo ift dad ganz richtig. Nur 
ift diefer Punkt für die Pflicht der römiſchen Gurie, ein 
SBerfpredyen zu erfüllen, menm e8 gegeben ift, von 
feiner größeren SBebeutung. 

Wie es fid mit der fraglichen Verpflichtung ver- 

1) Galileo e l'inquisizione. Memorie storico-critiche. 


2) Ex wiederholt bie Behauptung in bem zweiten Banbe feines 
Werles: bie Arten des Galilei den Procefied (1877) €. XXXV. 


Zur Galileifrage. 409 


halten mag: bie Publication entiprad nidjt ben Erwar: 
tungen ber gelehrten Welt. Der Franzofe Henri be 
T'€pinoi8 bemühte fid) daher, fenntniB von bem Manu— 
feript zu erhalten, und bie erbetene Erlaubniß wurde 
ihm gewährt, nachdem das Gejud) des Italiener? Albert 
und be8 deutſchen Mathematifer3 Cantor einige Zeit 
vorher abſchlägig beſchieden worden war. Indeſſen ko— 
pitte er nur die wichtigſten Documente ganz; von den 
übrigen gab er nur Auszüge, und fo war auch mit feiner 
Publication *) ber Wiſſenſchaft nicht genügend gebient. 
Aehnlich verhält es fid) mit ber Arbeit des Italieners 
Berti ?), der die Erlaubniß zur Einfihtnahme des Manu= 
feriptes etwas fpäter erhielt. Die Acten werben, obwohl 
man nad bem Titel das Gegentheil erwarten Tönnte, 
wieder nicht ganz mitgetheilt, und bie Veröffentlichung 
läßt auch bezüglich der Sorgfalt und Treue mandes 
wünſchen. 

Indeſſen ſollte der vollſtändige Text der Acten nicht 
mehr lange vorenthalten bleiben. Er erſchien 1877 in 
doppelter Ausgabe, in Paris und in Stuttgart, indem 
ihn bie beiden Galilei-Forſcher Epinois und Gebler un- 
mittelbar mad) einander abſchrieben. Die Gebler'ſche 
Publication *) als bie fpütere hatte ben Vorteil, bie 
Arbeit von Cpinoi$ nod) benügen zu fünnem, und fie 
übertrifft biefe burd) Sorgfalt und burd) engften An— 


1) Galilée, son procds, sa condemnation d'apres des do- 
cuments inédits. In ber Revue des questions historiques 1867 
und aud feparat erjdjienen. 

2) I1 processo originale di Galileo Galilei pubblicato per 
la prima volta 1876. 

8) Die Acten des Galilei'ſchen Proceſſes. Nach ber Saticani- 
iden Handſchrift Herausgegeben. gl. €. 408 Anm. 2. 


410 Sunt, 


ſchluß an das Original bezüglich ber Schreibmeife. Die 
Publication von Epinois ") aber hat baburd) einen be: 
fonderen Werth, baf ihr elf photographifche Facfimiles 
von bedeutfamen Stellen der Handſchrift beigegeben find. 

Das vaticanijdje Manufeript umfaßt übrigens nicht 
alle auf ben Proceß G.'s begüglidjem Documente, und 
diefe Erſcheinung erflärt fid) daraus, daß bie Acten bet 
römiſchen Inquifition in zwei Reihen von Bänden auf. 
bewahrt wurden, von denen bie eine bie Decreta ent- 
Hält, b. L bie SBrotofolle über bie Sigungen des HL Df- 
ficum und bie darin gefaßten Beſchlüſſe, bie andere 
bie Processus, b. i. bie Protofole über bie Verhöre 
ber Angeklagten und bie Actenſtücke zu ben Procefien, 
Briefe, Gutachten ber Gonjultoten, Vertheidigungsfchriften 
ber Angeflagten u. dgl., und daß bet ftaglidje Band 
aus ben ©. betreffenden Stüden von zwei Bänden ber 
zweiten Glafje zuſammengeſetzt ift*), jo daß bie einſchlä⸗ 
gigen Decreta in ihm feine Aufnahme fanden. €3 fehlen 
ingbefondere ba8 Urtheil ber Inquiſition v. 22. Juni 
1633 und bie Abſchwörungsformel ©3. Indeſſen find 
diefe beiden wichtigen Documente ſchon feit bem 17. Jahr⸗ 
Hundert befannt unb fie wurden wieberholt gebrudt. 
Der italienische Driginaltert ftebt u. a. in ber Gefammt- 
ausgabe ber Werke G.'s von Albert *), der lateiniſche 
Tert bei Gebler ©. 422—498, beide Formen zumal 
bei Grijor €. 131—137. Wenn abet die auf ©. be 

1) Les pibces du procde de Galilée précedées d'un avant- 
propos. Rome et Paris 1877. 

2) Bol. Gebler, Galilei S. 894 f. Reuf ©. 4. 

8) Le opere di Galileo Galilei. Prima edizione completa 
condotta sugli autentici manoseritti Palatini Firenze 1849 — 56. 
Mit dem Cupplementbanb 16 fBbe, 





Zur Galifeifrage. 41 


‚üglichen Decreta von ber vaticanischen Handſchrift aus⸗ 
geſchloſſen wurden, fo ift bod) eine Reihe berfelben duch 
die Publication Gherardi's 1) befannt geworden. Das 
Angeführte möge hier genügen. Bezüglich ber weiteren 
fiteratur fei auf Grifar €. 1—10 und bie Berichte von 
Schanz in ber Liter, Rundſchau 1878 Nro. 1 und 13 
fowie im Liter. Hand. Nro. 252—254 pertoiejen. 

(8 war bekanntlich bie Annahme und Bertheidigung 
des foperuifanijden Weltſyſtems, mas bas Firchliche 
Einſchreiten gegen ©. veranlaßte. Die bezügliche Lehre 
war zwar [don feit bem Jahr 1543 befannt, in bem 
das epochemachende Wert De revolutionibus orbium 
coelestium des Frauenburger Domherrn erichienen war. 
Cie war aber bisher unangefochten geblieben, obwohl 
fie nad) der damals vorherrſchenden Anſchauung mit ber 
Sete ber Schrift unvereinbar war, hauptſächlich weil die 
bem Werte beigegebene SBotrebe von Andreas Dfiander 
die Meinung verbreitet hatte, Kopernikus habe die Lehre 
nicht als feine pofitive llebergeugung, jondern mur ala 
Fiction zur leichteren Berechnung beà Laufe ber Ge: 
fine unb in biejem Sinne ala Hypotheſe vorgetragen. 
Diele Auffaffung war jedenfalls bie vorherrſchende und 
allgemeine, wenn aud) die Freunde des großen Aſtro⸗ 
Women, von bet Sache beffer unterrichtet, anders badjten?). 
Cie war aber unrihtig, und e8 mußte daher zu Gon 
flicten fommen, wenn fid) bie herausftellte oder andere 

1) Il processo Galileo ridevuto sopra documenti di nuova 
fonte. Bivista Europea 1870 und feparat er[dienen. Die tid 
tigften Documente bat Gebler in fein Wert aufgenommen. 

2) Bel. Grifar €. 16. 281—289. Der Thatbeftand wurde 


zuerft richtig geftelt durch Bedmann, Bur Geſchichte des Top. Gig» 
fem, in der Zeitſchrift für Geſchichte Ermlande 186864. 


412 Sunt, 


ber Lehre einen mehr als hypothetiſchen Werth quer 
kannten. Diefe Wendung fuüpft fi am den Namen 
9.8, burd) deſſen Cntbedungen dad neue Weltſyſtem 
eine weitere Begründung erhielt. 

Nachdem ©. ſchon frühzeitig privatim und in Briefen 
für daffelbe fid) erflärt hatte, ſprach er fid) in bem 
Sidereus Nuncius 1610 und noch entſchiedener in der 
„Geſchichte und Erflärung ber Sonnenfleden“ (Istoria 
e dimostrazioni intorno alle macchie solari) 1613 
Öffentlich zu beffem Gunften aus. Sofort machte aber 
ud) die alte Weltanſchauung ihre vermeintlichen Rechte 
geltend. Nod 1618 fam man eines Tages an ber 
großherzoglichen Tafel in Pifa auf bie Angelegenheit | 
zu ſprechen. ©. fühlte fid) baburd) bewogen, ba mar 
bie neue Lehre als ſchriftwidrig bezeichnet hatte, in 
einem Briefe an feinen Schüler und Freund, ben ge: 
lehrten Benebictiner Gaftelli, ihre Vereinbarkeit mit der 
Schrift nachzuweiſen ?), unb 1615 führte er bie hier 
entwickelten Grundfäge in einem Schreiben an bie Grof- 
herzogin⸗ Mutter Chriftina nod) weiter aus. SSeranlaffung 
zu bem zweiten Schreiben gab ber Angriff, ben der 
Dominikaner Caccini im Advent 1614 in Santa Marie 
Novella in Florenz auf bie neue Lehre machte, ald er 
in ber Erflärung des Buches Joſua zu bem Morten 
Tam: Sonne, ftehe fill gen Gabaon u. ſ. m. (10, 12—14). 
Der Angriff auf ber Kanzel erregte begreiflicherweiſe 
bedeutendes Auffehen. Indeſſen blieb e8 nicht bei ihm. 
Der Dominikaner Lorini brachte bie Gadje 1615 vor 
bas hl. Officium, indem er den Brief am Caftelli nad 


1) Geblez, Acten S. 14—21. 








Zur Galileifrage. 413 


Rom einfandte, und bald mad) ihm trat aud) Gaccint 
als Kläger vor jener Behörde auf!). So wurde in 
Rom über bie Angelegenheit verhandelt. Die Verhand⸗ 
lungen blieben indeſſen vollftändig geheim, und wenn 
©. nod im Dezember 1615 fij im die ewige Stabt 
begab, fo that er den Schritt nicht in Folge einer Eis 
lation, fondern aus freien Stüden, wenn andererſeits 
freilich zugleich in ber Abfiht, den Bemühungen feiner 
Gegner entgegenzutveten. Sein Aufenthalt dafelbft er- 
firedte fid) bis Juni 1616, und in biejer Zeit widelte 
fi fein erfier Proceß ab. Derfelbe nahm zwar 
für bie fopernifani]de Theorie einen ungünftigen Ver: 
lauf. Die elf Theologen des BL. Offiziums gaben am 
23. Februar 1616 über bie zwei, wie es fcheint der 
Soemunciation Caccini's entnommenen, Säge: 1) bie 
Sonne ift ber Mittelpunkt der Welt unb durchaus uns 
beweglich; 2) bie Erbe ift nit der Mittelpunkt bet 
Welt und nicht unbeweglich, fondern fie bewegt fid) 
tüglid) um fid) ſelbſt, das Gutachten ab: bie etfte Pro- 
pofition fei philoſopiſch betrachtet thöricht und abſurd und 
formell häretiſch, da fie der HI. Schrift nad) bem Wort: 
laut und der gemeinen Auslegung und Deutung der Väter 
und Theologen an vielen Stellen ausdrücklich widerſpreche; 
bie zweite erhalte in ber Philoſophie biefelbe Genjur; 
theologiſch betrachtet fei fie menigftens im Glauben 
itrig ?). Das Gutachten wurde fofort am andern Tage 
ben verfammelten Gardinälen ber Inquifitionscongregation 
vorgelegt. Am 25. Februar enblid) wurde eine Gigung 
der Garbinále der Inguifition in Gegenwart bes Bapftes 


1) Gebler, Arten €. 25—81. 
2) Gebler, Arten ©. 47 f. 


414 gunt, - 


abgehalten und einerſeits das Urtheil über die bie koperni⸗ 
kaniſche Lehre vertretenden Schriften der Indezcongregation 
übergeben, anderfeit3 über ben Angeklagten Beſchluß gefaßt. 
Das Inderdecret ?) erſchien am 5. März, und das Werk 
des Kopernikus und ber Gommentat bes Auguftiners 
Diego bi Stunica zum Bude Job wurden fujpenbirt, 
donec corrigantur ; bet Brief des Karmeliterd Fosca⸗ 
tini sopra l'opinione de Pittagoriei etc. (1615) wurde 
wegen ber ganz entjdjiebemen Parteinahme für das fo: 
pernikaniſche Syſtem fammt allen anderen Büchern, melde 
in gleicher Weife daſſelbe Iehrten, völlig verboten. Aber 
für bie Perſon G.'s lief die Angelegenheit ungefährlich 
ab. Man wollte gegen fie bie möglichfte Milde walten 
laffen. Nur mußte ©. felbfiverftändli bie cenjurirte 
Lehre aufgeben. Der Cardinal Bellarmin erhielt mit 
bem Commifjär der Inquiſition in ber Gigung vom 
25. Februar den Auftrag, ihn zur Annahme dieſes Ber 
ihluffes zu vermögen. Die Ausführung erfolgte am 
26. Februar ?). Weiter aber wurde &. wicht bebelligt. 
Als fih in Venedig das Gerücht verbreitete, er jei mit 
Gewalt nad) Rom geſchleppt und wegen feiner für irrig 
und Düretijd erklärten Anſichten ſtrengſtens verwarnt 
und mit ver|djiebenen Bußen bedacht worden, ſtellte ihm 
ber Garbinal Bellarmin am 26. Mai auf feine Bitte 
ein eigenhändiges Zeugniß aus, in bem jene Ausſagen 
für nichtig erflärt und das gegen ihn beobachtete Ber: 
fahren richtig geftellt ift. 

Im Vorftehenden ift der Verlauf be8 erften Pro- 
ceſſes mit kurzen Strichen gezeichnet. Dabei blieben bie 

1) Gebiet, Acten &, 50. Grijar ©. 180. 

2) Geblez, Arten S. 48 f. Griſat S. 129. 





Zur Θαπιείταρε, 415 


Controverſen unberüdfichtigt, bie berjelbe veranlafte. 
Run follen aud) nod) biefe berührt werden. Sie fuüpfen 
fid alle an ba8 G. ertheilte Specialverbot, bie koperni⸗ 
laniſche Lehre beizubehalten. 

Wohlwill *) und Gherardi ?) haben gleichzeitig bie 
Anfiht ausgeſprochen, der jenes Verbot betreffende Bes 
tit vom 26. Februar fei eine Falſchung v. 3. 1633, 
geſchmiedet in ber Abfiht, ein Fundament zur Verur⸗ 
teilung G.'s im zweiten Proceß zu gewinnen, und bie 
Anſchauung fand mehrfachen Beifal. Insbeſondere hul⸗ 
digte ihr früher auch Gebler. Als er aber die Acten 
mit eigenen Augen unterſuchen und prüfen konnte, ſtellte 
ſie ſich ihm als durchaus grundlos dar, und er nahm 
feinen Anftand, fie zu widerrufen ?). Ebenſo ſprachen 
fid) bie übrigen Forfcher, melde von den Acten Einfiht 
zu nehmen in ber Lage waren, wie Berti und Epinois, 
für bie Integrität derfelben aus, und jo Tann über biefe 
Frage fein vernünftiger Zweifel mehr beftehen. Scar- 
tazzini 4) verkündigte zwar ben Stalienern, daß iu 
Deutſchland mur mod) fiterarijde Charlatans anderer 
Anfiht feien. Aber bie Gadje [dint fid) eher umge: 
kehrt zu verhalten. Die ernfteren Gelehrten, aud Reufch, 
nahmen bie Aechtheit des fraglichen Documentes an, 
und nur Leute, welche in hiftorifchen Unterſuchungen nod) 
unerfabren find, beharren bei der angeblichen Fälſchung. 

Wenn Gebler inbeffen bie Aufzeihnung vom 26. Febr. 
als ächt anerkannte, jo glaubte er bod) nod) die Richtig: 


1) Der Inquifitiondproceß beb Galileo Galilei 1870. 
2) Bol. Gebler, Galilei ©. 101 ff. 

8) Acten ©. XX—XXIIL. 

4) Bivista Europea 1878, Vol. VIII, p. 790. 


416 Sunt, 


Teit ihres Inhaltes und ihre juriſtiſche Brauchbarkeit 
im zweiten Proceß bezweifeln zu follen. Er fand fie 
in Widerfprud mit den fpäteren Ausſagen G.'s, ba 
fie duch den Commifjär ein abfolutes Stillſchweigen 
anbefehlen Yafje, während ©. nur von ber Verwar⸗ 
nung Belarmin’3 wifle, die cenfurirte Lehre al8 wahr 
feftzubalten, und er vermißte bie erforderlichen Unter: 
ſchriften, weßhalb er ihr alle Beweiskraft für den fpäteren 
Proceß abjpradj?). Allein jener Widerſpruch ift in Wahr- 
heit nicht vorhanden. Das in bem Paſſus nec eam 
(opinionem) de cetero quovis modo teneat doceat aut 
defendat, verbo aut seriptis in Betracht fommenbe 
quovis modo ift nicht im Sinne eines abjoluten Still: 
ſchweigens zu faflen. Es erhält vielmehr feine nähere 
Beftimmung dur das nachfolgende verbo aut scriptis, 
und ber Sinn ift demgemäß, ©. dürfe bie verbotene 
Anſicht auf Feine Weife, weder ſchriftlich nod) mündlich, 
fefthalten ober vortragen, nicht aber, er dürfe gar nicht, 
auch nicht in ber allgemein zugelaflenen hypothetiſchen 
Weiſe, von ihr handeln. Gbenjomenig fteht bie Auf: 
zeichnung mit ber vom vorausgehenden Tag (25. Febr.) 
in Widerfpruh, ba bie Ueberfegung der Worte succes- 
sive et incontinenti mit „glei darauf ohne Unter: 
brechung“ und bie darauf geftügte Annahme, man habe 
aljo am 26. Febr. ©. Feine Zeit gelaffen, um fid) auf 
bie Vorftelungen Bellarmin's zu äußern?), völlig uns 
richtig ift. Der Ausdrud incontinenti bedeutet nad) den 
Nachweiſen Griſar's (S. 50 f.) nidt8 anderes als das 
beutjde „Im Anſchluß hieran“, und zwiſchen den in 


1) Acten €. XXIV—XXXII, 
2) Gebler, Galilei &. 98. 


Zur Galileifenge. 417 


Betraht fommernben Vorgängen Tann fogar ein längerer 
Zeitraum in der Mitte liegen. Auf der anderen Seite 
ift aber aud) bie umgekehrte Anſicht nicht ſtichhaltig, bie 
pãpſtliche Anordnung vom 2D. Febr. fei ftrenger als 
ihre Ausführung vom 26. Febr., fofern G. im Falle 
der Fruchtlofigkeit feiner Ermahnung burdj den Garbinal 
Bellarmin burd) ben Commiſſär zu gümjidem Etill- 
ſchweigen über bie fopernitanijdje Lehre verpflichtet werben 
folte, während ihm eine [o weit gehende Verpflichtung 
nachher doch nicht aufgelegt worden [εἰ ἢ. Die Worte 
seu de ea tractare find feineswegs in jenem Sinne 
zu deuten. Cie find vielmehr, wie Grifar richtig fiebt 
(δ. 54), nichts anderes als eine pleonaſtiſche Wiederholung 
be8 bereit3 mit den vorausgehenden Worten docere aut 
defendere au8gebrüdtem Gedankens. 

Die Bedenken gegen bie juriſtiſche Giltigleit der 
Aufzeihnung vom 26. Febr. heben fid), fobald man 
deren Charakter richtig erkennt. Die Aufzeichnung ift 
nicht, wie Gebler meint, eine Annotation, ſondern eine 
Regiftratur und als fole amtlihen Charakters. Die 
vermißten Unterfäriften von G., Notar und Zeugen 
braudte fie gar nicht. Es genügte zu ihrer Giltigfeit 
mad) bem Tanonishen Recht, wenn fie vom Notar als 
Öffentlicher Perfon aufgefegt und wenn bie Vorgänge 
treu und vollftánbig angegeben waren. Demgemäß tragen 
auch die Regiftraturen vom 30. April unb 2. Juli 1633 
Teine Unterſchriften. Da dem jo ift, fo erweifen fid) bie 
auf bie fraglide Aufzeichnung geftügten Zweifel gegen 
die „Eorrectheit“ des zweiten Proceſſes und gegen bie 


1) Stimmen au$ Maria-Laach 1878. I, 896 f. 


418 gunt, 


Rechtlichkeit“ der gefällten Sentenz ebenfo als grund: 
108 wie bie Rebe von „einer finfteren Machination“ ber 
Feinde 0.8, bie bei ber Stegiftatur wirffam geweſen 
fein fol ἢ. Die Beweisführung Griſar's ift bier fo 
überzeugend, daß jene Bedenken durchaus verflummen 
müffen. Auch Stujd hat ihre Kraft anerfannt. Bir 
gehen auf bie Sache nicht weiter ein. Beizufügen ift 
nur nod, daß aud) bie Vorausfegung be8 Zweifels 
völlig grunblo8 ift. Gebler meinte nämlich, ba8 Special 
verbot in ber bekannten firengen Auffafjung [εἰ zur 
Syufiruirung be8 zweiten Proceſſes nothwendig gemefen. 
Die Anſchauung ift aber nicht haltbar. Der zweite 
Proceß war möglich ohne jenes Verbot, und thatſächlich 
fpielt diefes ja aud) Feine entſcheidende Rolle in ifm. 

Was mun ben zweiten Proceß felbft anlangt, 
fo wurde er burd) den Dialog über bie beiden Welt: 
fofteme veranlaßt. ©. trug fi mit dem Plane bieje 
Werkes ſchon feit langer Zeit. Zur Ausführung fdritt 
er, wie aus bem Verhör vom 12. April 1633 hervor⸗ 
gebt, um 1622 und arbeitete am bemjelbem, freilich 
mit Unterbrechungen, fieben bis acht Jahre. Nach einem 
Briefe an den Fürften Gefi v. 24. Dec. 1629 war bad 
Werk zu biefer Seit fo ziemlich feiner Vollendung nahe. 
Erſchienen ift e8 1632 unter bem Titel Dialogo di 
Galileo Galilei Lineeo Matematico Sopraordinario 
dello Studio di Pisa e Filosofo e Matematico Primario 
del Serenissimo Granduca di Toscana: dove nei con- 
gressi di quattro giornate si discorre sopra i due 
Massimi Sistemi del Mondo, Tolemaico e Copernicano, 


1) Gebler, Arten €. XXX—XXXIL 


Zur Galileifrage. 419 


proponendo indeterminatamente le ragioni filosofiche 
e naturali tento per l'una quanto per l'alira parte. 
Es ift in vier Dialoge ober Tage eingetheilt, und bie 
Gollocutoren heißen Sagredo, Salviati und Simplicio. 
Die beiden erften, zwei damals bereits geftorbene Freunde 
6.3, ber eine ein vornehmer Venetianer, der andere 
ein gelehrter Florentiner, vertreten das kopernikaniſche 
Spftem; ber dritte, der den Namen des Gommentatorà 
des Ariftoteles führt, tritt für bie ptolemüijdje Welt: 
auffaffung ein. 

Der Publication gingen längere und ſchwierige 
Verhandlungen voran ?). Es wurde zuerft gerathen, dag 
Buch in Frankreih, Deutſchland, Venedig oder Genua 
druden zu laſſen. ©. lehnte bie Vorſchläge ab. Er 
wollte bie römische Approbation erlangen und begab fid) 
zu biejem Behufe im Mai 1630 in bie ewige Stabt, 
nachdem er zuvor burd) Gaflelli über bie Stimmung 
dafelbft Erkundigungen eingezogen hatte. Der Papft 
und verſchiedene Cardinäle nahmen ihn freundlich auf. 
Auch die Verhandlungen über ba8 Imprimatur Tießen 
fid anfangs gut am. Der püpfilide Palaftmeifter Ric- 
carbi war ihm fehr gewogen. Nur follten einige Revi- 
fionen vorgenommen werben. Gleichwohl erfolgte der 
Stud nicht in Rom. — Gaftellt rieth am 24. Auguft, das 
Wert in Florenz unter bie Preſſe zu bringen, ohne 
Zweifel, weil er allmählig gefunden hatte, daß bet 
Druck bei ber Richtung des Dialoges in Rom nicht zu 
Stande kommen würde, und ©. ging auf ben Antrag 
ein. Dos Werk mar [omit burd) bie dortige Behörde 


1) Bel. darüber Reuſch ©. 192—218. 


420 gunt, 


zu prüfen und erhielt bie Approbation des Inquiſitors 
und Generaloifor8 von Florenz. Bor diefelbe ſetzte ©. 
auf ber Rüdfeite des Titelblattes ba8 Imprimatur bed 
päpftlichen Palaſtmeiſters. Dieſer Schritt ift nicht zu 
tedjtfertigen. Dagegen war bas Imprimatur von Florenz 
tedjt8giltig. 

Der Dialog blieb trogbem nicht unbehelligt, und 
fo wie bie Dinge ftanden, fonnte er nicht ohne Anfeh- 
tung bleiben. Der Rahmen, innerhalb deſſen die koper⸗ 
mifanijde Anficht erörtert werden durfte, war offenbar 
überfhritten. G. ſprach von berjefben nicht bloß Dopo: 
thetiſch, ſondern trat offenbar als ihr Anwalt auf. Das 
Werk wurde daher einer Prüfung unterzogen, und bie 
zu biejem Behufe eingefegte Specialcongregation fam 
zu bem Ergebniß, bie ade [εἰ bem HI. Dfficium zu 
übergeben. Diejes beſchloß bie Vorladung des Ber: 
faffers, und nad) verſchiedenen vergeblihen Bemühungen, 
die Erlaubniß zur ſchriftlichen Verantwortung zu et 
falten, leiftete ©. ber Citation enblid) Folge. Am 
20. Jan. 1633 tei8te er von Florenz ab. Am 18. Febr. 
longte er in Rom an. 

Seine Behandlung war hier, von dem Proceß [εἴ 
abgejehen, eine ungewöhnlich milde. Er durfte feine 
Wohnung ftatt in bem Inquiſitionsgebäude in bem tod: 
kaniſchen Geſandtſchaftspalaſt nehmen, und als er enbli 
auf einige Wochen (nämlih vom erften Verhör am 
12. April bis zum zweiten am 30. April und vom 
21—24. Juni) fid) in jenes verfügen mußte, wurde ihm 
nicht etwa ein Kerker, fondern ein. Theil der Wohnung 
des Fiskals ber Inquifition, beftehend aus drei Zimmern, 
zum Aufenthalt angetoiefen. 


Zur Galileifrage. 421 


Das Berhör begann erft zwei Monate mad feiner 
Ankunft, am 12, April’). Bis dahin war bie Inquis 
ftion mit ber Inftruction des Proceſſes beſchäftigt. 
Die Fragen, bie am ifm gerichtet wurden, betrafen 
namentlich ba8 Specialverbot Ὁ. 3. 1616 und den Dia- 
log. ©. behauptete bezüglich be8 legteren, vom koper⸗ 
ullanifchen Spftem nicht anders als hypothetiſch gehandelt, 
εὖ nicht nur nicht für wahr angenommen, fondern fogar 
feine ungenügende Begründung aufgezeigt zu haben. 
Die Ausfage war fiherlih unmahr, und e8 toutben 
darum vor allem drei Theologen zur Abfaflung von 
Gutachten über die Richtung des Dialoges aufgefordert. 
Sie ſprachen fi alle dahin aus, daß ©. bie fopetni- 
laniſche Anfiht in dem Werke vertrete?), Die Cade 

, wurde in einer gewöhnlichen Inquifitionsfigung am 
am 27. April vorgetragen. In berjelben wurde zugleich 
der Commiſſär ermächtigt, im außergerichtliher Weile 
mit G. zu verhandeln, um ihn zum Geftändniß bezüglich) 
der Haltung des Dialoges aufzufordern. Man that 
biefen Schritt, weil er eher zum Ziele zu führen ſchien, 
während bei Einhaltung be$ gewöhnlichen Weges zu 
fürdtem war, man möchte ohne Anwendung größerer 
Strenge, bie man bod vermeiden wollte, nicht babin 
gelangen. Die Hoffnung tourbe nicht getäuſcht. Als 
ber Gommifür am anderen Tage fid) zu ©. begab, 
ging diefer auf die Vorftellungen eim. Wir erfahren 
von biejem Schritt burd) einen Brief des Commiſſärs 
an den Cardinal Barberini vom 28. April 1633, bet 
duch Pieraliſi, den Bibliothelar ber Barberiniana, auf- 

1) Die Acten des erften Verhöres bei Gebler S. 74—82. 

2) Gebler, Acten ©. 92—111. 
Veel. Ouartalfiheift. 1889. Heft ΠῚ. 28 


422 Sunt, 


gefunden unb publicitt wurde in bem Werke Urbano VIII 
e Galileo Galilei, Memoire storiche 1875 (p. 197). 
Syn Folge jener außergerichtlichen Verhandlung ge: 
ftaltete fid) das zweite Verhör am 30. April?) fer 
einfad. Die Inquifition ließ den Beklagten nicht vot 
führen. ©. verlangte vielmehr felbft, vor ben Commiſſär 
geführt zu werben, und gab jet bie Erflärung ab: er 
babe bei nodmaligem Lefen feines Dialoges biefem an 
mehreren Stellen fo abgefaßt gefunden, daß ber gejer, 
ber feine innere Oefinnung nicht fenme, zu der Meinung 
veranlaßt werben fünnte, bie für bie falſche Anficht vor: 
gebraten Argumente feien eher beweiskräftig als leicht 
zu widerlegen; er babe alfo gefehlt; ber Fehler ent: 
ſpreche aber nicht feiner Gefinnung, jouberm er fei eine 
Folge feines Ehrgeizes, ber Unwiſſenheit unb Unacht⸗ 
famfeit. Nachdem er bieje8 deponirt hatte und bereits 
entlaffen worden war, ferte er mod) einmal zurüd, um 
zu bemerken, daß er bereit fei, zur Bekräftigung feiner 
Verficherung über bie verurtheilte Lehre zu feinen Dia- 
logen einen ober zwei hinzuzufügen und bie für bie 
falſche Anſicht vorgebrachten Gründe zu widerlegen. 
Nach diefem Geftändniß durfte ©. in den Gejanbt- 
ſchaftspalaſt zurüdtehren. Der Proceß war aber mod 
nicht zu Ende. Am 10. Mai folgte ein drittes Berhör ?), 
und G. erhielt bie Exrlaubniß, eine Vertheidigungsihrift 
einzureihen. WI Termin wurde ihm eine Frift von 
adt Tagen anberaumt. Er konnte inbefjen, ohne Zweifel, 
weil er ſchon zuvor über das Verfahren verftändigt 
worden war, bie Schrift fofort übergeben. Diejelbe 


1) Gebler, Arten S. 82—85. 
2) Gebler, Wcten €. 86—91. 


Zur Galtleifrage. 423 


enthält eine Rechtfertigung feines Verhaltens bei Ver⸗ 
öffentlihung be8 Dialoge und die Bitte um Berüd- 
fibtigung feines Törperlihen Leidens, feiner geiftigen 
Bebrängniß, feines hohen Alters von 70 Jahren jomie 
feiner Ehre und Reputation gegenüber ben Berleum- 
dungen feiner Gegner. 

Fünf Wochen [püter, am 16. Juni, berieth bie 
Inquiſition über das weiter zu beobachtende Verfahren. 
In ber Smifchenzeit aber war ber ganze Proceß, von 
ber Denunciation Lorin’3 au, noch einmal tepibirt 
worden, und biejer Revifion verdanken wir ohne Zweifel 
die Weberficht ber Acten an ber Spige ber Actenfamm- 
bung ἢ) forie die Zufammenftellung der Acten der beiden 
Proceſſe in einen Band. Der Beſchluß jener Gigung 
lautet: ©. [εἰ noch über feine Intention zu verhören, 
uch unter Androhung ber Folter; und menm er bei 
feiner früheren Verfiherung beharre (et si sustinuerit), 
babe er fij-butd) bie Abſchwörung in einer Plenar- 
verfammlung des HI. Dfficiums von dem ftarten gegen 
ihn vorliegenden Verdachte zu reinigen und [εἰ zur Ges 
füngniffirafe und zu volftändigem Stillſchweigen über 
bie fraglide Lehre zu verurtheilen; ber Dialog fei zu 
verbieten und das Urtheil allen Stuntien und Inquifitoren 
zur Kenntniß zu bringen ?). Die Ausführung des erften 
Theiles erfolgte am 21. Juni, in bem vierten und legten 
Berhör *). ©. blieb bei feiner früheren Erklärung be: 
züglich feiner Intention. Als man ihn mit bem Be- 
merken zum Geftünbnig der Wahrheit auffotberte, man 


1) Gebler, Acten S. 1—10. Bgl. ©. ΧΙ f. 
2) Gebler, Acten ©. 112, 
3) Gebler, Acten ©. 112—114. 
28" 


424 unt, 


werde fonft gegen ihn bie geeigneten Mittel (remedia 
juris et facti opportuna) anwenden, erflärte er, er halte 
die Meinung des Kopernifus nicht feft, nod) habe er fie 
feit bem Verbote Ὁ. 3. 1616 feftgehalten; man möge 
mit ihm verfahren mad) Belieben; und als man ihm 
beftimmter mit ber Tortur drohte, wiederholte er bie 
Erflärung mit bem Beifügen, er [εἰ da, um zu gehorden. 
Die Abſchwörung fand am anderen Tage (22. Juni) 
im’großen Saale be8 Dominikanerklofter Santa Maria 
fopra Minerva ftatt. Dem Act voraus ging bie Ber: 
fünbigung be8 Urtheils. Der Dialog wurde verboten, 
ber Verfafler auf eine bem Ermefjen des hl. Dfficiumà 
anbeimftehende Zeit zur Haft und dazu verurtheilt, brei 
Jahre lang wöchentlich einmal bie fieben Bußpfalmen 
zu beten . Den nüdjften Tag hatte G. nod) in feiner 
befannten Wohnung im Inquifitionsgebäube zuzubringen. 
Am 24. Yuni durfte er aber fein ,GefüngniB" im to: 
kaniſchen Gejanbtidjaft8palaft wieder beziehen. 

Sein Aufenthalt in Rom dauerte nicht mehr lange. 
Am 2. Juli wurde ihm geftattet, zu dem Erzbiſchof von 
Siena, am 1. December, auf feine Billa Arcetri bei 
Florenz fid) zu begeben. Am 25. Febr. 1638 wurde 
ibm endlich die GrlaubniB zu Spell, fein Haus in 
Florenz zu beziehen. Doch hielt er fid) hier nicht immer 
auf. Seit Anfang des Jahres 1639 treffen wir ihn 
wieder in Arcetri. Er zog wahrſcheinlich den 9fufent- 
halt außer der Stadt bem in berjelben vor, toeil bod) 
feine Bewegung eine beicränkte mar, ba er immer 
mod) unter ber Aufficht ber jyuquifition ftanb. In Ar: 


1) Beide Documente, Urtheil unb Abſchwörung, in italienifchem 
und Iateinifhem Text bei Grifar ©. 181—137. 


Zur Gaftteifeage. 425 


Cri farb er aud am 8. Juni 1642 nach Empfang der 
Sacramente unb bes Cegen8 be8 Papſtes. Beftattet 
wurde er nicht, wie er in feinem Seftamente wünſchte, 
in ber Gruft feiner Familie in Santa Croce in Florenz, ἢ 
fondern in der Geitenfapelle der HI. Kosmas und Da- 
mian biefer Kirche. Bon ber Errichtung eines Grab. 
male8 mußte in Anbetracht feiner Berurtheilung zunächſt 
abgejeben werben. (τῇ 1734 wurde von der Inquifition 
bie GrlaubniB biezu ertheilt. 

Wir wollten zunächft bie Leidensgeſchichte G.'s zu 
Ende führen, ohne und, wie wir ähnlich bei der Dar- 
fellung des erften Proceſſes verfuhren, dur bie eins 
félügigen Gontroverfen aufhalten zu laffem. Indem 
wir nun zu diefen übergehen, ift vor allem zu bemerken, 
daß die viel berufenen Worte E pur si muove, „Und 
fie bewegt fid) bodj," bie G., mit bem Fuß auf bem 
Boden ftampfenb, geſprochen haben foll, als er fid) von 
der fnieenb vollbrachten Abſchwörung erhob, allgemein 
als bloße Sage anerkannt find. Beizufügen ift nur, daß 
fie nad) dem Nachweis von Grifar (S. 106) ſchon in 
dem „Lehrbuch der philoſophiſchen Geſchichte“ von Stei- 
mader 1774 fleben, während Qei8 (Natur u. Dffenba- 
tung 1868 €. 371) fie zuerft in bem 1789 in 7. A. 
zu Caen erſchienenen Dictionnaire historique verzeih- 
net fand. 

Die Anwendung ber Folter ferner kann Deutgutage 
ebenfalls nicht mehr behauptet werben. Wohlwill widmete 
zwar nod 1877 in ber Schrift: Iſt Galilei gefoltert 
worden? ber Frage eine eigene Unterfuhung und ge- 
langte zur Bejahung derfelben. Sein Ausgangspunft 
if der Sat im Schlußurtheil, man [εἰ gegen ©. bis 


426 Sint, 


jum Examen rigorosum geſchritten. Daraus fol mit 
aller Beftimmtheit folgen, bag G., nachdem bie üblichen 
Ermahnungen und bie Androhung ber Tortur ohne 
' Wirfung geblieben, am den Ort ber Tortur geführt 
und dort von neuem befragt worden fei, wenn aud) 
unentſchieden bleibe, wie man dann weiter mit ibm ver= 
fahren fei, ob man ifm entfíeibet, gebunden und alle 
weiteren Vorbereitungen zur Bollziehung ber Tortur 
getroffen oder ob man bie eigentlihe Tortur vollzogen 
babe. Als Regel [εἰ zwar anzunehmen, daß bie Tortur 
in Anwendung gebracht worden fei, wenn ald Ergebniß 
be8 Examen rigorosum ein Geftändniß nicht verzeihnet 
fei, ba der Richter verpflichtet gemefen fei, fie zu voll- 
sieben, wenn genügende Indicien vorlagen. Es habe 
jebod) Ausnahmefälle gegeben, um berenttoillen ein ſolcher 
Schluß nicht als ſchlechthin Deredjtigt angefehen werben 
dürfe (a. a. D. €. 29). Wohlwill muß aljo felbft ein- 
räumen, daß e8 allenfalls nicht bis zur Tortur felbft, 
fondern gleidjjam nur bis zur Schwelle berjelben oder 
bis zur Territio realis in ber Folterfammer gelommen 
if. Wenn er bedacht hätte, daß e8 bei Greifen Regel 
war, fie mit der Tortur zu verſchonen und fie mur durch 
Bedrohung mit der Folter zu ſchrecken), jo hätte ex 
das, was er als bloß möglich zugibt, in Anbetracht ber 
70 Jahre ©.8 ala mabridjeinlid) bezeichnen müffen, und 
dieß um fo mehr, al8 Papft und Earbinäle unbeftreit- 
bar wollten, δαβ man gegen ben berühmten Gelehrten nicht 
bis zum Mußerften fchreite. Indeſſen ift bie ganze 
Argumentation Wohlmil’3 unridjtig. Das Examen ri- 


1) Reufch, Proceß Giafilei'8 S. 808. 


Zur Galileifrage. 427 


gorosum oder ba$ peinliche Verhör und die Tortur find 
zwar nicht, wie bisweilen behauptet wurde, zwei ganz 
verſchiedene Dinge; bie Tortur ift vielmehr ein Theil 
von jenem. Aber bie Grenzicheide zwischen bem gewöhn⸗ 
liden und peinlihen Verhör war, wie Steujd) ') über- 
zeugend nachgewieſen hat, nit bie Abführung im bie 
Folterfammer, fondern ber zur Anwendung ber Folter 
ermächtigende Beſchluß. Demgemäß folgt aus ber Gr. 
wähnung be8 Examen rigorosum im Schlußurtheil nur 
das, was wir aud) aus ben Acten erfehen, daß G. im 
, Verhörslocal mit ber Folter bedroht wurde. Daß e8 
aber nicht über bieje Drohung ober bie Territio verbalis 
hinaus fam, zeigt ba8 Schweigen ber Acten. Denn wäre 
bie Abführung in die Folterfammer erfolgt, jo hätte fie 
fammt den Vorgängen an biejem Orte protofollitt toer- 
den müffen. Daß e8 fid) fo verhält, gibt Wohlwill 
felft zu. Nur behauptet er anbeterjeit8 (€. 96 ff.), 
ber Schluß des Protofols vom vierten Verhör [εἰ un 
ädt. Die Abführung in bie Folterfammer und bie 
Vorgänge in diefer feien toirflid) aufgezeichnet worden. 
Aber das urfprünglihe Protokoll, bezw. Blatt 453 in 
ben Acten, fei vernichtet und das jegt vorhandene mit 
gefälſchtem Schluß in die Acten eingejhoben worden 
(&..162 f.). Scartazzini erflärt ſogar ba8 ganze Pro— 
tofoll des vierten Verhöres für eine Fälſchung ?). Selbft 
das Datum fol unridjtig fein und das Verhör nicht 
am 21., fondern am 17. Juni fattgefunden haben, 
Allein von einer Fälſchung Tann mad) ber forgfältigften 
Prüfung derjenigen, toeldje bie Acten eingejeben haben, 
1) Proceh Galilei’ 65. 357—971. 
2) 38gl. Reuſch a. a. D. €. 319 ff. 


428 gunt, 


aud) an biejem Orte nicht bie Rebe fein. Die ange: 
führten Einwände find daher völlig grundlos. Scartaz⸗ 
zini mußte, um feine Chronologie plaufibel zu machen, 
überdieß die Berichte bes toskaniſchen Gefanbten Niccolini 
für Tügenhaft erflären. Wer aber fo mit Geſandſchafts- 
berichten verfährt, ber beweist, daß er als Hiſtoriker 
mod) in den finberidjuben ftedt. 

Obwohl G. durch die Inquifition verurtheilt wurde, 
fo vertrat er in bem Punkt, wegen befjem die Berur- 
theilung erfolgte, dennoch die Wahrheit. Die Sache ift 
heutzutage und [don geraume Zeit allgemein anerkannt. 
Das fopernifanijd)e Weltſyſtem ijt nicht abfurd und 
häretiſch, wie e8 in dem Urtheil v. 3. 1616 heißt, fon- 
dern richtig und wahr. Jenes Urtheil war vielmehr 
falſch, das Verbot ein unglüdliches, das bie Indexcon⸗ 
gregation in demfelben Jahre gegen ba8 Werk des 
Frauenburger Domherrn und andere ähnliche Werke 
erließ. Es wurde damit ein Irrthum begangen, und 
das Verſehen blieb wenigftens formell zwei Jahrhunderte 
lang in Kraft, wenn man thatſächlich aud) ſchon früher 
eine milbere Stellung zu ber verurtheilten Lehre ein 
nahm. Cümmtlidje Ausgaben bes Inder enthalten fortan 
das Decret v. J. 1616. Das allgemeine Verbot 
der fopernifanijden Literatur wurde zwar ſchon in bet 
Ausgabe v. 3. 1758 weggelaffen. Aber ba8 befon- 
dere Verbot der einzelnen namhaft gemachten Schriften 
blieb nod) über ein halbes Jahrhundert beftehen, bis 
bie rómijde Curie ihre Stellung zu ber Angelegenheit 
gründlich änderte. Als von bem päpftlihen Palaftmeifter 
Anfoffi dem Profefjor Seitele an ber Sapienza für 
feine „Elemente ber Optik und ber Afteonomie” das 


Zur Galileifrage. 429 


Imprimatur verweigert wurde, weil er ganz entſchieden 
bie Lehre von der Bewegung ber Erde vertrat, appellirte 
er an ben Papft, und die Schrift durfte gebrudt werden. 
Der Papſt verwies bie Cade an bie Congregation der 
Inquifition und beftätigte deren Beſchluß vom 16. Auguft 
1820. Zwei Jahre fpäter beſchloß biefelbe Gongtegation 
in allgemeiner Form, e8 fei zu Rom der Drud von 
Werken geſtattet, welche über die Beweglichkeit der Erde 
und bie Unbeweglichkeit δες Sonne gemäß ber allge 
meinen Anficht der neueren Aftronomen handelten, und 
in die nüdjte Ausgabe be8 Inder (1835) werden eub: 
lid aud) die wegen ber Fopernifanifchen Lehre nament- 
lid verbotenen Bücher nicht. mehr aufgenommen (Grifar 
€. 148). 

Wie ift mun jener Fehler zu beurtheilen? Jeden⸗ 
fallà ift wegen des Irrthums der römifchen Gurie Kein 
befonderer Vorwurf zu machen. Die Theologen hielten 
das fopetnifanijdje Weltſyſtem in ber weitaus größeren 
Mehrzahl, um nicht zu fagen, faft einftimmig für un 
vereinbar mit der DL Schrift, indem fie glaubten, bie 
Schhriftftellen, in denen von bem Gtillftehen der Erde 
und ber Bewegung ber Sonne bie Rede ift, wörtlich 
verftehen zu müſſen, unb e8 maltete in diefer Beziehung 
zwiſchen fatbolifen und Proteftanten fein Unterſchied 
ob. Luther jab in dem Vorgehen bes gelehrten Dom: 
herrn von Frauenburg bie SBerfebrung der Aftronomie 
butd) einen Narren, Melanchthon erklärte e8 für Gaufelei 
unb Verwirrung ber Wiffenfchaften. Der proteftantiiche 
Afteonom Kepler mußte wegen feiner kopernikaniſchen 
Anfichten feine württembergiſche Heimath verlaflen. Der 
Generalfuperintendent Calovius in Wittenberg hieß 1659 


430 Funk, 


die Vernunft da ſchweigen, mo bie Schrift als Lehrerin 
und Zeugin auftrete, und cpnftatirte mit Freuden, daß 
die Gotte&gelebrten feiner Confeſſion „bis auf ben legten 
Mann“ bie Lehre von ber Bewegung der Erde veriverfen. 
Der Paftor Kohlreiff an ber Domkirche zu Ratzeburg 
erklärte nod) 1744 die fopernifanijde Lehre für eine 
gottesläfterlihe Eingebung des Teufels ?). Aber bie 
Theologen haben eben in der Gefammtheit fid) getäuſcht, 
und ihr Irrthum ift eine feftftehende Thatſache. Wir 
brauchen uns deßhalb nicht Länger bei ihm aufzuhalten. 

Nicht fo unbeftritten ift e8, mie ber Schritt der 
Inquiſition und ber Indercongregation näher zu beut: 
theilen if. Darüber follte zwar nicht mehr verhandelt 
werben, ob bie fraglide Entſcheidung doctrineller 
oder, wie neuere katholiſche Schriftfiellee wollten, bloß 
disciplinärer Art fei. Der boctrinelle Charakter 
liegt ja offen am gage. Grifar (S. 147 ff.) hat fij 
mit vollftem Recht unummunden in bielem Sinne aus: 
gelptodjem. Die Sache unterliegt für jeden nur halb 
wegs unbefangenen Menſchen auch nicht einem leiſen 
Zweifel. Die Entfheidung Grijar'8 mag infofern nidt 
allzu hoch anzufchlagen fein. Da e8 aber immer πο 
Theologen gibt, welche aus Motiven, bie id) nicht nennen 
will, ber anderen Anfiht den Vorzug geben, jo verdient 
fie jebenfals unfere Achtung. 

Eine andere Frage ift, ob das Fopernifanifche Welt: 
ſyſtem felbft alà Härefie qualificirt wurde ober ob 
e8 mit einer leichteren Note davon fam. Die Theologen 
ber Inquiſition erklärten 1616, wie wir oben (€. 413) 


1) Die Belege bei Grifar €. 124. 283—288. 





Zur Galileifcage. 431 


gefehen, bie Lehre, daß bie Sonne der Mittelpunft ber 
Belt und unbemeglid) fei, für formell häretiſch, da fie 
ben Ausfprüchen ber Hl. Schrift mad) bem Sinn ber 
Sorte unb nad) der allgemeinen Auslegung unb Deutung 
ber Väter und Theologen an vielen Stellen ausdrüdlich 
widerſpreche; bem anderen Sag, daß bie Erde nicht ber 
Mittelpunkt der Welt und nicht unbeweglich fei, fondern 
fid) täglich um fid) felbft bewege, erflärten fie für menig- 
tens irrig im Glauben. Im ganzen, biürfem wir bei 
bem inneren Bufammenhang ber beiden Sätze fagen, 
lautete alfo ihr Urtheil auf Härefie. Ebenfo ift im 
Schlußurtheil und in ber Abſchwörungsformel v. 3. 1633 
von Härefie, bezw. Härefien bie Rede und dementſprechend 
wurde von vielen, wahrſcheinlich fogar ben meiften Theo= 
Togen in früherer und neuefter Zeit 1) angenommen, bie 
kopernikaniſche Lehre [εἰ αἴ Qürefie verurtheilt worden. 
Griſar glaubt anderer Anſicht fein ju folen. Er meint, 
mur bie Genjur „ſchriftwidrig“ fei über bie neue Welt: 
anſchauung verhängt worden. Er widmet diefem Punkte 
einen eigenen unb längeren Abſchnitt in feiner Schrift 
(€. 213—251), und er getraut fid) mit Zuverſicht zu 
behaupten, daß das Urtheil der Dualificatoren nicht 
ba8 be8 Inder [εἰ (S. 222). Seine Beweisführung 
zeugt zwar von großer Gelehrfamkeit, und id) erfenne 
das bereitwillig an. Aber fie leibet anbererjeit8 au 
beträchtlichen Schwächen. Ich mage daher mit nod 
größerer Buverfiht für die andere Anfhauung einzu 
treten, und ἰῷ hoffe, ihre Richtigkeit in Folgendem außer 
allen Zweifel zu ftellen. 


1) gl. bie Namen bei Grifar €. 222. 


432 gunt, 


Griſar ftügt fid) für feine Annahme vor allem 
auf das Schlußurtheil gegen G. Hier werde das Gut- 
achten ber Qualificatoren zwar angeführt. Aber e8 
geichehe dieß mur in Form eines hiſtoriſchen Referates, 
und diefes Referat fage zudem ebenfo beftimmt, daß 
ba8 veröffentlichte Decret die Formel falsa ed onni- 
namente contraria alla Sacra e Divina Scrittura ent- 
halten babe. Eben bieje Formel bilde bie Grund: 
geflalt, welde in den einſchlägigen Ausfprüchen von 
fBetbeiligtem ſowohl als von anderen beftändig tie: 
derfehre. Erſcheine fie verändert, fo geſchehe biefes 
nur nad) einer milderen Seite hin, niemals aber zu 
ber firengen Genfur „häretifh“ (S. 222). Im Schluß: 
urtheil gegen ©. foll m. e. W. das Urtheil der Duali- 
ficatoren über bas fopernifauijdje Syſtem gemildert et: 
ſcheinen, und bie Milderung fol darin beftehen, baf an 
bie Stelle der Genfur „häretiſch“ bie Genfur „ſchrift⸗ 
widrig“ gefegt worden jet. Allein diefe Auffaffung ift 
nichts weniger ala probehaltig, und ber Irrthum, in 
bem fij Grifar bier befindet, ward verhängnißvoN für 
feine ganze Beweisführung. Das Wort „Ichriftwibrig* 
bezeichnet gar feine Genfur in dem bier in Betraht 
Tommenben Sinn. (δ bezeichnet vielmehr den Grund 
einer Genfur, näherhin der Genfur „häretifch", unb Grifar 
hätte ba8 um fo weniger verfennen jollen, ala er €. 224 
ausdrüdlih bemerkt, eim divinae scripturae omnino 
adversans gebe e3' in ber jonft gebräuchlichen Abftufung 
der kirchlichen Genfuren nicht; dieſe Stufenleiter werde 
von den Theologen wie von den Inquifitionsfchriftftellern 
unter geringer Variirung folgendermaßen abfteigend auf: 
geführt: haeretica (sententia), erronea, haeresi proxims, 


Sur Galileifrage. 483 


temeraria, falsa. Sollte man aljo im Galileiprocef 
jut Qualification der kopernikaniſchen Lehre eine befon- 
bete Genfur gefhaffen haben? Grifar nimmt das am. 
Aber die Annahme ift fou an fid) febr unwahrſcheinlich. 
Wenn toit vollends bie einjjlügigen Documente forg- 
fältig und unbefangen prüfen, ftellt fie fid) al3 burdjau8 
grunbío8 dar. Denn im Urtheil der Dualificatoren 
erſcheinen bie Worte „häretiſch“ nnd „ſchriftwidrig“ mit 
aller nur möglichen Beftimmtheit in bem erwähnten 
Verhältniß, und der Wortlaut der Schlußfentenz gegen 
©. und ber Abſchwörungsformel fteht diefer Auffaffung 
fo wenig entgegen, daß er vielmehr erft butdj fie ihr 
volles Licht befommt. Gehen mit aljo näher auf bie 
Doeumente ein! 

Der Wortlaut des Urtheils der Dualificatoren über 
ben erften ber zwei iucriminitten Säße ift folgender: 
Omnes dixerunt dictam propositionem esse stultam et 
absurdam in philosophia, et formaliter haereticam, 
quatenus contradicit expresse sententiis S. Serip- 
iurae in multis locis secundum proprietatem verborum 
et secundum communem expositionem et sensum S. 
Patrum et Theologorum doctorum !). Der €af wird 
alfo ausbrüdli beBmegen ober infofern für θᾶ: 
retiſch erklärt, weil oder als er der Schrift wider: 
ſpricht. Das „Ihriftwidrig" ift demgemäß nit als 
Genfur, ſondern als Grund der Genjur „häretiſch“ zu 
faffen. Die Gade ijt jo evibent, daß wir uns bei bet 
Stelle nidt meiter aufzuhalten brauden. Dagegen ijt 
gleich bier beizufügen, daß alle Wahrſcheinlichkeit dafür 


1) Gebler, Acten €. 47 f. Grijar ©. 38. 


434 gunt, 


ſpricht, daß das Urtheil ber Theologen von der Su. 
quifitionscongregation in der Cigung vom 25. Februar 
1616 zu bem ihrigen gemacht wurde. Es ift zwar zu 
bedauern, baf uns über bieje Sigung fein näherer Be- 
richt vorliegt. In ber Urkundenfammlung von Gherardi 
ift diefe Sigung übergegangen. Vielleicht fand fid) über 
fie fein beſonderes Decret vor, ba bie „Acten“ bes 
Galileiprocefje8 über fie eine kurze Regiftratur enthalten. 
Wie e3 fih aber mit jener Frage verhalten mag: bieje 
Regiftvatur gibt uns wenigftens über ben in Rede ftehen: 
den Hauptpunkt genügenden Auffhluß. Sie lautet: 
Tllustrissimus D. Cardinalis Millinus notificavit RR. 
pp. DD. Assessori et Commissario S. Officii, quod 
relata censura PP. Theologorum ad propositiones Ga- 
lilei Mathematici, quod sol sit centrum mundi et im- 
mobilis motu locali et terra moveatur etiam 'motu 
diurno, Sanctissimus ordinavit Ill. D. Card. Bellarmino 
cic.) Es wird hier allerdings nicht ausbrüdTid) gefagt, 
baf bie Gongregation der Inquiſition Das Urtheil ber Theo: 
logen angenommen und beftätigt habe. Daß aber dieſes 
bennod) geſchah, ift nad) dem Bericht überaus wahrſchein⸗ 
lid, und wir dürfen e8 um fo eher annehmen, als im 
anderen Fall mit allem Grund zu erwarten wäre, bie 
Einfpradje gegen jene Dualification und ber Antrag auf 
Aenderung wäre kurz notirt worden. In ber Regiftratur 
wäre ja fonft gerade die Hauptſache im biejer Sigung 
unterdrüdt oder ausgelaffen worden. Das Schweigen 
der Acten wiegt am biejem Drte faum weniger [dier 
als das Schweigen in bem zweiten Proceß nad der 


1) Geblez, Acten ©. 48 f. 





Zur Gatiteifrage. 435 


Bedrohung G.'8 mit der Folter. Und wenn wir vollends 
bebenfen, daß ba8, morin man eine Milderung ber 
Genjur erbliden könnte, die Vertauſchung der Note 
„häretiſch“ mit der Note „ſchriftwidrig“, nad) bem bereits 
Angeführten im Wefentlihen gar Feine Milderung ift, 
jo ſchwindet jeder Grund, bie Beweiskraft des argu- 
mentum ex silentio zu beftreiten. Die Gongregation 
ber jnquifition bat alfo ohne Zweifel das Urtheil der 
Theologen gebilligt. ᾿ 

Nicht anders verfuhr die Indercongregation, an bie 
nad jener Inquifitionsfigung der die Literatur betref- 
fende Theil der Angelegenheit überging. Weber ihre 
Verhandlungen liegt zwar gar fein SBeridjt vor. Wir 
erfahren nur, daß ba8 Inderdecret in ber Sigung ber 
Inquifition Ὁ. 3. März nad) dem Bericht des Cardinals 
Bellarmin iiber fein Verfahren mit ©. vorgelegt umb 
am 5. März publicirt wurde ἢ. Indeſſen Tann bie 
Cade aud) bier nicht zweifelhaft fein. Denn e8 wider: 
ſpricht einerfeit3 aller Wahrfcheinlichkeit, daß diefe Gon- 
gregation vom Urtheil der anderen follte abgewichen fein, 
und andererfeit3 Liegt in ihrem Decret ja feine weſentliche 
Aenderung vor. Die Eopernifanifche Lehre wird ganz 
im Einflang mit bem Urtheil der Qualificatoren als 
falsa divinaeque scripturae omnino adversans prädicirt 
und bamit al3 eine Lehre bezeichnet, welche bie Genjur 
häretiſch“ verdiente. Diefes Wort felbft fommt aller: 
dings in bem bie fopernifanijde Lehre und Literatur 
betreffenden zweiten Theil be8 Decretes nicht mehr vor, 
und e3 mag fein, baf e8 wegen feines odiofen Beige: 


1) Gebter, Galilei S. 400. 


436 Sunt, 


ſchmackes abſichtlich nicht mehr wieberholt wurde, tie 
qud) ber Gardinal Belarmin in bem befannten Atteft 
Ὁ. 26. Mai 1616 fid) darauf beſchränkt, mit Beziehung 
auf ba8 Inderdecret, aber aud) mit einiger Abſchwächung 
desfelben, bie Fopernifanifche Lehre al8 contraria alle 
Sacre Scritture zu bezeichnen. Aber fein Fehlen ift 
ja neben dem divinae scripturae omnino adversans 
von unmefentliher Bedeutung. Zudem ift e8 nicht ein- 
mal fiher. Am Anfang des Decretes ift von vor einiger 
Zeit erfchienenen Büchern mit variae haereses atque erro- 
res bie Rede, und e8 ift fein hinreichender Grund zu der 
Annahme vorhanden, diefe Worte feien nicht aud) auf 
bie fopernifanijde Literatur zu beziehen. Daß bie be 
züglichen Schriften nit im unmittelbarer Reihenfolge 
mad) ben vorausgehenden aufgeführt werden, fteht bem 
nicht fo febr entgegen, als e8 auf den erften Blick ſcheinen 
könnte. Die Art und Weife, wie fie eingeführt werben, 
begreift fid) binlänglid aus dem Umftand, daß bie 
Gongregation fid) ihnen gegenüber zu einer befonderen 
Erklärung über ihr Einſchreiten veranlaßt fap. Die Be 
ziehung jener Worte auf den zweiten Theil be8 Decretes 
ift daher keineswegs ausgeſchloſſen. Wie es fid aber 
damit verhalten mag: der Punkt ift wegen der charafteri- 
ftifhen Bedeutung der Worte divinae scripturae omnino 
adversans ziemlich gleihgiltig, und in allen Fällen barf 
e8 al8 ebenjo fider betrachtet werden, daß bie Inder⸗ 
congregation im J. 1616 von bem Wrtheil ber Congre⸗ 
gation ber Inquifition nit abwich, mie e8 fid) uns ala 
fider dargeftellt hat, daß dieſe das Urtheil ihrer Theo- 
Iogen zu dem ihrigen machte. 

Indem wir zur Schlußfentenz v. 3. 1633 übergehen, 


Zur Galileifrage. 437 


ift vor allem zu bemerken, baB am Anfang derfelben 
ber Verlauf des erften Proceſſes kurz erzählt umb in 
bie Erzählung bie zwei Propofitionen der Qualificatoren 
wörtlich aufgenommen find. Die erfte und michtigere 
lautet in bem Driginaltert ber Sentenz: Che il Sole 
sia centro del Mondo ed immobile di moto locale, ὃ 
proposizione assurda e falsa in filosofia, e formalmente 
eretica per essere espressamente contraria alla Sacra 
Scrittura. Dieſe wörtliche Citation ift ſchwerlich ganz 
bebeutungslos. Sie meist auf das Gemidt hin, das 
die Gongtegation dem Gutachten ihrer Theologen θείς 
legte. Die Art und Weiſe ferner, wie ba8 Gutachten 
eingeführt wird, läßt mit Sicherheit erfennen, daß das 
Urtheil der Theologen zugleich das der Gongregation 
jelbft mar. Darüber insbefondere wird endlich fein 
Zweifel befteben können, daß ba8 Verhältniß der Präs 
bicate „häretiſch“ und „ſchriftwidrig“ von beiden Theilen 
in gleicher Weife aufgefaßt wurde. Indem in ber Schluß: 
jentenz am bie Stelle be8 quatenus ein per ober quia 
gelegt ift, tritt das Verhältnis womöglich nod) fehärfer 
und beftimmter heraus. Der bezügliche Sag oder Satz⸗ 
theil if zudem für fij betrachtet mie einerjeit8 ganz 
allgemeiner Art fo anbererfeits für die Inquifition von 
einer fold) eminenten Bedeutung, daß über ihn im Schoß 
diefer Behörde fein Diffenfus beftehen founte. Demge- 
mäß bat e8 nichts zu bedeuten, wenn in ber Schluß: 
fentenz bei Erwähnung des Inderdecretes das Wort 
„häretiſch“ nicht wiederholt wurde. Die Prädicirung 
ber fopernifanijden Lehre als falsa ed onninamente 
contraria alla Sacra e Divina Scrittura mie8 mad) dem 
Vorausgehenden deutlich genug auf Qürefie hin. 
τιμοῖ. Dmartafjgrift. 1888. Heft ΠῚ. 29 


438 . gunt, 


Wie dur) bie Art ber Erwähnung, fo verräth bie 
Synquifition aud) durch die nachfolgende Bemerkung, daß 
fie das Urtheil der Dualificatoren zu dem ihrigen madite. 
Nach Anführung .desfelben fährt fie nämlich unmittelbar 
folgendermaßen fort: Da man aber damals milde mit 
bir verfahren wollte, wurde dem Garbinal Bellarmin 
der Auftrag erteilt u. f. Ὁ. Man beadjte den Gegen 
fag und bemetfe, daß in biejem Sat bie Inquifition 
nicht mehr referirt, fondern von fid, näherhin von ihrem 
Verhalten im 9. 1616 fprit, unb man wird fid) bei 
Eindrudes nicht erwehren fómmen, fie gebe, indem fie 
in foldem Zufammenhange bie gegen bie Perjon 8.8 
geübte Milde betone, zugleich zu verftehen, daß fie mit 
bem im Vorausgehenden angeführten Urtheil über bie 
von ihm vertretene Lehre durchaus einverftanden fei. 
Ih wenigftens Tann ben Paſſus nicht anders verftehen, 
und id) gebe zu bedenken, ob wir, wenn wir bie Deutung 
aus bem Gontert tro der ftarfen für fie ſprechenden 
Gründe hier abweifen, unà dann nod) zu wundern das 
Recht haben, wenn einzelne Proteftanten in I Clem. 5. 6 
nichts von einem Hinweis auf die Anmwefenheit Petri 
in Rom zu entdeden behaupten. Der Fall ift hier wie 
dort im mefentlihen ber gleiche. 

tod) deutliher aber als aus bem Anfang erhellt 
bie Beurtheilung der Fopernifanifhen Lehre ſeitens ber 
Inquiſition aus dem Schluß der Sentenz fowie aus ber 
Abſchwörungsformel. Beide Actenftüde fallen überhaupt 
für unfere Frage infofern zufammen, ald das, was bort 
verurtheilt ift, bier abgeſchworen wird, und e8 genügt 
baber, wenn wir und auf das erftere beſchränken. Sn 
demfelben wird ©. verurtheilt αἵδ᾽ veementemente sos- 





Zur Galieifrage. 439 


petto d'eresia, cioà d'aver creduto e tenuto dottrina 
falsa e contraria alle Sacre e Divine Soritture, che il 
Sole sia centro della Terra e che non si muova da 
Oriente ad Occidente, e che la Terra si muove et 
non sia centro del Mondo; e che si possa ienere e 
difendere per probabile una opinione dopo d'essere 
sata dichiarata e difinita per contraria alla Sacra 
Scrittura, und er hat demgemäß abzuſchwören, zu ver- 
fluchen und zu verabjdjeuen li suddetti errori ed eresie. 
G. wird zwar nicht als Häretiker, fondern nur als bet 
Härefie dringend verdächtig verurtheilt, aber dieß nicht 
bewegen, meil etta bie incriminirte Lehre nicht als 
häretifch angefehen worden wäre, fondern weil für feine 
Perſon bie Annahme der Härefie nicht volftändig be- 
wiefen war, ba er in bem Verhören ftet3 und felbft bei 
Androhung der Folter, wie der Terminus lautete, fa: 
tholiſch antwortete, b. 5. bie häretiſche Gefinnung in 
Abrede 30g. Diefe Auffaffung ergibt fij aus bem 
Gontert der Sentenz unb namentlih aus bem bem Ur- 
theil jelbft vorausgehenden Paſſus mit aller Nothwendig⸗ 
lei. Sie liegt aud) in der Natur der Cade, ba bie 
Berurtheilung al3 verdächtig ber Härefie eine häretiſche 
Lehre vorausjebt. Sie ergibt fid) endlich mit voller 
Evidenz aus der angeführten Stelle ſelbſt. Die Häreſie, 
deren Verdacht ©. die Verurtheilung zuzog, ift ja deutlich 
und ungtoeibeutig angegeben. Sie befteht in ben ſchrift⸗ 
toidrigen Sägen, bie Sonne fei der Mittelpunkt ber 
Welt unb fie bewege fid) nit von Oſten nad) 9Beften, 
und die Erde bewege fid) und [εἰ nit das Centrum 
bet Welt, jomie in der Annahme, man könne eine An= 
ficht als probabel fefthalten, nachdem fie ausdrücklich 
29* 


440 gunt, 


für ſchriftwidrig erflärt worden. Dabei ift es durchaus 
irrelevant, ob ba cioà im Sinne von „nämlich“ gefaßt 
ober, wie e8 aud) im lateinifhen Tert ber Fall ift, 
mit „das ift" ober „das heißt“ iüberjegt wird, eine 
Ueberfegung, bie Griſar ©. 245 felbft hat, aber ©. 247 
als ungenau und verfänglich bezeichnet. So oder anders 
gefaßt, deutet das Wort an, baB im Folgenden bie 
Härefie, in deren Verdacht ©. gekommen war, näher 
beftimmt wird. Der Härefien find e8, wenn man die 
einzelnen Säge in Betracht zieht, fogar mehrere, und 
1o begreift fi, wenn ©. angehalten wird, „bie zuvor 
genannten Irrthümer und Härefien" abzuſchwören und 
nachher aud wirklich abſchwört. Kann man eine größere 
Deutlichkeit verlangen? Daß neben den Härefien zugleich 
von Irrthümern die Rede ift, Tann bie Cade bod) un 
möglich zweifelhaft madjen. Die Härefien find ja zugleich 
Irrthümer, wenn aud) nidt alle Irrthümer Härefien 
find. Die beiden Worte erſcheinen überhaupt bei Ber: 
urtheilung von Härefien mit einander verbunden, jo aud 
in bem Inderdecret v. 3. 1616, und das ausſchlag⸗ 
gebeube ift ſelbſtverſtändlich bas ſchärfere. Die Annahme 
Griſar's (€. 243), bie suddetti errori ed eresie beziehen 
ſich nicht eigentlich auf bie kopernikaniſchen Säge, fondern 
fie feien einfad) au8 bem fonftigen, vom Sacro Arsenale 
beftätigten Gebrauch herübergenommen und fie feien nur 
ein ftehender Ausdrud folder Inquifitionsurtheile, die 
fid überhaupt auf eine Mehrheit von verſchieden quali 
ficirten Meinungen bezogen, ift völlig gruublo8 und zu 
gleich fo unwahrſcheinlich, daß ich fie nicht glaube eingehend 
widerlegen zu follen. Nur eines fei bemerkt. Ich habe 
das Verfahren ber Inquifition aus bem Galileiprocch 





Zur Galileifrage. 441 


als genauer und gründlicher kennen gelernt, als baf ἰῷ 
jener Behörde eine berartige Verurteilung in Bauſch 
und Bogen zuſchreiben fünnte, bie jedermann anders 
verſtehen muß, αἵδ ber Wortlaut be8 Urtheils befagt. 

Die Documente, die wir bisher zu Rath zogen, 
ſtehen alle in vollfter Uebereinftimmung unter einander. 
Im erften wie im legten begegnen toit iu bet beutlichften 
Weiſe dem Gedanken, bie kopernifanifche Lehre [εἰ hä— 
retiſch, weil durchaus ſchriftwidrig. Diefe Documente 
find aber, weil officieler Natur, Quellenberichte erften 
Ranges. ' Die Frage kann Dienad) al8 entſchieden gelten. 
Etwaige abweichende Angaben in anderen Berichten haben 
ihnen gegenüber al8 weniger zuverläßig einfach zurüd- 
zutreten. Bevor wir indefjen diefe Erörterung ſchließen, 
mag nod) ein Einwand kurz beleuchtet werben. 

Bon ber Vorausfegung ausgehend, daß bie Genjut 
„haͤretiſch“ nicht ausgeſprochen morben fei, fragt Griſar 
mad) den Gründen biejer Unterlaffung, und er findet 
(©. 225) den Hauptgrund darin, baf fid) bie Cardinäle 
der Indercongregation vergegenwärtigen modjten, e8 fei 
bod) nicht alles mit Sicherheit vorhanden, was zur 
Brandmarkung der foperuifanijden Lehre mit ber frag- 
lichen Bezeichnung erforderlich geivefen wäre. Die ent- 
gegengefeßte Lehre foll insbefondere aud) nit in ber 
Hl. Schrift mit ber erforderlichen vollen und unmiber- 
ſprechlichen Evidenz gefunden worden fein, und der Brief 
Bellarmin's an den Karmeliter Foscarini ?) fol dafür 
Beugniß ablegen. Allein vor allem ift das Letztere nicht 
richtig. Der gelehrte Gatbinal madyt wohl bie Bemerkung, 


1) Griſar €. 807 f. 


42 Sont, 


daß man, falls e8 eine wirkliche SDemonftratiox für bie 
Topernifanijde Weltanfhauung gäbe, dann in der Er: 
Härung bet ſcheinbat entgegenftehenden Schriftterte mit 
vieler Behutſamkeit vorgehen und eher fagen müßte, 
daß wir diefelben nicht verftehen, als fagen, daß falſch 
fei, was bewieſen ift. Aber er fügt aud) fofort bei, et 
werde nicht glauben, daß es eine jolde Demonftration 
gebe, fo lange fie ihm nicht dargelegt fei (Grifar ©. 227). 
Er Hält [omit gleich ben übrigen Theologen feiner Zeit 
bie kopernikaniſche Lehre thatſächlich für fchriftwidrig. 
Und mie enge bie Genfur „häretifh” in feinen Augen 
mit einer ſchriftwidrigen Lehre verknüpft if, zeigt er 
in bemjelben Brief, indem er [dreibt, daß, wer jagen 
würde, Abraham habe nicht zwei Söhne gehabt unb 
Jakob zwölf, ebenjo Häretifer wäre wie der, melder 
fageu würde, Chriftus [εἰ midjt von ber Jungfrau ge 
boten worden, ba das eine mie ba8 andere ber DL. Geil 
durch ben Mund ber Propheten unb Apoftel jage. „Schrift: 
Toibrig" und „häretifh“ find alfo aud) ihm correlate 
Begriffe. Nah einem ben damaligen Theologen ge: 
läufigen Beifpiel war fogar der Sag, daf Tobias feinen 
Hund befefien habe, menm er troß ber befannten Aus: 
fage ber HI. Schrift hartnädig aufrecht erhalten würde, 
einer Qürefie gleid) zu eradjten, weil damit bie Un 
trüglidteit de3 Bibelwortes überhaupt in Abrede geftellt 
wäre (Grifar €. 228). Gleihwohl glaubt Grifar, bie 
Eenfurirung der kopernikaniſchen Lehre als häretiſch in 
Abrede ziehen zu fónmem, ba bie in diefer Beziehung in 
Betracht tommenben Schriftftellen nicht bie ganze er 
forberlide Mlarheit und nicht, wie bie eben angeführten, 
bie unmittelbare Evidenz ihres Sinnes, die Unmöglichkeit 


Zur Galileifrage. 448 


eines anderen Verſtändniſſes für fij haben (©. 228 f.). 
So urtheilen allerdings wir in der Gegenwart über bie 
Angelegenheit. Wir gehen ja fogar nod) weiter und 
fagen, daß aus bem einfchlägigen Schriftftellen das gar 
wijt folgt, was ihr Wortlaut zu befagen ſcheint und 
wie fie früher allgemein gedeutet wurden. Allein es 
handelt fid) eben nicht um unfere Anſchauung, fondern 
um bie Auffaffung der Theologen am Anfang be8 
17. Jahrhunderts, und diefe kann nad) der wiederholten 
Prädicirung ber fopernifanijem Lehre als burdaus 
ſchriftwidrig ſchwerlich zweifelhaft fein. Oder hätte man 
fi wohl fo beftimmt und fo energijd) ausgebrüdt, menu 
irgend welche erhebliche Bedenken obgetaltet hätten? 
Während das Topernifanifche Syftem als Härefie 
verdammt wurde, ward G., wie wir bereits gejehen, 
als ber Härefie dringend verdächtig verurtheilt. Die 
Sache ift nad) dem Wortlaut der Schlußfentenz unb ber 
Abſchwörungsformel nicht zu beftreiten. Auch ber Sinn 
bet Genfur ift nad) dem oben Angeführten nicht zweifel⸗ 
baft. Gelbft Grijar bemerkt einmal (S. 251), ©. [εἰ 
bloß als der Härefie verdädtig, nicht al8 Häretiker, 
verurtheilt worden, weil er felbft bei der Folterdrohung 
über feine innere Geſinnung nicht das bezügliche Geftünbnif 
gemacht habe. Sonſt aber ftellt er eine Erklärung von 
diefer Genfur auf, welche wiederum bem gewichtigften Be— 
denfen unterliegt. Gv meint, bie Vertheidigung be8 koper⸗ 
nilaniſchen Syſtems habe in Folge der bekannten Entjchei- 
dung bloß als „temerär“ gegolten (€. 235. 251), und 
mit der Schuld ber Qürefie wären bie beharrlichen 
und öffentlichen Vertreter jener Lehre vor der Kirche 
felbft dann nicht beladen getoejeu, wenn die Sjubezcongte- 


444 gunt, 


gation diefelbe nicht bloß für ſchriftwidrig, fonbetu für 
häretiſch erklärt hätte (€. 231). ©. aber habe, indem 
et bie Auctorität ber kirchlichen Behörden in fo heraus: 
fordernder Weife miBadjtete, nadjbem ihm bod) perjbu: 
lid) bie Genjur ber fopernifanifdjen Anſicht unter Auf 
legung be8 Specialverbotes und unter Androhung eines 
Inquiſitionsproceſſes intimirt worden [εἰ (S. 219), jener 
,iemerüren^ Handlung unter Umftänden fij ſchuldig 
gemacht, welche ihm den juriſtiſchen Verdacht der Qüte- 
fie, der fid) mit der Oppofition gegen ſolche Inderdecrete 
verknüpfte, boppelt zugezogen haben (€. 351.). Aber 
alle bieje Behauptungen find mit Documenten ſchlechter⸗ 
dings unvereinbar. Was über ben juriſtiſchen Ver— 
dacht ber Qürefie gejagt wird, b. b. über bie durch 
Rechtsgebrauch fanctionirte Vorannahme, daß einem 
Delicte, welches an fid) feine Härefie war, häre εἰ {ὦ εϑ 
Denten zu Grunde liege (©. 248 f.), das liefe fij 
allenfalls hinnehmen, wenn e8 fid nicht aus ben offi 
ciellen Urkunden mit aller Evidenz ergäbe, baf das 
Galilei'ſche Delict wirklich als Häreſie angefehen und 
daß ©. nut bepmegen bloß al8 ber Härefie dringend 
verbädhtig und nidt als $üretifer verurtheilt wurde, 
weil er bie häretiſche Gefinnung niemals zugeftand. €» 
aber ift der „juriſtiſche“ Verdacht für unferen Fall eine 
unbegründete Fiction, die nicht weiter zu widerlegen ift. 
Verhält e8 fi aber fo und nimmt man den , Verdacht 
ber Häreſie“ in dem Sinne, ben et im Galileiproceß 
zweifellos hatte, fo ift fofort aud) bie weitere Behauptung 
hinfällig, bie beharrliche und öffentliche Bertheidigung 
ber Topernifanifchen Lehre hätte, felbft wenn dieſe Lehre 
für büretijd) erflärt worben wäre, vor ber Kirche nicht 








Zur Galileiftage. 445 


bie Schuld der Härefie zur Folge gehabt. Wir wiſſen 
ja, wie viel oder wie wenig bei ©. zur Cenſur „Häreſie“ 
mod) fehlte: mie Tann man alfo derartiges behaupten? 
Der follten wir etwa annehmen, baf die römiſche Kirche 
fofort nad) bem Procek ihr Vorgehen bereut und gegen 
andere unb unbebeutendere Perſonen eine Milde walten 
ließ, bie fie dem großen Gelehrten von Florenz ver 
fagte? Das ift gewiß nicht wahrſcheinlich. Die Aeuße- 
rungen von Theologen aber, bie Grifar zur weiteren 
Begründung feiner Anſicht beibringt (S. 232 f.), be- 
weifen nur, baf fie entweder unrichtig ober wenigſtens 
anders zu deuten find, weil fie ben Thatſachen nicht 
gerecht werden, und fie haben daher in unferem Fall 
nichts zu befagen. Dabei foll gar nicht betont werben, 
daß der Jeſuite Inchofer, wie Grifar ſelbſt (€. 233) 
bemerkt, ausdrüdli den entgegengefegten Standpunkt 
vertritt. Wo die Thatjachen [o flar zu Tage treten, 
da find fie nicht mad) den Theorien von Theologen zu 
deuten, fondern e8 müſſen fij umgefehrt bieje mad) 
jenen richten. 

Was endlich bie Cenſur „temerär“ anlangt, fo be 
gegnen wir ihr in bem officiellen Documenten nirgends, 
und biejer Umftand entſcheidet ſchon allein über ihr 
Schickſal. Außerhalb der Acten fommt fie meines Wiſſens 
zur Seit des Galieiproceffe8 zwar zweimal bor. Die 
Aeußerungen des anglifonijden Biſchofs Wilkins von 
Chefter und des Auguftinerhorheren Eufebius Amort 
(Srifar €. 237) dürfen fügli außer Betracht gelaffen 
werden. Der Löwener Theologe Fromond ſchrieb 1631, 
bie fopernifanijde Lehre dürfe zwar nicht der Qürefie 
geziehen werben; aber fie [εἰ temerür und mit einem 


446 Sunt, 


Fuß betrete fie bie Schwelle ber Härefie; daran fei 
feftzubalten, fo lange der hl. Stuhl nicht etwas Anderes 
feftgeftellt habe. Galilei ſchreibt am 8. Juni 1624 an 
ben Fürften Cefi, Urban VIII habe im Gejprüd) mit 
dem Garbinal Hohenzollern, Biſchof von Osnabrück, be- 
merkt, bie Kirche habe bie fopernifanijdje Lehre nicht 
als häretif) verdammt, nod) werde fie diefelbe al8 hä= 
tetijd verdammen, fondern nur als temerär; aber e8 
fei nit zu fürdten, daß jemand fie a[8 nothwendig 
wahr erweifen werde (Grifar €. 230 f.). Aber kann 
man über ben Werth der Behauptung des Löwener 
Theologen gegenüber der Ausſage der Acten aud) nur 
einen Augenblid im Zweifel fein? Die 9leuferung Ur- 
ban’3 VIII verdient an fid) allerdings etwas mehr 
SBeadjtung. Aber bei näherer Prüfung Tann aud) fie 
Teine ernftliche Schwierigkeit machen. Der Bapft wollte 
ja nad) dem Zufammenhang die getroffene Entſcheidung 
als eine möglichft milde unb unberfünglidje darftellen. 
Der Eardinal ſprach nämlich mit ihm zu Gunften 6.3; 
er mahnte zur Vorfiht und madte zu diefem Behufe 
geltend, daß alle Häretifer feiner Meinung !) feien, unb 
auf bieje Bemerkung folgte die angeführte Erklärung. 
Sie kann alío das aus den Acten fid) ergebende Stejultat 
unmögli umftoßen. Zudem muß man ja fragen, wie 
auch Grifar (S. 288) leije tut, ob bie Worte richtig 

1) Es läßt fij fragen, weſſen Anſicht näherhin gemeint ift, 
bie des Cardinals ober bie des Papfies. Der Wortlaut des 
italieniſchen Textes (Opere ed. Alberi Vl, 296) läßt bie Sache 
wnentjdieben. Nach bem Gontert unb nach ber allgemeinen Sach— 
lage ſcheint mir ba8 Letztere anzunehmen zu fein. Reuſch €. 182 
nimmt tenigften mad) bem Wortlaut feiner Tleberfegung ba 
Erſtere an. 





Zur Galiteiftage. 441 


überliefert find, und fprit Urban vou ber Kirche ſelbſt, 
während e8 Πὼ im Gründe mur um die Cutjdeibung 
der Gongregationen der Inquifition und des Inder handelt. 
Die Cenſur ,temerür" if daher wegen mangelnder Be: 
zeugung unbedingt fallen zu lofjen. Und davon, daß 
fie al8 Ergebniß ober Folge ber vom ber Gongrega- 
tion gebraudjten Note „durchaus ſchriftwidrig“ zu faflen 
fei, wie Grijar ©. 235 zu jagen ſcheint, Tann vollends 
gat feine Rebe fein, ba im bem Acten gerade bie Genjur 
„häretiſch“ bie ftaglidje Stellung einnimmt. 

