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Full text of "Theologische Studien und Kritiken, in Verbindung mit D. Gieseler, D. Lücke ..."

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1. Inge 7 
m 








Daiu, Google 
8 


Theologiſche 


Studien und Kritiken. 


Fine Zeitſchrift 
für 
das gefamte Gebiet der Theologie, 
begründet von 
D. 6. Ullmann un D. J. W. 6. Umbreit 
und in Verbindung mit 
D. €. 3. Nitzſch, D. 3. Müller, D. W. Beyſchlag 
herausgegeben Va 
D C. B. Hundehagen u D. €. Riehm. 


Dahrgang 1869, erſtes Heft. 





Gotha, 
bei Friedrich Andreas Perthes. 
1869. 


Daiu, Google 
8 


Abhandlungen. 


" Google 


1. 


Apokalyptiſche Studien 
bon 


Profeffor D. Weiß. 





Indem ich einige apofalyptifche Vorftellungen des N. T.'s, deren 
Auffoffung noch immer ftreitig ift, zu erörtern beabfichtige, fühle 
ih da8 Bedürfnis, mich über das Wefen der Apofalyptik und ihre 
Auffaffung namentlich mit denen zu verftändigen, welchen die zeit- 
geſchichtliche Erflärung auf diefem Gebiete immer noch anftößig if, 
weil fie der Werth und die Glaubwürdigkeit der biblifchen Weißagung 
herabzumindern ſcheint. Natürlich ift eine folche Verftändigung nur 
nit denen möglich, welche überhaupt bei der Entſtehung der Heiligen 
Schriften und alfo auch bei der in ihnen enthaltenen Weißagung 
neben dem göttlichen Geifte, welcher die Apoftel und Propheten 
befeelte, irgendwie die Mitwirkung eines menfchlichen Factors zu- 
geftehen, deren Offenbarungsbegriff es nicht verlangt, in ber heiligen 
Schrift eine ſchlechthin übernatürliche Mittheilung formulirter Lehren 
über das in Chrifto gegebene ober von der Zukunft zu erwartende 
Heil zu fehen. Aber aud) unter denen, welde die Schriftauffaffung 
der neueren Theologie im ganzen theilen, pflegen mande ftugig zu 
werden, wenn biefelbe auf die Weißagung des N. T.’8 und ins⸗ 
befondere auf ihre apokalyptiſchen Partieen angewendet werden foll. 

Es würde zu weit führen, wenn wir die vom Lücke begonnenen 


8 Weiß 


und ſeitdem auf ſehr verſchiedenen Wegen zu ſehr verſchiedenen Ne 
ſultaten gekommenen Unterſuchungen über den Unterſchied der Apo- 
kalyptik von der Prophetie aufnehmen wollten. Es mag genügen, 
wenn wir im Anflug an den herrſchenden Sprachgebrauch das⸗ 
jenige Gebiet näher abgrenzen und charafterifiren, auf welchem fi 
die apofalyptifchen Vorftellungen im engeren Sinne bewegen. Den 
Mittelpunkt der neuteftamentlihen Eschatologie bildet der mit der 
Wiederkunft Chriſti eintretende Abſchluß des gegenwärtigen Weltäons 
und der Beginn des zufünftigen Weltalters, welches die Heils— 
volfendung bringt. So gewiß demnad; der Abſchluß der Weltent- 
widlung durd ein übernatürliches Eingreifen Gottes herbeigeführt 
wird, fo wird borh ber Zeitpimft diefer Kataftrophe durch die Welt- 
entwicklung felbft bedingt gedacht. Wie die erfte Erfcheinung Chrifti 
erft eintreten konnte, al die Zeit erfüllt war und die Welt in 
ihrer Heilebebürftigfeit wie in ihrer Heilsempfänglichkeit den Punkt 
erreicht hatte, an dem die rettende Heilsoffenbarung anknüpfen konnte 
und mußte, fo kann aud) die Wiederfunft Chriſti, die zunächſt und 
vor allem das Gericht bringt, erft eintreten, wenn die Welt zum 
Gerichte reif geworden, wenn das in ihr herrſchende Böſe ſich bie 
zum Höcften Gipfel gefteigert Hat und jo das Gottesgeriht auf 
fich Herbeigteht. In diefem Sinne hatte ſchon Ehriftus das Kom⸗ 
men des Geräts gemeißagt, wenn bie gegemwärtige Generation 
der Juden das Maß der Simden ihrer Väter werde vollgemacht 
haben (Matt. 23, 32 —36). In diefem Sinne erwartet die 
apoſtoliſche Weißagung vor der Wiederfunft CHrifti die höchfte Ent» 
faltung und Potenzirung der antichriftlichen Macht des Böfen, wie 
auch die geſammte jitbifche Apofafyptik die Erſcheinung bes Heils 
von der Höchften Steigerung -der gottfeindlichen Macht abhängig 
macht. Das Wefen der neuteftamentfihen Apolalyptik im engeren 
Sinne befteht nun darin, daß fie aus den Beiden der’ Zeit die 
Momente, in welchen jener Proceß der Machtentfaltung des gott» 
feindlichen oder antihriftlichen Principe bereits begonnen hat, zu 
erfennen und die Stadien, welche er noch bis zu feinem Gipfelpunft 
zu durchlaufen Hat, abzufteden ſucht, um dam in der fiegesfrohen, 
troſtreichen Gewißheit auszuruhen, daß mit der Erreichung jenes 
Gipfelpunktes auch der Zeitpunkt gekommen ift, wo alle Drangfal 


Apolalyptiſche Studien. 9 


der letzten Zeiten aufhört und mit der Wiederkunft Chriſti die 
Hrifsvollendung anbricht. 

Damit ift ein Doppeltes gegeben. Zunächſt ſetzt die Apofalyptif 
vorans, daß die Wiederkunft des Herrn nahe fei, daß fie noch in 
dem laufenden Menfchenalter eintreten werde. Die Erkenntnis, 
daß diefe Borausfegung der apoftolifchen Zeit durchweg gemeinfam 
it, darf bereits als ein Gemeingut der neueren Theologie bezeichnet 
werden. Immer feltener werden die Stimmen, welche aller natür« 
fihen Erflärung zum Trotz die apoftolifche Paränefe, die gerade 
dur die Verfiimdigung von der Nähe der Wiederkunft ihre gewal- 
igfen Wirkumgen hervorgebracht, diefer ihrer lebensvollen gefdhicht- 
lihen Eigentümlichkeit zu entkleiden ſucht ). Und doch vergißt 
man dies fo leicht, ſobald man nun an die johanneiſche Apokalypſe 
tommt. Wie es aber an fich undenkbar ift, daß dieſes Buch allein 
mter alfen gleichzeitigen Schriften eine ganz andere Zufunftsperfpec- 
fie in den Blick faſſen ſollte, fo fagt dasfelbe ja auch für jede 
unbefangene Auslegung jo unzweidentig wie möglich, daß es nicht 
über eine ferne Zukunft Auskunft ertheilen will, fondern über eine 
mittelbar nahe (1, 1. 3; 22, 6), deren Mittelpunkt die baldige 
Wiederkunft Chrifti bildet (3, 11; 22, 7. 12. 20). Damit fallen 
von felbft alle Deutungen der Apofalypfe, wonach biefelbe eine 
hfrtanfendelange Entwicklung in den Blick gefaßt Haben foll, mag 
man diefelbe nun als eine welt ober kirchen⸗ oder reichsgeſchicht⸗ 
fe denen. Auch fie will aus den Zeichen der Zeit die Wege 
daten, auf welchen die Entwicklung der bereits vorhandenen anti» 
Griflichen Mächte dem Gipfel entgegeneilt, auf dem fie das Bottes- 
ht der nahen Wiederkunft Chrifti ereilen muß. 

Daraus folgt aber noch ein Zweites. Es tft nicht mar zuläffig, 
fondern ſchlechterdings nothwendig, bie apokalyptiſchen Vorftelfungen 





a) Ih ‚Habe kurzlich Gelegenheit gehabt, einen derartigen Verfuch in dem 
Schleswig Holfteiniſchen Kirchen- und Schulblatt, Herausgegeben von Pred. 
Rendtorff (1868, Nr. 2: 3) zurüchzuweiſen, und dort zu zeigen verſucht, 
wie e8 nur auf einem Mangel an geſchichtlichem Sinn und gründlicher 
Erwägung bdiefer Frage beruht, wenn man die Apoftel wegen dieſes angeb- 
lichen „Srrtums“ erft entſchuidigen oder gar ihre Verkündigung von ſolch 
einem „Malel“ weiß waſchen will. 


10 Weiß 


des N. T.'s aus der Zeitgeſchichte zu erläutern. Nur dieſe kann 
ja den neuteſtamentlichen Schriftſtellern die Anhaltpunkte gegeben 
haben, an welchen fie die bereits wirkſame Macht des Antichriften- 
tums erfannten, mur die Erwägung ber Zeitlage Tann ihnen den 
Blick in die Wege geöffnet haben, auf welchen die Entwicklung 
derfelben ihrem Ziele zuftrebte. Die Apokalyptik ift im Grunde 
nichts anderes als eine Philofophie der Gedichte, welche aus der 
mit religiöfem Sinne erfaßten Idee derfelben die in ihr wechſelnden 
oder ringenden Grundmächte und deren nothwendige Entwidlung 
abzunehmen fucht. Wenn ums mande ihrer Kombinationen fo 
fremdartig und fehr wenig philofophifch erfcheinen, fo dürfen wir 
nicht vergeffen, daß für fie das ſpecifiſche Organ der philoſophiren⸗ 
den Thätigfeit die Phautafie war, die nicht mit Begriffen, fondern 
mit Anfhauungen operirt, deren Prüfftein nicht die abftracte Logik, 
fondern da8 Zufammentreffen alfer fie follicitirenden Momente in 
einem Iebensvollen Geſammtbilde ift. Der Stoff aber, mit welchem 
es diefe Thätigkeit zu thun hat, fann immer nur die Zeitgefchichte 


In ihren Beziehungen zu dem Reiche Eprifti fein; denn der letzte 


Zweck der Apofalyptif ift ja überall, in der dem Abfchluffe zueilen- 
den Entwicklung des Antichriftentums die Bürgſchaft zu finden 
für die Nähe der Wiederfunft Chrifti. Daß niemand Zeit und 
Stunde diefer Kataftrophe weiß, ift Ahr micht verborgen; aber fie 
ſucht dur die Erwägung der Zeichen der Zeit den Schleier zu 
füften, der dies Geheimnis birgt, fomeit es eben möglich ift. Sie 
ſucht die Zeit der Wiederfunft zu berechnen, freilich nicht nah Tag 
und Stunde, aber nad) den Entwidlungsmomenten, bie noch zu— 
rüctzufegen find, ehe das Antichriftentum ihrer Gegenwart zum 
Gerichte reif geworden. Daraus ergibt fi von felbft, dag die 
ganze apofafyptifche Seite der Weißagung in diefem fpecififchen 
Sinne zu der menſchlichen Form gehört, in welder die göttliche 
Wahrheit in der Schrift auftritt. So gewiß die Wiederkunft Chrifti 
im apoftofifchen Zeitalter nicht eingetreten ift, fo gewiß Können auch 
die apofalyptifchen Combinationen, welche von der zeitgefchichtlichen 
Gegenwart die Brücke zu diefer Zukunft fchlagen follten, nicht un— 
mittelbar durch die Weltgefchichte beftätigt fein. Aber können wir 
denn daran wirklich Anftog nefmen? Iſt hiernach nicht die ganze 





Kpotalyptiicie Stubien. u 


anteftamentfiche Prophetie genau in demſelben Falle wie die alt⸗ 
tfiamentliche? Es iſt für jeden, der nicht in übel angebrachtem 
Eifer für die buchftäbliche Erfüllung des altteftamentlichen Bropheten- 
worts den Buchftaben wie den Sinn deffelben durch Allegoriſiren 
und Spiritualifiren auf's wilffürlichfte mishandeln will, längft eine 
gemachte Thatſache, daß die Propheten des U. T.'s die Heils- 
zuhunft Israels fowie die derfelben vorhergehenden und fie begleis 
teuden Gottesgerichte unter den mannigfaltigften Bildern geweißagt 
hben, deren Farben je nach der gefchichtlichen Conftellation, in 
wider fie weißagen, beftändig wechſeln. Der tieffte Grund davon 
tja auch dort fein anderer, als daß die Propheten die Zeit der 
dollendung unmittelbar nahe glauben und darum die gefchichtliche 
Lerirffihung der überall gleichen Bedingungen, welche zu diefem 
Ziele führen, nur innerhalb ihres zeitgefchichtfichen Horizonte er- 
warten Können. So wenig uns die altteftamentlihe Prophetie da= 
durch entwerthet wird, daß fie ihrer Zeit die Gewißheit der auf 
die Heifgvollendung abzielenden Rathſchlüſſe Gottes nur geben fonnte 
md follte in einer Form, welder die geſchichtliche Entwicklung 
mittelbar nicht entjprach, fo wenig kaun es dem Werth und der 
Olaubwürdigkeit der meuteftamentlichen Prophetie Abbruch thun, 
wenn fie nach der in der geſchichtlichen Situation für fie gegebenen 
ööttfihen Notwendigkeit der apoftolifchen Zeit den Glauben an die 
Birderfunft Chrifti zum Siege über die Macht des Antichriften- 
tms, unter deffen Drangfalen fie feufzte, durch apokalyptiſche 
Gmbinationen ftärkte, denen der Gang der Weltgefchichte unmittel- 
dar nicht entſprach. Es wird darum dod der Entwicklungsgang 
der antichriſtlichen Macht und der Sieg des triumphirenden Chriftus 
über fie fein anderer fein, als fie ihn feiner ewigen Nothiwendigkeit 
nad) geſchaut Hat, wenn auch das große Weltbrama, beffen Abſchluß 
fie bereits mit dem erften Acte erwartete, noch manchen bunten 
Veöfel der Scenerie zeigen wird, bis endlich nad) dem letzten Acte 
wirllich der Vorhang fällt. 

Haben wir uns durch diefe Betrachtung die Bahn frei gemacht 
fir eine unbefangene Erörterung der apofalyptifchen Vorftellungen 
des N. T.'s, fo werden wir nunmehr den Punkt bezeichnen können, 
mit welchem wir uns zunächſt zu befcäftigen gedenken. Es ift 


12 Weiß 


eine in der zeitgeſchichtlichen Erklärung der Apolalypſe faft herr⸗ 
fchend gewordene Annahme, daß ihre apofalyptifchen Combinationen 
ſich unter anderm auf die fogenannte Nero-Sage ftügen. Der Ein- 
ſpruch, welchen ber treffliche Düſterdieck'ſche Commentar dagegen 
erhoben hat, Hat meines Wiffens die Würdigung nicht gefunden, 
die- er verdient, und ebenfowenig feine geiftvolfe und anſprechende 
abweichende Erklärung, die, abgefehen von einzelnen Werbefferungen 
und Näherbeftimmungen, ſich im wefentlihen vollftändig bewähren 
dürfte. Um fo wichtiger dürfte es fein, die Frage noch einmal 
aufzunehmen und etwas eingehender, als es in einem Commentar 
gefchehen konnte, zu erörtern. Es wird uns diefe Erörterung von 
felbft auf die wichtigften Probleme nicht nur der johanneifchen, 
fondern aud der paulinijchen Apokalyptik führen, zu deren Löfung 
wir einen Heinen Beitrag zu geben hoffen. 


1. Die Nero-Sage. 


Obwol das Volk in Rom über die Nachricht von dem Tode 
Nero's jubelte, fo fehlte es doch nicht an folchen, welche ihn zurüd- 
münfchten und fein Andenken auf mancherlei Weife ehrten, indem 
fie feinen Grabhügel mit Blumen ſchmückten und fein Bild auf 
die Roſtra ftellten (Sueton. Nero, cap. 57). Aehnliches geſchah 
nad) Taeit. Hist. I, 78 noch unter Otho, der, um das Volk zu 
gewinnen, das Andenken Nero's ehren zu müffen glaubte; auf 
fagt fhon Galba bei ihm ausdrücklich zu Pifo, Nero werde von 
"alfen Schlechten zurüdgemünfcht, fie beide Hätten dafür zu forgen, 
daß es nicht auch von den Guten gefchehe (I, 16). Beſonders 
unvergeſſen bfieb er bei den Parthern, deren König Volgäfus bei 
einer Geſandtſchaft an den Senat dringend bat, das Andenken Nero's 
in Ehren zu halten (Sueton. 1. c.). 

Was man winfchte, glaubte man bald. Gerüchte verbreiteten 
ſich, daß Nero nicht geftorben fei, fondern noch Iebe (Tac. Hist. 
I, 8); in Rom ſchlug man Edicte von ihm am, wonach er bald 
zurückkehren werde, um an feinen Feinden Rache zu nehmen (Sue- 
ton. 1. c.). Bereits im Anfange der Regierung Otho's tauchte in 
Afien und Achaja das Gerücht auf, Nero fehre zurüd. Ein Sclave 


Apotalyptifde Studien. 13 


ws Pontus, nad) Anderen ein Freigelaſſenet aus Italien, fpielte 
he Rolle Nero’s, bis er von Calpurnius Aſprenas gefangen ge» 
ommen und getübtet wurde (Tac. Hist. II, 8. 9. Dio Cass. 64, 9). 
Ein anderer falfcher Nero, Namens Terentius Maximus, erſchien 
unter Titus in Aſien (Zonaras, Annal. 11, 18), und nod 
manig Jahre nad; dem Tode des wenig über dreißig Jahre alt 
verftorbenen Nero trat ein faljcher Nero auf, der bei den Barthern 
Unterftügung fand und erft, als Domitian mit Krieg drohte, aus⸗ 
geliefert wurde (Sueton. Nero, cap. 57 cf. Tac. hist. I, 2, 
m übrigens nad) II, 8 auch noch von anderen Pfeudo - Neronen 
weh). Noch gegen Ende des erjten Jahrhunderts fagt der Redner 
Bio Chrufoftomns (Or. XXI, 10), daß alle den Nero zurück⸗ 
fegnten, die Meiften auch meinten, daß er noch lebe, obwol er ger 
wiſſermaßen nicht bloß einmal, fondern ſchon oft geftorben ſei, 
wobei er wol auf den Untergang aller Pfendo-Nerone anfpielt. 
Worauf ſich eigentlich jenes Gerücht, wonach Nero noch am Leben 
fein folfte, ftüßte, erfahren wir aus den Hiftorifern nicht, wol 
ober ans den Sibyliinen, wo es in einer jüdijchen Apofalypfe aus 
den Jahren 79/80 Heißt, daß er über den Euphrat geflohen jei, 
und von dorther mit Heeresmacht, alfo mit den Parthern als feinen 
Bundesgenoffen, zurücklehren werde (cf. Oracula Sibyllina, cur. 
(. Alexandre (Par. 1841] IV, 116sq. 137). Daß dies bie 
uſprüugliche Form der Bolfserwartung war, erhellt daraus, daß 
waig Jahre nach der Abfafjung diefes Oralels der legte der uns 
keimnten Pfeudo-Nerone ſich zu den Barthern wandte, um von dort 
über den Euphrat zuritdzufommen und fo der Volkserwartung zu 
eutſprechen. Bemerlenswerth ift aber, daß wir in diefen Nachrichten 
Airgend eine Spur finden, wonach man jic die Wiederkehr Nero's 
als etwas wunderbares dachte, etwa ihn, wie man es gewöhnlich 
darftellt (ogl. no Ewald, Die johanneifchen Schriften [Göttingen 
1862] IT, 10), vom Tode wieder erjtanden glaubte. Da er ſich 
auf der Flucht und nur in Gegenwart weniger den Tod gegeben 
hatte und fein Leichnam feinem Wunſche gemäß fofort verbrannt 
bar (Sueton. Nero, cap. 49), fo blieb es möglich anzunehmen, 
deß man das Gerüdt von feinem Tode nur ausgefprengt Habe, 
um feine Flucht zu ſichern, daß die legten Ehren, welche man 


14 Weiß 


feinen Ueberreſten erwieſen, nur eine Comödie geweſen, und Nero 
in Wahrheit glücklich zu den Parthern entlommen fei. 

Es ift hiernad völlig verfehlt, wenn man der ganzen Nero-Sage 
einen hriftlichen Urfprung hat vindiciren wollen. ° Schon Ewald 
hatte fie aus dem immer ftärferen Einftrömen ber meſſianiſchen 
Erwartungen in die römische Welt abgeleitet (a. a. D., ©. 12; 
dgl. Lücke, Verſuch einer volfftändigen Einleitung in die Offen» 
barung des Johannes [2. Aufl., Bonn 1852] II, 845) und ver- 
muthet, daß Verehrer Nero’s im Gegenfage zu dem Glauben der 
Ehriften an ihren vom Tode erftandenen und zum Siege über feine 
Feinde wiederkehrenden Herrn demfelben eine gleiche Auferftehung 
und Wieberfunft angedichtet hätten, um ihren Glauben zu verfpotten 
und zu dämpfen (S. 14). Noch ausdrüdlicher Hat Baur — nad 
dem Vorgange von Schnedenburger (De falsi Neronis fama, e 
rumore christ. orta 1846; vgl. Jahrbuch f. deutfche Theologie 
1859, ©. 440ff.) — behauptet, die ganze Borftellung von dem ale 
Antichrift wiederkehrenden Nero habe fich zuerft bei den Chriften 
gebildet in Folge des Eindruds der neronifchen Chriftenverfolgung 
und fei von ihnen zu den Römern übergegangen, bei weldhen das 
ganze phantaftifche Wefen Nero’, das Excentriſche, Chimärifche, 
Coloſſale feiner Erſcheinung einen Anfnüpfungspunft geboten habe 
(Theol. Jahrb. 1852, ©. 327ff.). Man beruft fi darauf, daß 
nah Sueton die mathematici dem Nero geweißagt hatten, er 
werde zwar in Rom abgejegt werden, aber im Morgenlande auf's 
neue die Herrfchaft gewinnen und zwar befonder8 das regnum 
Hierosolymorum (Nero, cap. 40; vgl. ſchon Lüde a. a. O.). 
Möglich, daß, ähnlich wie fpäter Joſephus dem Vefpafian gegen» 
über, ſchon früher jüdifche Schmeichler, an denen es wohl im Kreife 
der Poppäa nicht fehlte, die jüdifche Meffinshoffnung auf Nero 
deuteten ; aber darans folgt doch nicht, daß irgendwo fonft während 
feiner Lebenszeit die Perfon des Nero an fich geeignet ſchien, in 
apofalyptifche Gombinationen Hineingezogen zu werden. Ganz un 
wahrſcheinlich vollends ift e8, daf Nero felbft, der im unbeftrittenen 
Befig der Weltherrſchaft war, auf folche Orakel irgend einen Werth 
gelegt Haben follte, und wenn man fich zum Beweife dafür darauf 
beruft, daß Nero nad Tac, Ann. 15, 36 geheime Pläne in. Be- 


Apotalgptifcie Studien. 18 


treff de8 Orient im Schilde geführt haben ſoll, fo ift überfehen, 
daß die secretae imaginationes in biefer Stelle gar nicht auf 
Paläftina, fondern zunächſt auf Aegypten giengen und fi wahre 
ſeinlich Lediglich darauf bezogen, daß er fich auch hier als Künftfer 
probueiren wollte. Daß er, als feine Sade verfpielt war, noch 
um die Präfectur Aeghptens bitten wollte (Sueton. Nero, cap. 47), 
hat natürlich mit diefer Frage gar nichts zu thun. 

Bas aber foll num aus alledem gar für den hriftlichen Urfprung 
tn Nero» Sage folgen? Daß die falfchen Neronen im Morgen» 
(uk auftreten, erklärt ſich ja natürlich nicht daraus, daß es dort 
te Chriften gab, fondern daraus, dag das Gerücht ihn dorthin 
atogen fein ließ. Wie aber eine in criftlichen Kreifen entſtan⸗ 
ke Vorſtellung fo bald nach feinem Tode und fo nachhaltig die 
hidniſche Bevölkerung des Romerreichs in Mitleidenfchaft zichen 
ſolle, ift nicht nachgewieſen und kann nicht nachgewiefen werden. 
Da wir und aber überzeugt haben, daß die ältefte Form der Sage 
don einer Auferftehung und wunderbaren Wiederkehr Nero’s nichts 
ih, fo ift zu einer foldhen Ableitung weder Raum noch Anlaf 
torfanden. Wir Haben es hier mit einem echtrömiſchen Volks— 
grüßt zu thun, das in dem Maße, als das Schredensregiment 
Rro’g überall einen tiefen Eindruck hinterlaſſen Hatte, in den Pro- 
üinen ſich raſch verbreitete und jo auch die Phantafie der Apofa- 
(ptifer zu befchäftigen begann. 