Wenn bie kopernikaniſche Lehre als durchaus fchrift: 
ioibrig für Härefie erklärt wurde, fo fpridjt alle Wahr: 
ſcheinlichkeit dafür, daß bie bezügliche Entſcheidung als 
eine irreformable angefehen wurde. Qd) wenigſtens 
Tann mir bie Cade nit anders vorftellen. Griſar ift 
zwar auch in diefer Beziehung anderer Anfiht. Er 
meint, δα Decret Ὁ, 3. 1616 fei als ein miberrufliches 
betrachtet worden. Mlein feine Gründe find nicht ftid- 
baltig. Den kirchlichen Gongregationen fommt allerdings 
nit bie Gabe ber Unfehlbarkeit zu. Aber befimegen 
Tonnen fie in einzelnen Fällen und über gewiſſe Gegen- 
fände bod) ein unbedingt ficheres Urtheil zu befigen 
glauben. Die Zeugen ferner, auf bie fih Grifar ftüpt 
(6. 164 ff), dürften in diefer Frage ſchwerlich bie er- 
forderlihen Eigenſchaften haben. Es find faft lauter 
Freunde ber neuen Weltanfhauung und Männer außer: 
balb Roms, und e8 verfteht fid) daher von felbft, daß 
fie fo wenig als G. ihre Gadje für immer verloren 
gaben. Sie bofften naturgemäß von Anfang an auf 
eine 9temebur, weil fie nun einmal ihre Anficht für bie 
richtige hielten und nicht glauben fonnten, ihre Unter 


448 - Sunt, 


drüdung werde ewig dauern. Ihre Stimme Dat alfo 
bier nidt8 zu bedeuten. Wir follten vielmehr bie Auf: 
feffung ber an ber Cnt[deibung betheiligten Perfonen, 
der römiſchen Theologen unb der Gardinäle erfahren. 
Aber von biejen wurde nichts beigebracht, was entſchieden 
gegen unfere Anficht Sprechen würde. Die Gadje dürfte 
fi nur dann anders verhalten, wenn die Entſcheidung, 
wie einige Theologen in bet Neuzeit gewollt haben, 
blos disciplinärer Art wäre. Diefe Auffaflung ift in 
beffen nicht haltbar, tie Grifar ſelbſt bewieſen Dat. 
Daß enblid) die Galileifrage bei unferer Anfiht etwas 
ſchwieriger wird als bei der anderen, indem zu ber 
materiellen Unrichtigkeit ber Entſcheidung mod) ber itt- 
thümliche Glaube fommt, bie Entſcheidung [εἰ irrefor⸗ 
mabel, ift fein Grund, vor ihr zurüdzufchreden, wenn 
fo ftarfe Momente für fie fpreden. Wollten mir fo 
verfahren, fo müßten wir ja aud) den boctrinellen Cha= 
after ber Entſcheidung aufgeben. Zudem find bie 
Schwierigkeiten aud) fo nicht unlösbar, ba ja in feinem 
Fall eine püpfilidje Definition ex cathedra vorliegt. 
Die Frage nad) der über die kopernikaniſche Lehre 
und ihren Vertheidiger erhängten Genjur dürfte burd) 
bie vorftehenden Ausführungen erlebigt fein. Demge— 
mäß ift bie ältere oder früher menigften8 vorherrſchende 
Anfiht die richtige. Da aber diefe Anficht bei ihren 
älteren fatfolijden Vertretern bod) ſchwerlich auf Ab⸗ 
meigung gegen die Kirche beruht, fo hätte Grifar e8 in 
feinem eigenen Intereſſe unterlaffen follem, gegenüber 
ihren neueren Vertretern von ber Liebhaberei zu reden, 
bem JInder eine Verdammung be3 kopernikaniſchen Syſtems 
mit ber Cenſur „Häreſie“ aufzubürden (S. 288). Es 





Bur Galileifrage. 449 


mag fein, daß eine derartige Liebhaberei da und dort 
bei dem Urtheil wirffam mar. Aber fo lange die frühere 
Anſchauung nieht beffer widerlegt ift, als e8 bisher ge- 
ſchehen ift, müflen wir uns hüten, ihre Aufrechterhaltung 
auf fubjective Momente zurüdzuführen. Die Infinuation 
enthält überdieß gegenüber den Alten den Vorwurf einer 
gewiſſen Leichtfertigkeit oder Unkenntniß. Cie verräth 
zugleich bezüglich ber eigenen Cade das Bewußtſein 
einer gewiffen Schwäche. Grifar bemerft €. 152 ben 
Vertretern be8 bi&ciplindten Charakters unferer Inder 
entſcheidung ebenjo richtig als treffend, man dürfe nie- 
mals auf Koften der Wahrheit nad) Erleichterung ber 
eigenen Stellung fireben. Nah dem Bisherigen und 
verfchiedenen feiner Aeußerungen dürfte ba8 Wort zum 
Theil aud) ihm gelten. Ich fchenfe zwar feiner Ber- 
fiderung einen rüdhaltslofen Glauben, daß ihm nichts 
mebr ferne gelegen fei, als irgend etma8 zu vertufchen, 
indem er überzeugt fei, die eiufadje unverhüllte Wahr: 
beit gereide unferer Kirche zur beften Vertheibigung. 
Aber menn e$ ihm aud) nicht zum Bewußtſein Tam, jo 
fo dürfte das Streben, feine Cade zu erleichtern, ihn 
bod) namentlid) in ber vorliegenden Frage über Gebühr 
beeinflußt haben. Bei voller Unbefangenheit fonnte er 
ſchwerlich zu feinen Refultaten gelangen. 

€3 bleibt nod) ein Punkt zu beſprechen. Wie ijt 
bie fehlerhafte Entſcheidung der römischen Congregationen 
geididtlid zu würdigen? Wenn man bie eins 
ſchlägigen Ausführungen Griſar's liest, jo fünnte es 
faft feinen, fie [εἰ gut und nothwendig und mehr oder 
weniger das Werk der Vorjehung felbft getoejen. Schon 
€. 123 wird der Gebanfe ausgeſprochen, e3 fei gar fein 


450 gunt, 


Nachtheil geweſen, wenn auf Koften ber rajdjeten Ent: 
wicklung ber fopernifanijdjen Lehre eine Gefahr befeitigt 
ober vermindert wurde, melde für den Glauben und 
das Heil mander Schwachen durch einen ſtürmiſchen 
Sieg diefer Lehre gerade in jener geiftig aufgeregten 
Zeit herbeigeführt werben fonnte; e8 fei auch fein Nad: 
theil gemefem, menn in Folge ber von ber Qyquifition 
gezogenen Schranken an bie fatolijdem Forſcher eine 
mit übernatürlihem Verdienſte belohnte Pflicht heran: 
trat, bemüthige und beſcheidene Nachgiebigfeit gegen bie 
kirchlichen Oberen in Hinſicht diefes fo aufgefapten Be 
rührungspunties zwiſchen der Theologie und den Natur 
wiſſenſchaften walten zu laffen. Indem €. 354 ferner 
zunächſt anerlannt wird, daß in Folge des Inderdecretes 
bie Wahrheit fid) erft nad) und nad) fund machte, während 
©. 344 hervorgehoben wird, wie bie katholiſchen Forſcher 
auf dem zugeftandenen Wege bet „Hypotheſe“ das neue 
Spftem zum Fortſchritte der Himmelskunde faum minder 
gut verwendeten, als e bei ber zuverfichtlichen Annahme 
ber Wirklichkeit desſelben geſchehen wäre, wird anderer 
feit3 betont, daß der übernatürlide Werth ber Unter: 
werfung um jo höher geftiegen fei, daß die ſchönſten 
Acte von Tugend, zugleid dargebradt von Gehorjam 
und von chriſtlich erleuchteter Weisheit, von manchen 
Gelehrten vor dem Altar des Geber8 aller Weisheit 
mögen niedergelegt worden fein. Indem [obanm die 
Frage aufgemorfen wird, marum bie allweiſe Vorfehung 
den Irrthum der kirchlichen Tribunale in der Angelegen- 
beit 8.8 zugelaffen habe, werben bie das innere Tugend» 
leben der firde verftehenden Katholifen daran erinnert, 
daß, wenn felbft aud) ein Stückchen menſchlichen Wiſſens 


Bur Gatifeifrage. 451 


duch den Spruch ber Tribunale für eine Reihe von 
Jahren den Katholiken vorenthalten worden wäre, was 
nah dem früher Erörterten mur in befchränftem Maße 
wahr fei, bennod) biefer Nachtheil einem Nichts gleich 
zuachten fei gegenüber ber wahren Aufgabe und ben 
wahren Gütern des Menſchengeſchlechtes; daß das Ziel 
der Welt, Gottes Verherrlihung, durch bemütfigen 
Dienſt der Menfchen, und namentlich der burd) Bildung 
ausgezeichneten, im Heiligthum ber Kirche beſſer unb 
unmittelbarer erreicht werde, als burd) Erweiterung 
wiſſenſchaftlicher Crfenntniffe, felbft auf einem fo erha⸗ 
benen Gebiete wie dem der Himmelslehre. Indem 
weiter (€. 355) die Frage erhoben wird, ob nicht bie 
Vorſehung, bie ebenfo gütig wie meife alles leite, ' 
teligiöfe Gefahren habe entfernen wollen, bie fid) bei 
ber geiftigen Verfaffung jener Zeit mit einer rajden 
und ungehinderten Verbreitung ber kopernikaniſchen Idee 
immerhin verbinden Tönnten, folgt nicht bloß im allge- 
meinen eine bejahende Antwort, fondern e8 wird noch 
befonder8 betont, daß, fobald man annehme, daß bei 
einem ylógliden Hereintreten der neuen phyſiſchen Welt 
anſchauung in weiten Kreifen Bedenken gegen bie alte 
religiöfe Weltanfhauung getvedt werben konnten, bie 
Wohlthat") zu erkennen fei, welche bie gnädige Fü— 
gung der Sorfefung?) mit ber Zulaſſung einer 
langjameren und allmähligen Verbreitung ber neuen 
Himmelslehre zu verbinden gewußt habe. Dabei wird 
zwar nicht verfannt, daß bie Verurtheilung G.'8 ibrer- 
ſeits vielen Schwachen einen Anftoß im Glauben dar— 


1) Bon bem Berfaffer biefer Abhandlung unterftrichen, 


452 gunt, 


biete. Aber bieje8 Moment [εἰ nicht allzu Dod anzu: 
félagen. Denn wahrſcheinlich werde biejer Nacıtheil 
vor bem allwiffenden Blicke Gottes weitaus aufgetoogen 
burd) bie Hinwegräumung bes religiöfen Anftoßes ou 
ber neuen Auffaflung bet Erde für uod) viel zahlreichere 
andere Schwache. Die güttlid)e Vorſehung fei ja über: 
haupt nichts Anderes als bie liebevolle Thätigkeit einer 
Güte und Weisheit ohne Grenzen gegen die Schäben 
der Schwachheit des menſchlichen Verftandes und uod 
mehr be8 menſchlichen Willens. Zuletzt ergeht (€. 356) 
eine Mahnung an diejenigen, melde immer uod zu 
drängen unb Sprüde in ihrem Sinne herbeizuführen 
geneigt wären, fid burd) bem Galileifall erinnern zu 

* zu laſſen, daß Langfamfeit das allein Richtige und 
einem nicht mit Unfehlbarfeit ausgerüfteten Tribunal 
unerläßlich fei, um bei Entſcheidungen in foldjen Fragen 
eine beruhigende Garantie bargubieten. 

Was Treffliches in biejer Ausführung enthalten 
ift, foll nicht verfannt werben. Aber im ganzen bürfte 
ber Eifer doch beträchtlich über die richtige Linie hinaus— 
geführt haben, und ich zweifle, ob die Apologie ihren 
Zweck erreichen wird. Die Zuverfiht, bie ba und dort 
bervortritt, ſcheint bei Grifar felbft feine ganz fefte ges 
weſen zu fein. Während er am der zuerft angeführten 
Stelle einfach die Gefahren betont, bie bem Glauben 


. ber Schwachen gebroht haben jollen, berüdfichtigt er 


fpäter auch die Kehrfeite, und indem er bie beiden Ge. 
ſichtspunkte gegenfeitig abmiegt, begnügt er fij, bas 
Ueberwiegen des erfteren als ein wahrſcheinliches zu 
bezeichnen. Ich faun indefjen auch fo uod) wicht zuftimmen. 
Meines Erachtens verhält fid) bie Sache vielmehr umgefehrt. 





Zur Galtleifrage. 408 


Denn wir die Schwachen, in berem Intereſſe die 
unglückliche Entſcheidung erfolgt fein fol, näher ins 
Auge faſſen, fo werben toit fie zumeift als Leute zu denken 
haben, bie über bie neue Lehre feit eigenes Urtheil fid) 
zu bilden in der Lage waren, [εἰ e$ über ihre matur: 
wiſſenſchaftliche Richtigkeit, [εἰ es über ihre biblije Zu= 
lüfigfeit, ei e8 über beides zumal, jomit al8 Leute, bje 
durchaus an die Auctorität gewieſen waren. Iſt bem fo, fo 
ift nit einzufehen, warum die Duldung ber fopernifanijdjen 
Sere befondere Gefahr hätte bringen können. Für diefe 
Leute war einfach bie Auctorität maßgebend, und biefe be⸗ 
fand ebenjo zu Recht, ob man bie neue Lehre als [τί 
widrig verwarf ober als inbifferent für das Schriftwort hin⸗ 
geben ließ. Vieleicht will man zu diefen Schwachen aud) 
mod) Theologen zählen, bie mit ungebührlicher Zähigkeit 
an der alten Anſchauung fefthielten. Ich habe nicht viel 
dagegen einzuwenden. Nur gebe id) zu bebenfem, baf 
man von ihnen als Theologen eher eine Unterwerfung 
unter bie Auctorität zu fordern berechtigt mar und dieſes 
um jo mehr, da das Opfer, das fie zu bringen hatten, 
im Verhaltniß zu bem Opfer der Gegenpartei ein winzig 
Tleine8 war. Von ihnen wurde ja nicht bie Annahme, 
fondern mur Duldung ber neuen Lehre verlangt, und 
wenn man das erwägt, wird man für fie faum befon- 
dere 9tüdfidten in Anſpruch nehmen wollen. Nicht jo 
flanb es bei Kopernifanern. Sie hatten, mögen ihre 
Gründe etwas mehr oder weniger Gewicht gehabt ha= 
ben, immerhin bie wiffenjhaftlihe Überzeugung ?), daß 

1) Grijar unterfhägte bieje Überzeugung €. 81 f. Daß ed 
damals für bie neue Lehre noch feime bolle Demonftration ober 
noch nicht förmlich zwingende Beweiſe gab, ift nicht zu fer zu be» 

The, uaaliquit. 1889. Heft III. 30 


464 gunt, 


die neue Lehre die ridtige fei; fie waren ebenjo über- 
zeugt, daß bie Hl. Schrift, richtig verſtanden, keine Syn. 
ftong gegen biejelbe bilde. ©. hatte das zur Genüge 
hewieſen. Griſar zollt den bezüglihen Auseinander: 
jegungen felbft bie gebührende Anertennung, indem er 
©. 261 ſchreibt, die Gebanfen G.'s über die flreitigen 
Schriftſtellen haben zum Theil bleibenden Werth. Die 
Unterwerfung unter das Inderdecret mußte aljo für 
diefe „Schwachen“ doppelt ſchwer fein, und thatſächlich 
Tam fie, wie bie Geſchichte zeigt, volftändig nie zu Stande. 
Das Benehmen G.'8 mar, unter biejem Geſichtspunlt 
betrachtet, Heuchelei, und der Widerſpruch zwifchen innerer 
Gefinnung und äußerem Verhalten, ber ſchon bei ihm 
vorliegt, ift mehr ober weniger bei den meiften Freunden 
der neuen Weltanfhauung in jewer unb der nächſten 
Zeit anzutreffen. Oder ifi, um nur zwei Beiſpiele zu 
nennen, nad) dem, was Grifar €. 166 vom ihnen om 
führt, bei bem Parifer Aſtronomen Auzout und bei bem 
poluiſchen Mathematiker Kochansky anzunehmen, baf fie bie 
Entſcheidung der römiſchen Tribunale mur halbmegs für 
wahr uud begrüubet hielten? Diefes Moment hat aber in 
unfeser Frage ein ganz anderes Gericht als das enigegenge- 
feste. Es laͤßt Rd) zubem mit Sicherheit nachtweifen, während 


towen. Sonſt wäre ja bie Verurtheilung derſelben gang unbegreij⸗ 
τῷ. Daß aber ihre Adepten aud) ſchon damals und namentlich 
in Folge δες Gnibedungen G.'8 ihrer Sache fid) ziemlich fidjer fühlten, 
iftunbefiteitbar. Wenn G. aud) einmal (Berti, Copernico 1876 p. 
190) fagt, bo neue Syſtem Tönme wahr fein, fo zeigk ber Bw 
fammenfang deutlich, baf er εὖ keineswegs bloß al möglich er⸗ 
mweife wahr anjab. Indem er zugleich bemerkt, daß das alte 
nic t wahr fen konne, gibt ex zu verſtehen, daß baà neue gewiſſer⸗ 
majen wahr fein πὶ ἃ {{ εν 








᾿ Bur Gallieifrage. 455 


jenes im ganzen bloß auf Gonjectur beruht. Und wenn man 
dem fraglichen Mißftand gegenüber je ben übernatürlichen 
Werth ber gehorfamen Unterwerfung von einzelnen Ge⸗ 
lehrten betonen wollte, fo ἐξ zu bemerken, bag damit 
an ber Sache im mefentlichen nichts geändert wird. 
Der Gehorfam konnte geübt werden, ob bie Entſcheidung 
fo oder anders ausfiel. Es handelte fid) bloß barum, 
auf meldet Seite er geübt werden follte. 

Dürfte hienach bie Rechtfertigung des Inderdecretes 
mit dem Hinweis auf die nothwendige Berückſichtiguug 
der Schwachen ſchwerlich zu begründen fein, fo ift ble 
Rolle, die der göttlichen Vorſehung in ber Angelegenheit 
zugewieſen wird, nod) weniger glüdlid). Wenn bie Vor- 
fehung fo nahe am der Sache betheiligt war, als Griſar 
ansimmt, und wenn bie Welt im Anfang des 17. Jahr⸗ 
hundert für bie neue Lehre nod) nicht bie erforderliche 
Reife befaß, obwohl von einem plógliden Qerein- 
treten berjelben für jene eit ſchwerlich im Ernſte die 
Rede fein Tann, jo bürfte e8 Gottes bod) wohl würdiger 
geweſen fein, bie kopernikaniſche Lehre felbft bis zur 
geeigneten eit hintanzuhalten, als die höchſten kirchlichen 
Behörden einen fo bebeutjamen Fehler machen zu laflen. 
Die Sache dürfte fo Har fein, daß eine weitere Auseinan- 
derfegung wohl unterbleiben darf. Nur ein paar Worte 
mögen nod) beigefügt werden. Dffenbart fid) Gott aud) 
in bet Geſchichte, fo ift fein Walten in der Geſchichte 
bod) zugleich ein Geheimniß, unb wir Menſchen verſuchen 
e8 nicht ungeftraft, zu weit im biejes Geheimniß einzu= 
bringen. Wir müffen und gumeift mit einem fehr be= 
ſcheidenen Maß von Wiflen oder Ahnen begnügen. In 
allen Fällen aber dürfte es angezeigt fein, bei Erklaͤrung 

30* 


456 Funk, Bur Galileifrage. 


der menjdliden Irrungen und geibenjdjaften bie Bor: 
ſehung moglichſt bei Seite zu Laffen, teil wir fonft zu 
leicht Gefahr laufen, auf Ab⸗ und Irrwege zu gerathen. 
Syene Vorkommniſſe in ber Geſchichte ſehen wir im oll 
meinen beffer al8 Producte be8 Factors an, bet mit der 
Vorſehung bie Gejdjid)te wirkt, des Menſchen mit feiner 
beſchrankten Grfenntni und feinen Seibenjdjaftem. Oder 
wie wollen wir ben Antheil der Vorfehung an bem Pon- 
tificate eines Alexander VI, abgefehen von beffem bloßer 
Bulaffung, näher beftimmen? Und würde fid) Grifar 
nicht mit 9tedjt dagegen erklären, wenn man ber Bor: 
fehung eine fo enge Betheiligung am ber Aufhebung 
ber Geſellſchaft Jeſu zuſchreiben würde, als er fie be 
aüglid ber Entſcheidungen ber Gongtegationem der ju 
quifition und be8 Inder über bie fopermifanijd)e Lehre 
annimmt? 





3 
Weber die Geſchichtsſchreibung Bonitho's von Sutri. 


Bon Dr. Wilh. Martens, 
Regeus o, D. in Dion bei Danzig. 





In bem 1844 erjdjienenen Bande bet Pertz'ſchen 
Monumenta historica Germanise werben unter ber 
Stubrif: Annales majores, Chronica generalia mehrere 
deutfche Scriptores vorgeführt, welche fid) über bie 9te- 
gierungszeit Kaifer Heinrich's IV. vezbreiten'unb zugleich 
das SBontificat Gregor'8 VIL mehr ober minder be- 
rüdfichtigen. Die wichtigſten berjelben find Lambert 
von Hersfeld, Berthold, Bernold und Bruno, ber Ver: 
fafler des liber de bello Saxonico. Der Erftgenannte, 
welchen man früher grundlos Lambert von Aſchaffenburg 
zu nennen pflegte, fomunt in feinen Annalen nicht über 
den Anfang des Jahrs 1077 hinaus. Berthold ſchließt 
mit 1080, Bruno mit 1081, wogegen fBernofb'8 Chro- 
nicon bis zum Jahre 1100 reiht. Gemeinfam ift diefen 
Männern die Gegnerſchaft gegen Heinrich IV.: im tlebrigen 
befteben zwiſchen ihren Anſchauungen mande Differenzen. 
Lambert, welcher Gregor fhägt und ben König mit 
lebaftem Haſſe verfolgt, tritt bod) vorzugsweiſe als 


458 Martens, 


Anwalt ber reichsfürſtlichen Oppofition gegen Heinrich 
auf. Sein eigentlicher Hauptzweck iR, nachzuweiſen, 
daß die Fürften in den damaligen Wirren nicht anders 
bandeln fonnten, als fie handelten. Berthold und Ber: 
nold gehören in bie Kategorie ber ſchwäbiſchen Rudolfianer. 
Sie find glüdlih darüber, daß Rudolf von Rheinfelden 
zur Königswürde gelangte, und laſſen e8 fid) angelegen 
fein, den frühern Herzog im ſchönſten Lichte barguftellen. 
Bruno endlich ift, wenn ich fo fagen darf, der ſächſiſche 
Barticularift vom reinften Wafler. Wenn c8 nad) ihm 
gegangen wäre, hätte ein eingeborner Sachſe al8 Gegen: 
fónig aufgeftellt werden müffen. Für Bruno ift Rudolf 
Taum mehr als ein Nothbehelf, ein Lüdenbüßer: an 
einer Stelle feines liber gieft der mißvergnügte Ber: 
fafler über bem neuen König boshafte Ironie aus. Der 
amgedeutete Standpunkt macht fid) aud bem Papſte 
gegenüber geltend. Gregor ἐξ milllommen, fofern er 
den Abfall von Heinrich herbeiführt ober befördert: 
ſcheinen jebod) die päpftlichen Maßregeln bem ſächſiſchen 
Particularintereſſe eutgegemgutreten, fo wird bie ſchonungs⸗ 
Iofefte Kritik geübt und der Ditterfte Tadel ausgefprodhen. 

Der hiſtoriſche Werth ber angeführten vier Schrift: 
ſteller ift ſehr verſchieden tariet worden. Dem verbienf- 
vollen Harald Stengel, meldet in den Jahren 1827 
und 28 die Geſchichte Deutihlands unter den fränkiſchen 
Kaifern veröffentlichte, galt Lambert al8 ein Maun, 
deſſen Unparteilichkeit faft einzig in feiner Art je. Etwa 
25 Jahre fpäter erhob Leopold von Staufe, wenngleich 
mit unverfenubarer Burücdhaltung, gegen mehrere An- 
gaben Lambert's ſchwere Bedenken. Ju der Gegenwart 
endlich fehlt es nicht am ſolchen, welche fid) mit Hans 





Geſchichtsſchreibung Bonitho's von Sutri. 450 


Delbrüd von Lambert als einem hämiſchen und vet- 
flodten Lügner unmwilig abwenden. 

Ueber den Verfafler des Sachſenkrieges hat fid) das 
Urtheil ziemlich einhellig zu deſſen Ungunften entjdjieben. 
„Wenn Bruno“, fagt Wattenbach (Deutſchlunds Geſchichts⸗ 
quellen im Mittelalter 4. X. II, 71), „überhaupt Wahr: 
baftigleit bejag, fo ift er völlig werblendet butd) bie Sei- 
benjdjaft ber politijden Parteiung: man hat. in Bezug 
auf ihn zu wählen gtotjdjen bem Vorwurf beivußter Lüge 
ober grenzenlofer Leithigläubigfeit.” 

Berthold und Bernold erfreuen fid) im Großen und 
Ganzen bei den Hiftorifern eines guten Rufes, mad) 
meiner Auſicht durchaus mit Unrecht, Auch fie haben, 
wenn e3 galt, ihren Helden Rudolf zu verherrlichen ober 
in Schutz zu nehmen, weber SBerbteungen mod Un— 
wahrheiten geſpart. 

Unter ben Italienern des 11. Jahrhunderts, welche 
bie Conflicte zwiſchen Heinrich IV. und Gregor VII. 
literariſch behandelten, verdient aus mehr als einem 
Grunde der Biſchof Bonitho oder Bonizo von Sutri 
Beachtung, welchen ich im Folgenden genauer ins Auge 
faſſen will. 

Ueber Bonitho's Leben wiſſen wir mir ſehr wenig 
Sicheres. Zwiſchen 1040—50 dürfte er in Dbetitalien 
und zwar im Gebiet des Erzbisthums Mailand. geboren 
fein. Ms Mberhirt von Sutri begegnet er und 1078 
auf einem Römiſchen Concil. Während Heinrih Rom 
belagerte, vertrieben beffeu Auhänger ben als entſchiedenen 
Gregorianer hinlänglich befannten Biſchof ans feinem 
Sprengel. Später an die Spige der Didcefe Piacenza 
berufen, vermochte er fid) itt derſelben nicht zu behaupten: 


460. Martens, 


die Gegenpartei vubte nicht eher, bis fie ben arg Ge 
mißhandelten zum Weichen gebracht hatte. — Ceitbem 
war Bonitho genöthigt, ein unftüte8, an Entbehrungen 
reiches Leben zu führen. Er ftarb wahrſcheinlich um 
das Jahr 1090. 

Bon den Schriften des Biſchofs ift zumächft bet 
nidt auf und gefommene liber ad Hugonem Schisma- 
ticum zu erwähnen. In bemjelben wird ber Gatbimal 
Hugo Ganbibus befümpft, ein febr unzuverläffiger und 
unbeftändiger Prälat, welcher 1073 die Erhebung Hilde 
brand's auf ben päpftlichen Stuhl mit brennendem Eifer 
betrieb, aber jdm nad) wenigen Jahren einer der bit- 
terften und unverföhnlichften Feinde des Papftes wurde. 

Sodann ſchrieb Bonitho ein größeres Werk über 
das canonifche Recht in 10 Büchern. Ein vollftändiger 
Abdrud fehlt bis jet: jedoch bat ber Gatbinal Mai 
im 7. Bande feiner Nova Bibliotheca Patrum 1854 einige 
Excerpte mitgetheil. Während eine Handſchrift »de 
vita christiana« überfchrieben ift, entbehren bie anderen 
jeder genaueren Bezeichnung. Am rictigften ſcheint es, 
mit Mat das Werk »Decretum« zu nennen, ba biejer 
Titel im 11. unb 12, Jahrhundert für Bücher allgemeinen 
kirchenrechtlichen Inhalts gebräuchlich mar. 

Die literarifche Leiftung unferes Autors, welche jebt 
genauer betrachtet werden fol, führt bie ziemlich un: 
beftimmte Ueberſchrift: »liber ad amicum.« Mer 
ber angeredete Freund ift, wiffem wir nicht. Mande 
haben an bie Markgräfin Mathilde in Tuscien gebadjt, 
deren Gaſtfreundſchaft Bonitho einige Zeit genoffen hatte. 
Diefe Annahme ift inbeffen wohl nicht haltbar, weil ber 
Autor am Schluffe von ber Gräfin wie von einer dritten 





Geſchichtsſchreibung Bonitho's von Sutri. 461 


Perſon ſpricht und deren Tugenden den Leſern dringend 
zur Nachahmung empfiehlt. 

Die neueſte und werthvollſte Ausgabe des liber ad 
amicum verdanken wir Philipp Jaffs: diefelbe ift dem 
1865 erjdjienenen 2. Theil ber Bibliotheca Rerum Ger- 
manicarum einverleibt unb bildet bort einen Beftand- 
theil der Monumenta Gregoriana. Ich citire mad) ben 
Seitengablen diefer Edition. 

Bonitho's Werk, welches in 9 Bücher von um- 
gleichem Umfange zerfällt, beginnt mit der Notiz, daß 
der Freund von bem Verfaſſer die Beantwortung zweier 
Fragen erbeten habe: 1) Quaeris a me, quid est, quod 
hae tempestate mater ecclesia premitur. 2) Est et 
aliud, unde a me petis auctoritatem, si licuit vel licet 
christiano pro dogmate armis certare (6. 608). 

Während bet am zweiter Stelle bezeichnete Gegen: 
fand am Ende des 9. Buches ziemlich kurz und dürftig 
behandelt wird, widmet Bonitho der Beleuchtung ber 
exften Frage feine volle Theilnahme und bingebende 
Sorgfalt. Er ftellt folgenden Sat an bie Spige: »Ma- 
ter ecclesia tum maxime liberatur, cum premitur, tum 
maxime crescit, dum minuitur«: und liefert banm zur 
Erläuterung eine Skizze, in welcher bie Kirchengeſchichte 
in ihren wictigften Berührungspunften mit ber Brofange- 
ſchichte von ben Alteften Zeiten bis pm Tode Gregor's VII. 
(1085) dargeftellt wird. 

Gonftantin, der erfte Hriftliche Kaifer, ift, tole das 2. 
Bud) (€. 606) nad) der im Mittelalter herrſchenden Trabi- 
tion angibt, von bem Papft Silvefter I getauft und gekrönt 
worden: er empfängt uneingefchränftes Lob. Um fo 
ungünftiger wird im meiteren Verlauf (Θ. 613) die 


462 Martens, 


longobardiſche Decupation von 568 beurtheilt: bie »ra- 
bies Longobardica« habe »calamitates calamitstum« 
und »miserias miseriarum« über Jtalien gebradjt. Im 
3. Buche erhalten wir Mittheilungen von ber Zeit Karla 
des Großen bis zum Tode be$ Papftes Nicolaus I. 
Ohne Bermittelung und Uebergang erſcheint im Anfange 
des vierten Buches wie ein deus ex machina Dito I: 
»Ungarorum bacchante saevitia surrexit quidam Saxo- 
num et Francorum rex, nomine Otto« (€. 619): fortan 
wird in ben nádjften Abtheilungen ben römiſchen Kaifern 
deutſcher Nation eine befondere Aufmerkſamkeit gewidmet. 

Für bie Kritit bieten bie bis zum Jahre 1078 
geführten Angaben unferes Autors reichlichen Stoff: 
id beſchränkte mid) jebod) hier darauf, ein Unicum Der: 
vorzuheben. 

Es klingt unglaublich, aber es iſt wahr: Bonitho 
verſichert am zwei Stellen (im 3. Bude €. 614 und 
im δ, Buche S. 630) mit allem Nachdrude, daß Karl 
dem Großen die Kaiſerwürde nicht zu Theil geworben 
iei! Vielmehr wird Ludwig ber Fromme als erfter 
Kaiſer aus der Dynaftie ber alten frünfijden Könige 
proclamirt. Erſcheint e8 unbegreiflich, wie ber Biſchof 
von Sutri ſo etwas behaupten konnte, ſo läßt es ſich 
bod) kaum leichter erklären, daß es Gelehrte gegeben 
hat und nod) gibt, welche rückſichtlich der gedachten 
Behauptung bei Bonitho bona fides annehmen uub fij 
im Schweiße ihres 9ingefidjt8 abmühen, e8 plaufibel 
zu maden, wie ber arglofe Autor in einen ſolchen, 
allerdings craffen , Irrthum“ verfallen fei. 

In den „Forſchungen zur deutſchen Gejdidte" 
(85. 8. €. 397—464) hat Hugo €aur einen Auflag: 


Geſchichtsſchreibung Bonttho’3 bon Sutri. 408 


„Studien über Vonizo“ veröffentlicht: bier finden wir 
€. 448 ff. einen wirklich originellen Verſuch, bie Ehre 
des italienifchen Geſchichtsſchreibers zu retten. Saur 
orgumentirt in folgender Art: 

„Bonitho hatte den Theil be8 liber pontificalis, 
welcher von bem Papſt Habrian I handelt, gut Verfü— 
gung unb fonnte aus bemfelben erfahren, daß Karl ber 
Große bie Stellung eines römiſchen Patriciers befleibet 
fatte. Dagegen wird ihm die Biographie des folgenden 
Papſtes Leo's IH, in meldjer die Kaiferfrönung Karl's 
gut Sprache fommt, nicht gugänglich gewejen fein. Ergo: 
Bonitho Tonnte nicht wiffen, baB Karl Kaifer geworben.“ 
Quod erat demonstrandum! 

Auffallender Weife hat felbft ein fo befonnener und 
forgfältiger Forſcher wie Grnft Steinborff in Göttingen 
fi) burd) bie ſchwache Argumentation Saur's irre führen 
laffem. Steindorff (Jahrbücher des deutſchen Reichs 
unter Heinrich III, 1874 und 1881) will bei Bonitho 
nur Untcitif, abftrufe Anficht, wunderliche Verirrung“ er⸗ 
bliden (8. 16.457 ff., 8. II €. 476): denn e8 [εἰ ja nicht 
eriwiefen, daß unfer Autor die Vita Leonis ΠῚ benugt habe. 
ΜΠ ob auf biefen Umftand irgend etwas anfomme! 

IH frage: war das gebadjte Buch, welches ja 
mögliherweile bem Biſchofe fremd geblieben fein Tann, 
für ipu das einzige Medium, um den epodjemadjerben 
Act des Jahres 800 zu erfahren? Sollte die Thatſache 
ber Katferkrönung, welche in den Briefen Gregor's VII, 
in den Werken des Garbinal SDeusbebit und anderer 
Beitgenoffen wiederholt Berüdfihtigung findet, gerade 
ihm unbefannt geblieben fein? Iſt e8 benfbar, daß ein 
Mann, welchem fo viele minder wichtige Data ber 


464 Martens, 


Kirchen: und Profan: Geſchichte geläufig waren, etwas 
nicht gewußt habe, mas bereit8 damals fo zu fagen 
jedes Kind mußte? Nein, und abermals: nein! Das 
unbeſtechliche natürliche Gefühl hält daran feft, bof 
jene unqualificirbare Behauptung eine auf bie Zi 
{hung Anderer beredjnete bewußte Lüge ift. Bonitho 
felbft würde über bie zu feinen Gunften erjonnenen 
ſubtilen Zucubrationen fpotten: denn eine andere Stelle 
des 3. Buches beweist, daß ber Verfaffer über das 
Kaiſerthum Karl's allerdings Dinteidjenb orientirt ift. 
€x führt (&. 615) einige Gefege aus bem Anfange 
des 9. Jahrhunderts an und fenmjeidmet biefelben als 
edicta Karoli et Ludoviei imperatorum: aud 
ſpricht er von einer constitutio Karoli imperatoris! 
Die erklären fid) derartige horrende Widerſprüche? Ent- 
meber war bem Auctor entfallen, daß er Karl's Kaiſer⸗ 
tum negirt hatte, ober er fpeculirte bei feinen Leſern 
auf ein toabre8 llebermaf von Gebantenlofigfeit und 
Naivetät. Hätten Saur und Gteindorff den liber ad 
amicum gründlicher ftubirt, fo würden fie nicht auf bie 
unglückliche Idee gekommen fein, bie Unſchuld desjenigen 
beweiſen zu wollen, welcher burd) unjmeibeutige8 Ge 
ftändniß feine Schuld befannt Dat. 

Was mag denn aber ben SBijdjof von Sutri bewogen 
baben, fid) eine fo unerhörte Behauptung zu geftatten? 
Welche Tendenz leitete ihn? Man darf von vorneherein 
vermuthen, daß e3 fid) nit um eine Kleinigkeit, fondern 
um eine redjt wichtige Materie gehandelt haben wird. 
IH faffe das Verhältniß folgendermaßen auf. 

Als ächter Gregorianer verwarf Bonitho jede ftaat- 
lide Einmifhung in bie Beſetzung kirchlicher 9lemter 


Geſchichtsſchreibung Bonitho’3 von Cutri. 465 


und bielt e8 namentlid) für abfolut nothwendig, daß bie 
fBüpfte vom römifchen Clerus und Volke ohne Goncurrenz 
eine weltlichen Fürften frei gewählt würden. Freilich 
war das Princip der freien Papſtwahl im Laufe ber 
Seit vielfach angetaftet worden: hatte fid) bod) gerade 
im 11. Jahrhundert ber faijerlide Einfluß zu einer 
förmlichen und direkten Beſetzung bes päpftlihen Stuhles 
gefteigert. Dem gegenüber wollte unfer Verfaſſer nad 
weifen, daß bie faijer niemals ein eigentliche Recht, 
über den päpftlichen Stuhl zu verfügen, befeffen hätten, 
daß vielmehr Alles, was in jener Richtung geſchehen fei, 
nur den Charakter einer Ufurpation an fid) trage. 

SBefanntlid) hatte Heinrich III, geftügt auf feine 
äußere Stadt und feinen energifhen Willen in die 
tómijden Verhältniffe emt[d)eibenb eingegriffen: er lie 
fid nad) ber Synode von Sutri den römiſchen Patriciat 
übertragen, eine Stellung, welche, nebenbei bemerkt, 
von dem Patriciate Pippin's und Karls des Großen 
weſentlich verſchieden iſt. Bonitho bedauert aufs Tieffte, 
baB Heinrich III, ben er fonft als vir sapientissimus 
und totus christianissimus rühmt (S. 625), ben Pa- 
triciat angenommen habe: »Quid namque est, quod 
mentem tanti viri ad tantum traxit delictum, nisi 
quod crederet, per patriciatus ordinem se Romanum 
posse ordinare pontificem ?«  (&. 630). 

Um nun gegen bie faljóe Anfhauung, daß über: 
haupt ein Laie, und wäre e8 felbft der mächtigfte Fürſt, 
beu päpftlihen Stuhl bejegen könne, eine wirkſame 
Waffe zu gewinnen, enttoidelt Bonitho Folgendes. Der 
erſte abenblünbijde Kaifer aus bem Stamme Pippin’s 
dat fid niemals bie Befugniß beigelegt, einen Papſi 


466 Martens, 


einzufegen; baber find denn auch bie Nachfolger ver- 
pflichtet, die Freiheit der Papſtwahl genau zu refpectiren. 
Wie heißt der erfte Kaifer? »Carolo mortuo Ludovicus 
ei successit, ejus filius, vir mitissimus, qui primus 
omnium Francorum regum imperiali sublimatus est 
dignitate« (S. 614). Diefer Ludivig, mit welchem aljo 
bie Kaiſerr eihe beginnen fol, gab nad) Bonitho ein 
Geſetz, to eldje8. die Römer ermädtigte, bie Papftwahlen 
in aller Freiheit zu vollziehen (€. 614, 615). Hiebei 
find allerdings zwei Punkte zu beachten. Das Gefeh, 
welches und als ein Werk Ludwig's bezeichnet wird, 
rührt von Lothar I ber und hat außerdem unter Boni: 
tho's Händen eine mit bem Driginal nicht harmonirende 
Faſſung erhalten. Das thut inbeffen nichts zur Cade. 
Seinen Hauptzwed hat Bonitho erreicht: e8 war bem 
erften ber betreffenden Kaifer eine Beſtimmung in den 
Mund gelegt worden, welde für alle Nachfolger, ind- 
befondere aud) für Heinrich III maßgebend: fein follte. 

Wie aber, menn gegen bie wohlüberlegten Ausfüh: 
rungen folgender Einwand erhoben würde: „Karl bet 
Große war bod) Patricius Romanorum, mithin durfte 
auch Heinrich IIE den $patriciat ausuben“? Der 
umſichtige Autor Kit fid. indeſſen durch einen folden 
Einwand nicht aus: ber Fafſung bringen, ſondern verweist 
ben Opponenten zur Ruhe: „Karl mar allerdings τῦε 
miſcher Patricier, aber ber Patriciat, melden er in 
Unterordnung unter ben gleichzeitigen byzantiniſchen Lai⸗ 
Ter beflsivete, hatte mrt bie Bedeutung eines Protectorats 
ohne meitere Rechte. Zu Guuſien Kaifer. Heinrich's 1H 
folgt aus ber Thatſache, daß Karl Patricius mar, nicht 
das Mindeſte. Denn. Heinrich war Kaifer, Karl aber 





Geſchichtsſchreibung Bonijo'S von Sutri. 407 


war nicht Kaiſer. Ludwig, ber erfe faijer aus ber 
altfränkiſchen Dynaſtie hat gerade deshalb, weil ihm das 
Raiferiuum zu Theil geworden, bem Patriciat als ein 
fubalternes Officium verihmäht. War ber erfte Kaiſer 
nicht Patricius, fo durften aud) feine Nachfolger fid) den 
Batrieiat nicht beilegen.“ 

Damit dürfte die Tendenz Vonitho s blosgelegt 
fein. Er leugnet das Kaiſerthum Karl's aus zwei Grün: 
den, erſtens deshalb, weil er das gedachte Gefet über 
bie freie Papſtwahl auf Karl nicht zurüdführen Tann, 
tefpective nicht zurüdführen will; zweitens weil er nicht 
zugeftehen mag, daß ber erſte Kaiſer zugleich Patricius 
gewejen. 

Ich laffe jegt den Wortlaut ber ung ümtereffirenben 
Stelle aus bem 5. Bude (€. 629, 630) folgen: 

»Heinricus (III) tyrannidem patrieiatus sibi arri- 
puit, quasi aliqua esset in laicali ordine dignitas 
constituta, quae privilegii possideret plus imperatoria 
majestate. — Non licuit alicmi imperatori summa 
tenenti in electione se alicajus Romani pontificis in- 
serere; licebit homini sub potestate constituto? Sed 
dicent: Legimus et magnum Karolum patriciatus 
nomine designatum. Quodsi legerunt, quare non in- 
tellexerunt? Temporibus enim magni Karoli Com 
stantinus et Irene Romanum gubernabant imperium: 
et ideo excellentissimo regi Francorum quid amplius 
his temporibus conferri potuit, quam patrem Romae 
urbis vel protectorem vocitari? Sie enim legitur: 
Karolus rex Francorum et Patrieius Romanorum. 
Nunquam enim eum imperiali legimus auctum fuisse 
polesiate. Sed post ejus obitum Ludovicus ejus filius 


468 Martens, 


primus omnium regum a Romanorum 'sanguine extra- 
neorum imperialem meruit benedictionem ; et ideo, 
qui habuit summa (ba8 ftaijertjum), non quaesivit 
infima (ben Patriciat).« 


Die 3 legten Abtheilungen be8 liber ad amicum 
beſchäftigen fid) mit bem hochwichtigen Pontificate Gre: 
gor8 VII, für welches biejer je[bft ber befte und guber 
Täffigfte Zeuge ift. Wenn aud) nicht geleugnet merben 
darf, daß Gregor fid) einigemale zu parteiiſchen Ueber: 
treibungen und Verſchränkungen bat hinreißen laſſen, 
und wenn aud) bei einigen feiner geſchichtlichen Angaben 
über die Vergangenheit ber SBerbadjt rege mird, 
daß er fid) Manches für feine Zwecke zurechtgelegt habe, 
fo halte ἰῷ e8 bod) für unzweifelhaft, ba er im Bezug 
auf feine eigenen Erlebniffe tmeber in amtlichen 
Documenten nod) in vertraulichen Briefen eine pofitive 
Unwahrheit vorgebracht hat: und das mill für jene Zeit, 
welche fo ftarf vom Lügengeifte angeftef]em war, [dou 
etwas heißen. Gregor tar abgefehen von der gerüg- 
ten Schwäche eim fittlih bochitehender Mann: ruft 
er Gott zum Zeugen an, fo muß feiner Ausfage der 
vollfte Glaube geldjenft werben. Weberhaupt làft fij 
für bie Gejdjidjte ber Jahre 1073—1085 mur dann ein 
fefter Boden gewinnen, wenn wir nad) Gregor's Mit 
theilungen bie vielgeftaltigen Lügen ber Parteimänner, 
insbefondere aud) der Rudolfianer berichtigen. 

Leider hat Heinrich IV felbft e8 nicht verfcämäht, 
Tönigliche Erlaſſe durch unwahre und verwerfliche Aeuße⸗ 
tungen zu verunftalten. In den Documenten, welde auf 
ber gegen ben Papft gerichteten Wormjer Berfammlung 





Geſchichtsſchreibung Bonitfo's von Sutri. 469 


em Januar 1076 abgefaBt wurden (j. Mon. Germ. 
Leges II €. 45 ff.), brachten Heinrich unb bie mit ihm 
vereinigten deutſchen Biſchöfe die albernften Dinge vor, 
von deren Ungrund fie überzeugt fein mußten: 4. B. 
Gregor habe fid) duch Lift, Beſtechung und Gewalt den 
Bugang zum päpftlichen Thron gebahnt, er führe mit 
BVeibern einen anftößigen Lebenswandel und laſſe fi 
in feiner geiftlichen Verwaltung von meibfidem Einfluffe 
beberrfchen: »generalis querela ubique personuit, om- 
nia judicia, omnia decreta per feminas in apostolica 
sede actitari, denique per hunc feminarum novum se- 
natum totum orbem ecclesise administrari« u. dgl, mehr. 

Unter den italienifchen Biſchöfen, melde auf Seite 
Heinrich's fanden, war wohl feiner für den König fo 
eingenommen, als Benzo von Alba. Benzo zeigte in 
feinem ſchwülſtigen Panegyricus (ad Heinricum IV 
Imperatorem libri septem, f. Mon. Germ. Seript. XI 
€. 591 ἢ), daß er, ähnlich wie Bonitho, eine recht 
anſehnliche Fertigkeit im Lügen befaß. Im Webrigen 
fällt aber ein Vergleich beider Männer zu Gunften unferes 
Autors aus. 

Während Bonitho feiner Verehrung für Gregor 
einen würdigen Ausbrud gibt, verſchwendet Benzo an 
Heinrich bie ungeheuerlichſten und widerlichſten Schmei- 
Seleien. Der Biſchof von Sutri war uneigennügig, et 
weigerte fid) nicht, für feine Weberzeugung Opfer zu bringen 
und zu leiden. Wie ganz ander ber Biſchof von Alba! 
Trog aller Schwärmerei für Heinrich läßt Benzo feinen 
Aerger butd)bliden, daß ihm ber gebührende Lohn vor. 
enthalten worden ſei. »Quis, rogo, imperatorum ita 
durus, ut non dedisset tam bene scribenti aliquod 

Se Quartalfärift: 1889. Heft ΠῚ. 81 


470 Bartend, 


munus? — Si nune pro Caesare subeo pericula mille 
mortium, idem est, ac si semper tacuiesem (l.c. € 
610, 611). 

Befonders fällt Benzo auf durch bie Sucht, [ehe 
Gegner mit geihmadlofen und ehrenrührigen 3Brübicaten 
zu überſchütten. Die Normannen find ibm Rullimannt: 
Papſt Aerander II wird als Afinauder oder Afinandrel- 
lus eingeführt. Am ſchlimmſten fommt natürlich bet 
verhaßte Gregor VII teg: ber hitzige Heinricianer 
madt den früheren Eigennamen be8 Papftes gum Aus: 
gangspunfte von Verzerrungen, wie 3. B. Folleprandus, 
Prandellus und beihimpft feinen Gegner als »falsissimus 
und diabolicus monachellus.« 

Auch Bonitho fehont feine Feinde nit. Er über: 
ſchreitet das Maß, wenn er bie Anhänger Heinrich's 
»fili Beliale, den im Jahre 1080 eingejegten Gegen: 
papft Clemens III (früher Erzbiſchof Wibert von Ra 
venna) »bestia« nennt (6. 603, 684). Aber dergleichen 
Exceffe find bod) nur felten: man darf immerhin feiner 
Schreibweife, menigftens im Vergleich zu ber Benzo’s, 
das Lob einer gewiflen Noblefje nicht verfagen. 

Wenden wir unà jegt zu den auf Gregor VII be 
züglichen Darlegungen Bonitho’s. 

Den 22. April 1073 ſchildert Bonitho im Wefent- 
lichen übereinftimmend mit bem, was wir aus Gregor's 
eigenen Briefen erfahren. Es ftebt feft: man bat Qilbe- 
brand gegen feinen Willen auf den Stuhl Petri erhoben 
und die Wahlordnung von 1059 bei bem Acte nicht be 
Dbadjtet. »Ortus est magnus tumultus populi et fremitus 
et in me quasi vesani insurrexerunt, nil dicendi, nil con- 
sulendi facultatis aut spatii relinquentes. Violentis mani- 


Geſchichtsſchreibung Vonitho's von Sutri. 471 


bus me in locum apostolici regiminis, σαὶ longe impar 
sum, rapuerunt«: fo ſchreibt mit voller Rückhaltsloſigkeit 
ber Betheiligte felbft (Gregorii VII Registr. I, 1, bei 
Ja Mon. Greg. ©. 10). 

Bon Heinrih IV befigen toit aus dem Sommer 
1073 einen Brief, in welchem er bie Legimität ber €t» 
bebuug vorausfegend, beu neuen Papſt fogar als »apo- 
stolica dignitate co e litus insignitus« begrüßt (j. Greg. 
Beg. I, 29a, €. 46). Erft fpäter, im Jahre 1076, als 
bet Conflict ausgebrochen war, behaupteten die Anhänger 
Heinrich’ 3, Gregor habe fid) gegen ben Willen des Königs 
und mit Verlegung koniglicher Rechte eingebrängt, [εἰ 
alſo kein rechtmäßiger Nachfolger des b. Petrus. 

Um biefen Einwand aus der Welt zu fchaffen, et: 
findet Bonitho eine recht draſtiſche Anechote, durch welche 
fi) viele Hiſtoriker haben büpirem fafjem. Die Anecdote, 
eine Specialität des liber ad amicum (f. €. 656, 657), 
hat folgende Faſſung. 

Die Papſtwahl ift vollendet. Gregor fühlt fid) 
Aberaus unglüd(id) und hat feinen andern Wunſch, als 
den, fid) ber ſchweren Bürde zu entlebigen. Da fäht 
ihm ein, e8 fei bas SBefte, fid) an den König Heinrich 
zu wenden. Gejagt, getban. Er macht brieflid eine 
Kurze Mittheilung über ben Wahlact und Enüpft daran 
eine Drohung, deren eigenthümliche Schärfe burd) eine 
Überfegung nur verwiſcht werden würde: »interminatus, 
si rex ejus electioni assensum praebuerit, nunquam 
ejus nequitiam patienter portaturum.« 

Der König empfängt bie Notification, und bat 
fto der beigefügten Drohung nichts Ciligeve zu thun, 
als einen Botſchafter nah Rom zu fenden, welcher ber 

81" 


472 Martens, 


Eonfecration be8 Erwählten beiwohnen fol. So weit 
Bonitho. 

Fürwahr, eine wunderliche Erzählung! Iſt es 
benfbar, daß ber junge, lebhafte und reizbare König 
eine derartige Piovocation nicht nur mit Geduld ertragen, 
fondern fogar freudig begrüßt haben follte? Was Gregor 
angeht, fo befunden feine an dritte Perſonen gerichteten 
Briefe aus jener Zeit, baB er bem Könige weber gedroht 
πο nequitia vorgeworfen haben Tann: er fpridgt fij 
über Heinrich nidjt nur mit Ehrerbietung,, fondern aud 
mit unverfennbarem Wohlmollen aus, ohne zu verheblen, 
daß er Tadelnswerthes au ihm finde. 

Uebrigens Yäßt fid) leicht errathen, was Bonitho 
mit feiner Anechote Degmedte. Das Publicum follte 
ben Eindrud gewinnen, bag Gregor Alles gethan habe, 
um ber Würde auszuweichen, und daß Heinrich, meit 
entfernt, bie ibm dargebotene Gelegenheit zur Verwerfung 
zu benugen, bem Wahlacte feine mohlüberlegte Zuftim: 
mung ertheilt habe. Dabei ift aber dem gemandten 
Erzähler ein arges Malheur paffirt: er wird nemlid, 
ohne e8 zu wollen, zum Ankläger Gregor's! Bonitho 
war, wie wir gelefem haben, ein unerſchütterlicher Aus 
bhänger des Princips, daß bei bet Beſetzung be8 päpftlichen 
Stuhles fein weltlicher Fürft mitzureben habe. Wenn 
nun Gregor ben König zur Cafjation der Wahl anreizte, 
fo erfannte er ipso facto an, daß derfelbe ein Recht habe, 
über den päpftlichen Stuhl zu disponiren und machte fij 
einer SBetleugmung des von Bonitho hochgehaltenen 
Princips ſchuldig! Indefien hat Gregor einen derartigen 
Vorwurf nit verdient. In ber gegen feinen Willen 
erfolgten überrafhenden Acclamation des Römiſchen fle 





Geſchichtsſchreibung Bonitho's von Sutri. 473 


rus und Volles glaubte er eine geheimnißvolle Fügung 
ber göttlichen Vorſehung zu erbliden, und jo nahm er 
denn, um nicht durch unbegrünbete Ablehnung eine fitt- 
lige Verantwortung auf fid) zu laden, wenn aud) gewiß 
mit ſchwerem Herzen, bie Würde an. Dem entiprecdhend 
übt er, mie feine Brieffammlung bezeugt, unmittelbar 
nad) dem 22. April die höchſte oberhirtliche Jurisdiction 
aus. Eine füniglide Veftätigung hat er jo wenig ver: 
langt al8 er die Eventualität einer Verwerfung in Auſchlag 
brachte. 

Unter joldjen Umftänden bleiben aus ber Erzählung 
de3 liber ad amicum nur zwei Momente als thatſächlich 
übrig: die dem Könige getoibmete püpfilide Anzeige 
und die Abfendung eines füniglidjen Botſchafters zum 
Eonfecrationsacte. Das Andere gehört in das Reich ber 
Fabeln. 

(δ [εἰ mir geſtattet, der italieniſchen Anecdote das 
Hiſtörchen eines deutſchen, bereits oben erwähnten Chro⸗ 
niften gegenüberzuſtellen. Während Bonitho den tümi- 
ſchen Patriciat der beut[den Kaifer und Könige bet. 
abſcheut, ift Lambert von Hersfeld ein warmer Freund 
biefer Jnftitution. Lambert weiß recht gut, baß Heinrich 
fid) bie vollendete Thatfahe von Hildebrand's Erhebung 
gefallen ließ, aber er bedauert und mißbilligt, bie Paf- 
fioität des Königs: deshalb ſchildert er das als geſchicht⸗ 
lid) vollzogen, was nad) feiner Ueberzeugung hätte ge— 
ſchehen ſollen. 

Heinrich (fo lautet bie Hiſtorie, f. Mon. Germ. 
Seript. V. €. 194) wird von deutſchen Biſchöfen be. 
ftürmt, daß er gegen die ohne fein Wiffen erfolgte römi- 
ſche Action einfchreite: thue er das nicht, fo [εἰ e8 un: 


474 Martens, 


vermeiblih, baB ber neue Papft ihm viele Verlegen: 
heiten bereiten werde. Das läßt fid) der König wicht 
zweimal jagen. Er fenbet einen Botichafter ab, welcher 
die Angelegenheit unterfuchen fol. Gregor empfängt 
ben Gejandten zuvorfommend und fagt zu ihm: „Es i 
für mid) felbft in hohem Maße empfindlih, daß man 
mir die Würde, melde id) nicht erſtrebte, im fo unge: 
orbneter Weife übertragen hat: um fo mehr bedarf id) 
δε fónigliden Gonfenfes. Ehe id) von der Einwilligung 
fidere Kunde gewinne, laſſe id) mid) nicht confecriven.“ 
Diefe Verfiherung befriedigt den König. Die Appro: 
bation wird ertheilt, und e8 kommt Alles in bie befte 
Drbmung. So Lambert. 

Nachweislich hat Gregor die Biſchofsweihe im Juni 
1073 empfangen. Lambert aber verlegt die Eonfecration 
in ben Februar 1074. Da ein Irrthum biebei wicht 
anzunehmen ift, jo wird man Lambert einer tendenziöfen 
Unwahrheit beichuldigen müflen: der fpätere Termin 
wurde gewählt, wm für bie fuppomirten meitläuftigen 
Verhandlungen einen entiprechenden Zeitraum zu ge 
winnen. 

Nachdem das Berhältnig Gregor'8 zu Heinrich [εἰ 
1073 mannigfade Phafen, bie wir bier nicht meter 
verfolgen wollen, durchlaufen hatte, trat am Ende dei 
Jahres 1075 eine jo bebenflihe Spannung zwiſchen 
beiden hervor, daß ein erufter Conflict zu befürchten 
war. Damals befhwerte fid) Gregor in einem Schreiben, 
daß Heinrich mit Gebauwtem Umgang pflege, fid ber 
Simonie ſchuldig gemacht und bas Erzbisthum Mailand 
widerrechtlich befegt habe. Die Nuntien, welche ben Brief 
überbraciten, hatten zugleich bie bebentjame Aufgabe, eine 


Geſchichtsſchreibung Bonitho von Sutri. 475 


mündliche Botſchaft auszurichten, deren authentifche Faſ⸗ 
fung wir aus einem fpäteren Briefe des Papſtes erfahren: 

»Misimus ad regem ires religiosos viros, “τ per 
quos eum secreto monuimus: ut poenitentiam ageret 
de sceleribus suis — propter quae eum non excom- 
munieari solum —, sed ab omni honore regni absque 
spe recuperationis debere destitui, divinarum et hu- 
manarum legum testatur et jubet auctoritae« (Mon. 
Greg. ep. coll. 14 €. 538). 

Der junge König gerieth in bie äußerfte Aufregung. 
Sofort beſchied er im Januar 1076 mehrere deutſche 
JBijjüfe zu fid) nad) Worms unb fprach mit ihnen bie 
Abfegung Gregor's aus. Die damals in Worms ent. 
worfenen Urkunden enthalten, wie vorhin augebeutet 
wurde, eine Reihe der unbegründetften Invectiven gegen 
den Papft, zugleich aber geben fie deutlich das Motiv 
am, welches den König vorzugsweiſe bei feinem Schritte 
geleitet hatte.  Qeinrid) war indignirt darüber, daß bet 
Papſt daran gebadit hatte, ihm feine Krone zu ent 
sieben. Diefer Umftand ift, menn aud) nicht zur Ent- 
féulbigung, bod) zur Erklärung des verhängnißvollen 
Wormſer Actes gebührend in Anſchlag zu bringen. 

Bonitho übt bieje Gerechtigkeit nicht. Ohne von 
der wichtigen Botichaft be8 Papftes Notiz zu nehmen, 
läßt et beu Wormſer Gonbent ganz unvermittelt in bie 
Erfeinung treien, als ob Heinrich aus purem Ueber⸗ 
muthe, fiegeötrunfen wegen der in Sachfen errumgenen 
Erfolge bie Gelegenheit vom Zaun gebrochen habe, um 
beu Kampf mit bem Papfte zu beginnen. Das ift eine 
bo8hafte Verdrehung be8 wahren Sachverhalts. 

Gregor gab ſchon in dem folgenden Monate Februar 


476 Bartens, 


dem Könige eine verftänbliche Antwort. Auf der ri 
mischen Faſtenſynode verhängte er den Bann, nachdem 
er eine Sentenz verfünbigt hatte, wie fie bisher mod 
von feinem Papfte verfündigt worden war: 

»Heinrico regi, filio Heinriei imperatoris, totius 
regni Teutonicorum et Italiae gubernacula contra- 
dieo et omnes Christianos a vinculo juramenti, quod 
Bibi fecerunt vel facient, absolvo, et, ut nullus ei sicut 
regi serviat, interdico« (Reg. III, 10 S. 224). 

Wir jehen, Gregor übt Stetorfion, er vergilt Gleiches 
mit Gleijem. »Papa dedecus s. ecelesiae Romanse 
illatum non est passus inultum«, fagt Bonitho (6. 667) 
in richtiger Würdigung ber päpftlihen Intention. Merk: 
würdiger Weife erwähnt er aber nur die Ercommuni- 
catiom und übergeht bie Unterfagung ber Regierungs: 
gewalt und die Cibesentbinbung mit Stillſchweigen. Ein 
zwingender Grund für bieje Omiffion läßt fid nidt 
auffinden. Denn Bonitho Dat das von Gregor in An: 
ſpruch genommene Abſetzungsrecht nicht beanftandet, fon: 
bern hält daſſelbe für begründet: »Legimus multos 
Romanos pontifices pro minoribus causis non solum 
excommunicasse sed etiam a regno deposuisse« (6. 668). 
Darauf folgt eine Beifpielfammlung, melde von bet 
Erfindungsgabe des Autors ein glänzendes Beugnik 
ablegt: u. 9L. erfahren wir, daß Papft Gregor III. Leo 
ben Saurier entfegt habe. 

Vielleicht hielt aber Bonitho bie Anführung der 
eontradietio gubernaculorum für überflüffig, ba ja fon 
ber Bann allein den Verluſt ber Herrſcherrechte herbei- 
führe. An und für fid mar bie Ausſchließung bei 
Königs aus der chriſtlichen Kirchengemeinſchaft eine rein 





Geſchichtsſchreibung Vonitho's ton utri. 477 


kirchliche, nicht kirchenpolitiſche Maßregel, jebod) erhielt 
fie damals augefidjt ber den Bann umgebenden camo: 
niſchen Vorſchriften materiell bie Bedeutung eines bie 
Ausübung des Herrſcherrechtes fuspendivenden Actes. 
Das canonifhe 9tedjt verbot, mit Gebannten Verkehr zu 
unterhalten: war ber Landesherr gebannt, jo durfte 
alfo aud) mit ihm fein Umgang gepflogen werben. Wer 
f in Erfüllung der canonifhen Satzung von bem ges 
bannten Fürften zurüdgog, machte ihm damit zugleich 
die Ausübung der obrigfeitliden Gewalt unmöglich. 

Begierig griffen bie bem Könige feindlichen Reichs: 
fürften den Anlaß auf, von Heinrich abgufallen. Diefer 
war in wenigen Monaten fo tolitt, daß er fid) entſchloß 
dem Papfte Satisfaction zu Leiften: — er trat ben Buß⸗ 
gang nad) Ganofía an. 

Man hat fid) in früherer wie aud) in neuerer Zeit 
daran gewöhnt, „Canoſſa“ als Symbol einer ſchweren 
Niederlage ber meltlihen Gewalt gegenüber der geift- 
lien zu betraditen, eine Anfchauung, melde aud) in 
dem geflügelten Worte be8 Fürften Bismard: „nad 
Canoſſa geben wir nicht!" ihren Ausdrud fand, Wer 
fid) aber burd) den äußern Schein nicht captiviren läßt, 
wer vielmehr die innere Tragweite jeues Vorgangs zu 
ermeflen vermag, bet wird fid) nicht verhehlen, baf der 
27jährige König im Januar 1077, modte er audj als 
Bußer auftreten, einen nicht zu unterfhägenden Erfolg 
errungen bat. 

Reife und Büßung waren das Werk freieften Ent 
ſchluſſes: ober hat jemand ben König gezivungen ober 
zwingen Tönnen ? Hart mar bie felbft gemählte Form 
der Büßung (»per aliquot dies super nives et glacies 


478 Martens, 


discalcestus perduravit« fagt Bouitho €. 672): aber 
fie Hatte für jene Zeit bei weitem nicht das Auffallende, 
was fie für uns in ber Gegenwart bat. Heinrich er- 
reichte, was er gewünſcht hatte: der Bann wurde auf: 
gehoben, bie Kirchengemeinſchaft toieber hergeftellt. Aber 
der König erreichte noch mehr. Ex vereitelte die Aus: 
führung des von ben Reichsfürſten gefaßten Planes. 
Bekanntlich hatten bie Fürften den Papft eingeladen, 
auf einem in Augsburg abzuhaltenden Reichstage über 
Heinrich das Urtheil zu fpredjem. Mit Freuden nahm 
Gregor die Einladung an: er verließ Nom und begab 
fib auf den Weg. Der Reichstag fam aber nicht zu 
Stande: denn, nadjbem Papft und König fid) ausgeföhnt 
hatten, legten die Fürften auf das perſönliche Eingreifen 
Gregor's weiter feinen Werth. Sie wurden vielmehr 
über den unerwarteten Zwiſchenfall ſehr erbittert, fo 
daß das innige Verhältniß zu dem Papfte einen em 
pfindlichen Stoß erlitt. Gregor ſelbſt befand fij, als 
Heinrich erſchien, in einer offenbaren Zwangslage: εὖ 
trat für ihn eine Gollifion der Pflichten eim. Wie gern 
hätte er fein Verſprechen, auf deutfhem Boden bie An- 
Hagen gegen Heinrich zu unterfuden, erfüllt! Aber ber 
Tüniglide Pönitent gab fein Verlangen mad) fofortiger 
Losſprechung in einer jo ftürmijden Weiſe funb, bof 
eine Abweiſung moraliſch unmöglid mot, menu aud 
für ben politijd) weit blidenben Papft ber endliche €nt- 
ſchluß recht ſchwer geweſen fein mag. 

Kaum Hatte fid) der Monarch in Canoſſa verab- 
ſchiedet, als bie Gegner, melde nie und nimmer auf 
eine fo ſchleunige Abfolution geredet hatten, fid be 
eilten, das Geſchehene, wenn aud) nicht zu leugnen, 


Geſchichtsſchreibung Vonitho's von Sutri. 479 


doch zur Schmach und Kränkung Heinrich's zu verzerren. 
Auch Bonitho macht ſich zum Sprachrohr ſolcher falſcher 
Berichte: »Sunt, qui dicunt, Heinricum pontificem 
incautum capere voluisse. Quod satis videtur verisi- 
mile« (€. 672); im Folgenden wird diefe Behauptung 
fogar als völlig begründet bezeichnet. Gregor ſelbſt 
weiß weder von beunruhigenden Gerüchten, nod) von 
Umtrieben oder Nachftellungen, und bat aud) fpäter 
derartige Beſchwerden niemal3 laut werden lafen. Im 
Gegentheil, bie Haltung des Königs in Gauofja flößte 
ihm volles Vertrauen ein: »nihil hostile aut temera- 
rium ostendens rex ad oppidum Canusii, ubi morati 
sumus, cum paucis advenit«; jo fagt ausbrüdli das 
unmittelbar nad) ber Losiprehung am bie Deutſchen 
gerichtete päpftlihe Schreiben (Reg. IV, 12, €. 257). 

Bonitho behauptet ferner (S. 672), daß Qeiurid) 
in Canoſſa nur gebeudjelt habe. Die Meiften feien von 
dem demüthigen und bußfertigen Exterieur be8 Königs 
getäuſcht worden: nicht fo Gregor: »Papa non igno- 
rabat regis versutias.« Abermals hat bie eingemurzelte 
Antipathie gegen Heinrich unferem Autor einen fehr 
ſchlimmen Gtreid) gefpielt. Indem er den verhaßten 
König in ein ſchlechtes Licht ftellen will, compromittirt 
er ben Papſt aufs Nergfte. 

Nach fittlihen und kirchlichen Grundfägen darf ber 
geiftliche Zunctionär ben Pönitenten nur bam losſprechen, 
wenn er von deſſen günftiger Dispofition überzeugt ift, 
m. a. 28. in ihm Reue und guten Willen erblidt. Wer 
anders handelt, wer ein als unwürdig erfanntes Subject 
abfoloirt, entweiht das Heilige unb macht fid ſchwer 
verantwortlich. Hätte Bonitho Recht, bann müßte man 


480 Martens, 


zugeftehen, daß der Papſt in Canoſſa eine nidt zu 
redifertigenbe, verwerfliche Handlung begangen habe. 
Aber Gregor jagt in dem vorhin angeführten Schreiben 
an bie Deutſchen (L c. €. 258) ausdrücklich: »Devicti 
instantia compunctionis et multimodae penitudinis ex- 
hibitione ab anathematis vinculo absolutum regem in 
gratiam communionis recepimus.« 

Gregor war alfo burdjaus nicht ber Meinung, dab 
Heinri in Canoſſa ein falſches heuchleriſches Spiel ge: 
trieben habe: et glaubte eine aufrichtige Reue wahrzu⸗ 
nehmen unb hatte demgemäß ſowohl bie Berechtigung 
als bie Verpfiichtung, die Abjolution zu gewähren. 
Wenn id) früher ambeutete, daß Heinrich im Ganofía 
einen politifen Erfolg errungen babe, fo thut das 
bem eben Cntmidelten feinen Eintrag, Wan barf nem- 
lid nicht vergeffen, daß ber König mehrfache fittliche 
Vergehen begangen und allen Grund hatte, in feiner 
außerorbentlihen Lage derfelben eingebent zu fein. Hatte 
er im Jahre 1073 an ben Papft geſchrieben: »Eheu 
eriminosos et infelices — peecavimus in coelum et 
coram vobis: et jam digni non sumus vocatione vestrae 
filiationise (Reg. I, 298 €. 47): — warum follten ihn 
vier Jahre fpäter nicht ähnliche Empfindungen befeelt 
haben? 

Die gegnerijden Fürften waren, wie bemerkt, burdj 
bie 9tadjridjten aus Ganofja in eine fehr üble Laune ver- 
febt worden. Sie hatten feft darauf gerechnet, daß ber 
SBapft den König auf einem deutfchen Reichstage feierlich 
verbammen würde; ftatt deffen mußten fie erleben, baf 
Gregor dem Gebannten auf eigne Hand, in ihrer Ab- 
wefenheit bie Losſprechung gewährte! Grollend traten 





Geſchichtsſchreibung Vonitho’3 von Sutri. 481 


fie im März in Forchheim zufammen, um fid) endgültig 
von fjeiurid) Toszufagen, und Stubolf von Rheinfelden 
zu wählen. Diefer Schritt war, wenn id) mid) fo aus: 
brüden darf, eine Revange fir Ganofja. „Hat der Papſt 
den König Heinrich ohne ung abjoloirt, fo wollen wir 
jeßt ohne ben Papft den König befeitigen: Gregor ift 
uns nicht weiter nöthig“ — fo etma werben bie Miß- 
vergnügten veflectirt haben. 

Dem neuen Gegenfönig mibmet Bonitho fein be- 
fonbere8 Intereffe. Er nennt Rudolf (€. 673) zwar: 
»vir magni consilii et armis strenuissimus«; aber das 
till nicht viel bedeuten, ba auch Heinrich ein ähnliches 
Prädicat erhält. Wichtig ift dagegen folgender Punkt. 
Während die deutſchen 9tubolfianez, um ihrer ungerechten 
und Häglichen Sache aufzubelfen, in verfchiedenen Formen 
die Lüge colportirten, Gregor habe die Wahl Rudolf's 
gewünfcht, betrieben, ober fogar förmlich beftätigt, er- 
zählt der Biſchof von Sutri in Webereinflimmung mit 
Gregor's feierlichen und wiederholten SBerfiderungen, daß 
die Erhebung Rudolf's Tebiglid) von den deutſchen Fürften 
ausgegangen fel. Wie hätte aud) der Papſt eine Hand⸗ 
lung billigen oder loben können, deren Spige unver: 
Tennbar gegen ihn felbft gerichtet mar! 

Die Periode vom März 1077 bis zum Ende bes 
Jahres 1079 war für Gregor, was man meines Gr. 
adten8 nicht hinreichend erkannt Dat, eine Zeit trüber 
Erfahrungen und bitterer Enttäufhungen. Er hoffte 
den Streit zwifchen den beiden Prätendenten al8 Schieds- 
richter perſönlich zu ſchlichten: aber feine Hoffnung ging 
nit in Erfüllung: — man verteigerte ihm ba8 zur 
Reiſe nad Deutſchland erforderliche Geleit. Um fo 


482 Martens, 


weniger gelang e8 bem von ihm ausgefenbeten Legaten, 
fij Gehör zu verſchaffen. Weder Heinrich nod) Rudolf 
waren geneigt, bie Waffen niebergulegen: beide hatten 
für den Papft wur [done Worte und wohlfeile Cr. 
gebenheitöverfiherungen, Tümmerten fid) aber nicht im 
Geringften um feine Bitten und Drohungen. Jumitten 
des erregten Parteitreibens mar Gregor, elder fo gern 
ben Frieden herbeigeführt hätte, völig machtlos: bet 
Vorwurf, als habe er in jener Zeit ein falſches Spiel 
getrieben und fid) arger Doppelzüngigteit ſchuldig gemacht, 
ift ungereht und findet in ben üdten Quellen aud 
midt einen Schatten von Beglaubigung. 

Vielleicht wäre Gregor nod) länger in feiner mi. 
lichen und unerquidlichen Lage verblieben; aber Heinrich 
felbft gab den Anftoß zu einem Umſchwunge. Im Ja 
nuar 1080 fand die Schlacht bei Flarhheim ftatt, unb 
man muß trot ber entgegenftehenden SBerfidjerungen ber Ru: 
dolfianer annehmen, daß Heinrich, wenngleich mit großen 
Opfern, über feinen Gegner den Sieg davon getragen habe. 
Dies wird durch fein weiteres Auftreten hinlänglich bekundet. 

Er ordnete nemlih, wie Bonitho (&. 675) beridjtet, 
eine aus beutjden Bifchöfen beftehende Geſandtſchaft mit 
einem Ultimatum nad) Rom ab. Gregor fol fid) ohne 
Weiteres definitiv gegen Rudolf erklären und ihn mit 
dem Bann belegen, toibrigenfallà der König dafür forgen 
wird, daß ein anderer, ihm genehmer und willfähriger 
SBapft eingefegt werde. 

Diefes Ultimatum, welches eine Erneuerung bet 
Scene von Worms erwarten ließ, überzeugte den Spapft, 
daß Heinrich nichts gelernt und nichts vergeſſen habe. 
Der Entſchluß war leicht gefaßt. Gregor gab bie un 


Geſchichtsſchreibung Wonitho ὃ von Sutri. 483 


glückliche und unfruchtbare Schiedsrichterrolle auf und er⸗ 
klärte ſich nachdrücklich zu Gunſten Rudolf's. »Heinricum, 
quem regem dicunt, excommunicationi subjicio et ana- 
thematis vinculis alligo. Et iterum regnum Teutoni- 
eorum et Italiae interdicens ei, omnem potestatem et 
dignitatem regiam ei tollo.« So Ἰρταῷ Gregor auf der 
Römifchen Synode vom März 1080 (Reg. VII, 142, €. 468). 

Bonitho fommt zu bem Stefultat, bab Gregor un: 
bebingten Lobes würdig fei, Heinrich dagegen mur Tadel 
verbiene. Anders urtheilt eine unbefangene geſchicht⸗ 
lide Betrachtung. Weder Qeinrid) ned) Gregor haben 
Maß gehalten: jeder von ihnen machte fid) einer Ge: 
bietsüberfereitung ſchuldig. Gregor hatte Fein Recht, 
dem Könige die Regierung zu unterfagen ober ihm bie 
Krone abzuſprechen. Heinrich war nicht befugt, bem 
Bapfte feine geiftlihe Würde zu entziehen. Darum er: 
ideint e8 denn aud) burdjaus nicht als zufällig, daß 
beide Männer vor dem Schluß ihrer itbijdjen Laufbahn 
gedemäthigt wurden. Welch' eine ſchmähliche Behand: 
lung mußte ber alte Kaifer von feinem treulofen Sohne 
erfahren! Wie empfinblid mar e8 für Gregor, bie 
Gräber ber Apoftel verlaffem zu muüffen und in ber 
Verbannung als Gaft eines früheren Kirchenräubers zu 
erben! Schon ein geitgenofie des 11. Jahrhunderts 
bat den Kern des Conflicts treffend dargelegt: 

>Qunerit apostolicus regem depellere regno, 

Rez furit e contra, papatum tollere papae; 

Si foret in medio, qui litem rumpere possit, 

Sio, ut rex regnum, papatum papa teneret, 

Jnter utrumque malum fleret discretio magna«. 


(f. Jaffé Mon. Bambergensia €. 110, aus bem Codex 
Udalrici N. 61). 


IL 


Recenfionen. 


1. 


Atlas archéologique de la bible d'aprés les meilleurs 
documents, soit anciens, soit modernes et surtout 
d'aprés les découvertes les plus récentes faites dans 
la Palaestine, la Syrie, la Phénice, l'Égypte et l'Assyrie 
destiné à faciliter l'intelligence des saintes écritures 
par M. L. ΟἹ. Fillion, prétre de Sainte-Sulpice, Profes- 
seur d'écriture sainte au grand séminaire de Lyon. 
Librairie Briday, Delhomme et Briguet, succósseurs. 
Lyon—Paris. 1883. 


Es ift überflüffig zu bemerken, daß bet Unterricht 
dur) Demonftrationen befonders fruchtbar gemacht werden 
Kann und fol. Denn der unfern Lefern bereit3 bekannte 
$. Verf. (vgl. €. 116) führt hiefür in ber Einleitung 
ben befannten Ausſpruch des Horaz (ar. p. 180) und 
feine eigene Erfahrung an. Gerade die biblifche Eregefe, 
welche fid) vorwiegend mit bem morgenländifchen Alter: 
thum zu befaffen hat, Tann burd) Darftellungen aus bem. 
privaten und öffentlichen Leben ungemein fruchtbar ge: 
macht werben. Die neueren archäologiſchen Schriften 


Atlas archéologique. 485 


über das biblifche Alterthum von Sepp, Schenkel, Riehm, 
Ebers, Guthe und 9L haben denn aud) bie bilblide 
Darftellung in ausgiebiger Weife fid zu Nutzen gemacht. 
Die Entdeckungen in Aegypten und Afigrien haben dafür 
reichlichen Stoff geliefert und gerade in Frankreich find 
die Mufeen von Paris mit ben Refultaten zahlreicher 
Nachforſchungen angefült. Für ben Unterriht ift es 
daher freudig zu begrüßen, daß Q. Fillion das Geeig- 
nete in guten Abbildungen zu einem archäologiſchen 
Atlas zufammengeftellt hat, der aud) für weitere Kreife 
jugünglid) ift. Es find in Frankreich nur zwei derartige 
Arbeiten vorangegangen, bet Atlas göographique et ico- 
nographique, welcher den cursus completus Scripturae sa- 
crae von Migne befdlieBt (Paris, 1844), und ber Atlas 
géographique et archéologique pour l'étude de l'Ancien 
et Nouveau Testament, 1876 p. M. V. Ancessi. Jener 
beſchränkt fid) wie unfere deutſchen biblifehen Archäologien 
auf bie Wiedergabe be8 Tempels und feiner Einrich- 
tungen, dieſer ift unbollenbet und hat vorwiegend bie ügpp- 
tijde Archäologie berüdfihtigt. Die Lüde füllt nun 
$. Fillion glüdlid) aus, indem er mad) den anerkannt 
beften und den neueften Quellen einen planmäßig ges 
ordneten und vollftändigen Atlas hergeftellt hat. 

Seine Abſicht gieng dahin: 1., bie Einheit be 
Gegenftandes zu wahren, 2) jo volftändig als möglich 
zu fein, 3) fid) an eine ftreng logiſche Ordnung für bie 
Anordnung be8 Details zu halten. Der Atlas ift eine 
Archäologie in Bildern. Alles was darauf feinen Ber — 
zug bat, ift ausgefchloffen, aber aud) alles darauf Bezüg⸗ 
lide aus bem häuslichen, focialen, politiihen, religiöſen 
eben bes jüdiſchen Volkes und ber heibnifchen Völker, 

peol. Ouartalfeift. 1889. Heft ΠῚ. 32 


486 Fillion, Atlas archéologique. 


fo weit fie in der Bibel behandelt werben, aufgenommen. 
Diefe Dinge find um fo intereffanter, ald man im. bet 
That jagen Tann, die Steine fprechen für die Wahrheit 
der Bibel, 

Der Atlas enthält 93 Karten mit 960 Holzſchnitten, 
bie fauber und deutlich ausgeführt find. Voraus geht 
eine amalptijdje Tafel, melde eine ganz kurze, aber 
genügende Beſchreibung der Figuren gibt. Die Aufzähs 
lung δεῖ Weberfchriften wird den beften Einblid in das 
ganze Werk gewähren. I. Intimes und Familienleben. 
1. Kleidung und Shmud, 2. Wohnung, 3. Mobiliar 
und Utenſilien für bie Haushaltung, 4. Mahlzeiten, 
5. Krankheiten, Tod, Leichenfeier, Trauer. IL Bürger: 
lidje8 und fociales Leben. 1. Aderbau, 2. Jagd und 
Fiſcherei, 8. Künfte und Getverbe, 4. Architectur, D. Spiele, 
Bergnügungen, 6. Tanz und Muſik, 7. Münzen, Gewicht 
und Maß, 8. Schrift, Bücher, 9. Gerichte und Strafen, 
10. Schiffahrt, 11. Reifen, Verkehrsmittel, 12. einige 
fociale Beziehungen (gefelliger Verkehr). III. Politiſches 
Leben. 1. Könige, Schmud und Diener, 2. Heer und 
Krieg. IV. Religiöſes Leben. 1. Der Kult des wahren 
Gottes, 2. Der Gügenbienft. Außerdem ift noch ein 
forgfältiges Regifter ber im Tert und im Atlas erklärten 
Wörter beigegeben. Der Atlas empfiehlt fid) alfo duch 
Teine Reichhaltigkeit und Ueberſichtlichkeit allen Freunden 
des biblijen Studiums, ift aber vor allem ein er 

, wänfchtes Hilfsmittel für den eregetifchen Unterricht in 
weiteren Kreifen. 
Schanz. 


Galileiſtudien. as7 
2. 

Gallleiſtudien. Hiftorifch-theologifche Unterjuchungen über 
die Urtheile ber römifchen Congregationem im Galileis 
proceß. Bon Hartmann Grifer, S. I. Regensburg, 
Puſtet 1882. XI, 874 ©. gr. 8. Preis 7 S. 

Diefe Schrift erwuchs aus zwei Abhandlungen, die 
1878 in ber Zeitſchr. f. Kath. Theol. erfchienen. Der 
Verf. hat fid) um das SBerftánbniB des Galileiprocefies 
in mehreren nit unwichtigen Punkten ganz entichiedened 
Verdienſt erworben, und bie Arbeit verdiente daher wohl, 
befonber veröffentlicht zu werden. Indeſſen ift fie Diet 
nicht einfach wieberabgebrudt. Der erfte oder der his 
ſtoriſch⸗ juriſtiſche Theil der Schrift erfcheint vielmehr 
als Weberarbeitung ber erften Abhandlung. Der zweite 
ober tbeologijdje Theil enthält im Verhältniß zu bet 
früheren Arbeit eine durchweg neue und weit ausführe 
lidere Behandlung der einſchlägigen Gegenftände, und 
ex bildet den Schwerpunft des Werkes. 

Syd) ließ mid) burd) die Publication zur Abfaffung 
einer bejonderen Abhandlung beftimmen, und ber ge: 
lehrte Verf. möge diefe als einen Beweis betrachten, wie 
body ἰῷ feine Arbeit ſchätzte und mit welchem Intereſſe 
id ijr folgte. Ih Debe namentlih hervor, ba ἰῷ 
mich bezüglich des erftem Theiles im weſentlichen ἐπ 
burdjgüngiger Uebereinſtimmung mit ihm befinde. Im 
zeiten Theil weicht zwar mein Urtheil mehrfach von 
bem jeinigen ab. Die Hauptdifferenz betrifft bie Genfur, 
bie über bie fopetnifanijde Lehre ausgefprochen wurde. 
Der Verf. Tieß e8 in biejer Beziehung etwas an Difto- 
riſcher Kritik und Methode fehlen. Trägt er biejer mehr 
Rechnung, fo darf idj mid) der Hoffnung bingeben, er 

82" 


488 Stef, 


toetbe fid) meiner Auffaflung nähern, oder er wird mid 
zu einer neuen Prüfung veranlaffen. In allen Fällen 
aber barf ἰῷ mohl hoffen, er werde in meinen Aus: 
führungen ein reines und ernftliches Streben erbliden, 
den Sachverhalt in diefer ſchwierigen Angelegenheit richtig 
zu ftellen. Weber diefen muß zuerft eine Verftändigung 
erzielt werden. Weitere Betrachtungen haben nur imjo- 
weit einen Werth, als fie ihm gerecht werben. 