Undeftreitbar nämlich Hat fich die jüdische Apofalyptif der ſo⸗ 
unten Nero-Sage ſchon früh bemächtigt. In dem bereits er- 
dihiten jübifchen Orakel aus den Zahren 79/80, alfo zu einer 
Zit, wo Nero recht wohl, wenn er nur geflohen war, nod am 
“en fein konnte, fieht der Apofafyptifer in dem Ausbruch des 
ins das Anzeichen des göttlichen Strafgerichts über den Occident, 
im welchem aus das Verderben über das Heilige Land und den 
Iampel in Jeruſalem gekommen war. Nach der altprophetiſchen 
Yet, wonach die Organe des göttlichen Strafgerichts zuletzt ſelbſt 
am Strafgericht verfallen, wird dies Gericht durch den Flüchtling 
m Rom, den Muttermörder, der über den Euphrat geflohen ift, 
Ylitreft und, nachdem in ihm die Sünde den höchſten Gipfel- 
vaft erreicht Hat, tritt der Weltuntergang und das Weltgericht 


16 Weiß 


ein. Noch deutlicher erſcheint Nero in der Rolle des dauieliſchen 
Antihrift in dem in die erfte Zeit Hadrians gehörigen fünften Buche 
der Sibyllinen. Auch hier wird er wiederholt als der Muttermörber 
bezeichnet (V. 142. 363), der die Hand gegen das eigene Geſchlecht 
erhebt (V. 30), der aus Rom mit Lift flieht (W. 215. 143) und 
nun als Flüchtling von den Grenzen der Erde kommt (B. 363), 
von ben Parzen Herbeigeführt (B. 216), um mit den Medern und 
Perfern, zu denen er entlommen (®. 146—148 vgl. B. 100), 
gegen das ihm verhaßte Volk zu ziehen (V. 148) und Rom ein- 
zunehmen (3.366). Bei diefer Rücklehr erſcheint er, wie der da- 
niefifche Antiochus Epiphanes, als ſich Gott gleich machend (B. 33. 34) 
und auf dem Gipfel feiner Macht zieht er gegen die Stadt der 
Seligen herauf, wo ihn der Meffias vernichtet (®. 105—109). 
Auch Hier nöthigt nichts über die urfprüngliche Geftalt der Nero- 
Sage hinauszugehen. Es liegt aber in der Natur der Sache, daß 
zu einer Zeit, wo eine natürliche Nüdkehr des geflohenen Nero 
bereits durch die gewöhnliche Grenze menſchlichen Lebens zur Un- 
moglichleit zu werden begann, die einmal überfommene und darum 
feftgehaltene Vorftellung ſich immer phantaftifcher geftaltete, immer- 
mehr daher jene Wiederkehr in eim übernatürliches Licht trat und 
fo allmählich Raum gemacht wurde den Untergang Nero’s als 
wirklichen Tod zu denken *). 


3) Dennod) ift die Stelle B. 866: 75 z&gıv Gaero 7’ aurds gewiß nit in 
diefem Sinne zu verfichen, da eben in bemfelben Zuſammenhange B. 363 
noch ganz auf die urſprüngliche Form der Sage weil. Höchſtens die ſehr 
dunkle Stelle B. 410—412 ließe an wirklichen Selbſtmord denlen. Da- 
gegen ift die Vorftellung von einem wunderbaren Verſchwinden oder Wieder- 
erſcheinen Nero’8 dem Verfaſſer noch Teinesfalls zum Bewußtſein gekommen. 
Wenn es V. 33 Heißt, der Unheilfifter werbe dioros fein, fo brancht das 
noch nichts anderes zu bezeichnen, als wenn e8 IV, 117 heißt, er werd 
ägavzos &nvoros über den Euphrat fliehen und fo plöglid vom Schau-) 
platz verſchwunden fein, und wenn e8 V, 216 heißt, daß die Parzen over, 
uereugov Eus Ealdwei re ndvres, fo bildet das eben nur den Gegenſa 
dazu, indem der einft Verſchwundene durch des Geſchickes Macht wiede: 
auf eine allen fichtbare Höhe erhoben wird. Bon einem munberbare: 
Wiederaufleben ift jedenfalls nirgends bie Rede; eine Beziehung auf Dir 
johanneiſche Apolalypje und ihre auf Nero gedenteten Bilder zeigt für 


Apolalyptiſche Studien. 17 


Endlich kommt noch das erſte Stück des achten Buches der Si- 
billinen in Betracht, das aus dem Ende der Regierung Marc 
Autels herrührt. Hier zeigt ſchon V. 71, wo faft wörtlich V, 363 
viederfehrt, daß die einmal ftereotyp gewordene Vorftellung bes 
wiederfehrenden muttermörderiſchen Flüchtlings aus ben älteren 
Drateln ohne felbftändige Fortbildung reproducirt wird. Daher 
fommt er auch Hier aus Afien (®. 154), wo er in verborgenem 
Hinterhalt Tauert, zieht mit großer Heeresmacht nach Rom, um bie 
Stadt zu zerftören (V. 146. 147), und wird, nahdem Pam zur 
un geworden (8. 165), famt feinen perfifchen Bundesgenoſſen 
(8.167) von der Strafe für feine Blutſchuld ereilt (V. 157—159), 
herauf die Herrſchaft des Meſſias beginnt (W. 169 ff), Die 
jüdiſche Apokalyptik Hat ſich alfo durchweg an die urjprüngliche 
dorm der Sage gehalten und die auf Grund derfelben ausgeprägte 
dorſtellung auch dann noch einfach fortgeführt, als ihr durd bie 
weiter vorgerückte Zeit jener Grund unter den Füßen entfchwunden 
dar, — ein Beweis mehr dafür, daß diefelbe über feine andere 
Motive gebot, als die wir in dem heidniſch-römiſchen Urfprung 
dr Sage gegeben fahen *). 


niegende. Selbſt Baur ſpricht fid) (a. 0. D., &. 321. 322) darüber ſehr 
waſelheft aus, obwol aud) er noch behauptet, daß überall Nero ale 
Chriſtenverfolger erſcheine. Dies ift aber arakterifiiich genug nirgends 
der Fall. Ueberall werden nur feine Greuelthaten überhaupt, insbeſondere 
fin Muttermord und höchſtens noch der Verſuch zur Durchſtechung des 
Iſhmus als Kennzeichen feines alle natürlichen und fittlichen Grenzen 
überjchreitenden Gebarens erwähnt. Zumeilen erſcheint er auch als der 
eigentliche Urheber ber unter feiner Regierung durch feinen Feldherrn Veſpaſian 
begonnenen Unterwerfung des heiligen Landes. Dies ift eben der bdeut- 
lichſte Beweis, daß diefes ſibylliniſche Orakel rein judiſchen Urfprungs iſt. 
4) Der judiſche Urſprung des zuletzt beſprochenen Stückes iſt freilich nicht fo 
ſicher wie der der früher beſprochenen Stücke, doch dürfte dasſelbe wol 
böchftens bei ber Vereinigung mit dem folgenden chriſtlichen Abſchnitten 
dieſes Buches eine judenKriftliche Umarbeitung erfahren Haben. Daraus 
würden fi) daun auch die Anfpielungen an die johanneiſche Apofalypfe 
erflären, die man bier gefunden Haben till. Doqh berühren biefe die 
Gtüde derfelben, die auf Neco gedeutet werden, nicht, und das Ing ueyas 
G. 157) erſcheint im Folgenden als Löwe gedacht in einer bildlichen Dar- 
felung feines Untergang®, die in feiner Weife an die Apokalypfe erinnert ; 


Vol. Stub, Jahrg. 1869, 2 


18 Weiß 


Ganz anders geſtaltet fi die Sache in der einzigen ſelbſtäudigen 
chriſtlichen Apofalypfe, in der unbeftreitbar die Nero-Geftalt auftritt, 
in der ascensio Jesajae aus dem zweiten oder dritten Jahrhundert. 
Hier ift nicht mehr wie in den Sibyllinen von dem geflohenen 
ober wiederfehrenden Nero die Rede, überhaupt nicht von der Perfon 
Nero's, fondern der Fürft diefer Welt, Beliar, tritt felbft am 
Ende der Tage auf in der Geftalt eines gottlofen Königs, des 
Mörders feiner Mutter, und fpielt dann die Rolle des Antichrift, 
die mit unverfennbarer Anlehnung an Daniel ausgemalt wird. 
Hier wird alfo die Nero-Geftalt, und zwar wie fie durch die fibyl- 
liniſche Apokalyptik bereits feite Umriffe gewonnen Hatte, Tediglih 
zum Typus, nad welchem die Erfheinung oder die letzte Incar⸗ 
nation des Teufels ſelbſt gedadht if. Eine Anlehnung an bie 
Nero-Sage findet fo wenig ftatt, wie eine Umbildung berfelben. 
Früheſtens am Ende des dritten Jahrhunderts begegnet uns eine 
ſolche Umbildung der Nero-Sage in die Geftalt, welche fie annehmen 
mußte, wenn man die überfommene Rolle, welche die Perſon Nero's 
in dem großen eschatologifchen Drama fpielen follte, fefthalten wollte, 
trogdem daß jede Möglichkeit geſchwunden war, an die urfprüng- 
liche Form der Sage anzufnüpfen. Nachdem mehr als zwei Jahr 
Hunderte feit dem Sturze Nero's verfloffen waren, konnte man 
denfelben natürlich nicht mehr als Flüchtling aus Afien wieder: 
kehrend denfen, er mußte von Gott wieder auferwedt fein, um al 
Antichrift zu erfcheinen. In diefem Sinne hat allerdings der Com⸗ 
mentar des 303 in der diocletianifchen Verfolgung geftorbenen Vie 
torinus don Petabio, deſſen Echtheit und Integrität übrigens. Teined- 
wegs gefichert ift (vgl. Lücke a. a. O., ©. 973), den Antichrift 
der Apofalypfe gedeutet (vgl. ebend., S. 976); aber felbft wenn | 
diefe Deutung wirklich von ihm herrührt, fo fteht er damit noch 
ganz allein in feiner Zeit. Merkwurdig genug ift es, daß .bald 

» darauf Zactantius die Sage von dem wiederfehrenden Nero nur 


die Erſcheinung, daß ältere Vorſtellungen in neue Anſchauungskreiſe mit 
Herübergenommen. werben, in denen fie eigentlich feinen Boden mehr Haben, 
iſt in der apofafyptifchen Literatur ſehr häufig, und namentlich in den Si- 


| 
Doflinen werden ältere Orakel oft genug im folder MBeife zeprobuchtt. | 


Apolalyptiſche Gtubien. » 


aus den Sibyliinen herleitet und als einen umfinnigen Wahn ver⸗ 
wirft, weil dabei an ein Jahrhunderte langes Leben Nero's gedacht 
werden müffe (De morte persec., cap. 2): Hieraus erhellt, daß 
auch er noch nur die urfprüngliche Form der Sage im Blicke Hat, 
an eine Wiederbelebung des geftorbenen Nero noch gar nicht benft. 
Sollte alſo vor ihm Victorin in diefem Sinne die Apofalypfe ger 
deutet haben, fo Hat er nicht etwa diefelbe aus einer bereits vor⸗ 
handenen Umbildung jener Sage erklärt, fondern ift durch feine 
Deutung der Apofalypfe auf Nero genöthigt worden, derſelben dieſe 
ne Wendung zu geben. Lactanz aber denkt auch nicht einmal 
daran, daß man den wieberfehrenden Nero für den johanneifchen 
Antihrift Halten Tönne — von dem er überhaupt in diefem Zu- 
ſammenhange gar nicht redet —, ſondern er eifert nur dagegen, 
daß man ihm nicht etwa fir den Vorläufer des als Antichrift er- 
ſcheinenden Teufels Halte. Und wirklich findet ſich diefe Borftellung, 
wonach Nero keineswegs der Antichrift, fondern nur ein Vorläufer 
desſelben ift, noch in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts 
bei Martin von Tours (geft. 397), welcher den Nero im Occident 
bereichen Täßt, während der eigentliche Antichrift ale Pſeudo-Meſſias 
fi im Orient etablirt und von dort aus durch Beſiegung Nero’s 
die Weltherrſchaft erlangt (vgl. Sulp. Sever. dial. s. bei Schnecken⸗ 
burger in den Jahrbüchern f. d. Th. 1859, ©. 427). Erſt bei 
Anguftin finden wir die Vorftellung erwähnt, daß einige ben wieder« 
krenden Nero als den Antichrift erwarten, fei e8 nun, baf er 
nieder auferweckt (wie bei Victorin) oder wunderbar in voller Les 
benskraft erhalten ſei (wie bei Sactanz) bis auf bie Zeit feines 
Biedererfcheinens (De civit. dei XX, 19, 3). Er weiß aber 
Aue diefe Sage auf eine verkehrte Deutung von 2Theſſ. 2 zurück⸗ 
Anführen, bei welcher Stelle auch Hieronymus, ohne übrigens der 
Sage zu erwähnen, an Nero denkt (ad Alg. quaest. XI), während 
er bei der Stelle Dan. 11, 28 erwähnt, daß viele den Nero für 
den dort geweißagten Antichrift hielten. Bei Sulpicius Severus 
endlich finden wir die Stelle Apof. 13, 3 von der geheilten Todes⸗ 
wunde ausdrücklich auf Nero bezogen, der fich felbft (wie man 
glaube) entleibt Habe, aber wunderbar geheilt ſei, um als Antichrift 
am Ende. der Welt wieberzufommen (Hist. s. ed. Horn [Lugd.Bat. 
2* 