Indem ih auf die Abhandlung vermeije, Tann ἰῷ 
mid) hier kürzer faffen, als die Bedeutung der Schrift 
εὖ fonft zuließe. Ich bemerfe nur nod, daß am Schluß 
bes erften Theiles bie fünf wichtigften auf bem Galilei: 
proceß bezüglihen Documente abgebrudt find. An ben 
zweiten Theil ſchließen fid) al8 theologifche Belege an 
Ausſprüche be8 Ranoniften de Angelis und des Cardinals 
Franzelin über bie Auctorität boctvineller Congregations⸗ 
entideibungen, Formulare von püpftliden Entſcheidungen 
über Lehren und Bücher, Formulare von Congregationgs 
entſcheidungen und der Brief des Cardinals Bellarmin 
an Foscarini. Die Schrift [εἰ ben Lefern der Du.-Schrift 


aufs befte empfohlen. 
Sunt. 


3 


1. Die Geſchichte der Heiligen Schriften bes Alten Teflaments 
entworfen von Ednard Weup. Braunſchweig, ©. U. 
Schweticfe und Sohn. 1881. XII umb 744 ©. 

2. Einleitung in bie heilige Schrift Alten und Renen Tees 
ments von Dr. Franz Ranlen. Mit Approbation des 
Bodo. Gap. Vic. Freiburg. Zweite Hälfte, erfte 
Abtheilung. Beſondere Einleitung in das Alte 


Geſchichte der 5. Schriften beb 9L. T. 489 


Teftament. Freiburg i. Br. Herder’fche Verlagshandlung. 
1881. (TheologifcheBibliotHet XX.) 217 &. (©. 158—870 
de3 nunmehr für das A. Teft. vollendeten Buches). 
Es fol hier von zwei Hilfsmitteln zum Verftänd- 
niß des alten Teftaments die Rebe fein, melde aus 
zwei diametral ſchroff contraftivenden Lagern ftammen 
und, jedes in feiner Weife, einen im Grund [don lange 
ber unausgleihbaren Zwieſpalt wiſſenſchaftlicher Anz 
ſchauungen über ben alten Bund, feinen Urfprung, feine 
Geſchichte und Fanonifche Literatur zur Darftellung bringen. 
Auh dem Umfange mad) febr verſchieden, find nichts— 
deſtoweniger beide batauf angelegt, mit bem rebliden 
Aufgebot reicher wiſſenſchaftlicher Kräfte und Mittel, 
bie im Dienfte eines methodiſchen Vorſchreitens ftehen, 
ihren fo verjdjieben genommenen Gtanbpuntten gerecht 
zu werden, beziehungsweife diefelben im Fortgang ber 
Unterſuchungen je als allein berechtigt und wahr zu er= 
weiſen. Aus dem erftern gewinnt man bem faft be- 
ängftigenden Ginbrud, daß bie Forfhungen über bie 
Hauptſchriften des alten Bundes, melde die geſchichtliche 
Stuffaffung deffelben weſentlich bedingen, burdjaus neu 
angegriffen und durchgeführt werben follen, und an 
Stelle be8 für den Abbruch beftimmten mehr als zivei: 
taufendjährigen Geſchichtsbaues neuen Grundriß und 
Aufbau der Gefhichte Israels bis ins vierte vorchriſt⸗ 
liche Jahrhundert in Ausficht nehmen; die andere Schrift 
geht darauf aus, bie herfömmliche 9Inidjauung der Syn« 
agoge und Kirche vom Urfprung, Alter und ber Bes 
deutung jener Grundſchriften aufrecht zu erhalten, meu 
zu begründen und zu befeftigen. Eine fünftige Seit — 
denn der Kampf Dat erft mieber aufs ernfthaftefte be 


490 Reuf, 


gonnen und felt fij gegenüber frühern vermittelnden 
Anfihten, bie mod) Vieles vom Alten beftehen ließen, 
als ein grumbftürzender bar — eine fpütere Seit mag 
berausftellen, ob nit Angriff und Abwehr übers Ziel 
gehen, unb die Qauptíade gerettet werben kann, ohne 
daß aud) jämmtliche Nebendinge mit in Kauf genommen, 
vielmehr aufrecht erhalten werden müffem. So meinten 
εὖ wenigftens (don vor zweihundert Jahren bahnbrechende 
Kritiker, wie Richard Simon, und e8 ift ſehr die Frage, 
ob man nicht weiter gekommen und in gefidetterem 
Beſitz verblieben wäre, wenn man auf ber neuen Bahn 
langfam fortgejdritten wäre und ben Gegenftoß wicht 
jo heftig geführt hätte, daß fait nothwendig neue Stöße 
erfolgten. ALS deren entichlofienfter Urheber und Leiter 
tritt neben Wellhaufen (Geſchichte Israels) ber hochbe: 
jahrte Straßburger Theologe, H. Neuß, in feinem Buche 
auf, trat vielmehr [don Lange vor jenem, wenn aud) nor 
engerm Kreis, für bie exft burd) Wellhaufen ſchärfer aus: 
geprägten Unfichten ein. Denn die SBorrebe theilt mit, 
daß bie Idee zum Buche und die Anlage befielben iu 
beu Aufang ber dreißiger Jahre fiel, und ber Entwurf 
zum erftenmal im GCommerjemefter 1834 Gegenftand 
einer SBorlejung mar. Die radikale Neuheit der €ut- 
bedungen, hexen größern Theil Manche mohl damals 
(mie jegt) Erfindungen nennen mochten, bie auch von 
ben damaligen Geleifen ber fritijdem Behandlung des 
altes Teftamentes fid) ziemlid; abjeit8 bewegten, bewog 
Reuß zurüdzuhalten und fein Syſtem weiter auszubauen, 
das aber hald durch einzelne Schüler, τοῖς Graf und 
Kayſer, theilweiſe ſchon zur Deffeutfid)teit gebracht wurde. 
Nunmehr erſcheint die Arbeit, an welcher als großem 


Geſchichte der 5. Schriften des 9L. T. 491 


Ganzen ba& nonum prematur fünf, ja faft ſechsmal 
beobachtet worben ift, als Haupterträgniß eines langen, 
ber Wiſſenſchaft gemibmeten Lebens unb muß [don des 
halb, nod) mehr aber in Verbindung mit der Wichtigkeit 
ber behandelten Gegenftände alle Beadjtung beanspruchen. 
Bon eingehender Erwägung be8 überaus reichen Ins 
haltes, ber hundert Jahre und mehr der bibliſchen fitit 
alten Bundes concentrirt und in der originalen Durch⸗ 
und Umarbeitung be8 Verfaſſers wiederfpiegelt, Tann 
hier natürfich feine Rede fein, aber ein ſichtender Ueber⸗ 
blick über den dichten Wald, bet bod) einzelne markirte 
Haltpuntte bietet, kann erwartet unb foll geliefert werden. 
Entſchieden anfprehend find Form und Methode bet 
Soarftellung. Wir erhalten mad) der furgen, über ben 
Gegenftand, Umfang und Elemente, Quellen und Chro= 
nologie und Anderes allgemeinerer Art  orientirenben 
Einleitung in vier Büchern bie concife Schilderung ber 
Zeit der Helden, ausgehend von den Semiten unb fe: 
mitiſcher Eultur, der Seit ber Propheten, beginnend mit 
Davids Königthum, der Periode der Priefter, deren 
Herrichaftsbeginn von ber Zerftörung Jeruſalems duch 
die Chaldäer batirt wird, und ber Zeit ber Schriftge: 
lehrten, welde von ben Makkabäerkämpfen bis zum 
völligen Niedergang Israels unter den Römern und 
ber Zerſtörung Jerufalems durch biefelben erſtreckt ift. 
Die Geſchichtsdarſtellung theilt fid) in (600) Paragraphen, 
unter denen in kleinerer Schrift je bie Hauptgedanken 
berjelben meiter geführt, bie nach Auficht des Berf. ü& 
bet eben batgeftellten Zeit entftanbenen kanoniſchen Schrift⸗ 
beſtandtheile angegeben, gevgliebert und ber Kritik untere 
ſtellt werben, ſowie eine außerordentlich reiche Literatur 


492 Reuß, 


über bie betr. Schriftſtücke mit großer Umſicht mitge- 
teilt ift. Finden toit bie unter ziemlichen Schwierig: 
teiten gewandt gehandhabte Methode entjdjieben an- 
Tpredjenb und die gefchichtliche Darftellung geiftool, (nit 
felten aud) ſchillernd,) einbringenb, den Stoff oft meifter- 
haft beherrſchend, jo mißfält um fo mehr unb faft 
durchgängig bie fehonungslofe Kritif, deren Schärfe 
burd) die urbanften und oft zarteften Formen, mit wel: 
Gen bie Dinge angefaßt werben, faum gemilbert wird. 

Der SBentateud) zerfällt nad feiner allmählichen 
Entftehung in die verfchiedenartigften SBeftanbtpeile, deren 
Niederfchreibung im 9. Jahrhundert beginnt und erft 
im vierten zum Abſchluß kommt. Mofes zwar wird 
Dod) geftellt, und „jedenfalls haben wir una fein Wirken 
als das eines Propheten zu benfen, eines Mannes 
der in ber Kraft be8 göttlichen Geiftes, bie in ihm mar 
und aus ihm ſprach, und als folder anerkannt, in le: 
benbigem Verkehr mit den Volksgenoſſen ftanb, mie und 
too fein Wort fie erreichen fonnte", aber Gefchriebenes 
meinte Verf. nicht von ihm herleiten zu können. Nicht 
vor Joſaphat, defien gefeßgeberiihe Thätigkeit Hitzig 
im Leviticus, wie die Hisfias in Num. findet, wäre ber 
ältefte Beftandtheil Iegislativen Inhalts im Pent., das 
Bundesbuh Er. 21, 1—23, 19 und zwar als Landredit 
jenes Königs gefchrieben. Das Buch der b. Geſchichte, vom 
Syeboviften, egt Verf. in der zweiten Hälfte des 9. Jahrh. 
an amd betrachtet e8 als urſprünglich jelbftändiges 
Werk, das bie alten Sagen von den Urfprüngen Jsraels, 
den Erzoätern, der ägpptiichen Knechtſchaft, dem Wüften- 
zuge fammelte und verknüpfte, „die denjelben eigue 
Voefie wohl eher nod) verſchönernd als verwiſchend“. 





Geſchichte ber 5. Schriften des A. T. 493 


Der ſ. 6. zweite Elohift ftäde ſchon fragmentari]d) im 
Jehoviſten, wäre fomit im Grund ber erfte und er allein 
älter al8 ber Jehoviſt, welcher dann aber burd Auf- 
nahme jener Ctüde, bie ben feinigen oft ganz heterogen 
fein follen, ziemlich räthfelhaft gearbeitet hätte. Daher 
babe wohl (Θ. 253) ein Dritter die Beiden vereinigt. 
Ließ er jebod) flarke Tertvivergenzen fteben, jo hat er 
nicht glüdlid) gearbeitet. Deut. 88, von Knobel nod) 
in Sauls Zeit, von X. ins Exil verlegt, ift ebenfalls 
in diefe Beit gezogen. Won Gen. 1—11 weiß 9t. kaum 
andereö zu fagen al3 dis. membra poetae und findet 
im Fluthbericht drei Autoren. Die „pſychologiſch⸗ethiſche 
Mythe“ des Sündenfals märe (S. 257) burd) Miß- 
verftehn des Jehoviſten, der fie, unb mit ibm bie drift: 
liche Theologie, faljd) als Bericht über eine einmal ges 
ſchehene Thatfahe anfah, an ihre Stelle gefommen, und 
toil e8 V. andern überlaffen, „ſich feruerbim an ber 
Schale ber ihnen verbotenen Frucht bie Zähne augu. 
beißen". Die Patriarchenfagen „ſchweben in der Luft”, 
bie Perfonen find mptbijd und alles ift hier durchaus 
mißverflanden worden. Das Lied Mofis, von Emald 
mod) in bie Zeit Salamo’3 verfezt, wird ber legten. Zeit 
be8 Storbreidj8 zugewieſen. Das Deuteronom, abgejehn 
von feiner nod) fpätern Einrahmung, ift der „angebliche 
Fund der Priefter” im Tempel 2 fün. 22 f., eine Art 
Angelpunft der Pentateuchkritik. Von dieſer Anſicht 
war man ziemlich zurüdgefommen und betrachtete. eher 
den Fund als eine Sammlung moſaiſcher Gefepe, bie 
in ben brei mittlern Büchern enthalten ſei. Der Chronift 
wiederholt aber nicht blos einfach den primären Bericht 
bes Königsbuchs (S. 352), fondern ergänzt ihn mehr: 


49 Ses, 


fad, unb ſchon an Hof. 8, 12 findet bie ©. 353 aus- 
geſprochene Anfiht, daß in der Altern Literatur nie auf 
geſchriebene Gefege angefpielt werde, eine gefährliche 
Klippe. Das Königsgefeh in Deut. 17 wird fpäterer 
Zuſatz fein, aber ſowohl e8 wie bie Kriegögefege weiſen 
wm fo mehr in eine weit ältere Zeit, wenn (6. 361) 
von einer praktifchen Anwendung derjelben in den wenigen 
Jahren, wo fie überhaupt noch benfbat war, wohl nicht 
bie Rebe getoejen ift. Und das Konigsgeſetz ift ſchwerlich 
am Anfang vom Ende des Königthums gegeben morben. 
In der almählihen Compofition des Herateuchs folgt 
38. Joſua, eine Fortfegung des Jehoviſten; das Geo— 
graphiſche und ſpecifiſch Religiöfe im Buch ift fpüter 
eingefezt, und ετῇ der Bearbeiter be8 Deut. hat 
Joſua feine mejentlide Geftalt gegeben, mad) Ezechiel, 
aber noch vor Era. Elohiſtiſches fam baum wod) fpäter 
hinein, Bom heißumſtrittenen Gejegcompler Lev. 17—26 
vernimmt man ©. 452, daß berjelbe zwiſchen ber mad 
eril. Reſtauration und Esra gefchrieben fein toerbe, ein 
Analogon zum Deut. und Bundesbuch, mit Ezechiel 
vielfach fiimmend, weshalb man biejen als Verfofler au- 
fab. Aber aud) jener Abſchnitt Dat nicht mehr feine 
Urgeftalt, da einzelnes mod) Spätere fid) „unerklärlicher 
Weiſe“ bierherverirrt hat. Iſt ber ziemlich abgeriffene 
Abſchnitt fpäter, was Stef. eine offene Frage fein läßt, 
jo muß man über feinen Urfprung usd feine Einfügung 
fid) beſcheiden. Auch daß Maleachi zuerft von einem 
Behnten ſpricht, den man, den Leviten ſchuldet, beweift 
nicht ohne Weiteres, daß dies bamal8 eine mod) neue 
Einriptung war, €. 452, eher eine erneuerte. Man 
nähert fij nun mehr der gegenwärtigen GeRalt bes 


Geſchichte ber 9. Schriften bes U. T. 495 


Pent. Esra (€. 461) hat den Vrieftercoder, ben früher 
ſ. g. erften Elohiften, (von dem e8 aber in ber mobern= 
ften Phafe ber Kritik heißt: bie erften werben bie [egtem) 
weder mitgebracht, noch felbit alsbald geſchrieben; bod) 
bezeichnet feine Wirkſamkeit immerhin einen wichtigen 
Wendepunkt. Gegenüber frühern Pofaunenftößen über 
ihn als ben fidern Vollender wo nicht Schöpfer des 
Bent. beſcheidet fid) Verf. €. 462 zu ber Erklärung, 
daß nicht jo leicht zu lagen fei, was e8 mit ber Geſetzes⸗ 
arbeit des Cra für ein Bewandtniß habe. Doc werde 
das Θεῖεθ, auf welches ba8 Volk 444 von feinen beiden 
Reformatoren in feierlider Tagfagung vereibigt wurde, 
(zwar nicht unfer Pent., fondern) ein felbftändiges Werk 
geweſen fein, in meldem „die neuen Eultgefege, bie 
von mun an maßgebende jübijde Kirchenordnung in 
einem mäßigen Diftorijdjen Rahmen nicht ganz unmethos 
diſch zufammengeftelt waren“. Dabei erieint er durch⸗ 
aus nicht überall als Verf., fondern ſtark als Sammler 
einer Schrift, bie erſt wieder fpäter mit der frühern 
Mafje in Gonner gebracht wurde. Gara gehört fo im 
Ganzen bie mittlere Gefeggebung und »Sammlung (aber 
Leo. 1—7 zeigen fid) wieder verſchiedene Scheidungen) 
mit einem Inappen geſchichtlichen Rahmen, ber. mit Gen. 
1—4 beginnt. In dem Hiftorifhen ijt Esra's Buch 
mit dem jehov. Beftand ſtark gemischt und findet Doppel- 
gängerei ftatt; dagegen Esra's Hand ausſchließlich in 
Lev., meift in Num. und nod) Ende des Deut. und in 
Syof. zu finden in weiterer Sdealifirung und Webermalung 
der alten Geſchichte. Nach 8 383 ift bie redaktionelle 
Einrahmung des Deut. nicht vom Verf. defjelben, fon- 
dern zwifchen der erften Deportation unb der gerftórung 


496 Reuf, 


Syerujalem8 geſchrieben. Aber aud) fie hat wieder Inter 
polationen, jehoviſtiſche und elohiſtiſche. S. 474 meift 
dann nod) Nachesraiſches auf, da die legi8latorijdje und 
cobificirenbe Arbeit immer nod) fortgieng, und mit €. 476 
fteben wir am Schluß, ber legten 9tebaftion des Pent., 
die „nicht mit allzugroßem Θε ἃ und namentlich mit 
geringem hiſtoriſchem Sinn“ bewirkt wurde. Allerdings, 
wenn es babei fo zugieng, mie wir belehrt wurden. 
Stef. verfennt nicht, daß in ber ganzen Darftellung diefer 
Tritifden Operationen febr viel Anregendes, mancher An: 
ftoB zu neuer Forſchung für Gleidgefinnte und Gegner 
fid findet und betrachtet aud) felbft Manches im Spent. 
als fpülern Urfprungs bis auf Esra herab; aber das 
Meifte erſcheint ihm bod) als Produkt unbedingter Zweifel⸗ 
fudt, nichts weniger al8 vorausfegungslofer Wunder: 
flucht unb Gonftruftion nach ſelbſtgemachten Niffen und 
Plänen. Er anerkennt bier mie im Uebrigen mit ver: 
bientem Lob die außerordentliche Gelehrſamkeit, den 
Spürfinn in Schaffung (meniger in Löfung) von Pro: 
blemen, bie feine Sauberkeit in Führung ber Unter: 
fudungen und die fühne Wahrheitsliebe, tro diver— 
girender Grundanfhauungen. Mein das Ganze gibt 
wenig Löfung, eher eine Mehrung der ohnehin ſchon fo 
zahlreichen Räthſel auf bem Feld altteftamentliher Ge: 
ſchichte, Alterthümer und Literatur. Die Arbeit ber 
Kritik beginnt wieder einmal aufs neue am Grundbud 
für bie alte Synagoge und bie Kirche. Bis jegt war 
e3 größern Theild eine mehr als hundertjährige €i 
fophusarbeit in Anfehung der legten Gründe und Ziele 
des" Buchs und damit be8 ganzen alten Bundes. Doch 
ift damit eine enblide Klärung in diefen entſcheidungs⸗ 


Geſchichte ber 9. Schriften be A. T. 497 


vollen Dingen nicht ausgeſchloſſen, fondern vom unber- 
droffener ehrlicher Forſchung immerhin zu erhoffen, πα- 
menti, wenn auf ber einen Seite, mehr ſelbſtwillige 
Beſchränkung auf das ſchlechthin Wiffensmögliche, auf 
der andern Minderung der Beſchränktheit einträte, die 
auch für unhaltbar Gewordenes zu immer größerer Dis⸗ 
crebitirung ihrer felbft und ber Sache, bie befier ift als 
fie und ihre Vertheidigung berfelben, ihre binfälligen 
Argumente toieberfüut. Denn: intra peccatur et extra 
muß jeber Vorurtheilslofe jagen. Die Gegenftöße über- 
hießen auf beiden Seiten nicht felten weit das Ziel, 
und es braudt immer lange, bis wieder einige An- 
nüferung bergeftelt ift. Ein mebrere8 aber fann man 
nicht verlangen, außer man mollte auf Löfung ber 
Quadratur des Kreiſes es abfehen. 

Ein ferneres Eingehen auf die Unterſuchungen über 
die andern altteftamentlichen Bücher, ba8 ἰῷ beabfichtigt 
fatte, verfage ἰῷ mit, um den Raum bier nicht zu 
ſtark für Anderes zu verengern. Die durchdachten Mit 
theilungen be8 Neftors in feiner Wiſſenſchaft find aud 
bier fehr erwägungswerth, gehen aber durchweg eben⸗ 
falls auf fpätere, zum Theil febr junge Abfafjungszeit, 
z. 98. ber meiften Pfalmen, der Bücher Samuels, nur 
ausnahmaweife wie für Joel gegen beffen mehrfach ver- 
ſuchte Herabrüdung in die nacheriliſche Zeit. Letztere Frage 
ift nicht ohne, aber bod) nicht von ſehr großer Bedeutung, 
und ἰῷ faun fier ganz gut in völliger Uebereinftimmung 
mit den Worten des verehrten Q. Verf. ließen: „Die 
ſchwierige Löfung berje[bem Dat den angeblidj bisher 
nod) unerflärten Joel zum Schmerzenskind ber Eregefe 
gemadt. Wollte Gott die Theologen hätten nur biejca, 


498 KRaulen, 


und nit fo viele andere ſchwerer zu curivende in bie 
Welt geſetzt!“ — 

Die Einleizung in bie heilige Schrift Alten Tefta- 
ment3 von Dr. ὅτ. Kaulen ift mit vorliegendem befonde: 
rem Theile nun abgeſchloſſen. Das für den mod) aus: 
ftebenben Schluß (befondere Ein!. in bie Neuteft. Bücher) 
vorbehaltene Regifter wäre für bie altteftam. Bücher 
wohl ſchon hier wünſchenswerth geweſen. Auf den erften 
Abſchnitt der Bücher geſchichtlichen Inhaltes folgen bie 
Lehrbücher, bie prophetiſchen Bücher; die ſ. g. beuteto- 
kanoniſchen find in chronologiſcher Reihenfolge, womit die 
fachliche Ordnung verbunden ift, unter den jeweiligen 
der genannten drei Abfchnitte geftellt. Verf. ſchließt fid) 
in Bezug auf Alter, Integrität, Verfaſſer der kanoniſchen 
Bücher durchgängig, bod) nicht ausnahmslos an bie 
Tradition der Synagoge, beziehungsmeife der Kirche an, 
ftebt aber für diefelbe mit umfaffenber Erudition, Um: 
fidt und (quoad ejus fieri potest) unbefangenem, freiem 
Blide eim. Beim Pentateuh (€. 156—171) find bie 
berfömmlihen Beweiſe für Einheit unb Aechtheit forg: 
fältig dargelegt, zum Theil ergänzt und erweitert, DaB, 
mit Ausnahme des Schluffes am Deuter., fid) im Bent. 
nichts findet, was nothwendig auf fpätere al8 mo: 
ſaiſche Zeit hinwieſe (€. 164), mag zur Noth annoch 
gelten, aber Gloſſen und aud) größere fpätere Abfchnitte 
find bod) für eine unbefangene Auffafjung mander Stel: 
len namentlich der Genefi8 im höchſten Grab wahrſchein⸗ 
lid gemadjt. Den apologetifhen JIntereſſen bleibt nod) 
ein weiter Spielraum, wenn aud) jenes zugeftanden und 
bie Abfaffung be8 Ganzen etwas weiter berabgerüdt 
werden müßte. Daß aud) die Annahme von Umarbei: 


Einleitung in bie y. Schrift beB 9. u. N. T. 49 


tungen kanoniſcher Bücher für jene Intereſſen ohne 
Gefahr ift, dafür darf man den H. Verf. ſelbſt in 
Anſpruch nehmen, mad) weldem (&. 176) zwar Joſua 
felbft ein nach ihm genanntes Buch gefchrieben hat, aber 
dafielbe in feinem jegigen Umfang von anbrer Hand 
bald nad) feinem Tod erweitert unb neugeftaltet worden 
if. In weit höherem Grab dürften wir dann ähnliche 
Dperationen wohl beim Pentateuch vorausfegen, ber 
weitaus fein jo innerlich in all feinen Theilen zuſam⸗ 
menhängendes und gefchloffenes Buch ift. Zuſätze findet 
Verf. felbft aud) im Büchlein Ruth (€. 186). Die Ver- 
ſchiedenheit ber Ausführung in den BB. Samuels Tann 
in bem Quellenfohriften begründet fein (€. 190), Tann 
aber aud) umgelehrt daher fommen, daß der Verf. ber: 
felben nicht fclapifd) compilirt, fondern fe[bftánbig gear- 
beitet habe. Daß Jeremia die BB. der Könige gejchrieben 
(S. 197 f.), bat bod) bas febr hohe Alter gegen fid), 
in bem et ben Schluß berfelben gejdyrieben Haben müßte. 
Indeß fünute biejer fpüterer gujag fein; aber ber Pro: 
pbet bat wohl ganz fider in Aegypten unter auftei: 
benden Kämpfen gelebt und bald geendet. Daß fein 
Buch vom fragl. Verf. in Babylonien eifrig gelefen und für 
feine Geſchichte namentlich für bie legtem Seiten des 
Reichs, wo Jeremia im Vordergrund fand, benügt wurde, 
ift gar nit anders denkbar. Daraus ergäbe fid bet 
wiederholte Anflug an ben Propheten. Und auf 
Aegypten ift fein Schatten von einem Hinweis, bafüt 
mander auf Babylonien, wohin eine fpätere Trabition 
den Propheten nod) kommen fief, um ihn als Verf. der 
BB. minder unwahrſcheinlich zu machen. Esra und 
Nehemia werden €. 207 wohl nicht mit Recht als ut: 


500 Raulen, 


fprünglid ein Buch betrachtet, unb Nehemia wird unter 
Artarerres II angefegt, aber in den Angaben des Syo- 
ſephus über Saneballat möchte eher eim chronologiſcher 
Verſtoß liegen, und Nehemia mit Cera unter Artar. I 
hinauf gehören. Auch daß Esra bie beiden Bücher ge- 
ſchrieben, hat weder innere mod) äußere Stütze. Man 
dürfte ebenfalls bezweifeln, daß David fidjer nod) mehrere 
Pialmen außer den 73, die ihm ausdrücklich zugeſchrie— 
ben find, verfaßt habe (©. 261). Eher möchte umge- 
kehrt an fid) die Tradition ihm zu viel als zu mwenig 
bierin gugefdriebem haben. Den anonymen Pſalmen 
muß jede Tradition begüglid) ber Verfaſſer gemangelt 
baben. Daß e8 aber überhaupt folde im Pialmbuch 
gibt, fpricht aud) wieder für bie Gewiſſenhaftigkeit der 
Sammler, denen ja, gerade in Sinn und Meinung der 
Traditonsveräßter, nahe genug lag, denfelben Davids 
Namen überzufreiben, fowie für die Richtigkeit ihrer 
Angaben begüglid) ber Verfafler, aljo gegen das leicht- 
fertige, nicht felten frivole Belieben, die Pfalmen en 
masse in bie Maffabäerzeit und uod) tiefer berabzurüden, 
infonderheit bie Davidiſchen, weil man fid) einmal ba- 
rauf entetirt hat, daß David, ber Urahn des Heilandes, 
bloß ein wilder Blutmenfh, dem fein Arm fein Gott 
war, ber Gebet und Gottvertrauen verſchmähte und 
nichts von brennender Herzensangft und niederſchlagender 
Seelenqual in fid) erfuhr, geweſen fein fónme. Daß dieſes 
Bild eine Eintragung aus unferem abgeblaßten Aller 
weltsculturzeitalter fei, bem Gott, Teufel und Gewiſſen 
abhanden gekommen, dafür mill man Fein Verſtändniß 
haben, um befjen Folgerungen für die Kritik abzuwehren. 
(€. 262 ijt nicht tehillim, fondern tefillt a. D. zu 


Einleitung in bie 5. Schrift be8 9L. u. N. T. 501 


leen). — Bezüglich des Spruchbuches ift €. 269 aus 
25, 1: aud) biefes find Sprüde Salomo's u. f. w., 
ju viel geld)lofjen, wenn ber Ausdruck Gewißheit geben 
fel, daß bie vier voranftehenden Theile (1—24, 22) 
ſchon um 300 a. €. als von Calomo herrührend be 
itadjtet wurden. Ob ber erfte größere Theil fo tie er 
lautet, von Salomo fei, muß, auf Form und Inhalt 
gefehen, nod) unausgemadt gelten. Die große Ordnungs⸗ 
lofigfeit im Buch ließ e8 gar vielerlei Beftandtheile in 
fid) aufnehmen. — Bezüglich des Predigers ift wahr, 
daß bie Einwürfe, melde aus dem Inhalt des Buches 
gegen feine Abfafjung durch Salomo erhoben werben, 
leicht zu widerlegen find, denn bie Fiktion des Berf. 
gibt fid) Feine [olde offenbaren Blößen, wie mande 
Kritiker meinen; aber wenn aud) ba8 Gros des Inhaltes 
und der morofe Ton fammt ber gejdjilberten Volksſtim⸗ 
mung mehr ober weniger auf jede Zeit pafien mag, jo 
premiren wir ba8 weniger bod) ganz bejonber8 für 
bie Salomonifche Zeit und Salomo felbft, und es dürfte 
©. 227 oben ber Schlußfag wohl bahin ergänzt werden, 
daß aus dem Inhalt des Buches nichts Entjheiden- 
des gegen die traditionelle Anfiht vom Verfaffer δεῖς 
Telben gefolgert werden kann. Dagegen bietet bie Sprach⸗ 
form bes Buches fo große Schwierigkeiten, baf mad) 
unbefangener wiederholter Würdigung aller in Betracht 
Íommenber Momente man nicht umhin fónnen wird, 
das Buch in naheriliihe Zeit zu verfegen, nach Nehe 
mia, wozu H. Verf. auch felbft geneigt if. — Soll 
das $jobelicb von Galomo fein ober bod) aus Salomos 
mijdet Zeit, wogegen man nicht leicht etwas wird an= 
haben können, jo ſcheinen mir bie gegen eine rein alle: 
Weol. Ouartalfift. 1888. Het Il — 33 


502 Raulen, 


goriſche und fir typiſch⸗ſymboliſche Bedeutung des Liebes 
Tpredjenben Gründe zu wenig gemürbigt zu fein. Wohl 
keine Schrift hat wie diefe ihre Gedichte der Auslegung. 
Daß Synagoge und Kirche bie bekannte Deutung zu ihrem 
Eigenthum gemadjt und erflärt haben, war wohlgethau 
und ein großes Glüd für das Lied ſelbſt, mas am 
beften bie in legten Jahrhunderten demfelben extra eecl. 
wiberfahrenen neuen Mifhandlungen bezeugen. ber 
nichtödeftoweniger ijt ein SBerbenbe und Gewordenes 
in feinem Urfprung nicht felten etwas Anderes, al8 
was im Berlauf ber Umbildungen der Ideen die fpätere 
Zeit daraus gemadt Dat. Nur fon urfprünglih zu 
Grund gelegt muß diefes Spätere im Alten fein, jo daß 
bie feimartige Anlage ber fpätern Auffaflung offen zu 
Tag liegt. Eine von allem biftorifhen Untergrund ge 
löfte, rein bloß in bebeutungslofe geſchichtliche Form 
und Phraſe gelíeibete Allegorie längerer Ausdehnung 
ἐξ aud) fonft dem bibliſchen Gebiete fremd, wo fie nidt 
als jolde ausbrüdlid bezeichnet wird (Hiob, Jona): 
non res ipsas gestas finxerunt poetae, quod si facerent, 
essent vanissimi, sed rebus gestis addiderunt quendam 
colorem. Die Bilder von Brautihaft, Vermählung, 
Ehe und deren Reverſe kommen freilich unzählige Male 
im 4. wie N. Teftament, aber fie beweiſen nicht für 
eine ganze dramatifirte Geſchichte diefes Inhaltes, in 
welcher id) den Amminadab weder mit Vertretern der 
buchftäblihen Deutung für ben Hofkutſcher Salomo’s, 
mod) mit jolden ber allegorijdem für den leibhaftigen 
Teufel, ber einen Monolog hält, erklären, ſondern 
(mit H. 8.) für einen Verführer halten möchte. Das 
€. 278 in der Mitte Bemerkte halte ἰῷ daher für 


Einleitung in bie h. Schrift des 9, u. X. % 608 


Eintragung in bie urfprünglide Gonceptiom be8 Liedes, 
in welder Salomo, aber eben der leibpaftige, ber 
wußte was Liebe ift, fid jelbft in einen Typus ber 
zuchtigen irdiſchen und fchon annäherungsweiſe zulezt 
bet höchſten göttlichen Liebe umzubilden durch ben Geift 
von oben angeleitet wird. Für einen König in’ ber 
Reihenfolge der Ahnen be8 Meſſias, in beffem Leben 
nun einmal bie gemein finnlihe Liebe eine fo höchſt 

* bebeutenbe, verhängnißnolle Rolle gefpielt hat, erſcheint e8 
mir ſchlechterdings unmöglich, daß er ein folches Lied der 
himmlischen Liebe gebichtet, wenn man nidt zum aller- 
engften Begriff der Infpiration zurückfällt und ihn für 
eine bloße fistula Sp. S. erklärt. Man hüte fij, das 
Erhabenfte dem Lächerlichen anzunähern und loffe in 
Gottes Namen dem König aud) im Hohenlied bod) nod) 
eine glüdlihe Reminiscenz von feiner freilich allzugefunden 
Sinnlichkeit (das „glücklich“ im Sinn ber felix culpa 
des h. Auguſtinus genommen). 

Die gemachten unmafgeblidjen Bemerkungen, bei 
denen es fein Bewenden haben muß, mögen zeigen, wel⸗ 
ches lebhafte Intereſſe Ref. die Einleitung des H. Ver⸗ 
fafjers eingeflößt hat. Das Buch, ein Refultat gründli— 
jen, redlichen Forſcherfleißes, mit umfichtiger Verwertung 
ber in moderner Beit zum Theil fo bedeutend gewordenen 
Hilfswiſſenſchaften ausgearbeitet, verdient volle Aner⸗ 
lenmung. Scheint e8 bem Ref. aud ba und bort in 
apologetiſchem Intereſſe mehr als motfmenbig, wohl 
aud) als möglich ἐξ, zu bemweifen, was namentli von 
den ftet3 wiederkehrenden und ben Leſer ermüdenden 
Stellen über die fanonijdje Autorität und ben Inſpira⸗ 
tionscharacter jedes Buches gilt, jo mag bieB zum Theil 

88" 


504 Knabenbauer, 


in der Natur von mancherlei bier concurrirenden Ver- 

hältniſſen liegen. Der entjdiebene Werth des fehr emv 

pfehlenswerthen Buches wird Dadurch nicht beeinträchtigt. 
Himpel. 


4. 

Erklärung des Propheten Maias. Von Joſeph Ruabeubauer, 
Prieſter der Geſellſchaft Jefu. Mit Approbation u. j. v. 
Freiburg im Breisgau. Herder'ſche Verlagshandlung. 
1881. IX und 718 ©. 


Eine neue eingehende Behandlung des großen Pro: 
phetenbuches, bie eim guter Wurf genannt zu werben 
verdient. Ein Vorzug des Gomumentar8, den wir als 
eine Revindifation alten meift vergefjenem Verdienftes 
betrachten, liegt im ber fleiBigen und gemifienhaften 
Beiziehung und Benützung ber beften Gommentare von 
ben älteren Theologen des 16.—18ten Jahrhunderts, 
qud) mod) früherer. 

Wie gewöhnlich, hat man aud) bier nicht allein 
das Bad ausgefhüttet. Die grammatiſch⸗kritiſche und 
biftorifche Methode, für eine Menge von Einzelheiten 
durchaus nüglid und unentbehrlich geworden, hat nad 
und nad) jo ausſchließlich das Terrain der Auslegung 
eingenommen, baf e8 genügt, befiere ältere, namentlich 
katholiſche Ausleger nur zu nennen, um fie aud) [dou 
befeitigt zu fehen. Die ältere Schwefter ift völlig außer 


Poſſeß gefommen, bietet aber, wie der genannte Com: . 


mentar aufs neue zeigt, immer mod) febr viel Gutes 
and Solides nicht bloß für erbaulidje Zwecke, ſondern 


Erklärung des Propheten Iſaias. 505 


ebenfo für Erörterung be8 Zufammenhangs und tieferes 
Eingehen auf den Gebanfengebalt des Propheten. Diefe 
Commentare ftanden auf ber Höhe ihrer Zeit und be: 
Tunben für ihre Verfafler und wohl aud) einen guten 
Theil ihrer bod) meift geiftlihen Lefer eine Vertrautheit 
mit bem alten Teftament unb bem ſchwierigen Prophes 
tismus defjelben, bie zum mindeften fo groß aber ungleid) 
mehr fegenftiftend war, al8 die SBertrautfeit bet gegen- 
wärtigen flerifalen Welt mit der kirchlich⸗ und unkirchlich 
politifchen Zeitunggliteratur der Gegenwart. Verf. hat 
fid aud, was nur ganz lobenswerth ift, in den beften 
proteftantifhen Commentaren der Neuzeit umgefehn und 
zeigt tüchtige, aber wie e8 [dint auf femitiihem Gebiet 
zunächſt bloß oder mit Vorzug hebräiſche Sprachkenntniſſe. 
Der Tert wird mad) der Vulgata überfezt, und in den 
Erklärungen bie Abweichungen ber legterm vom Qebrüi- 
ſchen gewiſſenhaft angegeben. 

Hier finden wir an bem für Cruimug des oft fo 
ſchwierigen genauern Bufammenhangs, Erklärung des 
hiſtoriſchen Sinnes wie ethiſchen und religiöfen Gebanfen- 
gebalte8 tüchtigen, oft erjdjópfenben, dann und wann 
auch etwas diffus werdenden Gommentar, eine ſchwache 
Seite, mit ber wir nicht zurüdhalten dürfen. In ben 
SRündner gelben Blättern wurde die Bevorzugung ber 
Qulgata vor bem Driginaltert in Weberjegung und Er— 
klärung als ein Vorzug aud) be8 Gommentat8 erflärt 
und mit der Behauptung motivirt, baf bie SBulgata 
fer häufig (mo midt häufiger als das Hebräiſche) 
- ben richtigen Tert biete. Ich [affe mid) nicht leicht in 
Hochachtung des Meiſterwerks ber alten Kirche, ber fa: 
teinijden Ueberfegung des alten Teflamentes überbieten, 


506 Anabenbauer, 


darf aber gerade deshalb jenes Urtheil für unabfidt: 
lid) ober bewußt irre führend erflüren. Ich habe mir 
Hauptabweihungen des Lateinifhen vom Urtert aus 
ben erften dreißig und einigen meitern Kapiteln ange 
merkt, wo ganz ohne alle Frage das Hebräifhe in ber 
Vorhand ift ober allein bem guten, tert: und contert- 
gemäßen Sinn gibt; ihre Zahl ift überaus groß: bie 
Stellen, to ba8 Lateinifhe einen eben [o guten oder 
gar befiern Sinn gibt, mag man fuchen, aber wo finden? 
Ich babe hierin ficher den H. Verf. felbft mehr auf 
meiner als auf der entgegengefegten Seite. Daher gebe 
id) meinem Bedauern Ausdrud, da bie Ueberfegung 
nit unmittelbar aus bem Qebrüijdem geliefert worden, 
fondern fBudjftabe und Sinn des legterem erft nadge- 
tragen iji. Was wäre naturgemäßer für Titerarifche 
Arbeiten, als hier bem 5. Hieronymus felbft zu folgen? 
Wo ift weniger ein vestigia terrent zu beadjten und 
zu befürchten, nachdem ber Kirchenvater gerade auf 
biejem Wege ber Kirche unvergünglide Dienfte geleiftet 
bat? Die Ueberfegung be8 großen Kirchenvaters, ber 
fid und Andere für fo jehr fehlbar erflärte, ifi bod) 
nicht infpirict, wofür bie Septuag. eine Zeit lang bei 
den Juden und bei von ben Juden [dymet getäufchten 
Vätern, worunter felbft Auguftinus, galt. Nimmt man 
feinen Anftand, bem landläufigen Irrthum, daß bie 
SBulgata vom Tridentinum für fehlerlos erklärt worden 
jet, zurüdzumeiien, jo muß man in Gemäßheit biefer 
Zurückweiſung aud) handeln und nicht gegenüber ber 
richtigen Theorie eine faljde Praxis zur Befeftigung 
jenes Irrthums befolgen. Da einmal der Weg, melder 
den Driginalfinn mehr verbedt als in ba8 vor allem 





Grtlarung beB Propheten Iſaias. 507 


wünſchenswerthe Licht felt, gewählt war, ift darüber 
nicht mehr viel zu rechten, daß ber hebräiſche Tert nicht 
mit größerer Afribie behandelt und ihm nicht bie gram- 
matijd-fritije Sorfalt des Gommentatot8 zugemendet 
worden ijt. Das Buch wird von andrer Seite gerade 
deshalb mod ftärfer bemängelt unb aud nad) feinen 
entſchieden guten Seiten verfannt werden, ba nun ein 
für allemal die neue mwiffenfhaftlihe Methode, deren 
Nichtbefolgung bem alten Erklärern Fein Vernünftiger 
zum Vorwurf machen wird, als bie allein berechtigte gilt 
und unmöglich mehr verdrängt werden wird, wenn nicht 
bie wiſſenſchaftliche Exegeſe und Theologie überhaupt 
ſchwer benachtheiligt werben jollen, und aud) feinem be: 
rechtigten Intereffe der Religion unb Kirche zu nahe tritt. 

Einzelnes ift nicht weiter zu berühren, ba ja immer 
in einer Menge von Fällen, bie Wefentliches gar nicht 
betreffen, verſchiedene Auffaffungen ftatt haben können, 
bie hier nicht zum Austrag gebracht werben jollen. Der 
Verf. Dat fid) der ſchwierigen Arbeit gewachſen gezeigt, 
wofür ihm alle Unbefangenen bie gebührende Anerken⸗ 
nung zollen werben. 

Himpel, 


5. 


Die innere Entwidiung des BPelagianismns. Beitrag zur 
Dogmengefhichte. Dargeftellt von Dr. Franz Klafen. 
Freiburg 1882. 304 ©. 8°. 


Die kirchliche Lehrentwidlung, der progressus fidei, 
vollzieht fij vor allem im Gegenja zu ber Qürefie, in 


508 alaſen, 


der Vertheidigung der kirlichen Lehre gegen ihre falſchen 
Aufſtellungen. Der hl. Auguſtinus wäre nicht wohl 
zu ſeiner eigenthümlichen Darſtellung der chriſtlichen 
Anthropologie und Gnadenlehre gekommen, hätte er nicht 
gegen die Irrthümer ber Manichäer einerfeits, ber Per 
lagianer anderfeits zu kämpfen gehabt. „Die Kirche 
batte bisher, fagt Auguftin felbft, ihren Glauben über 
die Gnade deutlich genug durch ihr Leben ausgebrüdt. 
Die Gebete der Kirche zeigen, was fie glaubte. Die 
firdliden Schriftfteller hatten aber feine SBerautajfung, 
in die Erörterung biefet mit fo vielen ſachlichen Schwie: 
tigfeiten verknüpften Frage einzugehen, weil in biejem 
Bunkte eine Härefie mod) nicht mit bem Glauben ber 
Kirche in Ctreit gerathen war. Sie berührten bie 
Sache nur im Vorbeigehen“ (de praedest. sanct. n. 27). 
„Geradeſo, führt er am einer andern Stelle (de dono 
perseverantiae n. 29 und 30) aus, gieng e8 mir, fo 
lange id) e8 mit bem Manichäern zu thun hatte; ih 
mußte bie Willenzfreiheit und nicht die Gnade verthei- 
digen. Nachdem er aber einmal in den Streit Dinein: 
geworfen fei, freue ihn nichts fo feb, als zu befördern, 
ut, qui gloriatur, in domino glorietur et in omnibus 
gratias agamus Domino Deo nostro sursum cor ha- 
bentes, unde a patre luminum omne datum optimum 
et omne donum perfectum est. de spiritu et littera 
n. 68" (Rlafen €. 64). Da muß e8 mum von großer 
Wichtigkeit fein, bie Härefie genau kennen zu lernen, 
gegen melde Auguftin bie Lehre der Kirche vertheidigte. 
Ueber die Lehre Auguftins und über mande bem erften 
Blick aufftoßende Härten berfelben muß dadurch neues 
fidt verbreitet werden, ja diefelben werden uns oft 





Die innere Entwidlung bed Pelagianismus. 509 


erſt durch ben Gegenjag recht verftändlih. So ift e8 
denn eine Reihe von eifrigen Forſchern, melde ben 
Unterſuchungen über den Pelagionismus fid) zumandten. 
Die oben angezeigte Schrift ift eine neue, gründliche 
Unterſuchung über bieje Irrlehre. Sie verbreitet über 
viele bi8 jegt flrittige Punkte neues Lit und ifi reid) 
an intereffanten Refultaten. 

Welches ift ber oberfte Lehrfak im Pelagianismus ? 
Lengen, Baur, Neander, Wörter betradten die Lehre 
von der Freiheit, Voigt und Wigger8 bie Lehre von 
der Erbfünde ala Grundlehre. 

Die ift der Pelagianismus in formeller Beziehung 
zu harakterifiven? Lengen glaubt, ber Pelagianismus 
verfolge mur ein philoſophiſches Intereſſe. Baur und 
Wörter halten den Nationalismus „für bie von den Pe- 
lagianern zur toifjenjdjaftlidjen Begründung ihrer Lehren 
in Dienft genommene Denkweiſe, gemäß melder bie 
Wahrheit des chriftlichen Lebens von ber Erkenntniß 
abhängig gemacht, und ſonach verworfen wird, was nicht 
begriffen wird." 

Welches ift die Gnadenlehre der Pelagianer? „Die 
Benrtheilungen berfelben theilen fid) in drei bibergirenbe 
Arten. Die einen (SBetavius, Voffius, Semler, Wiggers, 
Steanber, Ὁ. Schägler) finden ſowohl bei Pelagius als 
bei Julian den Begriff der eigentlichen, inneren Gnade; 
die andern (Wörter) find der Meinung, zu diefem 
Onabenbegrif] fei mur Julian gefomunen; bie britten 
endlich (Baur) halten dafür, daß weder Pelagius mod) 
Julian eine innere Gnade gefannt babe." 2. Schägler 
fagt näherhin, ber Grundirrthum des Pelagius fei, daß 


510 iade, 


et bie Onabe für eine Vollendung, Unterftügung ber 
Natur anfehe, bie tlebernatur aljo verfenne. 

Qui bene distinguit, bene docet. Klaſen zeichnet 
und ben „innern Entwidlungsgang be8 Pelagianismus” 
und unterſcheidet zu biejem Zweck bei allen Einzelfragen 
genau zwiſchen ben brei Vertretern der Härefle, Pelagius, 
Eäleftius und Julian von Eflaunum, dem ſcharfſinnigen 
Verteidiger und Begründer derjelben. Dadurch ergibt 
fi ihm auf die erfte ber obigen Fragen bie Antwort: 
Für den Anfang des Pelagianismus gilt bie Aufftellung 
Wörter’3, die Vorftellung von ber ur[prünglidjen Boll 
Tommenbeit, bie aud) morali[d) nidt hätte verändert 
werden können, bilde bialefti[d) bie oberfte Lehre 
im Syſtem be8 Pelagianismus, materiell fomme daher 
zuerſt der Freiheitöbegriff zur Darftelung. Für Julian 
aber muß man Voigt und Wiggers beiftimmen. Die 
Seugmung ber Erbſünde ift ſchließlich ber oberfte €t, 
na welchem und zu beffem Begründung alle andern 
fid richten müffen. Die zweite Frage beantwortet Klafen: 
fBelagius und Cäleftius bedienen fid) nod) einer nüd: 
temen Eregefe, führen den Schriftbeweis durch logiſche 
Schlüſſe. Julians Standpunkt ift der „fubjeltive Ra 
tionalismus“ des Theodor von Mopsveſte. Die Schrift 
ift ibm Glaubensquelle, aber fie muß fid) von Anfang 
an bie Genfur ber fubjektiven Vernunft gefallen Lafien. 
Mon bat in Julian mehr einen Schüler der Stoa, als 
einen chriftlichen Biſchof vor fid. Intereſſant iff ber 
duch das ganze Buch fid) Hinziehende Beweis dieſes 
legten Satzes. Die Gnadenlehre ber Pelagianer endlich 
beurtheilt Klaſen alfo: Weder. Belagius und nod) viel 
weniger Julian bat bem Begriff ber inneren Gnade. 





Die innere Enttvidlung des Pelagianismus. 511 


Die Pelagianer ſahen fid) gulegt zum reinen Naturalis- 
mus gedrängt. Sie hielten bie natürlichen Kräfte zus 
gleich für Gnade. Man fann darum (gegen v. Schägler) 
beſſer fagen, ihr Grundgedanke war eine Weberihägung 
ber Natur, al8 man jagen könnte, ihr Grundgedanke 
war eine SBerfenmung ber Uebernatur. Die Webernatur 
war nicht verfannt, fondern nicht erkannt (vgl. v. Kuhn, 
bie Lehre von der göttlichen Gnade €. 290 ff.). 

Die Begründung biefer Säge ift mit großer Schärfe 
und nad) unferer Anficht überzeugend geführt. Die 
großen Schwierigkeiten, welche das Duellenmaterial be 
ſonders deshalb bietet, weil ſowohl Pelagius als Julian 
ihre Lehren zum großen Theil verhüllen und mit ber 
kirchlichen Lehre in Uebereinftimmung bringen wollen, 
find faft ganz überwunden. Namentlich ift dies burd) 
eine überfidtlide und fadjgemáfe Dispofition gelungen. 
Gelegentlid) ift wohl aud) ber Grundirrthum des Pe— 
lagianismus aufgezeigt. Cr liegt nad) Klafen in bem 
falſchen Begriff von Perfon, bem bie Pelagianer von 
dem Begriff der Natur nicht unter[djieben. Der Ge- 
danke, daß bet Unterfchied zwiſchen Natürlichkeit und 
Perjönlichfeit bei den Pelagianern — und aud) bei 
Auguftin — nicht genügend zur Geltung kommt, trifft 
zu. Ob dagegen bie Darftellung bei Alafen (€. 142), 
daß „die Natur fündig werden fünne, ohne bap da= 
burd) ber Menſch, die Perſon ſchlecht wird“, dogmatiſch 
lorteft oder überhaupt, zumal auf dem Boden bes 
Kreatianismus, verftánblid) fei, laffen wir babingeftellt 
(vgl. bie richtigere Faſſung bei Auguftinus op. imp. 5, 21 
füajen €. 168 Anm.). Doch bleibt Klafen im ganzen 
fireng bei feinem Thema und hält beBoalb mit bem 


512 Pauly, 


Urtheil zurüd. Referent fpricht daher zum Schluffe bie 
Hoffnung aus, daß ber Verfafjer recht bald biefer Studie, 
wie wiederholt angedeutet ifi, eine Darftellung der An: 
tbropologie und Gnadenlehre des Hl. Auguftinus folgen 
laſſe, welche zugleich die Haltlofigkeit ber Julianiſchen 
Sophiftit überall aufzeigt. 

Stepetent Dr. Schmid. 


6. 

Salviani presbyteri Massiliensis opera omnia recensuit 
et commentario critico instruxit Fr. Pauly. Vindo- 
bonae ap. C. Geroldi filium. 1883. XVI, 360 8. 8. 
(A. u. d. T. Corpus Seript. eccles. lat. Vol. VII). 
Preis M. 7. 

Von Salvian befigen wir außer 9 Briefen bie 
Schriften Ad ecclesiam und De gubernatione Dei. ‘Jene 
veröffentlichte ev pfeudonym als Timotheus, und er 
echtfertigt fein Verfahren in Ep. IX gegenüber feinem 
Schüler, bem B. Salonius, bem Sohn des B. Eucherius 
von Spon, den wir wohl mit bem ®. Salonius identifi- 
cien bürfen, ber unter den Mitgliedern ber Synode von 
Arles 455 aufgeführt wird. Er habe feinen Namen 
nit genannt, um den Lockungen der Eitelkeit zu wider⸗ 
fteben und das Gewicht feiner Mahnworte nicht butd) 
bie Geringfügigfeit feiner Perfon zu vermindern. Die 
Schrift tritt dem habfüchtigen Streben nad) Reichthum 
entgegen und wird bement|predenb von Gennabius unter 
bem Titel Adv. avaritiam erwähnt. Die zweite, fpätere 
und größere Schrift ijt jenem Salonius gewidmet. Sie 
fegt fih die Aufgabe, gegenüber den in Folge ber 





Salvianus. 513 


Drangfale ber Völkerwanderung und ber Unglüdsfäle 
des römifhen Reiches und feiner Bevölkerung vielfach 
erwachten Zweifeln den Glauben an bie göttliche Vor— 
ſehung zu rechtfertigen, und fie ift bemerkenswerth burd) 
die Aufſchlüſſe, bie fie über den fittlihen Buftand ber 
römiſchen Welt im D. Jahrhundert gibt. Es ift ein 
ſchwarzes Blatt, das ung hier vor bie Augen tritt, und 
wenn bei ber Tendenz be8 Schriftftellers bie und ba 
auch eine Webertreibung anzunehmen fein wirb, fo wird 
feine Schilderung bod) im ganzen auf Wahrheit beruhen. 
Unter ben Briefen ragt außer bem bereit3 angeführten 
mod) ber vierte hervor, jenes rührende Schreiben, das 
Salvian mit feiner Frau und Tochter an feine Schwieger⸗ 
eltern richtete, um ben Unmwillen zu beſchwichtigen, ven 
diefelben wegen ber Zuwendung der Ihrigen zur asce⸗ 
tifdjen Lebensweiſe Degtem. Der Stil des Schriftftellers 
leidet zwar an rhetorifcher Breite und Weitſchweifigkeit. 
Auf der anderen Seite zeichnet fid) feine Darftellung 
burd) eine für feine Zeit felteme Gorrectpeit und ſchönen 
Redefluß aus. Die Lectüre feiner Schriften ift daher 
ebenfo angenehm als belehrend. Was bie vorliegende 
Ausgabe anlangt, fo reiht fid) der Band in mürdiger 
Weiſe feinen Vorgängern im Wiener Corpus script. 
ecel. lat. an. Auch nad ber gründlihen Ausgabe von 
Halm (1877) gelang e8 dem Hg. nod, an verjdjiebenen 


Stellen weiter zu ſchreiten. 
Sunt. 


7 


8. €. Kopp: Der Geſchichten von der Wicherherfiellung und 
dem Berfalle be heiligen römilgen Keiches zwölftes 


514 SoppetitolT, 

fud. Ludwig ber Baier unb feine feit 

1830—1836. Erſte Hälfte 1830—1834. Bearbeitet von 

Alois Sitolj. Nach jeinem Tode herausgegeben von $ranz 

Rohrer. Bafel 1882. F. Schneider. XXII, 688 ©. 8. 
SL u. b. T. Geſchichte ber eidgenöffiichen Bünde. 

Mit Urkunden. Fünfter Bd. Zweite Wbtfeilung. Sub. 

toig b. 3B. und feine Zeit. 1330—1336 u. f. m. 


Das große Geſchichtswerk, dad bie Zeit von 1273 
bis 1336 umfafjen fol und von bem mieder ein Band 
erjdjieneu ift, war urfprünglih auf zwei Bände mit 7, 
bezw. 4 u. 3 Büchern berechnet. Daraus wurden aber 
fpäter fünf Bände in 12 Büchern, unb die Bücher I-IV 
a. VI—XI fonntem von dem trefflidjen Kopp felbft nod) 
herausgegeben werden. Die Fortfegung und Vollendung 
be8 Werkes wurde von dem Autor auf bem Gterbelager 
(t 25. Okt. 1866) feinem Schüler 9L. Lütolf übertragen, 
und die Wedekind'ſche Stiftung in Göttingen, bie das 
Unternehmen fon bisher unterftügt batte, war mit dem 
Entſchluß einverftanden. A. Buffon in Innsbrud über. 
nahm nun bie Bearbeitung des fünften Buches (des 
Reiches Verhältniffe in Italien und König Rudolf's Aus: 
gang), ba8 1871 erſchienen ift. Liütolf fefbft nahm das 
zmwölfte Buch in Angriff, und bie erfte Hälfte defjelben 
liegt nunmehr vor. Die Arbeit ift ein ſchöner Beweis 
deutſcher Gelehrſamkeit und Gründlichkeit. Der Ber: 
faffer erlebte indeſſen das Erſcheinen nicht mehr. Er 
farb, alzufrüh, am 8. April 1879, und e8 ward [εἰς 
nem Nachfolger auf bem kirchenhiſtoriſchen Lehrſtuhl von 
Luzern der ehrende Auftrag zu Theil, ba8 bereits Vol: 
enbete herauszugeben und ba nod Fehlende zu bearbeiten. 

Der erfte Theil der Aufgabe wurde von Rohrer 


Wieberherftellung beB 5. τ, Reiches. 515 


ausgeführt. Der zweite Theil wird einem andern über- 
tragen werden müjfen. Denn ingtoijden ift aud) Rohrer 
heimgegangen. Die Anzeige be8 Werkes ertoedt fo in 
dem Ref. eigenthümliche Gefühle über bie Bergänglich- 
keit alles Irdiſchen. Drei Männer, von denen ber zweite 
ihm perfónlid) befreundet war, haben Hand an das Buch 
gelegt, und alle brei find abgefchieden, bevor dad Bud 
felbft zum Abſchluß gebracht werden fomute. 

Was den Antheil betrifft, bem bie drei Gelehrten 
an bem Bande haben, fo rühren die 187 erften Seiten, 
von den gujügen abgejehen, welche von Lütolf eingeſcho⸗ 
ben und, um fie als fold kenntlich zu machen, zwiſchen 
— gefegt wurden, von Kopp her. Das Uebrige ift im 
wefenslihen Lütolf3 Arbeit. Es war bei feinem Tode 
beinahe brudfertig. Doc hatte ber Herausgeber mod) 
verſchiedene Heine Süden zu ergänzen, mande Fragen 
zu beantworten, bie und ba aud) ein Verfehen zu bes 
tidtigen, feltener etwas hinzuzuſetzen. AU das geihah 
im Sinne des Verfaſſers. Auch die Methode und ſprach⸗ 
lide Darftelung wurde genau beibehalten, mie fid) 
Lütolf in biejer Beziehung an feinen Vorgänger und 
Lehrer gehalten hatte. Es tat das nicht bloß durch 
bie Pietät gegen bie Urheber des Unternehmens geboten, 
fondern aud im Intereſſe der Gleichheit des Werkes 
gerechtfertigt. Der Band behandelt, wie aus dem Titel 
erſichtlich ift, bie Jahre 1380— 1334. Auf den Inhalt 
Tónnen wir bei dem immenfen Reichthum an Detail 
nicht eingehen, und fo fei bie Anzeige geſchloſſen mit dem 
Danke für die Seremigten und mit den beften Wünfchen 
an den zur Vollendung des Werkes berufenen Lebenden. 

Sunt 


516 Secchi, 


8. 
Die Größe ber Schöpfung. Zwei Vorträge gehalten bor ber 

Ziberinifchen Akademie zu Rom von P. Angelo Secchi, 

+ Direktor der Sternwarte des Collegium Romanım. 

Aus bem Italieniſchen überfegt nebft einem Vorwort 

von Carl Güttler. Leipzig. C. Bidder. 1882, 5606. 

Die Verbienfte Secchi's um bie Aftronomie und 
Phyſik find aus feinen Schriften hinlänglich bekannt. 
Auch über feine Gefammtauffaffung des Weltalls auf 
Grund der Einheit der Naturfräfte ann man nicht im 
Zweifel fein. Dennoch verdient Carl Güttler, welcher 
feine gute Bekanntſchaft mit diefem Gegenftand ſchon 
durch feine Secchi gewidmete Schrift „Naturforſchung 
und Bibel“ gezeigt Dat, unfern Dank für bie gemandte 
Ueberfegung bdiefer beiden Vorträge. Können fie aud) 
ber Natur ber Gadje mad) nichts ganz Neues bieten, 
fo verdienen fie bod unjere Aufmerkſamkeit für bie 
Beurtheilung ber Weltanfhauung Secchi's. Er hat fie 
πο im Vollbefige feiner Kraft beu 6. März 1876 unb 
7. Mai 1877 vor einer wiſſenſchaftlichen Verſammlung 
geſprochen und damit der Nachwelt in kurzen Zügen 
ein volftändiges Bild feiner Forfhungen und Specu- 
Tatioueu hinterlaſſen. 

Im 1. Vortrag handelt Sechi von bem ſchwierigen 
Problem des Raumes und der Zeit. Er will zeigen, 
daß bie Aftronomie uns bie Unendlichkeit der Schöpfung 
im Raume zum Bewußtſein bringt, während bie Schweſter⸗ 
wiſſenſchaften ihre Unendlichkeit in der Zeit veranfchaus 
lien. Die Größenverhältniffe im der Schöpfung mit 
ben faft unendlichen Entfernungen, bie und das Teleflop 
enthüllt, find ebenfo geeignet und eine, menm aud 





Die Größe ber Schöpfung. 517 


ſchwache Vorftellung ber Unendlichkeit be8 Raumes zu 
geben, als bie Welt im Kleinen, welche uns das Mikro: 
ftop offenbart. Wir ftehen zwiſchen einer doppelten 
Unendlichkeit, einer unendlich großen und einer unendlich 
Heinen. Dem Raum geht aber die Zeit zur Seite und 
daß diefer eine gleihe Unendlichkeit zufommt, beweist 
bie Geologie, jo ifeptijd man fid) aud) im Webrigen 
gegen ihre großen Zahlenangaben verhalten mag. Der 
2. Vortrag hat „die Größe ber Schöpfung in den Funda⸗ 
mentalverbindungen be8 Weltalls“ zum Thema. Aus 
ben beiden Elementen Raum und Zeit geht wie aus 
zwei Factoren eine britte Unermeßlichkeit nod) höherer 
Drbmung hervor, melde man als die Unermeßlickeit 
der Verbindungen befiniven Tönnte. In dem Produft 
berjelben finden wir ein höheres Prinzip verftedt, welches 
fij in der nicht zufälligen, fondern in ber einem Ziele 
zuſtrebenden Verbindung ausſpricht. Dies läßt fid) ſchon 
in ber auorganiſchen Chemie, mod) mehr aber in den 
organifirten Weſen nachweiſen. Die Mannigfaltigkeit 
im Pflanzen: und Thierreich im großen Gangem und in 
ben einzelnen Abtheilungen bi8 hinunter auf den Grund 
des Meeres, den und das Aquarium in Neapel zum 
Entzüden ſchön vor Augen ftellt, der Kampf ums Dajein 
im ganzen Reiche, neben dem Gleichgewicht unter ben 
Arten, alles zufammengenommen bildet gewiflermaßen 
ein fo unendlich großes Meer von Verbindungen, daß ihre 
Zahl in der That jede menſchliche Faffungskraft überfteigt. 
Und inmitten biefer Factoren tritt ein völlig neues Element 
zu Tage, baà Streben nad) einem Biele, welches ben Drga- 
nismus Tennzeichnet, ber Beweis eines anordnenden Willens, 
eines zwedjegenden Geiftes, des höchſten Geiftes, Gottes. 
Weel. Dual 1888. Heft IIL 34 


518 Secchi 


Die Hauptbedeutung dieſer Vorträge liegt aber in 
der offenen Stellung, welche Secchi zu den neueren 
naturphiloſophiſchen Richtungen und dem Darwinismus 
nimmt. Dem modernen naturwiſſenſchaftlichen Monismus 
gegenüber, welcher aus der Einheit der Kräfte und 
Materie, aus dem Grundprincip der Bewegung in allen 
Naturerſcheinungen auf die Einheit des Seins ſchließt 
und das Produkt der Maſchine mit der Maſchine ſelbſt 
verwechſelt, ſowie die Maſchine mit dem Maſchiniſten, 
vertheidigt er die echte Wiſſenſchaft, welche mit geſundem 
Urtheile dieſe Entdeckungen zur Verbeſſerung ber Phyfio— 
logie benügt und das, was einfache Function der Natur⸗ 
kraft ift, von bem trennt, was ein höheres Prinzip 
hineingelegt bat. Er hält e8 in biejem Taumel toiffen- 
ſchaftlicher Verirrung für einen Troft, daß felbft bie- 
jenigen, welche biefe Dinge auf die Spitze trieben, eine 
Abänderung ber Definition vom Stoffe für notfmenbig 
erflärten. Er unterläßt e8 aber aud) nicht, diejenigen 
des Irrthums zu beichuldigen, melde, während fie jene 
verdammten, bie behufs Erklärung ber Naturerſcheinungen 
von einer phyflaliih trägen Materie ausgingen, 
behaupteten, daß der Stoff mit eigenen, ihm einge- 
pflanzten und urfprüngliden Kräften verjeben fei, ohne 
zu merfen, daß unter ber Hülle folder Kräfte bie Gefahr 
laure, bem Materialismus einen wichtigen Dienft zu 
leiſten. Diefe Sonderkräfte der Neuſcholaſtiker ſeien ges 
nau dieſelben wie bie ihrer Gegner, denn habe ber Stoff 
als folder Energie, fo werde e8 gewiß nicht ſchwer, 
πο weiter zu geben und ihn aud) das Leben, ja felbft 
den Gebanfen erzeugen zu lafjem. Es fei vergeblich, 
den Bau des Weltalld a priori conftruiren zu wollen 


Die Größe ber Schöpfung. 519 


unb fruchtlos fei die Mühe aller jener Perfonen, welche 
bie gefammte Natur erklärt zu haben glauben, menn 
fie zwei im Alterthume angewandte Schulausdrüde wieder 
in Verkehr jegem, dabei aber gar nicht merken, baf bie 
Schwierigkeit der Erklärung gerade darin beruht, zu bes 
finiren, was jene Materie fei, und worin jene Form 
beftehe, von ber man ung redet! „Unter diefen Aus— 
brüden verftanden bie Alten genau dafjelbe, was tit 
Beute unter bem Namen von Kräften verftehen; enttoebet 
beftehen diefe Kräfte aus fid) felbft, oder fie find zufällige 
und perünberlide. Ihr Wefen genau zu erforfchen und 
zwiſchen ihren Eigenschaften zu unterjdeibem, barum 
handelt e8 fid) gerade; von diejer Erfenntniß waren aber 
die Alten nicht minder weit entfernt als wir” (©. 85 f.). 
(8 ift mir wohl befannt, daß Diegegen verſchiedene Ein— 
mendungen gemacht werben können, aber ich hielt es bod) 
für gut, diefes entſchiedene Urtheil Secchi's hervorzuheben 
und e8 demjenigen zur Beachtung zu empfehlen, melde 
allen Ernſtes betoiefen zu haben glauben, die areftoteltich- 
ſcholaſtiſche Staturpbilofopbie ftimme fo febr mit ben That⸗ 
ſachen ber neueften Naturforſchung überein, daß fie ben 
Leitftern für biefe bilden fóune, und bie Ausdrücke 
Materie und Form geben ohne Weiteres bie Löfung für 
alle naturphiloſophiſchen Probleme. 

In Betreff des Darwinismus macht Secchi bei 
firenger Wahrung bes theiftiftiichen Standpunkts nicht 
unerhebliche Eonceffionen. Doch find fie mehr hypothetiſch 
als wirklich gemacht, für den Fall befferer Begründung. 
Die Theorie von ber allmübliden Abänderung ber Art 
fei mit der Vernunft und mit der Religion burdjaus 
nicht unvereinbar, menn man fie mit der nöthigen Klug: 


520 Secchi, Die Größe der Schöpfung. 


beit und Mäßigung vertvete. Wenn man bie erfte Ur: 
jade zugebe, fo enthalte e3 Teinen Widerſpruch, angu. 
nehmen, daß, folange feine neue Kraft hinzukommt, 
gewiſſe Organismen fid) eher im bet einen Weiſe ent 
wideln können, als in der anderen, und daß auf bicje 
Weiſe verjdjiebene organische Weſen entftehen. Anders 
fei e8 beim Webergang von ber einen Klaſſe organifcher 
Weſen zu einer anderen, z. 38. von den Pflanzen zu ben 
Thieren. Thatjächlich fei allerdings diefe theoretifche Be: 
trachtung burdjaus nicht beftätigt. Wenn freilich Sechi 
eine allmälige Umwandlung ber Arten durch eine Art 
Migrationstheorie erfegen will und dafür das ſelbſt als 
zweiſchneidig anerkannte Argument von uod) zu hoffenden 
paláontologifdjen Funden anwendet, fo wird er ſchwerlich 
viel Zuftimmuug erhalten. Ja wenn er ©. 37 die 
ganze Mannigfaltigfeit ber Thierformen aus ganz fleinen 
Variationen in den untergeordneten Organen weniger 
Grundtypen hervorgehen läßt und das Skelett ber Wirbel: 
thiere und fpeciell bie Bewegungsorgane bis zum Re: 
fultat der ganzen Entwicklung in ber menſchlichen Hand 
aus Kleinen Abänderungen berjelben Grundform herleitet, 
io hat er ja bie Umwandlung vollauf zugegeben. Der 
Ueberfeger bemerkt denn aud) dazu, baB fid) der SBerj. 
bier ganz zu Gunften einer teleologifhen Entwicklungs⸗ 
theorie äußere. Ich begreife bieje Confequenz bei bem 
Streben nad) einer einheitlichen Erflärung des Weltall, 
halte fie aber weder für nothwendig mod irgendwie 
thatjählich erwieſen. 
Schanz. 





Theologiſche 


Quartalſchrift. 


EI 
Qm Verbindung mit mehreren Gelehrten /€88Elgy, 
C'IBODULLIBR) * 
beraudgegeben M c» 
von Mose ΄ 


D. y. Kuhn, D. v. Himpel, D. v. Kober, D. v. £infen- 
mann, D. funk und D. Schanz, 4 Ἵ 


Brofefforen ber kathel. Theologie an der f. Univerfät Tübingen. 





Fünfundfechzigfter Jahrgang. 





Viertes Quartalheft. 





Tübingen, 1883. 
Berlag der 9. 2aupp'[den Buchhandlung. 


Drut von Ὁ. Saupp in Tübingen. 





1. 
Abhandlungen. 


1. 


Solmar von Zriefenftein und der Streit Gerhohs mit 
Eberhard von Bamberg. 
Bon Profeſſor Dr. Kaltner in Salzburg. 


L 


Seit Berengar von Tours bie Streitigkeiten über 
bie heilige Cudjariftie an die Tagesorbnung gebradt 
batte, dauerten biejelben aud) mad) feiner Belehrung 
noch lange feit fort und bie verfchiedenften Meinungen 
traten zu Tage. Während einige glaubten, Brod und 
Bein blieben unverändert, Tönnten alfo aud) nur im 
bildlichen Sinne Chriftt Fleifh und Blut genannt wer- 
ben und feien im Gacramente nur aufzufaflen wie das 
Waſſer in der Taufe, meinten andere, Chriſtus [εἰ im 
Brode alfo „impanirt,“ mie er in feinem Leibe „incar- 
niet“ ift; dritte behaupteten gar, Brod und Wein werben 
nicht in das Fleiſch und Blut des perſonlichen Goriftus, 
fondern in jene eines Gerechten, aljo eines Gliedes des 

85 * 


524 Raltner, 


myſtiſchen Leibes Chrifti verwandelt; eine vierte Gruppe 
betrachtete bie Confecration von Seite fündiger Priefter 
und die Gommunion feiten8 untoütbiger Empfänger für 
nichtig unb ungiltig; eine fünfte Abtheilung erachtete, 
wie bei Chrifti Lebzeiten die Speife fid in fein Fleiſch 
und Blut verwandelte, fo geſchehe e8 jet mit Brod und 
Wein; enblid) fagte man gar Eucharistiam »per comes- 
tionem in foedae digestionis converti corruptionem. 
Alle diefe Verirrungen menſchlicher Speculation zählt 
und Alger, Scholafter von Lüttih, auf am Eingange und 
im 9. Gapitel feines ausgezeichneten Buches: »De sa- 
cramentis corporis et sanguinis Domini.« 

Gegen Ende ber erften Hälfte des zwölften Jahr: 
hunderts famen mun bieje Irrthümer in craffer Form 
auch in ber Diözefe Würzburg zum Vorſchein. Am 
Maine, Langfurt gegenüber, ragte auf einem Felſen das 
Auguftiner-Chorherren-Stift Triefenftein, »Petra stillans« 
empor, beffeu vierter Propft ein gewiſſer Folmar, ein 
Mann von eigenthümlicher Denfart, war. Bon feinem 
Leben ift außerordentlich wenig befannt. Den Erzbiſchof 
Eberhard I. von Salzburg, welcher 1133—47 erfter Abt 
von Biburg bei Abensberg war, nennt Folmar feinen 
früheren Herrn (Gretfer XIL IL 105), weshalb Binte: 
rim in feiner pragmatiihen Geſchichte (IV. 188) ver: 
muthet, Folmar habe feine Bildung in Biburg genoffen, 
wobei feine entſchieden nominaliftiihe Richtung immerhin 
nod) erflärbar bleibt. Die Priefterweihe erhielt Folmar 
von Biſchof Eberhard von Bamberg (Beg VI. I. 449), 
aud) war er jünger als fein Gegner Gerhoh, welcher 
1093 geboren war, wie aus dem Briefe eines Paters 
des Kloſters Rohr zu entnehmen ift, ben Grether (Lc) 





Solmar von Zriefenftein. 525 


mittheilt. Einiges, 3. 9. fein Todesjahr 1181, über 
Folmar hat Michael III. der Abt ad Exemtas Ins- 
eulas Wengenses im 5. Bande feiner Gollectio; ſonſt 
fennen wir unferen Propft nur aus den Angaben feiner 
Gegner, melde mit Vorfiht gebraudt werden müffen. 
Eine Zufammenftellung berjefben findet fid) bei Fabricius 
(lat. II. 175). Seine Feinde jagen nun, er fei ein ſpitz⸗ 
findiger, anmaßender und dabei unkluger Mann geweſen, 
ber jene Weisheit befaß, melde aufbläht. (Gretfer 1. 
e. 101. 105. 106). €3 find das Außerungen, melde 
in Folmars literarifchen Kämpfen ihre Beftätigung finden. 
Da von ihm gejagt wird, daß er für feine Anfichten 
in Wort und Schrift unermüdlich Tämpfte, fo fdeint er 
mebrere8 gefchrieben zu haben — allein es ift alles 
verloren gegangen mit Ausnahme eines Briefed an Eber⸗ 
hard I. von Salzburg, des Widerrufes feiner Abend: 
mahlslehre und be8 Titels feiner Abhandlung: »De 
tarne et anima Verbi Dei.« 

Neuerungsſüchtig und rationaliftiih angelegt war 
Folmar ein Freund jener nominaliftiihen Richtung, 
welche gleid) Neftorius und der alten antiocheniſchen 
Säule das Menſchliche und Göttliche in Chriftus mög- 
lift fireng und meit auseinander bielt. Bei folden 
Anſichten über die Perfon Ehrifti und bem meit verbreis 
teten Irrthümern über bie Euchariſtie wird e8 mum be- 
greiflich, daß Folmar behauptete: »Oportet in hoc sa- 
eramento recte dividere et naturam Verbi a corporis 
natura distinguere« ( Gretſer 1. c. 101.), unb mit feinem 
ewigen Unterfcheiden zur Irrlehre fortgerifien wurde. 
Folmar behauptete gunádjft, feit feiner Himmelfahrt fei 
Chriſtus fórperlid) nicht mehr auf Erden geweſen, bie 


626 Kaltner, 


Erſcheinungen au Petrus und andere Heilige ſeien Fabeln. 
An mehreren Orten können Chriſti Leib auch im Himmel 
nicht ſein, wie denn auch Auguſtinus ſagt: »Corpus in 
quo surrexit uno loco esse oportet« (nicht »potest«, 
wie andere Ausgaben haben). (Migne 194; 1117, 1122, 
1123). Kann mun Chriſtus »Totaliter et corporalitere 
zu gleiher Zeit nicht am zwei Orten gegenwärtig fein, 
io ift bod) nod) möglich, baB Theile feiner menſchlichen 
Statut mit ber göttlichen Perfönlichteit Chriſti vereint 
an verſchiedenen Orten gleichzeitig zugegen find. »Ubi- 
cunque enim Christus est, totus est: etsi totum non est; 
Sicut uno eodemque tempore totus in sepulchro et totus 
in inferno erat; sed totum non erat.« ( Gretſer 1. c.101). 
Driginell waren übrigens all biefe Theſen bei Folmar nidt; 
bereit8 Alger im 14. Gapitel feines oben angezogenen 
Buches findet fid) veranlaßt zu bemeifeu, daß Chriftus 
im Himmel und auf Erden gegenwärtig fei. 

Natürlich wandte Folmar diefe Anſchauungen aud) 
auf ben euchariſtiſchen Chriftus an und fam zur Folge 
rung, daß unter der Geftalt des Brodes nicht der ganze 
ungetheilte Leib Jeſu Chrifti, fondern mur ein Theil 
desfelben, das Fleiſch ohne Gebeine, fuodjem und Blut 
vorhanden fei. Ebenſo trinfe er in ber DL. Communion 
wie von einer »spiritualis uva« Chrifti reines Blut abs 
gefondert von feinem Gebein und Körper. Ganz bide 
Anfiht Habe bie Hl. Schrift, melde lebrt, baf wir 
nicht den Menfhenfohn, fondern das jyleijd) bes Men 
ſchenſohnes genießen. Was im Wort auseinander ge 

“halten wird, muß aud) ber Sache nad) auseinanderge 
halten werden, folgerte Folmar weiter. Nun aber fag 
doch Chriftus ausbrüdlid: „Wenn ihr nicht effet dad 





Folmar vom Triefenftein. 587 


Fleiſch des Menihenfohnes und trinfet fein Blut.“ 
Weiter habe er bei Gelehrten gelefen: »Integer Christus 
sumitur in utraque specie, sed illa persona in qua 
sunt tres substantiae et tamen in solum corpus Christi 
transit panis ille materialis, sicut inter (-totus?) Chris- 
tus in cruce et tamen sola caro vulnerata fuit.« ( Gret⸗ 
fet 1. c. 101; Bez VI. L 450) 

Folgerichtig ftelte Folmar bem weiteren Sag auf, 
daß unter einer Meinen Hoftie, wie fie in ber Pyris 
enthalten zu fein pflegt, weniger von Ehrifti Fleiſch zu⸗ 
gegen ift, als "unter einer großen Hoftie, wie fie bie 
Priefter am Altare gebrauchen. (Bez VI. I. 449). 

Dennod empfange man in ber Communion immer 
den ganzen Ehriftus, bejfen Perfönlicpkeit ja feine Thei- 
lung zuläßt: »Ubi caro Christi ibi consequenter et 
Christus non pro parte sed totus, totus seorsum in 
carne, totus seorsum in sanguine, totus simul in 
utroque; nihilominus separatim in altero, nihilomagis 
in utrisque conjunctis totus vel integer, non ad hu- 
mani corporis, ut quidam litigant, integralitatem, sed 
ad personae Christi individuam unitatem.« (Gretſer 
l e. 101.) 

Mit bem »dividere et naturam Verbi a corporis natu- 
ra distinguere« fam Folmar nod) einen Schritt vorwärts. 
Da er fid) im heiligen Sacramente zunächt nicht bet; Men: 
ſchenſohn, fondern das Fleiſch des Menfchenjohnes gegen- 
märtig dachte, fo mußte et fid die Frage vorlegen, 
toeldje Art von Verehrung biejem Theilen des Leibes 
und Blutes gebühre? Er antwortete, nicht bie Anbetung, 
fondern wur eine höhere Verehrung als den Engeln und 
Heiligen fei ihnen zu erweifen. — Qlemit war das Thema 


528 Kaltner, 


»De gloria et honore filii hominis« berührt und bem 
Streite eine noch viel größere Ausdehnung gegeben. 
(Migne 1. c. 1117—20; »De investigatione antichristi« 
ed. Scheibelberger II. c. 33). 

Gegenüber einer unreinen Auffaffung fid zu einer 
io geläuterten und rationellen Anficht über dieſes My— 
fterium emporzuſchwingen, Detradjtete Folmar al8 eine 
befondere Gnade Gottes; denn: „Die Weiſen diefer 
Welt“ ſchreibt er „verftehen bie Süßigkeit bieje8 Geheim- 
niſſes nicht, weil fie die Reinheit desfelben nicht erfaſſen; 
jenen aber, fo demüthigen Herzens find, wird dasfelbe 
geoffenbart" (Gretfer 1. e. 101). Jedoch für die Ber 
breitung dieſer „Offenbarungen“ forgte ber Probft vou 
Triefenftein mit auffalendem Eifer. Er verfaßte eine 
Abhandlung und [a8 diefelbe mehreren gelehrten Reli- 
giofen vor, zu denen aud) Adam, der Abt von Gbrad 
zählte. Alein e8 fdjeint, daß man Folmar für feinen 
beſonders großen Gelehrten hielt, denn legterer Abt ver⸗ 
fihert, man habe auf ben ganzen Vortrag fo wenig aufge: 
merkt, daß bie Irrlehren Folmars niemanden auffielen. 
(Gretfer 1. c. 105). Der Triefenfteiner ermüdete nicht, 
ſondern theilte feine Sacramentslehre „feinem früheren 
Vorgefegten" Eberhard I. von Salzburg in einem Briefe 
mit, beffen ſchneidige Devife: »Semper gaudere, nihil 
adversique timere« lautete, Er fügte bei, fromme Reli- 
giofen und der Abt von brad) hätten dieſelbe bereits 
gebilligt. (Gretſer 1. c. 101). 

Nun aber beftand eine enge Verbindung zwiſchen 
Salzburg und dem regulivten Chorherrenftifte Reicheräberg 
am Inn, welches unmittelbar bem Erzftifte unterftand. 
Der berühmte Gerhoh, Eberhards Freund, war bajelbft 


Folmar von Triefenftein. 529 


Propſt, beffen Bruder Arno begleitete bie Stelle des 
Dechantes und ein Mitglied des Conventes, Johannes, 
war Caplan des Erzbiſchofes. (Pez VI. 1. 487) (δ 
Tann babet nicht Wunder nehmen, daß Folmars Brief 
an Eberhard I. bei Seiten in Gerhohs Hände gerieth. 
(Gretjer 1. c. 103). Zunächſt ſchrieb an Folmar ein 
»R. Salzburgensis ecclesiae frater modicus,« bet ung 
nicht näher befannt if. Man dachte wohl an Gerhohs 
Bruder Rüdiger, allein da biejer Dechant in Augsburg 
war und mad) feiner Vertreibung fid) nach dem Klofter 
Neuburg begab, fo ift nicht einzufehen, wie er fid) als 
ein Geiftliher der Erzdiözefe Salzburg hätte bezeichnen 
können. „Der Triefenftein trieft bereit bi8 am unfere 
Berge heran,“ ſchreibt R., „aber der neue Evangelift bringe 
einen neuen Glauben, beffer gejagt einen neuen Unglauben. 
Es find nur Traumgebilde, bie felbft alte Weiber nicht glau- 
ben und denen entgegen zu treten nicht der Mühe wert fei; 
allein man müſſe e3 bennod) thun, damit es nicht heiße, 
man babe beigeftimmt.“ Gab für Caf werden bonn 
Folmars Behauptungen zurüdigemwiefen, aber mit einer 
Ironie, melde be8 großen Gegenftaubes nicht würdig ift, 
um ben e8 fid) handelte. Tiefer ſchauend madjt end- 
lich Bruder 9t. auf bie Duelle aufmertjam, aus mwel- 
her diefe Verirrungen kommen: „Sollen aljo ba8 zwei 
Dinge fein, Chriftum empfangen und den Menſchenſohn 
empfangen? ft denn Chriſtus und ber Menfhenfohn 
nicht ber eine und berjelbe? Wohin fol das führen?“ 
Gretſer 1. c. 101.) 

Was nun Gerhoh über Folmar und feine Lehre 
dachte, ift bei der ausgeſprochenen Gefinnung bieje8 ge- 
nialen Mannes Har. Er legte fpäter feine Gedanken 


530 Raltner, 


bierüber im 18. und 14. Kapitel feines Buches »De 
gloria et honore filii hominise nieder unb wir fómnen 
nidt unterlaſſen, bievon den Hauptinhalt zu erwähnen. 
Wie ber Herr nod) im Fleiſche wandelnd angebetet wurde, 
fo mußte er aud) jebt in feinem Leibe angebetet werben. 
Obwohl fein Leib im Himmel it, fo ift Chriftus bod 
aud) feinem Leibe nad) in feinem Tempel, in der Kirche, 
welche er nährt mit feinem Leib und Blut; und zwar 
ift er zugegen nicht nur ber facramentalen Wirkung nad, 
wie Berengar behauptete und Folmar fein erfentreter, 
ſondern wirklich und wahrhaft, mit demfelben Leibe, bet 
aus ber Jungfrau gebildet wurde; er ijt negenmärtig, 
wird geopfert, empfangen und zu unferem Qeile ange: 
betet. Wohl Dat Berengar widerrufen — aber biejer 
neue Gottesläfterer »Folmarus recte follis amaruse be- 
hauptet mun in Wort und Schrift, Chriſti Leib märe 
feit feiner Himmelfahrt nie mehr auf Erden gemejen. 
Wie das Gong von Epheſus über Neftorius, fo müfle 
er jet Anathema fprechen über alle, bie Chriſti leben: 
digen und leben[penbenben Leib an einem Drt fo ver: 
ſperren und einferfern, als ob er nicht zu gleicher Zeit 
an vielen Orten fein fónnte. 

Gerhoh fagte felbft, er finde e8 unter feiner Würde, 
an ber »Dormitantiuse feines Jahrhunderts zu fchreis 
ben; deßhalb jambte er, ba er nicht ſchweigen mollte, 
einen Brief an Adam von Gbrad), um ihn wegen feiner 
Zuftimmung zu Folmars Sactamentälehre zu interpellicen. 
Mit jener Geiftesfhärfe, die ihm eigen war, geht er fo- 
fort auf den Grundirrthum Folmars eim. Im aufer: 
ftandenen Chriftus ijt Gottheit und Menſchheit, Leib und 
Seele, Gebein, Fleiſch und Blut vereinigt; bem es if 





Folmar von Triefenftein. 531 


die Erfüllung des altteftamentlichen Oſterlammes, von 
dem gejchrieben ftehet: »Caput cum pedibus et intesti- 
nis vorabitis, os non comminuetis in eo«. Daber muß 
man von Ehriftus im Hl. Sacramente fagen: »Divini- 
tas cum tota humanitete voratur.« Folmar, dieſer 
»Divisor Christi,« ift ein neuer Neftorius, melden von 
vorneherein das Ephefinum verurtheilt Dat. „Das 
Wort ift Fleisch geworden“ ; wer alfo das Fleiſch bes 
Wortes empfängt, empfängt das Wort in feinem Fleiſche; 
dasſelbe abgejonbert vom Logos zu denken geht nicht 
an, das beweife aud) Hilarius im 8. Buche feiner Ab- 
banblung über dieſes Sacrament. Daß Ehrifti Leib im 
Grabe und feine Seele in der Vorhölle war, könne jetzt 
mad) feiner Auferftehung unmöglich als Beweis für Fol- 
mars Lehre angeführt werben. Chriftus ift ja ganz im 
Himmel und ganz auf vielen Altären; wer baber fagt, 
er genieße ihn, aber nicht fein Gebein, und wer das Blut 
von feinem Leibe trennt, denkt unwitrdig von ihm. Adam 
möge aljo Acht haben: »Ne credamini credere quod 
non creditis!« (Gretfer 1. c. 108.) Letzterer entſchul⸗ 
bigte fid fpáter damit, daß er auf Folmard Vortrag 
nicht gehört, feine Irrlehren nicht beachtet habe und 
über das BL. Sacrament ganz jo mie Gerhoh bente. 
Wäre der Propft von Triefenftein fid) früher nicht ba- 
rüber Har gewefen, daß e8 fid) in biejem Streite in 
legter Linie um bie Perſon Chrifti handle, jo hätte ihn 
der Brief des Salzburger Geiftlihen und nod mehr 
Gerhoh, mwelder ihn als ‚neuen Neftorius bezeichnete, 
darüber aufgeklärt. Hiemit mar aber eine Frage be- 
rührt, welche al3 Streit über bie Glorie und Ehre des 
Menſchenſohnes ſchon feit Longer Zeit die Theologen 


532 Kaltner, 


aller Länder befchäftigte. Nominaliften und Realiften 
lagen fid hier in den Haaren; ber Kampf murbe mit 
einer Hitze geführt, welche an bie Zeiten des Neftorius 
und Eutyhes erinnerte; bie einen nannten bie andern 
Neftorianer und bie andern bie einen Cutpdjianer. Ger- 
bob fümpfte auf diefem Gebiete fein ganzes Leben bin- 
dur — von feiner Jugend angefangen, mie der Chro- 
nift von Steidersberg fid) ausbrüdt. 

Hier glaubte nun aud) Folmar den Hebel einfegen 
zu müſſen und ſchrieb feine Abhandlung: »De carne et 
anima Ohristi.« Er übergab biejelbe ſammt einem 
Brief einem Boten, ber im Klofter Rohr vorſprechen 
und fodann bie Abhandlung an Gerbob, ben Brief aber 
an Eberhard I. von Salzburg übermitteln follte. Der 
Brief felbft ift uns nicht mehr erhalten; von feinem Ju= 
halte wiffen wir nur, daß Folmar „hartnädig bei der Hä- 
tefie verharrte, mit welcher er fid befledt batte," und 
daß Gerhoh in demielben unwürdig behandelt und blof- 
geftelt wurde. Im Buche aber, dad Gerhoh als »pro- 
fanus libelluse bezeichnet, (Bez VI. I. 487) griff er 
denfelben offen an, höhnte ihn, teil er den Hilarius 
nicht verftehe und warf ihm Irrthummer vor. Das 
alles geſchah mit folder Maßlofigfeit, daß ein Bruder 
9t. im Klofter Rohr den Gerhoh offen bedauerte. (Gret- 
fer 1. c. 105.) (8. hat allen Anſchein, daß der Brief 
Folmars an Eberhard von Salzburg, melden Arno Des 
dnt von Reichersberg unb Gerhohs Bruder in feinem 
„Apologeticus“ erwähnt, feim anderer als ber eben 
beſprochene if. (Migne 1. c. 1531.) Sagt gleichwohl 
Arno, daß derfelbe zur Zeit, mo er feine Abhandlung 
ſchrieb, von Gerpob nod) nicht gelefen worden fei, jo 





Folmar von Triefenftein. 533 


findet ba8 feine Erklärung darin, daß ber Brief lange 
in Salzburg liegen bleiben fonnte; ja Eberhard mochte 
Gründe haben, die erregten Gemüther nicht nod mehr 
zu erhigen, ja der Brief founte immerhin nur gelegent- 
lid ober zufällig nad) Steidjeráberg fommen. (»cum 
epistola forte ad eum, contra quem erat scripta, 
pervenissete). Den Inhalt des Briefes jdjilbert Arno 
aber aljo: »Ut verum fatear, epistola illa maledicta 
et maledicenda, siquidem maledictis plena, mendaciis 
respersa, felle amaritudinis infusa, utpote juxta nomen 
auctoris, de folle amaro.« Wir wollen indefjen nicht 
unerwähnt laſſen, daß Binterim (l.c. 199) diefe Worte 
auf einem fpäteren Brief Folmars an Eberhard von 
Salzburg bezieht. Ein folder Brief ift ficher nicht un- 
wahrſcheinlich, allein es fehlen genauere Nachrichten, bie 
ung benjelben bezeugen könnten. 

Unterdeffen hatte Folmar einen [deren Gang zu 
madjen. Nahdem Eberhard von Bamberg ben Brief 
Gerhohs an Adam von Ebrach gelefen hatte und über 
dies aufgefordert worden war, gegen bie Irrthümer des 
Triefenfteiner zu ſchreiben, fühlte er fid) verpflichtet 
etwas in biefer €adje zu thun. Eingedenf ber Worte 
Ehrifti: „Wenn beim Bruder wider dich gefündigt, ver- 
weiſe e3 ibm zwiſchen dir unb ihm allein" wollte er 
aber jedes Gclat um fo mehr vermeiden, al8 er aud) 
mit Gerhohs Brief an Adam von Gbrad) nidt ganz 
einverftanden war, ber ihm in ber Sacramentälehre zu 
kraß und etwas eutychianiſch angelegt ſchien. Er, lief 
aljo Folmar burd) den Abt von Cbrad) zu fid rufen 
und bemog ihn, feine Thefen über bie Euchariftie zu wider: 
rufen. Folmar geftand, biejeben nidt nur mündlich 


584 Raltner, 


jondern aud) in zahlreichen Schriften verbreitet zu haben, 
auch an Eberhard von Salzburg habe er Dinge gefchrieben, 
bie fid) nicht gehören. Es fei alfo unmöglich, alle vom 
Widerrufe zu verftändigen: »Si enim missa, quanto 
magis nescit vox scripta reverti . . sanet ergo con- 
fessio, quae corrigi revocatione non potestc! Das 
Mtarsfacrament ift ein Geheimniß, fagte Folmar, wel 
des weder Menſchen nod) Engel erfaflen, und das 
.gang auf Gottes Allmacht beruht. In biejem Sinne 
babe er die Abhandlung »De carne et anima Christic 
an Gerhoh geſchrieben, bie er ebenfalls einem beſſeren 
Urtheile unterwerfe. (Gretſer 1. e. 105.) Inſoweit 
feine Irrthürmer zunähft das Altarsfacrament betra— 
fen, leiftete Folmar Widerruf, indem er fagte: Im 
hl. Sacramente wird ber wahre und ganze Leib Jeſu 
Chriſti in feiner menſchlichen Subftanz genoffen; infofern 
aber bdiefelben fij) auf bie Perſon Chrifti bezogen, 
30g er Feine Silbe zurüd. Das geht Har aus bem 
Wortlaute der Revocatio hervor; das mar bet Ginbrud 
in Bamberg, wo Biſchof Eberhard, ber Abt von Ebrach 
und bie andern Berfammelten offen fagten, Folmar habe 
πο andere zahlreiche Irrthümer und man müfje be8- 
bald für ihn um Crleudtung beten; das war endlich 
aud die Anfiht anderwärts 4. B. im Klofter Rohr. 

Bruder R. dafelbft fehrieb geraume Seit nah bem 
Widerrufe einen Brief nad) Triefenftein, zu defien Abfal- 
fung ihn bie bereit zur Gewohnheit gewordenen Schmäh: 
worte Folmars gegen Gerhoh bewogen. 

Wie Daniel den ergrauten Richtern, fo mie 
er Folmar entgegentteten: mod) jung einem Greiſe, 
ein einem Manne, ber groß in feinen eigenen Augen, 





Folmar von Triefenftein. 535 


denn daB ewige Schmähen gegen einen Mann, mwelder 
butd) das Evangelium fein Vater geworden, ἔδππε er 
nicht ertragen! „Gerhoh liest den Hilarius mod), ver- 
ſteht und erflärt in! Schaut auf Euch felbft! Wirglauben 
Euch nicht, weil Ihr Unkraut jüet! Aus feinem Munde 
aber haben wir Worte des Lebens und das Gefez ber 
Zucht vernommen, Wunderbare an ihm gejeben, als 
Seelenarzt ihn erprobt! Nicht bie Liebe für den Sohn 
Gottes, nicht der Eifer für Gottes Ehre, fondern Neid 
und Ehrgeiz treibt €ud)! Es ift freilich etwas Großes, 
Große fed anzugreifen! Aber ſchweigt und legt ben Finger 
auf ben Mund, damit Eure legten Dinge nicht ärger 
werben als bie erfien! — Gebet zu, ob Ihr Euren Glauben 
gang verbefiert Dabet; denn ich fürchte noch für Euch”! 
Gretſer 1. c. 106). 

Die eit, in welcher ber bisherige Streit vor fid 
gieng, läßt fif) genauer nicht beſtimmen, nur ſo viel iſt 
ſicher, daß er zwiſchen 1147 "und 1168 hineinfiel; denn 
im erſteren Jahre beſtieg Eberhard bem erzbiſchöflichen 
Stuhl von Salzburg, im legteren Jahre aber fand bie 
Disputation in Bamberg ftatt, die nicht auf 1150 ober 
1151 zu fegen ift, wie εὖ Binterim 1. c. und Haufiz 
(Germ. II. 252) thun, fonbern auf 1158 (Stülz in Dent- 
ſchriften ber Faiferlihen Akademie der Wiſſenſchaften 
1850. 150; Gruber: Eberhard I. von Salzburg 53). 
Es wird fomit biefer erfte Streit zwiſchen Folmar und 
Gerhoh auf die Jahre 1154—1157 augujegen fein. 


I. 


Gerhoh in feinem Briefe an Adam von Ebrach hatte 
ben Ausdruck gebraucht: »Divinitas et humanitas vora- 


536 Raltner, 


tur,« und Eberhard bezeichnete benjelben als Erfindung 
und unerhörte Neuerung, welche bet Schule bisher un- 
befannt war. Chriſtus habe fi in Brodes- und Wei- 
nes⸗Geſtalt gehüllt, um uns jeden Schreden bei feinem 
Genuſſe zu nehmen, unb jegt muß man fo „Horrendes“ 
bören! Sagen, daß Chriftus ganz im Sacramente ge: 
noſſen wird, heißt »recte offerre«; aber die Eigenfchaften 
feiner göttlichen und menſchlichen Natur nicht auseinander: 
balten heißt: »Non recte dividere.« Man dürfe jagen: 
„Gott hat gelitten“ ; aber nicht: „die Gottheit hat gelitten ;“ 
ebenfo müſſe man aber aud) jagen: „Chriftus, der Gott 
und Menſch ift, wird genofien,“ aber nicht jagen: „Die 
Gottheit wird genoffen.“ (Pez VI. 1. 453.) Hieraus 
ἐᾷ aud ar, was in Folmars Widerruf die Worte: 
»in humanae substantiae veritate et integritate su- 
mitur« zu bebeutem haben, und warum er nicht veran. 
laßt murbe, ben Unterſchied von »carnem filii hominis« 
und »filium hominis manducare« in feiner ganzen Zwei⸗ 
beutigleit zu widerrufen. Da nun Folmar in feinen 
Theſen fo weit gieng, daß er geradezu behauptete, Chriftus 
als Menſch betrachtet [εἰ nit »naturalis dei filius,« 
fondern fagte »in eo quod homo est, non aliter esse 
filium dei, quam unum ex nobise und leugnete »eum 
resurrectionis gloria et honore ascensionis glorificatum 
paternae aequalitatis gloriam introisse aut introire po- 
tuissee (Migne 1. c. 1532), fo trat et bier bem Ger 
bob, welcher letzteren Gag fein Leben Binburd) verfodit, 
biametral entgegen und fonnte fid) freuen an Eberhard 
von Bamberg, der ibm bisher opponirt hatte, einen 
Bundesgenofjen für die Zukunft zu haben. So ent 
toidelte Π der Streit über bie Glorie und Ehre des 


Folmar von Triefenftein. 537 


Menſchenſohnes, in welchem, um parlamentarifch zu reden, 
Folmar bie Linke, Eberhard von Bamberg das Zentrum, 
Gerhoh aber die Rechte einnahm, während Erzbiſchof 
Eberhard von Salzburg fozufagen bie Präfidentipaft 
führte, aber bei der Schwierigkeit der Frage die Ente 
ſcheidung dem apoſtoliſchen Stuhle überließ. (peg VL 
549). Natürlich) wandte fid) Gerhoh birect nicht gegen 
Folmar, fondern gegen Eberhard von Bamberg; denn 
war biejer geld)lagen, fo war bie Niederlage des Triefen- 
ſteiners felbftverftändlih. Che wir nun dem gefchichte 
lichen Berlauf des Streites weiter verfolgen, wollen 
Toit genauer in bie Punkte eingehen, um melde es fid) 
fanbelte. 

Der gemeinfame Boden, auf welchem fid) beibe 
Gegner, Eberhard und Gerhoh, befanden, war ber Satz 
bes Athanafianums: »Christus aequalis patri secundum 
divinitatem, minor patre secundum humanitatem.« 
Diefem Gate ftellte Gerhoh bie Behauptung des HL 
Hilarius zur Seite: »Glorificaturus filium pater major 
est; glorificatus in patre filius minor non est.« (Migne 
Le. 1163.) Segteren Sag, wenigſtens in der Auffaſſung 
Gerhohs, glaubte nun Eberhard entſchieden zurückweiſen 
zu müffen. vo. 

»Christus secundum quod est homo« ift geringer 
ala ber Vater, behauptete Eberhard; denn bie geſchaffene 
Natur muß offenbar geringer feit al8 der Schöpfer, der 
Sohn geringer al ber Vater, der Diener (servus) ges 
τίπρες al8 ber Herr. Nun aber ift Chriſtus als Menſch 
betrachtet offenbar als servus zu bezeichnen, denn er 
felbft fagt: »Ascendo ad deum meum et deum ves- 
trum«; deus und dominus befagt aber in Gott dad eine 

Ses. Ouariafjärit. 1888. Heft IV. 36 


538 Kaltner, 


und dasſelbe; ebenſo verſichert Chriſtus, er ſei gekommen 
zu dienen, nicht bedient zu werden; Moſes prophezeit: 
»Prophetam suscitabit nobis dominus deus .. tam- 
quam me«, und wiederum lautet im alten Bunde das 
prophetiſche Wort von Chriſtus: »Tu autem domine mi- 
serere mei et resuscita me et retribuam eis.c Auch 
Auguftin faßt Chriftus al8 servus auf, wenn er von 
ihm fagt: »Deus meus sub quo et ego homo sum.« 
(Bey VI. I. 446 ff; 466). 

Gerhoh geht von dem Gedanken aus, bie meni: 
lide Natur müfje doppelt aufgefaßt werben und rebet 
von einer »humanites qua homo est, quaeque hominis 
est et ipsa homo non ést«; e8 ift das bie menſchliche 
Natur an fid) betrachtet, e8 ift »corpus et animac, wie 
er fid an anderer Stelle ausbrüdt; diefe müſſe nun 
wohl unterfjieden werden von ber »humanitas, quae 
homo este und melde er ftet8 verftanden habe, menn 
et fid) des Ausdruckes humanitas bediente. Um Miß- 
verftändniffen vorzubeugen, werde er hiefür homo, oder 
»Christus secundum quod est homo« gebrauchen (Migne 
1.c.1090,1092). Praktiſch genommen dürfe man in Chris 
ftus von der Natur mur im biejem concreten Sinne reden, 
fonft erſcheine die menſchliche Natur als »truncus« ohne 
ba$ »caput subsistentiae«; e8 wird aus bem reellen 
Chriſtus ein »homo fietuse unb biejer ijt dann freilid) 
»minor patre« und »minor seipso.« Wie Gerhoh bier 
das Athanafianum auffaft, zeigen beutlid) folgende Worte: 
»Ubi praedicatur idem homo .. minor patre secundum 
humanitatem, nomine humanitatis natura humana 
qua homo est homo, quaeque hominis est, et ipsa 
non est homo sane intelligitur.« (Migne 1. e. 1090). 


Folmar von Triefenftein. 539 


Im concreten Sinne, wie e$ Eberhard meinte, fónne 
jebod) bieje8 nicht gefagt werden, denn da erjdjeint Gbri- 
fins als »filius dei naturalis.« Dieſes aber ift er ein 
utraque natura; in divina naturaliter, in humana 
mirabiliter, non per adoptionem, sed per naturam« 
(Migne 1. c. 1010; »De investigatione antichristi« 
D. e. 32. 33). Der Unterſchied Liegt nad) Gerhoh nur 
in bem „Wie?“ In feiner göttlihen Natur ift er e8 
»naturaliter quia naturale est omnibus gignentibus 
gignere sui generis prolem sibi connaturalem et con- 
substantialem« ; in feiner menſchlichen ift er e8 »mira- 
biliter quia non in hac deo patri consubstantialis aut 
connaturalis est« und man fid aud) ben DL Geift nicht 
al3 »semen« benfen dürfe (Migne 1. c. 1010). Faßt 
man bier Chriftus als Geſchöpf auf, fo Tönne man ja 
jagen, et fei »in sui conditione« geringer al3 der Schöpfer; 
aber concret genommen ἐξ er nicht »ereatura utcunquee, 
und wenn Auguftin behauptet: »creaturam nunquam 
posse cosequari ereatori«, jo fünne das bod) nicht auf 
bie »ereatura creatori unita« bezogen werden (Migne 
1. c. 1140), von welder man mit Ambrofius fagen darf: 
»Christus non creatura sed creator«! (Pez VI. 1. 509). 

Bei biefer butdjaus concreten Anfhauungsmeife kann 
nun Gerhoh unmöglich zugeben, daß Chriftus al8 Ser- 
vus, bet Vater als fein Herr bezeichnet werde; unb 
zwar nicht nad) ber Himmelfahrt und mod) viel weniger 
vor berjelben. Gerhoh ftellt bier folgenden Grundſatz 
auf: »Quia filius est, justum est, ut in omnibus et volun- 
tatem patris faciat et patri tamquam principio suo 
deferat. Quia vero et filius consubstantialis est, debito 
servitutis non tenetur maxime nunc sacco servitutis 

86* 


540 000 ferner, 


ejus conscisso« (Pez VI. I. 509) Er meifi baher 
aud) alle Gründe zurüd, womit Eberhard bie servitus 
fügen wollte. So fei Deus und Dominus, wenn e8 ab: 
folut bei ber Bezeichnung bes göttlichen Weſens ausge- 
fagt wird, gleichbedeutend, wenn es aber relativ gum we⸗ 
ſensgleichen Sohne ausgefagt wird, ift e8 nicht gleich; 
deßhalb habe’auch Ehriftus Gott immer als feinen Vater, 
aber an feiner einzigen Stelle als feinen Herrn bezeichnet. 
Was bie Stellen aus dem alten Bunde betrifft, jo geht 
e8 ſchon aus dem Gontrafte hervor, daß fie fid) auf bie 
Zeit vor feinem Tod beziehen, auf bie Zeit ber »dis- 
pensatoria humilitas« ; dasfelbe gilt aud) von bem »veni 
ministrare«. Einem jolden Zuftande der Demuth und 
Dienſtſchaft fonnte fid) Chriſtus aus Liebe zu feinem 
Bater unterziehen, er konnte e8 thun als Sohn, er 
mußte es nicht thun als Knecht, alfo mobl in »for- 
ma service, keineswegs aber »in conditione servili«. 
Würbe [egtere8 unabwendbar gum »Christus secundum 
quod est homo« gehören, fo müßte man ja von einer 
ewigen Knechtſchaft reden; ewig aber dauert in Chriſtus 
nur bie »forma servi«, genauer gejagt bie »essentia 
servie, b. b. bie menjdjlidje Natur. Auguftin Tann von 
Chriſtus allerdings jagen: »Sub quo et ego homo sum«, 
weil Jeſus das Mandatum, das et nicht von feinem 
Herren, fondern von feinem Vater erhalten hat, »in for- 
ma servi i. e. in generis nostri natura« »filiali dilec- 
tione«, wenn aud) nicht als Knecht vollzog, Die Worte 
Ehrifti: »Cibus meus est, ut faciam voluntatem patris 
mei« heißen baber bem Sinne nad): »Non meae servilis 
conditionis sed filialis in me dilectionis est εἷος Das 
alles betrachtet Gerhoh als nothwendige Folgerung aus 





Folmar von Triefenftein. 541 


bem Sage: Chriftus ift natürlicher Sohn Gottes, und 
apoftrophirt ben Bischof von Bamberg alfo: » Ne Christum, 
quamvis in forma servi i. e. in natura nostri generis 
sit, sub servili conditione, qua omnis creatura creatori 
obnoxia est vel in eo quod homo est collocetis, nisi 
quod absit . . etiam unjei et naturalis filii nomen et 
dignitatem simul ab eo in eo quod homo est velletis 
abstrahere. Haec enim simul non se patiuntur, ut 
et naturalis atque unicus patris in eo, quod homo est, 
fllius sit et in eodem conditiönalis servus« (Be VI. 
1.504. 509). Es leiftete alſo Chriſtus biefe ‚Knechtſchaft“ 
freiwillig und aus Liebe gegen feinen Vater; er fonnte 
e8 thun gleid) wie einer, der das Gefeg gibt, unter bie- 
Tem Geſetze [eben Tann, fomeit e8 feine Würde zuläßt. 
Daher hat Gerhoh (1. c. 515) folgenden Vergleih: »Non 
alio modo sub deo juxta debitam legem naturae hu- 
manitatis exstitisse asseritur, quam eo modo, quo etiam 
sub lege factus est quamvis ipse promulgaverit legem, 
sub qua nimirum sieut homo fuit non utcunque, sed 
quantum decenter exinanitionis mensurae congruebat. « 

Während Gerhoh in feinem Buche über ben 9Inti- 
drift (II. 42) feinen Gegnern vorwirft, daß fie Chriftum 
als Menſch ganz lostrennen »a divinitatis forma et 
personae subsistentia«, fucht er die Grundlage für feine 
Säße immer in ber bypoftatifhen Union, weßhalb er 
Chriſtum ala »homo assumtus« bezeichnet. Diefe Affum- 
tio ift mim in verborgener, geheimnißvoller Art (»secretiori 
sacramento«) in ber Menſchwerdung vollzogen worden, 
in offenbarer Weife (»manifestius«) aber zeigt fid) diefelbe 
bei der Himmelfahrt. Diefes »assumi« bedeutet [obiel 
wie »ungie: »quia non prius assumtus et postea unc- 


542 Raltner, 


tus creditur, sed ipsa ejus assumtio fuit unctio .. in 
regem regum et in dominum dominantium ita ut 
neque in se neque supra vel extra se habeat altiorem 
se dominum, qui hominem illum assumtum in gloriam 
reputet servum suum« (Pez VI. I. 508). Dabei fagten 
freifid) Gerbobs Gegner, er made aus zwei Naturen 
eine — allein biejer verwahrte fid) dagegen und be 
bauptete, was in Chriftus erichaffen wurde, ift weder 
bei feiner Empfängnis noch bei feiner Verherrlichung 
„abſumirt“, wohl aber zu einer Perfon vereinigt wor: 
ben; denn »Assumtus homo et assumtor ejus deus non 
sunt quidam duo, sed quidam unus »non conversione 
divinitatis in carnem sed assumtione humanitatis in 
deum«« (Migne 1081. 1095). Chriftus alfo ift bei 
Gerhoh »homo assumtus« vor unb nad) feiner Verherr: 
lidung; denn bie Aenderung, welche fid) bei derjelben 
vollzog, ift mur duferlid), das innere Verhältnis bet 
Naturen wird nicht berührt. Eoncret aufgefaßt mar er 
dem Vater gleich vor feiner Glorification, abftract be: 
trachtet fteht feine menfchlihe Natur aud) fpäter unter 
Gott, ijrem Schöpfer (Beg VI. 1. 515); weil Goriftus 
unmögli) bie »conditio servilise nad) feinem Tode Dat, 
Tann et alfo aud) früher fie nit gehabt haben. Eber: 
hard aber dachte: weil Chriftus servus vor feinem Tode 
war, müfje ber Bater fein err aud) nad demfelben 
fein, denn das Wort Deus unb Dominus bedeute gleich- 
viel und Chriftus fage nad) feiner Auferftehung: »As- 
cendo . . ad deum meum et deum vestrum,« und zu 
diefer Stelle bemerfe Auguftin »sub quo et ego homo 
sum.« Ironiſch bemerkt hiezu Gerhoh (l. c. 513): »Per- 
pendat prudentia vestra, quando hoc dixit, adhuc 


Folmar bon Triefenftein. 543 


videlicet ad patrem ascensurus, quando videlicet talem se 
discipulis exhibuit foris, qualis apud eos erat intus«. Wie 
wenig aber Chriftus überhaupt als Servus patris bezeichnet 
werden dürfe, legt Gerhoh in folgenden Gedanken far. 
Nach bem Athanafianum ift »dominus pater, dominus 
filius, dominus spiritus sanctus ; et tamen non tres domi- 
ni, sed unus est dominus«; e8 gibt hier nur ein Dominium. 
Nun hat ber »homo assumtus« bie Zahl der göttlichen 
Perſouen nicht vermehrt, aud) ift derſelbe »cum Verbo, 
quod illum assumsit non duo domini sed unus est 
dominus« ; fomit ift »benedictus ille homo unus illorum 
triume, er ift bet Herr, unb,e8 barf nicht geſchehen, 
daß jener Menſch, melden Gott in fid aufgenommen 
bat, in unferem Glauben außer ober unter Gott geſetzt 
werde. Geringer ald ber Vater war und ift die »forma, 
essentia et natura generis nostrie, geringer al3 bet 
Vater erjdjiem er in ber »mensura exinanitionis«, pet: 
fónlid) aber als »homo assumtus« ift er Herr wie ber 
Vater (Bez VI. I. 507, 508; Migne 1. c. 1081. 1094). 

Ein weiterer, Ctreitpunft zwiſchen Eberhard und 
Gerhoh war die Herrlichkeit des Menſchenſohnes nad 
feiner Himmelfahrt. Erfterer behauptete diesbezüglich, 
bie Knechtſchaft Chrifti, wie fieehedem war), habe 
aufgehört, Chrifti menschliche Natur habe die Eigenfchaften 
der verflärten menſchlichen Natur aud) dem Fleifye nad 
angenommen. War früher feine Gottheit vom Fleiſche 


1) »Dicitis et conetanter affrmatis deum patrem hominis 
assumti deum et dominum existere et non id quidem solum 
de tempore dispensatoriae humilitatis sed et hodie jam . . 
servitutem quandam aeternam assignatis«  Gerhoh ad Eberh. 
Bamb. $e VI. I. 506. 


544 Kaltner, 


verhält, von Leiden verbunfelt, fo tritt biefelbe jebt 
klar hervor und wird allfeitig geglaubt. Das Wort 
Bedas: »Quidquid habet filius dei per naturam dedit 
assumto homini habere per gratiam« fónne am beften 
veranschaulicht werden, wenn man ben »assumtus homo« 
als Vaſall bezeichne (Beg VI. I. 447; 464). Gerhoh 
dagegen fagte mit Hilarius: »Glorificatus filius patre 
minor non est« unb prägifirte diefen Gat in Betreff 
der Glotie mit bem Worten: „Die Gottheit gibt bie 
Glorie, die Menſchheit empfängt biefelbe: in ber Glorie 
felbft gibt e8 aber feinen Unterſchied (»indifferentia est« 
Migne 1. c. 1134). Dabei betheuert Gerhoh, baB er 
die Natur nicht in Abftracto, fondern in Goncteto aufs 
faffe, wovon einige SBerleumber das Gegentheil behaupten 
wollten. Aber ohne SBermijdjung ber beiden Raturen in 
Chriſto war deren Glorie der Größe nad) vollfommen 
gleich, weil biefelbe Herrlichkeit: »Susceptus est non 
per gloriam sed in gloriam« (Migne l. c. 1110). 
Demnach ift Chriftus aud) im biejer Beziehung midt 
Vaſall, fondern Erbe, unb befigt diefelbe Glorie, welde 
er als Sohn von Ewigkeit Der befaß, nunmehr aud) in feiner 
menſchlichen Natur; was ar aus Joh. 17, D folgt, 
100 er »utique...gloriam non Verbo sed carni suae i. e. 
assumto homini postulabat, nam Verbum a sua cla- 
ritate nunquam destiterate (De invest: IL. 41: Bez: 
VI. 1. 478). 

Hatte Gerhoh mit ſcharfen Zügen bie Gleichheit 
ber Glorie bezüglich der Größe hervorgehoben, fo vergaß 
er bod) audj die Unterfchiede nicht. Die Glorie ber gàtt- 
liden Natur if ewig, bie der menjdliden nicht; bie 
Glorie der göttlichen Natur ift »dantis,« jene der menſch⸗ 


Folmar bon Teiefenftein, 545 


lichen aber »aceipientise ; erftere beruht auf der »conditio 
naturae«, leßtere auf der »provectio naturae« ; ift aud) 
Ehrifti »humanitas quae« nicht Vaſall, der zu Gnaben 
empfängt, jonbetu berechtigter Erbe, fo ift bod) bie »hu- 
manitas qua« — im NAugenblide ber Empfängniß gedacht 
»accipiens per gratiam« und zwar ift bieje Gnade eine 
unmeßbare, weßhalb aud) die Glorie, welche fie vet- 
mittelt, eine unmeßbare ift. (Pez VL L 515; 548; 
Migne l c. 1107; 1138). Gerhoh fagt daher (l. c. 
1110): »Natura assumta quidem in divinitatis gloriam, 
sed non assumta per ipsam gloriam, quantum attinet 
ad sui essentiam, secundum quam eliam subjectus est 
ipse filius patri subjieienti sibi omnia, ut sit subjectio 
secundum naturam in filio dei creatam, non secundum 
gloriam . . eidem collatam non ad mensuram per.. 
immensurabilem gratiam.« 

Die Glorie be8 verflärten Chriſtus tritt zumal in 
feinen Eigenſchaften hervor; Gerhoh befpridt diefelben 
an vielen Stellen ftet8 ἐπ’ analoger Weiſe. Um feine 
Anſchauung wiederzugeben, heben toit eine derfelben hervor, 
bie Sapientia. Diefelbe ift bei Chriftus in feiner gött- 
Tidjen und in feiner menſchlichen Natur vollfommen gleich. 
Aber mit Magifter Hugo unterideibet Gerhoh folgenber- 
maßen: »Longe aliud est sapientià sapere atque aliud 
sapientiam esse.« Daraus folgert er: »Divinitas sapi- 
entia est, humanitas sapientià sapit«; in Chriftus ijt 
»sapientia divina et humana aequalis in virtute non 
in natura.« Diefer »Passer solitarius« adhoc »electus 
ex millibus« habet dei sapientiam non utcunque, sed 
quasi truncus caput.« Da Gerhoh zum Ueberfluſſe nod) 
bemerkt, daß diefes von Chrifti Empfängniß an der Fall 


546 Raltner, 


fei, fo ift Leicht einzufehen, wie er die Worte „Er nahm 
zu an Weisheit" erklärt und wie feine Anſichten mit 
jenen Eberhards in ſchroffem Widerſpruche ftanden (Migne 
l. c. 1136, 1163 ἢ). 

Der britte und legte Hauptpunkt, um welchen fid) 
biefe Streitigkeiten bewegten, mar eine nothwendige Fol: 
gerung aus den ſchon beſprochenen Momenten, und be 
traf die Anbetung des Gottmenidem. Haben mit in 
ben vorausgehenden Punkten und mit Folmar menig 
bejdjüftigt, da Gerhoh zunähft ja ben Bamberger be: 
lümpfte, jo müffen wir jet wenigftens wieder auf ihn 
gurüdfomumen. Folmar mat burdjaus Aboptianer, denn 
et lehrte, Chriftus [εἰ al8 SRenjd in feinem anderen 
Sinne Sohn Gottes al3 wie irgend einer aus unà 
(Migne 1. c. 1532). Gott ift ein Geift, fagte er, und 
aus bem Geiftigen Tann nur Geiftiges ftammen; was 
fomit au8 Gott geboren ift, ift Geift, hat nicht Fleiſch 
und Gebein, wie wir e8 von Chriftus als Menſch wiſſen 
(L e. 1100). Daher ift Ehriftus in feiner menſchlichen 
Natur midjt des Vater3 »proprius filius« und hat nicht 
Anſpruch auf die Fülle ber Ehre und Glorie desfelben ; 
er befigt biefe Glorie nicht und er kann fie unmöglich 
befigen (l.c. 1533). Aus folhen Prämiffen leitete nun 
Folmar ganz logiſch den Sag ab, Chriſtus dürfe als 
Menſch nicht angebetet werden (Pez VI. L 548). Wegen 
ber innigen Bereinigung aber, womit in Ehriftus Gött- 
liches und Menſchliches verbunden it, geftand er eine 
Verehrung zu, welche er dulia major nannte (1. c. 510). 
Eine weitere Folgerung war, daß Ehriftus al8 Menſch 
von unà nicht mit jener Liebe zu lieben ift, meldje wir 
gemäß dem großen Gebote Gott allein ſchulden, ſondern 





Folmar von Triefenftein. 547 


mit ber Liebe, melde toit gegen den Nächſten haben 
müjffen; und zwar [egtere8 in einem Maße, wie gegen 
feinen andern Menſchen, weil fein zweiter das gefallene 
Menſchengeſchlecht fo geliebt, mie dieſer „barmberzige 
Samaritan” (Pe; VI. I. 536. Migne 1. c. 1141). Dem- 
ungeachtet geftand Folmar und feine Partei gerne zu, 
Chriftum Gott zu nennen »tropo accidentiae«; denn 
bie Menfchheit Chriſti [εἰ eine »res deo unita« (Pez VI. 
535. 537). Dergleihen Anfichten hatte aber nicht 
Folmar allein, ſondern ein großer Theil der Nominaliften; 
Petrus der Lombarde erwähnt fie bereits in feinen Sen- 
tenzen, allerdings ablehnender Weife, aud) wurden bie: 
felben nicht nur in gelehrten Verfammlungen, fondern 
aud) vor Biſchöfen und Geiftlihen ohne tmeitere8 vot: 
getragen (Pez VI. I. 535. 586). 

Auf diefe extreme Partei ſchwur nun allerdings Eber⸗ 
hard von Bamberg nicht; aber Gerhoh hatte fier nicht 
Unrecht, wenn er ihm bemerkte, bloß jagen, in Ehrifto 
gebe e8 nicht zwei Perfonen, gemüge nit, um den Ne: 
ſtorianismus zu vernichten. Das hätten viele gefagt und 
feien dennoch diefer Irrlehre verfallen, weil fie behaup⸗ 
teten, biejer Menſch (Chriftus) [εἰ nicht »substantive 
deus«, fondern »per inhabitationem«, »non natura sed 
habitu«, unb hinzufügen »nihil assumtum esse deum.« 
Gerhoh hatte an Eberhard aud) geſchrieben, wohin bie 
Unterfeidung von Latria und Dulia führen müfle, ſo— 
weit nemlid), daß ber Menſch Chriftus, während ihm 
nun bie Dulia ermiejen wird, Chrifto ald Gott bie 2a- 
tria erweifen müffe.. Eberhard wies foldje Unterfuhungen 
jurüd, verwarf den Gag, ba man Chrifto »secundum 
quod est homo« nur bie Dulia ſchulde, und betonte, 


548 Raltner, 


man müffe der göttlichen Perfon Jeſu Gorifti die Latria 
erweifen. Trogdem er bie Anfiht des Lombarden mit 
den Stellen des Johannes von Damaskus und des 
Auguftinus citirt, vüdt er mit feiner ganzen Meinung 
nidt heraus, deutet aber diefelbe ziemlich flar an. Ger: 
bob hatte ihn an das Ephefinum erinnert, meldje8 ben 
Ausdrud »eoadorare« verbietet. Das erkennt nun Eber⸗ 
hard mit ber Bemerkung an, ein benfenber Lefer werde 
wiſſen, diefer Ausdrud [εἰ verboten, wenn er fid) auf 
zwei Berfonen bezieht: »nec coadorandum hominem 
deo tamquam diversum in persona dicimus« (jeg VI. 
L 525. 531 f) Die göttliche Perfon Gbrifti darf an- 
gebetet werben, bie göttliche Natur in Chriftus darf 
angebetet werden; die menſchliche Natur in Chriftus 
wird dabei mitangebetet — das war ber Gedanke Gber- 
hards, dem gegenüber Gerhoh den Gat vertheidigte: 
»Patet secundum tenorem praedieti concilii non solum 
in homine assumto in deum deus adorandus, sed et 
ipse homo tanquam deus adorandus una et indissimili 
adoratione, qua praeter Christum creatura nulla est 
adoranda« (Migne 1. e. 876). Daß übrigens Folmar 
biefe Ideen folgerichtig aud) auf bie heilige Cudjariftie 
angewendet habe, ‚wurbe bereit am Anfange biefer 
Abhandlung erwähnt. 

Nachdem wir die Streitpunfte, wie fie fi) im Ver: 
laufe be8 Kampfes entwidelten, dargeftellt haben, geben 
toit in gebrüngter Kürze den meitern Gang und das 
Ende diefer theologifchen Fehde. 

Am 25. September 1158, als Erzbiſchof Eberhard 
von Salzburg und mit ihm Gerhoh in Bamberg waren, 
kam e3 in ber dortigen biſchöflichen Pfalz zu einer Dis- 





Folmar von Triefenftein. 549 


putation. Gerhoh hatte wohl Gefinnungsgenofien an 
feiner Seite, war aber bald ifolirt und fomnte mit bem 
Plalmiften jagen: »Qui juxta me erant, steterunt a 
longe et vim faciebant, qui quaerebant animam meam.« 
Als man darauf in ben Chor zur Gert gieng, betete 
Eberhard von Bamberg zu Gerhohs Ohren [aut : »Defecite; 
biejer aber pfallirte ruhig weiter bis zu den Worten: 
»Narraverunt mihi fabulationes sed non ut lex tua«, 
bie er laut in den Chor Dineinrief. Das fpielte fid) fo 
fort: mährend Gerbob überall betheuerte, er fei in Sam 
berg nicht unterlegen, habe feinen Augenblid nachgegeben, 
fei aber auch nidjt als Sieger hervorgegangen, ftreuten 
feine Gegner aus, er fei ganz unterlegen unb ber Hä— 
tefie überführt worden. Man ſchied im Frieden aus- 
einander, ba Gerhoh auf gutes Zureden der beiden 
Eberharde Hin fid) dazu verftand, feine Schriften nod) 
einmal durchzugehen und zu verbeffern (Pez VI. I. 
476. 478. 486). 

$iemit war aber bie €adje erft recht in Fluß ge 
ratben. Gerhoh entfaltete feine literariihe Thätigfeit 
derart, daß Eberhard von Bamberg ihn einen, wenn 
aud) gelehrten, Schreiber nannte, ber fid) allein als Pro: 
pheten in Israel betrachte und mit feinen Schriften bie 
Winkel der Erde erfülle (Bez VI. I. 446 jf)! Daher 
fam e8 aud) zwiſchen Gerhoh und Eberhard von Bam— 
berg zu einem ziemlich Digigem Briefwechſel. Letzterer 
erjdeint al8 ein geübter Theologe, aber ohne befon- 
dere Tiefe; menn er jagt »apponere curavimus« und 
bg, fo deutet das wohl auf einen Gelehrten hin, δεῖς 
jen er fid) bediente. Sollte das ettoa der Propft Gifel- 
bert von St. Peter in Bamberg getoejem fein, deſſen 


550 . Raltner, 


Tod auf 1171 füllt? Gerhoh fagt, daß fij bie neuen 
Steftorianer auf Magifter Gifelbert berufen, und Binterim 
(l. e. 206) vermuthet darunter einen Deutſchen (Migne 
l e. 1080; SS. XVII. 637). Da übrigens Gerpol 
bie Schriften großer Gelehrter nicht verftehe, ober bie 
fefben abfichtlich miBbeute und bie Begriffe Perſon unb 
Natur verwechfle, man überdies am hellen Tage feine 
Lampe braude, jo erklärte Eberhard den Briefwechſel 
für abgebroden (Pez VI. I. 531). 

Aber nicht nur in Briefen, fondern au in größeren 
Schriften wurden biefe Theſen verfodjten: Eberhard 
von Bamberg fehrieb einen Apologeticus; Gerbob arbeitete 
an einem Werfe: »De gloria et honore filii hominis« 
und verfocht feine Anficht aud) in feinen übrigen Schrif⸗ 
ten, zumal in feiner Pfalmenerfärung nnd in feinen 
Abhandlungen: »De investigatione antichristie und 
»Contra duas haereses« ; überdies ſchrieb Gerhohs Bru⸗ 
ber Arno, Dechant in Reichersberg, nod) ein Bud), gegen 
Solmar (Pez VI. I. 464; Migne 1. c. 1074. 1530). 

Synbefjen entfaltete au Folmar eine vaftlofe Thätig- 
Teit, und ſuchte bem Streite erhöhte Bedeutung zu geben, 
indem er ihn auf das politijdje Gebiet hinüber fpielte, 
Am 7. September 1159 war nemlic bie zwieipältige 
Wahl vor fid gegangen, welche die Kirche in zwei Lager 
zerlegte, in die Partei Alexanders II. und jene Bit: 
tors IV. Se treuer Eberhard von Salzburg und Ger: 
bob zu Alerander hielten, befto fefter klammerten fid) 
bie Gegner an Viktor unb deſſen Gönner flatfer Fries 
drich I. Daher hatte Folmar freies Spiel; e8 glaubte 
berjelbe, ſchreibt Gerhoh (l. c. 1125), gegen und münd⸗ 
lid) unb fehriftlih vorgehen zu können »putans.ille mi- 





Folmar bon Sxiejenftein. 561 


ser, quod ei sit liberum quaecunque voluerit contra 
nos gannire seu garrire pro eo quod sedes apostolica nunc 
est perturbata et quassatur Petri navicula« . .. »haere- 
ticus quasi vulpes demoliens vineam videlicet ecclesiam 
Wirtzelburgensem in qua latitat nectens truffas in. . 
Trufenstain.e Rings Derum verbreitete er Schriften 
„über bie Härefien Gerhohs“ und verſchrie ihn mit 
Erfolg.am Hoflager des Kaifers! 

Im September 1161 tagte eine Synode zu Fries 
fad) in Kärnten, an welder außer Eberhard von Salz: 
burg nod) drei andere SBijjüfe und Gexhohs Brüder 
Arno und Rudiger, Dekan des Kloſters Neuburg, antves 
jemb waren, welche ihn vertheidigten. Man beihloß in 
Glaubensſachen fid) nit an bie „Determinationen ber 
Scholaftifer oder Scholaren“ fondern an jene der Väter 
zu halten und bas Urtheil dem Nachfolger Petri zu 
überlaflen (Pez VI I. 537. Migne 1. c. 1136). Der 
Standpuntt, melden Eberhard von Salzburg vom An- 
fange an in diefer Frage eingehalten, ift bier deutlich 
jum Ausdrude gebradjt. Gerhoh, melder im 17. Ka— 
pitel feines Buches über die Glorie des Menſchenſohnes 
bie Frieſacher Synode erwähnt, erklärte noch immer, 
fid dem Urtheile feines Erzbifchofes zu unteriverfen, 
mun foll unter deſſen Berathern derjenige nicht vorkom⸗ 
men, welcher zur Untergrabung feiner Ehre eine Schmäh— 
ſchrift verfaßt habe; er bitte um diefe Berückſichtigung, 
obwohl er weder den Namen des Verfaſſers, nod) den 
genaueren Inhalt be8 Buches kenne. Je flaret Gerhoh 
erfannte, baf feine Sache von Alerander ΠῚ. ſelbſt 
entf&ieden werben müſſe, defto mehr Briefe ſchrieb er 
an bie Eurie und endlich an den Papſt felbft. So ſchreibt 


552 Kaltner, Folmar von Teiefenftein. 


er an Garbinal Heinrich, fein Alter, die Gefahren des 
Weges und ber faum bejänftigte Zorn des Kaiſers hätten 
ihm wicht erlaubt, perjónfid) zum Papfte nad) Frankreich 
zu fommen; wurde jegt feine Sache günftig erledigt, fo 
wäre eine Ermahnung an bie beiden Eberharde ermünfcht 
»ad assistendum mihi et ad resistendum scholaribus«. 
Aehnlich ſchreibt er an Garbinal Hyacinth, das Collegium 
ber Garbinüle und an Alerander II. 

Im Jahre 1164 am 22. März ſchrieb der Papft 
von Sens aus fowohl an Eberhard von Salzburg als 
an Gerhoh. Gr bezeichnet bie €adje nicht als ſpruchreif, 
ehedem mit beiden Theilen mündlich verhandelt worden 
fei; auch fehe er den Nugen nicht ein, welchen folde 
Kämpfe bringen follen; daher möge man bei bet Lehre 
der Väter und zumal bei dem Athanafianum ftchen bleiben. 
€x verfidert Gerhoh feiner Liebe und bittet ihn hienach 
zu handeln; Eberhard aber beauftragt er zu wachen, 
daß von beiden Parteien ber Kampf eingeftellt werde 
(Beg VI. 1. 898. 399). Da Eberhard von Salzburg 
am 22. Juni 1164 ftarb, hatte er den püpfilidjen Erlaß 
wohl nicht mehr erhalten. Demungeachtet rubte diefer 
Streit in Deutſchland. Wohl aber erlebte Gerhoh bie 
Freude, daß in Frankreich fid) ber Streit zu Gunften 
feiner Anfichten wendete und Eberhard von Bamberg 
wieder zu feinen Freunden zählte. Aber bereits 1169 
ftarb Gerhoh, den bie Nachwelt nit ohne Grund ben 
Großen nannte. 





2. 
Zur Ehronslogie der Gefangenſchaft Pauli. 


Bon Rector Aberle in Coſel. 


Der b. Apoftel Paulus fam von feiner dritten 
Miffionsreife um das Pfingftfeft in Jerufalem an, um 
der dortigen zahlreichen, aber armen Chriftengemeinde 
eine auf feiner legten Reife zuſammengebrachte Kollekte 
zu übergeben. Hier wurde ber Heidenapoftel, ba er 
gerade im Tempel weilte, durch einen fanatifierten Haufen 
von Juden überfallen und wäre von ihnen umgebracht 
worden, hätte fie von biejem frevelhaften Treiben nicht 
der römifche Tribun Claudius Lyſias abgehalten. Nach⸗ 
bem ber Apoftel einige Tage in der Burg Antonia ge- 
fangen gehalten worden, fandte ihn der Tribun auf die 
Nachricht, die Juden fudjten ben Paulus zu töten, zum 
SBrofurator Feliz in Cäfaren. Hier, in der Nefidenzftadt 
des jübijdjen Landpflegers, blieb er zwei Jahre hindurch 
als Gefangener, worauf er in Folge feiner Berufung, 
bie er an ben Kaiſer eingelegt hatte, nad) Rom geſchickt 
wurde. 

Dieſe Nachrichten über den großen Weltapoſtel giebt 
uns ſein Begleiter auf faſt allen ſeinen Reiſen, der 

Xie. Duarfjrit 1888. Seit IV. 37 


554 Aberle, 


Evangeliſt Lukas, in der Apoſtelgeſchichte. So umſtänd⸗ 
lich auch der heilige Verfaſſer viele Teile der Reiſe 
nach Jeruſalem und Rom beſchreibt, ebenſo ſchweigſam 
verhält er ſich über die Zeit, wann Paulus von den 
Juden in Jeruſalem gefangen worden iſt, ſowie über 
das Jahr, in welchem er πα Rom geſandt worden ift. 
Ueber bieje zwei nicht unwich tigen Fragen fehlen unà 
leider aud) anderweitige verbürgte Nachrichten aus ber 
chriſtlichen Urzeit, jo daß mir zu ihrer Beantwortung 
auf die Methode der geſchichtlichen Kombination meiften- 
theils angewiefen find. Wir wollen in vorliegender Ab- 
bandlung daher bie beiden Fragen zu beantworten ver: 
fuden: 
1. In meldem Jahre wurde der Npoftel Paulus zu 
Syerufalem von den Juden gefangen genommen? 
2. In welchem Jahre ift er nad) Rom geſchickt worden? 
Die frühefte Auskunft über die letete Frage, aus 
welcher fid) ſelbſtverſtändlich bie erftere leicht beantworten 
Yäßt, giebt ung ber ältefte Kirchengeſchichtsſchreiber Euſe— 
bins, und feinen Angaben folgt fpäter der in demfelben 
Jahrhundert lebende heilige Hieronymus. Erſterer berich⸗ 
tet in feinem Chronicon ad ann. 55, daß der Npoftel Pau⸗ 
Ius im Jahre δῦ nad) Rom gejdjidt worden fei. Diefer 
ältefte Bericht eines chriſtlichen Schriftftellers ettveifet 
fid) jebod) αἰῶ! als ein glaubwürdiger, aun fomit Feines: 
wegs einer authentifchen Tradition ent[prungen fein, jon- 
dern ift, wie wir mit guten Gründen annehmen dürfen, 
nur dad Refultat einer, auf unrichtigen Vorausfegungen 
angeftellten Berechnung oder allenfalls bie Wiedergabe 
einer falſchen, dem Berihterftatter vorgelegenen Notiz. 
Wir müſſen uns jonad) flar machen, wie Eufebius zu 


But Chronologie ber Gefangenſchaft Pauli. 555 


diefer Angabe, Paulus [εἰ im Jahre 5D mad) Rom ges 
fidit worden, gekommen ift. Wenn der nad) ibm lebende 
heilige Hieronymus in feinem Werke De viris illustribus 
€. 5 ſchreibt: Secundo anno Neronis, eo tempore, quo 
Festus procurator Judaese Felici successit, (Paulus) 
Romam vinctus mittitur, fo märe bieje8 zweite Jahr 
des Nero alfo das Jahr 55, unb bie Duelle, aus wel—⸗ 
Ger Hieronymus feinen Vermerk entnommen, wäre natür- 
Tid) diefelbe, aus welcher Eufebius den feinigen geſchöpft 
fatte; wahrſcheinlicher aber ift, daß Hieronymus diefe 
Quelle nicht im Originale gekannt hatte, fondern feine 
Mitteilung πα Eufebius gemacht hat. Diefer muß das 
Atenftüd ſonach als ein Berihterftatter, dem durch bie 
Gunft des Kaifers Konftantin bie Reichsarchive zur uns 
beſchränkten Benugung geöffnet tourben, vor fij) gehabt 
haben. Daſſelbe ift jedenfalls feiner Kaiſerchronologie 
zu Grunde gelegt geweſen und war mit Bemerkungen 
verfehen, bie fid) auf chriſtliche Gefchichte bezogen. Diefe 
Kaiſerchronologie aber entftammt aus ber Feder eines 
Schriftftellers, welcher, wie v. Gutſchmid entbedt hat, nad) 
der antiochenifchen Zeitrechnung feine Angaben gemacht 
fat, nad) welcher das Jahr am 29. Auguft feinen An- 
fang nahm. Das zweite Jahr des Nero erftredte fid) 
bemnad) vom 29. Auguft 55 bis zum 29. Auguft 56 n. 
Chr. Im erften Jahre des Nero, alfo vom 29. Auguft 
54 bis 29. Auguſt 55 konnte Paulus nicht nad) Rom 
geſchickt worden fein, weil in den erften zwei Monaten 
diefes Jahres Nero, ber ben Felix abberief und an beffeu 
Stelle den Feftus einfegte, nod) gar nicht zur Regierung 
gelommen war, was erft ben 13. Dftober beffelben Jahres 
geſchah, au welchem Tage aber Paulus fon längſt auf 
37* 


556 Aberle, 


feiner Reife begriffen fein mußte. Hingegen bietet bem 
antiocheniſchen Schriftfteller das zweite Regierungsjaht 
be8 Nero größere Wahrſcheinlichkeit zu feiner Annahme, 
daß bieje8 das Jahr ber Romreife des Apoſtels geweſen 
fein mochte. In diefem Jahre, vom 29. Auguft DD bis 
zum 29. Auguft 56 war Nero bereit? lange an ber Re: 
gierung, fonnte jonad) den Felix abberufen haben, und 
Paulus konnte von Feſtus, dem Nachfolger des Qyelir, 
von Güjatea nah Rom abgefandt worden fein. Ferner 
waren vom Jahresanfang, bem 29. Auguft, bis zur Zeit, 
nachdem bie Faften vorüber waren, 23 Tage verfloflen 
(20. September), ein für bie langwierige, ſtürmiſche und 
mit den größten Schwierigfeiten verbundene Seereife 
von Cäfarea biß hinter bie Jnuſel Kreta ins adriatiſche 
Meer ganz annehmbarer Zeitraum, während in den da: 
rauf folgenden Jahren biejer Zeitraum fid) allzulang 
binauszog, und zwar für das Jahr 56-57 auf 42 
Tage, für 57—58 auf 31 Tage. 

Andererfeits Tann aber aud) Eufebiuß feine Angabe 
auf eine Berechnung, melde wir in ihrer Grundlage 
als unrichtig bezeichneten, geftütt haben. Hat er das 
Jahr des Kreuzestodes des Herrn auf 83 m. Chr. be. 
fimmt, fo Tann er folgende Rechnung angeftellt haben: 

Kreuzestod des Heilandes, Paflab . . 33 m. Gor; 
Pauli Belehrung in bemjelben Jahre „ "3 
Pauli Reife zum Apoftel-Conzil fpäter 
umo... 0... . s... s 14 Jahre; 
Sein erfter Aufenthalt in Korinth weitere 14a Jahre; 
bis zum Herbſt; 
Sein Aufenthalt in Ephefus weiter um 2 Jahre; 
aber um Pfingften verläßt Paulus Ephe⸗ 


Bur Chronologie ber Gefangenſchaft Pauli 557 


fus; alfo nod) Aufenthalt in biefet 

Stadt vom Herbft bia Pfingften des 

nächſten Jahres nod) weiter . . . *a Jahr; 
Pauli Gefangennehmung in Jerufalem 

und Aufenthalt in Gájarea bis zum 


Herbft weiter um . . . . 92's Jahr; 
Ankunft in Rom n Frůhling fräter 
um . Ya Sab. 


Hierzu bie geit vom Apoſtel⸗ dorgil is 

zur erften Ankunft in Korinth unb 

von Antritt der dritten Miffionsreife 

bis zum Eintreffen in Ephefus, fotoie 

die drei Monate Aufenthalt in Grie- 

chenland gerechnet, würden für Eu- 

ſebius nod fernere . . . . . . 2 Jahre 

ausgemacht haben. 

So hätte Eufebius erhalten Frühjahr 56 n. Chr., 
in meldem Paulus in Rom angekommen fei; bemmad) 
wäre ber Apoftel im Herbfte des vorhergehenden Jahres 
55 von Gáfatea abgereift. 

Prüfen toir indes diefe Refultate nad) ihrer Ueber: 
einftimmung mit der Geſchichte, fo ftellt fid) heraus, baf 

1) das Jahr 53 nicht das Yahr der Gefangennahme 
des Apoftels fein founte unb 

2) das Jahr 55 ebenjo nit das Jahr ber Abreife 
Pauli nah Rom mar. 

Diefe beiden Thatſachen liegen, wie e8 in der Apoftel- 
geſchichte ausbrüdlich bemerkt ift, zwei Jahre auseinander. 
In feiner Kirchengeſchichte hat Eufebius über die Ge 
fangennahme des heiligen Baulus zu Jerufalem gar nichts 
erwähnt; bie Sendung des Apofteld nad) Rom vetfept 


558 . Aberke, 


er in ben Anfang ber nad) feiner Anfiht milden Re 
gierung be8 Kaifers Nero. Der Annahme mun, Paulus 
fei im Jahre 53 von den Juden zu Jerufalem gefangen 
genommen worden, fteht entſchieden ber Bericht des Jo: 
Tefu8 entgegen, welcher in feinen beiden Geſchichtswerken 
ausdrücklich jagt, daß unter dem Kaifer Nero und bem 
SBrofurator Felix im Zerufalem die Gifarier aufgetreten 
feien, daß ferner der Agyptier die Hauptftadt bes Juden 
lanbe8 zu überfallen drohte und von jyelir in die Flucht 
geſchlagen worden [ei Diefe in ber Apoftelgefchichte 
beider Gefangennahme Pauli ausdrüdlich hervorgehobenen 
Thatſachen konnten fouad) frübeften8 in der erften Hälfte 
bes erften Regierungsjahtes be8 Nero vorgefallen fein, 
alfo in dem Zeitraume vom 13. Dftober 54 bis zum 
Pfingfifefte 55, und mithin Tann als frühefte Zeitgrenze 
für bie Gefangennehmung be8 heiligen Paulus nur das 
Jahr 55, tein früheres, gelten; das Jahr der Abreife nad) 
Rom wäre alddann 57. Indes ift Fein zwingender Grund 
vorhanden zu der Annahme, daß von allen ben Jahren, 
in melden die Gefangennehmung be8 Apoſtels in Jeru⸗ 
falem erfolgen fonnte, gerade das frühefte Jahr 55 dies 
geweſen fein müffe. Nach Joſefus hatte Felix zur Re 
gierungszeit be8 Nero für das Judenland Folgendes 
gethan: 1) Er nahm ben Räuberhauptmann Eleazar, 
ber [don zwanzig Jahre das Land beunruhigt hatte, 
gefangen und befreite Judäa von biejer Plage. 2) Er 
ließ den Hohenpriefter Jonathan durch bie Sikarier um- 
bringen, melde fortan ihre Schredensthaten befonders 
an den Fefttagen in Zerufalem ins Werk feptem. 3) Er 
ſchlug den Aufftand des falfchen Propheten aus Aegypten 
nieder und trieb biejen Aegyptier ſelbſt in die Flucht. 





Zur Chronologie ber Gefangenjdjaft Pauli. 559 


4) G3 entfpann fid) gegen Ende feined Landpflegeraintes, 
uod) ehe fein Nachfolger Feftus im Judäa eintraf, ber 
Streit zwifchen den Juden und Syriern in Cäfaren über 
den 3Borrang in diefer Stadt, meldjer Streit damit en- 
digte, daß beide Parteien ihre Abgeordneten nad) Rom 
an ben Kaiſer fandten, und bie Partei ber Juden ben 
δεῖς beim Kaifer verklagte, infolge deſſen Felir aus 
Judäa abberufen wurde. Um bieje Seit wurde ftatt 
beà Qobenpriefter& Ananias, der nod) aus ben Händen 
des Königs Qerobe8 von Chalfis um 48 fein Amt er: 
halten hatte, Ismael zum Hohenpriefter eingejegt. Da 
die Cyrier eine burd) Burrus vermittelte, für fie gün- 
ftige Entſcheidung be8 Nero mit nad) Haufe brachten, 
woburd ihnen ber Vorrang vor den Juden im Güjarea 
eingeräumt wurde, jo war bie$ ber etfte Anlaß zu bem. 
ſpäter außbrechenden jüdiſchen Kriege gegen bie Römer. 

Unterfuchen wir, ob und in wie weit bieje That: 
faden einen inneren Zuſammenhang haben! Die erfte 
derſelben ift bie Gefangenfegung des berfichtigten Räuber: 
anführer3 Eleazar, wodurch ber Landpfleger bem ihm 
anvertrauten Lande einen hervorragenden Dienft geleiftet 
batte, ba er bafjelbe von einer zwanzigjährigen Geifel 
befreite. Hierauf folgt in des Joſefus Bericht die -Er- 
morbung des Hohenpriefters Jonathan, weil derſelbe 
bem Landpfleger durch feine Öfteren Mahnungen, bas 
Judenland beſſer zu regieren, läftig geworden war. Es 
ift wohl nicht anzunehmen, baß, nachdem Felix für blé 
Verwaltung und Sicherheit im jübijdeu Lande. fo Aner- 
kennenswertes geleiftet hatte, Jonathan gleich darauf 
mit feinen Vorwürfen an Felix herangetreten fei, fo daß 
diefer darauf bedacht war, fid) des lüftigen Warners zu 


560 Ab erle, 


entledigen, zumal Felix kaum 21}. Jahr vorher, feit 52, 
erft in fein Amt durch Fürſprache des Jonathan berufen 
' worden war. Man fann deshalb ben an bem Hohen: 
priefter verübten Mord faum in bie Zeit vor Pfingften 
55 verlegen, unb, ba der Apoftel während feiner brei- 
tägigen Haft in der Burg Antonia nad) dem Pfingitfefte 
von den Sikariern, welche nad) des Jonathan Tode etft 
auftraten, bebroht wurde, jo fann aud) die Gefangen- 
nehmung be8 Paulus nicht am Pfingftfefte des Jahres 
δῦ flattgefunden haben. Danach fónnte nur eines von 
beu Jahren 56, 57 oder 58 das Jahr diefes Ereignifies 
fein; in eines diefer Jahre und zwar vor bem Pfingſt⸗ 
fefte defielben muß aber aud) der Aufftand des Aegyp- 
tiers verjegt werden, ba der Tribun Claudius Lyſias 
act. 21, 38 beffelben Erwähnung thut. Für diefen Auf: 
fand Tann man jebod) aud) nidjt das Jahr 58 als ge: 
eignet anfehen; denn der Tribun fagt zu Paulus: „Bir 
bu uidt ber 9legoptier, der „vor diefen Tagen“ 
Aufruhr erregte? c". Diefe Beitangabe deutet bod) an, 
daß bie Gefangennehmung des Apoſtels und der von 
bem Aegyptier erregte Aufftand nicht in unmittelbarem 
Bufammenhange geftanden haben konnte; e8 mußte zwi: 
ſchen beiben Ereigniffen ein erheblicher Zeitraum Liegen; 
e8 Tonute ber Aufftand früheftens 57 ober 56 flatige: 
funden haben. Denn Felix war bei ber Dämpfung des 
Aufruhrs in Jerufalem jelbft zugegen, während er bei 
Pauli Gefangennahme in Gájarea, wohin ber Tribun 
den Apoftel zu ihm fandte, ben Gejdjüften der inneren 
Verwaltung oblag. 
IR mun der Aufruhr burd) ben Aegyptier in ben 
Jahren 56 ober 57 geichehen, jo bietet fid) ein weiterer 





Bur Chronologie ber Gefangenfäaft Pauli. 561 


Anhaltspunkt für bie Beftimmung des Jahres, in mel: 
dem Paulus zu Jerufalem gefangen wurde, das Geſetz 
bes Nero, wonach e ben Stadthaltern und Profuratoren 
in den Provinzen verboten wurde, Zirkusfpiele und Tier- 
gefechte zu veranftalten, ba εὖ befannt geworben, bafi 
diefe Beamten in ihten Gebieten fid) arger Gelderprei- 
fungen ſchuldig gemadjt hatten. Der Tribun Claudius 
Lyſias Degte unter anderem aud) die Befürhtung, er 
möchte in üble Stadyrebe kommen, daß er von Paulus 
habe Geld annehmen wollen, weßhalb er ben gefangenen 
Apoftel zu feinem militäriihen Vorgefegten, dem Felix, 
nach Cäfarea ſandte. Warum hätte ber Tribun erft 
diefe Zucht in fid) auffommen laſſen ſollen, wenn nicht 
bereits durch ein Gtaat&gefet.ben Beamten die Annahme 
von Geld, um fid) dadurch beftechen zu laſſen, verboten 
gewefen wäre? Seinen vorgefegten Befehlshaber, ben 
Landpfleger Felix, hätte er fier nicht zu fürchten brau= 
den, ba berjelbe fid), wie der heilige Lukas ausdrüdlich 
ermähnt, getabe bieje8 Vergehens am Paulus beharrlich 
ſchuldig madte, was uns keineswegs befremben Tann, 
wenn mir ben bittern Tadel berüdfichtigen, womit Ta- 
citus biejen Sandpfleger geifelt, indem er ihn als eine 
Sklavenſeele mit jeder Art oom Graufamfeit und Will: 
für ſchildert (hist. 5, 9). Ein Mann von diefem ECha- 
after ſcheute dann aud) nicht die Zumiderhandlung gegen 
ein foeben erlafjenes Staatsgeſetz, er, ber mit füniglidjet 
Machtvollkommenheit jdjaltete und in der Gunft des fpri- 
tijden Statthalter Ummidius Duadratus fid) fidjer fühlte 
vor jenen üblen Nachreden, welche jeim eigener Unter: 
gebener ihm gegenüber allerdings fürchten mußte. Das 
genannte Gejeg erließ aber Nero im Jahre 57 (Tac. 


562 Werte, 


annal. XIII, 31), wahrſcheinlich wohl nicht in ben erften 
Monaten vor bem jübijden Pfingfifefte. 

Sonady wäre ba8 Jahr 58 dasjenige, welches fid) 
als das Jahr der Gefangennebmung des heiligen Apoftels 
Paulus in Jerufalem als das wahrſcheinlichſte nachweiſen 
Täßt. 

SBerüdfidtigt man ferner, was Lukas über δεῖς 
act. 24, 25 jagt, baf biefer námfid), da Paulus von 
ber Gerechtigkeit, der Keuſchheit und bem künftigen Ge 
richte vor ihm und feinem Weibe Drufilla redete, zitterte, 
fo f&eint uns diefer Vorgang im Gemüthe be8 Land: 
pflegers nur dann erft recht erflárlid), wenn wir annehmen, 
et babe über diefe, den Heiden unbefannte Tugenden 
und Wahrheiten mur durch. fein Weib Druſilla, die ja 
eine Jübin war, Kenntnis erhalten und nicht bloß Kennt: 
nis, fondern fo genaue Unterweifung, daß er zu einem 
Glauben an diefelben gelangt fei, ber im Gemüte fon 
fefte Wurzeln geſchlagen haben mußte. Iſt aber Felit 
im Jahre 52, wo er von Tacitu3 als Sflavenfeele mit 
jeder Art von Graujamfeit und Willkür harakterifitt 
wird, und too er mit der Heldin Drufilla, der Enkelin 
de3 Triumvirs Markus Antonius und ber ägyptiſchen 
Königin Kleopatra, verheiratet tar, feit feiner wahrſchein⸗ 
Tid) 53 erfolgten Verbindung mit der andern Drufila, 
der Schwefter des frengjübijden Königs Agrippa II, 
bis zu bem Zeitpunkte, wo Paulus jene eindringlide 
Rede vor ihm bielt, zu diefem nicht heidniſchen, ſondern 
ſpezifiſch judiſch⸗chriſtlichen Glauben gefommen, fo muß 
dies das Ergebniß von mehreren Jahren Beobachtung 
und Belehrung gemefen fein, das nur während feines 
Zuſammenlebens mit ber Jüdin Drafllla zu ftande kommen 





Zur Chronologie ber Gefangenjdjaft Pauli. 563 


fonnte. Hatte alfo der Landpfleger fid) früheftens im 
Jahre 53 mit biejer Drufila verbunden und fid) duch 
baà Zufammenleben mit ihr von ben genannten {πο 
Hriftlichen Wahrheiten [o durchdringen laffen, daß er 
bei deren Verkündigung jo auffallend gurüdbeben mußte, 
ſo fonnte bieje innere Umwandlung faum in der kurzen 
Zeit bis zum Jahre 55 oder 56 oder 57 fid) vollziehen; 
wir müſſen für diefen Fall, wo wir e8 nicht mit einem 
zu thun haben, ber den guten Willen zur Belehrung an 
den Tag legt, fondern mit einem verhärteten, fündhaften 
Menfchen, der unter dem Ginbrude eines burd) heilfame 
Religionslehren aufgeiheuchten Gewiſſens fid) befindet, 
ben möglichft Längften Zeitraum annehmen, bis wohin 
biefer innere geiftige Prozeß fid) zu einem foldjen Grade von 
Empfindung ausgeftalten konnte. Hierfür aber werden ung 
nicht zwei ober drei Jahre genügend erfcheinen, fondern wir 
werden mindeftens fünf Jahre al8 erforderlich erachten 
müffen, einen Zeitraum, gegen befjen Ende hin der Proku- 
rator nad) einem im Judenlande thatenreichen, aber aud) 
äußerft Tafterhaften Wirken fid) den ruhigen Geſchäften 
ber Verwaltung hinzugeben im Stande mar. 

Wir müflen weiterhin aud) bie Vorgänge in ber 
Familie der Drufilla, des Weibes von Felix, in Betracht 
ziehen! In den Jahren 52, 54 und wahrſcheinlich bis 
in bie etften Monate von 55 war ber König Agrippa II, 
der Schwager be Landpflegers, in 9tom ; befjen Schwefter 
Berenice, wegen deren Neides Drufilla fid) zu der Ber: 
bindung mit Feliz vorzugsweife drängen ließ, lebte jeben- 
falls in Zerufalem, war alfo nod) Witwe ihres Oheims, 
bes im Jahre 48 verftorbenen Königs Herodes von Chal- 
kis; fie geriet aber in den Verdacht, mit ihrem Bruder 


564 Aberle, 


unerlaubten Umgang zu pflegen, weshalb fie für das 
einzige Mittel, dieſe üblen 9tad)reben zu unterdrüden, 
eine Wiedervermählung hielt unb zwar mit Polemo, bem 
Könige von Pontus. Wann fann diefe Wiedervermählung 
ftattgefunben haben? Iſt Agrippa, ihr Bruder, bis 55 
in Rom gemefen und hierauf in feine burd) Nero ver: 
größerte Herrſchaft zurückgekehrt, fo Tann feine Schweſter 
erſt von dieſem Jahre ab durch die nächſtfolgenden der 
Deffentlichkeit eine Veranlaſſung zu ber genannten böfen 
Nachrede gegeben haben. Das Ehebündniß der Berenice 
mit Polemo fonnte alfo einige Jahre nad) 55 abgeſchloſſen 
worden fein. Ein genauerer Anhaltspunkt für diefe Be: 
gebenbeit ift vieleicht au8 der Bemerkung des Joſefus 
in beffen Geſchichtswerke: Die jübilden Altertümer, 
Bud) XX, c. 7 zu entnehmen, worin der Verfafler fagt, 
Berenice habe nad) bem Tode des Herodes, ihres Gatten, 
lange Zeit als Witwe gelebt; im nächſten Kapitel jagt 
Joſefus von der berüchtigten Gemahlin des Kaifers Glau- 
dius, ber Agrippina, ebenfalls, daß diefe nad) bem Tode 
ihres vorigen Gatten Domitius Ahenobarbus bis zur 
Wiederverheiratung mit dem Kaiſer Claudius lange Zeit 
im Witwenftande gelebt habe. Da nun Domitius ftatb, 
als Nero, fein Sohn, drei Jahre alt mar (Sueton. Nero 6), 
was 40 ber Fall war, und Agrippina fid) mit Claudius 
im Jahre 49 vermählte (Tac. ann. XII, 7), fo können 
wir analog biefem beftimmt angegebenen Zeittaume aud 
den Wittwenftand ber Berenice 9 ober 10 Jahre dauernd 
annehmen; ihre Hochzeit mit Polemo hat bemnadj wahr: 
féeinlid im Jahre 57 oder 58 ftattgefunben. Währte 
auch dieſes eheliche Verhältniß nicht lange, fo wird es 
bod) nicht vor bem Jahre 59 gelöft worden fein. War 


Bur Chronologie ber Gefangenfhaft Su 666 


wun Berencie im Jahre 58 bei ihrem Gatten, bem Könige 
SBolemo, fo folgt daraus, daß ber Apoftel Paulus fid) 
in diefem Jahre nicht vor ihrem Bruder, bem Könige 
Agrippa II, an befjen Seite fie mit erſchienen war, ver- 
tfeibigen fonnte, der Apoftel aljo zwei Jahre zunor, 56, 
in Jerufalem nicht gefangen worden if. Da wir bieje8 
Ereigniß aud) nicht in die Jahre DD oder 57 vermeijen 
tönnen, fo ergiebt fid) mit größter Wahrſcheinlichkeit das 
Jahr 58 als dasjenige ber Gefangennehmung des Apo- 
ftels Paulus. Ein günftiges Licht verbreitet über bieje 
Annahme das, was Joſefus über ben zwiſchen den Juden 
und Syriern in Cäfarea ausgebrocheuen Streit berichtet. 
Derfelbe entwidelte fid) gegen das Ende des Landpfleger- 
amte8 von Felixr und wurde in Rom vor dem Kaifer 
Nero entjdjeben, nachdem $yelir bereits feines Poftens ᾿ 
entjegt und zur Verantwortung wegen ber an ben Juden 
verübten Ungerechtigkeit in Rom eingetroffen war. Wie 
Joſefus bemerkt, hätte Nero, ber für die jüdiſche Partei 
günftig geftimmt war, ben δεῖς für feinen Amtsmißbraud 
büßen lafen, hätte benfelbeu fein Bruder Pallas, 
ber damals im höchften Anfehen ftanb, nicht fo glänzend 
verteidiget; ja der ftaijer würde fogar eine bem cäfare= 
enfijden Juden günftige Cntjdeibung getroffen haben, 
wenn dies nicht die [prijd)e Partei burd) den von ihr 
beſtochenen Burrus Dintertrieben hätte. Nero war aljo 
zu biefer Seit den Juden bejonber8 geneigt, und diefe 
Stimmung be8 faijer8 fónnen wir zurüdführen auf 
beffen enge Beziehungen zu der bem Judentume ergebenen 
Poppäa Sabina, melde ber Kaifer, nad)bem er jeit 58 
ein bublerifches Leben mit ihr geführt hatte, im Jahre 
62 ebelidjte. Sie war εὖ aud, auf deren Fürſprache 


566 Aberle, 


im Jahre 62 die von Feſtus nach Rom geſandten zehn 
vornehmen jüdiſchen Bürger aus Jeruſalem die Erlaub⸗ 
nis vom Kaifer erhielten, bie auf der meftlichen Seite 
be3 Tempels erbaute Dauer ftehen laſſen zu Dürfen, deren 
Niederreißung ber Landpfleger bereits aubefohlen Hatte. 
In diefe vier Jahre von 58—62 muß aljo bie Abbe- 
Tufung be8 Welir aus Judäa und feine Verteidigung im 
Rom burd) Pallas, jotoie ber Entſcheidungsſpruch des 
Nero für bie Syrier aus Gájarea verlegt werden. Als 
Pallas feinen Bruder Felix vor Nero vertheidigte, war 
Selig bereits feines Landpflegeramtes entjegt. Feſtus 
war fidjer im Jahre 62 Landpfleger in Judäa; in biejem 
nämlihen Jahre aber Konnte Felir, fein Vorgänger, 
. midt feines Amtes entjegt worden fein; denn ſowohl 
Pallas, fein Bruder, durch defien Vermittelung er von 
dem ftaijer Nero freigeiprodhen wurde, al3 aud) Burrus, 
welcher den heidniſchen Abgeordneten aus Cäfarea ein 
ihnen den Vorrang vor den Juden guerfennenbe8 Schrei- 
ben ausmwirkte, jdjieben in diefem Jahre aus bem Leben 
und zwar erfterer an Gift, das ibm ber Kaifer heimlich 
hatte beibringen laffen; Pallas genof fonad) in biejem 
Jahre nicht des höchften Anſehens, fo daß er feinem 
Bruder Selig bie Freifprehung hätte ermirfen Können. 
Wir milffen bemnad) bie Abfegung des Felix in bie beiden 
vorhergehenden Jahre 61 ober 60 verlegen. In jedem 
biefer Jahre Tann aber die Ankunft des Feftus nur vor 
bem 1. Tiſchri ftattgefunden haben, ba der Apoftel 
Baulus lange vor ben in biejem Monate beginnenden 
Saften von Cäſarea nad) Nom abgejandt worden war; 
Seius traf alfo vor dem Ende be8 Auguft eines ber 
beiden Jahre im Judäa ein. Nach ben Berichten des 


Zur Chronologie der Gefangenſchaft Pauli. 567 


heiligen Sufa$ (act. 25, 1—23) waren es bie erften 
Regierungsgeſchäfte des neuen Landpflegerd, daß er 
fofort mad) feinem Amtsantritte die Angelegenheit des 
in Güjatea gefangen gehaltenen Apoftels zu ihrem Auß- 
trage zu führen fuchte. Er begab fid) deßhalb 3 Tage 
mad) feiner Ankunft in Cäfarea in die Hauptftadt Jeru- 
ſalem, bielt fid) dafelbft 8 ober 10 Tage auf, kehrte 
mad Cäſarea zurüd, um 1 Tag fpäter zu Gericht zu 
fibeu über Paulus; mad) Verlauf einiger Tage, etwa 
8 bis 10 Tagen, tam der König Agrippa II mit Bere 
nice, um ben Feſtus zu begrüßen, nad) Gájarea, und 
nachdem beide fid) mehrere Tage, etta wieder 8—10 
Tage dort aufgehalten hatten, hielt Zeftus 1 Tag ba- 
rauf die große Verſammlung im Verhörſaale ab, in 
welcher ber Weltapoftel feine glänzende Verteivigungs- 
tebe wor bem Könige Agrippa II hielt. Weber allen diefen 
Vorgängen war aljo der Zeitraum von mehr als einem 
Monate verflofien. Sonach mußte Feſtus fpäteftens in 
ber zweiten Hälfte be8 juli in Judäa angelangt fein; 
zu biefer Beit war aber Felix bereit8 mad) Rom abge- 
reif, während die Vornehmften unter beu jübijden Ein- 
wohuern in Gájarea nicht [ange nad) des Feftus Ankunft 
fid nad) Rom begeben, um ben geli wegen feiner an 
den Juden verübten Ungerechtigfeiten beim Kaifer anzu: 
Hagen; ihre zugleich mit ihnen angefommenen heidniſchen 
Laudsleute erlangten burd) be8 Burrus Umtriebe das 
kaiſerliche Anerkennungsſchreiben für ihren Vorrang in 
Gájarea. 