20 Weiß 


1647] II, 373). Hier Hat alſo die Deutung der Apokalypſe nicht 
wie bei Victorin auf eine Auferwedung, fondern auf eine wunder» 
bare Heilung des am Lehen erhaltenen Nero geführt. Jedenfalls 
ift eine wirkliche Umbildung der Nero-Sage vor dem vierten Jahre 
Hundert nicht conftatirt, und auch da tritt fie in verfchiedenen Ges 
ftalten auf, die alle aus dem Verſuche hervorgegangen zu fein 
feinen, die aus der jüdifchen Apokalyptik überkommene Nero-Geftalt 
zur Deutung der apofalyptifchen Vorftellungen des N. T.'s zu 
verwerthen. 


2. Die paulinifhe Apofalyptik, 


Innerhalb des N. T.'s meinte man zunäcft in 2Theſſ. 2 eine 
apofalyptifche Verwerthung ber Nero-Sage gefunden zu haben, wor⸗ 
aus ſich dann freilich die Unechtheit diefes Briefes von felbft ergab. 
Der dort mit allen Farben des danielifchen Antichrift gezeichnete 
Menſch der Sünde follte der wiederfehrende Nero fein, ben für 
jetzt noch Veſpaſian und fein Sohn Titus aufhalte (vgl. Kern in 
der Tübinger Zeitfchr. f. Theol. 1839, IT). Es liegt aber auf 
der Hand, daf in jenem Bilde fein Zug vorkommt, ber mit irgend 
einer zivingenden Nothwendigkeit auf die Nero- Sage führt. Wir 
haben hier die Schilderung der legten Perfonification des gottfeind- 
lichen Principe, wie fie feit Daniel in der apofafyptifchen An— 
ſchauung ftehend geworden; wenn aber die Realifirung derjelben in 
dem wieberfehrenden Nero in den Blick gefaßt wäre, fo würden 
die Farben dazu doch im irgend einem Punkte von der gefchichtlichen 
Nero-Geftalt entlehnt fein, wie es überall in den Sibyllinen gefchieht. 
Nicht einmal als Chriftenverfolger aber wird diefelbe gefchildert. 
Dazu kommt, daß der zarexwv hierbei gar nicht erklärt ift. Denn 
das ift ja Feine Erklärung, wenn man fagt, Veſpaſian und Titus 
feien der xarexwv; e8 müßte doch in der Darftellung irgend ein 
Motiv nachgewieſen werden, woher gerade diefe Kaifer als das 
Wiederaufkommen Nero’s und die damit eintretende Vollendung ber 
Gottloſigkeit Hemmend gedacht find. Kehrt einmal Nero mit fate- 
niſchen Kräften ausgerüftet wieder, fo fann das jo gut zu Veſpaſians 
Zeit, wie zu jeder andern Zeit gefchehen; Vefpafian hemmt fein 
Kommen nicht, oder wenn er es thut, fo ift nicht abzufehen, warum 


Apolalyptiſche Studien. 21 


nicht feine Nachfolger es ebenfo hemmen. Daß hiermit ein Haupt» 
zug in dem apofalyptifchen Gemälde unerffärt bleibt, hat aud Baur 
überjehen; dagegen ſcheint er gefühlt zu Haben, daß die Beziehung 
des Menfchen der Sünde auf Nero, für die im Contert jeder An« 
halt fehlt, aus der gejchichtlichen Situation des Briefes motivirt 
werden müſſe. Er nimmt daher an, daß derfelbe gefchrieben fei, 
als das Gerücht von dem erften Pfewdo- Nero Aſien und Achaja 
— und alfo wol auch Macebonien — beunruhigte (Tac. hist. II, 
8.9f. 0.) und bie Chriften daraufhin nun die Parufie Ehrifti 
unmittelbar erwarteten, um vor ähnlichen Täufchungen zu warnen 
(vgl. Theol. Jahrb. 1855, ID). Es erhellt, daß diefe Annahme 
dorausſetzt, was wir oben auf’8 beftimmtefte Teugnen mußten, daß 
die Sage von der Wiederkehr Nero's unter den Chriften entftanden 
mar und daß man von vornherein in dem miederfommenden Nero 
den Antichrift erwartete. Aber auch abgefehen davon lehrt ein Blick 
af 2Theſſ. 2, 2. 3, daß die Situation unferes Briefes die gerade 
entgegengefeggte ift. Nicht daß man eine beftimmte gefchichtliche 
Erſcheinung irrrümlich für den Antichrift gehalten und darum bie 
Parufie fo nahe geglaubt Habe, wird gerügt, fondern daß man die 
Barufie fo unmittelbar nahe erwarte und darliber vergeffen zu 
haben fcheine, wie doch der Wiederkunft Chrifti erft die Paruſie des 
Intirift vorausgehen mitffe, in dem die dvopla, die jegt erft in 
ihten geheimen Anfängen wirfe, ihren höchſten Gipfelpunft erreiche. 
Neuerdings hat Hilgenfeld (Zeitfchrift für wiſſenſchaftl. Theo» 
bogie 1862, III) die Beziehung diefer apofalyptifchen Schilderung 
auf die Nero-Sage wieder aufgenommen, indem er den Brief in die 
Lit Trajans verlegt; aber er hat auf diefem Standpunkte noch 
weniger vermocht, die einheitfiche Conception derfelben zum Ver—⸗ 
fändnie zu bringen. Wenn die drrooraote und dvouie der 
Abfall zur gnoftifhen Serfehre ift, wie fol dann aus jener nad) 
2,3 die Wiederkunft Nero's hervorgehen und biefe nad) 2, 7. 8 
in ihm gipfeln? Wenn der Beftand des Römerreichs und fein 
itweiliger Inhaber Trajan der xarsywv ift, wie ſoll dann dasfelbe 
Rmerreich in feinem Nero redivivus die höchſte Vollendung des 
Intihriftentums erzeugen? ft es doch ein Widerſpruch, ber 
dieje ganze Combination aufhebt, daß Trajan, auf deſſen anhaltende 


2 Weiß 


Chriſtenverfolgung 1, 4ff. gehen ſoll, und in dem ſomit das Romer⸗ 
reich fich bereits als antichriſtlich gezeigt Hat, bie Vollendung des 
Antichriftentums aufgalten ſoll. " Hat fi alfo der Verſuch, die 
apokalyptifche Anfchauung des zweiten Thefjalonicherbriefes aus der 
Beziehung auf die Rero-Sage aufzugellen, in allen bisherigen 
Formen als unhaltbar erwiefen, fo wird es erlaubt fein zu ver⸗ 
fugen, ob diefelbe ſich nicht unter Worausfegung der Echtheit des 
Briefes, gegen die fonft nichts erhebliches vorliegt, befriedigender 
erflären Täßt. Es kann nicht unfere Abficht fein, das Gewirr von 
Auslegungen, das fih um diefe Stelle angefammelt hat, einer 
Kritik zu unterwerfen; wir gedenken nur kurz zu zeigen, wie eine 
methodifche Erklärung unferer Stelle von allen Seiten her auf den 
bereits von Schnedenburger (vgl. Jahrb. f. d. Theol. 1859, III) 
gewiefenen Weg Hinführt. 

Mafgebend für die Vorſtellung des Apoftels ift zunächſt dies, 
daß er 2, 3 die Offenbarung des Menfchen der Sünde nur ale 
die Vollendung desjenigen betrachtet, was er als den Abfall ſchlecht- 
hin bezeichnet (j aroozaote), der vor der Wiederkunft Chrifti 
eintreten muß. Bon einem Abfall aber kann auf dem Gebiete des 
Heidentums, das Gott nicht einmal kennt (1, 8), geſchweige denn 
ihm dient, felbftverftändfich nicht die Rede fein. Bon einem Abfall 
innerhalb des Chriftentums wiſſen unfere Briefe nichts und können 
diefelben, da fie an eine junge Chriftengemeinde geſchrieben find, 
noch nichts wiffen. ‚Wollte man aber auch daran denken, jo müßte 
dann der Antichrift felbft aus den abtrünnigen Chriften hervorgehend 
gedacht fein, wofür die folgende Schilderung desfelben auch nicht 
den geringften Anhalt biete. Es kann alfo nur der Abfall des 
gudentums gemeint fein, und da dieſes fpeciell durch das Geſetz 
Gott verpflichtet war, fo ift der charafteriftifche Ausdrud für diefen 
Abfall die Avonie (2, 7), der Repräfentant desfelben der Evonos 
(2, 8). Die Behauptung, daß der Begriff der dvouie nothwendig 
auf heidniſche Gottfofigkeit hinweiſe, ift durchaus unbegründbar 
(ogl. 3. B. Matth. 23, 28. Hebr. 1, 9; 8, 12; 10, 17). Viel- 
mehr Tonnte den auf ihr Geſetz pochenden Juden ihr gottfeindliches 
Weſen nicht vernichtender vorgehalten merden, als wenn dasſelbe 
als dvople darakterifirt wurde. Wenn num der Apoftel 2, 7 


Apolalyptiſche Studien. 28 


fügt, daß das Geheimniß der dvonia, d. h. die in ihrer endlichen 

Bollendung noch verborgene Gottfeindſchaft, doch bereits in Wirk 

famteit fei, fo ann dabei nur an eine feindfelige Gegenwirkung 

gegen das Ehriftentum gedacht werben, die ihm in feiner bisherigen 

Niffionswirffamkeit entgegengetreten war. Eine ſolche Hatte er 

aber bisher nur von Seiten der Juden erfahren. In Serufalem 

woren die erften Märtyrer gefallen, nur bei den Juden konnte ihre 

Unglaube und Widerftand gegen die Verkündigung und Forderung 

eines Gottgefandten, der von ihrem Gott legitimirt war, als fträfs 

licher Ungehorfam (1, 8), als avonia qualificirt werden. Wäh- 

td aber die Urgemeinde in Jeruſalem durch ihr treues Feſthalten 

an dem väterlichen Gefege den Widerwillen ihrer Volksgenoſſen 

gegen die Anhänger des auf Anlaß des Sanhedrin gefreuzigten 

Nazareners entwaffnete, richtete ſich der ganze Haß des fanatiſchen 

Judentums gegen den Berkündiger eines Evangeliums, das bie 

Heiden vorzugsweiſe zu Trägern der meſſianiſchen Zufunftshoffnung 

erhob und fie zugleich vom mofaifchen Gejege freiſprach. Won 

dem Beginn feiner Miſſionswirkſamkeit an hatte Paulus durch die 

Berfolgungen ber Juden zu Teiden gehabt (Act. 9, 23. 24 vgl. 