Beide Parteien werben alsdann mad) verrichteter 
Cade nod) im uümliden Jahre ihre Stüdreije in bie 
Heimat angetreten und beendet haben. Dieſes Segtere 


568 Aberle, 


jedoch muß noch vor des Apoſtels Paulus Abreiſe von 
Cãſarea geſchehen fein, weil fie ſonſt denſelben Gefahren 
und Verzögerungen ausgeſetzt geweſen wären, bie bie 
Reifegefellihaft des Apoftel3 bald von Anfang der Meer- 
fahrt an betroffen hatten. Darum müfjen wir ben Beit- 
punkt für die Ankunft des Feftus in Judäa nod) minbeftens 
einen Monat früher, etwa in bie Mitte Juni anfegen. 
Bor diefem Termine mußte fid) nod) während der Land- 
pflegerihaft des Felix ber Streit in Gájarea zwiſchen 
den bortigen jübijden und heidniſchen Einwohnern ent- 
ſponnen haben, mußte ber Profurator bei einem ausge- 
brochenen Straßenfampfe bie Juden haben niebermegeln 
und ihre Wohnungen den Soldaten zur Plünderung über- 
lafien haben, mußte er bie Vornehmften aus beiden 
Parteien nad) Rom zur Verfehtung ihrer Auſprüche 
gejandt haben (b. j. I, 18, 7), mußte an Stelle des 
Ananias ber Hohepriefter Ismael in feine Würde ein- 
gelegt worden fein, mußten endlich bie Hohenpriefter, 
Ananias unb Jsmael, ihr frevelhaftes Treiben verüben, 
indem fie, um bie Zeit der Ernte, zwiſchen bem Pafjah 
und Pfingften, ihre Anechte auf bie Tenne fandten, um 
bie den Prieftern gebührenden Zehnten wegzunehmen. 
Alle bieje Vorgänge fonnten fid, da fie noch zur Zeit 
des Felir vorfielen, nur vor bem Juni bieje8 Jahres 
und von bem Pafjah ab ereignen. War das aber das 
Jahr 61? Eine andere Notiz des Joſefus läßt dafür 
einen wohlbegründeten Zweifel zu. Derfelbe berichtet 
nämlich, daß der neue Landpfleger Feſtus gegen bie 
Sikarier, melde zu einer furditbaren Menge und ſchreck⸗ 
lihen Gemaltthätigteit emporgefommen waren, Krieg 
unternommen habe. Diefe Meuchelmörder, welche Dörfer 





Zur Chronologie ber Gefangenſchaft Bauli. 569 


und Fleden verwüfteten, haben fid) beſonders an den 
Seften unter die in ben Tempel zufammengeftrömte 
Volksmenge gemifcht und fehr viele niedergemacht. Wel- 
ches fonnten aber diefe Fefttage fein, welche jo unermeß- 
lidje Bollsmafien in Jerufalem zufammenführten? Nur 
Paſſah und Pfingften! An diefen Feften des Jahres 
61 wäre aber Feftus nod) nicht in Judäa gemejen und 
bod) mußte bie8 ber Fall fein, wofern zu feiner Zeit 
bie Meuchelmorder die feftlihen Tage durch ihr ruchloſes 
Treiben entweihten. Demnach muß Feſtus bereits am 
Paſſahfeſte des Jahres 61 in Judäa geweſen fein, falls 
unter feiner Regierung bie Gilarier ihre Schandthaten 
im Tempel verübten und er gegen fie mit kriegeriſchen 
Maßregeln einfchreiten mußte. Wir haben deßhalb einen 
tooblberedjtigten Grund, des Feſtus Ankunft in Judäa 
in das Jahr 60 zu verfegen, in weldem Jahre denn 
απῷ Felix aus feinem Amte gejchieden if. Bis zum 
Sommer biejea Jahres, wo Felix nod) Judäa verwaltete, 
und von mo an Feſtus dahin ankam, fonnteu alle bie 
oben erwähnten Vorgänge fid) ereignen; Feftus brachte 
gleich nad) feiner Amtsübernahme die Sache des Apoftels 
zu ihrem Austrage, und im nächſten Jahre 61 Tonnte 
er gegen bie Meuchelmörber einfchreiten, bie unter feiner 
Regierung an den Fefttagen, Paſſah und Pfingften, ben 
Stempel in der von Zofefus geſchilderten Weife entheiligten. 
In diefem nümliden Jahre 61 fonnte dann aud) bet 
König Agrippa daran benfen, jenes weitläufige Gebäude 
auf ber ehemaligen Burg der Hasmonder aufzuführen, 
nah defien Vollendung bie jyuben erft bie Mauer an 
ber Weftfeite be8 Tempels erbauten, als fie gemwahrten, 
baf ber König, auf feinem Polſter liegend, die Vorgänge 
Xe Ouaztalfgrift. 1888. Heft IV. 88 


570 Aberle, 


beiden Opferhaudlungen im Heiligthume beobachten konnte. 
Beide Bauwerke brauchen denn auch nicht in ein und 
daſſelbe Jahr verlegt zu werden; ſonach Tounten aud) 
bie Juden ihre Abgeordneten im. nächſten Jahre 62 nach 
Rom abjenden, um ihre Beſchwerde bei dem Kaifer απ: 
zubringen und die Erlaubniß zum Stehenlafien der 
Mauer burd) der aijerin Poppäa Bermittelung zu er- 
wirken. Iſt nun das Jahr 60 dasjenige des Wechſels 
im Sandpflegeramte des Felix unb Feftus, jo ift e8 aud) 
be$ Jahr, in teldem ber heilige Apoftel Paulus von 
Letzterem uad) Rom geſchickt worden ift, und ber Apoftel 
iW alsdaun zwei Jahre zuvor von ben Juden in Jeru- 
jalem gefangen genommen worden. 

Es erübrigt nun mod, zu unterjudjem, ob die An- 
kunft des. Felix zu Rom in das Jahr 59 verfegt werden 
könne. In diefem Jahre, und zwar in den legten Tagen 
be8 März legte Nero einen der ärgften Beweife feiner 
Unmenſchlichkeit ab, ba er feine Mutter umbradjte, Die 
graufame That wurde pollbradjt von ihm zu Bajä, wo— 
rauf et, von Gewiſſensbiſſen umbergetrieben, fid) nad) 
Neapel begab, unb endlich, al8 er fid) ber unverändert 
ibm zugethauen Gefinnung des Senates und Volles zu 
Rom verfidert hatte, nad) der Hauptftadt zurückkehrte. 
Darüber konnten wohl mehrere Monate verfloffen fein, 
fo daß der faijer etwa um die Mitte des Juni wieder 
in Rom: fein fomnte. An biejem Seitpunfte hätte aber 
auch Feliz, wenn er 59 abgejegt worden wäre, vor Nero 
erſcheinen Können. Würde aber Pallas, fein Bruder, 
in. bet Lage fi) befunden haben, feine Freiſprechung zu 
vermitteln, er, ber ehemalige Genoſſe ber Zafter Agrippi- 
168, der von ihrem Eaiferlichen Sohne ermordeten Mutter, 





Zur Chronologie ber Gefangenfdjaft Pauli. 571 


in beffem Andenken bie Blutthat noch viel zu {τ Φ, bie 
Erinnerung an bie einftige Buhlerſchaft des Pallas nod) 
viel zu lebendig war, als baf ber Kaifer ihm gerade 
in diefem Zeitmomente be& höchſten Anfehens gewürbiget 
hätte, befjen er nad) Joſefus ausbrüdlicher Bemerkung 
fid erfreute? Zwar lag Nero nichts mehr am Herzen, 
als bie Gunft ber Deffentlichkeit fid) unverkürzt zu erhalten; 
indes war er aud) darauf bedacht, menigftens in ber 
dem Morde unmittelbar folgenden Zeit, alle es vergelten 
zu laffen, welche mit Agrippina in irgend einer vertrauten 
Beziehung geftanben hatten. Darum dürfen toit aud) 
nicht annehmen, daß des Pallas Anjehen jo unverkürzt 
geblieben jei in ben für unfere Fragen entjcheidenden 
Monaten des Jahres 59, welchem wir die Eigenfhaft 
nicht einräumen fómnem, dasjenige zu fein, in welchem 
Pallas feinen hohen Einfluß für feinen in Ungnade ges 
ſallenen Bruder δεῖς bei Nero geltend machen konnte. 
Demnach bleibt ba8 Jahr 60 das für uns einzig mögliche, 
in welchem die Abberufung des Felir erfolgen konnte, 
in welchem ſonach der heilige Apoftel Paulus von bem 
neuen Sandpfleger Feftus nad) Rom geſchickt worden ift. 
Faſſen wir am Schluffe unfere Unterfuhung über bie 
beiden uns befdjüftigenben Hauptfragen zufammen, fo 
ergiebt fid) Folgendes: Das Jahr der Gefangennehmung 
des Apoftels Paulus burd) bie Juden in Jeruſalem 
ann frübeftens da3 Jahr 55 und fpäteftens das Jahr 
60 fein. Jenes aber fann nicht al8 Seit für bie Ge- 
fangennehmung betrachtet werden, ba diefem Ereignifie 
zu viele andere Begebenheiten vorhergegangen find, welche 
einen weit größeren geitraum erfordern, als die wenigen 
Monate von dem Regierungsantritte des Nero bis zum 
88" 


572 Ab erle, zur Chronologie ber Gefangenfdjaft Pauli. 


Pfingftfefte des nächſten Jahres, Das Jahr 56 lam 
aber ebenfo wenig dasjenige fein, in defien Pfingftfefte 
der Apoftel gefangen genommen wurde, weil zwei Jahre 
darauf Berenice nidt in Cäfaren antvejeub fein konnte; 
ebenjo kann dem Jahre 57 die Eigenfchaft nicht zuge 
ſprochen werden, das Jahr für bie Gefangennehmung 
des Apoftels zu fein, weil zwei Jahre fpäter, im Jahre 59 
Pallas kurz nad) der Ermordung der Agrippina nicht das 
höchſte Anfehen bei Nero genofien haben fonnte, mit 
welchem er hätte feinem Bruder Felix ein freifprechendes 
Urteil erwirten fünnen. Aber aud im Jahre 59 if 
Paulus nicht in Jerufalem gefangen worden; denn zwei 
Jahre fpäter, 61, wo er nad) Rom hätte müffen geſchidt 
worden fein, war Feſtus die ganze Dauer Dinburd in 
Judäa. Demnach bleiben al8 höchſt mabrideinlid) und 
durchaus nidjt amfedjtbat die beiden Jahre 58 und 60 
beftehen al8 diejenigen, in denen fid) jene beiden Bod 
wichtigen Thatfahen in bem Leben des großen Welt: 
apoftelà zugetragen haben, unb zwar das Jahr 58 für 
bie Gefangennehmung des heiligen Paulus in Zerufalem 
und das Jahr 60 für feine burd) Feftus nad) Nom an 
ben Kaiſer Nero erfolgten Sendung. 








3. 


Ueber ben Betrieb ber Hebräifhen Sprache an Gymnafien 
und theologiſchen Lehranftalten. 


Bon Prof. Dr. Q. fim in Würzburg. 





Die hebräifche Sprache übt unleugbar einen geheim: 
nißoollen Zauber auf den Menfchengeift, namentlich auf 
den empfänglihen Sinn der Jugend aus. Die Gründe 
liegen nahe. Iſt fie bod) die Driginallpradje ber alt: 
teftamentlihen Offenbarung, in ber unà die midjtigften 
Urkunden über Welt: und Menfchenihöpfung, über ben 
Urfprung und die Folgen be8 Böfen, über die Erwäh— 
lung und Führung des Bundesvolkes erhalten find, aus 
welchem ber Schlangenzertreter zur Erlöfung des Men— 
ſchengeſchlechts hervorgehen follte. Ueberdies erregt bie 
Neuheit der Schriftzüge, bie Schreibweiſe von ber Rechten 
zur Linken, der poetifche Charakter und Bilderreihthum 
der Bibel, wohl aud) ba8 Verlangen, die Geheimſchrift 
der Juden fennen zu lernen, in der fie noch heute beten, 
bibbern, fdjadjern, nicht blos bei Theologen, bie fidj mit 
ben Schriften „des Mofes und der Propheten“ pflicht⸗ 
gemäß näher befannt zu machen haben, fondern aud) bei 
anderen wißbegierigen Jünglingen und Männern die Be- 


674 aihn, 


gierde, aus dem Borne ber geheimnißvollen Dffenbarungs: 
quelle zu trinken. 

Aber faum haben fie genippt, fo verfiecht ſchon ber. 
Tprubelnbe Fluß der Begeifterung im Wüftenfande. Der 
Lehrer müht fid) ab, mit Liebe unb Grnft die ermatteten 
Roßlein durch öde Steppen zu führen, aber bie meiften 
brechen entmuthigt zufammen, wur wenige traben alle 
Strapagen veradjtenb, fröhlich an feiner Seite und laben 
fid mit Luft an der lieben Lebensquelle des göttlichen 
Wortes. 

Was ift wohl der Grund des tajd) erfaltenben Ei: 
fers, des frühen Siechthums unb Unmutes fo vieler be: 
geifterter Jünger bes Hebräifchen? 

Sicher nicht geradezu die Ungeſchicklichkeit des Lehrers 
oder bie genugfam befriedigte Neugierde der Schüler. 
Aber vielleicht die Schwierigkeit der und Indogermanen 
frembartigen femitifhen €pradje? An unb für fid ge 
wiß aud) das nicht! Trägt ja das Qebrüijde das Ge: 
präge hoher Urfprünglickeit, großer Einfachheit und 
Reinheit der Formen und hat in ben einzelnen Bildungen 
biefen feinen altertümlihen Charakter bewahrt. 

Würde, eine gute Methode des Lehrers und prattijde 
Lehrmittel vorausgeſetzt, nur ber zehnte Theil ber Zeit, 
welder an ben Opmnafien auf das Sateinijdje verwendet 
wird, für. das Hebräiſche angefegt, jo fónnte jeder begabte 
Schüler beim Weggang vom Gymnafium das alte Teftament 
one Zweifel mit Geläufigfeit im Urterte lefen, ja er 
würde manches profaifhe und poetiiche Gtüd desfelben 
bereit8 gelejen haben, mo er bas Neifezeugniß für beu 
Uebertritt an eine Univerfität oder am eine theologiſche 
Lehranftalt erhält. 


Die hebraiſche Sprache an Gymnafien. 516 


In Bayern liegen bie Verhältniſſe nicht fo günftig 
wie in den Nachbarländern. In Württemberg wird ber 
hebräiſche Unterriht am Gymnaſium 4 Jahre lang in 
wöchentlich 2—3 Stunden mit Energie betrieben, und 
werden mit den jugendlichen Schülern fehr günftige Re— 
fultate erzielt. Auch in Preußen wird das Hebräiſche 
drei Jahre über in wöchentlich 2 Stunden gelehrt, und fteht 
es ben Schülern frei, beim Gymnafialabfolutorium hier⸗ 
über ein Gramen abzulegen, und das tun oftmals dies 
jenigen, welche fid) der Theologie zu widmen gedenken. 
Nicht bloß Theologen von Zah, aud) den anderen 
Schülern ift dag Studium des Hebräifchen zur Erlangung 
formeller Bildung von größtem Nugen. Wohnt ja diefer 
Sprade eine gleiche Bildungskraft und Logifche Conſequenz 
inne, tie ber Mathematif. Dem Philologen unb Ge- 
ſchichtsforſcher ift bie femntmif des Hebräiſchen heutzus 
tage, wo auf bie Spradvergleihung hervorragendes 
Gewicht gelegt wird, faft unentbeDrlid. Sie bietet ihm 
nicht bloß ben Schlüfjel zum leichten Verftändniß ber 
übrigen femitifhen Sprachen, fonberu aud) zur etymolo= 
giſchen Erläuterung vieler in bem griechiſchen und latet: 
mijden flajfifern vorfommenden Wörter. Nur wenige 
Philologen werden fid) bewußt fein, daß die Namen 
Barkas, Hannibal, Haftrubal, Herkules, Aeskulap und 
viele andere auf femitifchen Urfprung zurüdzuführen find, 

Aus diefen und vielen anderen Gründen ift das 
Hebräiſche an bayerischen und an auswärtigen Gymnafien 
— in Defterreid) findet am den Öymnafien ein folder 
Unterricht überhaupt nicht ftatt — viel zu febr vernach⸗ 
läfftgt, ba bei Exlernung von Sprachen in fpáterem Alter 
felten etwas Erfprießliches geleiftet wird, wenn nicht in 


576 fin, 


jungen Jahren mit den Elementen ber Grammatif und 
mit Aneignung eines Wortſchatzes der Grund biezu gelegt 
if. In einer Lehrftunde wöchentlich, wie e8 hie und 
da bei uns gefchieht, ift nichts zu erreichen. Ein folder 
Unterricht ift, wie Nägelsbach in feiner Gymnafialpäda- 
gogit bemerkt, in jeglidjem Fade frudjtlo8, da bis zur 
nádjften Stunde vergefien wird, mas in ber voraußgehenden 
gelehrt worden ift. Das gilt vom Hebräiſchen um fo 
mehr, ba ben Schülern bei der herrſchenden Weberbürbung 
mit anderem Lehr: und Lernfioff Taum einige Zeilen 
ſchriftlicher Hausaufgabe zugemuthet werden fónnen, und 
die Üebungen hauptſächlich während der Schulzeit anzu: 
ftellen find. 

Gewohnlich wird in Bayern das Hebrätfche in einem 
Unterrihtöfurfe von 4 Ὁ εἰ Wochenſtunden zwei Jahre 
über natürlich nicht als obligater, fondern als fakulta— 
tiver Lehrgegenftand betrieben. In zwei Yahrgängen 
biefe8 Unterrichts nun ergeben fid) 2X40x2=160 Lehr: 
ftunben, während dem Lateiniſchen in den 5 erſten Jahren 
wöchentlich 10 (40x 10x 5=2000), in den zwei nächſten 
mwöchentlih 8 (40x8x2=640), in ben zmei oberften 
Klaſſen je 7 (40x 7X 2— 560), in Summa 3200 Stunden 
zugetheilt find, aljo 20 mal foviel Zeit gewidmet wird 
als ber hebräifhen Sprache. Für biefe liegen überdies 
die Lehrftunden in der Regel febr ungünftig, fo baf 
fie nad) Ermattung der Schüler erft von 11—12 ober 
am Nahmittage abgehalten werden, ober fie fallen auf 
nicht felten butd) Feiertage und dgl. aus. 

Aber aud in diefer befhräntten Zeit von 160 Stunden 
läßt ſich Erkleckliches leiften, wenn fid der Lehrer einer 
praktiſchen Methode bedient und hierin burd) ge: 


Die hebraiſche Sprache an Gimnafien. 577 


eignete Hifsmittel unterftügt ift. Mein an bem 
Mangel folder liegt ber Hauptgrund des Scheiterns 
günftiger Erfolge beim Hebräiſchlernen. Die bidleibigen, 
mit [hwerverftändlichen Regeln und Kleinigkeitskrämereien 
überladenen Grammatiten hemmen beim Fehlen aller 
oder geeigneter Uebungs- und Lefeftüde die gewünſchten 
Fortſchritte der Schüler und ermeden bei ihnen, teil 
fie mit Theorie überfättigt werden und vergeblich nad) 
dem Schriftworte lechzen, Unluft umb Widerwillen. An 
folden Grammatifen jdeitert bie Gejdidlidfeit ſelbſt 
be8 beften Lehrers namentlid) bann, wenn e8 ben 9[n- 
fängern des Qebrüifden, mie an Gymnaſien in ber Regel 
der Fall ift, am Driginalterte der Bibel und an einem 
Handleriton gebriht. Will er analyfiren, jo muß er 
Zeit und Kraft unnüg verſchwenden, um bie Zöglinge 
butd) das dunkle Labyrinth verworrener Regeln hindurch⸗ 
zuführen, oder er muß ftatt beffen die Quinteſſenz des 
dort bunfel ober meitläufig Gefagten in wenigen Sägen 
faflid) biftirem ober enblid) die Regeln immer wieder 
mündlich vorbeflamiren, melde dann trogdem mur in 
der Luft hängen und bald wieder vergefjen find. 
Andere Grammatifen verfallen in das entgegenge- 
fette Extrem, fie faffen fid) kurz, theilen aber Paradigmen 
und Regeln jo mangelhaft und abgeriffen mit, baf e8 
dem Schüler unmöglich ift, bei der ſelbſt verfuchten Analyfe 
des Textes ben gewünſchten Aufichluß zu finden und auf: 
fteigenbe Zweifel zu löfen. Exempla sunt odiosa. Ueber⸗ 
dies bieten bieje Elementargrammatiken ftatt zufammen- 
hängender SBibelterte gewöhnlich nur abgerifjene Säge als 
Uebungsftüde, melde Lehrern und Schülern Seit koſten, 
den erwarteten Genuß und Erfolg aber vorenthalten. 


578 Rihn, 


Eine Grammatif, welche Anfpruc auf das Prädikat 
machen will, eine gute zu fein, muß meines Erachtens bie 
wiſſenſchaftliche und praftifhe Methode verbinden und 
die befagten Mißſtände vermeiden. Die Regeln müflen 
einfad) und Kar bargeftellt, aber mit ſyſtematiſcher Gründ: 
lichkeit in aller Kürze vorgetragen fein. — leid) am Anfange 
müſſen Abſchnitte aus der heil. Schrift eingeftreut werben, 
bei welchen zur Erleichterung und Selbftübung des Schülers 
mebft der Ueberfegung bie Ausſprache in Tranfkription 
beigegeben ift. Ich halte e8 für beffer, wenn dieſe erften 
Nebungsftüde ftatt zuſammenhangsloſer Säße fofort leichte 
Terte aus der Bibel felbft enthalten. Auch follten fid) 
bieran fofort zur Verwerthung des Wörterſchatzes einige 
Weberfegungsftüde aus der Mutterſprache ins Hebräifche 
anfchließen, weilan ihnen bie Sprachgefege zum beutlicheren 
Bewußtſein der Schüler und zur größeren Sicherheit 
gebracht werden, Diejes Bedürfniß hat ion Gefenius 
gefühlt, ber außer dem Lehrgebäude, der Grammatik 
und dem vortrefflichen hebräiſchen Leſebuch ein deutih: 
bebräifches Ueberſetzungsbuch fchrieb. Doch dürfen diefe 
Uebungsftüde zum Uebertragen in ba8 Hebräiſche nicht 
butdj bie ganze Grammatik fortlaufen, fondern nur fo 
Tange fortgefegt werden, bi der Schüler zur felbftändigen 
Lektüre der Bibel mit Ausfhluß der unregelmäßigen 
Verben befähigt ift. Auch dürfen diefe Stüde nicht zu 
groß und zu zahlreich fein; fouft werden fie ein Hemm⸗ 
ſchuh für die Schüler, welche hiemit bie Seit verbringen, 
ftatt den Zweck und das Ziel, nämlich die Lefung ber 
heiligen Schrift in der Urſprache, zu erreichen. 

Da die Anfänger auf der erften Lehrftufe, wenigſtens 
bevor fie das tfeologi[dje Stubium beginnen, meber bie 





Die hebrätfhe Sprache an Gymnaſien. 579 


Mittel zur Beſchaffung eines hebräiſchen Bibeleremplars 
und Handlerifons befigen noch auch Luft haben, folde 
umfangreiche Bände, ba fie ohnedieß mit Sebrbüdjern 
überpadt find, am bie Studienanftalt zu ſchleppen: fo 
ift e8 dringendes Bedürfniß, ber fnapp abgefaßten Schul: 
grammatif eine Kleine Debrüijde Anthologie mit Wort⸗ 
tegifter beizufügen, und darin follen meines Erachtens 
fteben: Die erften Kapiteln der Genefià über Welt- und 
Menihenihöpfung, Sündenfal und Protoevangelium (c. 
1—3), die Berufung Abrahams (Gen. 12, 1—10), der 
Bund Gottes mit Abraham (Gen. 17, 1—11), Abra: 
hams Prüfung unb Gehorfam (Gen. 22, 1— 19), bie 
Geſchichte Joſephs -(Gen. 37), bie Berufung des Mofes 
(Exod. 3, 1—15), der Defalog (Exod. 20), jebod) in 
der gefürzten Faſſung des Katechismus, und das Vater: 
unfer aus bem neuen Teftamente (Matth. 6, 9—13). 
Segtere8 ift au8 der Londoner Ausgabe des N. T. zu 
entnehmen. Endlich einige poetiſche Stüde, etwa bie 
Pfalmen 1. 2. 8. 8. 15. 72 hebräifcher Zählung. Hieran 
haben die Schüler befonderes Wohlgefallen, unb id) habe 
erlebt, daß einzelne nad) vierwöchentlichem Unterricht den 
erften Pſalm, melden ih als Leſeübung an ber Tafel 
tranſtribirt hatte, ohne alle Aufforderung ihrem Gedächtniſſe 
volftändig eingeprägt hatten. Wie leicht wird auf dieſe 
Weiſe eine Copia verborum erzielt! ebenfalls darf 
der Lehrer bie Kreide nicht fparen. Ich halte e8 für 
nötig, bep Anfängern das Alphabet wiederholt vorzu: 
ſchreiben und auf gemifje Handbewegungen und Kunft: 
griffe in Darftellung der Schriftzüge aufmertjam zu machen. 
Ale Regeln, [don die vorläufigen Bemerkungen über 
Shwa, Dageſch, Mappit, Makleph, Metheg, Accente 


580 Kihn, 


u. dgl. find an Beifpielen an ber Tafel zu erläutern 
und too möglich mit deutſchen Spracheigenthümlichkeiten 
zu vergleichen, wie dies Gefenius in feinem Lehrgebäude, 
welches alle Grammatifen an Klarheit übertrifft, häufig 
thut. So 3. B. Tann ba3 Schwa mobile an ber 9tu3- 
fpradje der Wörter Magd, ϑ τῷ, ber in Altbayern oft 
vorfommenben Namen Vogl, Schmidl, Stingl u. dal. 
erflärt werden. Bei den Begadfephath Tann auf bie 
verſchiedene Lefung des Buchſtabens g in Gegend, gen 
Himmel u. dgl. verwiefen werden. 

Ich habe nur zwei Grammatifen gefunden, melde 
ben geftellten Anforderungen annähernd entſprechen: 1) Das 
Glementatbud) der Debrüijden Sprache von Seffer, 
eine Grammatik für Anfänger mit eingeldalteten, ſyſte— 
matiſch georbneten tlebetjeBung8- und anderen Webungs: 
ftüden, mit einem Anhange von zufammenhängenden 
Sefeftüden unb den nöthigen Wortregiftern, gunddjft zum 
Gebraud) auf Gymnafien gefchrieben, zu bem verhältniß- 
mäßig billigen Preis von 4,50 M. (214 öfterr. fl.), bei 
Branbdftetter in Leipzig. Sechſte Aufl. 1878/Befonders Lob 
verdient ber große, fette Drud der hebraifchen Webungs- 
ftüde. Schon auf Seite 6 begegnet uns eine hebräiſche 
Leſeübung, freifi nur in zufammenhangslofen Sägen, 
auf Seite 11 das erfte Ueberfegungsftüd ins Hebräifche, 
aus drei Zeilen beftehend: „Ein gerechter König mar 
David" 2c. Daß fid) bieje Stüde durch die ganze Formen: 
lere δίδ zur Syntar €. 199 fortziehen, Tann ἰῷ aus 
bem angeführten Grunde nicht billigen. Auch bürften 
die Regeln über die Elementar- und Formenlehre, ſowie 
über bie Syntar durchſichtiger und bündiger gefaßt fein. 
2) Schilling, Nouvelle Méthode pour apprendre 





Die hebraiſche Sprache an Gymnafien. 581 


la Langue Hébraique, Librairie Briday, Lyon, Paris. 
1883. Diefe in franzöſiſcher Sprade abgefaBte Gram: 
mati zur Erlernung be8 Hebräifhen wird ber beut[de 
Verfaſſer, der frühere Profeſſor an bem katholiſchen Gym⸗ 
nafium zu Colmar im Elſaß, hoffentlich bald in deutſcher 
Ausgabe erſcheinen laſſen und. hiemit bie oben gewünſchte 
Anthologie nebit Lerifon verbinden. Dies famn ohne 
Vermehrung der Seitenzahl gejdjeben, ba eine Raumer- 
fparung burd) Kürzung ber Syntar und duch Sufammen- 
ftellung ber Paradigmen ber Verba am Schluſſe ber 
Grammatik erzielbar ijt. Im Uebrigen liegt uns bie 
oben gewünſchte gute Methode in Schilling Grammatik 
vor. Das Buch zeichnet fid) durch Wiſſenſchaftlichkeit 
und praktifche Anlage, burd) einfadje und klare Darlegung 
der Regeln aus. Bahlreihe zufammenhängende 
Leſeſtücke aus ber BL Schrift find von €. 6 bi8 zum 
Ende des Buches €. 223 eingeftreut. Diefe werden nad 
vorgängiger Aufführung des hebräifchen Textes fofort in 
3 Spalten zur Faßlichkeit des Schülers gebracht und zwar: 
€. 6: Texte Prononciation Traduction. 


€. 15: Texte Traduction Accents. 
©. 18: Texte — Traduction Syllabes. 
€. 20: Texte —— Traduction Analyse, 


und fo mit der letzteren Dreitheilung im ber Folge bis 
zum Schluſſe des Buches. 

Ich zweifle nicht, daß eine deutiche Bearbeitung 
dieſes Lehrbuches freudig begrüßt und alsbald an vielen 
Gymuafien, Lyceen, Seminarien und theologiſchen Schulen 
Deutſchlands und Oeſterreichs Eingang finden wird. Möge 
fid) der Verfaffer burd) bieje anerkennenden geilen Diegu 
beftimmen laſſen. 


4. 
Der geſchichtliche Abſchnitt Jeſ. c. 36—39. Erläuter- 
ungen defielben durch aſſyriſche Keilinſchriften. 





Bon Prof. Dr. Himpel. 


Schon längft ift der Abſchluß ber Jeſaianiſchen Weif: 
fagungen c. 1—85 durch den hiſtoriſchen Abſchnitt, deſſen 
Stellung und etwaiges Verhältniß zum folgenden ein 
zufammenhängendes Ganzes bildenden Theil Gegenftand 
der Unterfuhung für Sole geweſen, denen die Abfolge 
ber Abſchnitte des Buches nicht als Spiel be8 Zufall 
gilt. Die Bedeutung be8 fraglidjen Abſchnittes liegt 
darin, dab Israel in ibm in Contact mit bem beiden 
Weltmächten erſcheint, welche feit Jahrhunderten Vorder: 
afien abwechſelnd beherrſchten, deren eine, bie aſſyriſche, 
nachdem fie das Sebnftàmmereid) zerichlagen hatte, nun 
mehr zum entſcheidenden Schlag aud) gegen das zeitweilig 
um bie Gunft Aegyptens buhlende Südreich Juda aus: 
holt, welcher burd) eine höhere Macht abgetoenbet mird, 
während bie andere, die uralte babyloniſche, gerade 
damal3 mit neuen Kräften gegen Afiyrien, das von ibt 
ausgegangen, fid) erhob, Juda als SBunbesgenoffen zu 
terben fucht, deſſen Könige Hiskia fid) unheimlich nähert 


Himpel, Jef.c.36—39 erläut. darch affprifche Reilinfcheiften. 583 


umb ſcheinbar arglos bie erften Fäden zu bem Siege 
fpinnt, das über ein Jahrhundert fpäter fertig gemacht 
über Juda fid) unzerreißbar zufammenzieht. Leber all 
dem Getriebe, feinen Verwicklungen und Bewegungen fteht 
erhaben der Prophet, mit ſcharfem Auge biefe[ben mefjend 
und beherrſchend, ein göttliche Bürge der Rettung feines 
Volkes vor bem Afiprer für die Gegenwart, unb gugleid) 
des ſelbſtverſchuldeten Fünftigen Untergangs duch ben 
Gbalbáer. Die belebten €ceuen dieſes Geſchichtsdrama's 
mit feinen bedeutenden Perſönlichkeiten haben durch ben 
glücklichen Umftand bedeutend gewonnen, daß gerade für 
diefen Abſchnitt der Gedichte Israels bie Keilinſchriften⸗ 
forſchung fid) fer ergiebig erwiefen hat, und bie bem 
Boden be$ alten Ninive enthobenen literavijden Schäge 
manchen biblijden Bericht in neue ungeahnte Beleuchtung 
ftellem Wie Vieles bie Schriftforfhung der neuen Wiffen- 
"schaft jegt ſchon verdankt, wo fie quantitativ und quali- 
tatio nod) erheblich fortzufchreiten hat, ift an ihrer Beihilfe 
für Aufhellung des genannten Abſchnittes ganz befonders 
erſichtlich. 


Il. 

Wiederholt bejdjáftigt den Propheten bie aſſyriſche 
SRadt im Verhältnik zum Volk Israel, und daß fie 
auf dem Boden Zuda’ in ihren Anschlägen gegen daffelbe 
fid an der Macht eines höhern Willens breden werde, 
war von Jeſaia fhon c. 10 in Ausficht genommen. 
Dieb mitb e. 28 ff. mieder behandelt, nachdem darauf 
durd bie SBerfünbigung des Niedergangs ber andern 
Völker (c. 13—27) vorbereitet worden unb nun bie Zeit 
der Verwirklichung der Kataftrophe näher gekommen ift, 


584 Himpel, 


Dem Gedanken, daß nicht menfdjfide Kraft unb Mittel 
ba8 Bolt vor drohender Feindesgefahr errette, wird 
nun, madbem König Achas (c. 7) denfelben ſchnöde zu: 
zurückgewieſen und bie aſſyriſche Macht gegen feine Feinde 
angerufen, aufs neue vielfältiger, ergreifender Ausbrud 
geliehen, und an König Hiskia (f. 729) findet der Prophet 
eine beflere Stätte für fein Wort von der alleinigen 
Durchhilfe Gottes. c. 36 f. wird bie in allem flimmende 
Probe auf die bisher dargelegte Rechnung vorgebracht, 
ber faktiſche Erfolg ber Lange fortgefeßten Thätigkeit des 
Propheten, wie derjelbe erft, aber dann in unerwartet 
volftändigem Maße, gegen Ende be8 Lebens beider, bem 
König und dem Propheten zu Theil wurde, und die 
auf Afiyrien gehenden Weiffagungen fid) in Rettung Juda's 
und furdtbarer Demüthigung be8 mächtigen Gegners 
erfüllten. Aber [o vortrefflich die beiden Kapitel ſachlich 
an ihrer Stelle find, wie bie Probe auf die Rechnung 
folgt, und zwar hier auf eine ziemlich Lange und ſchwierige, 
fo find fie bod) chronologiſch verftelt und follten ben 
beiden folgenden (88 f.) nachſtehen, melde jebod) als 
vorwärts, bem Exil entgegen weifende aud) ihrerfeits ſach⸗ 
Tid) wieder den richtigen Plag einnehmen. Indem bier von 
einem genauern Nachweis des Logifhen Zuſammenhangs 
von 36 f. mit den vorangegangenen, und befjelben von 
38 f. mit ben nachfolgenden Kapiteln abgejehen ift, 
wird bie chronologiſche Abfolge der beiden Geſchichts⸗ 
abjdjnitte eingehalten, und das ihnen Gemeinjame vor: 
angeftellt. Dieß ijt bie eit jammt der Zeitlage San: 
beribs und feines Vaters Sargon, des aſſyriſchen Groß: 
fünig8 und das Verhältniß be8 gefammten hiſtoriſchen 
Theiles (36—39) zu feiner im Ganzen genauen Parallele 


Sel. c. 36—89 erläutert burdj afſhriſche Keilinſchriften. 586 


2 Kön. 18, 13 bis 20, 19, fomie zu ber abgefürzten 
Darftellung in 2 Gron. 32, womit bie Acchtheitsfrage 
zufammenhängt. 


I. 

Sargon (Sarrufin, b. b. felt ift der Fürft) herrſchte 
mad) dem ptolemäifchen Regentenfanon von 722—705 
über Afiyrien. Bis vor wenigen Jahren war bie Be— 
merfung Jeſ. 20, 1, daß Sargons Oberfeldherr damals 
Asdod im Philifterland belagerte und eroberte, das 
Einzige, was man von biejem König wußte, deſſen Eriftenz 
darum vielfach in Zweifel gezogen wurde. (8 ift zunächſt 
das SBerbienft beg framgüfijdjen Conſuls Botta und ber 
von ibm ſchon in den 40ger Jahren zu Khorſabad, notb- 
öflih von Moful angeftellten Nachgrabungen und ber 
Entdedung zahlreicher Infehriftplatten in feinem gewal⸗ 
tigen Palaft ber von ihm erbauten ninivitijden Nordftabt 
(dur Sarrukin: Sargonsftabt), daß jept beinah bie ganze 
Regierungszeit dieſes Königs in ununterbrodhener Folge 
der Thaten und Ereigniffe vorliegt. Durch Kunftfinn 
(erfindungsreihe Mufter fein durchgeführter Bildwerke 
und vollendete farbige Cmaillirung der Backſteine in [εἰς 
nem Balafte) und Kriegstüchtigkeit gleich hervorragend 
Tämpft er mit Elam=Perfien, zwingt im Weften bie 
phönizishen, philiftäifchen, israelitifchen Städte zur Unter- 
werfung, nöthigt felbft Aegypten zur Tributleiftung 
(S. 715, Schrader a. D. €. 397), tritt ſchiedsrichterlich 
im Norden in Thronftreitigfeiten Armeniens auf, ernies 
drigt Babylonien zum Vaſallenthum und gründet aud 
bier feine Königshertichaft 709. Sargon und nidt Sal« 
manafjar, mit dem er gewöhnlich ibentificirt wurde, 

Wedl. Qusstalfgrift. 1889. Qeit IV. 89 


586 Dimpel, 


vollendete gleich anfangs feiner Regierung (ris sarruti) 


die Eroberung Samaria’s, 722, weldje bie Bibel 2 fu. 
17, 25 dem Burüfter, Beginner unb Fortführer derſelben 
bis ins dritte Jahr, dem Vorgänger Salmanaflar zu- 
ſchreibt, ba er jedenfalls bie meiften Anftrengungen dafür 
gemacht hatte. Inder großen Prunkinſchrift (Botta—Fland. 
145, 1) fagt Sargon: „Die Stadt’ Camirina belagerte 
ἰῷ, nahm id) ein; 27280 ihrer Bewohner führte id) fort, 
50 Wagen von ijuen nahm id, ihre Habſeligkeiten lief 
ἰῷ (Andere) nehmen ; meinen Statthalter fegte id) über 
fie, den Tribut des vorigen Königs legte ich ihnen auf.“ 
Betätigung hiefür geben bie nod) ausführlicher darüber 
handelnden aber febr verftümmelten Sargon'ſchen Annalen, 
wo aud) von Auſi⸗Hoſea, bem legten König des Nord» 
reichs die Rebe ijt, den ſchon Salmanafjar gefangen ge- 
nommen hatte. Wohin der König bie Weggeführten 
verbradyt habe (2 Kön. 17, 6), melden bie Jnſchriften 
nicht, wohl aber wird gefagt, daß der König Babylonier 
mad) bem Land ber Chatti, und Leute aus verſchiedenen 
Stämmen, aud) arabiſchen, nad) dem Lande des Haufes 
Dmti, b. h. Samarien, verpflanzt habe. Nach der Bibel 
fatte Sargon nod) feine Berührung mit Juda — εὖ 
wird einfach über ihn gefchwiegen. Der auf 720 fallende 
Zug gegen Aegypten, auf bem aud Hanno von Gaza 
enttrohnt wurde, [djeint Juda nicht näher betroffen zu 
baben, das in den Augen bes Großkonigs nicht minder 
als Bajallenftaat galt, wie Samarien und andre Kleine 
Neiche der Weftlande, Anderes, und nicht faktiſche Krieg- 
führung, mag daher aud) bie in Nimrud gefundene Ju: 
ſchrift in den Worten: „Ich (Sargon) unterwarf das 
Land Juda, defien Lage eine ferne“, nicht befagen; fonft 


Jeſ. c. 86---89 erläutert burd) afſhriſche Keilinfcriften. .587 


hätte ber rubmrebnerilde König ganz anders geſprochen. 
Die wie zufällige Notiz Jeſ. 20, 1 erhält au8 den In— 
ſchriften wieder volle Beleuchtung (Schrader a. D. €. 
398 ἢ), au8 ber fid) ergibt, daß bie dort berührte 
Empörung Asdods in Verbindung mit einem geplanten 
Krieg 9legppten8 gegen Affyrien ftand, den erftere8 bei 
bem glüdlidjen Vorgehen der Afiyrer dann unterlieh. 
Sym 11. Jahr feiner Regierung, 711, jegte er bem König 
Azuri von Asdod ab, erobert diejes, befjen Einwohner 
ben von ihm eingejegten Bruder Azuri's Ahimit verjagt 
hatten. Der von ihnen erhobene Jaman war nad) Ober- 
ügppteu entflohen, wurde aber an Sargon ausgeliefert. 
707 Hatte Sargon feinen Palaftbau vollendet und 705 
ward er ermordet. 

Es gilt nunmehr als evidentes Refultat der For- 
{hung auf bem Gebiet ber ninivitifhen Dentmale, womit 
der Kanon bes SBtolemáus übereinftimmt, da& auf Sargon, 
ben Eroberer Samaria’3 ("Apxeavdg des Ran., nad) welchem 
er 709 aud) ben Thron von Babel beftieg), am 12. Ab 
(Suli) b. 3. 705 fein Sohn Sanherib auf bem Thron 
gefolgt fei (af. Sin — ahi — irba, b. 5. Sin, der Mond» 
gott, al3 Gott ber Fruchtbarkeit, ſchenkt der Brüder viele) 
und bis 681 regiert habe. Das aſſyriſche Reich beftand 
unter ihm nod) in voller Kraft fort, denn während et 
Aegypten gegenüber nod) nidjtà ausrichtete und im Streit 
wider Juda fogar eine ſtarke Demüthigung erlitt, welche 
dem Propheten, ber fie vorausgefagt, immerhin als fiheres 
Unterpfand endgültigen, (nad) feinem vollen Jahrhundert 
wirklich erfolgten) Untergangs diefer Weltmacht erſcheinen 
mußte, mar er im Often um fo glüdlider. Er unter 
warf bier Babylon, das unter Sargon auf längere Beit 

80" 


688 Himpel, 


feine Unabhängigfeit behauptet hatte, wieder ber aſſyriſchen 
Dbergemalt, melde ber Sohn Aſarhaddon fogar auf 
Aegypten ausbehnte, das ber Enkel Afurbanipal (Sar⸗ 
banapal ber Griechen) vollends unterwarf. Seinen Palaſt, 
ber an Ausdehnung wie Pracht und Driginalitüt bet 
feinen Sculpturen nod) über bem Sargons zu Chorfabad 
ftebt, batte er in ber Weftftadt, zu Kujundſchik in Ninive, 
Moful gegenüber (Kaulen, Afiyr. u. Babyl. 2. 4. 
Herder, Freiburg 1888. € 35). Neben der Bibel, 
Alerander Polyhiftor (Eufeb. Chron., eb. von Mai, I, 
18f.), Abydenus (ebdaf. IX, 25 f.) und dem fo werthvollen 
ptolemäifchen Kanon hat man jegt ala Hauptquelle über 
Sanherib eine große Anzahl von Inſchriften auf Stein: 
platten, Thoncylindern, Badfteinen, aud) eine Juſchrift, 
bie zu Bavian, nördlich von Ninive, in den Fels einge: 
bauen ift. Die wichtigſten davon für die biblifhe Ge 
ſchichte find (Die Keilinſchriften und das Alte Teftament, 
von Gb. Schrader 2. X. 1883, ©. 286 ff.) die große 
Inſchrift auf dem beragonalen Thoncplinder (ſ. g. Tay: 
lor:Eylinder), mit Goamnberib8 acht erften Feldzügen, 
eine bis zum dritten Feldzug reichende Parallele auf einem 
von Raffam gefundenen Gplinber, aus dem Eponymat eines 
Mitunu (Jahr 700); dazu eine Heine Sujdrift über einem 
Bilde, bie den König Sanherib auf einem Throne figend 
und jüdifche Gefangene empfangend barftellt; auf einer 
Inſchrift findet fid) aud) die Unterwerfung Juda's, ſowie 
des Königs Hiskia furg erwähnt. Darnach geftaltet fij 
ein veichhaltiges Bild diefes bis zu Erſchließung ber 
neuen Quellen auf ninivitifhem Boden nur ganz wenig 
befannten königlichen Eroberers, daS hier in Burgen Zügen 
eine Einrahmung des bibliihen Geſchichtsgemäldes geben 


Jeſ. c. 36—89 erläutert durch affori[dje Keilinfchriften. 589 


mag. Ein ausgedehnter Aufftand der Völker in Oft unb 
Weſt insbefondere Chaldän’s begleitete bie Ermordung 
feines Vaters Sargon 705; nad) Bänbigung des Auf- 
ftanbes in Babylonien fegte.er hier den Belibus als 
SBicefómig ein; „den Sohn einer Weisheitäfundigen in 
der Nähe der Stadt Suanna, welchen man wie einen 
Tleinen Hund in meinem Palafte erzogen hatte, beftellte 
ἰῷ zur Beherrſchung von Sumir und 9(ffab (b. i. Baby: 
loniem) über fie" (Schrader, a. Ὁ. 846 f.). Der dritte 
Feldzug des Großkönigs galt den Empörern des Weſtens, 
wo Cibon und Efron den Tribut verweigerten, und 
legteres bem von Sargon eingejegten König Padi an 
König Hiskia zu Jeruſalem auslieferte, der ihn in Ge- 
wahrſam hielt. Im denfelben Feldzug vom I. 701 ges 
hören bie c. 36 f. erzählten Ereigniffe, von welchen fpäter 
zu reden ift. Die Aufftändifchen ber weftlichen Gegenden 
von Syrien bi8 an bie ägyptiſche Grenze ſchloſſen meift 
Bundniß mit Aegypten und Nethiopien, und tourben im Ge- 
biete Dans von Sanherib geſchlagen, der fie wieder unter- 
warf, den von ben Ekroniten abgejeßten Badi in Jerufa- 
lem frei zu laffeu nöthigte und in Efron wieder einfette. 

Nun wandte ber Großkönig fid zur Züchtigung des 
am Aufftand und Bündniß im mat Chatti (Syropaläftina) 
hervorragend betheiligten Königs Hisfia, obwohl der Zug 
der Aſſyrer in erfter Linie nicht gegen Reich Juda, fondern 
gegen Aegypten unb bie zu diefem abgefallenen Klein 
fürften des Küftenlandes zwiſchen Südoſt Kleinafiens 
und Aegypten gerichtet war. Juda ließ ber eilig nad) 
dem von ber Hauptftadt auf fein Heer zurüdgefallenen 
Schlag heimkehrende Aſſyrer von nun an in Ruhe, blieb 
aber nod) in weitern Feldzügen gegen Babylonien, Elam- 


590 impet, 
Verfien und Nordarabien in friegerijder Thätigkeit. 


II. 


Jeſ. 36— 839 hat feine Parallele in 2 Kön. 18, 13 
bi3 20, 19. Ob der Serfafjer des Königsbuchs feinen 
Bericht der Begebenheiten aus Jeſaia herübergenommen, 
oder au von ihm regelmäßig citirten Reichsannalen, viel- 
mehr einer Bearbeitung berjelben, entlehnt hat, oder ob 
beide Berichte unabhängig von einander au8 ein und 
derjelben Duelle ftammen, ift nicht entidjieben. Früher 
bielt man dafür, daß der Bericht in den Königsbüchern 
ber urfprüngliche, ber im Buch Jeſaia ber fpätere und 
aus ihm entlehnte fei, weil er vielfach abgekürzt unb 
abgerundet, mit leichtern gewöhnlichen Worten unb Wen: 
dungen, too nicht gar Formen fpätern Sprachgebrauchs 
verfehen erfcheine. Man fonnte darauf entgegnen, bof 
der Bericht in Jeſaia das Danklied Hiskia's enthalte 

.(88, 9—20) ba8 2 Kön. a. D. ganz fehlt, an letzterem 
Ὅτι aud) bie Sprache weniger forgfältig und geichliffen, 
cotreft und elegant ift. Unter ſolchen Umftänden und 
bei medjanijdjer Abwägung von Grund und Gegengrund 
läßt fid über die Priorität des einen Textes vor bem 
andern nicht fider entſcheiden, zumal jede ber beiden 
Anfihten ihre Gründe über[pannt, und in einzelnen Aus- 
brüden bald ber eine, bald wieder der andere Tert 
paffender ſcheint und den Vorzug verdient. Faßt man 
mod) bie Auslaffungen ins Auge, jo fann ebenfalls weder 
bet Text in Jeſaia bem der Königsbücher entfloffen fein, 
ber ja be8 großen Dankliedes entbehrt, mod) legterer 
aus Jeſaia ftammen, weil er Zufäge hat, die inhaltlich 
und formell nicht vom Verfaſſer des Königsbuchs kommen 





Jeſ. c. 36—39 erläutert durch affgrifche Reitinfcheiften. 591 


können. Diefer Tann ben Bericht überhaupt nicht ge: 
ſchrieben haben, da er ſchon in ben prophetifchen Reden, 
bie er enthält, auf eine fchriftliche Duelle zurüdweift 
und durchweg in prophetiſch⸗hiſtoriſchem Stil gefchrieben 
ift, wodurd er fid) ebenfo fehr von ber einfachen anna= 
liſtiſchen wie von der rhetoriſch⸗paränetiſchen Darftellung 
des Verfaſſers des Königsbuchs unterjdjeibet. Delitzſch (Je⸗ 
ſaia, 3. X. €. 368) durfte daher den Bericht in letzterm ohne 
Weiteres in Parallele mit ben 1 Kön. 17 ebenfalls unvermit- 
telt beginnenden Elia und Eliſageſchichten ftellen, da er 
gleich biefen einerbefondern prophetifhenQuelle entftammen 
muß, bie mit andern prophetengefchichtlichen Beftandtheilen 
des Konigsbuchs nicht auf gleicher Linie fteht. Wegen 
diefer Auslaſſungen, die bald in ber einen, bald in ber 
andern Stecenfion vorkommen, nimmt man daher jegt 
gewöhnlich an, daß beide Berichte unabhängig von εἰπε 
ander ein und derſelben ausführlicheren Quelle entnommen 
find. Daber ift wohl mit der neueften Erklärung Jeſaia's 
von fuabenbauer zu fimmen, menn er ©. 401 f. gegen 
bie Annahme einer Entlehnung des Abfchnitts aus den 
Reichsannalen (die als folche Hier ohnehin nit in Frage 
fteben könnten) fih auf ben ganzen Charakter bet Dar: 
ftellung, bie eimgeffodjtenen ausführlichen Reden und 
Weiſſagungen beruft; e8 ift jebod) bie aum minder un: 
mögliche Annahme fab. abgumeijen, daß ber Verfaſſer 
des fünig3budj bie Erzählung jener Begebenheiten aus 
Jeſaia herübergenommen habe. Dafür dürfte aud) nicht 
auf 2 Kön. 16, 5 verglichen mit Jeſ. 7, 1 vertiefen 
werden, da Hieraus bloß erhellt, daß ber Verf. des 
Konigsbuchs Jeſ. vor fi hatte und jene Stelle ſehr 
wahrſcheinlich im Hinblid auf Jeſ. 7, 1 geſchrieben Dat. 


592 ‚Himpel, 


Keine der beiden vorhandenen Relationen gibt ben ur- 
ſprünglichen Bericht genau wieder, doch ſcheint das Königs: 
bud) nicht blo mehr aus demfelben entnommen zu haben, 
fondern aud) von feinem eignen Serfaffer ftammenbe 
erweiternde Bufäge, meift ftiliftifcher Art, zu enthalten. 
Der Tert des Königsbuchs erfcheint ohne Grund Nägels- 
bad) (Der Proph. Jeſaia, 1877, €. 378) al ber ältere, 
weil er ber umfangreichere ift und in einem Gefchichts- 
buche περί. Es ift mit abzufehn, warum der Tert 
nad) Bebürfniß des ältern Weiſſagungsbuches in ihm nit 
abgekürzt und aufs Wefentlihe beſchränkt früher gegeben 
werden fonnte, als der mad) Erforderniß des Geſchichts- 
werkes volftändiger und fpäter aus ber Quelle mitgetheilte. 
Die Jeſaianiſche Recenfion ift aber früher gefehrieben wor: 
ben, und zwar, wie kaum in Zweifel zu ziehen fein möchte, 
entweder vom Propheten felbft oder nach feiner Intention, 
too nicht Angabe. Denn aud) die ältere gemeinfame 
Quelle wird auf Jefaia zuridzuführen fein. Nach 2 Chron. 
32, 32 find die übrigen Begebenheiten Hiskia's und- die 
Gnabenermeife, die er erfuhr, aufgezeichnet „im Gefiht 
(mir) Jeſaia's des Sohnes Amoß' des Propheten, im Bud) 
der Könige Juda's und Iſraels.“ Darnach war eine ge: 
ſchichtliche Relation über Hiskia aus bem Buch Jeſaia's, 
(fier nidt mit demfelben, mas Deligih a. Ὁ. €. 369 
alternativ gelten laſſen mill) , das 1, 1 die Meberfchrift: 
Geſicht Jeſaia's trägt, in bie dem Chroniften noch vor= 
liegende Hauptquelle feines Geſchichtswerkes aufgenommen 
worden, biejelbe, bie 2 Chron. 24, 27 SRibrajd) bes 
Konigsbuchs heißt, und galt hier natürlih, mie aud 
ſchon früher in bem Geſchichtswerk, das jenem Midraſch 
zu Grund gelegen haben mochte, mit den übrigen Theilen 


S. c. 36-39 erfäutert durch afforijdje Reilinfcheiften. 598 


des „Geſichtes“ als Arbeit Jeſaia's. Wenn Jefaia fodann 
2 Chron. 26, 22 eine vollftändige Geſchichte des Uſſia 
geſchrieben hat, in defien Todesjahr er zum Propheten: 
amt berufen ward, menn er aud) fonft hiſtoriſche Mit: 
theilungen feinem Weiſſagungsbuch einzuverleiben nicht 
verihmähte (c. 6—8. 20) und hiebei ebenfalls in dritter 
Perſon von fid) redete, jo wird man e$ geradezu für 
ganz unwahrſcheinlich erklären müffen, daß er nicht aud) 
über jene bedeutendften Greignijje feines Lebens, in bie 
er al8 Prophet fid) verflochten fab, bei denen er einer 
ber maßgebendften Mithandelnden war, als nächſter 
verantwortungsvollfter Zeuge ein volgültiges Schriftftüd 
hinterlaſſen hat, meldje8 er fei e8 perjönli oder durch 
Syemanben aus feinem Kreife (c. 8) feinen Weiffagungen 
einfiügenlieB. Dazu fommt, baf der Profaftil in c. 36—39 
eine ben großen Ereigniffen, die bargeftellt werden, abäs 
quate fchriftftelerifche Arbeit ift, bie nach diefer Seite 
bin dem Propheten nicht wird abgefprochen werden können, 
daß 7, 3 und 36, 2 bei [aft buchſtäblicher Übereinftimmung 
in ungezwungener Bezeihnung ber Ortslage bielelbe 
ſchriftſtelleriſche Hand verrathen. Wörtlihe Wiederho- 
lungen find bei Jeſ. aud) fonft nit ungewöhnlich, mie 
außer Kehrverfen aud) 51, 11---86, 10. 19, 15—9, 14 
zeigen. Daß endlich die chronologiewidrige Stellung 
ber Geſchichten, von melden bie ber Zeit nad) fpätern 
36 f. vorausgeftellt find, weil fie hier äußerft ſachgemäß 
den Cyklus aſſyriſcher Weiffagungen abfchliegen, und 
die zeitlich vorangegangenen 38 f. nadjfolgen, um beu 
2. Theil Jeſaia's einzuleiten, im Grunde bloß für das 
Weiſſagungsbuch paßt, forid)t jedenfalls für bie Priorität 
des geſchichtlichen Abſchnittes in diefem, menn aud) nod) 


594 Simpet, 


nicht für Herübernahme beffelbem aus Jeſaia in das 
Konigsbuch. Es hat auch wohl nod) nicht befjeu Verfaſſer, 
fondern ein Späterer, welcher an der gegen bie Chronologie 
verftoßenden Umftellung der Geſchichten im Königsbuch 
Anftoß nahm, bier zuerft die unrichtige Zeitangabe 36, 1 
angebracht, melde urſprunglich rihtig 38, 1 geftanden 
haben wird, und dann natürlich aud) im Weiſſagungsbuch 
angebracht wurde. Unter allen Umftänden erſcheint jomit 
eine Abhängigkeit des geſchichtlichen Abſchnittes im Weiſſa⸗ 
gungsbuh von bemjelbem im Königsbuch unbegreiflic 
und unmöglich, wenn man von ber fehlerhaften Umftelung 
ber vorbezeichneten chronologiſchen Angabe abfiebt. 

Die Aechtheit des Jeſaianiſchen Geſchichtsabſchnittes 
ſcheint daher im Weſentlichen kaum weiterer ernſtlicher 
Anfechtung zugänglich zu ſein, da weder das Mythiſche, 
welches man in den Angaben 37, 36. 38, 8 findet, 
zweifellos, noch die allzubeſtimmten Vorherverkündigungen 
37,7. 38, ὅ ohne Analogie und ex eventu gemacht find, 
mod) bie Angabe von Ganberib8 Ermordung (die erf 
681 mad) afiyr. Chronologie erfolgte) als fpäterer 
Zufag irgendwie unwahrſcheinlich ift, die „etwas fon 
berbate" 9[nfuüpfung endli in 39, 1 an das Borige 
fid) Dinlünglid) erklärt (f. w.). Dabei find willkühr⸗ 
liche Verfürzungen und Tertverderbniffe, die fidy c. 38 
beſonders ftarf eingeftellt, aber für bie Hauptfrage nichts 
zu bedeuten haben, nicht in Abrede zu ziehen. 

Der britte biblijde Beriht, 2 Chron. 32, 1—23, 
über unfre Geſchichten ift bei der Bevorzugung levitiſch⸗ 
priefterlider Einrichtungen und Feftbeichreibungen durch 
den Verfaſſer und befjem rhetorifh-paränetifcher Tendenz 
fegr ins Kurze gezogen, bietet aber bod) mehrere nicht 


Jeſ. c. 36-89 erläutert durch affprifche feilinjóriften. 595 


unweſentliche Ergänzungen, mie die Vornahme von Be- 
feſtigungswerken und Reparaturen um bie Stadt Davids 
und die Unterftadt, die damals ef. 22, 11 ſchon vorhanden 
mar, Zubeden unb Ableiten der Quellen durch unterir- 
diſche Ganäle in die Stadt und Berufung und Ermunterung 
der Kriegoberften burd) den König. Die Darftellung 
drängt das Effeftvolle zufammen, fürgt bie Reden, rüd! 
ben Brief be8 Aſſyrers, ber in den andern Berichten erft 
nahdem Stabjofe ihm über den hartnädigen Widerftand 
ber Bevölferung berichtet hatte, geſchrieben wurde, hinauf 
zur erften Verhandlung. Daß dem geretteten Hiskia 
Geſchenke von „Dielen“, darunter, wie e8 [djeint, aud) 
von benadjbarten mit ihm verbündeten und nun ebenfalls 
befreiten Fürften, gebracht worden, würde bei letztern einen 
Zug verratben, melder duch den in ben aſſyriſchen 
SDenfmalen berichteten Bund Hiskia's mit benachbarten 
Fürften und Völkern nahe gelegt ift. Die große Zahl 
der durch den „Engel des Qerrn" erfchlagenen Afiyrer 
umſchreibt der Chronift mit „jeden tapfern Helden unb 
Anführer und Fürften im Lager des Königs von Aſſyrien“, 
welder „umfehrte mit Schande in feinem Angeficht zu 
feinem Lande”, 38. 21, nahdem er ®. 9 bemerkt batte, 
daß bie ganze Reichsmacht bei ihm in Lachis ftanb. 
Bezüglich einiger Zufäge be8 Chroniften kann man ver- 
fudit fein, fie für Ornamentirung defielben anzufehen. 


IV. 

Wir haben jet, wo bie drei großen Begebenheiten 
weittragender Bedeutung unter Hiskia's Regierung in 
chronologiſcher Abfolge ins Auge zu faffen find, in bie 
frühere, genauer mittlere Regierungszeit dieſes Königs 


596 Simpet, 


gurüdgutreten, in melde uns die älteſte berjelben, bie 
Erkrankung Hiskia's und die durch Jeſaia verbürgte 
und eingeleitete Wiebergenefung zurüdverfegt (c. 38). 
Der Text ift hier über Gebühr verfürzt und hat 3B. 21 f. 
am Schluß, ftatt zwiſchen V. 6 und 7, wohin ihn ſchon 
Hieronymus verje&t (hoc prius legendum est quam 
oratio Ezechiae). Man gibt fid) (Drechsler u. 9L) ver- 
geblicde Mühe, ben beiden SBerfen in ihrer gegenwärtigen 
Stellung, in der fie allerdings ſchon bie Septuag. vor: 
fanden, unter Ignorirung der richtigen Abfolge derfelben 
2 fón. 20, 7 f., einen erträglihen Zufammenhang 
mit dem ihnen voranftehenden Schluß be8 Gebetes des 
Königs abgugetoinnen, und der Verſuch, fie mod) dem 
kunſtreich geformten Lied felbft anzugliedern, wirkt geradezu 
komiſch. Sie künnen aud) fpäterer Nachtrag au8 bem 
Königsbuc fein und find jedenfalls ein weiteres Zeug- 
niß dafür, daß Umftellungen in dem hiſtoriſchen Abſchnitt 
ftattgefunden haben. Das Lieb, in feiner Achtheit unange- 
taftet, ein merkwürdiger Beleg der funflbiótung am 
Königshofe, wobei aud) die Schattenfeite an derfelben, 
das Gefuchte’ und fdmerperftánblid) Gemachte, nicht zu 
überfehen ἀπ, ift von Hiskia nad) feiner Wiedergene- 
fung gebiditet und nichts weniger al8 ein unmittelbarer 
Gemüthsausdrud, vielmehr Produkt reflektirender Nach: 
bildung unter Benügung von Arhaismen und ungewöhn: 
lichen Wörtern und Formen vom erften bis legten Vers. 
Man erfennt daran ganz den König, wie er fonft geſchildert 
ift, als Renner und Liebhaber der nationalen Literatur, 
Wiederherfteller des Eultus und der von David begründeten 
Tempelmufif und liturgiſchen Pfalmodie (2 Ehron. 29, 
30), der wie e8 jcheint jelbft thätig an der Spike eines 


Sd. o. 36-39 erläutert burd) afſhriſche Keilinſchriften. 697 


Collegiums, der „Männer Hiskia's,“ ftanb, welches die 
Sammlung und Erhaltung literarijder Documente zur 
Aufgabe hatte und Spr. 21, 1 aud eine Nachlefe zum 
ältern Spruchbuche veranftaltete. Was bie zu Anfang 
des Kap. gegebene allgemeine Zeitbeftimmung „in jenen 
Tagen“ betrifft, fo jet bie Verheißung ber Errettung 
von Afiyrien nicht voraus, daß Sanherib ſchon im Begriffe 
mar, bie Wiederunterwerfung Juda's zu unternehmen, 
und nod) weniger, daß er den vergeblidjen Verſuch dazu 
ſchon gemacht hatte, fonbern bloß, daß man bie Situation 
in Paläftina Afigrien gegenüber gefpannt und drohend 
zu eradjtem hatte, und Juda damit umgieng, fid ber 
Tributpflicht zu entziehen. 

Man nahm gewöhnlich an, daß obige Zeitangabe 
die Erkrankung Hiskia's im Allgemeinen in diefelbe Zeit 
verfege mit bem vorher, 36 f., berichteten Ereignifjen, 
in den Anfang der Sanherib’ihen Inpafion, ober nod) 
während die Afiyrer Jerufalem belagerten, um fo ſicherer, 
als Hisfia c. 39 (2 fm. 20, 15) ben ihn ob feiner 
Wiedergenefung beglüdwünfchenden babyloniſchen Gefand- 
ten feine Schäge gezeigt, bie er im Verlauf jener Expedition 
an Sanherib auszuliefern hatte 2 Kön. 18, 15. Dagegen 
berief man fid) für bie nad der affprijdjen Expedition 
erſt erfolgende Erkrankung Hiskia's auf den Bericht ber 
Chronik, melde die Errettung aus ber Hand Sanheribs 
mit bem Zufag erzählt, daß Viele mit Geſchenken nad) 
Serufalem gekommen und Hiskia in den Augen ber Völker 
bochgeehrt ward, und dann erft die Erzählung von ber 
Erkrankung des Königs folgen läßt (2 Chron. 32, 22—31); 
ſowie auf Joſephus, welcher (Ant. 10, 2, 1) fagt, Hiskia 
babe für die Befreiung Jeruſalems mit dem ganzen Bolt 


598 Himpel, 


Dankopfer batgebradjt, [εἰ aber dann (μετ᾽ οὐ πολύ, 
womit er offenbar die Beitangabe 38, 1 ausdrüden 
toil) von ſchwerer Krankheit befallen worden. Allein 
beide, ber Ehronift und Yofephus, richteten fid) eben 
mad) der Abfolge unjerer Geſchichten im Königsbuch unb 
nahmen bie damals ſchon vorgenommenen chronologiſchen 
Änderungen als urſprüngliche Angaben bin. (δ be 
bauptet jodann Bähr (Die Bücher der Könige ©. 435), 
daß bie babyloniſche Geſandtſchaft nicht in die Seit vor 
Sanheribs Abzug (überhaupt nicht in bie Zeit während 
der affprijden Invafion) gelegt werden könne, weil zu 
diefer Zeit der damals nod) unter aſſyriſcher Oberherrſchaft 
ſtehende König von Babel e8 nicht hätte wagen dürfen, 
den von Sanherib abtrünnigen Hiskia zu beglücdwünfchen 
oder gar mit bemfelben, ber fid) in großer Bedrängniß 
befand und machtlos war, ein Bündniß zu ſchließen fid) 
veranlaßt jehen konnte. Strikte für die Zeit unmittelbar 
vor und während der Invaſion ift bie gugugeben, und 
war ein Berfuh babyloniſcher Unterhandlungen mit 
Juda too nicht unmöglich, bod) wenig verſprechend und 
zwecklos. Nicht fo, wenn er einige Jahre früher gemadt 
wurde. tad) den aſſyriſchen Inſchriften hat Babel bie 
beiden legten Jahrzehnte des achten Jahrhunderts zwar 
mod) nicht ebenbürtig mit ber jüngern Macht Aſſyrien 
gerungen, aber bod) wiederholt bie hartnädigften Kämpfe 
für feine Unabhängigkeit geführt und fij mit Glam und 
ben weſtmächtlichen kleinern Staaten unb Fürften vet. 
bunden. Das Danklied Hiskia's aber in feinem Beginn 
(38, 10): 3d iprad) in der Stille (demi) meiner Tage: 
Eingehen fol id) im der Unterwelt Thore, erflärt man 
allerdings häufig: ba ein Stillftand eingetreten in meinem 


Jeſ. c. 36—89 erläutert durch aſſhriſche Keilinſchriften. 599 


Leben, ein glüdlicher Ruhepunkt, nad) Sanheribs Abzug 
id in Ruh unb Frieden leben und regieren zu können 
glaubte, überfiel mid) bie Todesfrankheit und brachte 
mid) vor be8 Hades Pforten. Es ift aber nicht wahr: 
ſcheinlich, daß Hiskia hier, wo er mur von Kranfheits- 
gefahr, Errettung aus ihr und Dankfagung redet, an 
Ruhe feines politifchen Lebens gedacht habe, eher (nad) 
Delitzſch) am ruhigen Verlauf feines gefunden Lebens, 
ber nun eine jo gefährliche Unterbrechung erlitt. Da 
jebod) das Verb (ni) vorwiegend bie negative Ber 
deutung des ftille machens — zu nichte machen, verderben, 
bat, im Niphal ftet8 aufhören, dahin fein heißt, wie 
aud) in Kal, fo wird e8 bier, am paffenbften für bie 
age be8 Dichters, vom zu Ende geben, Aufhören feiner 
Lebenstage verftanden und mit bem ihm voranftehenden 
Verb verbunden: als bie ausgebrochene Krankheit meinen 
Lebenstagen Vernichtung drohte, ba fprad) ἰῷ u. f. tv. 
(ba8 in dimidio dierum meorum der Zulg. ift unhalt- 
bar). Bon einem Stüdblid auf bie nad) Sanheribs 
Abzug gewonnene rubige Regierungszeit ift bann feine 
Nebe. V. 6 fpricht der Herr durch ben Propheten zum 
König: 3d) werde zu deinen Tagen 15 Jahre hinzuthun 
unb von ber Hand des Königs von Afiyrien werde id) 
erretten bid) und diefe Stadt, und werde bieje Stadt be: 
fügen um mein und meines Knechtes David willen. Dazu 
bemerkt Bähr (a. D. ©. 435): „Die Zahl fünfzehn ift 
feine arithmetifch genaue, denn wäre fie e8, fo müßte 
nit bloß bie Invafion Sanheribs und die Krankheit 
Hiskia's, fondern aud) ber Zug des großen afiprifchen 
Heeres burd) die Wüfte bis mad) Aegypten, die Belage- 
rung Pelufiums, ber Rückzug nad) Juda, bie Belagerung 


600 Himpel, 


und Eroberung ber feften Städte und bie Verwüſtung 
des Landes, endlich bie Niederlage unb Flucht Sanheribs, 
ja aud uod) die Gefandihaft aus dem fernen Babylon 
in ba8 eine 14. Regierungsjahr Hiskia's gelegt werden“. 
Dieß aber nicht mehr, fobald man die Krankheit und 
Wiedergenefung beà Königs der Invafion ber Afiyrer 
geraume Zeit vorangehen läßt. Alles Übrige geht dann 
ganz gut in einem Jahre vor fi, nur nicht in ber, 
von ben afiyriihen Urkunden, beliebten Reihenfolge 
der Creignifje. Auch Bähr betrachtet die Zahl 15 nicht 
mit Knobel als erft vom fpätern Erzähler ex eventu ge: 
madt und bem Propheten, ber ,bieB nicht wiſſen fonnte", 
in ben Mund gelegt; ftellt bann aber bie wenig pafjende 
Frage: marum denn gerade 15 Jahre, warum feines 
mehr und feine weniger? Er hält dann wieder mit 
Recht für unftatthaft, bie& aus der Angabe 18, 2, bo 
Hislia 29 Jahre regierte, zu beantworten; denn nicht 
deßhalb wurden im mod) weitere 15 Lebensjahre ver: 
beißen, fondern wegen diefer Verheißung regierte er bie 
18, 2 in ber nämlihen Intention angegebne Zahl von 
Jahren. (δ᾽ ifi ganz ridtig, daß der Sinn der Ber: 
beißung fein wird, der König werde nod) einmal fo Lange 
regieren, al8 er [don regiert habe. Dann kann aber 
auch von einem Unterſchied zwiſchen der wörtlichen (wenn 
aud nicht gerade arithmethifch genauen, was ja nichts 
verſchlägt) Faflung der 15 Jahre und jener Bedeutung 
derfelben nicht füglid) mehr die Rede fein. Denn gehören 
die 14 Jahre 36, 1 an bie Gpige von c. 38 f. unb 
find fie genau vom Negierungsanfang des Königs be: 
rechnet, fo ergeben fid) 15 Jahre ber biöherigen Regie: 
rung befielben, indem der Zeitabſchnitt bis zum Beginn 





gef. c. 36—89 erläutert durch affgrijde Keilinſchriften. 601 


feines erften vollen Regierungsjahrs als das erfte 
Sjabr berechnet wird, und ebenío das laufende Jahr. 
Man Tann daher von einer wejentlih, wenn aud) nicht 
buchſtäblich ober arithmetifch genauen Faſſung und Er: 
füllung des verfündeten Zeitraumes reden, ma8 bem 
prophetifhen Wort immerhin feine Bedeutung fichert. 
Es ift num ebenfalls richtig gejagt (Bähr a. D.), daß 
bie unmittelbar folgenden Worte: Ich mill bid) erretten 
vor der Hand bes Königs von Afiyrien, fih dann noth- 
wendig auf bieje zweite Hälfte feiner Tage beziehen. 
Daß fie aber auch bedeuten: „in dieſen wirft bu von 
ihm nichts mehr zu befürdjten haben, fie werden eine 
Zeit des Friedens und der Ruhe für bid) fein“, ift wohl 
eine Einlegung, die dem Wortlaut nicht ganz gerecht 
wird. Sanherib hörte erft, aber dann aud) thatſächlich 
und vollftändig für Juda auf gefährlih zu fein feit 
feinem fluchtartigen Rüdzug, ba er nunmehr feine Kriegs⸗ 
luft mut nad andern Seiten bin wandte. Stand zur 
Bit diefer Rede des Propheten die große Expedition 
Sanheribs nicht mehr bevor, fondern mar fie bereit 
vorüber, [o rebete der Prophet fiatfe Worte in den 
Wind und verkündete bie Rettung durch den Heren vor 
bem Afiyrer für eine Zeit, wo biejer gar feinem Anlaß 
mehr dazu gab. Somit erhält man aud) von 38. 6 her 
eine Otüge für die geſchichtliche Priorität von 38 f. 
Daher ift die Verheißung in $8. 6 mad) der Niederlage 
Sanheribs nicht leicht , nod) denkbar“ (Nägelsbach €. 409). 
Die große aſſyriſche Macht, für melde bie Niederlage 
ein zwar empfindlicher aber keineswegs vernichtender 
Schlag tar, Tonnte fid) nad) bemjelben nod) aufraffen 
und mit verftärkter Wucht und vetboppelter Wuth über 
Xie. Ouartalfrift. 1888. Heft IV. 40 


602 Himpel, 


Juda berfallen, aber-fie that es nicht, und biep ijt 
bie Hauptfahe und ber entjdjeibenbe Richtpunkt für bie 
Auslegung jenes prophetiichen Wortes. Afiyrien hatte 
auf diefem Terrain feine Rolle ausgefpielt, denn das 
Stadjpiel unter Eſarhaddon-Manaſſe fommt nicht in 
Betracht, ba Juda davon mehr Gewinn als Verluft 
patte. Es ift nicht ganz zu überfehen, daß die aſſyriſchen 
Urkunden für Sanherib πα der berunglüdten Expedition 
mod) zwei Jahrzehnte feines Lebens offen laſſen, bie er 
in bisheriger Weife Friegerifch ausfüllte, une nicht mehr 
gegen Juda. Er mußte bod) wohl etwas wie bem Zorn 
eines müdjigern, von ihm und feinen Heerführern fo 
bitter verhöhnten Schügers Juda's zu empfinden befommen 
haben, wenn er auch darüber in feinen Prunkinſchriften 
ſchwieg. Noch beredter war, daß er mun Juda völlig 
im Ruhe lie. 8. 6 in feiner nachdrücklichen Verheißung 
jet nothwendig eine Fünftige wirkliche Bebrängung und 
unmittelbare Gefährdung von König unb Hauptftadt, 
ſowie energifhe Befreiung für diefen dem Propheten 
geiftig gegenwärtigen Fall voraus und hat unverfennbare 
Beziehung auf bie jüngere und der gemeinten Kataſtrophe 
weit näher gerüdte Rede 87, 35, melde burd) bie im 
Wefentlihen gleiche wörtliche Faſſung diefelbe mum ganz 
nah gerüdte Kataftrophe und Errettung meint, bie nod) 
früher, 31, 5 ſchon Gegenftand der Verkündigung des 
Propheten waren. So wenig fann hier von bloßer Wieder: 
holung (Drechsler, Bähr) in 2 Kön. 19, 34 mit Bezie⸗ 
dung anf 20, 6, too in beiden, jenen prophetiſchen cor: 
tefpoubirenben , Stellen die Gleihmäßigfeit nod) ſtärker 
bervortritt, gefprochen werben, daß in dreifady abgeftufter 
Rede (gef. 31. 38. 37) vielmehr bie SBebeutumg ber 





Jeſ. c. 86—89 erläutert durch afſhriſche Keilinſchriften. 603 


näher und näher rüdenben Kataftrophe mit ihrem für 
Juda beilfamen Ausgang fid) mur um fo fhärfer εἰπε 
prägen mußte. 
t v. 

Sym enger zeitlicher und fachlicher Verbindung mit 
c. 38 ftebt das nüdjftfolgenbe, nad) welchem König Hiskia 
vom Könige Babylons, Merodach Baladan, zur Wieder: 
genefung beglüdtoünjdt und bie ihm hiermit geftellte 
Falle, in feiner Selbftüberhebung (2 Chron. 32, 25) 
geſchmeichelt, nicht abnenb vom Propheten hart getabelt 
und in feinen Nahfommen mit dem Gril bedroht wird. 
Die Parallele dazu hat 2 Kön. 20, 12—19 und tfeil- 
toeije 2 Ehron. 32, 24—31. — Reiſte die babyloniſche 
Geſandſchaft aud) nicht fer bald nad) der Wiedergenefung 
Hiskia's nad) Jerufalem, jo verbieten bod) die für ihre 
Abfendung angegebenen Urſachen, eine zu lange Zwiſchen⸗ 
zeit anzunehmen und mit Anobel das Ereigniß ins Jahr 
703 zu verjegen. Daß die Chronif als Urſache angibt, 
der König von Babylon habe von bem Wunderzeidhen 
gehört, ba8 im Lande gefchehen war (32, 31), bezieht 
fid auf das für die verheißene Wiedergenefung gegebne 
Beiden be8 am Sonnenzeiger Hiskia's zurüdgehenden 
Schattens. Die eine Urſache der Geſandſchaft (Beglüd- 
wünſchung) fchließt bie andere nicht aus, aber bie eine 
wie bie andere mar ein Vorwand, an ἰδέα heranzus 
kommen und ihn gegen Afiyrien zu gewinnen. Der von 
ber Chronif genannte Vorwand ijt nicht anzuzweifeln. 
War jener Vorgang am Sonnenzeiger geſchehen, fo hatte 
er weithin großes Auffehen gemacht, am eheften wohl in 
Babylon, das fid) auf Kenntniß von Himmelserſcheinungen 

40* 


604 Himpel, 


und damit Zufammenhängendem nicht wenig zu gute that, 
aber aud) bie politijdjen Zeichen in Vorderafien genau 
beobadjtete und nad) Möglichkeit gegen den überlegenen 
Großherrn in Ninive zu verwerthen gedachte. Das 
Mophet (2 Chr. a. D.), das fid) im feinen aber burdj 
feine Lage wichtigen Juda begeben hatte, fam dem that: 
kräftigen Herrſcher in Babylon gerade recht, um e8 po= 
litijd) nugbar zu machen, mochte man in Babylon damals 
ſchon weiter benfen und Paläftina als Fünftiges Terrain 
für weitere Angriffe gegen das füblide Großreih ins 
Auge fafjen, oder bloß dabei um Stützpunkte gegen das 
mod) übermächtige Afiyrien, den gemeinjamen Feind, fid) 
umfehen. Man ftand wieder an einem Wendepunkt in 
Juda. Das Nordreih war burd) Afiyrien gefallen, wel: 
de8 König Achas gerufen und bem er fid) dienftbar 
gemacht hatte, um fid) der beiden mächtigen Verbündeten, 
des 9torbreidj8 und Syriens zu eriwehren. Der Preis 
mar aber zu theuer bezahlt für den Arm von Fleiſch, 
den er gegen Glauben und Vertrauen auf den lebendigen 
Gott eingetauft hatte. Nun ſchien dem beffern Sohn 
ein befjere8 Geſchick zu minfen. Hisfia, bem fid) fo 
eben ber Herr burd) feinen großen Propheten gnädig 
ertoiefen, und ber fid) einer nod) weit furchtbareren Macht 
gegenüber ſah, als Achas, welchem fie herausgeholfen 
hatte, um unterbeß gegen feinen Sohn zum übermächtigen 
Gebieter heranzuwachſen, bemjefben ἰδέα fommt von 
freien Stüden eine der aſſyriſchen beinahe gewachſene 
Macht nnb alter Todfeind ber legtern entgegen. Es ift 
nicht zu verwundern, daß ber frommgläubige König ſchwach 
wurde und neben ber unfihtbaren Gewalt feines Gottes 
mad irbijdjen Mitteln ſchielte, um Macht gegen Macht 


Jeſ. c. 36-89 erläutert durch aſſhriſche Keilinſchriften. 605. 


außzufpielen und feiner eignen, nicht zu verachtenden 
Shäge und Mittel fid) überhob. Aber er hatte bod) in 
der Probe nicht beftanden, dem Gotte, ber ihm dag Leben 
wieder geſchenkt, nicht unbedingt allein auch für feines 
Reiches Zukunft vertraut. . Hatte diefer jedoch den König 
aus unmittelbarer Todesgefahr errettet, wie follte er ihm 
nidjt fein Reich gegen bloß irdiſche Gewalt ſchützen fónnen ? 
Gà war aber einmal gefhehen: Hisfia gieng dann auch 
10d) ügpptijdjer Hilfe nad. So mußte ihn in feinen, weil 
bierin nod) viel ſchwächern unb meift ganz verfommenen, 
Nachfolgern das Vergeltungsgefeg treffen: zwar ein nicht 
minder frommer König al8 er, ber befte nad) Hiskia, fiel 
gerade um ein Jahrhundert fpäter durch 9[egppten, und 
das Reich ſelbſt bald hernach burdj die Babylonier. 
Doc blieb er dafür aufbehalten, die zweite Probe, die 
unter mod) meit ungemöhnlicheren Umftänden eintrat, 
rühmlich zu beftehen, und baburd) feines Gottes und feine 
eigne Ehre, ſowie das Reich zu retten. Auch biefer innere 
Grund muß dafür geltend gemacht werben, daß das c. 39 
Erzählte, nicht minder al8 die damit zufammenhängenden 
Ereignifie von c. 38, dem großen Sanherib’ihen Drama 
voraufgegangen ift. Es ift denkbar, daß aud) ein fo 
thatfräftiger und im Jahveglauben feft gegründeter König 
wie Hiskia in geringerer Sache, mo göttliche Gebot, 
Glaube und ernftes Prophetenwort nicht unmittelbar ins 
Spiel famen wie bei Achas Jeſ. c. 7, ftrauchelte und 
am Sichtbaren unb Greifbaren für ben Augenblid hängen 
blieb, um fid) raſch wieder zu faffen und hernach in aus- 
gereiftem Alter, im furdtbarften Augenblick, wo alles 
auf dem Spiel ftand, der König phyſiſch und πιοτα 
verloren war, wenn er wankte, im Vertrauen auf das 


606 ‚Himpel, 


oft erprobte, Kategorifche Prophetenwort, unerſchütterlich 
feft zu bleiben und alles zu retten. Höchſt unwahrſchein— 
lich aber bleibt, daß berjelbe König, der dieſes Größte 
beftanden und bie augenfällige Hilfe des Herrn dafür 
erfahren hat, ber von Aſſyrien nichts mehr zu fürdten, 
von Babylonien nichts zu hoffen hatte, in ungleich kleinerer 
Erprobung nidt Stand hielt und, nachdem er längft 
hoher Meifter geworden, wieder als ſchwächlicher Schüler 
fid) ertotefen hätte. Auch pfychologii und moralii bat 
die Situation im Leben Hisfia’3 c. 39 die Priorität und 
Tann nicht auf 36 f. gefolgt fein. Daher füllt zu Boden, 
was Bähr (€. 438 a. D.) fdreibt: ,— fid von afiy- 
tijder Oberherrſchaft loszumachen [dien bem babploni- 
fien Könige jegt, too Sanherib eine große Niederlage 
erlitten, bie befte Gelegenheit. Die Abficht ber Gefanbt- 
ſchaft war, fij dur ein Bündniß mit einem Könige, 
ber ber affprijden Macht erfolgreich widerftanden Hatte 
(aber nicht burd) Mittel wie fie Babylon allein genehm 
und fafbar waren), zu ftärfen. Daraus geht hervor, 
daß die Krankheit Hiskie’s'nicht in bie Zeit vor, ſondern 
mad) ber Niederlage Sanheribs füllt". Der König von 
Babel, meint aud) Ewald, beabfidjtigte jet, nad) bem 
Abzug der Aſſyrer, durch feine Gejanbten den Zuftand 
ber Kräfte des 9teidjà Juda näher zu erforſchen. Und 
Goldje8 behauptet man angefihts 2 Kön. 18, 14—16, 
wonach Hiskia bei bem Einfall Sanheribs, um bie un: 
gebeure Strafcontribution von breiunbert Talenten Gil 
bers und dreißig Talenten Golbe8 zu bezahlen, dag im 
ben Schatzkammern irgend vorgefundene Silber und Gold 
dazu verwendet und fogar bie von ihm felbit geftifteten 
Goldüberzüge der Tempelpfoften wegnehmen laſſen mußte. 


gef. c. 36—39 erläutert durch aſſyriſche Keilinſchriften. 607 


Wie bald nad) biejer reinlihen Ausplünderung der König 
den babplonijden Gejaubten von Silber und Gold ge: 
füllte Schaghäufer und wohl affortirte Zeughäufer zeigen 
Tonute, ift faum erfihtli ohne Manipulationen, wie fie 
viel fpäter bei den Potemkin'ſchen Dörfern beliebt wurden, 
denn bie Ausrede (Bähr €. 438), daß Hiskia bod) nicht 
alles bergegeben, fondern altererbtes Gut zurüdbehalten, 
lieber das von ihm felbft auf bie Tempelthüren veriwen- 
bete Gold hergeben als jenes Gut angreifen wollte, dag 
vielleicht in unterirdiihen Kammern verborgen war, 
— ἐπ tertwidrig und in fid) felbft unfidet, unb aud 
mit den Gejdenfen, die man (2 Chron. 32, 23) Hiskia 
nad Sanheribs Niederlage und Abzug von vielen Seiten 
darbrachte (Thenius) möchte der König nicht weit gefommen 
fein. Daß aber bei dem Fall des großen aſſyriſchen 
Heeres und ber eiligen Flut Sanheribs in deſſen Lager 
große Beute gemacht worden fein mode, muß um jo 
mehr völlig dahin geftellt bleiben, ba bie mächtigeren 
Aegypter, falls bie Schätze nicht längft vorher weggeſchafft 
morden waren, nahe dabei fid) befanden und ihre eigene 
größere Abrechnung mit ben Afiyrern, bie vor allem 
fie befriegten, zu treffen hatten. Die Bibel, der εὖ 
bod) ganz nahe lag, burd) eine ähnliche Angabe bem 
Triumph Juda's und die Niederlage des Feindes zu 
vergrößern, berichtet nidjt8 davon, unb auch im Dan: 
pfalme Hiskia's ift nidt die geringfte Anfpiehung auf 
bie wunderbare Errettung von 37, 36, bie nothwendig 
qud) deshalb nod) der Zukunft angehörte. 