2or. 11, 32. 33. ct. 9, 29; 13, 8. 45). Wo fie felbft 

feine Macht Hatten, wiegelten fie die heidniſche Bevölkerung gegen 

ihn auf (Act. 13, 50; 14,2. 5. 19) oder verffagten ihn bei den 

Behörden. Gerade in Theſſalonich war er durch einen von ihnen 

angeftifteten Pöbelaufftand genöthigt worden, die Stadt zu verlaffen 

(&t. 17, 5—9); von dort waren fie ihm nad Berda nadje 

geihlichen und hatten ihm gezwungen, feine kaum begonnene Wirk- 

famfeit wieder zu verlaffen (17, 13. 14). Auch in Korinth fitt 

er fortgehend® unter den Anfeindungen feitens der Synagoge (18, 6 

dgl. 1THeff. 3, 7), und vielleicht lag die Erfahrung ſoeben Hinter 

ihm, wie der Synagogenvorſtand auch hier ihn beim Proconſul 
verffagt und feiner Wirkfamfeit ein Ende zu machen gefucht hatte 
(Ad. 18, 12—17). Sie waren die dromos xal mövngol dv-" 
Igwreor, durch welche der Satan ſchon fo vielfach feine Schritte 
gehemmt Hatte (1 Theſſ. 2, 18), von denen errettet zu werden fir 
ihn die Bedingung einer ungehemmten Wirkſamkeit des Wortes 
Gottes ift (2Theſſ. 3, 1. 2). 


4 Bei 


Aber and) in anderer Bezirfung hatte der Apoftel die Feindſchaft 
der Juden zu foften befommen. Es ift unbegreiflh, wie man es 
hat verfennen fönnen, daß die Grörterungen im 1 Theff. 2 feine 
gemũthlichen Herzeneergieungen find, jondern eine ſchr beftimmte | 
apologetiſche Abfiht Haben. Dies haben mit vollem Rechte ſchon 
Lipfins (vgl. Studien u. Krit. 1854, IV) und v. Hofmann | 
(Die Heilige Schrift R. T.'s J. Rörblingen 1862) geltend gemadit. 
Man hatte den jungen, noch unbefeftigten Cpriften einzureden gefucht, 
fie fein von ſchlauen, cehrgeizigen und felbitjüdtigen Betrügern 
irregeführt und jegt, nachdem fie fi) dadurch die unvermeidliche 
Zeindſchaft ihrer Vollsgenoſſen zugezogen, im Stiche gelajfen. Die 
ſich mit ſolchen Berleumdungen an die nene Gemeinde Heran- 
drängten, waren natürlich nicht ihre heidnifchen Vollsgenoſſen, jon- 
dern die Volfsgenoffen jener angeblichen Betrüger, und da von 
judaiftiſchen Gegnern in diefer Lebensperiode des Apoftels noch 
keine Spur fich zeigt, fann man nur an jene felben fanatifchen 
Juden denken, die jetzt feine eigene Geimeinde gegen den Apoftel 
aufwiegeln wollten. Dies hat noch jüngft Hilgenfeld (Zeitfgrift 
für wiſſeuſchaftliche Theologie 1866. III, 296F.) mit Recht an 
erfannt. Der fchlagendite Beweis dafür ift der Abſchnitt 1Theſſ. 
2, 14—16, ber darum oft den Ausfegern fo fremdartig erſchien, 
weil ſie ſich nicht in die geſchichtliche Situation des Briefes lebendig 
genug Hineinverfegt Hatten. Mitten in feiner Selbftverteidigung 
bricht der ganze heilige Zorn des Mpoftels gegen diefe nngläubigen | 
Juden los. Wie fie einft die Propheten gemordet haben, fo Haben | 
fie den Herrn felbft getöbtet, wie fie die Gemeinden in Judäa 
verfolgt Haben, fo verfolgen fie den Apoftel und feine Gefährten, 
wie fie Gott mißfallen, fo find fie allen Menfchen zumider, indem 
fie die Heidenmiffion und damit die Errettung der Heiden durch 
die Predigt des Evangeliums zu hindern trachten. So fucen fie 
das Maß ihrer Sünde voll zu machen, während der Zorn Gottes 
doch ſchon im hochſten Maße auf fie herabgekommen ift. Belannt- 
lich findet ich feine ähnliche Diatribe gegen die Juden in allen 
panlinifchen Briefen; aber die an bie Theſſalonicher find auch die 
einzigen Denkmäler einer Lebensperiode des Apoftels, in welcher 
er noch mit feinem innerchriſtlichen Gegenfage, fondern nur mit | 





| 


Apolalyptiſche Studien. 25 


dem ungläubigen Judentume zu Tämpfen hatte. Es war bie Per 
riode der fhärfften Spannung zwifhen ihm und feinem Volke, 
das den abtrnnigen Vorfämpfer des Chriftentums mit dem wil- 
beften Fanatismus verfolgte. 

Gieng das Judentum auf diefem Wege fort, jo war das Ende 
feiht vorauszufehen. Die immer feindfeligere Verſtockung gegen 
die Verkündigung des wahren Meſſias mußte endlich zum völligen 
Abfall von dem Gotte führen, der ihn gefandt hatte. Jetzt eiferten 
fe um Gott mit Unverftand, der verborgene Kern dieſes Eifers 
ober war Ungehorfam gegen Gott und feinen Willen. Wenn die 
fo noch verborgene Sünde der dvonia erft ganz fich ausgewirkt hatte, 
dann konnten fie nur noch den Weg einfchlagen, auf welchem ihr 
principieller Bruch mit Gott und feinem Willen ganz offen zu Tage 
trat. Die vollendete Verſtockung des Volkes gegen den wahren 
Meſſias war der vollendete Abfall von Gott, und bie letzte Offen- 
barung desfelben konnte nur noch darin beftehen, daß man ihm fein 
fügnerifches Abbild gegenüberftellte. Schon Jeſus hatte das Aufr 
treten falſcher Meſſiaſſe geweißagt (Matth. 24, 23. 24), im nächften 
Anfhlug daran denft Paulus den Menfchen der Sünde als den 
vſeudo⸗Meſſias. Der aus dem Abfall des Judentums fich erhebende 
Menſch der Sünde (2, 3), in welchem das Geheimnis der dvoua 
zur volfften Offenbarung und Machtentfaltung kommt (2, 7), kann 
mr felbft ein Jude fein und nicht ein römijcher Kaiſer. Wenn 
man die Schilderung dieſes Widerfahers (2, 4) aus der Selbft- 
wotheofe der römifchen Kaifer erklären wollte, fo überfah man, 
deß diefe Schilderung fih an Dan. 11, 36ff. anlehnt und auf 
den Pfeudo-Mefftas vortrefflich paßt. In dem Meſſias follte Gott 
felbft zu feinem Volke kommen (Luk. 1,17. 76); eine Anmaßung 
der Meffiaswürde war darum nichts geringeres als blasphemifche 
Anmaßung göttlicer Würde und Verehrung (vgl. Mark. 14, 64), 
die felbft vom heibnifchen Standpunkte aus als Frevel wider alles, 
was Gott Heißt, und jeden Gegenftand göttlicher Verehrung erſcheinen 
mußte. Schon darin, daß er fich im Tempel zu Jeruſalem nieder 
läßt, um feine göttliche Würde zu erweiſen, erhelit, daß mur an 
einen jüdifchen Pfendo-Meffins gedacht werden kann, da dies voraus- 
feßt, daß er ſelbſt in dem Tempel die Wohnftätte Gottes ſieht. 





wer ver une Deine zur dis Ger 

wen: 7 eo m TI er nt Den ummide Wunder 
am mr wı are zır Zeig amigerüfber jein. 
ie 1 IE Smıe Sıfmmreioftmung zufe arfgeben, 
mie ve 23 jener zuge de neren: Eee Veſnas 
fr muiſſe In zum Geier Ier jonider Rmekrire machen. 
Bar: vw Wenger fus me "ner her Erz mei, fo lag 










——e— Km Rise Chrifti ent- 
sr ma tr re Diperlanjt Chriſti 


gr ra an # vellsumen, was Paulus unter dem 
bumsen 16 zeregor dentt, das dirie Irhte Entwidlung 
ws qasle: a Teiens roh auihelt. In dem Maße als das 
Anam im großen und ganzen ſich feindlich gegen das Evan- 
grum verfhloiten Hatte, Hatte das Heidentum fi dem Apoftel 
anf feinen Wliffionswegen willig und empfänglich gezeigt. Natürlich, 
mer ihm auch Hier Unglanbe und Ungehorfam begegnet, die Heiden 
hatten feit dem Beginn feiner evangelifhen Predigt in Theſſalonich 
ihre glaublg gewordenen Volksgenoſſen vielfach verfolgt umd bebrängt 
hell, 1,65 2, 145 3, 3. 4 vgl. 2Theſſ. 1, 4. 6), aber ein 
veincipleller Widerftand war ihm von Seiten der Heiden nie ent« 








Apotafgpifie Studien a7 


orgengetreten. Wo der heidniſche Pöbel zu Feindſeligkeiten überging, 
ta war er von den fanatifchen Juden aufgehegt worden; aber bie 
tämifche Nechtsordnung hatte fih immer noch als der befte Schug 
degegen erwiefen. Schon die Hinrichtung Jeſu war von dem jit- 
digen Sanhebrin dem nachgiebigen Procurator nur abgetrogt worden, 
hie md da Hatten fi wol römifche Behörden auch fonft dem 
Andringen der jüdifchen Bevölkerung mehr oder weniger gefügt 
(16, 22. 23), aber noch jüngft hatte der Proconful von Achaja 
die Juden mit ihrer Anklage gegen den Verbreiter einer religio 
ileita einfach abgewieſen (Act. 18, 16. vgl. 17, 9; 16, 37. 39). 
Br wiffen aus dem unter Nero gefchriebenen Nömerbriefe, wie 
Paulus die beftehende römifche Staatsordnung trog der großen Ge⸗ 
brechen ihrer Träger nicht nur für eime göttliche Ordnung hielt, 
ſondern auch für eine, die im großen und ganzen Recht und Ge— 
techtigleit handhabte (13, 3. 4). Vollends aber ber jüdischen Res 
volution ftand die römifche Staatsorbnung noch immer als ein 
ſceinbar unüberwindliches Hemmnis entgegen. Es kann feine Frage 
ftin, dag die alte Erklärung des xarsgov von der römiſchen Staats⸗ 
ordnung die einzig richtige ift, zumal fi fo am einfachften der 
Wechſel des Masculini und Neutri erflärt, da man diefe eben- 
ſowol an fich, wie in ihrer jeweiligen Spige, dem Kaifer, in den 
Bd faſſen konnte. Erſt wenn die pfeudomeffianifche Revolution 
dieſes Teßte Bollwerk, das dem Andringen des jübijhen Antichriften« 
tus noch im Wege ftand, niedergeworfen hatte — und dies mußte 
if, da fie mit übermenſchlichen Wunderfräften ausgerüftet und dies 
henmnis einft hinweggeräumt zu werden beftimmt war, ſchließlich 
do gelingen —, dann konnte die legte Machtentfaltung des gott⸗ 
kindlichen Weſens ungehemmt ſich vollenden und die Welt war 
tif geworben zum Gericht, das der wiederkehrende Meſſias bringen 
ol. 

It diefes die apokalyptiſche Zukunftsausſicht des Apoftels, fo 
it ihre Entftehung nad) allen Seiten wohlverftändfih. Schon bie 
Ätefte Weberlieferung der Reden Jeſu Enüpft feine Wiederkunft an 
die unaufhaltſam nahende Kataſtrophe in Zudäa (Matth. 24. 

, Bart. 13), in welcher dort das Gericht über die blutbefleckte Hier- 
| "fie, die das Maß der Sünden ihrer Väter voll macht (Math. 


23, 32—36), und über das unbußfertige Volk fich volfzieht. Zu 
jener Kataftrophe fonnte es aber erſt kommen, wenn bie pfeudo- 
meſſianiſche Revolution in Judäa ihr Haupt erhob und fo ben 
legten Kampf mit der Weltmacht heraufbeſchwor. Was Hat denn 
Paulus anders gethan, als daß er die Sünde des ſich verftodenden 
Israel in der Geſtalt des Pfeudo -Mefjias gipfeln und diefen in 
jenem Revolutionsfampfe den xareywr, die römiſche Weltmacht 
durch Satans Macht und Lift befiegen ließ, um dann von dem 
wieberfehrenden Mefjias jelbjt vernichtet zu werden? Während die 
Urapoftel das von Jeſu gedrohte Gericht noch durch die Verfün- 
diguag des Jonaszeichens der Auferftehung rüdgängig zu machen 
hofften und unter den Eindrüden ihrer anfangs keineswegs ausſichts- 
loſen Miffionsarbeit auf die Gejammtbefehrung Ysrhels unver 
droſſen Hinarbeiteten, die dam die Wiederfunft des von dem unbuß⸗ 
fertigen Volke getödteten Meſſias und mit ihr die Heilsvollendung 
herbeiführen jolfte, fah auch Paulus von der definitiven Entfcheibung 
Israels die Endvollendung abhängig, nur daß der von dem jübifchen 
Fanatismus verfolgte Heidenapoftel nichts anders mehr als die höchſte 


Steigerung feiner Berftodung bis zur fatanifchen Geftalt des Pſeudo⸗ 


Meſſias und mit ihr das Gericht erwartete. Wer nicht eine fata— 
liſtiſche Vorherbeftimmung der Weltgefhice annimmt, fondern an 
ein der menſchlichen Sefbftentfcheidung freien Spielraum gewäh— 
rendes Walten der göttlichen Weltregierung glaubt, der muß zugeben, 
daß die eine Anfchauung fo berechtigt war als bie andere; dab 
aber jede, weil fie auf das zuletzt doch menfchfich unberechenbare 
Spiel der freien Entſcheidung gegründet war, ihre Bewährung der 
Zukunft auheimftellen mußte. Wenn nie mehr in den fpäteren 
paulinifchen Briefen diefe apokalyptiſche Combination auftaucht, ſo 
ift das ein deutlicher Beweis, daß Paulus ſelbſt fie ſpäter auf 


gegeben Hat. ALS er den Römerbrief ſchrieb, war er zu ber An | 
ſchauung der Urapoftel zurückgefehrt, wonach die endliche Bekehrung 


Israels die Heilsvollendung herbeiführen werde (11, 15). Aber 
freilich Konnte dieſe nicht, wie es die Urapoftel anfangs erwarteten, 
die Bedingung für die Ausbreitung des Heils über die Vöffermelt 
fein. Die zeitweife Verjtodung Israels war bereit das Mittel 
geworben, um das Heil den Heiden zu bringen (11, 11), und erit 


Apolalyptiſche Studien. 20 


wenn die Fülle der Heiden eingegangen war, konnte Israel als 
Volk, nun nicht mehr zur Feindſchaft wider das Chriſtentum, 
ſondern zur Nacheiferung gereizt (11, 11. 14), gerettet werden 
(11, 25. 26). In dieſer Umwandlung der pauliniſchen Anſchauung 
fiegt von felbft der Beweis, daf es fich Hier nicht um die Subftanz 
der göttlichen Offenbarung über die Heilszufunft, fondern um die 
Vorftellungsform* von ihrer gefchichtlichen Verwirklichung Handelt, 
welche durch die wechfelnden Zeitverhäftniffe bedingt war und fein 
mußte. . 


3. Die Zeitlage der johanneifhen Apokalypſe. 


Eine völlig geänderte Zeitlage zeigt uns die johanneiſche Apofa- 
Iypfe, die furz vor ber Zerftörung Jeruſalems gefchrieben ift. 
Tas Yudentum, das einft fo enge mit den Gefchiden des jungen 
Chriftentums verflochten war, daß in einer oder der andern Form 
feine definitive Entfeheidung dafür oder dagegen diefem den Sieg 
bringen mußte, hatte feine mweltgefchichtliche Rolle ausgefpielt. Die 
pieudomeffianifche Revolution war gekommen; aber fie hatte ſich 
im ohnmächtigen Kampfe gegen das übermächtige Römerreich ver- 
rt, von ihr war für das Chriftentum nichts mehr zu fürchten. 
Im Bordergrumde der Zufunftsausficht des Apofalyptifers fteht der 
unmittelbar bevorftehende Fall Jeruſalems, der ihm eine fo aus: 
machte Sache ift, daß er denfelben feiner eingehenderen Darftellung 
mehr würdigt, fondern ſich nur noch mit der Frage befchäftigt, wie 
trogdem die von allen Propheten verheißene endliche Errettung eines 
leten Reſtes diefes unglücklichen Volkes zu Stande fommen werde. 
Das ift die Bebentung des fo viel mißdenteten Kap. 11 der Apo- 
falppfe. Dasfelbe beginnt mit der Eroberung Jeruſalems durch 
die Heidnifchen Heere (11, 1. 2). Daß der Apofalyptifer eine 
Errettung des eigentlichen Tempelhaufes gehofft Habe, würde nur 
tihtig fein, wenn es möglich wäre den vedg roö Heod (11, 1) 
eigentlich zu faſſen. Dies ift aber augenfcheinfih unmöglich, ba 
dann nicht nur feine Errettung, fondern auch die ber jübifchen 
Prieſterſchaft (od mreosxvvoovres &v adzg) in den Blick gefaßt 
wäre, was felbftverftändlic, ein Widerfinn iſt. Es fann darum 


a ö Beik 


der Tempel Gottes in Jernfalen wer die glänbige Zubengemeinde 
Aureihit fein, die ſchen Chriſtus zur ichlamigen Flucht beim Aus- 
eu des legten Srieges ermahet hatte (Matt 24, 16) und die 
mur wor dem Zormgericht über Jeruel bewahrt wird, wie die Ge⸗ 
meinde in der Bülterweit vor der über fie ergehenden Zorngerichten 
(7,2359, 4). Rur fie from cberjegut als der Zempel Gottes 
(I Eemi 4, 17 vgl 2, 5) mit feinem Altar (Hbr. 13, 10), wie | 
als die Gefamtheit der im diefem Zempel Anbetenden bezeichnet 
weder Der Vorhof dagegen oder die unglänbige Judengemeinde 
wir? der Heidenherrjchaft preisgegehen, welche nach dem Typus ber 
darieſũchen Unglüdszeit (Dam. 7,25; 12, 7) 3% Jahre dauert ©). 
Der Full Jernjalens iſt alfo nicht mehr das mittelbare Signal 
zer Sicedertunft Chriſti, wie in der ältefter Ucherſieferung der 
Siedertanuftereden, derem weientlihe Echtheit gerade durch ihr Ber- 
haltais zur Apokalppfe auf Die einfenchtendfte Seife ſich bemährt, 
tie Zeit der großen Zrühfel, welche nach Manh 24, 21 die Gläu- 
bigen za enwarten haben (vgl Apel. 7, 14), fällt nicht mehr 
euer mit diefer Kataſtrorhe, jembern „begizmt mit ihr. Der 
Grund dumen iſt euch hier wicht, dus Die ältere Weißagung fih 
geiret hat, fendern da$ dem Beil Jareel, das durch feine Haupt: 
Radt repräfentirt wird, jelhft wach dem Eintritt des vom Jeſu ge 
drohte Gerichte: noch eine Vuhfrift wergsumt wird. So gewiß 
nämlich; dieſe Heibenherrichaft, die mit dem Fall Jernjalems beginnt, 


ein Gottesgericht it, fo hat dasjelbe doch den Zweck, Israel zur | 


Buße zu führen Gerudeie find ja afle werbereitenden Plagen, 
welde über die Böllermeit ergehen, zugleich Aufforderungen zur 
Bupe; aber immer und immer wieder hebt die Apelalypſe hervor, 
daß die Erdbewohner wicht Bae thaten (9, 20. 21; 16, 9. 11. 21). 
Firm fo das Heidentum im großen und ganzen unbußfertig 
dem Gerühte eutgegemreift ®), hat des Belt der Berheifung noch 


a "2 Tick Zeher fa mau ih enntgih, fne emri u . 





Geruhtägeit. 
b) Cinmol tie Chriflengemeinte der Gegemmurt amt allen Böllere gefammelt | 
267% 14, 3) fe fat Der papier Ba in der nähen | 


Apolalyptiſche Studien. 81 


eine Zukunft. Um dieſe herbeizuführen, ſendet Gott in dieſer Zeit 
der Heidenherrſchaft zwei Propheten gleich Moſes und Elias, bie 
freifich wie der letzte Gottgefandte von den Heiden getöbtet, aber 
auferweckt und zum Himmel erhöht werden (11, 3—12). Wenn 
mn das letzte Gottesgericht (vgl. 6, 12) hereinbricht, dann wird 
war immer noch ein großer Theil des Volkes zu Grunde gehen, 
ober die Webrigbfeibenden werden Buße thun (11, 13). Der Apo- 
falpptifer wagt nicht mehr wie Paulus (Röm. 11, 26), auf bie 
endlihe Gefamtbefehrung Israels zu hoffen; aber gemäß der alt« 
mophetifchen Verheißung (vgl. Röm. 9, 27—29) wird doch noch 
fin Reft Israels gerettet werden, freilich nicht ohne daß Gott durch 
feine Gerichte nicht weniger wie durch feine Propheten und bie an 
ihnen und durch fie verrichteten Wunderwerfe das Aeußerſte gethan 
hat, um fie zur Buße zu vermögen. Und wie einft mit der Ger 
ſamtbelehrung Israels die Urapoftel (Act. 3, 19. 20), wie 
Paulus mit der Wiederannahme Israels (Röm. 11, 15) den Ein- 
tritt der Vollendungszeit erwartete, fo tritt auch hier mit biefer 
Belehrung des Neftes Israels das Ende der Heidenherrfchaft über 
Ierael und der großen Trübſalszeit der Gemeinde ein mit dem 
Gerichte über die Weltmacht (11, 14) und der dann folgenden 
Vollendung des Gottesreihes (11, 15 ff.) *). 


Zukunft keine irgend umfafjenbe Heibenbefehrung mehr zu erwarten. Wahr- 
ſcheinlich erwartete er auf Grund der altprophetiſchen Vorftellung (ef. 60, 
3. 11. Bf. 72, 10) bie Belehrung ber Heiden im meiteren Umfange erft 
jur Zeit des taufendjährigen Meiches, in welchem er alfein unter den neu⸗ 
teRomentlichen Schriftſiellern eine irdiſche Vollendung ber (freilich feines 
wegs mehr national · israelitiſchen) Theokratie Hofft. 

a) Dieſe Folge der Ereigniffe richtig zu erkennen, iſt für bie ganze apokalyp- 
tiſcht Eonception unſeres Buches von entfheidender Bedeutung. Es ift 
dabei zu erinnern, daß das erſte Wehe mit ber fünften Pofaune gekommen 
war (9, 12), das zweite umfaßt die Ereigniffe, die ſich am bie ſechſte Po- 
faune anſchloſſen (11, 14). Diefe brachte nämlich über die Völlerwelt das 
böllifche Reiterheer (9, 13—21) und über Israel das letzte Gottesgericht 
(11, 18), zu deſſen Verſtändnis 11, 1—12 voraufgefchidt werden mußte, 
Das dritte Wehe, das mit der fiebenten Poſaune tommt (11, 15), kann 
darum nur noch das Endgericht fein. Aber dasjelbe Tann in dieſem Ge- 
ſichte noch nicht befchrieben werben; denn das Büchlein, welches dieſe Schluß 


32 Weiß 


Während fo das Schichſal Jeruſalems oder die Endeuntſcheidung 
Israels feinen unmittelbaren Anhaltpunft mehr für die apolalyptiſche 


tataſtrophe enthielt (10, 1. 2), muß der Seher verichfingen, und alfo feinen 
Inhalt noch bei fich behalten, fo bitter es ift, Diefe® Sußeſte bei ſich behalten 
zu müfjen (10, 8-10), oder, unter einem andern Bilde, er muß verfiegeln, 
was bie Donner dieſes Gerichtes reden, und darf es noch nicht mieder- 
ſchreiben (10, 3. 4), obwol er die eidliche Verficherung erhält, daß es in 
den Zagen der fiebenten Pojaune fi vollenden ſoll und damit alle Ber- 
Heißung der Propheten zur Erfüllung bringen (10, 57), obwol ihm die 
Ausficht eröffnet wird, daß es noch durch feinen Mund prophezeit werben 
ſoll (10, 11). Daß es aber mit der fiebenten Pofaune eingetreten if, 


zeigen die himmliſchen Lobgeſänge, welche die Vollendung des Gottesridee , 


feieen (11, 15-18). Es iſt Dies einer der entſcheidendſten Punkte, an 
welchem fich zeigt, daß die Auffafjung der Apofalypfe ala eines fort 
Laufenden Gefichte® egegetifch unhaltbar if. Daß der Engel fepmwört, ea 
Komme mit der fiebenten Pofaune die Vollendung und daß fie „thatjſächlich 
doch micht Tommt“ (ogl. noch Düferdied, Srit.egeg. Handlung über 
die Offenbarung Johannis [Göttingen 1859], &. 348), ift eben ein unlös 
barer Widerfprud), wie die Annahme, daß das Endgericit und bie Erd- 
vollendung trotz des 729er in 6, 17; 11, 18; 19, 7 noch nicht gefommen 
ſei; und die bei dieſer Auffaffung nothwendige Annahme „proleptiſcher 
Scenen“ ift nur das offene Eingeſtändnis ihrer exegetiſchen Undurchführ- 
barkeit. Diefe der Oekonomit aller anderen propketijchen und apokalyptiſchen 
Schriften widerfprechende Annahme ſcheitert ſchon am der Einleitungsvifion 
(1, 9 bis 3, 22), die nothwendig von dem folgenden abgelöft werben muf, 
ſofern fie die Berufung des Sehers und die praftifch- paränetifche Ber 


werthung aller folgenden Geſichte enthält. Mit ihr enthält die Apolafyple | 
deren fieben, bie durch befondere Eingangsjcenen deutlich von einander ge 


fondert und ihrem Inhalt nad; harakterifirt find. Diejelben gehen fünt- 
lich bis zum Ende, nur daß dasjefbe fortgehend immer klarer in feinen 
Details enthüllt wird. Gleich bie zweite jondert ſich nad} der Einleitung 
(4, 1) durch daß ev9dwg Eyeröum dv nreunarı (4, 2) dentlich von der 
vorigen ab. Sie läßt aus dem dem Lamme übergebenen Zukunftsbuch 
durch Oeffnung feiner Siegel die von Ehrifto geweißagten Vorzeichen des 
Endes hervorgehen; aber nachdem fie mit den beim ſechsten Siegel eintre 
tenden Borboten des Weltunterganges (6, 12—14 vgl. Matt. 24, 29) 
bis zum Kommen des Eudes vorgerüdt (6, 17) und Kap. 7 gezeigt, wie 
die Gläubigen vor den letzten Gerichten, bie über bie Völferwelt ergehen, 
bewahrt und die in der legten Drangfalszeit gefallenen Märtyrer der Se⸗ 