Die bi$ dahin fo gut wie unbekannte Perfönlichkeit 
be8 damaligen babplonifden Königs, der bie Geſandtſchaft 
nad) Jerufalem veranlaßte, feine Kämpfe und fonftigen 


608 inpet, 


Lebensſchickſale find burd) bie aſſyriſchen Infchriften und 
Denkmale nunmehr in fo reihe und intereflante Beleud: 
tung geftellt worden, daß dadurd auf die damalige Zeit: 
geſchichte ebenfalls ganz neues Licht fällt, und bie neue 
Wiſſenſchaft, der man bieB verdankt, bier allein ſchon 
fid ein großes Verbienft erworben hat (S£. Schrader; 
Keilinfchr. u. A. Teft. €. 334 ff. und der auf biejem 
Gebiet hochverdiente Fr. Lenormant: Anfänge der Gultur, 
Deutſche Ausg., 2 Bde, Jena 1875, 2. Bd €. 149 ἢ). 
Nicht ohne berechtigtes Selbftgefühl ſchreibt der Letztere: 
„Durch bie aſſyriſchen Studien allein vermögen wir volle 
fieben Jahrhunderte der afiatijdjen Annalen wiederher⸗ 
zuftellen, unb zwar fieben Jahrhunderte, melde für bie 
Geſchichte der Menſchheit von höchſter Wichtigkeit find, 
ba gerade in diefelben bie Berichte ber hiſtoriſchen Bücher 
- be8 alten Teftaments fallen. Noch galt e8 vor zwei 
Jahrzehnten al8 wahrer Triumph, einen neuen Königs: 
namen in ben aſſyriſchen Inſchriften zu entziffern, die 
genaue Aufeinanderfolge einiger Fürften zu beftimmen, 
aus mod unvollftändig erklärten Terten eine geringe 
Anzahl geographifcher Angaben zufammenzuftellen. Sept 
find wir bereit3 viel weiter votgerüdt: die Reihenfolge 
ber Könige ift vom vierzehnten bis 7. Jahrhundert v. 
Chr. vollzählig; ba8 Grundgerüft der Geſchichte ift haltbar 
aufgebaut, die Chronologie ift nur nod) in wenigen Daten 
zweifelhaft“ u. f. w. Qd) mußte bieje Worte eines 
bedeutenden Gelehrten der Gegenwart, ber zugleid in 
allem Weſentlichen auf biblijdem Standpunkte fteht, an 
führen, bevor id) bier zur Gharakterifirung be8 ef. 
c. 39 genannten hervorragenden Fürften und bet baby: 
loniſch⸗ aſſyriſchen Verhältniffe feiner und der nüdftfol 





Jeſ. c. 36—89 erläutert durch afſyriſche Keilinſchriften. 609 


genden Zeit eine kurze Lebensſtizze beffelben und feiner 
müdjten Nachfolger einführe, die ausfchließlih auf ben 
gefidjerten Refultaten der genannten Studien bafirt und 
deren Wichtigkeit oder vielmehr Unentbehrlichkeit für die 
alte und insbefondere altteftamentlihe Geſchichte augen: 
füllig zu konſtatiren vermag. 

Betreff des Namens SXerobad) Baladan, der 2 
Kön. 20, 12 Berodach geſchrieben ift, ift mum nad) ben 
Keilinfhriften nicht mehr zu bezweifeln, daß bie Schrei— 
bung in ef. 39, 1 bie richtige ift, denn in ihnen lautet 
der Name: Marduk—habal--iddina b. h. (Gott) Mar: 
buf fdenfte einen Sohn. Er ijt Gott des Planeten Ju— 
piter und Schuggott Babylons. Faft fämmtliche aſſyro⸗ 
babyloniſche Eigennamen bilden einen vollftändigen Sag, 
wie ähnlich Nabopolaffar: Nebo—habal ussur, Nebo, 
füge den Sohn, Nebukadnezar: Nebo, ſchütze bie Krone 
bedeutet. Ein babylonifcher König jenes Namens ericheint 
nun wiederholt in unferer Periode. Zuerſt heißt et 
Sohn des Jakin und König be8 Meeres (sar tiamtiv 
vgl. hebr. tehom) b. h. Südchaldäa's, und e8 ift von 
ihm angegeben, daß et im J. 731 zu Gaptja, bem aſſy⸗ 
rifhen Groffonige Tiglat-Pilefer feine Qulbigung lei: 
ftete. Ein Merodach Baladan, Sohn des Satin, erſcheint 
fodann mehrmals wieder unter dem aſſyriſchen Großkönig 
Sargon (721 beziehnngsweife 722—705), als sar mat 
Kal-di: Fürft des Landes Chaldäa, ben Sargon wieder: 
Holt befriegte, namentlich im 12. und 13. Jahr feiner 
Regierung, in den Jahren 710 und 709, mas mit Ent: 
thronung und Gefangennahme Merodady Baladan’z, for 
wie Verbrennung der Stadt Dur-Jalin, in den Sümpfen 
im Nordoft des perſiſchen Meerbufens, ausgieng. Offen: 


610 Himpel, 


bar war e8 diefelbe Perfönlichkeit, bie im erften Jahr 
Sargons ben Hauptfig vom äußerfien Süden Chaldäa's 
nad) Babylon verlegte und bier von jenem αἵ felbftän- 
diger König anerfannt wurde. Im jelben Jahr 721 üt 
cud) ber durchaus zuverläßige ptolemüijdje Kanon Mar: 
bofempab b. i. Merodach Bal. ben Thron von Babel 
befteigen. Hier regierte er 12 Jahre, aud) nah bem 
Kanon, denn auf Täfelhen, bie bei feiner Enttrohnung 
710 in den Sargons-Palaſt zu Chorfabad gefommen fein 
müffen, ift fein 12. Regierungsjahr genannt. Ex wußte, 
daß Sargon bei erfter Gelegenheit fid) gegen Babylon 
menden werde. Daher janbte er in verfchiedene Länder, 
die das gleiche Intereſſe der Unabhängigkeit gegen Aſſy— 
tien mit ihm vereinigen follte, um eine Coalition zu 
Stande zu bringen, was ihm Sargon auf einer Juſchrift, 
nachdem er ihn endlich befiegt hatte, vorhält mit beu 
Worten: „Zwölf Jahre lang hat er Gefandte geſchickt 
wider den Willen der Götter von Babylon, der Stadt 
be8 Bel, des Richters der Götter“. Unwillkürlich beutt 
man bier an Jef. 39, 1, wofür die Inſchrift ja den pre: 
denben Commentar bildet. Die Gejandtihaft mag 714 
— 713 nad) Syerufalem gegangen fein, zu ber günftigften 
Zeit, als Sargon in Medien und Armenien Triegeriih 
bejdjüftigt war. Zur nämlichen Zeit gieng mad ben 
Sargonsinfhriften von Khorſabad SXerobad) Baladan 
aud ein Schug: und Trugbündniß mit dem König non 
Glam, Chumpaginas, ein. Sargon hatte das Storbreid) 
niedergeworfen, Philiftäa erobert, bei Raphia den Athi⸗ 
opier Sabafo befiegt, der Ügypten beherrſchte. Moa- 
biter, Edomiter, Idumäa beugten fid) desgleihen vor 
Ninive; über dem winzigen Juda mußten mit nächftem 





gef. c. 36—39 erläutert durch afforijdje Keilinfchriften. 611 


bie Fluthen der affprijden Eroberung zuſammenſchlagen. 
Die Lage Hiskia's und feine Neigung zum babyloniſchen 
Bund begreift fid) mehr als genug und man möchte fid) 
nur darüber wundern, daß er nicht alsbald einſchlug 
und Jeſaia den Muth fand, den König in feiner ver- 
atveifelten Lage zu tadeln, ihm das ſcheinbar einzige 9tet- 
tungsmittel auszureden und ba8 Rettungsbrett fortzus 
flogen. Doc den Propheten rechtfertigte ebenfofehr ber 
Erfolg, wenn er wie bei Achas gegen ein aſſyriſches, 
ober mie jegt gegen eim babylonifches, ober wie dann 
fpäter, gegen ein ägyptiſches Bündniß ſprach. Er wird 
darum das Richtige getroffen haben, in all biefen Fällen 
nicht fofaft als fcharfblidender Staatsmann und weil der 
Erfolg ihm Recht gab, fondern weil fein Reden und Ras 
then in höhern Gedanken murgeíte, denen aud) eine hö— 
bere Macht und Leitung ber Geſchichte zu Gebot ftand. 
Anders beftimmt Schrader a. D. €. 343 f. bie Zeit ber 
Gejanbtidjaft nad) Jerufalem. Er rüdt fie mit der Krank- 
heit Hisfia’3 der Invafion Sanheribs weit näher, in die 
erften Zeiten der Regierung bieje8 Königs [εἴθ herab, 
704— 703, in jene 6 Monate der wiedererftrittenen Herr- 
ſchaft Merodach Baladans (nad) Polyhiſtor), melde mit 
ſeiner Vertreibung endeten. Allein die oben mitgetheilte 
Stelle aus einer nicht nad) 710 gefertigten Inſchrift Sar⸗ 
gons und bie günftigen Zeitumſtände für eim Losſchla— 
gen ber Goalition um 714—713 machen biefe frühere 
Zeit für die Geſandtſchaft wahrjheinliher, menm aud) 
nicht zu Läugnen ift, daß Merodach Baladan in ber ſchwe— 
ren Bebrängniß feiner fpätern fedjámonatliden Herrſchaft 
Sanherib gegenüber alle Urſache hatte, fid nah Hilfe 
umzufehn. Unter allen Umftänden hält aud) Schrader 


612 Himpel, 


für bie Gefandtfhaft die Zeit bor ber gegen Welt ge- 
richteten Invafion Sanheribs feft. 

Im Frühjahr 710 brad) ber lange vorbereitete Krieg 
gegen Babylon aus, von bem man zwei Darftellungen 
aus bem Palaft Sargons befigt, bie eine von Dppert 
und Menant gemeinfdjaftlid) bearbeitete ber fastes de 
Sargon, und bie umfangreidjere ber Inscription des An- 
nales (Sargons), welche mie ein Geſchichtswerk ausführ- 
"lid und detaillirt mit genauerer Einhaltung der Reihen: 
folge der Begebenheiten berichtet. Wie gewöhnlich in 
den Kriegen ber Afiyrer gegen Babylon geldja, menu 
biefe8 von ben füdöftlih davon wohnenden Elamiten un: 
terftügt wurde, gieng aud) Sargon nit direct gegen 
Babylon vor, fondern umgieng vorerft oſtwärts bie ba: 
bolonijden Feftungen und fdmitt bie elamitijden Ver: 
bünbeten von feinem Gegner ab. Der Krieg endigte mit 
ber Vertreibung Süterobad) Baladans und der Einnahme 
Babylons burd) Sargon 709, ber von ba an fid) aud 
König von Babylon nennt und ebenfalls vom Kanon als 
folder unter dem Namen Arkeanos im felben Jahre auf: 
geführt wird. Merodach Baladan fudjt aber neue Kräfte 
in feiner Heimat Bit Jakin zwiſchen dem Schat EI Arab 
und Glam in Niederchaldäa zu ſammeln, wird aud) hier 
von Sargon aufgefudjt, ber feine legte Burg Dur-Jakin 
erobert, ohne des Gegners habhaft zu werben, ber wie: 
der anfangs 705 gegen Sanherib, melden ber Vater 
Sargon gegen ihn ausgefandt, im Felde fteht. Hier er 
hält Sanherib bie Nahriht von der Ermordung Gat: 
gons, wie e8 fcheint burd) einen chaldäiſchen Verſchwo— 
tenen und Anhänger Merodach B., Namens Beltaspai 
€3 folgt mun der vom Kanon genannte xozgog ἄβασι- 





Jeſ. c. 36-39 erläutert durch aſſhriſche Keilinſchriften. 613 


λευτος, ein dreijähriger Streit zwiſchen Aronprätendenten. 
Nah Polyhiſtor bei Euſebius (Chron. armen. ed. Mai 
p. 19) fdeint zuerft ein Bruder Sanheribs König in Ba: 
bylon geworden zu fein, ben ein Hagifa vertrieb, welcher 
nad 30tügiger Herrfhaft von Merodach Baladan ge 
töbtet wurbe. Daß biejer ber alte ungebeugte Held, 
der nochmals aus den Sümpfen feiner Heimat auftaudjte, 
um fid) der Herrſchaft zu bemächtigen, und nicht ein Sohn 
desfelben war, wird jegt nad) Lenormant aud) von €dra- 
der (a. D. €. 343) angenommen, welcher den Umftand, 
daß der Merodach Baladan Sanheribs niemals al8 Sohn 
eined andern M. Baladan bezeichnet ift, für diefe An- 
nahme günftig bezeichnet. Dann hat der Chaldäer, wel: 
her Syuba in den patriotifhen Kampf ziehen wollte, vier 
aſſyriſchen Herrſchern nadeinander (Tiglat Pilefer, Sal- 
manafjar, Sargon, Sanherib) den zäheften, oft und lange 
erfolgreichften Widerftand geleiftet. Sanherib befiegt ihn 
endlich — ina risch scharruti: im Beginn feiner Herr- 
ſchaft, alfo 704—703, womit ber ptolemäifche Kanon 
fimmt (f. vorhin), und Polyhiſtor bei Eufebius, nad 
welchem nad bem Tode des Hagiſa (Afifes) Marodach 
Baldanus per vim regnum tenebat sex mensibus. (Die 
weitern Worte: eum vero interficiens quidam, cui no- 
men erat Elibus (Bel.), regnabat, tviber[predjen ber ins 
ſchriftlichen Ausfage Sanheribs, wornach er nod) in ſpä⸗ 
term Jahren benjelbeu SXerebad) Baladan, ben er in 
feinem erften Feldzug befiegt, wieder zu befämpfen ge- 
babt habe.) Er unterlag bei der Stadt Kis, bie Nebukad⸗ 
nezar bem Stadtgebiet von Babylon einverleibte. Doc 
entfam ber alte Gireitér wieder, nachdem er etwa ein 
Jahr lang feinen Thron in Babylon wieder aufgerichtet 


614 ‚Himpel, 


batte. Sanherib machte nun eine in feinem Palaſt auf: 
gezogene Greatur, Belibus, den Bolyhiftor irrig zum ſelb⸗ 
ftünbigen Prätendenten macht, zum Unterfönig in Baby: 
Ion 704. 699, ein Jahr nad bem unglüdlichen Gel. 
zug gegen Ägypten unb Judäa, hatte fid) Merodach Ba- 
laban wieder aufgerafft, ohne Zweifel aud) in Folge ber 
günftigen Nachrichten von Südpaläftina herüber, und mit 
einem jungen Fürften Suzub verbündet, worauf Belibus 
mit ihnen fid) zu vertragen fucht, aber abgefegt und nad 
Affyrien verbracht wird. Suzub unterliegt und Mero: 
bad) Baladan entflieht zu Schiff nad) Nagit Raggi auf 
einer Infel des perfijden Meerbufens. Sanherib fegt 
feinen Sohn Ajarhaddon zum König von Akad und 
Sumir (Babylonien) ein im Jahr 699. Nochmals wandte 
fid) Merodady Baladan, dem der König von Glam, fub 
hir Nakhunta, ein Gebiet an der füfte eingeräumt hatte, 
gegen den verhaßten Affgrer, indem er eine Mafjenein- 
mwanderung ber jenem unterworfenen Chaldäer auf fein 
Gebiet bemerfjtelligte. Aber Sanherib baute im Ninive 
eine Flotte, durch welche („ſyriſche Schiffe“ wegen ihrer 
phöniziſchen Bemannung auf den Infhriften genannt) er 
jene3 Küftengebiet verwüften lie. Nun erft tritt Mero- 
dad) Baladan vom Schauplage ab, nachdem er 43 Jahre 
lang burd) alle Mittel die aſſyriſche Oberherrichaft be: 
kämpft hatte. (Vgl. Lenormant a. Ὁ. €. 149 ff.: Ein 
babyloniſcher Patriot des 8. Jahrhunderts.) Suzub er: 
obert fid) nun mit Hilfe Elams den babylonifchen Thron, 
wird aber von Sanherib zweimal geſchlagen und gefangen 
687. Aus bem Gewahrſam entflohen wird er abermals 
König in Babylon, jedoch jammt bem Nachfolger f. Na: 
Thunta’3, Umman Menan, und dem älteften Sohn Mer. 





Jeſ. c. 36-89 erläutert durch afſhriſche Keilinſchriften. 615 


Baladans, Nabufumisfun, bei Kalul am Tigris aufs 
Haupt geſchlagen, worauf Sanherib Babylon zerftören 
und ben gefangenen Sohn Merodach Baladans enthaup- 
ten ließ. Im März 685 mar die Stadt nod) nicht zer- 
ftóvt, zur Seit, ba das Prisma des brit. Muf., auf dem 
Sanherib bie Niederlage feiner Gegner erzählt, angefer- 
tigt wurde. In ber großen, etwas fpäter auf bem δεῖς 
fen von Bavian eingegrabenen Inſchrift berichtet er mit 
graufamem Wohlgefallen bie Einzelheiten der Plünderung 
und Zerftörung. Er erwähnt dabei der Bilder des Got- 
te8 Bin und der Göttin Sala, melde 418 Jahre früher 
aus Afiyrien entführt worden waren, und des koniglichen 
Siegels Tiglat Samdams I, das man damals bereits 
feit 6 Jahrhunderten in der Hauptftadt aufbewahrt hatte. 
fenotmant a. D. ©. 213. Doc (don 681 im Todes: 
jahr Sanheribs baute die Stadt fein Sohn und Nachfolger 
Afarhaddon wieder auf und machte fie zu feiner Refidenz. 
Der zweite Sohn Merodach Baladans blieb nicht lange 
im Befig be8 Landes Bit-Jafin, das fein jüngerer Bru- 
der Nahid Marduf burd) Unterwürfigfeit gegen den Groß- 
Tónig, ganz unähnlich feinem Vater, ibm abgewann. Doch 
in deſſen Sohne Nabobelfum ſchien des Großvaters un- 
verföhnlie Feindfhaft gegen Afigrien wieder aufgule- 
ben. Er confpirirte 651 mit dem zmeiten Sohn Afar- 
haddons und SBicefónig von Babylon, Samulfumufin, 
gegen defjen ältern Bruder, bem aſſyriſchen Großkönig 
Alurbanipal (Sardanapal, feit 668 auf bem Thron). 
Sie unterlagen: Samulfumufin verbrannte fid) lebenbig 
in feinem Palaft (648); der Enkel Merodach Baladanz 
fellte als Friedenspreis vom neuen Könige Elams, Um: 
manalbas, zu dem er geflohen, ausgeliefert werden; bod) 


616 Himpel, 


trug berfelbe aus Furcht vor der fanatifchen Kriegspartei 
Bedenken, ben befreundeten Gaft zu verraten — von 
ber diplomatifhen Correfpondenz, bie zwiſchen Sufa und 
Ninive hauptfächlic hierüber gewechſelt wurde, find meh- 
tete Stüde auf Terracottatäfelhen im Archivbau bed 
Palaſtes zu Kujundſchik wieder gefunden worden — und 
als er fi mad) einem verheerenden Krieg (645 — 644) 
dazu genöthigt fand, lief fid) der Enkel des großen Ahnen 
duch feinen Waffenträger ermorden, unb Afurbanipal 
erhielt die Leiche zugefandt, am ber er unwürdig mod 
feine 9tade zu fühlen ſuchte. Er ließ fie enthaupten, 
ben Körper auf bem Schindanger ausfegen unb bie Be 
ftattung desſelben verbieten (bie Serte darüber in Smith's 
Asurbanipal €. 205—265). Ein fleine8, gutgeatbei 
tete8 Basrelief aus bem Palaft zu Kujundſchik im brit. 
Mufeum ftellt den ninivitiihen Groffónig im Qarema3- 
garten inmitten feiner, Frauen gedjenb bat, und das ein 
balfamirte Haupt feines Todfeindes Nabobelfum an einem 
ber Bäume des Gartens dem Könige gegenüberhängend, 
daß er im Genuß ſolchen Anblicks feine Freuden erhöhe. 
Aber, Spricht der Prophet Nahum, der ältere Zeitgenofle 
Aurbanipals: „Der Herr ift ein eifriger Gott und ein 
Rächer, ja ein Rächer ift er und voll Grimmes, ber e 
feinen Feinden nachträgt.“ Erſt angefiht3 ber entjeg- 
lichen, jegt für die legten Jahrhunderte des afiprifchen 
Reichs vollitànbig aufgebedtem Gejdjidjte be8jelbem und 
feiner Denkmale begreift man ben Propheten, wenn et 
gegen Ninive dad gewaltige Wort [pridt: „ES wird ber 
Streithammer wider bid) heranziehen und bie Feſte θὲς 
lagern... . Raubet Silber, raubet Gold, denn hier ift 
der Schäße Fein Ende und der Menge aller köſtlichen 





Jeſ. c. 36—89 erläutert durch affgrijdje Keilinſchriften. 617 


füeimobe. Nun aber muß fie rein abgelejen und geplüns 
bert werden, daß ihr Herz vergage, alle Aniee ſchlottern, 
alle Lenden zittern, aller Angefichte erbleihen mie ein 
Topf. Wo ift nun die Wohnung der Löwen, da Löwe 
und Löwin mit ben Jungleuen wandelten, und niemafib 
konnte fie ſchrecken? Der Löwe raubte volles Genüge 
für feine Jungen und würgte für bie Löwinnen; feine 
Höhlen füllte ec mit Beute und feine Behaufungen mit 
Zerfleiſchtem. Siehe, Ich will an dich, ſpricht Gott Ze- 
baoth, verbrenne deine Kriegswagen, und ba8 Schwert 
fol deine jungen Leuen frefjen . . . Wehe ber SRotb- 
ftabt, ganz gefüllt mit Lüge unb Gewaltthat, wo des 
Raubens fein Ende... . die Völker verſchacherte burd) 
ihre Buhlereien und Stationen burd) ihre Blendwerke . . . 
Auch bu mußt trunken werden (vom Sornbedjet de Herrn). 
AU deine Zeften find Feigenbäume mit Frühfeigen: ſchüt⸗ 
tet man fie, fo fallen fie dem Gier in ben Mund. Zu 
Weibern wird bein Boll, e8 frifjet Feuer deine Riegel 
. .. ba8 Schwert wird bid) frefien mie Käfer, bid) 
überfallen mie Qeufdreden". Das prophetiihe Wort 
und Gefiht — „Hoch! klatſchende Peitſchen und vaffelnbe 
Räder, fpringenbe Roffe und hüpfende Wagen, . . . bligende 
Speere, ſchwere Menge Erſchlagener, man ftraudelt über 
bie Leihen“ — verwirklichte fid), als fehon ein Menſchenalter 
fpäter bie Babylonier und Meder, jene von Nabopolafjar, 
bieje von Kyarares geführt, Ninive eroberten unb in 
einer Weife zerftörten, wie es nicht wieder erlebt wurde, 
(600); (auffallend genau nad) dem Wort Nahums 3, 19: 
„unheilbar dein Bruch, tödtlich beim Schlag, Alle, bie 
dein Geſchick vernehmen, klatſchen mit der Hand über 
bid, denn über men ift nicht deine Bosheit ergangen 
Sob Duartalfgrift. 1888. Seit IV. 41 


618 Himpel, 


immerdar“?) Denn die Weliſtadt hat fij nicht wieder 
erhoben, wie e8 mit Babylon zum öftern geſchah, und 
erſt nach beinahe fünfundzwanzig Jahrhunderten mar der 
Menge ihrer Steinfhriften und Denkmale eine friedliche 
Auferftehung befdyieben, weniger zum Ruhm ihrer Gründer, 
als zur Bewährung unb zum Triumph des geichichtlichen 
und prophetiihen Wortes der Bibel. 

38. 1 be8 Kapitels find zwei Baladan genannt, ber 
beſprochene Vaterlandövertheidiger und fein Bater Bala- 
dan. Man vermuthet biebei ein SRipoerfünbnip, ba 
jener ein Sohn Jakins in den afigrifchen JInſchriften 
beißt, (wie ſchon in ber Prunkinſchrift Tiglat-Pilefers: 
Marduk—habal—iddina, habal Jakini, sar tihamtiv: 
M. B., Sohn Jakins, des Meeres König), und meint, 
ber Hebräer habe bie Wortzufammenfegung für einen 
Genitivausdrud gehalten: Merodach Baladani, sc. filius, 
was bann zum Weberfluß duch ben Zufag nod) ver- 
beutlidjt worden wäre (Nägelsb. a. D. ©. 422). Ju 
deflen wird das Hebräiſche im Recht fein mit feinem 
„Sohn Baladans“ und derfelbe dennoch aud) Sohn 
Jakins geheißen haben können. Denn, tie Schrader 
a. O. €. 342 und [don in Keilfchr. und Geſch.-Forſch. 
©. 207 nachweiſt, follen Bezeichnungen, wie Söhne von 
Gewifen, wenn fie oon Herrſchern gebraucht werben, 
wie Jehu, Sohn be8 Dmri, Achuni, Sohn des Adini 
(bekannt if aber aud) ber biblijde erweiterte Sohns⸗ 
begriff für Enkel, Urenkel unb mod) entferntere Grabe) 
diefe Herrſcher nicht als wirkliche Söhne der als Väter 
genannten Perfönlichkeiten, fondern lebiglid) als Bes 
herrſcher ber nad) den Gründern der Dynaftie benannten 
Herrſchaftsgebiete Bit—Adini, Bit—Omri u. ſ. m. vor 


d.e. 86. 89 erlauteri tud aſſhriſche Keilinſchriten. 619 


führen. Ebenfo follte Merodah „Sohn bes Jakin“ als 
Mitglied des über Bit—Jakin herrſchenden Fürften- 
geſchlechts bezeichnet werden, woneben berjelbe als leib- 
lichen Bater ben Träger eine ganz ambern Namens 
haben fonnte, und das zweite Baladan unjre8 Verfes 
eine im Aſſyriſchen gar nicht ungewöhnliche Verkürzung 
be8 unmittelbar vorangehenden vollen Namens ift. — Den 
Kriegs: und Siegesbulletinftil eines alten affprijdjen 
Croberer8 wie Sanherib djarafterifitt ber f. 6. SBelli- 
nocplinder, welcher i. 3. 702, im 4. Jahr des Königs, 
nah ber Befiegung Merodach Baladans angefertigt 
wurde, ba in ihm des Feldzugs gegen Syrien, 9legyp- 
ten, Judäa nad) feine Erwähnung geſchieht. Es heißt, 
nachdem bie Befiegung be8 Babyloniers und ber mit 
ihm verbündeten Clamiter angegeben ift: „Er floh in 
das Land Guzumman, barg fid) in Sümpfen und Schilf- 
rohr und brachte fo fein Leben davon. Die Wagen, 
Roſſe, Maulthiere, Ejel, Kameele und SDromebare, melde 
er auf bem Sclachtfelde gelaffen, erbeuteten meine 
Hände. Seinen Palaft in Babylon betrat ἰῷ voller 
Freude und öffnete feine Schaplammer: Gold, Silber, 
Gegenftände von Gold und Silber, koſtbare Steine allerlei 
Art, feine Habe, Befigthümer, reihe Schätze, feine 
Gattin, Palaftfrauen, die Großen, bie gefammten mit 
Verwaltung des Palaftes betrauten Beamten, jo viel 
ihrer waren, führte id) fort, beftimmte id) zur Sclaverei. 
Hinter ihm ber in ba8 Land Guzumman fandte id) 
meine Soldaten, mitten hinein in bie Sümpfe und 
unb Moräfte. Fünf Tage vergehen — nit ward eine 
Spur von ihm gefehen. In ber Kraft Aſurs, meines 
Herrn, nahm ἰὼ 89 befeftigte Städte und Burgen Chal⸗ 
41* 


620 Himpel, 


büa'8, ſowie 820 kleinere Städte in ihrem Gebiete und 
führte ihre Gefangenen fort. Die Araber, Aramäer und 
Chaldäer, melde in Cred, Niffer, Kis, futba, ſammt 
den Bewohnern ber aufrühreriſchen Stadt führte ἰῷ 
fort, beftimmte fie zur Gefangenidaft. 2,008,000 Män- 
ner und Weiber, 7200 Pferde, Maulthiere, 11,113 Efel, 
5230 fameele, 80,100 Rinder, 800,600 Stüd Klein: 
vic, eine reide Beute, führte id) gegen Afiyrien ab." 


VL 


Das ber Zeit nad) fpütefte und unftreitig bedeu⸗ 
ienbfle der c. 36 bis 39 berichteten Greignilje, bie 
efiprifde Kataftrophe in Judäa, melde die große Grpe- 
dition €anferib$ gegen Syro-Phönizien und Aegypten 
ruhm⸗ und erfolglos abſchließt und bem Heinen Land 
durch feinen großen Propheten ein fo glänzendes Relief 
verliehen hat, ift, wie ſchon Eingangs erwähnt worden, 
in 36 f. vorangeftellt, ba8 legte auch in der Darftellung 
zum erften gemadt worden. Es wurde auch ſchon 
berührt, daß nad dem dur ben gut beglaubigten 
aſſyriſchen Regentenkanon des Ptol. nicht im vierzehnten, 
fondern im achtundzwanzigſten Regierungsjaht des itia, 
nicht wie bie bisher mad) ber hier brüdjig gewordenen 
bibliſchen Chronologie allgemein galt, im Jahr 714, 
fondern 701 jener Feldzug Sanheribs, der dritte [eit 
feiner Tpronbefteigung, unternommen worben if. Nah 
ben aſſyriſchen Liften wie nah bem aftronomijd) feft: 
geftelten ptolemäifchen Kanon, mwelder das Jahr 709 
das erfte des Arkeanos nennt, Tann fein Zweifel fein, 
daß Sargon, der Vater Sanheribs, exit 709 den Thron 
Babylons beftieg; und ebenjomenig mad) den affprijden 





Sie. c. 386—839 erläutert burd) affyrifche Keilinſchriften. 621 


Verwaltungsliſten darüber, ba Sanherib nad Grmor- 
dung feines Vaters am 12. Ab (Juli) des Jahres 705 
erſt zur Herrfchaft gekommen 4ft. Weiter ift im aflys 
riſchen Regentenkanon ausbrüdlid) um ein Jahr fpäter 
al8 ber dritte Feldzug Sanheribs, jomit für das ' 
Jahr 700, die Einfegung des Aſurnadinſum (b. Ὁ. Aſur 
féenft den Namen) zum König von Babylonien burd 
Sanherib angegeben, und ber aftronomijdje Kanon nennt 
desgleichen biefe8 Jahr al8 das erfte be8 9[paramabius 
(vielmehr Aſaranadius (-Ajordan-Afurnadinfum). 

Man verfannte bald im B. Jeſaia die fachliche 
Voranftellung von C. 36—37 und ihre logiſche Noth- 
toenbigleit, faßte fie chronologiſch und verlegte bie Er- 
eignifje derfelben ins 14. Jahr Hiskia's, an melde man 
dann die 38—39 erzählten burd) bie allgemeine Zeit: 
beftimmung: in jenen Tagen und: in jener Zeit, als 
nur wenig fpäter vorgefallene anſchloß. Lenormant u. 9L. 
mollen burd) Umftellung der Kapitel helfen, fo daß ur- 
fprümnglid 38 f. mit ber Ueberſchrift: Es geſchah im 
14. Jahr Hiskia's vorangegangen und 36 f. mit ber 
Ueberſchrift: Es geihah im 14. Jahr, nämlich nach bem 
vorerzählten Ereigniffen, gefolgt wären. Muß manaber εἶπε 
mal an ben Ueberſchriften ändern, fo läßt man lieber 
bie fonft fo wohl berechtigte Stellung der Kapitel un- 
angetaftet und hebt die Hauptichmierigfeit durch eine 
Heine Aenderung und durch Wiederherftellung ber ur- 
fprüngliden Bedeutung ber vierzehn Jahre in 86, 1, 
mo die Chronologie nun einmal durchaus das 28. Jahr 
Histia's nerlangte, ſowie 38,1 das vierzehnte, [o daß 
dann 39,1 bie allgemeine Zeitangabe, ba fie burd) ben 
Zufammenhang mit 38 näher normirt wird, beftehen 


622 ‚Himpel, 


bliebe. Niemals aber iff urfprünglid) das vierzehnte 
Jahr 36,1 ala Rahmen aller folgenden Geſchichten bis 
39 incl. gedacht und eingefegt worden. Dagegen ſprechen 
die Zeitangaben ber beiden legtem hiſtoriſchen Kapitel. 
In bem von Iſaia wrfprünglid) felbftüubig verfaßten 
Geſchichtsabſchnitt, der nicht als older in fein Weifla- 
gungsbuch eingereibt wurde, ijt jedenfalls "bie chrono⸗ 
logijde Abfolge ber Ereigniffe von 36—89 eingehalten 
und mit bem nöthigen Seitbaten verjehen worden, fo daß 
bie Erzählung felbft mit dem vierzehnten Jahr Hiskia's, 
als bem feiner Erkrankung, begann, und ber Vorfall 
mit ben babplonijdjen Gejanbten als ungefähr in ber- 
felben eit, nur etwas ſpäter, geſchehen angereibt mors 
den. Wenn jobamu ber Bericht über bie afjprijde Er: 
pebition mitgetheilt wurde, fo fonnte allenfalls derjelbe, 
ber in ba8 28. Jahr Hiskia's fiel, wieder in ber 36,1 
angegebene Weife d)romologijd) beftimmt werben, indem 
damit daB vierzehnte Jahr nicht mad) ber Thronbe: 
. feigung, fondern nad) beu vorher erzählten Ereignifien, 
ber Erkrankung und Wiedergefung des Königs, bezeich- 
net war, was thatſächlich ba8 28. Jahr ber Regierung 
befielben geweſen ift. In deren vierzehntem Jahr war 
die Verheißung bem König gegeben worden: „von ber 
Hand des Königs von Affur will id) bid) erretten und 
bieje Stadt, und will fügen diefe Stadt." Da bieje 
Verheißung jest, vierzehn Jahre, nachdem fie gegeben 
war, fid) erfüllte, jo lag e8 febr nahe, ben Zug San- 
heribs, in welchem fie fid) verwirklichen follte, im ber- 
jelben Weife, aber mit Weglaflung ber Worte: „des 
Königs Hiskia“, zu batirem. Im 14. Jahr ber Stegie- 
rung be8 Königs die Weiffagung, und abermals uad) 


Jeſ. c. 36-89 erläutert burd) affyeifche Keilinfcheiften. 828 


14 Jahren ihre Erfüllung. Die Epoche der legtem 
verdiente ja wegen der monumentalen Größe des Ereig⸗ 
niffes, in bem fie fid) verwirklichte und der Folgen bes: 
felben für Juda beinahe, al8 Anfangspuntt einer neuen 
Zeitrechnung zu gelten. Es mitb babei von 9tágel8bad) 
(a. Ὁ. €. 380) an ähnliche Beitbeftimmungen im Buche 
Ezechiels erinnert, wo ebenfalls ber fachliche terminus 
8. quo nicht ausdrüdlich bezeichnet, ſondern als bekannt 
voraußgefegt wird. Der Berfaffer ber B.B.der Könige 
bearbeitete dann bie Geſchichten nad bem Serte ber 
alten Quelle von Jeſaia's Hand, nahm aber mohl bie 
Gadorbuung ber Ereigniffe aus bem Buch Jeſaia's 
berüber. Für legtere verlor fid) das richtige Verſtänd⸗ 
miB, und aus bem vierzehnten Jahr allein, b. b. dem 
28. der Regierung bes Königs (36,1), wurde mum das 
vierzehnte feiner Regierung, wie e8 nunmehr heißt: im 
vierzehnten be8 Königs, unb 38 f. je zu Anfang mit 
allgemeiner Zeitbezeihnung an bie vorigen Ereignifie 
und ihren ungefähren Zeitrahmen angefchlofien. Natür- 
τῷ ift die falſche Datirung dann alsbald von einem 
ber beiden Texte, in meldem fie von maßgebender 
Stelle aus bei Anfertigung einer neuen Abſchrift zuerſt 
angebracht worden mar, aud) in den andern getragen 
worden. 

Seinen dritten Feldzug erzählt Sanherib auf bem in 
ben Trümmern. feines Palaftes zu Kujundſchik (Moful 
gegenüber) gefundenen, ſchon oben erwähnten heragonalen 
Thoncylinder, defien große Jnſchrift feine erftem adt 
Feldzüge fchildert, fodann fommen mod) als theilweife 
Barallelen die Inſchriften auf den Stieren, bie am 
Eingang jenes Palaftes ftanden, bie Heine über einem 


624 Himpel, 


Bilde, das Sanherib auf einem Throne figend und beim 
Empfang jiübijdjer Gefangener.barftet, und eine τ: 
mähnung ber Unterwerfung Juda's fowie des Königs 
Hiskia in der Inſchrift von Gonftantinopel in Betracht. 
Dazu berichtet über dieſen Feldzug neben Jeſaia, bem 
zweiten Buch der Könige und ber Goronif aud) Herodot 
(II, 141) Die biblijden Berichte werben burd) bie 
bier unerwartet ausgiebige Gontrole gleichzeitiger pro: 
faner Nachrichten fo volftändig gerechtfertigt, daß ber 
Hyperkritik nur nod) bie Ausflucht blieb, ben Leber 
fegungen ber afiyrifchen Berichte könne man fein großes 
Zutrauen ſchenken, weil fie mit ben bibliſchen Berichten gar 
zu febr übereinftimmen. Die Ermordung Sargons, bie 
Wirren, bie fid) daran Inüpften, der Aufftand der Baby: 
lonier fielen wie Funken in bem aud) in Spro-Phönicien 
und Baläftina bis nad) Aegypten bin aufgehäuften Zünd- 
ftoff. Die meiften dortigen Völkerſchaften griffen zu beu 
Waffen und glaubten den Augenblid gekommen, das 
harte Joch der Afiyrer brechen zu fünmen. Auch Juda, 
obgleih von Jeſaia ftet8 auf die einzige Hilfe hinge— 
wieſen, Tonnte unter feinem thatkräftigen König ber Ber 
megung nicht thatlos gegenüberftehen. Hiskia fiel ab 
von Afiyrien (2 Kön. 18,7), in befjen Obmacht der Dod 
müthige Achas fid gebracht hatte (16,7), und um bie 
Gunft der Umftände auszunügen und zugleich eine unter 
Achas bem Lande geichlagene Scharte (2 Ehron. 28,18) 
auszuwetzen, befriegte ev das Philiftäerland und „ſchlug 
bie Philifter bi8 gegen Gaza und ihr Gebiet von ben 
Wãchterthürmen an bis zu den feften Städten" (2 Kön. 
18,8), obgleih ba8 Land zu gutem Theil unter afly: 
riſchem Schuge ftand. Die Verbindung bes Abfalls von 


Je. c. 36-39 erläutert durch aſſhriſche RKeilinfhelften. 625 


Aſyrien mit der Bekriegung ber Philifter zeigt deutlich, 
in melde Zeit beides zu verjegen ift. Das eine mie 
ba8 andere geſchah auch ficher auf Anftiftung ber ägyp⸗ 
tiſchen Partei, welche in bem anfcheinend duferft gün- 
ſtigen Seitpunft leicht das Ohr des Königs gewann und 
über bie Gefahr („Aegypten wird eitle und nichtige Hilfe 
leiten, ein Prahlhans, ber fid nicht von ber Stelle 
rührt“; „Wenn ihr eud) ruhig haltet, werdet ihr gerettet 
werden, in Hilfe und Gottvertrauen wird eure Rettung 
fein. Ihr ſprachet: Nein, fondern zu ben Roſſen 
Aegyptens) wollen wir Zuflucht nehmen — daher follt 
ihr flüchten! auf (djnelle Renner wollen wir fteigen — 
darum follen noch fehneller Laufen eure Verfolger“, Jeſ. 
30,7 15 f) duch Zufage ägyptiſcher Hilfe hinweg: 
täufehten. Der Großlönig ließ aud, nachdem er Baby⸗ 
Ionien und Medien niedergemorfen hatte, feiner jenfeità 
bes Euphrat nicht länger warten. Sanherib wandte 
fid zuerft gegen die phöniciihen Städte. Sidon, das 
nicht lange vorher Sargon burd) fünf Jahre erfolgreich 
wiberftanden hatte, unterwarf fid), denn „feinen König 
Eluli überwältigte ber Schreden ber Majeftät meiner 
Herrſchaft (ſchreibt Sanherib), unb er floh weithin mitten 
in's Meer." An feine Stelle fegte ber Afiyrer beu 
Ethobal unter Verpflichtuug zu beftimmtem Jahreötribut. 
Nach einander unterwarfen fid) nun bie Kleinkönige jener 
Länder: Abdilit von Arvad, Urumilfi von Byblos, 
Mitinti von 9L8bob, Buduil von Ammon, Chamosnabab 
von Moab, Malitram von Edom; „die füftengebiete 
insgefammt brachten ihre reichen Gefchenfe und Geräthe 
mir dar und Füßten meine Füße." Diefe Aufzählung 
beginnt mit Menahem von Samfimurung, was H. Raw⸗ 


626 Himpel, 


linfon u. 9L für Samaria nahmen, to nad bem Falle 
des Nordreichs aſſyriſche Bafalenfürften eingefegt wor⸗ 
den wären. Aber Samaria wird feit ihrer Eroberung 
butd) Sargon nicht mehr in ben aſſyriſchen Inſchriften 
erwähnt, worin fie ebenfall8 mit der Bibel ftimmen, 
und beißt conftant Samirina !). Askalon verfuchte 
Widerftand und verlor feinen Fürften Zidka, ber mit 
feiner Familie erilirt wurde, fammt bem „Göttern des 
Haufes feines Vaters." Auch bie von Asfalon ab: 
hängigen Stäbte, Betdagon, Joppe, Bene-Barak, Hazor 
(Azuru af.) wurden eingenommen. Nicht anders erging ed 
Efron, das „feinen König Padi, welcher Treue und Eidſchwur 
Afigrien gehalten, in eiferne Bande gejdlagen und bem 
Hiskia von Juda überliefert hatte, der ihn im Kerker 
einfloß“ ?). Die Unterwerfung der Stadt burd) Hiskia, 
wie fie ber aſſyriſche Tert meldet, paßt vortvefflid) zu 
den vorerwähnten Eroberungen, bie Hiskia nad 2 Kön. 
18,8 im Land ber Philiſter gemacht hatte. Noch hielt 
fid der Großfönig abfeit3 von Juda, ba die ägyptiſch- 

1) Samfimuruna ijt baber eine Tanaanitifche Stabt, auf bem 
Eylinder an ber Spige ber tributüren Tanaanitijchen Staaten, tor 
Sibon, Arvad, Byblus genannt, wohl Schomron Meron Jof. 12, 
20, ba Socin (Paläftina und Shrien, Leipg. 1875, ©. 441) mit 
heutigem esSemirije etwas nördlich von Affo, füblich bon Akzib ⸗ 
Etdippa ibentifigirt. Lenormant (a. D. IL Θ, 194) fieht in Sam- 
fimurung Orthoſia der Griechen. Nach feiner Zufammenftellung 
mit Sidon u. |. tv. bürfte eà im nördlichen Phönicien gelegen haben. 

2) Amfarruna, von Dppezt u. X. für Migron erklärt, bas doch nur 
ein Heiner SRarftfeden in Benjamin war. Dazu muB Amtarr. 
viel weiter weſtlich gelegen haben, nahe bei Eltheke, und ift zweifel- 
108 in Efron erfannt. Die Ausſprache Akkaron in Sept. und Jo 
ſephus ftebt ber afforijdem weit näher als bie majoretijde. Die 
"üerbopplung ift aufgelöft, mogu Ambakum aus Habbakuk zu ver» 
gleichen fteht. 


gef. c. 36—89 erläutert durch affgrijde Keilinſchriften. 627 


äthiopiſche Macht ihm entgegenrüdte, ihre Bundeögenoflen 
in Sübmweftpaläftina zu idügen: „Die Könige von 
Aegypten, bie Schügen, die Wagen, bie Roſſe des ft: 
mig8 von Miluchchi (nicht nad) Senormant bet weſtliche 
Theil des Delta, fondern Dberügpptem und ein Theil 
von Nubien, Schrader a. D. ©. 86 f), umzählbare 
* €djaaten riefen fie herbei. Im Angeficht vou Altaku 
ward mir gegenüber bie Schlachtordnung aufgeftellt 
(zwiſchen Asdod und Timnath, of. 29, 44 Elteke). Im 
Vertrauen auf Afur meinen Herrn kämpfte ich mit ihnen 
und Dradjte ihnen eine Niederlage bei. Den Oberften 
der Wagen und bie Söhne des ägyptiſchen Königs 
famunt dem Oberften der Wagen be8 Königs von Mi— 
luchchi nahmen meine Hände lebenb inmitten der Schlacht 
gefangen. Die Städte Altaku und Timnath griff id) an, 
nahm fie und führte ihre Beute fort.“ Nach ber Schlacht 
bei Altaku erobert mum Sanherib Efron, läßt bie vor— 
nehmften Bürger auf bem Umkreis ber Stabtmauern 
pfählen und bewirkt die Sreilafjung be8 Padi aus Jeru⸗ 
falem, ben er wieder auf feinen Thron jet, indem er 
ibm ben Tribut feiner Herrihaft auflegte. Nun erft, 
gegen Phönizier, Philifter, Aegypter fiegreid) geworden, 
was bie biblijde Geſchichte als ihr ferner liegend über: 
geht, wendet er fid) biteft gegen Juda: „Hiskia aber 
von Juda, welder fih mir nicht unterwarf; 46 feiner 
feften Städte, zahllofe Burgen und Kleine Derter, buch 
Niederlegung ber Wälle und offenen Angriff belagerte 
id, nahm id) ein. 200, 150 Menſchen, groß und Hein, 
männlichen und weiblichen Geſchlechts, Pferde, Maul: 
ifiere, Eſel, Kamele, Kinder und Schafe ohne Zahl 
führt? ij aus benfelben fort und redjnete id) als Kriegs⸗ 


628 impet, 


Beute. Ihn felber ſchloß ich wie einen Vogel im Käfig 
in Jerufalem feiner Königftabt ein. Befeftigungen führte 
ich wider ibm auf, und die Ausgänge des Hauptthores 
feiner Stadt fperrte ih. Seine Städte, bie ἰῷ geplün- 
bert, trennte ἰῷ von feinem Gebiete ab und gab fie 
Mitinti, dem König von 9[3bob, Padi, bem König vou 
Efron und Zilbel, dem Könige von Gaza; alfo ver. 
kleinerte id) fein Land. Ihn, den Hiskia übertültigte 
ber Schreden ber Majeftät meiner Herrſchaft; die Araber 
und feine Getreuen, melde er zur Vertheidigung von 
Zerufalem, feiner Königsftabt, Hineingenommen und denen 
er Soldzahlung bewilligt hatte, fammt 30 Talenten 
Goldes, 800 Talenten Silbers, ...... , elfenbeinernen 
(Bf. 45, 9. Am. 6, 4 mo mon) Ruhebetten und Pracht⸗ 
feffeln, einem gewaltigen Schage, und dazu aud) feine 
Töchter, Palaftfrauen, feine männlihen und weiblichen 
Haremsdiener (?) lieB er mir nah Ninive, meinem 
Herrſcherſitze, nachführen.“ Sauherib vertheilte bie von 
Juda abgeriffenen Gebiete an die philiftäifchen Könige, 
melde Hiskia vorlängft befriegt und geſchädigt hatte. 
Man bat bier eine den biblifhen Berichten faft con- 
gruente, höchſt bemerkenswerthe Darftellung. Jeſ. 36, 
1 und 2 Kön. 18, 13 berichten nicht minder, baB bet 
Großlönig alle feften Städte in Syuba eingenommen habe. 
Dieb geihah nad) afiyriihem Bericht nad) dem Zuſam⸗ 
mentreffen mit ben Aegyptern bei Eltefe durch von 
Weften aus ber philiftäiichen Niederung ausgefandte 
Truppentheile, ba der Kaupttheil des Feldzuges mad) 
Niederwerfung Phöniziens dort und gegen Aegypten fid) 
abfpielte. Hiskia ſah fid mun zur Tributzahlung ge: 
nöthigt. Die Summe betrug nad) 2 Kön. 18, 14 dreißig 





Jeſ. c. 36—39 erläutert durch aſſhriſche Keilinſchriften. 029 


Talente Gold und 300 Talente Silber, auf bem affp- 
rifhen Prisma jedoch 800 Talente Silber. Beide An- 
gaben, nur ſcheinbar mit einander in Widerſpruch, find 
ein glänzendes Zeugniß der gegenfeitigen Unabhängigkeit 
und ber Zuverläßigteit beider Berichte. Denn mad) bem 
Nachweis von Brandis (Münz:, Maß: und Gewicht: 
wefen in Vorberafien €. 98) machen 800 aſſyriſche Ta: 
lente genau 300 paláftinijde aus, da dag fehwere Talent 
ber Hebräer und das Heine von Babylon-Afiyrien genau 
im Berhältniß von 8 zu 3 fanden, und jenes 2?/s aſſy⸗ 
riſche Talente enthielt ^). Für das Gold haben beibe 
Berichte die gleiche Rechnung, da bie Hebräer feit den 
Beiten ihrer Könige biefe8 Metall in größeren Summen 
mad) dem babylonifhen Talente beftimmten. Die von 
Hiskia ber bedungenen Gontribution (2 Kön. 18, 14—16, 
was iu Δεῖ. 36 fehlt) beigefügten Geſchenke find auf dem 
aſſyriſchen Prisma fpeziel aufgeführt. 

Die ber im Wefentlihen mitgetheilten Infchrift bes 
Prisma parallele auf den Kujundſchik-Stieren ift etwas 
verfürzt, bietet aber aud) einzelne bemerkenswerthe Er: 
gänzungen. Sie gibt fpegiell an, ba Eluläus, ber König 
von Sidon, mitten aus bem Weftlande weg auf bie 
Inſel Eypern vor den Aſſyrern geflohen jei, die Könige des 
Weftlandes in8gejammt Sanherib reihe Gaben angefichts 


1) 2enormant erläutert a. D. II ©. 199 bie Rechnung in 
etwas burdj ben Beifag: „Der Unterſchied in Beftimmung der Summe 
zwifchen beiden Urkunden ift alfo berfelbe, ber fid) etta bei unfern 
fünf Miliarden zwiſchen bem franzöſiſchen Ausdruck in Franken 
unb bem preuBijden in Thalern geltend machen toürbe." Die Ge- 
ſammtſumme ber Gontribution des fehr feinen fünigreidjà Juda 
war über act Milionen Franken, bei damals fünf- bis Τεώδίαδ, 
höherm Werth ber Gbeímetalle. Ebendaſ. €. 200. 


630 Simpet, 


ber Stadt Uſchu darbrachten, baf ber Großkönig in bet 
Schlacht bei Altaku den Oberften ber Wagen und bie 
Söhne des ügpptijdjen Königs jammt bem Dberften der 
Wagen be8 Königs. von Miluhha mit eigener Hand 
lebend gefangen, die höchſten Beamten der Ctabt Efron 
mit den Waffen getóbtet habe. Nach derfelben Inschrift 
bewirkte er, daß ihr König Padi Jeruſalem verlafien 
fonnte", belagerte neben ben 46 Städten Juda's aud 
befeftigte (Kleinere) Drte und die Städte, die in deren 
Bereich lagen, ohne Zahl („alle“ der bibl. Berichte) ; (das 
Bild von Hiskia ala dem Vogel im Käfig, eingeſchloſſen 
in Jerufalem, bat diefe Inſchrift nicht: es vergleijt 
fid) demfelben aber als faum zufällige, merfwitrdige Be 
fütigung des aflyriihen Sprachgebrauchs Jeſ. 10, 14, 
Ὧ ber Großfönig fagt: „es griff wie mad) bem Neft 
meine Hand mad) dem Gut ber Nationen, und wie man 
verlaffene Eier jammelt, hab’ id) bie ganze Erbe einge 
than: ba war keiner, der einen Flügel rührte, ben Schnabel 
öffnete unb pipte"). Endlich habe er bie genannte Con: 
tribution, bie genau im gleichen Betrag angegeben ift, die 
Araber, die Hisfia im Sold hatte‘), ſowie Gegen: 
fände allerlei Art, die Schäge des Palaftes Hiskia's, 
feine Palaftfrauen mad) Ninive abgeführt. Daß alle 
Könige des Weftlandes Sanherib reihe Gaben darge 
bracht hätten, wird rubmrebnerijdje Uebertreibung deflen 
fein, was Arvad, Byblos, Asdod, Gaza, Ammon, Moab, 
€bom und wohl mod) einige Andere thaten, melde fij 


1) Ein claſſiſches BeugniB, bof Abſchnitte in Jeſaia, too bie 
Araber vorkommen, nicht unacht finb deshalb, weil biejelben nad) 


. biefem ihrem Namen damals nod) nicht belannt getvejen [eien ; afjot. 


find fie Urbi genannt. 


gef. e. 36—89 erläutert durch afforijdje Keilinfchriften. 691 


auf afiyrifche Seite geſtellt hatten. Er mar aber bis nad 
Lachis im fübliden Philiſtäa gelangt, wie neben ber Bibel 
eine Inſchrift über einem Basrelief bezeugt: „Sanherib, 
der König der Völkerſchaar, der König vom Lande Affur, 
fegte fid) auf erhabenen Thron und nahm bie Kriegs- 
beute der Stadt Lafis entgegen" (Schrader a. Ὁ. €. 287). 
Hier verblieb er in Erwartung ber Aegypter, denen er fid) 
aus Furt vor ben feindlichen Elementen im Rüden, vor 
allem Juda, nicht allzufehr nähern mochte. Er 30g fid) ſogar 
wieder nordwärts und ftellte fid) bei Altaku, im Güboft 
von Efron, dem ägyptiſch-äthiopiſchen Heere. Trotz bet 
bier gewonnenen Schlacht fam er aber nicht vorwärts, 
weder gegen Negypten bin, nod) aud) mur gegen Jeru- 
falem, fondern mußte, in Folge einer fürchterlihen Kata= 
ftrophe, bie über fein Heer Dereinbrad), fid) zu ſchleuniger 
Rückkehr nad) Aſſyrien entſchließen. Doch war die 
Schlacht bei Altaku nicht lediglich ein unbedeutendes 
Zwiſchenſpiel in der Belagerung Ekrons, das vom Aſſyrer 
aufgebauſcht worden, damit er die zweite Phaſe dieſes 
Feldzugs, einen entſcheidenden Sieg der Aegypter über 
ihn, um ſo beſſer verſchweigen konnte (Bleek, Einleitung, 
4. A. €. 256 f.). Die Schlacht mar allem nad mit 
ſchweren Berluften für den Großfönig verbunden und 
trug ihm wenig ein, ba er bier nichts von Kriegsbeute, 
wie fonft bod) immer geſchieht, erwähnt; fie mar ein Bor- 
geſchmack einer nod) ent[djeibenberen Niederlage, mit der 
ber Feldzug allerdings abſchloß, bie ihm aber nidt bie 
Aegypter beibradten. Dieſe zogen fid) vielmehr nad) 
genannter Schlacht zurüd, hatten jedenfalls uod) 
weniger davon profitirt und befanden fid) Taum in der 
Rage, in glüdlider Offenfive vorzugehn. Berichten daher 


P 


632 Simpet, 

bie aſſyriſchen Infchriften nichts von einer folden, in ber 
legten Phaſe des Feldzugs vorgefallenen Schlacht, jo ift 
der Grund davon nicht, weil diefelbe unglücklich für bie 
Aſſyrer ausgefallen war, welche aud) gar nicht, fo viel wir 
aus allen Berichten ſchließen müffem, weiter ſüdwärts 
gegen Aegypten vorbrangen, wie umgefehrt bie Aegypter 
nit nah Nordweiten als die vermeintlichen Sieger, 
was fie αἵδ᾽ bie wirklichen bod) immer thun mußten. 
Die angebliche zweite Schlacht im Feldzuge von "OL, 
oder die Annahme eines fpätern zweiten Feldzuges gegen 
Syrien und Aegypten, welcher in ber biblifhen Dar- 
ftellung mit dem genannten erften combinirt worden 
wäre, ift nur ein felbfterfundener Hilfsbegriff, um fid) 
bie Rataftrophe, in welcher das aſſyriſche Heer nach bib- 
liſcher Darftellung unterging, zu erflären oder über fie 
Toeggufommen, Auf dem Weg gegen Aegypten kam bie 
Hauptmafje des affprijden Heeres glei) anfangs in 
feinem March von Rord nad) Süd bis Lachis (heute Um 
Lakiſch, an ber Hauptſtraße von Jerufalem mad) Gaza, 
im Niederlande Judäa's zwiſchen W. Simſim und 99. 
el Hefiy), und Hierher verbrachten bie Judäer gleich an- 
fang? den großen Tribut 2 fim. 18, 14, ba Hiskia bei 
dem unaufhaltſam raſchen Fortſchreiten und ber Nieder: 
merfung feiner Bundeögenofien burd) Sanherib einge: 
ſchüchtert wurde, zumal aud) bie ägyptiſche Hilfsmadt 
fid nit raſch genug fammelte und Hilfe bradjte. Der 
aſſyriſche Bericht verfchiebt aber Diet den richtigen Ber: 
Tauf der Ereigniffe, wie ihn bie Bibel barftellt, indem er mit 
bet Tributleiftung der Juden ben unrühmlichen Feldzug ab- 
ſchließt, wie um ihm ein befieres Relief zu geben und 
den großen Manco zu verbedem ober auszufüllen, in 


Jeſ. c. 36—39 erläutert durch afſhriſche Keilinſchriften. 633 


melden er auslief. Schon Schrader (a. D. ©. 307 f.) 
bat erfannt, daß bie Juſchriften hier das verhältniß- 
mäßig Geringe, was ber Afigrer gegen Juda aus— 
tihtete, ungewöhnlich in der Darftellung ausftaffiren, 
um darüber, daß er unverrichteter Sache abziehen und 
reliia non bene parmula fluchtähnlich mad) Ninive 
zurückeilen mußte, fid) völlig auszuſchweigen, oder mas 
auf dafjelbe herauskommt, ben vielverſprechenden An— 
fang be8 Kriegszuges gegen Juda in ber Darftellung an 
ba? weniger als nichtsſagende Ende deffelben zu feten. So 
vermochte man (don im alten Aſſyrien „die Ereigniffe zu 
gruppiren“, um ben gewünſchten Effekt heroorzubringen. 

Bon Lachis aus entjendet der Großkönig, bereit3 im 
Befig aller feften Punkte Judäa's mit Ausnahme ber Haupt- 
ftadt, ſowie im Beſitz der Gontribution, bie ihm allein 
feine Sicherheit geben konnte, eine ftarfe Truppe gegen 
Serufalem, um deſſen König zum Vaſallenthum und 
Bündniß, fowie zur llebergabe ber feften Stadt zu ni» 
tigen, bie er bei weitern Operationen gegen 9legppten 
nit als drohenden Punkt fid) im Rüden Taffen founte. 
Er verdoppelt feine Anftrengungen, als er Nachricht vom 
Anrüden des großen ägyptifch-äthiopifchen Heeres er- 
hält; fie prallen aber an bem butdj den großen Pro- 
pheten und wohl aud) ben Eindrud jener längft erharr- 
ten Nachricht geftählten Widerftand des jübijden Königs 
ab. Der Großlönig war mittlerweile nad) Libna ge: 
zogen, wo Rabfafe, einer der Oberften der vor Jeruſalem 
detachirten Heeresabtheilung ihn mit ber Belagerung 
jener Stadt bejdjüjtigt trifft, um ihn von bet Bergeb- 
lichkeit aller Verſuche, Hiskia und Jerufalem umzuftim- 
men, zu benadyridjtigen (Jeſ. 37, 8 ff.) Mit Libna ift 

deol. Quartalfcrift. 1885. Heft IV. 42 


634 Himpel, 


fiher die altfananäifche Königaftadt, nadymalige Vriefter: 
ftabt Jof. 10, 29 in der Niederung, nicht meit von 
Lachis, gemeint (bie 3B. be Velde in bem Tel Strab el 
Menſchijeh wiedergefunden haben mill, zwiſchen Sumeil 
und Lachis etwas oſtwärts gegen Eleutheropolis, Seit 
Dſchibrin, ausgebogen, mit alten Befeftigungstrümmen). 
Jedenfalls ift der Großkönig auf jene Kunde nicht vor: 
wärts gegen Xegypten, fondern in ber Hoffnung, die 
heiß begehrte Qauptftabt zu forciren, in der Linie dort 
bin zurüdgegangen. Lenormant, der hierin Oppert fid 
anſchließt, nimmt (a. Ὁ. II, €. 204) dagegen erſteres 
an, indem er mit jenem meint, Libna bier nicht von 
der alten Stadt in Juba, fonbern von Peluſium verftehen 
zu müfjjem, weil aud) Herodot den Großkönig borthin 
Tommen läßt. Herodot ift hierin jebod) nicht verläßlich 
(f. u.), und nichts fpricht dafür, baf Sanherib über Ladis 
weiter ſüdwärts gefommen. Er z0g fid) vielmehr in 
feiner nicht ungefährlihen Lage, ba er Hiskia unb beffen 
fefte Hauptftadt nicht zu gewinnen vermochte, nod) weiter 
morbtürt$ in ba8 ihm toiebergemonnene Gebiet ber 
Gfroniter, wo er zum Stehen unb Schlagen mit ben end- 
lid) heraufgelangten Xegyptern fam. Denn die Schlaät 
von Altaku muß während der weitern Verhandlungen Rab: 
fafe'8 und Hiskia's Δεῖ. 37, 9—35 vorgefallen fein und 
ift der Schlußfataftrophe des Feldzuges nur wenige Zeit 
vorangegangen. Tirhafa, ber bie Aegypter führte, der 
legte und größte König ber fünfundzwanzigften, äthio: 
piſchen Dynaftie, refibirte in Theben, mo auf dem Linken 
Nilufer im Palaft zu Medinet Abu noch Sculpturen vor- 
handen find, welche ihn im Kampf mit Afiaten (Afiyrern) 
barflellen. Auf Inſchriften aus Ganberib'8 Zeit ift fein 


gef. c. 36-39 erläutert burd) affyeifche Keilinſchriften. 635 


Name noch nicht nachgewiefen. Dagegen rühmt Can- 
herib's Enkel Afurbanipal von feinem Vater Aſarhaddon 
(681—668), daß er Aegypten erobert und zu Afiyrien 
geſchlagen, und Tirhaka's, des Königs von 9letbiopien, 
Kriegsmacht vernichtet habe (Schrader a. D. €. 338), 
daß er aud) ſelbſt feinem erften Feldzug gegen ben 
rebelliſchen Tirhaka (Tarfu—u) von 9legppten unb Meroe 
ge:idtet habe. Damit fommt bie Angabe des Manetho 
überein, daß Tirhafa 366 Jahre vor der Eroberung 
Aegyptens burd) Alerander ben Großen anzufegen fei, 
ein weiterer Fingerzeig für bie Zeit des dritten Feld» 
zuges Canberibà. Manetho's Nachricht paßt ungleich 
beffer zu den aſſyriſchen Angaben (701), als zur Det- 
kömmlichen Chronologie des Feldzuges (714). 

Die biblifhen Berichte, welche biefe Periode fo an- 
ſchaulich behandeln, find nicht ohne Anfechtung geblieben. 
Der Abſchnitt 2 Kön. 18, 14—16 (die Tributleiftung 
Hiskia's nah Lachis am Sanherib foll fid gar nicht auf 
legteren, fondern auf Sargon und feinen Feldzug im 9. 
Jahr feiner Regierung, J. 711, beziehen, die Stelle fei 
nicht urfprünglih, und der Name Sanberib in 38. 13 
wilfürlih ergänzt. Alein wie biefe Confufion entftan- 
den wäre, weiß man um fo weniger zu erklären, als 
jener frühere Feldzug zwar in Paläftina fid) abwidelte, 
aber nicht Juda galt, fondern der Eroberung Asdods, 
während dabei einer Unternehmung gegen Juda weder 
bier nod) überhaupt fpäter in irgend einer ber Infchrif- 
iem Sargons gedacht wird, und ebenjomenig die Bibel 
ba, wo fie ber Eroberung Asdods erwähnt (ef. 20, 1), 
etwas von feindlichen Abfichten gegen ober gar Gonfiil- 

42* 


636 Qimpet, 


ten jenes Groffónig8 mit Juda zu erfennen gibt (Schra⸗ 
bera. Ὁ. Θ.811). Dazu müßte der [o auffallende Einklang 
der biblifhen Angaben über die Sendung des Tribute: 
und der Qualität wie Quantität desfelben, wie über ben 
Ort, wo ber Großkönig fid) aufhielt unb die jüdische Ge: 
fanbtjdaft empfieng, mit den aſſyriſchen inſchriftlichen 
Berichten Sanheribs befeitigt werden, und diefelben bod) 
irgendwie und -too bei Sargon untergebracht werben 
Tönnen, in deflen fonft febr ausführlihem Juſchriften⸗ 
material fi Feine Spur von alledem nachweiſen läßt. 
Umgefehrt betrachtet man aud) 2 Kön. 18, 14—16 ala 
bie allein authentifhe und zeitgenöffiihe Relation der 
Bibel über jenen Feldzug, alles andere nebft Zei. 36 f. 
als Tegendarifche, erilifche Verarbeitung ältern Gejdjidtà: 
ftoffes, bie ſchon burd) ihre Anfpielung auf bie babylo- 
niſche Deportation (20, 17) bie fpätere eit verrathe. 
Doch ift e8 faum eine Anfpielung , fondern die Weile 
gung eines überaus legitimirten Propheten, den bier θεὶς 
nah ſchon fein natürlicher Scharfblid zur Hußerung des 
Drohmortes befähigen Tonnte; daß aber 38, 14—16 im: 
mer nur die Ausſprache „Hiskia“ ohne ben Dunkeln End: 
laut (), in den andern Theilen nur die andere Aus: 
ſprache fid) findet, mie aud) Jeſ. 36—39, ift bod) ſehr 
prefär und beweiſt feinenfallà etwas fr eine frühere 
Stbfaffung jener Verfe und für eine jpütere ber übrigen 
Stüde; und wenn jener Kleine Abſchnitt V. 14—16, der 
von bet Aborbnung einer Gefandtihaft nad) Lachis und 
der Einbringung ber Contribution handelt, in Jeſaia wie 
in der Chronik fehlt (2 Chron. 32), fo erklärt fid dies 
binlänglid aus ber beſprochenen verfürzenden Bearbei- 
tung ber Hiftorie bei Jeſaia und ber uod) meit mehr 


Jeſ. c. 36-39 erläutert durch aſſhriſche Keilinſchriften. 637 


verkürzten Darftellung der Chronik, bie ja überhaupt δεῖ: 
lei zum Nachtheile Juda's gereihenden Berichten gern 
aus bem Wege geht, legt dagegen allerdings bie [don 
oben befürwortete Annahme einer gemeinfamen älteren 
Quelle nahe, ber fiher aud) 9. 14—16 angehört Dat. 
Denn läßt fid) zur Noth 38. 17 an ®. 18 anfchließen, 
tie ja bie8 in einer Menge ähnlicher Fälle bei der εἰπε 
faden Gefhichtsdarftelung der Bibel geſchehen Tann, fo 
hat man bod) ben Ginbrud bei ®. 17, als ob von 9a- 
His, von tmo aus brei ber oberften Führer des Groß- 
königs gegen Jerufalem abgefandt werden, ſchon vorher 
die 9tebe war; menn 9. 17. aber „von Lachis“ Glofje 
fein foll, fo kehrt derfelbe Ginbrud nur nod) viel ftärker 
bei 19, 8 wieder. An bie. niederichlagende Schredens- 
nachricht, daß ſämmtliche feften Städte Juda's in bie 
Hände ber Afiyrer gefallen (38. 13), ſchließt fid) wie felbft- 
verftändlih, daß Hiskia fid vor ihnen demüthigte und 
um fehr hohen Preis (menn aud) nidt um ben höchften, 
der die Auslieferung Jerufalems geweſen wäre) um bie 
Gunft Sanheribs warb (8. 14—16; und der Inhalt 
diefer Berfe tft ja doppelt urkundlich auf aſſyriſcher Seite 
beftätigt). Die Aufforderung zur Webergabe Jerufalems 
fodanı, da Sanherib aus ftrategifhen und politiſchen 
Gründen auf dem höchften Preis beftehen mußte, moti 
virt fid) befier dur 38, 14—16, als durch ihren ab. 
vupten Anſchluß an V. 13. Der OroBfünig hatte, das 
ügpptijde Heer in Sicht, e8 eilig, in Jerufalem einen 
Stützpunkt zu gewinnen, und die willige mit Selbftver- 
demüthigung verbundene Tributleiftung Tonnte fein heißes 
Verlangen nad) ber feften Qauptftabt nur fteigern und 
in kaum verhüllten Befehl verwandeln. — Die fog. zweite 


638 Simpet, 


Phaſe bieje8 aſſyriſchen Feldzuges, im meldet derfelbe 
mit einer inſchriftlich und bibliſch unerwähnt gebliebenen 
Niederlage, die Ägypten bem Großkönig bereitete, fij) 
abgeſchloſſen hätte, fuchten bie jonft hochverdienten eng: 
lichen Gelehrten ©. unb H. Ramlinfon fogar zu einer 
zweiten aſſyriſchen Expedition felbft zu machen, mit der 
bie erfte in den bibliſchen Darftellungen confundirt wor: 
ben fein follte. Auch dies ift, wie [don oben kurz bes 
rührt werden mußte, durchaus unftatthaft. Weber ein 
bibliſcher nod) eim inſchriftlicher Bericht erwähnt eines 
zweiten Feldzugs Sanheribs gegen Agypten, ber ihn, 
namentlich menn er bis an die Grenze Aegyptens reichte, 
unmögli ganz unter den andern genau verzeichneten 
todtſchweigen laſſen Konnte, ba er ihn bod) beliebig zu fei: 
nen Gunften ausfhmüden durfte. Höchſt unwahrſchein⸗ 
Tid) ift dabei aud) die Annahme, daß Sanherib beide: 
male fein Hauptquartier in Lachis aufgefhlagen, und 
während der Großkönig fid bier befand, jedesmal Hiskia 
eine Deputation hingefandt habe. Die Bibel hatte aber 
feinen Grund, einen zweiten Kriegszug Sanheribs gegen 
Aegypten zu verſchweigen, namentlich wenn er unglüd⸗ 
lich ausgefallen war. Sie zieht aud) das furchtbare Er: 
eigniß, womit fie den Bericht abſchließt, aufs beftimm: 
tefte zum dritten (und einzigen) Feldzug Sanheribs nad) 
Baläftina und gegen Aegypten. Fände fid) aber ein der- 
artiger zweiter Feldzug in ihr berichtet, jo hätte man 
längft darin einen „Doppelberiht" ausgemittert -und ift 
vorgeworfen. 

Während die Bibel fein Wort davon fagt, daß San: 
herib 701 nad) Aegypten oder bod) bis hart an bie Grenze, 
nad Pelufium gekommen jei, fo fehr fie bie aud als 


ϑεῖ. c. 36-39 erläutert burd) aſſhriſche Keilinſchriften. 639 


bie Abficht des Großkönigs anerkennt (2 Kön. 19, 24), 
und die affyrifhen Infchriften aud) hierüber, gewiß febr 
ungern, mit ber "Bibel ftimmen, findet fid) bei Herodot 
(II, 141) bie ibm von Prieftern mitgetheilte Nachricht, 
Sanberib {εἰ zur Zeit des tanitifchen Königs Sethon, 
eines Prieſters des Hefaiftos, gegen Aegypten gezogen 
bis vor Pelufium ἢ. Auf des priefterlichen Königs Fle- 
ben zur Gottheit um Errettung feien des Nachts Feld: 
mäufe gefommen und haben die Köcher, Bogen unb Schild- 
riemen zerfrefien, worauf das um feine Waffen gebrachte 
Heer fliehen mußte, und viele umfamen. Bon daher 
flebe im Tempel be8 Vulkan eine fteinerne Bildfäule 
jenes Priefterfönigs mit einer Maus in ber Hand und 
bet Inſchrift: ἐς ἐμὲ vig doewv εὐσεβὴς ovo. Mit Bes 
zugnahme hierauf erzählt ſodann aud) Joſephus (Ant. 
10, 1, 1—5), Sanherib babe einen Feldzug gegen Aegyp⸗ 
ter und Xethiopen unternommen, [εἰ aber ohne Erfolg 
wieder abgezogen, weil ihn die Belagerung des fehr ftar- 
Ten Belufium lange bingehalten, unb er gehört habe, bafi 
ber König von Xethiopien mit einem großen Heer im 
Anzuge fei; aud) Berofus habe, daß Sanherib gegen 
ganz Aien und Aegypten zu Felde zog. Darauf geftügt 
batten Dppert und Lenormant Libna als Pelufium er- 
flirt. Da man biejen vorgeblihen Zug vor Pelufium 
nicht fügli in bem 2 Kön. 18, 13—19, 37 Erzählten 
unterbringen fonnte, fo nahm Ewald (Θεῷ. Jar. III, 
€. 680 f.) an, er gehöre in bie Zeit vor bem 18, 13 ff. 





1) €8 war an ber öftlichen Nilmünbung gelegen, unweit des 
Meeres, zwiſchen Sünpfen und Moräften, theil® dadurch, aber aud) 
durch Feſtungswerke gegen Landheere von Dften her, alà ber Schlüffel 
des Nillandes ftazt gejchügt. 


640 Himpel, 


Berichteten, und läßt Sanherib fogar über Pelufium hin⸗ 
aus ind Nilland eindringen, von mo er burd) ein von 
Herodot angebeutetes Mißgeſchick zurückgeworfen, mun erft 
mit Juda fij zu thun machte, wie von 18, 18 an be: 
richtet ift. Ewald ftößt fid) an diefem völligen Hyfteron- 
proteron nit, wornach die Crpebition 18, 13 in eine 
von Süd nad) Nord gehende umgedreht wird, troß V. 9. 
16, 7.17, 3. b, und bie Bibel bloß den Rüdzug und 
das Ende, dagegen nichts vom Hinzuge burd) Paläftina 
berab berichten würde, den die Infchriften fo ausführlich 
beſchreiben, burd) welche ſomit aud) bieje Anſicht gründlich 
widerlegt ift. Anftatt bem mad) großer Wahrſcheinlich⸗ 
Teit zeitgenöffifchen Bericht ber Bibel Vermiſchung zweier 
Feldzüge zuzuſchreiben, ift ein Irrthum mit größerm 
Recht von Herodots Darftellung zu behaupten. Er ſchrieb 
250 Jahre mad) den Creignifjen und mad) Mittheilungen 
ägyptifcher Priefter, meldje, was fie von fpätern aſſyriſchen 
Eroberern ihres Landes nicht jagen konnten, ohne fid) Lügen 
zu ſtrafen, an den Namen Sanheribs fnüpften, ber zwar 
nicht in Aegypten, aber bod) nicht fehr weit davon, im 
fübliden Juda großes Mißgeſchick erlitten hatte. Um 
ihm aud) eine ägpptifche Niederlage anzuhängen, lief ihn 
der duch Aſſyrien oft fo tief gebeugte Nationalftolz der 
Slegpptet vollends bia Pelufium vorrüden. Für bie eit 
be8 mächtigen Tirhaka fann ber von Qerobot ‚genannte 
tauitijde Priefterfönig Sethos mur ein Unterfönig ober 
SBajallentónig im Delta geweſen fein; wenn aber nicht, 
fo gehört er in eine andere Periode und ift von Hero: 
bot ober feinen Gewährsmännern verſchoben morben. 
Die Regierungszeit Tirhafa’s, über deſſen Kriegsthaten 
die einheimifhen Denkmale und Urkunden [dweigen, bie 


Jeſ. o. 36—39 erläutert durch aſſhriſche Reilinjdjriften. 641 


aſſyriſchen dagegen vieles mittheilen, ftebt nod) nicht ganz 
feft: fie Toll 26 Jahre betragen und wird früheftens nicht 
lange vor der Wende des achten Jahrhundert3 begonnen 
haben. Eine nod) fpätere Anfegung berfelben füme mit 
Jeſ. 37, 9 in Widerſpruch, ebenfo mit ber nad) aflyris 
ſchen Quellen auf 701 fallenden Zeit bes Feldzuges, 
man müßte denn nur annehmen, baf er in biefer Zeit 
nur erft König von 9[etbiopien geivefen, wie er aud) Jeſ. 
37,9 heißt (aſſyr. Miluchchi), unb erft fpáter, etwa feit 
695, zugleich aud) Beherrſcher Aegyptens geworben fei. 
Was bie von Qerobot berichtete Sage von ben Mäufen 
betrifft, bie den König zur Umkehr genötbigt hätten, fo 
bleibt es ſchwierig, fie in eine Beziehung zum bibliſchen 
Bericht von ber wirklichen Urfache des Rüdzugs Sans 
heribs zu bringen, da e8 wenigftens nicht gerade wahr: 
fdjeinlid) ift, daß man in Aegypten ein Ereigniß furcht⸗ 
barer Tragweite, das jebod) auf auswärtigem Boden fid) 
begab, zum Gegenftand mythiſcher Umdeutung gemacht, 
und zum Andenken daran felbft eine Bildfäule errichtet 
bat. Doch darf aud) nicht außer Betracht bleiben, daß das⸗ 
ſelbe weithin einentiefen Eindrud hinterlaſſen unb für Aegyp⸗ 
ten von günftigften Folgen getoefen ift. (2 Chron. 32, 23). 

Diefes Ende mit Schreden bildet bem Abſchluß 
des immer f&hroffer gefpannten Geſchichtsdramas. Von 
neuem ließ Sanherib den König und feine Hauptftadt 
zur.Uebergabe auffordern, wohl kurz mad) der Schlacht 
von 9ütafu, und wieder gelang e8 bem Propheten, mit 
unvergleichlicher Kraft feiner Worte burd) Verheißung 
baldigfter Befreiung zum Ausharren zu ermuthigen. Die 
S:eme 2 Kön. 19, 14—34. δεῖ. 37, 14—37 gehört un- 
beftritten zu dem Größten in Rede und Handlung. Han⸗ 


642 Himpel, 


belte ſichs bloß um menjdlide Kraft unb Einfiht, fo 
müßte man fagen, Jeſaia, ein Fels im Meer, inmitten 
des zaghaft ſchwankenden Volkes unb ber ſtürmiſchen 
Wogen des trogigen aſſyriſchen Heeres, habe fid) felbft 
übertroffen. Niemals bat ein Dichter die Knoten ſpan⸗ 
wenber für eine erſchütternde Löfung geihürzt, ala e8 
bier der Lenker ber Geſchichte und ſchützende Hirte feines 
Volles getfan hat. Auf ben Angftruf des Königs: „Und 
nun Jehova, hilf ung bod) aus feiner (Sanheribs) Hand, 
auf baf alle Reiche der Erde erkennen, baf bu allein 
Gott bift," erwidert Jefaia ba8 an ihn ergangene Wort 
des Herrn „Es veradjtet bid, e8 fpottet beiner bie Jung- 
frau, Tochter Sion. Wen haft bu geläftert und geſchmäht 
unb gegen men bie Stimme erhoben? Du Debft zur 
Höhe deine Augen wider den Heiligen Israels . . . . 
Aber dein Sigen, dein Ausgehn und Eingehn kenne ἰῷ, 
und dein Toben gegen mid. Wegen deines Tobens 
gegen mid), und ba beim Uebermuth zu mir binaufges 
ftiegen ift, lege id) einen Ring in deine Nafe und einen 
Baum in deine Lippen, und führe bid) zurüd ben Weg, 
den bu gefommen bif. Darum [pridt ber Herr: Er 
foll nicht in diefe Stadt kommen und feinen Pfeil darein 
ſchießen, unb foll mit feinem Schild gegen fie anbringen 
und nit aufidyütten gegen fie einen Wall. Und ch be- 
idirme diefe Stadt, daß ἰῷ ihr helfe um meinetwillen 
und um David, meines Anechtes, willen.“ Dem Wort 
be8 Heren fehlte nicht die That: „EB geſchah in felbiger 
Nacht, da gieng aus der Engel Jahve's und ſchlug im 
Lager ber Afiyrer 185,000. Da brad Sanherib auf, 
zog weg, ferte zurüd und blieb in Nintve.“ Er wurde 


Jeſ. c. 86—839 erläutert durch affyrifche Keilinſchriften. 643 


dann von zweien feiner Söhne im Tempel feines Gottes 
Nisroch erſchlagen. 