Kigfeit theilhaftig werden, teitt mit der Eröffnung des fiebenten Giegeld | 


sin momentane Schweigen ein, im welchem bie nähere Schilderung des 








Apolalyptiſche Studien. 33 


Combination bietet, hat ſich derfelben ein ganz neuer Spielraum 
afgetpan. Die römische Weltmacht, einft das Bollwerk gegen das 
Andringen des judiſchen Antichriftentums, hat eine ganz neue Stel- 
lung gegen das Ehriftentum eingenommen. In den Yunitagen des 
Jahres 64 hat Eine blutige Verfolgung in Rom Taufende von 


fegten Gerichts für jetzt noch zurlicgehaften wird (8, 1). Durch eine neue 
Einleitung (8, 2—5) wird das Pofannengeficht eingeführt, das, wie wir 
ſchon fahen, die legten zugleich zur Buße mahnenden Gottesgerichte über 
die Volkerwelt ud über Israel mit ihrem Erfolge näher darftellt und mit 
dem Ertdnen der fiebenten Bofaune wieder das Ende bringt, das aber nur 
im Himmel gefeiert wird, ohne näher gejchifert zu werden (8, 6 bis 11, 18). 
Die vierte Bifion wird ähnlich wie die zweite (4, 1) durch die Oeffaung 
des himmliſchen Tempels und ähnlich wie 8, 5 durch Donuerſtimmen ein» 
geleitet (11, 19). Der Seher ſchaut den Kampf des Satan mit dem 
Meſfias von feinen erften Anfängen an (Rap. 12) und die Werkzeuge, die 
er zu biefem Kampfe ausrüftet (Rap. 13). Er ſchaut aber auch den Meffins, 
umgeben von feinen Gläubigen, der fie zum letzten ampfe mit ihm führt 
(14, 1-5). Dann fommt auch Hier mit dem Falle Babels, der jegt 
(fiehe oben) das Signal zum legten Gerichte ift (14, 8), dieſes Gericht 
ſelbſt, das aber vorerft nur in ſymboliſchen Bildern gefchaut wird (14, 14—20). 
Eine neue Ueberſchrift (15, 1) und eine himmlische Scene (15, 2—4), wie 
Rap. 4 und 8, 3—5, leitet das Schaleugeſicht ein, das wie 4, 1; 11,19 
mit einer neuen Oeffuung des hinnnliſchen Tempels (15, 5) beginnt, und 
nun die fieben Engel mit ben fieben Zoruſchaleu hervortreten läßt, deren 
fehfle das letzte der dem Eudgerichte worhergehenden Gotteögerichte, den 
Fall Babels (vgl. 14, 8) bringt (16, 19), um den ſich als das Haupt- 
thema dieſes Gefichts Kap. 17 u. 18 dreht. Nach ihm verkündet das 
Halleluja im Himmel, daß das Ende gelommen if (19, 1—10). Das 
ſechſte Geficht begiunt 19, 11 wieder mit der Oeffuung des Himmels wie 
4,1; 11, 19; 15, 5. Es ſchildert nun wirklich den legten Kampf und 
Sieg Ehrifli, die irdiſche Vollenduug des Gottesreichs, bie Vernichtung des 
Satan, den Weltuntergang uud das Weltgeriht (19, 12 bis 20, 15). 
Die fiebente Bifion hat wieder in 21, 1. 2 eine Art Meberfchrift, wie 4,1; 
8, 2; 15, 1, wird dann ähufid wie Kap. 4; 8, 85; 15, 2—4 durch 
himmliſche Stimmen eingeleitet (21, 3—8) und beginut 21, 9. 10, wo 
Ähnlich wie 4, 2 der Seher zum Auſchauen des himmliſchen Jeruſalem, 
d%. 8. der himmliſchen Endvollendung, entrüdt wird. Der Schluß dieſes 
Sefihtes (22, 6-11), dem Schluß des fünften (19, 9. 10) parallel, Kildet 
zugleich den Schluß des Ganzen; dem der Epifog (22, 12—21) entfpricht 
dem Prologe (1, 18), der das Weißagungsbuch als einen Brief an die 
fien kleinaſiatiſchen Gemeinden fendet. 

Mol. Stud. Jahrg. 1869. 8 










“ Seit 


Gbriften de Tlänpter ber Kpofel, Fazıt, 
ſind wemer Nero seinen, dad Bild ber binfbejlnfrn 
Yai ale Geiadit Dee Srenens md Gntiegens anigeru 
wwugrnähiie Yoaacız dat besriss eine vorläufige Genwirlihung g: 
Iunden, aber auf Dem Gchseie Der heibnifden Töcumedt, im 
Verioa rue viemiter Rariers. Die legte Offenbarung web Bel 


Weliherrichers auncdmen. Das ift der Standpuntt der j i 
Apolalypie. wu Scleicheag ihrer Anſchauungen mit denen 
weiten Thcijalaucerdrieſea zeigt won felbft dem Unterſchied 
dao richtt Verpaitung üheer Zeitftellung. Die johanneiſche 
talypie fan nur Die ipätere fein; denn erſt mit dem Wechfel 
weligelchichtiicen Scenerie fommte dieje Umbildung der apofalyptiichett 
Aujchauung wor ſich geben, melde das antichriftliche Princip nicht | 
mehr im Boden det Judentums, jonbern des Römertums ſuchte, 
de Bellcadung der Shriitueeimdichejt nicht mehr im Pfeudo-Meifio- | 
nimud, jonderu in dem Träger der Weltmacht erivartete, bie End- | 
tataftrephe nicht mechr am den Untergang Gerufalems, fonbern an | 
den Untergang Roms früpfte. Damit find wir zu unferer Haupt: 

frage zurüdgelchrt, ob Dieie mewe apotalyptiſche Anſchauung am die 

Rero-Sage anfnüpft. Es ift gewiß nicht richtig, wenn Düfterdied 

son vornherein behauptet, man dürfe dem Apofalgptifer ohne Un: 

geredhtigfeit wicht eine ſolche Unlauterfeit und Beſchränktheit feines 
Glanbens und jeiner chriſtlichen Bildung zutrauen, wie fie die 
Anletnung au einen fen von den römiſchen Schriftjtellern ver- 
jpotteten Aberglauben verrathen würde, man würde damit der 
Apotalypfe jeden Anfpruc anf Inſpiration und Kanomicität rauben 
(a. a. O., ©. 437). An fid lag eine folde Kombination gar 
nicht fo fern. In Rero hatte das römiſche Kaijertum zum erſten ⸗ 
male fi als eine antichriftliche Macht gerirt, der erwartete Anti- 
Heft kannte alje nur eine potenzirte Nero-⸗Geſtalt fein. Erinnern 
wre uns bach nur am die wirklich geſchichtlich couſtatirte Geftalt 
dar Nero- Sage und vermifchen wir diefelbe wicht mit den Phan- 

haacaa, die fich fpäter an biejelbe gefnüpft haben. Wenn mar 
= Kienaften um das Jahr 70, wie das Aufterien des Pfeudo- 


Apolalyptiſche Studien. ss 


Rero zeigt, zu wiſſen vorgab, Nero fei nicht geftorben, fondern zu 
den Parthern geffichtet, umd feine Wiederfunft von dort erwartete, 
mas ift dem da von Beſchränktheit, Unlauterkeit und Aberglauben 
2 „gu reden; wenn der dort lebende Apolalyptifer diefem Gerlicht glaubte ? 
2.946 wenigftens Tann mir feine vernünftige Borftellung von einer 
"Infpiration machen, bie eine untrügliche Gewißheit darüber mittheilt, 
: ‚H Nero wirklich geftorben oder zu den Parthern entlommen war. 
Arber er aber fiegreih aus dem Orient wieder, um an feinen 
: een Nache zu nehmen, fo war ja vorauszufehen, daß auch feine 
: Kisihriftliche Bosheit ihren höchſten Gipfelpuntt erreichen und dann 
:Immittelbar das letzte Eingreifen Gottes durch die Wiederkehr des 
:?Meffias herbeiführen werde. In diefer Form würde die Bors 
MAeflung einfach an die Borausfegung anknüpfen, daß Nero nod; am 
‚eeben fei, was doch zwei Jahre nach feinem angeblichen Tode noch 
ehr wohl der Fall fein konnte. 
= Mer felbft in einer anderen Weife. noch konute der Apokalyptiker 
bie Rero-Geftalt in feine Combinationen aufnehmen. Er konnte von 
der Borausfegung ausgehen, daß Nero wirklich geftorben fei, und 
werten, daß er von der ſataniſchen Macht, beren Werkzeug er 
simäßrend feines Lebens geweſen war, wieder) auferweckt und auf 
den Schauplatz ber Gefchichte geftellt werden würde, um fein untere 
‚Pirshenes Werk zu vollenden und fe die legte Entfaltung des Anti⸗ 
qj driſtentums herbeizuführen. Dadurch gemanm man eine Bor- 
:Pidlung, welche den auferftandenen und wiederkehrenden Nero in 
An bebeutfame Parallele zu dem auferftandenen und wiederkehrenden 
Ehriftung- ftellte, deſſen Gegenbild er ja ohnehin ala der Antichriſt 
Üidete; denn wie diefer war er dann gerade durch feinen Tod zum 
Gipfelpimkt feiner fatanifchen Wärde und Machtentfaltung gelangt. 
Bir Haben gefehen, mie diefer Gebanfe ber urſprunglichen Neros 
Sage völlig fern liegt, wie er, foweit wir, abgefehen von der 
Apelolypfe, etwas daven Hören, erft ganz fpät bruchftächveife aus ⸗ 
gebildet ift, um die Deutung des neuteſtamentlichen Antichrift auf 
Nero unter Verhaltniffen durchzuführen, wo ein Anknüpfen an die 
urfprängfiche Geftalt der Nero-Sage nicht mehr möglih mar. 
Dennoch wäre es an ſich durchaus möglich, dag ſchon der Apo- 
falgptifer, den man fpäter in dieſem Sinne verſtand, dieſe Vor⸗ 
9 





