Mit größter Beſtimmtheit ſpricht der Prophet aus, 
daß Jerufalem nicht einmal werde belagert werben. Deß⸗ 
halb wird man von ber gewöhnlichen Annahme wenig⸗ 
flen8 einer Einſchließung befjelben durch bie Aſſhrer ab: 
äufehen haben, womit dann aud) megfüllt, daß die große 
Niederlage in unmittelbarer Nähe der Hauptftabt erfolgt 
wäre. Die Situation ber aſſyriſchen Hauptmacht war 
eine andere. Sie befand fid mit dem Großfönig in La: 
chis⸗Libna, al die Dinge für Jerufalem ernfter wurden, 
und rüdte dann nod) weiter nordweſtlich, wohin man 
abfidtlid bie Aegypto⸗Aethiopen lodte, um fie und bie 
judäifhe Macht getrennt zu halten. Was an Truppen 
mit 9tabjafe vor Jerufalem gerüdt war, eine „ftarke 
Macht“, immerhin aber nur eine von ber Hauptmacht 
betadjitte, wird fd)merlid) ganz ober nur überhaupt dort 
belaffen worden fein, wenn ber Großkönig fij darauf 
verftand, mit vereinigten Kräften bei Altafu dem Tir— 
haka entgegenzutreten. Dadurch ift die Zurüdlaffung 
einer mäßigen Objervationstruppe vor Jerufalem nicht 
ausgeſchloſſen. Hatte er den Tirhaka befiegt (mas ja 
geſchah), fo gieng e8 dann mit leidterem Herzen wieder 
gegen Zion. Aber bier verftummen bie Infchriften, und 
e8 rebet mur mod) die heilige Schrift. Nah genannter 
Schlacht mit ihren bejdeibenen Erfolgen, die duch (τε 
oberung der Gottesftadt nunmehr gekrönt werden follten, 
endete die Friegerifche Thätigfeit Sanheribs im Weften. 
Die aſſyriſchen Inſchriften als offizielle Urkunden berich— 
ten natürlich nicht über die Niederlage. Nach der brei- 
ten Relation über bie erfte Phaſe be8 Feldzuges eilt der 


644 ‚Himpel, 


Tert „mit fidtlider Verlegenheit" (Lenorm.) plötzlich 
mad) Ninive, wohin er den König bereit3 zurüdgefehrt 
vorauéfegt, ohne Grund dafür und Art und Weile des 
Rückgangs näher zu berühren, unb hinkt mit dem Tri 
but Hiskia's hinten nah. Der Großkonig ſchweigt theils, 
teils Tügt er zum Schluß, ba mur Schlimmes für ihn 
zu berichten gemejen wäre, menn man bei ber Wahrheit 
blieb. Muß man von ber Anficht Maspero's abfehen, 
welcher das affprijde Heer zum größern Theil wäh: 
vend feiner Märſche im Nildelta an der Veit umgefom: 
men fein läßt, meil die authentifhen Berichte für eine 
Invafion Aegyptens feinen Raum geben, fo bleibt wie 
e8 ſcheint nichts anderes übrig, als, was jdjon oben an- 
gedeutet wurde, Sauherib mit bem Gros der Armee, mit 
ber er bie im Juda verftreuten Truppen vor der Schlacht 
im Philifterlande vereinigt hatte, nad) derfelben auf dem 
Marie in der Richtung gegen Jeruſalem begriffen zu 
benfem, als ihn der Unftern erreichte, dem jenes zum 
Opfer fiel; vielleicht, wenn h 5d) fte Gefahr und plóglide 
Rettung fid) berühren follten, war er nicht mehr feb v weit 
von ber angftgefolterten Hauptftadt entfernt, wenn auf 
die Verkündigungen Jeſaia's, daß die Macht Afiyriens 
im Sand und auf ben Bergen bes Herrn (14, 25) 
zertreten werden foll, daß der libanonähnliche Heereswald 
des Aſſyrers vor Serufalem gefällt merbe (10, 82 ἢ), 
und daß das aſſyriſche Lager mühelos die Beute ber 
Bewohner (bod) wohl Jerufalems) werde, aud) in topo- 
graphiſcher Hinfiht Gewicht gelegt werden fol. Nein 
volle ift jedenfalls auf den Bericht des Joſephus zu 
legen, wornach Sanherib nad) mißlungenem ägyptiſchem 
Feldzug bie vor Jerufalem gelaffene Truppe antraf, und 


gef. c. 36—89 erläutert burd) affgrifde Keilinfchriften. 645 


nun in ber erften Nacht der Belagerung eine von Gott 
gefandte Aou; vocog ausbrach und das Heer aufrieb. 
Der ägyptiſche Feldzug ift unrichtig, das llebrige, bie 
SBeft ausgenommen, ungewiß. Das ungeheure Ereigniß, 
ſammt der Bedrängung und Grrettung Juda's, bem [dou 
damals, faum zwanzig Jahre nad) bem Fall Samaria's, 
der unabweudbar ſcheinende Untergang drohte, erzählt 
die Schrift in drei Berichten, zur Bezeugung ber Trag- 
weite, bie fie ihm beimaß. Es hat aber als eine ber 
augenſcheinlichſten Bethätigungen ber Hand be8 Qerm 
Jahrhunderte in ben immer wieder batob freudig. erregten 
Herzen ber Gläubigen nadjgegittert, wie abgefehn von 
einzelnen Pſalmen, bie man darauf zu beziehen pflegt, 
Cirad 48, 18—21, 1 Mall. 7, 41, 2 Matt. 8, 19, 
3 Malt. 6,5 und Tobia 1, 21 (gried). Tert 13) beivei- 
fen. Die Thatſache felbft ift nie gelüugnet, aber febr 
verjdjieben beurtheilt worden. Zweifelsohne ifl eine gott: 
verhängte Beft gemeint, da „der Engel des Herin“ an bie 
Tödtung der Erfigeburt in Aegypten (Gr. 12, 12 ff.), 
fowie an bie Peft zu Jerufalem (2 Sam. 24, 15 ff.) er- 
innert, und burdj Gebraud) des „Schlagens“ (man) fo- 
wie durch Am. 4, 10 audj jenes Mißgeſchick, bas über 
die Erftgeburt verhängt wurde, als burd) Peft herbeigeführt 
bezeichnet wird. Der Zahlangabe der Gefallenen fielen 
bie Gommentare (Geſenius, Bähr, Delitzſch) faum min: 
ber große Zahlen in andern Beftkataftrophen Weggeraffter 
zur Seite !), obwohl nicht verfannt werden fol, daß butdj 

1) Der Peſt in Mailand 1629 erlagen nad) Zabino 160,000 
Mengen, in Wien 1679 über 122,000, in Mosfau zu Ende be& 
vorigen Jahrhundert? nach Martens 670,000, in Konftantinopel 1714 


an 300,000, je während Yürzerer ober längerer Dauer ber gewöhn- 
fid) plöglich unb in ihren Urſachen räthjelpaft einbredjenden strantpeit. 


646 Himpel, 


Verderbniſſe von Abſchreibern und faljdje8 Leſen der ur: 
iprüngliden Zahlbuchftaben bie Babfangaben überhaupt 
zur ſchwachen Seite ber betreffenden biblifhen Berichte 
geworben find. Bei der verkürzten Berihterftattung ift 
ein längeres Graffien der Peſt nit vornweg unwahr: 
fdeinlid, bod) mag gerade in der Steigerung und Be 
ſchleunigung ber furdjtbaren Wirkungen ber Peft der 
Finger Gottes erfannt werden follen, deſſen Eingreifen 
ef. 31, 8 („Affur wird fallen burd) das Schwert nicht 
eines Mannes, und ba3 Schwert nicht eines Menfchen 
wird ihn frefjen") und fon früher 10, 24 ff. 14, 14 
—27. 17, 12—14. 29, 1 ff. al. verkündet hatte. Db 
die Maus Qerobots auf ber Hand ber Bildfäule Sethons 
eine Erinnerung an bie (Aegypten und) Juda rettenbe 
Peſt war, ba bieroglppbijd) das Thierchen Symbol der 
BVerheerung und Vernichtung ift, kann id) nicht entfchei- 
ben. Jene Erzählung vom Bernagen und SBerberben 
der Waffen ber Afiyrer burd) die Mäufe ift aber jeden: 
falls ein fpäter zur Deutung be8 Thieres auf der Hand 
ber fünigliden Bildſäule aufgebradyter ätiologiſcher My: 
tus. — Zu Jeſ. 87, 36 (Und der Engel des Herrn gieng 
aus) bat 2 Könige 19, 35 den Vorſatz: „und ed ge 
ſchah in jener Naht." Man kann bedauern, daß für 
bie legte fo bedeutende Epifode Feine diefe Notiz vorbe— 
teitenden und erflärenden Beitpuntte namhaft gemadt 
werden. Das Δεῖ. 37, 9—36 Erzählte, wohinein aud) 
die Schlacht von Altaku fiel, Tann aber unmögli fo 
vajden Verlauf genommen haben, als e8 den Anſchein 
bat. Jene Bemerkung dient baber entweder überhaupt 
teiner beftimmten chronologiſchen Beziehung (und bebeu- 
tet ungefähr f. o. a. in jener befannten Nacht), oder, was 


gef. c. 36—39 erläutert durch aſſhriſche Keilinfchriften. 647 


weniger wahrſcheinlich ift, fie bezieht fid) bod nur auf ben 
Tag, an welchem Jeſaia bem Hiskia die Antwort (38. 21 
— 35) über das Nächfteintretende fagen ließ. Das vor 
diefem Tag fBeridjtete (8. 9—21) Tann Wochen ober 
Monate für feinen Verlauf beanfprucht haben. Doc 
enthält die Antwort be8 Propheten eine Zeitbeftimmung, 
aber eine prophetifchsräthfelhafte: „dieß foll dir das eis 
hen fein: biefe8 Jahr iBt man Brachwuchs (mbo) im 
zweiten Jahr Wurzelwuchs (Dim, Kön. t^np), unb 
im britten Jahr fäet und ürntet unb pflanzet Weingär- 
ten und effet ihre Frucht“ (88. 30). Das Zeichen foll 
den König in ber vertrauensvollen Aufnahme der gege- 
benen Verheißung eines ſchmachvollen Wegzuges des 
Großkonigs befeftigen und letzteren nod) ausdrücklich ver 
bürgen; e8 darf, felbft wenn das fBerbürgte ſchon im 
müdjten Augenblick, in ber fommenben Nacht geſchehen 
follte, in feiner vollen Verwirflihung weiter in die Zu- 
kunft reiden und bie verbürgte Thatfache überdauern, 
nicht jo faft, weil ber Afigrer für immer abgetpan ift 
(RRügel8bad, a. D. €. 401), denn an fid fonnte er [don 
mad) zwei Jahren wiederkehren, fondern um vom vorn- 
herein ba Verſchwinden ber Affyrer, mochte e8 alsbald 
oder fpäter und mie immer erfolgen, góttlidjer Gaufali- 
tät zuzueignen. Das vom Propheten gegebene Zeichen 
bat e8 allerdings mit natürlichen Dingen zu thun, aber 
ἐδ ift einem Gebiet entnommen, auf das aller Augen 
angſtvoll fid) hefteten, und befagte zunächſt, bap e8 zur 
Einſchließung und Belagerung gar nicht fommen, bie 
Bewohner ber Hauptftadt fomit nicht von der Landſchaft 
abgeſchnitten und ihrer wenn aud) fárglid) werdenden Nah— 
rung beraubt würden. Zugleich damit baf c8 ihnen bie 


648 Himpel, 


Gegenwart fiderte, ſtellte es auch gänzliche Befreiung 
vom gegenwärtigen Kriegsungewitter für eine nicht ferne 
Zukunft in fidere Ausſicht. In beiden Stüden überragte 
das Zeichen das natürliche Wiffen. Das Zeichen in fei- 
nem ganzen Verlauf nimmt nicht mehr Zeit als das eine 
Jahr jenes Feldzugs im Anſpruch, aber aud) nicht viel 
weniger. Sanherib wird zur günftigften Zeit, im Früh: 
jahr, gefommen fein, und die Aernte fiel natürlic) feinen 
Heeresmaffen zu. Israel befam fomit im Kriegsjahr 
im ganzen mur Nachwuchs, MED, τὰ αὐτόματα Cept., 
Ausgefallenes, aud) bei der Aernte Zurücgebliebenes 
und Verſchüttetes, zu genießen und hatte fid) mit bem 
Abfällen ber Maple der Afigrer zu behelfen. Beinahe 
ba8 ganze übrige Jahr 701 nahmen ihn die Kämpfe, 
Belagerungen, Croberungen einer Menge zum Theil fer 
fefter Städte in Syrien, Phönizien, Judäa, Philiftäa, 
zulegt ber Kampf mit bem Heere Tirhaka's in Anſpruch, 
und um Feldbeflellung und regelrechte Ausfaat war e8 
auch im Herbit des Jahres geſchehen, ba bem Feind 
natürlid audj das Zugvich mit allem übrigen als Beute 
zufiel, und foídeà mit Zubehör in ausreichender Menge 
nicht fo tajd) zu beſchaffen war. So traf fie im zweiten 
Jahr, bem Jahr nad) dem Krieg (n3wn, in bem fie 
Nachwuchs afen, ift das laufende Jahr) nod) eine kärg- 
lidjere Koft, D'mw (mofür. das Königsbud transponirt 
wnD bat; in warmen Ländern pflanzt fij das Getreide 
durch ausgefallene Körner unb durch Wurzeltriebe fort 1), 


1) „In ben fruchtbaren Theilen Paläſtina's, befonders in ber 
Ebene Jesreel und auf den Hochebenen Galilän’3 unb anderwäris 
füen fid) nod) jegt bie Getreibearten und andere Getealien in gro» 
Ber Menge von jelber aus von ben reifen Aehren, deren Weberfülle 





Jeſ. c. 36-39 erläutert durch afſhriſche Keilinfchriften. 649 


Wurzeltriebe, Wildwuchs, unb erft im dritten Jahr (699) 
werben fie jeder Kriegsnoth erledigt den Feldbau wieber 
ungeftört aufnehmen fónnen. Die Annahme, daß das 
„zweite Jahr“ ein Sabbathjahr getejen, in toeldjem 
keine Feldbeftellung ftattfand, oder gar an ein ſolches 
mit darauffolgendem Jubeljahr zu denken fei, ift über 
flüſſig und ſchwächt die Bedeutung ber geidjengebung. 

Das 37 Kap. fließt mit Angabe der Ermordung 
Sanheribs und der Thronbefteigung feines Sohnes Ajar- 
haddon. Webereinftimmend meldet die über das Vorher: 
gehende fo ſchweigſam gewordene Cylinderinſchrift, daß 
fid Canberib in feine Hauptftadt zurüdbegeben habe. 
Wollte man aus den Worten: „und er wohnte (wm) 
in Ninive“ ſchließen, daß er nad) dem Mißgeſchick in Balä- 
ftina von nun an auf weitere Kriegszüge verzichtet habe, 
fo würde man den Ausdrud mißverftehn, denn Sanherib 
Yebte nod) 20 Jahre (bi8 681) und führte nod) verjchiedene 
Feldzüge duch, im Dften, Norden und Süden feines 
Reichs; nur die Weftländer ließ er diefe lange Zeit Din: 
burd) völlig in Ruhe — fie waren für ihn und er für 
fie jo gut mie nicht mehr vorhanden.“ Die Grrettung 
Juda's vor ihm mar allen zu gut gefommen. Zunächſt 
30g er wieder gegen Babylon zu Felde, mo er feinen 
Sohn Afordan als König einjegte, dann mad) Gilicien 
und wiederholt nah ben Inſchriften gegen Sufiana. 
Man begeht aber einanderes Unrecht an der bibl. Schluß: 
darftellung, menn man ihr anfühlen will, daß der Ver: 
faſſer des Stücks fehr lange nad) den dargeftellten Er: 
Tein Bewohner be8 Landes benügt. Gtrabo berichtet von Albanien, 
daß daß einmal befäte Feld an bielen Orten zweimal Frucht trage, 
Gud) wohl dreimal, die erfte fogar 5Ofáltig." Neil. 

Theol. Quartaligrift. 1883. Heft IV. 43 


650 ‚Himpel, 


eigniffen lebte, da er bie Ermordung des Großkönigs 
alsbald nach defien Rückkehr geſchehen berichte, wie aud) 
Joſephus Ant. X, 1, 5 bie Stelle in diefem Sinn auffaft. 
Die Worte, dab er in Ninive wohnte, meijen nicht un- 
deutlich aufs Gegentheil, auf eim nod) längeres Leben 
Sanheribs, Hin. Daß nichts Weiteres mehr von ihm 
gemeldet wird, hat feinen befannten Grund: Juda trat 
in keinerlei Berührung mehr mit ipm. Die beiden legten 
Verfe find aber etwas [püterer Zuſatz. Im Tempel, 
ba er anbetete feinen Gott Nisroch, erſchlugen ihn bie 
beiden Söhne. Es war eine verdiente Nemefis, baf ber 
Fürſt, welcher prahlte, fein Gott habe ein Volk vor feiner 
Macht zu [hüten vermocht, und aud) Jehova werde Israel 
vor ihm micht erretten, angeſichts feines Gügen durch 
ba8 Schwert ber eignen Kinder gefällt wird. Der ge- 
nannte Göge ijt übrigens eine Art nedenben Spudgeiftes 
in der neuen Wiſſenſchaft, die fidj über dem Boden ber 
alten Weltftadt aufbaute, deren Schußgott er war. Man 
ſah in ihm die höchfte affyrifcde Gottheit und fand ihn 
in bem Wefen, das auf ben SDenfmalen in Menſchen⸗ 
geftalt mit Doppelflügeln und einem Adlerfopf dargeftellt 
ift, zu Seiten des 5. Baumes. Den Namen leitete mau 
von WI, afiyr. nasru, Adler oder Geier, ba der Adler 
fier aud) den Afiyrern ein D. Vogel war. Dafür fpridt 
auch das Adlergeficht der Cherube Ezechiels. Der Koran 
nennt aud) einen ber Gößen der Vorzeit nasr (arab. 
Adler), ber auf einer bimjarifhen Juſchrift erfcheint. 
In Yegypten war der Qabidjt Symbol des Sonnengottes 
Ra. Unter andern Ableitungen ift die annehmbarfte 
die von aram. 10), bereichen. Der auffallenbe Umftand 
jebod), daß biejer Name des „höchften Gottes“ auf ben 








Sf. c. 36-89 erläutert durch afſhriſche Keilinſchriften. 651 


Monumenten nod) gar nicht fi finden ließ, in Verbin— 
bung mit ber Lefung der Septuag., ‘Acapay (Apaon 
bei Sof.) könnte nahe legen, daß Nisroch corumpirt ift, 
und Aſur in bem Worte ftedt oder Aſarach (f), fpno- 
nym mit jur. Auch fo wäre es ein Adlergott, ben 
die Juden mit ihrer eignen Sprache entlehntem Namen 
benennen fonntem. Eher ift dabei ftehn zu bleiben, als 
den Namen mit Dppert im Sinn von Verbinder, Ver— 
Inüpfer, wie ber griechiſch römische Hymen, oder mit Schra⸗ 
ber ala Spender aus ajfpr. Wurzel zu erflären. Der Name 
des einen Königsmörders Adrammelech ijt aud) Gottes: 
name (2 König 17, 31), afiyrii$ Adar malik: Adar 
ift Fürſt. Urſprüngliches A—tar wäre das Wort offa- 
bijden (nordbabylon.) Urfprungs und DieBe: Vater ber 
Cntjdeibung. Der Name be8 andern Mörders Sarezer 
ift aſſyr. Sar ußur f. v. a. Schirme den König. Die aſſy— 
riſchen Denkmale melden nit? über die Ermordung 
Sanheribs (fomeit man fie bisher kennen gelernt hat), 
während fie bie feines Vater Sargon nicht verſchweigen. 
Polyhiſtor in Eufeb. armen. Chron. (eb. Ὁ. Mai ©. 19) 
gibt nur den Ardumufanus (Adrammelech) als Mörder 
an. Auch Abydenus (eb. daf. €. 25) nennt als Mörder 
den Sohn Adramelus und läßt auf Sanherib den Ner- 
gilus folgen, welcher wieder von Arerdis (Aſſarhaddon) 
ermordet worden fei. Nergilus ift Gomplement des Na- 
mens Gareger, der urſprünglich lautete: (Gott) Nergal, 
idjge den König. Abyden hat aljo die erfte, bie Bibel 
bie zweite Hälfte des Namens erhalten, ber bald voll. 
ftánbig, bald verkürzt gebraudjt wurde; Sarezer wird. 
bie fürgefte Zeit den Thron befefien haben und verlor 
ihn an Eſarhaddon (afiyr. Aſur — ah — ibbin: Afur 
. 43* 


652 Himpel, 


idenfté einen Bruder), der von 681—668 regierte. 
— Nach der Bibel, melde den kurzen Regierungsverfuh 
des Vatermörderd unerwähnt läßt, entrannen beide in 
dad Land Ararat, afiyr. Urartu, Name der vom Arared 
burdjfirómten großen Ebene, von welcher ſüdlich das 
Gebirge Ararat liegt. Nach Abydenus verfolgte, ſchlug 
Alarhaddon die Mörder und warf fie in die „Stadt bet 
SBpgantiner", bie mad) 9. v. Gutihmid Bılava bei Pro: 
coy ift und im Grenzgebiet von Klein⸗ unb Großarmenien 
belegen fein mußte. Hierher gehört eine Inschrift (Schra- 
bet a. D. €. 332), die ben Sieg über die Feinde be& neuen 
Großkönigs preift, in einer andern befennt der Sohn 
Afurbanipal unter Anruf vieler Götter, daß der Vater 
ihn zum König erhoben und bie Afiyrer verfammelte, 
fein Königthum anzuerkennen, und ber Vater beftätigt 
feinerfeits in Inſchriften die Angabe feines Sohnes. 
Die beiden Vatermörder famen durch den Haß des fpätern 
Judenthums gegen ben Vater zu hohen Ehren. Sie 
feien Juden geworden, fabelten die Rabbinen, und im 
Mittelalter zeigte man in Galilüa ihre Grabmäler. Schein 
bar mit ettoa8 mehr Grund wurden biejelben von den 
Armeniern für fih beanfprudt. Moſes von Gborene 
nennt fie in feiner Geſchichte Armeniens (I, 23) Adramel 
und Sanafar; nad) nationaler Tradition wäre letzterer 
im armeniſch⸗aſſyriſchen Grenzland angefiedelt worden 
und feine 9tadjfommen wären zu Herren ber bortigen 
Sanbjda[t erhoben worden. Der andere, den Moſes 
bier Argamozan nennt, (entiprehend dem Ardumuzan 
‚des Polyhiſtor nach Beroſus bei Cujebius) lie fid) im 
Süboften des Landes nieder, und von ihm läßt man 
bie Fürftengefeledhter der Arzrunier und Genunier ftam: 


Jeſ. o. 36—89 erkäutert durch aſſhriſche Keilinſchriften. 653 


men, jene (II, c. 7 bei Mofes Chor.) als Tönigliche 
Adlerträger, bieje als Hofmundſchenken nad) Ausbeutung 
ihrer Namen ausgezeichnet. Aus dem Geflecht ber 
Arzrunier, mo der Eigenname Sanherib gebráudjlid) war 
(Delitzſch a. D. €. 389), ftammte der byzantiniſche Kaiſer 
Leo ber Armenier und mit ihm eine längere Reihe Nach— 
folger. Demfelben Fürftenftamm gehörte der im 9. und 
in ber erften Hälfte be8 10. Jahrhunderts lebende Ge: 
ſchichtsſchreiber Thomas Arzruni, deffen Treue unb Ges 
nauigfeit in genealogijder und weiterer hiſtoriſcher Dar- 
flellung bei ben Armeniern gerühmt wird. Auch er 
unterläßt nicht, fid) mit Selbftgefühl auf feinen berühm: 
ten angebliden Urahn, den afiyrifchen Großkönig und 
großen Judenfeind Sanherib, zu berufen, nadjbem ſchon 
im 5. Jahrhundert ein Arzrunier Schamwasb, gegenilber 
bem nad) bem Tode des arſacidiſch-armeniſchen Königs 
Chosrov von feinem Vater, dem perſiſchen König Hazs 
gard auf ben armenijden Thron erhobenen Safaniden 
Schapuh, als Nachkomme Sanaſars feine füniglide 310: 
fammung gerühmt hatte (Mofes Ὁ. Chor. a. D. III. 
38. c. 55). 


IL 
Recenfionen. 


1. 


Der jogenannte Sebensmagnetismnd ober. Hypuotismus. Bon 
Dr. Gmgelbert Lorenz Fiſcher. Mainz, Verlag von 
Franz Kirchheim 1883. VI u. 119 ©. 8. 

Eine Studie über Lebensmagnetismus oder Hypno: 
tismus intereffirt den Theologen nicht allein wegen ber 
zu boffenden Aufſchlüſſe pſychologiſcher Art, fondern aud) 
um einiger praftiich veligibfer Fragen willen. Nichts in ber 
Welt gab von jeher umb gibt mod) bem Aberglauben jo 
weiten Spielraum und fo reichliche Nahrung αἵδ᾽ bie 
Krankheiten des menſchlichen Organismus unb das mod 
an fo manden Punkten unaufgeihlofiene Gebiet bet 
Pathologie; und zu biejem Gebiete gehört aud) ber 
Somnambulismus, ſowohl in feiner genuinen Geftalt 
als in feiner künſtlich erzeugten Erſcheinung als anima- 
licher Magnetismus ober Hypnotismus. Wie tief aber 
der Aberglaube in das geiftige und ſittliche Leben ber 
Menſchen einſchneidet, braucht verftändigen Leuten nicht 
exit gefagt zu werden. Wie jer aber aud) in unferer 
Zeit nod) die Menſchen im Wahnglauben verftridt find 





Fiſcher, Hypmotismus. 655 


und meld) traurige Folgen berjelbe für jene unglüd- 
lien Opfer haben Tann, melde man al3 von höheren 
Mächten Befiegelte dem rechtmäßigen Arzte und der ver- 
nünftigen Pflege entzieht, davon Tann neben bem Geel- 
forger am meiften der Arzt reden. Aber nicht blos 
um gerftórung des Aberglaubens burd) Aufhellung 
dunkler pfpfiologifcher Vorgänge handelt e8 fid), fondern 
zugleih um bie cafuiftiihe Frage mad) der Buläffigfeit 
eime8 therapeutiichen Verfahrens, welches fid) auf bie 
bisher allerdings nod) menig fiheren Annahmen und 
Manipulationen des Lebensmagnetismus oder Hypno—⸗ 
tismus ftügt; oder nod) allgemeiner geſprochen, es 
handelt fij um bie fittlide Zuläffigfeit eines Grperi- 
ments in jener Sphäre be8 Menſchenlebens, melde man 
fid) faft auf allen Eulturkufen der Menſchheit nicht ohne 
ein Hereintagen überirdiſcher, geiftiger Mächte vorftellen 
Tann. 

Der Verf. des oben verzeichneten Schriftchens, bet. 
fid in verſchiedenen Publikationen?) als einen ernften 
chriſtlichen Denker ausmweist, unternimmt e8 im Gegen- 
fag gegen frühere Theorien eines Mesmer, Reichenbach 
1. 9L, ben animaliihen Magnetismus, dem man in 
neuefter Zeit ben ent[predyenberen Namen Hypnotismus 
gegeben, auf feine phyfiologiihen und pſychologiſchen 


1) Ueber ba8 Gefeg ber Entwiclung auf pſychijch-ethiſchem 
Gebiete. Auf naturwiſſenſchaftlicher Grundlage mit Rüdficht auf 
Darwin 2c. 1875. — Heidenthum und Offenbarung. Religionsgeſchicht⸗ 
lide Studien ἐς, 1878 — bie Urgefefichte des Menfchen unb bie 
Bibel. Nach ber heutigen anthropologiſchen Forſchung 1879. — 
Ueber ben Peſſimismus 1880. — Ueber dad Princip der Drgani- 
fation unb bie Bflanzenfeele 1888. — Als demnächſt erſcheinend an« 
getünbigt: Das Problem be8 Uebel unb bie Theodiceen. 


656 Fiſcher, 


Grundlagen zurückzuführen, indem er frühere Erklärungs— 
verfuhe als unzureichend zurüdmweist unb überhaupt 
mandjerlei irrige Vorftellungen von ber Cade corrigirt, 
namentlich aud) bie Vorftelung, daß ber Hypnotismus 
mefentlid auf einem — pfpfiologifchen oder pſycho— 
logijden — Rapport zweier Perfonen zu einander be: 
tube und burd) Uebertragung einer magnetifhen ober 
eleftrijdjen Kraft oder eines Fluidums τι. dgl. erfolge, wäh 
rend vielmehr neuere Beobachtungen zeigen, daß ber 
Einzelne fid) felbft in den Zuftand ber Hypuoſe verfegen 
könne, aljo eines Anderen αἵ Magnetifeurs u. j. v. gar 
nicht bebürfe. Es wird zu diefem Behufe auf analoge 
Erſcheinungen bingemwiefen, wie 3. 98. auf bie mittel» 
alterlihe Sekte der Heſychaſten ober 9tabeljdjauer, fowie 
auf bie heute nod) in Indien zu treffenden Fakire, welche 
fij lebendig begraben laſſen und mad) einiger Zeit 
wieder zum Leben erwedt werden, eine eminente Form 
bes fünftliden Hypnotismus. Gbenjo tebucirt der Verf. 
bie Einzelerfcheinungen aufßerordentliher Art an Som: 
nambulen und Hypnotifirten auf das richtige Maß durch 
Ausſcheidung deffen, was auf falſchem Schein und mangel- 
bafter Beobachtung beruht, von bem, was bie erafte Unter: 
fudjung an die Hand gibt. So wird namentlich bie all- 
gemein verbreitete Annahme von einem bei Comnam- 
bulen vorfommenden Hellfehen, Leſen von Briefen bei 
verfeloffenen Augen u. bgl» in nichts aufgelöst, das 
wenige, was an den behaupteten Thatſachen wirklich 
wahr ift, auf ganz leicht erflärliche verhältnißmäßig ein- 
fade Vorgänge reducirt. lleberbaupt fommt Dr. Fiſcher 
zu dem doppelten Ergebniß, erftens daß’ er im feinen 
bieher begügliden Studien feinem Punkt gefunden, mo 


Hypnotismus. 657 


man ba8 Hereinragen höherer, übernatürliher Kräfte 
wahrnehmen fünnte ober vorausfeßen müßte, und zwei⸗ 
tens daß e8 ganz unbedenklih und in manden Fällen 
geradezu das Indicirte und Richtigere fei, den Hypno⸗ 
tismus als Heilmethode anzumenben. 

Für den Nachweis des erften Punktes find wir dem 
Verf. dankbar, er bat u. G. bod) wieder einen Stein 
weggewälzt von bem mur allmälig und mit Mühe unb 
und Schweiß zu demolirenden Bollwerk des Wahnglau- 
bens und des darauf berechneten Betrugs. Wenn aber 
Dr. F. zum Schluſſe fagt: „Ein Gefpenft ber neueren 
Seit ift alfo mun duch die wiſſenſchaftliche Forſchung 
gebannt, b. b. in feiner Wahrheit durchſchaut; e8 εἰς 
übrigt jet noch, aud) ba8 andere moderne Gefpenft, den 
Spiritismus, zu entlarven“, fo möchten wir bod) zu be⸗ 
benfen geben, ob e8 ohne Anftand abgehe, den Hypno- 
tismus und ben Spiritismus ganz getrennt von einander 
zu betrachten, ob midt bie Erfheinungen des Somnam⸗ 
Bulismus, Spiritismus, ferner der Hpfterie unb gemiffer 
pſychiſcher Affeftionen in einem untrennbaren Gonner und 
Verwandtſchaftsverhältniß mit einander ftebem, fo daß 
mir, über feine einzelne dieſer Erſcheinungen vollftändig 
aufgeflärt find, fo lange in ber angrenzenden Sphäre 
nod) die Dämonen fpuden. Einzelne Formen des Som- 
nambulismus mögen fi jo einfad).entmideln, wie Dr. F. 
nachweist; aber gibt e8 nicht eine Gomplication ber €om- 
nambulie mit Spiritismus und mit myſtiſchen guftün- 
dem verſchiedener Art, bei denen die Erklärung fid) nicht 
fo einfad) ergibt? Bei all dem find wir ber feften Zu— 
verficht, daß fid) das „Geipenft des Spiritismus" ebenfo 


658 Fiſcher, Hppnotismus. 


werbe entlarven laffen, wie e8 Dr. F. mit dem Hypno- 
timus unternommen. 

Was aber den zweiten Punkt anlangt, bie Anwen: 
bung be8 Hypnotismus zu therapeutiichen Zmeden, über 
bie wir das Urtheil zunächft ber mebicinifhen Wiflen- 
ſchaft überlaffen müfjen, fo finden wir wenigſtens in 
ber Darftellung des Verf. mehrere Schwierigkeiten ent 
fernt, meldje unà bisher an der Zuftimmung zum bppno- 
tifdjen Experiment hindern mußten. Schon der Modus des 
Hppnotifivens ift ein ganz anderer und unbedenklicherer, 
als man ihn fid) früher dachte, vollends menm e8 einer 
zweiten Perfon zur Herftelung der Wirkung gar nicht 
einmal bedarf. Sodann ift die von den Meiften bisher 
vorausgeſetzte nachtheilige Wirkung be8 Hypnotismus 
auf das Nervenſyſtem nach Dr. F. nicht zu befürchten, 
da es gerade nicht Perſonen von ſchwachen und ange— 
griffenen Nerven ſind, welche für den Hypnotismus em⸗ 
pfängli find und geeignete Verſuchsobjekte dafür ab- 
geben. Für die Praris würde fi, meint Dr. F., bie 
Hypnoſe mohlthätig ermeijen, zunächſt ſchon als Mittel, 
bie Schmerzempfindung bei Operationen aufzuheben, und 
zwar befjer al8 Aether oder Chloroform, deren Anwen 
dung befanntlih nicht ganz ungefährlih, während am 
Hppnofe nod) Niemand geftorben jei; fobanm aber aud 
für direfte Therapie, wie man denn von ihr Grfolge bei 
NRheumatismen, toniſchen Krämpfen, Berfrümmungen der 
Wirbelfäule, Epilepfie, Gpfterie verzeichnet. 

Wir fómmen bier natürlid) dem Verf. mid weiter 
folgen. Seine pſychologiſchen Vorausfegungen und Be: 
hauptungen erhalten ihre Beftätigung bod) erft, wenn 
feine phyſiologiſchen Pofitionen richtig find, und feine 





Agberger, bie Unfünblichteit Chriſti. 659 


mebicinijden Theorien müflen fidj im ber mtebicinijdjen 
Gajuiftit bewähren. Wir unfererfeits erhalten zwar aller- 
dings ben Eindrud, baf bas Gebiet, aus toeldjem Dr. F. 
feine Angaben hernimmt, ein ziemlich enges geblieben, 
und daß er auf bie [deren Bedenken, melde von phy⸗ 
fiologifchen und mediciniſchen Auftoritäten nod) in neuefter 
Zeit gegen ba8 Treiben eines Hanfen und ber Hypno⸗ 
tiften überhaupt erhoben worden find, zu menig 9tüd- 
fidt genommen babe. Andererſeits aber erwedt bie 
Schrift bod) wieder volles Vertrauen, daß e8 gelingen 
werde, aud) bie etiva noch, zurückbleibenden Anftände zu 
befeitigen, wenn man auf bem vom Verf. betretenen 
Wege der vorurtheilsfteien Forſchung und Erfahrung fort- 
ſchreitet. In ber von Dr. F. vorausgefegten Anwen: 
bung, beziehungsweife Einſchränkung unterliegt bie Her= 
beiführung ber fünfliden Hypnoſe jedenfalls feinem 


moralijdjen Bedenken. 
Linſenmann. 


2. 


Die Unſündlichteit Chriſti. Hiſtoriſchdogmatiſch dargeſtellt 
von Dr. 8, Atzberger. München. Ernſt Stahl. 1883. 
VIn. 860 ©. 8. 


In die Schemata Coneil. Vatie. war aud) der Sag 
aufgenommen: «Carni et sanguini participans cum in- 
firmitate naturae culpae maculam nequaquam susce- 
pit et licet vero libero arbitrio praeditus 
non solum non peccavit, sed nec peccare potuit» 


660 Agberger, 


(bei Martin C. Omn. coneil. Vàtie. document. collect. 
Paderb. 1870 p. 25 vgl. Aberger in ber oben ange- 
zeigten Schrift €, 128 Anm. 4. 8 findet fid) bier 
zugleich eim weiteres Schema und bie von ben Conſul⸗ 
toren gegebene Adnotatio). „Hätte das vatikaniſche 
Koneil fortgefegt werden fónnen, fo wäre (diefen €dje- 
maten entſprechend) vielleicht aud) die Firchlich-überlieferte 
Lehre von ber bypoftätifhen Union und ber mit 
diefer gegebenen Unſündlichkeit Chrifti feierlich 
befinirt worden.“ Es wäre geſchehen fpeciell im Gegen- 
fag zu ber Günther’fhen Auffaffung, "melde Chriſto 
nit eine abfolute Unfündlichkeit zuerkannte, fondern für 
ihn in feinem irdiſchen Dafein einen Moment ber Frei— 
beitsprobe nöthig hielt, bei welcher die Möglichkeit zum 
Guten wie zum Böfen geforbert, alfo eine Impecca- 
bilität vollfommen ausgeſchloſſen ift. Denn ohne eine 
ſolche Freiheitsprobe wäre nad Günther ein SBerbienft 
unmüglid. Zugleich hätte die katholiſche Kirche aufs 
neue ihrem Glauben an Chriftus und fein Werk gegen- 
über ber per[djieben formulirten Seugnung feiner Gott- 
beit burd) bie proteftantijdje Theologie einen feierlichen 
Ausdrud gegeben und feine Degradation zu einem mehr 
ober weniger vollfommenen Idealmenſchen aufs neue 
feierlich verworfen. 

Schon biejer Umftand, daß das legte allgemeine 
foncil ernſtlich eine dogmatifche Definition der Unfünd- 
lidfeit Chrifti in Ausfiht nahm, zeigt und, melde Wich- 
tigfeit biefer Frage in gegentodrtiger Zeit zukommt. Atz- 
berger meist ihr in feiner Einleitung („zur Firirung 
unferes Standpunftes“) geradezu „eine centrale Bedeutung 
für das ganze Menſchengeſchlecht“ zu. „Iſt Chriftus, 


bie Unfünbficeit Cpeifti. 661 


ſchreibt er, in Wirklichfeit der wahrhaft Heilige, göttlich 
SBolifommene u. abjolut Unfündlihe ..... dann ift. er 
bie hiſtoriſch größte Erſcheinung aller Beiten, bann ijt er 
Sybeal und Vorbild für alle Geſchlechter, dann behält 
cud) Recht ber Glaube an ihn al8 den Erlöfer von ber 
Sünde unb bem Sündenelende bieje8 Lebens, ala Sohn 
Gottes und als nothwendigen Mittelpunkt aller freien 
und unfreien Bewegung der Geihöpfe Iſt aber 
der Inhalt des Chriftusbegriffs etwa bloß „das Produkt 
der religiöfen Phantafie, melde bie im Bemwußtfein der 
Menſchheit aufgeftiegene Idee der Gottmenfdbeit auf das 
Individuum Jeſus von Nazareth übertrug.” ..... oder 
ift das von der Gejdjid)te uns entworfene Charakterbild 
Jeſu jelbft von fittlihen Mängeln getrübt unb von Ein- 
feitigfeiten wicht frei; ift mit einem Worte ber Chriftus 
des religiöfen Glaubens gar nicht ober nur theilmeife und 
unvollfommen biftorifch geweſen oder ftebt er in innerem 
Widerſpruche mit fid felbft: dann mag bie Menſchheit 
immerhin fid) umfehen mad) einem andern Modus ber 
Erlöfung von ben Leiden dieſes Erdenlebenz, fie mag ein 
anderes Ideal aufftellen, durch welches fie befler ihre 
SBeftrebungen befriedigen zu fónnen glaubt, fie mag einen 
anderen Mittelpunkt aller freien und unfreien Bewegung 
der Geſchöpfe fid) konſtruiren und auf das Chriftenthum 
als einen überwundenen Standpunkt herab: und zurüd- 
bliden. Unter diefem Gefihtspunft aufgefaßt, Dat bie 
Frage mad) ber Unſündlichkeit Chrifti eine meittragende 
Bedeutung für bie religiöfe, fociale und politifche 
Entwidlung der gefammten Menſchheit.“ (&. 11.) 
In Behandlung diefer Frage könnte ein doppelter 
Weg eingefchlagen werben. „Die Unſündlichkeit Chriſti, 


662 berger, 


jagt Agberger, fónnte in gewiſſem Sinne aufgefaßt wer: 
ben als Gentralobjeft einer Apologie bes GDriften- 
thums. Der Beweis für biefelbe hätte in dieſem Falle 
einmal bem Materialismus in feinen verſchiedenen Formen 
und dem Determinismus gegenüber bargutDum, daß es 
überhaupt einen freien Geift und ein moralifches guredjen- 
bares Böfe gebe und baf wenigftens ohne inneren Wider: 
fprud) ein freier Geift unbefledt vom Böfen zu bleiben 
vermöge. Einem mythiſirenden Pantheismus gegenüber 
müßte gezeigt werden, ba e8 einen ſolchen Geift gegeben 
babe, in welchen nie bie Sünde Eingang gefunden. Ver— 
Tdjiebenen Formen des Deismus, Bantheismus und Ratio- 
nalismus gegenüber fónnte man ferner vorzüglich im In: 
tereffe unferer Erlöfung unterſuchen, ob ber hiftorifche 
Chriſtus bloß die höchſte Darftellung menſchlicher Hei— 
ligleit und Vollkommenheit ſei, oder aud die ſubſtanzielle 
Heiligkeit, weſensverſchieden von der Welt, und Gott 
ſelbſt.“ Kurz, „die Glaubwürdigkeit des Chriſtusbegriffs 
würde ert in analytiſcher Weiſe unterſucht“ „ſoweit 
philoſophiſch⸗ſpeculative und hiſtoriſche Unterſuchungen 
dieſes überhaupt ermöglichen.“ Eine ſolche Behandlung 
ber Fragen wäre freilich ſehr ſchwierig, aber bod) gu. 
gleich ſehr anziehend und lohnend und vieleicht den Be— 
bürfniffen der Gegenwart mehr entipredjenb. 

Agberger nimmt nicht diefen apologetifhen, ſondern 
den dogmatiſchen Standpunkt ein. Der Chriftus- 
begriff wird hier im allgemeinen bereits als wahr vor- 
ausgelegt und in ſynthetiſcher 9Beije in feine εἰπε 
zelnen Momente zerlegt. Was Schrift und tebetliefe- 
rung von Chriftuß lehren, wird hier mad) den einzelnen 
Momenten einheitlich dargeftelt und in dogmatiſch-⸗ſpeku⸗ 





die Unſundlichteit Chriſti. 668 


lativer Weife bem BVerftändniß nahe gebracht. Agberger 
fat mit ſtaunenswerthem Fleiß alle einſchlägigen Stellen 
der Väter und der Theologen gejammelt. Mit großem 
Geſchick wird die Ausprägung ber bbgmatijden Wahr: 
beit in den verfchiedenen Stadien ihrer Gntmidlung 
Berausgeftellt und beurtheilt. Daß dabei jede nur 
einigermaßen von der zuvor feftgehaltenen abmeichende 
Anficht ihre Aufnahme findet, wenn fie aud) feinen Fort: 
ſchritt der Entwidlung, bisweilen fogar einen Rückſchritt 
bezeichnet, mag ber Bollftünbigfeit wegen als notwendig 
erjóeinen und von vielen al8 befonderer Vorzug be: 
tradet werden. Referent glaubt aber, daß man hierin 
Gud) zu meit gehen Tann. Die Lektüre wird dadurd er: 
ſchwert und wirkt ermübenb, felbft menu, τοῖς im vor- 
liegenden Fall, bie Darftellung eine flare, gefüllige und 
überficptliche ift. Freilich läßt fid) dies bei Behandlung 
von Detailfragen, wie bie vorliegende, faft nicht ver: 
meiden und bie deutſche Gründlichkeit ift mm einmal ge- 
mohnt, es als Mangel zu bezeichnen, wenn in einem 
wiſſenſchaftlichen Werke nicht alles fi zufammengeftellt 
findet, was irgend einmal über bie zu behandelnde Frago 
geſchrieben wurde. 

Die Eintheilung ift eine fehr glüdlide. Das Wert 
zerfällt in drei Haupttheile. Der erfte Haupttheil be— 
handelt bie Unſündigkeit b. D. bie thatſächliche Sünde— 
lofigfeit Chrifti, der zweite die Unſündlichkeit Chrifti 
b. f. bie abjolute Unmöglichkeit der Sünde in Chriftus 
und ihren legten formalen Grund. Der britte Haupt 
theil betrachtet bie Unfündlichkeit Chrifti in ihrem Ver— 
hältniß zur Ausführung des Erlöfungswerkes. Näher— 
bin werden die Fragen beantwortet: Wie ift die Un— 


664 Abberger, bie Unfünblichfeit Chriſti. 


ſündlichkeit Chrifti mit feinem Erniedrigungsftande, [εἰς 
ner leidensfähigen Menſchheit, wie mit feiner freien 
Willensentſcheidung und ber Verdienftlichkeit feiner Hand- 
lungen vereinbar.’ Die Unterabtheilungen des zweiten 
und dritten Haupttheils find gewonnen aus ber hiftorifchen 
Aufeinanderfolge ber im Kampfe mit den Härefien be: 
fonber8 betonten und entwidelten Momente des Dog- 
mas. (ὅδ wird daher dargelegt, wie bie Lehre von ber 
Unſündlichkeit Chrifti burd) bie hl. Väter gegenüber ben 
Leugnern feiner wahren leibliden Natur (Dofetismus, 
Gnoftifer, Manichäer), gegenüber den Leugnern feiner 
wahren Gottheit (Paulus von Samofata und Arius), 
gegenüber den Leugnern feine® wahren menſchlichen 
Geiftes (Apollinarismus), gegenüber bem Leugnern ber 
bypoftatifhen Union (Drigenes, Antiohener und Stefto- 
tianer, Pelagianer, Adoptianer, Güntherianer), gegenüber 
ben Leugnern be Fortbeftandes der unirten Menfchheit 
in ihrer eigenen Wefenheit und Wefensthätigfeit (Mono- 
phyfiten und Monotheleten) vertheidigt, dargeftellt und 
begründet tourbe. Ein zweiter Abſchnitt enthält dann 
bie Darftellung der dogmatiſch-ſpekulativen Entwicklung 
ber Lehre von ber Unſündlichkeit Chrifti, wobei ebenfalls. 
bie biftorifche Reihenfolge eingehalten und namentlich die 
thomiſtiſche und feotiftiihe Begründung ber Unfünd- 
lidjfeit Chrifti gewürdigt und beurtheilt wird. Als An- 
bang ijt eine Darftellung und Kritik der proteftantiichen 
Anfhauungen über die Unſündlichkeit Chrifti beigegeben. 
Agberger urteilt über fie richtig, daß „in ihnen größten- 
theils nur längft Vorhandenes und längft Widerlegtes, 
wenn aud) in neuer Form, vorgebradjt wird.“ 

Bei ber Darlegung der Lehre be8 HI. Cyrill von 


Epping, ber Kreislauf im Kosmos. 665 


Merandrien hätte wohl der von ihm gebrauchte Aus: 
druck ἕνωσις φυσική als ſchief und gmeibeutig bezeichnet 
werben follen, ba er nicht zum geringften Theil den nach⸗ 
maligen Monophyfitismus mitverfhuldet hat. Atzberger 
deutet mur ganz vorübergehend diefen Mangel an, ohne 
ein Urtheil abzugeben. 

Hr. Agberger hat [don bei feiner erften theologiſchen 
Arbeit über die „Logoslehre des hl. Athanafius“ ver 
diente Unerfennung gefunden. Die vorliegende neue 
Schrift, melde er zum tede der Habilitation an ber 
theologiſchen Fakultät ber Univerfität Münden verfaßt 
bat, wird ihm gewiß neuen Beifall bringen. 

Stepetent Dr. Schmid. 


3. 


1. Der Rreidlauf im Kosmos. Von Joſeph Epping ©. 3. 
Ergänzungshefte zu den „Stimmen aus Maria-Laach“. 
18. Freiburg. Qerber 1882. 103 ©. 

2. Der belebte unb bet unbelehte Stoff nad) den neueften 
orfhungs-Ergebniffen. Von 8. Dreſſel S. I. Grgün- 
zungshefte. 22. Freiburg. Herder 1883. 204 ©. 

3. Das Weltphänomen. Cine erfenntnißtheoretiihe Studie 
zur Güfularfeier von Kants Kritik der reinen Vernunft. 
Bon €. Bel ©. J. Ergänzungshefte. 16. Freiburg 
Herder 1881. 137 ©. 

4. Idealismus oder Realismus. Cine erfenntnißtheoretiiche 
Stubie zur Begründung be8 Iegtern. Bon €. TE. 
Iſenlkrahe, Pfarrer. Leipzig. Fr. Fleiſcher 1883. 182 ©. 

5. 9tatur, Berunnft, Gott. Abhandlung über bie watürlide 
Grtenuntui Gottes, nad) ber Lehre des HI. Thomas bon 
Aquin dargeftellt. Von Dr. Ceslaus SRatia Squeider. 

Theol. Ouartalfgrift. 1888. Heft IV. 44 


666 Epping, 


Gefrüute Preisſchrift. Regensburg. Manz. 1888. 

868 ©. 

Die modernen Naturwifienfchaften im Bunde mit 
ber Raturphilofophie erheben den 9Infprud), das Räthſel 
des Seins und be8 Lebens lüjen zu fünnem, ohne einer 
außerweltlihen Urſache oder Kraft zu bebürfem. Die 
ftaunenswerthen Nefultate der eracten Wiſſenſchaften 
geben diefem Anſpruch einen großen Schein von Berech⸗ 
tigung und verjdaffem ihm in immer weiteren Kreifen 
Glauben. Es gehört in manden Schichten ber Gefell- 
ſchaft zum guten Ton, fid zu der neuen Weltanſchau⸗ 
ung zu befennen. Die alte bualiftijdje Weltanfhauung 
wird kaum anders al8 mit verüdjtliden Bemerkungen er⸗ 
mähnt und ben „Dunkelmännern“ überlaffen. Könnte 
man nun aud) diefe modernen Denker und Gläubigen 
fid) felbft überlaffen, da eine Belehrung von vornherein 
abgewieſen wird, jo ift e8 bod) Pflicht der gläubigen 
Forſcher, bie für bie neue Weltanfhauung vorgebrachten 
Gründe genau zu unterfuhen und auf ihren wirklichen 
Werth und Unwerth zurüdzuführen Denn nur zu 
leicht Tann durch bie beftechenden Hypotheſen dad Ge- 
müth mander Gläubigen verwirrt werben und bie nicht 
vertheidigte Wahrheit der Verachtung ober Bernahläßi- 
gung anheimfallen. Eine erſprießliche Auseinanderfegung 
mit den gegnerifchen Aufftellungen verlangt aber eine 
gründliche Kenntniß des Gegenftandes.. Phrafen und 
Phantaſien ſchaden mehr als fie nügen. Die Kritif und 
SBolemit führen dann von felbft zu einer Sichtung und 
Sicherung be8 eigenen Standpunktes. Man wird einer 
feit8 die principielle Richtigkeit desfelben erkennen, an: 
beterjeit8 aber die burd) bie ficheren Refultate der 


ber Kreislauf im Kosmos. 667 


modernen Forfhung geforderten Modifikationen anbringen 
und fo aus feinem Schatz Altes und Neues hervor: 
bringen. Die oben genannten Verfaſſer find in verſchie⸗ 
bener Weife biefen Anforderungen gerecht geworben. 
Die drei erften fielen fid) mit ihren Gegnern auf den 
Boden der Naturwiſſenſchaft, der ihnen wohl befannt ift, 
um Schritt für Schritt bie Schwächen ber Gegner auf: 
gubeden und die Unzulänglichkeit diefer Wiſſenſchaft für 
das, was über bie Empirie hinausgeht, nachzuweiſen. 
Sie vermag ben felbf von namhaften Vertretern be- 
tolefenen Anfangs: und Endzuftand der Welt nicht burd) 
einen fupponirten ewigen Kreislauf zu befeitigen, nod) 
die Kluft zwiſchen bem unbelebten und belebten Stoff 
zu überbrüden, nod) aud) durch ibealiftiihe Verinner: 
lichung ber Außenwelt die ganze Welt in Frage zu ftellen. 
In biefer Verwerfung des Jdealismus geht H. Iſenkrahe 
mit-H. Peſch Hand in Hand, aber er vermag fid) mit 
ben zur Erklärung beigezogenen ſcholaſtiſchen Termini der 
species impressa und expressa nicht abzufinden und fudit 
das Weltphänomen vorausfegungslofer zu erklären. 
H. Schneider endlich lenft ganz zum Naturphilofophen 
Thomas zurüd, um ihn als leuchtendes Vorbild für bie 
Staturforidjung darzuftellen. 

1. €3 ift befannt, daß bie Materialiften, welche in 
ber Lehre von der Erhaltung ber Kraft den höchſten 
Triumph ihres Syſtems erkennen zu müffen glaubten, 
burd) das Clauſius'ſche Gejeg, baf bie Entropie ber 
Welt (die Summe aller ftofflihen Verwandlungen) einem 
Marimum zuftrebt, in nicht geringe Verlegenheit verfegt 
wurden. Thomfon, Helmholtz u. A. anerkannten bie 
Nichtigkeit des Gejeges. Wollte man aljo trot desſelben 

4* 


668 Epping, 


die Ewigkeit der Welt nicht preisgeben, jo blieb nur die 
Annahme eines ewigen Kreislaufes übrig. „Ewiges 
Werden und Vergehen“, „Nie endender Kreislauf” war 
die Antwort auf den Sag vom Enbzuftand, ber noi. 
wendig einen Anfang verlangte. Die Unmöglichkeit eines 
folgen Kreislaufes weist nun H. Epping fdlagenb nad, 
indem er insbefondere einen Hauptvertreter diefer Theorie, 
ben Dr. Karl Freiheren du Prel [darf auf das Korn 
nimmt. Er beſpricht zuerft bie gegnerifhe Methode, 
welche dazu angethan ijt, die Schwierigkeiten möglichft 
zu verjdleiern oder zu verſchweigen und das Wahr- 
ſcheinliche und Gewünſchte al3 feſtſtehend Dinguftellen. 
Sodann widmet er der Kant-Laplace'ſchen Hypotheſe 
eine längere Ausführung unb Kritik. Er kommt dabei 
zu bem Refultate, daß biefe Hypotheſe „in großer Weber: 
einftimmung fteht mit den thatfächli—hen Verhältniffen in 
unferem Blanetenfpftem, infofern man fie mehr im .All- 
gemeinen oder in confuso bettadjtet." „Wir können bie 
Hypotheſe als eine mohlbegründete anjeben unb ihr ein 
fahhin das Prädikat der Wahrſcheinlichkeit zuer 
Tennen; aber αἵδ᾽ eine fefiftebenbe Thatſache dürfen wir 
fie nicht anerkennen“ (S. 50). Man wird dem beiftim- 
men fönnen, wenn die Kritik vielleicht auch öfter zu meit 
geht. Als bemerkenswerth bebe ἰῷ hervor, daß ber 
Verf. für bie langfamere Bewegung ber Stammförper 
gegenüber den Planeten und Monden die Gejeitenreibung 
(Ebbe und Flut) für unzureichend hält. — SBielmebr 
müffe die Bewegung der äußeren Schichten größer ge- 
weſen fein al8 bie ber inneren, fo daß bei ber Loslöſung 
beà Ringes die Gefammtrotation be8 fid) weiter werbich- 
tenden Balls relativ eine geringere war. Nun wird beim 





der Kreislauf im Kosmos. 669 


Bufammenziehen bie in Rotationsgeſchwindigkeit umge: 
febte Fallbewegung fid) aud) ben innern Schichten mit- 
theilen. Die große Gefd)minbigfeit ber äußern Theile 
bringt in bie Maffe ein. Die Ausgabe der äußern 
Schichten ift aljo größer al8 die Einnahme. Deßhalb 
muß fid die Sonne langjamer drehen, al8 die Planeten. 
Daraus erkläre fid) aud) bie ſchnellere Rotation der 
Sonne am Aequator. Freilich müffe dann die Sonne ^ 
ein Gasball fein. Die bisherige Annahme einer feften 
oder flüffigen Kugel Dat allerdings burd) bie Wahrneh- 
mung, daß bie Gasſpectra von der Temperatur und ber 
Dide und Dichte der leuchtenden Schicht abhängen, einen 
Stoß erhalten. Die Unterfheidung zwiſchen bem conti 
nuirlihen Spectrum fefter und flüffiger Körper und dem 
Rinienfpectrum ber Gafe ift nicht mehr weſentlich und 
baber find die darauf gebauten Schlüffe nicht mehr feft. 
Doch find mod) weitere Unterfuhungen nothivendig, um 
ein endgiltiges Urtheil zu ermöglichen. Aber immerhin 
fieht man hieraus, mit welcher Vorſicht aud) bie fdjein- 
bar fidetn Stefultate der Naturwiſſenſchaften aufzu— 
nehmen find. . 

2. Das Problem des Lebens ift bislang bet eraften 
Forſchung unzugängli geblieben. Weder der Anfang 
besfelben nod) der eigentliche Lebensproceß will fid) den 
gewöhnlichen Naturgefegen unterwerfen. Man Tennt 
wohl bie hemifchen und phyſikaliſchen Vorgänge in den 
organiſchen Körpern, man fann aud) mande organifche 
Gebilde aus anorganiſchen Stoffen herftellen, aber ba8 
Leben kommt eben nicht zum Vorſchein. Denuoch ift bie 
Naturwiſſenſchaft eifrigft bemüht, das Leben mit bem 
Mikroſkop und ben Reagentien zu fuchen, und betrachtet 


610 Drefiel, 


es vielfach als felbftverftändliche Borausfegung, daß eines 
Tages das Leben fo fidet exfaunt werden müſſe wie ein 
demijder Prozeß. H. Drefiel Dat fid) mum der Mühe 
unterzogen, „im vollen Lichte moderner Forihung bie un 
belebte Materie und den lebendigen Organismus auf 
ihre fundamentalen Eigenthümlicyfeiten zu prüfen, um 
zu feen, ob fie fid) mir nidjt8 dir nichts zufammen- 
* würfeln faffen." Er verlangt mit Recht eine gute Dofis 
von Gebulb unb gutem Willen, denn biefe Detailunter- 
fuhungen dienen nicht zur Unterhaltung, aber fie find 
nothwendig unb lohnen jeden, ber fid) ernftlih Mühe 
gibt, durch reihe Belehrung. Man fol nicht bloß im 
allgemeinen den Unterſchied zwifchen bem Anorganifchen 
und Organifchen fennen, fondern aud) von bem verſchie⸗ 
denen Gejegen und harakteriftiihen Eigenthümlichkeiten 
beider Reihe eine genaue Vorftellung erhalten. Der 
Verf. theilt feine Schrift in einen pofitiven und einen 
olemijden Theil. Jener ift der grundlegende und in 
terefjantere felbft für denjenigen, teldjer in diefem Ge: 
biete einigermaßen zu Haufe ift. Der andere ift bie An 
wendung der gewonnenen Refultate anf die mobernen 
Theorien über das Leben. Im erften Theil wird die 
Firirung be8 Unterfchiedes zwifchen dem belebten und 
dem unbelebten Stoff verſucht, indem zuerft die lebloſe, 
dann bie belebte Materie harakterifirt wird und emblid) 
daraus die allgemeinen Folgerungen für beide gezogen 
werben. Der zweite Theil ijt eine Kritik der antibua- 
liftijden Lebenstheorien: chemiſcher, phyfifaliicher, pip: 
dijder Materialismus; der Nihilismus als Schluß. 
Der Verf. kommt dabei zu dem Schluſſe, daß bie ſcho— 
laſtiſch-dualiſtiſche Lebensauffaſſung mit ben Ergebnifien 


ber belebte uud ber unbelebte Stoff. . 671 


der Naturforfhung nicht bloß vereinbar, fondern von 
ihnen al8 die einzig richtige geradezu gefordert werde, 
Statt der Worte „Pflanzenfeele”, „Thierſeele“, melde 
viel beffere Bezeichnungen wären, weil die Seele des 
SReniden in einer ganz ähnlichen Beziehung zur Materie 
und zum Menfchenleibe ftebt, ſchlägt er das Wort 
„Lebensprincip“ zur Bezeichnung des belebenden Grun- 
des in Pflanzen und Thieren vor, weil in ber menfch- 
lichen Seele die Fähigkeit liegt, für fid) und ohne Körper 
eriftiven zu können. Das Lob der Scholaftik kehrt über- 
haupt öfter wieder (S. 117. 168. 197. 200) und man 
Tann in dem allgemeinen Sinn, wie e8 gefpendet wird, 
aud) damit einverflanden fein. Der Monismus-ift in 
ber That außer Stand, das Leben zu erklären und bie 
verzweifelten Verſuche felbft hervorragender Forſcher 
Tonnen nur auf Koften der Logik und Genauigkeit ein 
Refultat erzielen. Die Methode der Scholaftif unb ber 
neueren Forſchung feit Galilei ift aber fo verſchieden, 
daß εὖ nicht gelingen wird, in weniger eingetoeibten und 
geneigten Kreifen fie einheimifch zu machen. Freilich ift 
die chemiſche Terminologie für Nichtchemiker auch nicht 
befonder3 einladend. ^ 

8. H. Peſch fteht auf demfelben Standpunkt ber Scho: 
laftif Er will zeigen, wie bie Naturüberzeugung der 
Menſchheit in ber Philofophie der fatfolijdjen Vorzeit 
eine fefte, ynerfchütterlide Begründung gefunden Dat, 
mährend fid) die moderne Wiſſenſchaft außer Stande er- 
klärt, zwifchen vernünftigen Menfhen und Träumern einen 
erheblichen Unterſchied feitzuftellen. Yon modern „Wiffen- 
ſchaftlichen“ erwartet er nicht, baf fie feine Schrift, welche 
fid) gu einer im ihren Augen ganz ſchrecklichen Härefie 


672 veſch, 


bekennt, zur Hand nehmen. Bei den vorurtheilsfreien 
Leſern aber hofft er die Erkenntniß zu befeſtigen, wie 
ſehr wir dem kirchlichen Lehramte dafür zum Danke ver: 
pflichtet find, daß mir gegenüber der verirrten Philofo: 
phie ber Jetztzeit auf die Philofophie eines b. Thomas 
von Aquin Dingemiejen wurden. Der Berf. will aljo 
auf Grund ber folaftiihen Philoſophie den Realismus 
fiher ftellen. Troß des großen Reichthums an Aufſchlüſ⸗ 
fen über bie Vorgänge bei ber Sinneswahrnehmung, beu 
wir ber phyſiologiſchen Forſchung des 19. Jahrhunderts 
verdanfen, wagt er bod) die Behauptung, baf e8 ber 
Scholaftit gelungen ift, bie Nichtigkeit der realiftifhen 
Beltauffaffung wiſſenſchaftlich für alle Zeiten feftzuftellen. 
Dabei gebt er von bem Cage be8 ἢ. Thomas aus: 
potentia cognoseitiva proportionatur cognoseibili, ben 
ber B. Auguftin mit den Worten ausſpreche: animam 
passionibus eius (objecti) ire obviam, Diefer Sat ift 
in ber That von der modernen Naturwiſſenſchaft beftätigt 
worden. Die fpecifiihen Sinnesenergieen, die Local- 
zeichen be8 Taftfinnes und Geſichtsſinnes und Aehnliches 
Tpredjen dafür. Aber eigenthimlicher Weiſe verwenden 
die idealiſtiſchen Naturforſcher biefe Thatſachen für ben 
Idealismus und pofitiv zu widerlegen find fie in diefem 
Spunft nicht. Auch der ſcholaſtiſche Gab, daß bie Sinnes— 
wahrnehmungen Mittel zum Zweck ber Erfenntniß feien 
und alfo wahr fein müflen, menn e8 überhaupt eine 
Erkenntniß gibt, ift mut ein Beweis von bem einmal 
eingenommenen Stanbpunft aus. Denn e3 ift ja gerabe 
in Frage geftellt, ob dieſes Verhältniß ftattfindet. Die 
ſcholaſtiſche Erkenntnißtheorie ift eben wie die ſcholaſtiſche 
Naturphilofophie im Anſchluß an die ariftotelifchen Prin⸗ 





das Meltphänomen. 673 


cipien bem Augenſchein angepaßt. Sie erflärt ganz gut, 
was ifi, wenn es einmal ift, aber nicht wie unb warum 
ἐδ fo ift oder fo wahrgenommen wird. Der Verf. felbit 
gibt ja zu, daß aud) auf teleologiihem Standpunft uns 
das tieffte „Wie“ im Dunkel gehüllt fei. Wir fehen 
nicht, mie e8 denn eigentlich gefchieht, daß uns äußere 
Dinge gegenftändlih werben fünnem. Das „Daß“ ift 
alfo aud) nur eine Folgerung be8 gefunden SRenfden- 
verftanded. Als folde muß ber Realismus unbedingt 
hingenommen werden. (8. heißt denfelben geradezu ver- 
leugnen, wenn mam aud nur in ber Theorie die Welt 
in δα Innere verlegen will. 

4. An biefem Punkt fegt Herr Iſenkrahe ein, deſſen 
Schrift gegen bie vorige gerichtet ift. Der Idealismus, 
meint er, ift inbirect leicht, divect nicht zu widerlegen. 
Der Realismus ift direct nicht beweisbar, fondern bleibt 
Hypotheſe, ift aber an fid) gewiß. Ein Beweis zu ver- 
langen ift unverftändlih. Denn bie Realiften find in 
ber Defenfive, bie Jdealiften haben den Beweis für den 
Idealismus zu erbringen. Alle ihre Gründe beruhen 
auf bem Idealismns. Ein Kriterium ber Wahrheit gibt 
es nidt. Man müßte fonft dafür wieder ein Kriterium 
fuden. Die „objective Evidenz“ hilft. Man erkennt 
mit Zwang, sc. ber Intelligenz, und dafür fónne man 
Teinen Beweis verlangen. Zwar geben dies bie Idea—⸗ 
liften nicht zu und tft e3 mit der objectiven Evidenz oft 
eine eigne Sache, aber mir concebiren dem Verf. gern, 
daß er kurz unb gut ben Boden be Realismus geebnet 
hat. Nun weichen aber feine Wege von denen anderer 
Stealiften ab. Die fholaftiihe Wahrnehmungstheorie habe 
dor der modernen voraus, baf fie das natürliche Bewußt⸗ 


674 Iſenkrahn, Idealismus ober Realismus? 


fein zur Geltung bringe, aber ihre species impressae und 
expressae ſchweben in der Luft. Ein Beweis für bie 
Treue derfelben bewege fid in einem Zirkelſchluß, denn 
fie folgere biejelbe aus bem Bmed Gottes, fepe aber 
Gott voraus. Teleologie und Mechanik feien zu jonbetu. 
Die Teleologie gehöre gar nicht hierher. Diele Kritit 
ift nicht ohne Berechtigung und zeigt jedenfalls, daß bie 
Berufung auf die ftrenge Beweisfraft aud) im pofitiven 
Lager nidjt überall gläubige Aufnahme findet. Doc wird 
ε ber Theorie des Verf. aud) nicht viel beſſer ergehen. 
Was wir burd) die Erregung von außen und die 9teac- 
tion von innen in unferem Bewußtfein wahrnehmen, [εἰ 
nichts weiter, als daß ein Außending vorhanden fci, 
welches bie Gigenidjaft befibe, uns zu der jedesmaligen 
Reaction zu zwingen. Wir tragen Dieburd) nichts Inneres 
mad) außen, fondern nur ben Grund be8 Inneren vet: 
legen toit nad) außen. Die Wahrnehmung [εἰ eine nadte 
Grundfegung — feine Gleichſetzung ober gar Ber: 
wechslung. Die Örundfegung fei eine unmittelbare, 
ober einfad eine Grunderkenntniß. Der Berf. hat 
biemit die Wahrnehmung auf die Dinge bireft bezogen, 
aber mie biefelbe eine mirflidje Wahrnehmung ber fo 
beſchaffenen Dinge ift, hat er bod) nicht bewiefen. Der 
Nervenreiz muß bod) ber Befchaffenheit der Gegenftände 
entfpreden und baburd) erft die entiprechende Grund- 
fegung veranlaffen. Eine Vermittlung ift alfo bod) vor- 
handen. Im Weiteren negirt der Verf. das actuelle 
Unendlihe in der Mathematit, ben unenbliden Raum 
und behauptet die unendliche Theilbarkeit der Körper. 
€3 feien überhaupt feine „legten Theile“ anzunehmen. 
Dies läßt fid) philoſophiſch allerdings bebuciren, aber 


Schneider, Natur, Vernunft, Gott. 675 


bie Chemie und Phyfif verlangen Atome und die Mather 
mati Tann das actuelle Unendlihe nicht entbehren. 
Hierin werden bie modernen Moniften unverbefjerlih 
fein und bie Dualiften haben nicht nöthig, es zu beftreiten. 

b. Diefe Arbeit ift vom Görresverein unter 8 Ar- 
beiten be8 erften Preifes würdig erfannt worden, weil 
fie abgefehen von verfchiedenen Mängeln fij „durch 
Belefenheit, Scharffinn und Formſchönheit“ wortheilhaft 
auszeichne. Indem id) diefe Vorzüge anerfenne und bie 
große Begeifterung, mit welcher fid) der Verf. ohne 9tüd- 
halt auf den Standpunkt des 5. Thomas ftellt, mit in 
bie Wagſchale lege, muß id) bod) bie vom MPreisgericht 
beroorgehobenen Mängel anführen, meil mir biejelben 
mod) in größerer Ausdehnung aufgeftoßen find. Ich 
meine babei weniger bie Freiheit, mit meldet oft ber 
Zert bes D. Thomas und ber b. Schrift vergewaltigt 
foitb, um ben b. Thomas quand méme nidt nur in 
Übereinftimmung mit der modernen Naturwiffenfchaft zu 
bringen, fondern fogar zum Fahnenträger zu machen, 
als vielmehr bie Einfeitigfeit und Mangelhaftigkeit, melde 
das Beweisverfahren au8 ber Patriftif und der Natur: 
wiſſenſchaft faft überall aufweist. Gewiß muß es „als 
ein Fehler der Methode bezeichnet werden, wenn ber 
Verfaſſer gewifje Hypotheſen einzelner Naturforscher, deren 
Richtigkeit zu prüfen er nicht im der Lage war, al8 ge- 
ſicherte Ergebniffe ber Wiſſenſchaft aufnimmt, um bie: 
felden fodann mit Ausfprüchen des Ὁ. Thomas in Pa- 
rallele zu fegen, denen nur eine febr gemagte Deutung 
einen damit übereinftimmenden Sinn unterlegen Tann“. 
Das Gewicht des phyſikaliſchen Vereins in Breslau und 
der Herren Aurelius Anderſohn und Dellinghaufen ift 


676 Schneider, 


mod) lange nicht jo „erbrüdend“, daß bie Vertheidiger 
der Newton'ſchen Gravitationstheorie vor bielem Maſſen⸗ 
brud die Segel ftreihen müffen. Wenn vollends dabei 
von einem Plusdruck der Ausftrahlung der Photofphäre 
der Sonne auf ihre Planeten und von einem Minusbrud 
de3 dunklen Sonnenförpers die Rede ift, fo muß man 
vom Standpunkt der neueften Naturwiſſenſchaft aus gegen 
ſolche Behauptungen febr bedenklich werden. Daß abet 
der Naturanficht des h. Thomas aud) die Spectralanalyfe 
zu Hilfe tommen muß, ift nod) auffallender. Wohl leitet 
ber b. Thomas bie Bewegung von den Himmelskörpern 
ab, wenn aber felbft biefe deßhalb die Natur aller ir- 
bifden Elemente der Kraft nad) in fid) Schließen müffen, 
fo folgt Feineswegs mit ,metaphyſiſcher Stotbmenbigteit" 
daraus, daß mad) Thomas ſchlechthin und ausnahmslos 
alle und jede Elemente der irdiſchen Körper in der Sonne, 
beziehungsweiſe in ben Himmelskörpern vorhanden fein 
müffen. Sonft müßten 3. B. aud) die Samen mandet 
Thiere dort fein, weil Thomas jagt: ad generationem 
vero quorundam imperfectorum animalium sola virtus 
caelestis sufficit sine semine (contr. Gent. 3, 102, 4). 
Den Scholaſtikern waren wielmehr die Himmelskörper 
leuchtende, unzerftörbare, unveränderlihe Körper (Thom. 
eontr. Gent. 3, 82). Ag Nikolaus von Cuſa und Koper⸗ 
nifus behaupteten, die Erde [εἰ ein Stern, glaubten bie 
Scholaſtiker, diefelben träumen, und als Galilei aus ben 
Sonnenfleden bie richtigen Folgerungen 30g, verhöhnten 
ihn die Scholaftifer. Der P. Scheiner erflärte wegen 
des ſcholaſtiſchen Dogmas von ber Beichaffenheit der 
Himmelskorper bie Sonnenfleden für befondere, nicht zur 
Sonne gehörige Körper. Man vergleiche 3. B. hierüber 


Natur, Vernunft, Gott. 677 


das vor einigen Jahren wieder ebitte Compendium 
totius theologieae veritatis be8 Johannes be Combis 
vom J. 1569. Das Kapitel de natura coelorum et 
superiornm corporum beginnt mit den Worten: coelum 
est corpus purum, natura simplicissimum, essentia sub- 
tilissimum, incorruptibilitate solidissimum, quantitate 
maximum, qualitate lucidum, disphanitate perspicuum, 
materia purissimum ete. 

Wenn id im Vorftehenden bie Schattenfeiten befon- 
bet8 hervorgehoben habe, jo möchte id) baburd) Feines: 
wegs ber Schrift Eintrag thun, fondern mur auf bie: 
Einfeitigfeit hinweiſen, melde man nur dann ben Geg- 
nern vorhalten fann, wenn man fid) ſelbſt möglichſt davon 
fern Hält. Die Naturphilofophie des D. Thomas fteht 
immer πο großartig ba, wenn fie aud) nicht bie ganze 
moderne Wiſſenſchaft anticipirt hat. Der Verf. ift mit 
betfelben ebenfo vertraut als für fie begeiftert und feine 
Schrift wird von vielen al3 millfommene Einleitung in 
bieje Philofophie begrüßt werben. 

Schanz. 


4. 

Bertholdi a Ratisbona beati fratris sermones ad reli- 
giosos XX ex Erlangensi codice unacum sermone in 
honorem S. Francisci e duobus codicibus Monacensibus 
edidit Fr. Petrus de Alcantara Hötzl, O. Fr. minn. 
reff. prov. Bav. Monachii, Huttler, 1882. gr. 4. VIII. 
111 p. M. 6. 

Das 7. Gentenarium bet Geburt be8 feraphifchen 

Vaters veranlafte ben als Schriftfteller bereit rühmlich 


678  Bertholdi a Ratisbona sermones ad religiosos. 


befannten Sector unb Magifter im Münchener Franzis- 
Tanerflofter P. Petrus Hötzl, mit einer erfimaligen 
Drudlegung der lateiniſchen Predigten feines Dv 
densgenoffen, de3 Minoriten Berthold Ὁ. Regens— 
burg, zu beginnen. (τῇ jüngft erhielt das bem gegen- 
wärtigen Ordensgeneral P. Bernardin a portu Roman- 
tino bebicitte Wert verdiente Auerkennung feitens der 
höchſten kirchlichen Autorität, weßhalb aud) eine einge: 
bendere Beſprechung besjelben um fo mehr angezeigt 
fein dürfte, αἵδ᾽ mit der genaueren Kenntnif bielet 
intereffanten Novität der Kreis ihrer Leer fid) erweitern 
wird; mit der Erweiterung des Leferfreifes aber aud) 
Fortfegung und Vollendung be3 Begonnenen (laut Vor: 
wort) gleichen Schritt halten fol. 

An der.Spige ftebt eine Predigt auf das Feſt des 
BL Sranzistus. Unter Bezugnahme auf den Gal. 
VL 14 entnommenen Introitus ber Feftmefje betont bet 
Rebner, mie nur im Kreuze Chrifti Franziskus fid) 
babe rühmen wollen, aber nidjt etiva im Kreuze be 
‚guten und natürlich nod) weniger in jenem des böſen 
Schächers; er wählt daher zum Thema die drei Kreuze 
auf Golgatba und bie mit jedem derfelben verbundene 
vierfahe Schmerzempfindung. (Belanntlid bat ber 
dem Bruder Berthold geiftig nüdjft verwandte Alban 
Stolz bei einem andern Anlaß, am Feſte des HI. Leo: 
degar zu Luzern, 1862 gleichfalls bie drei Kreuze zum 
Gegenftand einer Predigt gemacht, und gewährt ein Ver: 
glei ber beiberjeitigen Darftellung hohes Jutereſſe.) 

Nunmehr folgen 20 der sermones ad religiosos 
— mie ber Herausgeber felbft bemerkt, zivar bie Mehr: 
zahl ber mit die ſer Beftimmung verfaßten Reden, aber 


Bertholdi & Ratisbons sermones ad religiosos. 679 


bod) uit ihre Gejammtgabl, wie beni ja aud), von ben 
Parallelpredigten abgefehen, bie sermones ad religiosos 
et quosdam alios ftreng gerechnet auf 87 fid) be- 
ziffern, wovon mande uod) an bie Ordensleute allein 
gerichtet eridjeinen; fo bie Nummern 21—31; 85—37; 
71 und 76; 91 (richtiger 86) ἢ). Begreiflich laſſen fid) 
bier nur bie Themata und eine ober bie andere auffäl- 
lige Eigenthümlichfeit der zwanzig Ordenspredigten kurz 
hervorheben. 

Die erſte handelt von den zehn Kapiteln der 
Ordensregel. Wie es 10 Gebote des Dekaloges gebe, 
welche jeder zu halten verpflichtet ſei, ſo 10 Kapitel des 
Naſiräates, denen kein Religioſer ſich entziehen dürfe, 
und zwar beträfen bie erſten 5 Kap. das, was zu laſſen, 
die folgenden 5 das, mas zu thun fei. Sehr finnig wird 
3. 8. im 1. flap. die Enthaltung vom Weine und allem 
berauſchenden Getränke von ber Enthaltung gegenüber 
finnlihen Vergnügungen überhaupt gedeutet; dagegen 
im 2. Kap. bie Enthaltung vom Eifig, ber aus bem 
Weine gewonnen worden, auf bie Enthaltung aud) von 
der Erinnerung an bie früher genofienen Bergniü- 
gungen. Sei ja diefer Eifig der (faure) Weberreft vom 
einftigen (füßen) Weine. Oder unter bem pofitiben 
Geboten wird 3. 8. das 8. (beziv. 8. ftap.), monad) der 
Nafiräer einen madellofen Widder zu opfern Dat, dahin 
gebeutet, daß der nad) evangeliſcher Vollkommenheit Ring: 
ende ungeorbneten Neigungen fofort, dem Widder gleich, 
beberzt die Stirne bieten müffe. 

Die zweite Predigt verweist auf Erde, Fir: 


1) Bgl. Jakob, bie lat. Reden be8 feligen Berthold v. 9te« 
genburg. Man, 1880. ©. 38. 


680 Bertholdi a atisbona sermones ad religiosos. 


mament unb Empyreum als 8 Büchern des religi- 
Öfen Lebens, worin bie auf den 3 Stufen ber Asceſe 
SBefinbliden: nämlich die Anfänger, Fortſchreiten— 
den und Bollendeten lejen müßten. So fónnteu 
3 Ὁ. die Anfänger von ber Erde ein Zweifaches 
lernen: daß, wie die Erde fid) nad) den Geftirnen oben 
richte, fo aud) fie nad) den Befehlen Gottes und feiner 
Stellvertreter, der Oberen, fid) richten, bap, wie bie Erde 
nicht falle troß ihrer Schwere, aud) fie vor ſchwerem 
Falle fid) hüten trog ihrer zum Falle geneigten Natur u. f. f. 

In ber dritten Predigt werden breierlei Arten 
von Religiofen beſprochen. Die ertaltetem gleichen 
dem Grabe de3 Herrn παῷ feiner Auferftehung; wie 
Petrus darin aud) mur bie Linnen be Herrn fand, nicht 
mehr biejen felbft, fo haben derartige Ordensleute wohl 
aud) πο das geiftlihe Gewand, jebod) nicht mehr ben 
geiftlihen Sinn. Die Lauen haben Aehnlichkeit mit 
bem Raude. Wie diefer, je länger er fteigt, befto mehr 
fid verflüchtigt, jo pflegen diefe um fo läffiger zu wer⸗ 
ben, je länger fie im Orden leben. Hingegen find bie 
Eifrigen in feter Vorwärtsbewegung begriffen, frei- 
lidj bald langíamer, mad) Art ber Schildkröte, bald 
raſcher, wie e8 bem Hirſche eigen. 

Sehr anjpredjenb unteridjeibet die vierte Predigt 
eine zweifache Gnade: eine allgemeine, kraft deren 
ber Menſch überhaupt gerettet wird, und eine befou- 
dere, burd) melde er fid im Falle der Mitwirkung 
nod) eine bejonbere Herrlichkeit im Himmel zu erringen 
vermag. Eben diefe legtere Gnade verfüße das feiner 
Natur mad) Bittere in einem Maß, daß z. B. einem DL 
Stephanus der Steinregen wie ein erquidender Wafler- 


Bertholdi a Ratisbona sermones ad religiosos. — 681 


tegen vorfam. Allein diejenigen, welche unter ber Wucht 
midjt erft der Schläge, fondern [don der Schlagwörter 
(non verberum sed verborum) jammern und feufzen, 
hätten fiherli an diefer befonderen Gnabe feinen 
Theil. 

Symboliſch veranfhauliht ibm in der fünften 
Predigt der fiebenarmige Leuchter jene Tugenden, von 
deren Pflege ber fittliche Fortſchritt des Neligiofen vor⸗ 
zugsweiſe abhängt. Ohne eine getviffe an Künftelei ftreis 
feube Willkürlichkeit fanm e8 bei foldem Symbolifiren 
allerdings faum abgehen; dennoch macht e8 bem Scharf- 
finne B.'s gewiß abermals Ehre, wenn er analog ben 
2 mal 3 Geitenarmen des Leuchters 2 mal 3 einander 
entjpredjenbe Tugenden hervorhebt. Der gerade Stamm 
in der Mitte bedeutet ibm den HI. Gleihmuth, meldjer 
den Chriften gleihmäßig vor Leichtfinnigfeit bewahrt, wie 
vor deren Gegentheil — der Tieffinnigfeit. 

Abweichend von ber gewöhnlichen Darftellungsweife, 
wonach δαδ neuteftamentlihe Schwefterpaar Martha 
und Maria zu Vertreterinnen des thätigen und be- 
idauliden Lebens gemadt werben, bezieht fid) Bru— 
ber 3B. in ber achten Predigt zu bemjelben Zwecke auf 
das altteftament(ide Schwefterpaar ia und ϑὲ α ὦ εἴ. 
Do bie geuauere Begründung und Ausführung biejes 
anfprechenden Gedankens bietet erft bie folgende (neunte) 
Predigt. Damit verwandt zeigt fid) die Applikation, 
welche B. in der elften Prebigt hinſichtlich ber beiden 
(2 fón. XVIII, 23 erwähnten) Läufer Davids, des 
Chuſi unb Achimas, madt. Von ihnen habe ber 
zweite bem erften überholt, weil er den kürzeren, wenn: 
ſchon beſchwerlicheren Weg zu David zu gelangen ein- 

Set Dwartalfgprift. 1885. Heft V. 45 


682 Bertholdi a Ratisbona sermoneg ad religiosos. 


ſchlug, um ihm ben Ausgang ber Abſalom'ſchen Schlacht 
mitzutbeilen. So führen 2 Wege zum Himmel, ein 
näherer und ein meiterer; ein mehr unb ein weniger 
volfommener; einer, auf welchem man auf bie geringe 
ften, und ein anderer, auf meldem man nur bie [dme 
ren Sünden zu vermeiden Deftrebt fei. 

Geiſtreichſt weiß B. in der zmÖlften Predigt bem 
Speifelanon des Leviticus eine umfafjende morglifche Ac- 
commodation zu geben. Je uad) ihrer Eigenart bezeichnen 
ihm die reinen wie bie unreinen Vögel beftimmte fittli- 
de Vorzüge unb bezw. Gebrechen. Ueberaus künſtlich 
gliedert fif) bie vierzehnte Predigt. B. erörtert 
darin bie ernfte Frage, weßhalb ein Rückfall bei Religiofen 
gefährlicher fei als bei Weltleuten. Von feiner unver 
Teuubaren Vorliebe für den Ternar [prid er wohl, iw. 
dem er uun nicht mir gerade drei Punkte benennt, ſondern 
aud) jeden berjelben minder in drei Unterabtheilungen 
zerlegt. 

Sehr erbauli ohne Zweifel Leitet bie fed) zehnte 
Predigt die Bezeichnung „Geiftlihe“ davon her, daß bie 
Gottgeweihten ebenjo nad) bem HI. Geiſt e als ihrem Lehrer 
benannt würden, wie bie Platonifer z. Ὁ. nach Platon. 
Umgekehrt muthet eà wie der derbe Realismus des bod 
viel fpätern Abraham a Sta. Clara an, wenn bie fieb- 
zehnte Predigt näher ausführt, wie in der Kirche des 
Serm und im flofter die Religiofen ihrer Haut und 
ihres Kopfes b. D. ihres Eigenthumes und Eigenwillens 
entäußert werden; hierauf würden fie auf verfchiedene 
Weife zubereitet: nümlid) vom Prälaten oder andern 
Drdeusvorgejegten gebraten; butd) die in ber Regel 
vorgeldjriebenen Uebungen geröftet, während ber böfe 


Bertholdi a Ratisbona sermones ad religiosos. 683 


Feind das Salz und bie Mitbrüder ben Pfeffer beforgten. 
Db mun eine bem Herrn ſchmackhafte Speife zu Stande 
gefommen, erkenne man, wenn alles Blut vom Fleiſche ab: 
gefloffen, was foviel fagen mill, als: wenn bte im Blute 
ſymboliſirte Sünde abgethan fei, und das Fleiſch, gar ge: 
kocht, nicht jenem einer alten Gans gleiche u. |. w., endlich, 
wenn fid) das Fleiſch vom Knochen leicht ablöfe, ohne 
Bild: wenn der Religiofe vor dem Tode — .ber Scheis 
bung von Haut und Bein — feine Furcht habe. 

Die burdjgebenbe und eingehende S8erüdfidjtigung 
des alten Teftaments für homiletifche Sede, welche erft 
in neuerer Zeit wieder mehr in Gebraud) kommt, begeg⸗ 
net bei B. aud) nod) in ber achzehnten Predigt, o- 
felbft er unter Sugrunbelegung von Geneſis c. VII. 
zwiſchen Noes Arche und bem Klofter eine Parallele 
zieht; ferner in der neungeDnten Predigt, mo er mit- 
tel3 einer S8etradjtung über Tobias c. X. das brüut: 
lide Berhältnis der Seele zu ihrem Heilande originell 
burdfübrt, während ihm in der zwanzigften Predigt 
ſchließlich Oſe as c. IL. zum Anlaß dient, in 9 Punkten 
die Vorzüge des klöſt erlichen Lebens vor jenem ber 
Weltleute zu erhärten. 

Der Herausgeber founte fid) nicht völlig der Be: 
forgnis entſchlagen, e8 möchten nur bie philothei, nicht 
qud) bie philologi an dem veröffentlichten Werke ein In⸗ 
terefje nehmen. Nun wird freilich in erfter Linie ber 
Gzegete, ber Liturgifer, ber Homilete, kurz ber 
Theologe reihe Ausbeute finden. Erfterer wird nit 
überfehen, daß gerade bie ſämmtliſchen beuterofano- 
niſchen Bücher, einjdjlieflid) eines deuterofanonifhen Be- 
Randtheiles vom Eftherb., zu Belegen Berwendung 

45 * 


684  Bertholdi a Ratisbona sermones ad religiosos. 


fanden, wogegen aud) nit ein einziges apokryphes Buch 
berüdfichtigt ift; e8 wird ihm nicht entgehen, welde Ver- 
trautbeit B. mit den Vätern, vornehmlich Auguftin, Qie- 
ronymus, Gregor; aber aud) mit den Spätern, wie Pa- 
ſchaſius Radbertus, Hrabanus Maurus, Anfelm, Richard 
a B'^ Victore allenthalben an den Tag legt. Der 9i 
turgifer wird mit Befriedigung gewahren, wie B. mehr: 
fad) 3. B. in der 13. Predigt aus ber Perikope des Ta: 
ges feinen Vorſpruch wählt; mie zu B.'s Seit nament- 
lid die Stiftung von Samftagsmeflen (SBotiomefjen 
zu Ehren ber aller. Jungfrau) eine ftebenbe Gemohn: 
heit des Marienkultes geworden. Am meiften allerdings 
wird ber Qomilete aus B.'s Predigtweife Nugen ziehen 
können. Die bilderreihe, fententiöfe, durchaus ſchrift⸗ 
mäßige und bei alledem volksthümliche Behandlung, mel- 
der diefer größte Prediger Deutihlands im Mittelalter 
feine Themata unterftellte, bleibt ja muftergiltig für alle 
Seiten. Und dabei eignen den lateiniſchen Prebig- 
ten 35.8 ganz ent[djiebene Vorzüge vor den deutſchen, 
tie eine Vergleihung von gel Ausgabe etwa aud 
mur mit ber Göbelihen auf den erftem Blic zeigt. Die 
oft Fünftlerifhe Gliederung ber sermones ad religiosos 
würde man in ben deutſchen Predigten vergeblich ſuchen; 
dagegen fehlen den sermones jene mitunter herben und 
berben Anfpielungen auf die Juden, auf bie Niederlän: 
ber (verftehe Norddeutfche), wovon bie beutjdjen Predig- 
ten fij nicht ganz freihalten. Indeß aud) der Philos 
loge unb der fulturbiftorifer darf es entfernt 
midt bereuen, eingehender dieſe sermones fid) anzufehen. 
Ihn mag e8 wohl überrajden, bei dem fchlichten Mönche 
midt allein eine au$gebreitete Kenntniß ber fajfijfen 





Bertholdi a Ratisbona sermones ad religiosos 685 


Literatur anzutreffen — Artftoteles, Seneca, Ovid werben 
häufig citirt, einmal audj der fonft wenig bekannte 9tn- 
ticlaudian; mehr nod) erregt Bewunderung bie meijt 
gang zutreffende Deutung der hebräiſchen Cigenna- 
men. Abgefehen von ber keineswegs unbeträchtlichen 
Zahl lateiniſcher Neologismen dürfte die Aufhellung mans 
Ger nicht mehr verftändlichen Anfpielung und bezw. Wort⸗ 
bedeutung, wie 4. 3B. sinirlus, sturdus ete., den Reiz, 
38. näher zu ftubierem, fteigerm. Wenn man liest, daß 
ein Religiofer, ber feine fürfl. Stellung zum himml. 
König Chriftus verfennt, einem Färntifchen Herzoge gleiche, 
ber in einem den Unftand verlegenden Aufzuge am fai- 
ferlidjen Hofe erſchien, jo erfieht man hieraus, daß aud) 
der damaligen Zeit ein Mentſchikow nicht fehlte. Die 
vergleichsweiſe gemachte Angabe, ein armer Händler mit 
Glasſpielwaaren verdiene nur 3 Pfennig oder höchſtens 
3 Bebner für den Tag, während der Verfäufer koſtbarer 
Stoffe mohl 10—20 Mark (X vel XX marcas) täglich 
gewinne, wirft ein Licht auf bie merfantilen Zuftände 
jener Tage. Oder die Klage darüber, daß bereits bie 
Novizen Sandalen, Strümpfe, Schlegel und fonftige neue 
Bekleidungsſtücke trügen; daß bie gefundeften und ftärk- 
ftem aus ihnen nad) ber Mette bloß einige kurze Gebete 
wiederfäuten (paucis oratiunculis ruminatis) und dann 
ſchliefen, ftatt zu betrachten, zeigt, wie die urfprüngliche 
Strenge der Regel gar bald wenigftens in mandjen Häu- 
fern fdjon einer gewiſſen Verweichlichung melden mußte. 

Iſt e8 geftattet, zulegt nod) einem faum unberech⸗ 
tigten Wunſche Ausdrud zu geben, fo möge der Heraus— 
geher bie Bitte um größere Aufmerkfamteit betreffs Ver- 
hütung von Drudfehlern bei ber bemnüdjftigen Fortfegung 


686 Kleutgen, 


diefer wirklich großartigen Rovität nicht unerhört laſſen, 
denn baà minima non curat praetor gilt bod) keines - 
wegs aud) für ben editor! 

Regensburg. Schenz. 


b. 


Institutiones theologicae in usum scholarum auctore 
Josepho Kleutgen S. J. Vol. 1. praeter introduc- 
tionem continens partem primam, quae est de Ipso 
Deo. Cum approb. Ordinarii. Ratisbonae Pustet. 1881. 
XVI. v. 751 8. 

Diefer muftergiltig ausgeftattete erfte Theil eines 
Werkes, welches, auf acht Bände beredjnet, unfere ge: 
fammte bogmatijde Theologie mad) dem Borbilde bes 
Hl. Thomas Ὁ. Aquin darftellen fol, entwidelt einlei- 
tungétoeije vorwiegend im Anſchluſſe an die theologiſche 
Summe be8 engliihen Lehrers ben Begriff und Gegen- 
ftand, ben Zweck und Werth, die Methode und Einthei- 
lung ber Glaubenswiſſenſchaft. Weiterhin wird bie theo- 
logijdje Principienlehre im allgemeinen und der Begriff 
des Dogma’3 fowie ber theologiihen Sentenzen und 
Genfuren im befonderen dargelegt. Das erfte Bud 
unſeres erften Theiles führt bie allgemeine Gotteslehre 
vor, die CrfenntniB und ben Beweis, den Begriff, bie 
Eigenfpaften und die immanenten Thätigfeiten Gottes, 
endlich bie fog. Transcendentalbeftimmungen des Gottes: 
begriffe8 (veritas, bonitas, pulehritudo divina). Das 
zweite Buch enthält bie Trinitätslehre. — Der berühmte 
und verbienftvole Verfafler (T 14. Jan. 1883) will in 
philoſophiſcher und theologiſcher Qinfijt den Spuren 


Institutiones theologicae. 687 


unſerer großen Ahnen folgen, bie verkehrterweiſe fo fange 
vergefien und verachtet waren. Die alterprobten Ideen 
follen aber unferer Zeit angepaßt werden. Darum wär 
es untbunlid, ben hl. Thomas einfach zu reproduciren. 
Auch die ftrengften Thomiften, ein Gonet, ein Billuart, 
haben bie Summe be& engliichen Lehrers nicht bloß zeit⸗ 
gemäß umgearbeitet und ermeitert, fondern ſelbſtändige 
Werke geſchaffen, nur darauf bedacht, die Lehren des 
Heiligen treu zu bewahren, zu erklären, zu vertheidigen. 
Alfo wäre die Philoſophie und bie dogmatifche Theo: 
Togie nicht etwa Furzerhand „thomiſtiſch“, ſondern ſowohl 
dem Lehrinhalt als der Lehrweiſe nach «ad mentem 
S. Thomae» zu behandeln. 

Ad mentem sancti Thomae! Was läßt fid nit 
alles beden unter biejem Schilde! Die praemotio phy- 
sica fammt der scientia media! Wie unfaplid) ift der 
Begriff „Geift“ ber Seit, ,Geift" des DL. Thomas ober 
Auguftinus, „Geift“ eines Ariftoteles unb Plato! Wir 
verftehen e8, wenn der Geiſt eines hl. Thomas beftimmt 
wird als Geift ber bemütpigen Glaubenstreue, als Geift 
der logiſchen Strenge und gemwifjenhaften Umficht in ber ἡ 
Bemeisführung, als fromme Begeifterung für das Jdeal 
ber Wiffenfhaft und des Glaubens. Aber zur Aner⸗ 
Tennung des „echtthomiſtiſchen Geiftes”, des „ſyſtema⸗ 
iijden" und „pragmatiihen Geiftes“ der theologiſchen 
Summe — im Unterfchied etma von den anderen Werken 
des Heiligen, ober ber Werke anderer Autoren — ba 
wollen wir oft genöthigt werben burd) einen Beweis des 
nGeiftes unb ber Kraft”, wie denfelben die „innere Er: 
fahrung“, das „harmoniſch geftimmte Gemüth“ des 
Sybealptoteftantiómu für die evangeliihe Reichswahrheit 


688 Kleutgen, 


und Heilsthat erbringen zu können vorgibt. Jede Kritik 
an gewiflen Sägen des bl. Thomas, ja idon an ge 
wiflen Formeln des Ariftotelicismus wird oft mur be. 
balb für möglich gehalten, weil ber Kritifer von bem 
Geifte des hl. Thomas eben feinen Hauch verfpüren fol. 
Dber man fagt gar, ber unberufene Kritiker verftoße 
pietätswibrig und abfidtlid) gegen dieſen Geift. 
Wiſſenſchaft Tann man fold) farbenreihe Schlag: 
worte nicht immer nennen, und wiſſenſchaftliche Förde: 
rung fünnen fie ebenfowenig bireft bringen, als ber 
„hiſtoriſche Sinn und Saft" unmittelbar den Hiftorifer 
macht. An Kleutgens Werk im allgemeinen müflen wir 
anerkennen, daß e8, was fein Berfaffer für dem 
Geift des DL. Thomas Hält, beftimmt und anſchaulich, 
meift in treffember Sprache wiedergibt und dies aud 
dort, wo midt bie eigenen Worte be8 DL Thomas ge: 
nannt find, too andere Autoren rebenb eingeführt met. 
den. Letzteres gefchieht febr oft, und find von ben 
Vätern befonders reichlich die Werke des bL. Auguſtinus 
benügt; baf auf bie gelehrten Arbeiten aus bem 
Syefuitemorben mit Vorliebe, jebod) ohne Voreingenom⸗ 
menheit verwiefen wird, fol nicht verſchwiegen fein. 
Befonders rühmend heben mir e8 hervor, baf ber ge 
wandte, vielbelefene Verf. bie ſcholaſtiſchen Formeln mit 
größtem Gejdjide zu beleuchten, die Gefäße, welche ben 
mGeift“ unferer mittelalterlichen Heroen bald mehr bald 
minder glüdli aufbewahren, durch paſſende Vergleiche 
und ohne breiten Aufwand gelehrter Mittel durchfichtig 
zu maden meif. Keiner Subtilität, und beruhte fie 
gleid) mur auf einem „Wortgefecht“ oder einem „Schul 
freit“, weicht Kleutgens Griffel aus. Der Schüler, 


Institutiones theologicae. 689 


beffen Befangenheit amfünglid) ebenfo menig wie bie 
Dberfläclickeit von gewiſſen Gelehrten mit ber Blafjen 
und ſchattenhaften Schulſprache der chriſtlichen Vorzeit 
etwas zu beginnen verfteht, der Schüler vor allen muß 
e$ freudig und banfbar begrüßen, wenn er fieht, mie 
bie begriff-gliedernden Diftinktionen durch einen ſcheinbar 
oft nebenfächlihen Zug, dur eine bloß ranbeinfaffenbe 
Arabeske ihr eigenthümliches Licht erhalten. 

Eine ganz andere Frage bleibt Hier aber nod) zu 
löſen. Es fann fid) für bie miffenidaftlidje Erkenntniß 
und zumal für die wiſſenſchaftliche Vertheidigung unferer 
Dogmen heute nicht bloß darum handeln, ob bie ſcho— 
laſtiſchen Formeln, die dortmaligen Erflärungsmittel 
verftanden werben ober nit. Diefe nicht zu umgehende 
Unterfuhung hat e8 mur mit den technifchen Vorfragen 
zu tun. Die Hauptfrage if aber bod) bie, ob jene 
ſchulgerechten Erflärungsmittel, deren volles Ver— 
ftánbnif voransgefegt, allgemein berechtigt, alfo 
für alle Zeiten genügend, fomit aud) für ung befriebi- 
gend find. Die Frage in ihrem .gamgen Umfange zu 
bejahen wagt heute fein Neufcholaftifer mehr, und bie 
Kontroverfe dreht fijj nur barum, intoiemeit bie 
LZöfungen der Alten ausreihend, inwiefern fie wirk— 
lide Löfungen wirklicher, aud) uns brüdenber Schwie- 
rigfeiten find. Den Streit völlig zu ſchlichten, mag 
wohl niemals gelingen; denn fogar bei bem logiſch 
dürrften Erörterungen mifcht fid) bi8 an eine gemwifie 
Grenze hin der Gejdmad bes fubjektiven Meinens un- 
verfehens ein, und leiht fo bem Wiffen feine Färbung. 
Sonach ift zweierlei leicht zu erflären, daß bie 1dola- 
ſtiſche Wiſſenſchaft einmal überfhägt und daß biefelbe 


600 Kleutgen, 


anderntheils febr unterfhägt werden Tann und dies heute 
mod) wird. Die zum voraus und rüdhaltslos erklärten 
Freunde unferer ehrwürdigen Vorzeit haben ben Vor— 
theil, daß ihre Aufftellungen in possessione find; bie 
Kritik, aud) wenn fie vom beften Willen befeelt ift und 
die eigentlichen, wufterbliden Verbienfte der Ahnen viel» 
leicht beffer zu mürdigen weiß al8 die ungehemmte Ber 
geifterung, bat immer mit einem gewiſſen Dbium zu 
ringen. Kleutgen verftebt 8, den augebeuteten SBortbeil zu 
nügen, namentlich bei ber Zurücweifung der Obiectiones; 
ba8 αὐτὸς ἔφα, bie Art von Abfolutheit, melde je älter 
befto mehr bie Denkſymbole großer Geifter umkleidet, wird 
oftmals in den Vordergrund geftelt, und gerade hiedurch 
teitt ba8 Symbolifirte, ber „Geiſt“ nicht jelten zurüd. 

Wir nennen Ein Beifpiel ftatt vieler. Seite 267 
beißt e8: Aliud est infinitum simplieiter seu secundum 
essentiam, aliud infinitum secundum aliquid. Quod 
igitur simpliciter adeoque omnibus modis est in- 
finitum, non potest esse nisi unum; nihil autem 
Obstat, quominus plura sint infinita secundum mo- 
dum aliquem. Et quamvis in horum unoquoque 
suo modo rerum sit, quod de infinito dicitur, nihil 
eo maius esse, tamen plura huius generis infinita sin- 
gulis ampliora sunt, id quod etiam videmus in numeris 
accidere: nam species numerorum parium sunt infi- 
nitae et species numerorum imparium, et tamen nu- 
meri pares et impares sunt plures quam pares. Was 
baben diefe Worte, melde zufammengezogen find aus 
ben Löfungen der zweiten und britten Objeftion zum 
Artifel Utrum anima Christi in Verbo cognoverit in- 
finita (S. th. ΠῚ q. 10 a. 8), beim hl. Thomas ſelber 


Institutiones theologicae. 691 


für eine Bedeutung? Der Unendliche ift mur Einer; 
bie Verwirklichung des Begriffes infinitum simpliciter 
kann ontologijd) nur einmal fein. Dagegen if e3 logiſch 
fein Widerſpruch, mehrere Unendliche sensu abstracto 
(infinita secundum quid) neben einander zu benten. 
B. B., mie e8 am citirten Orte bei Thomas genauer 
beißt, fónnen mehrere mathematifhe Unendliche, eine 
unendliche Linie und eine unendliche Fläche, eine unend⸗ 
lide Reihe aus lauter geraden und eine folde aus 
lauter ungeraden Zahlen febr wohl neben einander fein. 
Der „Geift” des Dl. Thomas ift alfo enthalten in ber 
Thefe: ber Umftand, daß das Denken in mehreren 
Formen das Unendliche imaginiren Tann, beweist nicht, 
daß das Unendlihe mehrmals fein müßte. Der 
bL Thomas mil mithin vor bem logiſchen Fehlen ber 
μετάβασις εἰς ἄλλο γένος, be8 Abſpringens vom Denken 
auf das Sein warnen. Aber bie formelle Begründung 
des materiell burdjaus richtigen Sages ift minder glüd- 
lid. Denn es ift unrichtig, mehrere infinita secundum 
quid im rechnenden ober imaginirenden Denken neben 
einander anzunehmen. Die Idee be8 Unendlichen 
(ratio superior infiniti) ijt aud) mur Eine, menugleid) 
ber Geift ihr in mehreren Formen (species), analptijd) 
ober konſtruktiv, zählend oder meflend, eine Derleib- 
lidjung geben Tann, (8. ift unzutreffend, wenn Kleutgen 
mit bem bL. Thomas?) fagt, daß bie Reihe aller ges 

1) Cfr. 1. c. Infinito simpliciter et quoad omnia nihil eet 
maius; infinito autem secundum quid determinatum non est 
aliquid maius in illo ordine, potest tamen accipi aliquid maius 
extra illum ordinem. Per hunc igitor modum infinita sunt 
in potentis creaturae, et tamen plura sunt in potentia Dei 
quam in potentia creaturae. 


692 Kleutgen, 


raben Zahlen und ebenfo bie ſämmtlichen ungeraden je 
unendlid groß und daß beide Reihen zufammen größer 
feien als eine allein. Das ſcheint mur fo zu fein; bie 
(pofitiven und negativen) Unendlichen ber Mathematik 
find bloße Phänomalbegriffe. Der Schein vermag fid) 
nur folange zu behaupten, al8 das Denken vergißt, daß 
e8 ziveimal, in zweierlei Richtung Dasfelbe imaginitt, 
daß e8 zweimal biefelbe Summe gezählt bat, und 
meint, die doppelte Zählmeife verbopple bie Summe 
felber ἢ. Gegen ben Geift des HI. Thomas verftoBeu 
mir fiherlih nicht, menn wir bie abftrafte Hülle, in 
Toeldjer er fid) bier hat eine Form geben wollen, als 
abftraft unfruchtbare zurüdweifen. Vielmehr glauben 
mir und dem Geifte be8 englifchen Lehrers viel näher, 
wenn wir mit bem Gedanken Ernſt maden: ber unb 
das Unendliche find ja nur einmal, ontologifch ber Ab⸗ 
folute, logiſch bie Gottesidee (ratio superior infiniti). 
Unter bem angebeuteten. Gefihtöpuntte müflen wir 
ziemlich viele tom bem Obiectiones und Solutiones bei 
Kleutgen für gegenftandslos erflárem. Zwar wird bie 
formale Kunft des Diftinguirens, melde überall zu Tage 
tritt, immer ein treffliches exereitium ingenii bleiben. 


1) Syeinbar richtig, b. 5. formel ftimmenb ift: 


L944464--04- 5... m τα cu 
IL 149457 HH 0.0... s n — c, alfo 
(24-6... mHHl4sH)... o n— oH. 
X patfüd id) aber verhält e8 fid) fo: 
Lene... τ τε o 
LIHHHHF. νυν ον n— o. 


Beides ijt dasſelbe; m u. m find beliebige verſchiedene Zeichen 
für biefelbe Sache, für ben Reft, welcher zwiſchen einer endlichen 
Summe (Reihe) aus lauter Einheiten und zwifchen ber unendlichen 
Zahl tiegt. 


Institutiones theologicae. 6938 


Allein bie abftrafte Fertigkeit des Rechners ὁ. B., mel- 
der mit Sicherheit die mathematifhen Vorzeichen zu 
behandeln weiß, vermittelt nidjt von felber die Cinfidt 
in den piychologifchen Grund für bie Segung der Zeichen, 
in bie noetiſche Möglicpkeit für die beliebige Auswahl 
bei den Bezeichnungen Einer Gedankenfunktion. Be— 
redmem ift nod lange nicht Berftehen, unb Ver: 
ftebeu nod) nicht Erkennen. 

Yu Betreff ber Einzelheiten erlauben wir uns nur 
auf menige8 Dingumeijen. Die Väter werden auf Grund 
einer mehrfach angezogenen Stelle bei Gregor Naz. in 
der natürlichen Gotteserkenntniß einfach zu Ariftotelifern 
gemadt. Die Begründung bet scientia Dei media 
gehört wohl zum Wenigftgelungenen (€. 267—286). Die 
geichichtlich verfolgbaren Stadien in der Erkenntniß ber 
göttlihen Trinität find nicht völlig gewürdigt (€. 647 ff.). 
Die Beiprehung be8 komma Johanneum (1%0h.5,7f.) 
beftreitet die Nechtgläubigfeit jener, melde deflen 
formelle Seite aud) nur in Zweifel zu ziehen wagen 
(5. 519). Dr. Braig. 


6. 


Die Bilanzenwelt als Schmud des Heiligthumes 
und Sronleihnamsfeites im Allgemeinen 
und Sejonberen für Geiftlihe und Laien von 
Arnold Rütter, Pfarrer in Erfweiler bei Blieslaſtel 
QGBfafg). Mit 53 Abbildungen. Mit oberhirtlicher 
Druderlaubniß. Regensburg, Puſtet 1883. VI. u. 152 
©. 8. Pr. M. 1. 40. 


694 Nütter, 


Ein allerliehftes Büchlein, in weldem ein Land- 
pfarrer, zugleid ein Blumenfreund und ein Freund des 
Gotteshaufes unb feines Schmudes, in anſpruchsloſer 
Sücije zeigt, wie viele ſchöne und bebeutiame Seiten 
man einer harmloſen Liebhaberei abgewinnen und mit 
wie einfaden Mitteln, in ber Kunft wie in der Natur, 
Großes und Manigfaltiges erreicht werden fanm. Gerne 
widmen wir daher bem Schriften an diefem Orte eine 
empfehlende Erwähnung, ſchon um ber Stellung willen, 
melde bie Pflanzenwelt in der’ riftlihen Symbolik und 
der kirchlichen Liturgie einnimmt. Bon einer mehr 
theoretiihen Bedeutung ift, was der Verf. in bem An- 
fangsfapiteln mitteilt unter den Titeln: Die Pflanzen 
in der Hl. Schrift. Symbolik in ber Pflanzenwelt. Die 
Blumenſprache. Berechtigung der Pflanzenwelt als 
Schmud des Heiligthums. Geſchichtliches über biejen 
Gegenftand. Vorſchriften ber Kirche. — Mehr am 
Herzen aber liegt ibm ber praftifhe Theil, in welchem 
er zeigt, wie ein rechter Blumenfreund für jede Jahres» 
zeit fid) Pflanzen und Blumen beforgen fünne, melde 
geeignet find, die Kirchen und Altäre je mad) bem litur- 
giſchen Bebürfniffe zu zieren. Richtige Pflege der 
Pflanzen, weife Vertheilung des Schmudes und fodann 
gewiffermaßen Einführung in bie Aefthetif der Blumen- 
welt, das find die Ziele, worauf Pfarrer 9tütter hin 
feuert. Dann werden im einzelnen bie verſchiedenen 
Pflanzen bejprodjen, welche überhaupt in Betracht fom: 
men fónnen, wilde Blumen, einjährige, zweijährige und 
perennivende Gartenblumen, Zierſträucher und Topf: 
bäume, Kalthaus: unb Warmhauspflanzen u. |. m. Es 
folgen Rathſchläge für befondere Decorationen, 2. 3. 





bie Pflanzentvelt a8 Cxjmud des Heiligthums. 89b 


em Fronleichnamsfeſte, für S:taianbadten, Krippen unb 
heilige Grüber, Kichhöfe. Am Schluſſe folgt gar mod) 
ein Preisverzeihniß von einer Erfurter Gärtnerfirma, 
melde dem Verf. aud) bie Cliche's zu 53 Abbildungen 
zur Verfügung geftellt hat. ᾿ 

Das Schriftchen macht weder auf Vollſtändigkeit 
mod) auf wifjenihaftlihe Bedeutung Anfpruh und e8 
ift felbft auf die Darftelung weniger Werth gelegt als 
man nad) ber äfthetifirenden Richtung des Verf. eigent- 
lid) erwarten follte; eà wäre aber ungeredt, hier beu 
Maßftah einer ftrengen Kritik anlegen zu wollen... Wir 
Tönnen nur jagen, daß wir mauches Belehrende und Be— 
berzigenswerthe in bem Buche gefunden haben und daß 
es in feiner Art wirklich geeignet ift, zur Beförderung 
der Ehre Gottes und zur Verherrlihung des Gottes: 
bienfie8 beizutragen. 

Die Urtheile des Verf. find verftüánbig. Nur in 
einem SBunfte ift er nicht ganz anſpruchslos. Er ift 
memlid) fo febr von Eifer für feine Sache erfüllt, dag 
er in eine fromme Zudringlichfeit verfällt und gerne 
mit Berufung auf Gewiſſenspflichten erzwingen möchte, 
was Sache freier Wahl fein und bleiben muß. Wir 
laſſen im Princip. ihm alles gelten, was er fagt über 
das Geziemende des Pflanzenſchmuckes beim Gottesdienft, 
über den Vorzug lebender Pflanzen und natürliher 
Blumen vor bem Fünftlic gemachten, über die ſchuldigen 
Rückſichten auf rituelle Vorſchriften unb den Unterfchied 
δες liturgiſchen Feſte und Seiten, ſowie auf ben der Kirche 
geziemenden Anſtand wie nicht minder auf nothwendige 
Schonung ber Altäre, Kirchenwände u dgl. Aber das 
Ganze gehört bod in das Gebiet ber Liebhaberei und 


696 Pfahler, 


des ſubjektiven Geſchmades, des Dilettantismus im beſten 
Sinne, und das fol man mit einer gewiſſen Freiheit — 
für ben Pfarrer und für die Pfarrkinder — behandeln. 


Linfenmann. 


7. 


Die Bonifatianijge Brieffemmlung. Chronologifch geordnet 
und nad ihrem wejentlihen Inhalt mitgetheilt von 
6. Pfahler. Heilbronn, Schell 1882. IX. 117 ©. 8. 
Bor 2 Ya Yahren waren wir im ber angenehmen 
Lage, eine duch umfaſſende Gelehrſamkeit, weite Geſichts⸗ 
punkte, warme Auffaffung und {τς Darftellung fij 
auszeichnende Monographie über bem HI. Bonifatius zur 
Anzeige bringen zu fünnen (Du. Schr. 1881 €. 160 f.). 
Der Verf. derfelben bietet ung in der vorftehenden Schrift 
gleihfam al8 Ergänzung derfelben eine weitere Arbeit. 
Die große Bedeutung, melde bie bonifatianijde Brief: 
fammlung nit bloß für bie Geſchichte des Apoftels 
Deutſchlands, fondern für bie Geſchichte ber damaligen 
Zeit überhaupt befigt, legte ibm den Gebanfen nahe, 
den wefentlichen Inhalt derfelben zufammenzuftellen und 
die Briefe zugleich unter bem Gefichtöpunfte ihrer Ab: 
faffungszeit einer erneuten Prüfung zu unterziehen. Er 
theilte die Briefe in jener Beziehung in drei Klafien. 
Im erften Abfchnitt werden die Briefe von und aus 
England mitgetheilt; im zweiten kommen zur Sprache 
die Briefe und Altenftüde von und au Perſonen des 
fränkiſchen Reiches und der angrenzenden Provinzen, im 


Bonifatianifge Brieffammlung. 697 


dritten Br. und 9L aus und mad) Italien, namentlich 
aus und nad) Rom. Die hronologifchen Bemerkungen 
find diefen Abſchnitten eingereibt und mit der Befpre- 
Kung der einzelnen Briefe verbunden. Sie geben zumeift 
eine genauere Präcifirung bes unbeflimmteren und mei- 
teren Datums von Jaffs. In mehreren Fällen wird 
aber befjem Chronologie aud) ganz verlaffen. So ftehen 
fi dei Ep. 77 die Daten 732—51 (Jaffe) und Anfang 
ber 20iger Jahre (Pfahler) gegenüber; bei Ep. 62 bie 
Daten 74447 und nüdjte Zeit nad 735; bei Epp. 
40, 43, 54 bie Daten 741, 743, 746 und 747, 742, 742, 
Die neue Chronologie wird die Beachtung ber Bonifa- 
tinsforfcher verdienen. Zu münjden wäre nur geweſen, 
der Bf. möchte ber chronologiſchen Unterfuhung einen 
bejonbern Abicpnitt gewidmet ober bie Ergebniffe feiner 
Forſchung mwenigftens Kurz und überfichtlih zufammen- 
geftellt haben. Seine Aufftelungen mürben dann an 
Gewicht gewonnen haben, während fie jegt über bem 
Juhalt der Briefe etwas gurüdtreten. Indeſſen [εἰ bie- 
fer Punkt nicht zu ftark betont, ba bie Zeit der Briefe 
eben vielfach nur aus bem Inhalt zu beftimmen if. Die 
Schrift wird namentlich allen denjenigen willfommen fein, 
welche nicht in ber Lage find, bie hochwichtige bonifati- 
anijde Brieffammlung, [εἰ e8 im Urtert oder εἰ e8 in 
ber Ueberfegung, jelbft zu lejen. 
Sunt. 


8. 

Offene Briefe über den Gongre zu Wrego von Sy. U. Baus, 
Profeſſor am bifhöflihen Seminar Hagewald. Aus 
dem Qollánbijden überjebt bon €. Lypen. 72 ©. 

Xe Duartalfärift: 1888. Heft IV. 46 


698 Lans, 


Gegenüber verſchiedenen theils unvollftändigen theils 
unrichtigen Zeitungsberichten über ben „europäiichen Gou- 
greß für liturgiſchen Geſang“ hat Profeffor Lans im 
„Gregoriusblad“, Organ ber kirchlichen Tonkunſt für 
Holland, eine Anzahl Artikel in Briefform erfdjeinen laſſen, 
die ung einen Klaren Ginblid in die Verhandlungen jenes 
intereffanten Kongreſſes bieten und zugleich ben verfchie- 
denen Vorurtheilen und unridtigen Anſchauungen bezüg- 
lid) der officiellen Choralbücher begegnen will. Aus 
legterem Grund hauptfählic wurden bieje Briefe aus 
dem Holländiſchen ins Deutfche überfegt und vom Ver— 
leget ber officiellen Choralbücher herausgegeben. Im 
Ganzen find es 14 Briefe. Die erften D bilden gemiffer- 
mafjen die Einleitung. Anknüpfend an einen beutjd- 
franzöſiſchen Federkrieg theilt ber Berfaffer uns eine 
große Anzahl Aktenſtücke mit, vom hl. Stuhl bezüglich 
der Cbirung ber Choralbücher ausgefertigt, wodurch bie 
bei Puſtet erfchienenen Choralbücher auf ihren autorita- 
tiven Charakter geprüft werden und unferes Verfaſſers 
Standpunkt, ben er beim Congreß eingenommen, geredjt- 
fertigt ift. Der 2. Brief befpriht bem jepigem Stand 
der archäologiſchen Wiſſenſchaft in Hinſicht auf bie alten 
Handiriften des Chorals ; daneben wird auf bas Bor- 
gehen Roms hingewieſen: mit der Einheit in der Liturgie 
«ud eine Einheit im Gefang berzuftellen. In ihrem 
Eifer, ihre gewonnenen Refultate praftijd) zu verwerthen, 
vergeſſen die Archäologen vielfah, daß bie Herftellung 
von Choralbüchern nit nur eine wiffenfchaftlide An- 
gelegenbeit ift, fondern nod) viel mehr Sache ber kirch⸗ 
lichen Disciplin. Nom trägt burd) die von ihr empfohlene 
Ausgabe mit ihrer Vereinfachung des Chorals den be- 


Briefe über ben Gongre zu Arezzo. 699 


ſtehenden BVerhältniffen unſerer Kirchenchbre Rechnung. 
Der 8. u. 4. Brief behandelt noch einläßlicher die Ver— 
theidiger der Handſchriften und ihre Kampfesweiſe. Der 
διε Brief ſchildert ung die Eröffnungsfeier des Congreſſes; 
neues Klagelied über eine alte Thatſache: bie ſchlechte 
italieniſche Kirchenmuſikl. Bom 6. Brief an werden bie 
eigentlidjen Verhandlungen der Gongrefmitglieber (12 
Situngen) befproden. Zur Verhandlung famen folgende 
Punkte: 1) gegenwärtiger Zuftand des liturg. Gefanges 
in ben verjdiebenen Theilen Europa’3. 2) primitiver 
Zuftand, und verfdjiebene Phafen des liturgiſchen Gefangs. 
3) Mittel, eine Verbefferung des liturgiſchen Gefanges 
anzubahnen und zu fördern. 4) Begleitung des Cantus 
firmus. Diefe 4 Themate wurden febr ausführli und 
von verfchiedenen Gefidtépuntten aus behandelt, fo daß 
wir burd) das Leſen unferes Schriftchens nicht nur über 
ben Gang ber Verhandlungen zu Arezzo, fondern über 
den heutigen Stand der Choralfrage überhaupt ziemlich 
genauen Aufſchluß befommen. Die 11. und 12. Sigung 
wurden zur Formulirung von Refolutionen verwendet; 
daran ſchloß fij) eine längere Diskuffion über Gründung 
eines Vereins zur Beförderung des Studiums be8 gre- 
. gotiam. Choral. Eine eigenthümliche Beleuchtung erhielt 
bie fo fehr gepriefene Einheit ber Hanbichriften burd) 
das von allen Gongtefimitgliebern zum Schluß gefungene 
»Te Deum«. — Ob und melden praftifhen Nutzen der 
Gongre von Arezzo gehabt, wollen wir nicht entſcheiden. 
Die Zukunft mag'8 un lehren. Neues hat er uns nicht 
geboten, aber auf8 neue den Beweis geliefert, daß der 
„Säcilienverein für alle Länder deutfher Zunge“ längſt 
das durchgeführt, was anderswo, in Italien, Frankreich, 


700 Land, Briefe über den GongteB zu Arezzo. 


frommer Wunſch ijt bi8 zur Stunde. Mögen die Gegner 
ber Medieaea einmal ernftlih verjuden, ihre ſchönen 
Reden in bie Praris umzufegen, mir müfjen e8 vorbet- 
band bezweifeln, ob der Choral nad) ihrer Edition (bie 
Klofterfhulen ausgenommen) Anklang und Eingang findet. 
Inzwiſchen erſchien ein Dekret ber S. R. C., welches fid) 
mit aller Entfehiedenheit gegen die vom GongreB von 
Arezzo vorgetragenen Beſchlüſſe betreffs der Zurüdfühs 
rung be8 Choral3 zur alten Tradition ausſprach; und 
mit Recht. Lanz führt e8 des weitern au8, daß es 
weder möglich nod) nüglid) und zeitgemäß ift, eine neue 
Ausgabe zu veranftalten. Das Studium ber Handſchrif⸗ 
ten hat, fomeit es fid) um Feftftellung der urfprünglichen 
Melodie handelt an praftijder Bedeutung verlosen, für 
bie richtige Ausführung be8 Chorals aber wird e8 ftets 
eine wichtige Vorbedingung bleiben, vgl. Les Mélodies 
Grögoriennes von Dom J. Pothier. Was bie bei Puſtet 
erſchienenen officiellen Choralbücher betrifft, möge bier 
πο die Bemerkung Pla finden, baf neben einigen we⸗ 
nigen Stellen (im Vesperale Rom.), mo mir mit ber 
Notation und zu Gunften be8 Tertverftändnifjes nicht 
einverstanden erflären können, bie Stereotppausgabe des 
Vesperale Rom. gegenüber ber größeren eine ziemliche 
Anzahl Abweichungen (Drudfehler) aufweist, 

Tübingen. Stepetent Mes mer. 


9. 


Wiffenfgaftlige Studien und Mittgeilungen and bem Bene 
bietinerorden mit bejonberer Berüdfichtigung ber Or» 
densgeſchichte und Statiftil. Bur bleibenden Erinnerung 
an dad Orbensjubiläum begründet und herausgegeben 
von Mitgliedern, Freunden unb Günnern beg Benedic- 
tinerorbend. Hauptrebacteur P. Raurus Rinter, O. S. Β., 


Kinter, Wiſſenſchaftliche Stubien und Mitteilungen. 701 


Stiftdarhivar zu Maigern. Brünn. Selbftverlag des 
re 1850392 . s 3 
Die Feier des 14. Centenariums ber Geburt bes 

hl. Benedict rief nicht bloß eine ftattliche Anzahl von 

Gelegenheitsſchriften hervor, fondern fie medte bei ben 

Söhnen beà Patriarchen des abendländiihen Mönchthums 

aud) ben Entſchluß, in einem wiſſenſchaftlichen Organe 

die Kräfte der einzelnen zu vereinigen und diefe geſam— 
melten Geiftesproducte dem Vater, Meifter und Lehrer 
als fortbauernbea Jubiläumsgeſchenk zu Füßen zu legen. 

So entítanb bie porftebenbe gut ausgeftattete Zeitihrift. 

Diefelbe erſcheint in vierteljährigen Heften von 13 bis 

15 Bogen, und jedes Heft zerfällt in drei Abtheilungen, 

von denen bie erjte wiſſenſchaftliche Abhandlungen, bie 

zweite unter ber Aufichrift verſchiedene Mittheilungen“ 

Tleinere Berichte mannigfaltiger Art, bie dritte Recenfi- 

onen enthält. - Am Schluß folgen nod) „Miscellen“ zur 

Aufnahme fleinerer Notizen, ein „Sprechſaal“ zur Stel- 

lung von Anfragen duch die Mitarbeiter und Lefer bes 

Blattes und eine , Gorre|ponbeng" zu Mittheilungen εἰς 

tens der Stebaction und Adminiftration. 

Einftweilen liegen drei volle Jahrgänge vor, und 
bie Zeitfchrift bat fid) mit ihnen, ſowohl was bie Tüch- 
tigfeit ber Arbeiten als bie Mannigfaltigfeit des Gebo- 
tenen anlangt, würdig eingeführt. —Gelbftoerftünblid) 
fehlt e8 bei einem derartigen Unternehmen am Anfange 
aud) nidt an einigen [djmüdjeren SBartieen. Aber bie 
Kräfte wachen, indem fie fid) üben, und fo ift zu hof⸗ 
fen, die folgenden Bände werden uns nod) mehr al8 bie 
bisherigen burd) reife und gehaltvolle Arbeiten erfreuen. 
Den Juhalt bilden zumeift Abhandlungen unb Mitthei- 
lungen aus ber Geſchichte be8 Benedictinerordens. Doch 
wurden aud) andere Themata behandelt. So finden fid) 
im dritten Jahrgang ein Kleiner Auffag über Thomas von 
Aquin als Patron der Studien und Schulen, eine Abhand⸗ 
lung über die Entwicklung ber riftlihen Hymnenpoeſie 
und drei Studien über bie Imitatio Christi, verfaßt von 
Maurinern und mitgetheilt von Dr. Eöl. Wolfsgruber. 

Wir wünſchen bem Unternehmen das befte Gedeihen. 


Sunt. 


Inhaltsverzeichniß 


des 


fünfundſechzigſten Jahrgangs ber theologiſchen Quartalſchrift. 


L Abhandlungen. 


Schriftſtellerthum und literariſche Kritif im Lichte ber ſittlichen 
Berantwortlichleit 1, Linfenmann . . 

Die Katechumenatsclaſſen bes hriftlichen Altertfums. Zunt. 

Die franzöfiche Theologie der Gegenwart. € ὦ απ}. . 

Schriftftellerthum und literarifche Kritit II. Linjenmann. 

Zur Chronologie Tatiand. Funk. . 

Die Lehre von ber Nuferftehung bed ΝΣ LI 1. "fos. 
15,18—883. ὅσ. . 

Der Kanon XXXVI von Elvira. gunt . 

Schriftſtellerthum unb ΝΕ Kritik III or) Sin 
jfenmanm . . εν 

Zur Galtleifrage. Fu at . .. 

Ueber bie Geſchichtsſchreibung ΓΤ von uti Raw 
feng. 

Folmar von Zriefenftein "unb. ber "Streit Sie mit d 
von Bamberg. Kalt ner. . 

Zur Chronologie δες Gefangenjdjaft Pauli. "mberle 

Ueber ben Betrieb ber febrüijden Sprache an Gymnaſien und 
iprologijden Lehranftalten. fim . . 

Der geſchichtliche Abſchnitt Jeſ. c. 86—89. Erlauierungen m 
ſelben durch afigrifche Keilinfhriften. Himpel. 


IL Recenfionen. 


Alzog, Kirchengeſchichte Funk. . 
S berger, Die Unjünblidteit Chriſti. Sämir. 


. 808 
. 659 


Inpaltöverjeiiniß. 


Bertholdi a Ratisbona sermones ad religiosos. 
Ed. Hötzl. Shen, . . 
Bonwetſch, Die Geidichte 168 Vonianismus. gunt 
Dreſſel, Der belebte unb ber unbelebte Stoff. Sa 
Ebrard, Bonifatius. Funk. . . 
Epping, Der freislauf im Kosmos. Sony . 
Fillion, Atlas aroheologique de la bible € danj. 
Fiſcher, Der fog. Lebendmagnetismus ober Hypnotismus. 
ginfenmann. 


Fleiſchlin unb Wit, Monairoſen. Sinfenmann, 


Freiburger Didcefanargiv. Funk. . 
Gebharbtund Harnad, Su Gti beraten 
Riteratur. gunt . 
Griſar, Galileiftubien. gunt. .. 
Hartmann, b, Die Selbftverfegung bed Sin. 
n m Die Kriſis des Chriſtenthums Braig. 
25 DaßreligiöfeBetoußtfein b.Denfepeit] 
Holgmann-Böpffel, Lexikon für Theologie und Kirchen⸗ 
wein. gunt . . 
HöyL, Jakob und Eſau. apt und Rafui it. Sinfen 
manm . . 
Ifentrabe, Idealiemus ober Realismus, ΕΝ 
faltner, Konrad von Marburg. gunt. 
faulen, Einleitung in bie 5. Schriften A u. 9. zeftam. 
Himpel. 

Kern, Buddhismus und feine Geſchichte i in Indien. imper. 
Rlafen, Die innere Entwicklung des Pelagianismus. Schmid. 
Kleinermanns, Petrus Damiani. Schmid. 
Kleutgen, Evangelium be8 h. Matthäus. Θ ὦ απ}. 
Kleutgen, Institutiones theologicae. Braig. . . 
fnabenbauer, Erklärung bed Propheten Jeſaias. Himpel. 
Loofs, Antiquae Britonum ecclesiae mo- 

res "ete. Funk. . 
Sütolf- opp, Der Geſchichien bon ber Wieberferftelung 
und bem Berfalle be8 heil. röm. Reiches 12. Bud. gunt. 
Müller, Göttliches Wiffen unb göttliche Mast bes 5 Soja 
neifehen Cheiftus. Sans. . 
Pauly, Salviani opera, (unt. 
Θεά, Das Weltphänomen. Θ dang. 


. 512 


704 Inpattsoerpeicnif. 


Pflugk⸗ Sarttung, Die Ushunben νερά βάσει Single 
Funt o. V 

BIögL, Gommentar M ven Bier beifigen Evangelien. "nr 
1. Johannes, $djangk. . 

Seu, Die Geichichte der heiligen Säeiften des Alten Zeta» 
mente; Qimpel. . 

Röhm, Sufgaben ber proteftantijdjen ἀφοοίοριι. Reppier. 

Rütter, Die Pflanzenwelt a[8 Schmud beà Heiligthums. 
Sinjenmann. . 

Scheffold, Zur Geſchichte te Sanbtapitels Amrichshauſen. 
Funk... 

Schneemann, homiſuiſch molmiſuſche Gontroverfe. gunt 

Gdneiber, Ge&L, Natur, Bernunft, Gott. € dang. 

Schneider, Wilh., Der neuere Geifterglaube. Linfen- 
mann. . ΝΞ 

Säulgen. Grau, Die eregetiice Theologie. Schanz. 

Secchi, Die Größe der Schöpfung Schanz . 

Siegfried, Stttenjtüde, betreffend ben preuß. Gultusfampf. 

Storz, Die Philofophie be8 f. Auguftinus. Braig. 

Bölter, Die Entftehung der Apofalypfe. Θ ὦ απ}. - 

Weizſäcker, Das Neue Teftament überfegt. € dang. 

8 άτετ, Handbuch bez theol. Wiffenſchaften. L 1. Schanz. 


HL Bücherverzeichniß. 
Am Schluffe be 2. u. 4. Heftes. 


Verzeichniß ber feit März b. 3. bei ber 9tebaftion ein- 
gelaufenen unb nod) nicht bejprodenen Bücher. 


Rich, Florian, S. I. Nochmals ba8 Geburtsjahr Seju i, mit 
5 jonberer Bezugnahme auf eine ε „Steeitieifet des Dr. en 
in München. Freiburg, 
Sau G., Bollftändiger fedi u in. Smmunionunterid, E 
buch für Eltern nnb Lehrer ἐς, Bredlau, Fr. Görlich 1883. 
tendis be Werkes vom DL Paulus, Apoftolat der Preſſe vi. 
rg. 2—8.9. Freiburg L b. Schw., S:Sudjbruderei des hl. 
aulus 1883. 
hatte, Herm. Das Weib im Alten Teftament. Wien, Hirſch 1883. 
jen, K. Aleander am Steidjàtage zu Worms 1521. Auf Grund» 
age des berichtigten Friedrich ſchen Textes feiner Briefe. Kiel 
1 Lipſius unb Zijder. 
Bräll, Dr. Andr. Der erjte Brief des Glemena von Rom am bie 
foret und feine geſchichtliche Bedeutung. Freiburg, Qet« 


Hermann, Die Zahl uw in der Afenbarung des Johannes 13,18. 
τοιϑ τοι, Fade 
bstein, P. n [6 la Préexistenoe du Fils du Dieu. 
osa de christologie expérimemiale. Paris, Fisch- 
—e— Erhalt beà 8 iſtande Ein Reformpꝛ 
jinger, ie Erhaltung des Bauernftandes. Ref τον 
ἰὼ ΤᾺ ΠΝ hochſel. Grafen Subtoig zu oco Binnen Freib., 
Iber 
je, Sob. Gedichte beB beutjdjen Volkes feit dem Ausgange des 
M teclatert: Sieerungàausgabe 1. 9. Qteib., Qerber 1883. 
Doulcet, Hen, Essai sur les rapports de l'Église 
avec l'tab Romain pendant les rin „Premiere &ibcles. 
Suivi d'un memoire de sainte Féli 


dico Oigrapbigun, Paris, Plon et Cp. 166 
n appendice eier ique, Paris lon el 
ΓΤ ΣΝ Kr ib, er 


Schrifien πῶς pns [ns eae.  Herauögegeben von Paul 
®iper. IL 8. Pjalmen und pod Dentmäler nad) ber 
Gt. Galler c Saiten puppe. 1. Lief. Zreib. u. Tübingen 
Menesmslen X b in usb ἰὼ "C ide Stu 
len. tgan uni ntbum τί d 
tenvereins. ΕΝ von B. Seal und Jean Devaud. I. 
8. V—IX. $. Luzern, Sci. 





Sr. Ueber bie Gründe bed Kampfes zwiſchen bem heib- 
nifg-römifgen Staat und bem Gfriftentbum. Wien 1882. 
zog und SDeutide. 

Sintáe 9. . Prolegomena zu einer neuen Ausgabe bet Imitatio 

'hristi. II. 38. Berlin 1883. f. Habel. 

Gajpati, 6. P. Martin bon Bracara’3 Schrift de correctione ru- 
sticorum zum erjtenmale volftändig unb in berbeffertem ert 
VADE EUG hriftiania 1883. 

Science et vérité. 2 ed. Paris, E. Plon et Cp. 1883. 

Holgheuer, Dito, Der Brief an bie Gbrüer. Berlin, SBieganbt u. 

eben 1888. 

berg, Georg ©. Martin Luther. Lebend: u. Charakterbilb von 
ihm felbft gezeichnet in feinen eigenen Schriften unb Correſpon 
bengen. I. Die Herausforderung. Mit einem alten Bildniffe 
und einem facfimilirten Briefe Luthers. Mainz, Kirchheim 1883. 

Mai, Fr. I. Die Notkivendigfeit ber Offenbarung Gottes nadjge- 
tiefen αὐ Gefchichte und Vernunft. Mainz, Kirchheim 18: 

Schmit. Herm. Sof. Die Bußbücher und bie Bußdisciplin der Kirche, 
Nach ἐν νος μὴ Quellen. Mainz, Kirchheim 1888. 

Steger, Chr. €. 3. Deutſche Dichtung, für Familie unb Säule. 
29—81. $. Pareival. Gray, Styria 1 
ut, — Die Geſellſchaftsverfaſ ung der Griftfichen Kirchen im 
ertjum. Acht Borlejungen. . überfeßt unb mit Gr- 
AR: verjehen bon Adolf en. "Gehen, lider 1888. 
Due, Sol. rA Bein Sen, p geiftier bs in 
ebre, Beifpiel und Gebet für Sünglinge unb Jungfrauen. 
Ej 1 Ctabiftid. 5 Aufl. Lindau, Stettiner 1888. 

Thomae a Kempis, Imitatio Christi. Addita cuique eapitalo 
exercitatione spirituali etc. De Gonnelieu S. 7. 

E IT —— — Stettner 1888, mb Sri 
τὶ —I ‚ausgegeben von Dove ut ied⸗ 

3 $. — u. Tübingen. Bohr 
x p 


1888. 
enis, p Bibtifche get des VL und N. Teſtam. für 
latb. Sort ajjulen. Mit 114 Abbildungen und 1 Karte. Mit 
einem Anhang: ba8 fatf. Kirchenjahr. Freiburg, Herder 1883. 
SäultePlakmenn, Sof. Der Gpisfopat, ein vom Presbyterat vers 
ſchiedener felbftänbiger unb ſakramentaler Drbo, ober bie Biſchofs 
ieibe ein Saframent. Paderborn 1888. Bonif -Druderei. 
Bertram, Ad. Theodoreti episcopi Cyrensis doctrina christo- 
logica. Hildesiae, Borgmeyer 1 
Sartufer, Bum. Die Lehre von ber —— des hl. Bußſacra · 
nt. 2, Aufl. Breslau, Aderholz 1883. 
De Sore δι. Geilers bon faiferóberg ausgewählte eite 
II. 9. 1. Der djifülije Pilger. 2. Neue Früchte umb Bor- 
güge be8 DrbenlebenB. 3. Sieben Schwerter und fieben Scheis 
€ierina, Ay p jum bo Ranzelvorträge. Herausgegeben 
ai iſchof von τίει, δὲ en worträge. Qerau 
von Dr. Aegidius Ditſcheid. Ma. uppl.) gan pres 
über petiere iier, toppe 1883. 











Kinter, 9. Maurus D. €. 8. Gtubien unb Mittheilungen aus 
bem Benebictiner- unb Giftercienjezorben IV. 8, 9. 1883 Wurzb. 
u. Wien, Wörl. 

Schlör, Aloys. Clericus orans atque meditans. Libellus pre- 
cum usui seminariorum clericalium proxime destinatus 
etc. Edit. nova emend. Graecii, Styria 1888. 

Zanner, Serb. Geſchichte ber Biſchöfe bon Regensburg I. 1—2. $. 
Stegenàb. Puſtet. 

Zibliothet ber firdjenpüter, 383—389. 9. Kempten, Köfel. 

Rabe, Martin, Bedarf Luther tiber Sanfien ber Bertpebigung? 
Vortrag. Leipzig, Hinrichs 1883. 

Simar, Hub. poi Die Teotogie des hl. Paulus. 2. Aufl. 

eib., 9 

mep ge Ab. Maria Ὁ. Pr. Die Gefege für ereämung von Ras 
pitalzind und Arbeitölohn. Freib. Herder 1i 

Guthe, Herm. Audgrabungen bei Jerufalem im Muftsage des beuts 
m ene au, Eo Erforfhung Paläftinad. Mit 11 Tafeln. 
ipi. 1 

iginger, 9. 3. τ Gntitejung ı und Zwedbeziehung be8 Lukasevange⸗ 
ums RS "er Apoftelgefpichte. Glen, F. I. Halbeijen 1888. 

Sint, M. Bifgof Sictorà von Sita © [εν ber hole 
gung im Lande Afrika. Ueberſetzt. Bamberg, Gärtner (©. Sies 
benfee3) 1888. 

Oswald, Joh. Ὁ. Ungelologie, das ift die Lehre bon ben 
und böfen Engeln im Sinne ber Tathol. Kirche. Paper! om, 
Schöningh 1883. 

Grube, Karl, Gerharb Groot unb feine unge. Vereinsſchrift 
der Gorresgeſellſchaft. Köln, Bachem 1i 









Theologiſche 


GOuartalſchr ἦι 





In Verbindung mit mehreren Gelehrten 
herausgegeben 


von 





D. v. Kuhn, D. v. Himpel, D. v. ftober, D. v. Linſenman 


D. (unt unb D. Schanz. 
Sprofefjoren ber taifof. Theologie an ber K. Univerfität Tübingen. 





Fünfundjehzigiter Jahrgang. ^ 


Erſtes Quartalheft. 


Tübingen, 1883. 
Verlag ber Ὁ. gau pp'iden Buchhandlung. 








Bon ber theologifchen Quartalſchrift erſcheint regelmäßig 
alle drei Monate ein Heft von 10 biß 12 Bogen; 4 Hefte, 
die nicht getrennt abgegeben werben, bilden einen Band. Der 
Preis be8 ganzen Bandes (Jahrgangs) ift M. 9. — 

Einzelne Hefte fónnen nur foweit die Vorräthe bie8 ges 
Ratten zum Preife von M. 2. 80. abgegeben werden. 

Ale Buchhandlungen be8 In- unb Auslandes nehmen 
fortwährend Beftellungen auf die Quartalſchrift an. 

Das Intelligenzblatt nimmt literariſche Anzeigen auf und 
wird 80 Pf. für bie Petitzeile oder deren Raum berechnet. 


Inhalt 





I. Abhandlungen. Seite 


Sinfenmann, Schriftſtellerthum unb literarifhe Kritik . 3 
Sunt, Die Katechumenatsclaſſen des chriſtlichen Alterthums 41 
Schanz, Die franzöſiſche Theologie ber Gegenwart . . . 78 


IL Recenſionen. 


$9$1, Jakob und Efau. Linfenmann. ... - . 192 
Bédiet, Handbuch der theologiſchen Vin erſczanen· 

6ó$anj .. Mn . 186 
Mütter, Jopanneifiher Chriftus. Scans . - . 144 
PIögl, Gommentar zum Johannesevangelium. Gan; . 144 
Bölter, Vpolalgpe. Shan: . » — 144 


$leifglin und Wit, Monat-Nofen. Sinfenmann. 153 

Gebhardt und Qarnad, Zur Geſchichte ver altchriftlichen 
Kiteratun. gunt... 2l les 158 

fern, Bubbhiömus unb feine Gefchichte in Indien. Bimper 167 


Herder ſche Verlagshandlung im Freiburg (Baden). 

Soeben erjdjienen und durch alle Buchhandlungen zu beziehen: 
Schwane, Dr. 3., Dogmengeſchichte der 

mittleren Zeit (/87—1517 mud) Chr.). 


Mit Approbation be8 hot. Herrn Erzbiihofs von Freiburg. 
Hegejige Bisiotget XXI. Abtheilung.) gr. 8°. (XII ũ. 


SDieje8 Werk bildet bie iyortjegung zu ben im Verlag ber 
Agenten Buchhandlung in Münfter früher erſchienen zwei 
inben: 


Dogmengefchichte der vornicäniſchen Zeit. gr. 8. 

(VIII u. 748 ©.) 

Dogmengefdichte der patriftifdjen δεῖ! (325—787 
᾿ a (ZU u. tios αν 


welche in unfern Verlag  übergegangen find und beren Preis wir 
i auf a M. 9 ermäßigt haben. 


Sio, Dr. 3., Die Philofophie des hl. 


Auguſtinus. Mit Approbation be8 hochw. Heren Erzbiſchofs 
v. oes: gr. 8°. (VIII unb 260 5, NU i 


Zſchokke, Dr. H., Die Biblifchen Frauen 
des Alten Xeftamentes, Mit fürfterzbiihöflicher Approbation. 
gr. 8°. (VII und 469 ©.) M. 6. 


Bon bemfelben Verfaffer ift früher erfgienen: 
Theologie der QPropfiefen des Offen. yeffamentes. 
Dit obest: Genehmigung. gr. 8°. (XVI umb 64 &) 





ROM 
UND . 
RÓMISCHES LEBEN IM ALTERTHUM 


GESCHILDERT VON 
HERMANN BENDER, 
RECTOR AM GYMNASIUM IN ULM. 


MIT 'ZAHLREICHEN ABBILDUNGEN NACH ZEICHNUNGEN VON 

A. GNAUTH, DIRECTOR DER KUNSTSCHULE IN NÜRNBERF, PROF. 

BIESS IN STUTTGART, PROF. BOHILL IN DÜSSELDORF U. A. 

NEBST, EINEM VERGLEICHENDEN PLAN DES ALTEN UND 
NEUEN ROM. 


Instilvollem Einband M. 14. — Cartonnirt M. 12.80. 


Berlag der 5. Saupy’fhen Buchhandlung in Väbingen. 
Bau und Leben des focialen Körpers 


. von 
Dr. Albert €. fr. Schäffle, 
t. f. öfterreichiher Minifter a. D. : 
Neue, theilweis umgearbeitete Ausgabe. 
Bier Bände. Preis M. 44. 

Der Inhalt diefes Werkes umfpannt bie gewaltige Fülle ber 
jagen geiftigen und matericllen Gcialwwelt, alle Gebiete unb That- 
ἔδει des fociaten Θεδεπᾶ, alle Organijationsformen, alle Lebens- 
tyätigfeiten,, alle Entwidelungserigeinnngen ber Civififation find 
hier erjtmals in Einem großen Zufammenhang aufgefaßt. Die 
Einheit und Univerfalität ber Auffaffung ijt nicht bnrd) vag pbifojos 
phivende Veralgemeinerung, fondern auf Grund facytwiffenfchaftlicer 
Durdypringung der Epecialdifeiplinen, burd) forgfáltige Analyjen 
des Vrjonderen gewonnen, und e wendet fid) der Slerfaffer mit 
Hingebung ben praftifhen Grundfragen ber unmittelbaren Gegen 
wart allerdings in rein wiflenfchaftlicyer Begründung zu. 

Das Wert verfolgt feine einfeitige Tendenz, ebenjomenig bie 
des radifalen Socialismus als bie beà radikalen in ber Mancheſter- 
theorie heruichend getvejenen Indivibualismus. (δᾶ tveift bie relative 
Berechtigung alter focialen Organiiationsformen nad) und ift völig 
frei von den Leidenſchaften irgend einer der gegenwärtigen Parteien. 
Zu allen biejen Beziehungen ift e8 ganz de onders geeignet, in 
jegiger eit der bitteren Enttäufgung über bie Wirkungen des er. 
trımen Liberalismus unb ber blinden Furcht und Hoffnung bezüglich 
des Socialiemus den fideren Anhaltspuntt gu bieten 
für felbftändige Bildung neuer pofitiver unb 
frudtbarer,ausbemmeiteftendorizontgejhöpf- 
ter Socialanjhauungen, fowohl das politijde 
als das volfswirtbihaftlihe Leben betreffend, 
Dies um fo mehr, als der Verfaffer feinen Beruf zur Sófung ber 
geftedten Aufgabe längft, bewährt Hat, indem er nicht erft jegt, fon» 
dein fehon vor bald 20 Jahren zu ber Zeit, a8 das Mandpefter- 
thum die Macht eines unantaftbaren Dogmas befaß, die Einjeitig« 
teit, Enge und Zeicränftheit der herrſchend gewvefenen "Theorie 
madgetoiejen und einer neuen pofitiven Gejelligaftsauffaffung Bahr 
gebrochen hat. 


u Handbud) 
gotitijden Oekonomie 


in Verbindung mit hervorragenden Vertretern des Faces heraus 
gegeben von . 


Dr. Guftav Schönberg, 
* orb. Profeffor der Staatdioilienfcaften an ber Unwerfltät Tübingen. 
Drei Theile in zwei Bänden. 


120 Bogen größtes Lerifonoctad. broch. Preis M. 36.— 
Gebunden in zwei joliden Halbfranzbänden. M.40.— 

Das „Handbud ber politifhen Detonomie" ift nit 
eine einfeitige, im Dienfte einer wirthicaftepolitifchen ober wiffens 
fhaftlichen Warthei jtebenbe, fonbern eine objective Darftellung be8 
Heutigen CtanbeB ber 3Uifjenidajt, unb tmirb eben bedpalb allen 
ivitbjdjajt&potitijcen unb tvifjenjdja[tliden Richtungen erwünſcht fein. 

















Theologiſche 


Ouartalfdrift 


In Verbindung mit mehreren Gelehrten 
beraudgegeben 
von 


D. 9. Kuhn, D. v. Himpel, D. v. ftober, D. v. Linfenmann, 
D. ὅπη und D. Schanz. 


Profefforen ber tatfol. Theologie an ber f. Univerfitkt Tübingen. 


Tübingen, 1883. 
Berlag der Ὁ. Sau p p'fdjen Buchhandlung. 











Bon ber theologifchen Quartalſchrift erſcheint regelmäßig 
alle drei Monate ein Heft von 10 bis 12 Bogen; 4 Hefte, 
bie nicht getrennt abgegeben werden, bilden einen Band. Der 
Preis be8 ganzen Bandes (Jahrgangs) ift M. 9. — 

Einzelne Hefte können nur fomeit bie Vorräthe Dies ge 
fatten zum Preiſe von. M. 2. 80. abgegeben werden. 

Ale Buchhandlungen be8 Ins und Auslandes nehmen 
fortwährend Beftellungen auf die Quartaligrift an. 

Das Intelligenzblatt nimmt Kiterarifche Anzeigen auf und 
wird 30 Pf. für die Petitzeile oder deren Raum berechnet. 





3mnmbalt. 
I. Abhandlungen. Seite 
Linfenmann, Gdriftftelertbum unb literarijfe Kritit . 179 
Funk, Sur Chronologie Zatian'8 . . . . . . . . 219 
Holl, Die Lehre von ber Auferftehung be8 Zleifhe® . . 294 


Sunt, Der Kanon XXXVI von Gloita. . , . . . . 271 


IL #ecenfionen, 


Storz, Die Philoſophie be8 HI. Auguftinus. Sraig. . 279 
Siegfried, Eulturlampf. gunt. . . . 290 
Pflugl-Harttung, Die Urkunden b. päpftl. Kanzlei. gunt. 295 
Schneemann, Thomiſtiſch-moliniſtiſche Gontroverje. Funk. 297 - 


Alzog, fitdengeldidte. Funk... . 2... 308 
SBontet[d, Die Geſchichte des Montanismus. gunt. . 805 
Freiburger Diöcefanargiv. Funk .. 307 


Holgmann-Zöpfel, Lexikon für Theologie. Bunt . . 809 
Scheffold, 8. Geld). b. Landkapitels Amrichshauſen. Funk. 311 
ϑὲ δ 8 πι, Aufgaben ber proteftantijjen Theologie. Keppler. 312 
Kleinermannd, Petrus Damiani. Schmid. . . 314 
Hartmann, Gelbftgerfegung 1c. des Chriſtenthums. Braig. 8317 
faltner, Konrad von Marburg. Funl. . .. . . 896 
Loofs, Ant. Prit. Scotorumque ecclesia. 

Gbratb, Bonifatius. . . m . 7δυκε “ν 888 
Schneider, Der neuere Geifterglaube. "Sinfenmann. 884 
Kleutgen, Evangelium des hl. Matthäus. . 
Beizfäder, Das neue Gejtament. . . losen. . 844 
Säulze unb Gran, exegetifche Theologie.) 





Herder'ſche Verlagshandlung in Freiburg (Baden). 
Soeben erfchienen. und durd alle Buchhandlungen zu beziehen: 


Brüll, Dr. A., Der Hirt des Hermas. 


Nach Ariprung und Jrhalt unterfucht. 8. (XLu, 636.) Μ. 1.90; 
Biſchof von O3, 

Kremens, Ji. e DieOffenbarung 

im Lichte des Evangeliums nad) 

des hl. DHAMNES Goyanıee. Cine Stage der tonig 

en Herefehaft θεία Chrifti. gr. 80, (IV u. 196 8) M. 2.40. 

Die Schrift begtvedt, eine kurze, auf bem typifcen Charakter 

des Lebens Jefu fi) aufbauende Erklärung bet Offenbarung des 

Heiligen Jopanneß ju geben. Sie zerfält in zwei Bücwr. Dos 

ἐτίμα bepänbeit biefe Offenbarung al daß prophetifce Gefdichtäbud) 

her Königlichen Herriaft Siu Girl in feiner fütde. Daß qweite 

feitt ben apofatgptifcgen Cjüberungen bie parallelen Tgatfacen 
aus bem Leben Jefu gegenüber und beleuchtet jene aus biejen. 


Scheeben, Dr. M. 3., Handbuch der fn- 

1 TY Mit Approbation bes Hochw. 

tholiſchen Dogmatik, Grpifoofien Oräingriteh 

qu Köln. Dritter Band, Grfte Abtheilung. (Silbet bie 

XXII. abtheuung ber erſten Serie unferer „Oheologifcen 
Bibliothek.) gr. 8". (X u. 680 ©.) M. 8. 

Gegenwärtige Abteilung liefert, im Anſchluß an bie im II. 
Band enthaltene grundlegende Lehre von bem Wejen unb bem Urs 
fprunge Chrifti, beu Aufbau der Cpriftologie, bie Coteriologie umb 
die SXariologie, alle drei Partien in jo alfeitiger, fyftematifer 
Ausführung, mie fie in feinem neueren Werte, felbft in feiner Dos 
mograpbie, fid finden dürfte, Alles, waß die heilige Schrift, bie 
Tradition und die Theologie ber Vergangenheit über die Herrlich 
εὶς Cprifti und feiner beiligen Mutter darbietet, hat der Slerfajfer 
zu einem harmonifcen, [ebenBbollen umb farbenreichen Bilde Det» 
einigt, ebenfo den ftrengften Anforderungen ber Wiffenfhaft, wie 
den Bedürfniffen ber Frömmigteit Rechnung tragenb. Snébejonbere 
wird bie gründliche und originelle Behandlung des Prieſterthums 
unb des Dpferà Gbrifti, fomie bie bier zum erften Mal verfugte 
Darftellung ber ganzen Mariologie, a8 eine weſentlichen @liedes 
im dogmatifchen Syitem, bem Buche viele Freunde gewinnen. 


Weber, 3., Die kauouiſchen Ehehiuder⸗ 

uiſſe nad dem geltenden gemeinen Kirchenrechte. Für ben 

NRurattieruß in Deutſchland, Defterreid) unb ber Schweiz 

πεν Ὁ 

pou ar qur rr i 
Bon bemfelben Verfaſſer erſchien früher: 


— ‚Die Ehefcheidung, vs —V gemeinen 
i le. 
(X e 95 e.) uratfteruß pratüiſch bargefelt. gr, 89, 











Soeben erſchienen unb burd) alle Buchhandlungen ſowie von 
der Verlagshandlung bireft gratis umb franfo zu beziehen : 


Jahresbericht 


der Herderſchen Verlagshandlung zu Freiburg im Breisgau. 
1882. 





Herber’jche Verlagshandlung in Freiburg (Baden). 
In unferem Sommiffiondverlage find foeben erſchienen unb 
butd) alle Buͤchhandigngen · zu beziehen: 


Bardenhewer, Dr. 0. Die pseudo-aristotelische 
Schrift Weber das reine Gute "skerat mtr 


Liber de causis. Im Auftrage der GÜrres-Gesell- 
schaft bearbeitet. gr. 8°. (XVIII u. 830 8.) M 13.50. 


&lafen, Dr. theol. £., Die innere Gut» 
wicklüng des Pelagianismus. ess m 


ichte. Mit Approbation be8 bod. Herrn Erzbiſchofs von 
eg. 8. Ἂν u. 304 €.) M. 450. ἰὼ 


Baumgartner, A. S. J., Iooft van den 
® Í fein Leben und feine Werke. "Gin Bild aus ber 
DUDEN, Sievertändifgen Siteraturgeigichte. Mit orbes 
Bildniß. 8°. (XVI u. 879 ©.) M. 440. 
Die Augsburger Allgemeine Zei (1882, Rro. 213, Bei 
Inge) fagt am Schluſſe einer eingehenden Belprehung diefes Wertes: 
m... „ Meberhaupt zeugt Baumgartnerd Werk, trog mander 
Heinen Mängel in der Ausführung, von einem fo liebevollen Eins 
gehen und Berftänbniß, von einer jo minutiöfen und gemifienhaften 
Prüfung ber Geiſteswerke und be8 ganzen Bildungsganges beà 
großen Dichters, daß uns nur ber Wunſch erübrigt, alte Deutichen, 
bie fid) fernerhin mit nieberlänbifcher Literatur befafjen, möchten 
mi eire Gewiſſenhaftigkeit und Borurtheildlofigleit am bie Arbeit 
gehen.“ 
Im Verlage von C. ἃ. Schwetschke und Sohn (M. Bruhn) 
in Braunschweig ist soeben erschienen und durch alle 
Buchhandlungen zu beziehen : 


Die apokryphen 
Apostelgeschichten u. Apostellegenden. 
Ein Beitrag zur altchristlichen Literaturgeschichte 


von 
Rich. Adelb. Lipakus, 
Erster Band. Preis 15 Mark. 

Da in diesem neuesten Werke die gesummte Apostel- 
legende behandelt wird, so ist der Leserkreis nicht auf pro- 
testantische Theologen beschränkt, sondern erstreckt sich 
weit hinein in die katholischen Kreise Deutschlands und 
des Auslandes. 




















Theologiſche 


Quartalſchrift. 


In Verbindung mit mehreren Gelehrten 
herausgegeben 
von 


D. v. Kuhn, D. v. Himpel, D. v. Kober, D. v. Linſenmann, 
D. Funk unb D. Schanz. 


Profefforen ber kathol. Theologie an ber X. Univerfität Tübingen. 


Fünfundfechzigfter Jahrgang. ἡ 


Tübingen, 1883. 
Berlag ver 9. Laupp’ihen Buchhandlung. 














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LIBRARIA HENRICI LAUPP, TUBINGE. 


OPERA 
PATRUM APOSTOLICORUM. 


TEXTUM RECENSUIT, 
ADNOTATIONIBUS CRITICIS, EXEGETICIS, HISTORICIS 
ILLUSTRAVIT, VERSIONEM LATINAM, PROLEGOMENA, 

INDICES ADDIDIT 


FRANCISCUS XAVERIUS FUNK, 


88. THEOLOGLE IN UNIVERSITATE TUBING. PROFESSOR ΡΟ. 


Duo volumina 

Continet Volumen I., editio post Hefelianam quartam 
quinta: Epistulas Barnabae, Clementis Romani, Ignatii, Po- 
lyearpi, Anonymi ad Diognetum; Ignatii et Polycarpi Mar- 
tyria; Pastorem Hermae. 

Volumen II.: Clementis Romani epistolas de virginitate 
ejusdemque Martyrium; epistulas Pseudoignatii; Ignatii Mar- - 
tyria tria: Vaticanum, a S. Metaphraste conscriptum, latinum; 
Papiae et Seniorum apud Irenaeum fragmenta; Polycarpi 
vitam graecam. 

Pretium voluminis I. Mark 10. — voluminis II. Mark 8. — 
Singula volumina per se venduntur. 

Si sex minimum volumina emuntur, pretium minuitur 
voluminis prioris ad M. 8. —, posterioris ad M. 6. 40. Quae- 
vis mereatora libraria hoc pretio »opera patrum apostoli- 
corum« praebere potest. 


Inde ab anno 1855, quo editio Patrum apostolicorum 
Hefeliana quarta in publicum prodiit, pluribus codicibus in- 
ventis scientia patristica mirum in modum promota est, 
Pauca tantum animadvertere licet. Barnabae epistulae 
textus graecus olim mutilus fuit, capitibus quatuor prioribus 
et initio capitis quinti deficientibus. Nunc textos integer 
exstat isque in duobus codicibus, Sinaitico et Constantino- 
politano. Epistularum Clementinarum olim quatuordecim 
capita prorsus defuerunt neque in versione legebantur. Anno 
autem 1875 Constantinopoli codex graecus inventus est, qui 
textum integrum exhibet, et brevi post versio vetus syriaca. 


Pastor Hermae olim nonnisi in versione veteri latina 
cognitus fuit. Nuno textum graecum fere integrum et duas 
alias versiones veteres habemus, versionem latinam alteram 
vel Palatinam quam dicunt et versionem aethiopicam. Unde 
lector colliget, ad textum Patrum apostolicorum constituen- 
dum adiumenta multo locupletiora nobis praesto esse quam 
praedecessoribus nostris et textum editionum priorum nunc 
fere nullius esse pretii. 

Quod autem ad hanc editionem attinet, codices novi di- 
ligentissime adhibiti, veteres denuo collati sunt. Editio valde 
etiam aucta est. Scripturae, quae in secundo volumine in- 
sunt, in quarta editione nondum legebantur. Et in hac parte 
ab editore plures codices adhiberi poterant, qui usque ad hanc 
diem aut prorsus ignoti aut parum cogniti erant. Textum 
epistularum Pseudoignatianarum latinarum ex. gr. primus e 
libris manuscriptis, libris impressis postpositis, constituit. Ad 
textum earundem epistularum recensendum graecum primus 
leetiones codicis Constantinopolitani accepit et codicem Mo- 
.nacensem praestantissimum, qui inde a saeculo XVI a nemine 
inspiciebatur, denuo contulit. Ad textum Martyrii Ignatii 
Vatieani quod vocant constituendum primus codicem Oxo- 
niensem excussit etc. etc. 

Haec nobis dicenda sunt. Ut autem lector cognoscat, 
quid alii de editione iudicent, animum ndvertimus ad testi- 
monia virorum doctorum. Cf. ex. gr. „Literariſche Rundſchau 
1879 No. 6; 1882 No. 9. „Literarif her Handmeifer“ 1879 No. 18. 
1882 No. 17. „eiterarifdes Gentralblatt" 1879 No. 11. „Beit« 
ſchrift für wiſſenſchaftliche Theologie" 1879 p. 265 sqq. »Poly- 
biblione 1879 Fevr. »Bibliographie catholique« 1880 Oct. 
»Bulletin eritique« 1882 May 1. »Revista de Madrid« 1882 
No. 8. »Literary Churchmann 1879 No. 1. »The Academy« 
1879 July 26; 1882 Oct. 7. »The Guardian« 1879 July 30. 


»Magyar Sion« 1878 p. 921 209.5 1882 p. 227 sqq. »Beligioe 
1882 No. 22. ligi 





Ad. Hug Antiguar in Günzburg a/D. offerirt: 


1 Theologiſche Duartafjcpeift rg. 1819—25, 1881, 1893, _ 
und 1865—80. Tübingen. , 183560 


51 Ihrgs. wovon 38 Jhrgge gut in Pappband b 
εὖτ. br. [Ladenpreis 460 M.] 100 M. — gebunden, die 


Eataloge gratis unb franco ! 








Theologiſche 


'Onartalfgrift 


In Verbindung mit mehreren Gelehrten 
herausgegeben 


D. t. Kuhn, D. ». Himpel, D. v. ober, D. v. Linſenmann, 
D. Funk und D. Schanz. 


Profefforen ber kathel. Theologie an ber f. Univerfät Lübingen. 


Fünfundjesiofter Jahrgang. ἡ 


Viertes Ouartalheft. 


Tübingen, 1883. 
Berlag ber Ὁ. Laupp’fchen Buchhandlung. 














Bon der theologiſchen Quartalfchrift erfcheint regelmäßig 
alle drei Monate ein Heft von 10 big 12 Bogen; 4 Hefte, 
die nicht getrennt abgegeben werden, bilden einen Band. Der 
Preis be8 ganzen Bandes (Jahrgangs) ift M. 9. — 

Einzelne Hefte fónnen mur foweit bie Vorräthe Dies ger 
flatten, und mur zum Preife von M. 2. 80. abgegeben werben. 

Alle Buchhandlungen be8 In- und Auslandes nehmen 
fortwährend Beftellungen auf die Ouartalfchrift an. t 

Das Intelligenzblatt nimmt literariffje Anzeigen auf und 
wird 30 Pf. für bie Petitzeile oder deren Raum berechnet. 


7$ 





3mbalt 








I. Abhandlungen. 


Kaltner, Folmar von Triefenftein unb ber Streit Gerhohs 

mit Eberharh von Bamberg - . . 598 
Aberle, Zur Chronologie ber Gefangenjcaft Kauft P 553 
Himpel, Dergefihtliche AbjänittJej.Rap. 3:89. Erläuter- 

ungen bejjelben burd) afforijdje Keilinſchriften . . . 582 


IL füecenfionen. 


Fiſcher, Lebensmagnetismus ober Hypnotismus. Linfen- 
mann... 654 

Arberger, Pie unſundlichteit Shift. Rep. Dr. Ὁ $ m ib. 659 

Epping, Der Kreislauf im Kosmos. 

Dreffel, Der belebte u. unbelebte Stoff. 

Peſch, Das BWeltphänomen. €dans. . . 665 

Iſenkrahe, Idealismus oder Realismus. | 

Schneider, Natur, Vernunft, Gott. 

Hötzl, Bertholdi a Ratisbona sermones ad "eligionos, 
Shen. ...... le 


. . 6 

Kleutgen, Institutiones theologicae. Dr. $i ταὶ ia. . FH 
Rütter, Die Pflanzenwelt. Linfenmann. . - 698 
S fabler, Die Bonifatianifhe Brieffammlung Fun Rn - 696 


Land, Offene Briefe über ben Kongreß zu Arezzo. Mesmer, 
Kintner, Riffenfhaftlide Studien unb Atfeilungen aus 
dem Benedictinerorben.: Funk, - . 700 


Herder ſche Verlagshandinng in Freiburg (Baden). 
Soeben erfejienen unb burd alle Buchhandlungen zu beziehen: 


Hettinger, Dr. F., Dreifaches Lehramt. 


ALIE af ben Heimgang des Herrn Dr. $eimrid) Sofepf 
Dominicus Denzinger, gehalten zu Würzburg bei bem afabe- 
mar Dr. &. Gl 22. Jum 1883. 80, (246) 30 Pf. 


Simar, Dr. f. Th., Die Theologie 
des heiligen να 1. aine mgnschiiete 
Auflage. Mit Approbation be8 Dodo. iem Prod ſchofs von 
Freiburg, gr. 8°. (XII und 284 ©.) M. 

In meinem Verlage erſchien ſoeben: 

Oswald, Dr. J. H., Profeffor am Lyceum Hoftanum 
zu Braunsberg. Angelologie das ift die “εἴτε 
von den guten und böfen Engeln imSinne ber 
katholiſchen Kirche dargeftelt. Mit Erlaubniß des 
hochw. Bifhofs von Ermland228 ©. gr, 8. geb. 3 M. 
Bon demfelben Verfaffer erſchien früher in meinem Serlage: 

Eſchatologie. 4. Aufl. 460 M. Die Erlöfung von 
ber Heiligung. 2. Aufl. 3 M. Die Erlöfung in 
Chriſto Jeſu. 2 Bde. 7,50 M. Religiöſe Ur: 
geſchichte der Menſchheit. 3 M. 

Paderborn. Ferdinand Scöningf,. 


Berlag der H. Laupp’ihen Buchhandlung in Tübingen. 
Agrarpolitische Versuche 
vom Standpunkt der - 
Socialpolitik 
von 


6. Ruhland. 
gr. 8. broch. M, 3. — 


Soeben erſchien: 
Die Jnforporation 


Bypothefarfredits 


von 
Dr. Albert €. Fr. Schäffle, 
f. ὅβετε, Minifler a. D. 


gr. 8. broch. M.3. — 











Verlag der H. Laupp'ſchen Buchhandlung in Tübingen. 


fjanbbud) 
ber 


Bolitifden Cefonuomie 


dn SBerbinbung mit hervorragenden Vertretern be8 Faches heraus⸗ 
gegeben von ᾿ 


Dr. Quite» Schönberg, 


oth. Profeflor ber Stantgmwiflenfhaften an δες Untverfität Tübingen. 








Drei Theile in zwei Bänden. 


120 Bogen größtes Lerifonoctav. brod. Preis M. 36. — 
Gebunden in zweifoliden Halbfranzbänden. M. 40. — 

Das „Hanbbud ber politifden Detonomie nicht 
fchaftlichen Partei Tiebenbe, fondern eine objeftive Darftellung bes 
heutigen Standes der Wiienigaft, und wird eben beshalb allen 
wirtpjdafispolitijen und nifienfafttichen Richtungen erwuͤnſcht jein. 








Demnächst gelangt zur Ausgabe: 
Die Echtheit 


der 


Ignatianischen Briefe 
aufs Neue vertheidigt 
von 
Dr. F. X. Funk. 
Mit einer literarischen Beilage: 


Die alte lateinische Uebersetzung der Usher", 
der Ignatiusbriefe und des Polykarenen Sammlung 


gr. 8. broch. M. 6. — 


Der 


achtundſechzigſte Κ᾽ [αἱ πὶ 
mit befonderer Rückſicht auf feine 
it Dejo Mem Nusleger Mod i Ueberjeger und 


von 
Dr. 9. Grin. 
gr. 8. Tb ca. M. 6 








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