24 Bei 


Aber auch in anderer Beziehung Hatte der Apoftel die Feindfhaft 
der Juden zu koſten befommen. Es ift unbegreiflih, wie man es 
hat verfennen können, daß die Erörterungen in 1Theſſ. 2 feine 
gemütlichen Herzensergiegungen find, fondern eine fehr beftimmte 
apologetifche Abficht haben. Dies Haben mit vollem Rechte ſchon 
Lipfins (vgl. Studien u. Krit. 1854, IV) und v. Hofmann 
(Die Heilige Schrift N. T.'s I, Nördlingen 1862) geltend gemacht. 
Man hatte den jungen, noch unbefeftigten Chriſten einzureden gefucht, 
fie feien von ſchlauen, ehrgeizigen und ſelbſtſüchtigen Betrügern 
irregeführt und jegt, nachdem fie fi) dadurch die unvermeidliche 
Feindſchaft ihrer Volfsgenoffen zugezogen, im Stiche gelaffen. Die 
fi) mit folden Verleumdungen an die neue Gemeinde heran- 
drängten, waren natürlich nicht ihre Heidnifchen Vollsgenoſſen, fon- 
dern die Volfsgenoffen jener angeblichen Betrüger, und da von 
judaiſtiſchen Gegnern im dieſer Lebensperiode des Apoftels noch 
feine Spur ſich zeigt, faun man‘ nur an jene felben fanatifchen 
Juden denken, die jet feine eigene Geineinde gegen den Apoftel 
aufwiegeln wollten. Dies hat noch jüngft Hilgenfeld (Zeifchrift 
für wiffenfchaftliche Theologie 1866. III, 296f.) mit Recht an- 
erfannt. Der fchlagendfte Beweis dafür ift ber Abſchnitt 1 Theſſ. 
2, 14—16, ber darum oft den Auslegern fo fremdartig erfchien, 
weil fie ſich nicht in die geſchichtliche Situation des Briefes lebendig 
genug Hineinverfegt Hatten. Mitten in feiner Selbftverteidigung 
bricht der ganze heilige Zorn des Apoftels gegen diefe ungläubigen 
Juden los. Wie fie einft die Propheten gemordet haben, fo haben 
fie den Heren felbft getöbtet, wie fie die Gemeinden in Judäa 
verfolgt Haben, fo verfolgen fie den Apoftel und feine Gefährten, 
wie fie Gott mißfalfen, fo find fie allen Menſchen zuwider, indem 
fie die Heidenmiffion und damit die Errettung der Heiden durch 
die Predigt des Evangeliums zu Hindern traten. So ſuchen fie 
das Maf ihrer Sünde voll zu machen, während der Zorn Gottes 
doch schon im Höchften Maße auf fie herabgefommen ift. Belannt- 
lich findet fich feine ähnliche Diatribe gegen die Juden in allen 
paufinifchen Briefen; aber die an die Theffalonicher find auch die 
einzigen Denkmäler einer Lebensperiode des Apoftels, in welcher 
er noch mit feinem innerchriftlichen Gegenfage, fondern nur mit 


Apolalyptiſche Stuben. 25 


dem ungläubigen Judentume zu kämpfen hatte. Es war bie Per 
riode der fhärfften Spannung zwiſchen ihm und feinem Volke, 
das den abtritnnigen Vorkämpfer des Chriftentums mit dem wil« 
deften Fanatismus verfolgte. 

Gieng das Judentum auf diefem Wege fort, fo war das Ende 
leicht vorauszuſehen. Die immer feindfeligere Verſtockung gegen 
die Verkündigung des wahren Meſſias mußte endlich zum völligen 
Abfall von dem Gotte führen, der ihn gefandt hatte. Jetzt eiferten 
fie um Gott mit Unverftand, der verborgene Kern dieſes Eifers 
aber war Ungehorfam gegen Gott und feinen Willen. Wenn bie 
fo noch verborgene Sünde der «vonia erft ganz ſich ausgewirkt Hatte, 
dan fonnten fie nur noch den Weg einfchlagen, auf welchem ihr 
principieller Bruch mit Gott und feinem Willen ganz offen zu Tage 
trat. Die vollendete Verſtockung des Volles gegen den wahren 
Meſſias war der volfendete Abfall von Gott, und die legte Offen- 
barung desfelben konnte nur noch darin beftehen, daß man ihm fein 
fügnerifches Abbild gegenüberftellte. Schon Jeſus hatte da8 Auf- 
treten falſcher Meſſiaſſe geweißagt (Matth. 24, 23. 24), im nächſten 
Anſchluß daran denkt Paulus den Menfchen der Sünde als den 
Bieudo-Meffins. Der aus dem Abfall des Judentums fich erhebende 
Menſch der Sünde (2, 3), in welchem das Geheimnis der avoue 
zur volfften Offenbarung und Machtentfaltung kommt (2, 7), kann 
mr felbft ein Jude fein und nicht ein römiſcher Kaifer. Wenn 
man die Schilderung diefes Widerfahers (2, 4) aus der Selbft- 
otheofe der römifchen Kaifer erklären wollte, fo überſah man, 
daß diefe Schilderung fih an Dan. 11, 36ff. anlehnt und auf 
den Pſeudo· Meſſias vortrefflich paßt. In dem Meſſias ſollte Gott 
felbft zu feinem Volke fommen (Luk. 1, 17. 76); eine Anmaßung 
der Meſſiaswürde war darum nichts geringeres als blasphemifche 
Anmaßung göttliher Würde und Verehrung (vgl. Mark. 14, 64), 
die felbft vom heidniſchen Standpunkte aus als Frevel wider alles, 
was Gott heißt, und jeden Gegenftand göttliher Verehrung erſcheinen 
mußte. Schon darin, daß er fih im Tempel’ zu Jeruſalem nieder» 
läßt, um feine göttliche Würde zu 'erweifen, erhellt, dag nur an 
einen füdifchen Pſeudo-Meſſias gedacht werden ann, da dies voraus- 
fest, daß er felbft in dem Tempel die Wohnftätte Gottes ficht. 


26 Beh 


Die fheinbar zum jüdischen Meffiasbilde nicht .ftimmende Selbft« 
apotheofe, als melde Paulus diefe gottesläfterliche Anmaßung des 
Bfeudo-Meffias brandmarkt, ift nur die andere Seite der furchtbaren 
Ironie, mit welcher der Abfall des gefegesftolzen Judentums als 
«vonle qualificirt wird. Ganz entfceibend für dieſe Auffaffung 
ift aber 2, 9, wonach der Menfch der Sünde zugleich als der 
Pſeudo⸗Prophet erſcheint; denn bie fatanifchen Lügeuwunder, womit 
er alle, welde der Wahrheit nicht gehorchen wollten, zum Glauben 
an bie Lüge verführt (V. 10. 11), find ſchon Matt. 24, 24 
die Kennzeichen des Pjeudo-Prophetentums. Wo wie in der Apo- 
Tafypfe die letzte Incarnation der Sünde in einem Weltherrſcher 
auftritt, da muß das damit verbündete Pfeudo-Prophetentum ſelb⸗ 
ftändig daneben auftreten, aber der Pſeudo⸗Meſſias tritt als Gott: 
gefandter auf und muß ſich daher felbft duch fatanifche Wunder 
Tegitimiren und mit den Kräften zur Verführung ausgerüftet fein. 
Konnte und wollte das Volt feine Zufunftshoffnung nicht aufgeben, 
fo mußte e8 die Erfüllung derfelben zufegt bei diefem Pſeudo-Meſſias 
fuchen, es mußte ihn zum Helden der jübifchen Revolution machen. 
War der Pjeudo-Meffias mit fatanifchen Kräften ausgerüftet, fo lag 
bie Ausficht nicht fern, daß die von ihm geleitete Revolution fiegen 
und fo ein jüdiſches Weltreich als die Carricatur des am Ende ber 
Tage verheigenen Gottesreiches aufrichten werde, das fi dann zu 
gleich als das vollendete Antichriftentum dem Reiche Chrifti ent: 
gegenftelfen werde, freilich nur um durch die Wiederfunft Chrifti 
ein raſches Ende zu finden. 

Hieraus allein erklärt ſich volllommen, was Paulus umter dem 
Ö xarsywv .oder TO xursyov denkt, das dieſe letzte Entwicklung 
des gottfeindlichen Weſens noch aufhält. In dem Maße als das 
Judentum im großen und ganzen fich feindlich gegen das Evan- 
gelium verfchloffen Hatte, Hatte das Heidentum ſich dem Apoftel 
auf feinen Miſſionswegen willig und empfänglich gezeigt. Natürlich 
war ihm auch Hier Unglaube und Ungehorfam begegnet, die Heiden 
hatten feit dem Beginn feiner evangelifhen Predigt in Theffalonid 
ihre gläubig gewordenen Volksgenoſſen vielfach verfolgt umd bedrängt 
(1Theff. 1, 6; 2, 14; 3, 3. 4 vgl. 2Theſſ. 1, 4. 6), aber ein 
principieller Widerftand war ihm von Geiten der Heiden nie ent⸗ 


Apokalgptifcie Studien a 


ggengetreten. Wo ber heidniſche Pöbel zu Feindſeligkeiten überging, 
da war er von den fanatiſchen Juden aufgehegt worden; aber die 
römische Rechtsordnung hatte ſich immer noch als der befte Schu 
Ingegen erwiefen. Schon bie Hinrichtung Jeſu war von dem jlis 
digen Sanhedrin dem nachgiebigen Procurator nur abgetrogt worden, 
hie und da Hatten fi wol römiſche Behörden auch fonft dem 
Andringen der jübijchen Bevölkerung mehr oder weniger gefügt 
(16, 22. 23), aber noch jüngft hatte der Proconful von Adaja 
die Juden mit ihrer Anklage gegen den Verbreiter einer religio 
illeia einfach abgemiefen (Act. 18, 16. vgl. 17, 9; 16, 37. 39). 
Br wiffen aus dem unter Nero gefchriebenen Römerbriefe, wie 
Paulus die beftehende römijche Staatsordnung troß der großen Ge- 
bregen ihrer Träger nicht nur für eime göttliche Ordnung hielt, 
jondern auch für eine, die im großen und ganzen Recht und Ges 
techtigleit handhabte (13, 3. 4). Vollends aber der jüdiſchen Re 
dolution ftand die römische Staatsordnung noch immer als ein 
ſcheinbar unüberwindliches Hemmnis entgegen. Es fann feine Frage 
fein, daß die alte Erklärung des zaueyov von der römischen Staatd- 
ordnung die einzig richtige ift, zumal fi fo am einfachften der 
Wechſel des Masculini und Neutri erklärt, da man diefe eben« 
ſowol an fich, wie in ihrer jeweiligen Spige, dem Kaifer, in den 
St faſſen Konnte. Erſt wenn die pfeudomeffianifche Revolution 
Yefed fegte Bollwerk, das dem Andringen des jüdifchen Antichriften» 
tms noch im Wege ftand, niedergeworfen hatte — und dies mußte 
ih, da fie mit übermenſchlichen Wunderfräften ausgerüftet und dies 
Heumnis einft hinweggeräumt zu werden beftimmt war, ſchließlich 
doh gelingen —, dann konnte die letzte Machtentfaltung des gott- 
feindlichen Weſens ungehemmt ſich vollenden und die Welt war 
tif geworden zum Gericht, das der wieberfehrenbe Meſſias bringen 
jolle. 

Iſt dieſes die apokalyptiſche Zukunftsausſicht des Apoſtels, ſo 
it ihre Entſtehung nach allen Seiten wohlverſtändlich. Schon die 
Ättefte Ueberfieferung der Reden Jeſu knüpft feine Wiederkunft an 
die unaufhaltſam nahende Kataſtrophe in Judäa (Matth. 24. 
Dart. 13), in welcher dort das Gericht über die blutbefleckte Hier- 
archie, die das Maß der Sünden ihrer Väter voll macht (Matth. 


28 . Bit 


23, 32—36), und über das unbußfertige Volk fich vollzieht. Zu 
jener Kataftrophe kounte e8 aber erft fommen, wenn die pfeudo- 
meſſianiſche Revolution in Yudäa ihr Haupt erhob und fo den 
Tegten Kampf mit der Weltmacht heraufbeſchwor. Was Hat dem | 
Paulus anders gethan, als daß er die Sünde des ſich verjtodenden 
Israel in der Geftalt des Pſeudo-Meſſias gipfeln und biefen in | 
jenem Nevolutionsfampfe den xarsxwr, die römiſche Weltmadt 
durd) Satans Macht und Liſt befiegen ließ, um dann von dem | 
wiederkehrenden Mefjias jelbjt vernichtet zu werden? Während die 
Urapoftel das von Jeſu gedrohte Gericht noch durch die Verkün— 
digung des Jonaszeichens der Auferjtehung rückgängig zu machen | 
bofften und unter den Eindrüden ihrer anfangs keineswegs ausfichts | 
Iofen Miffionsarbeit auf die Geſammtbekehrung Jsrhels unver 
droffen- Hinarbeiteten, die dann die Wiederfunft des von dem unbuj- 
fertigen Volke getödteten Meſſias und mit ihr die Heilsvollendung 
herbeiführen ſollte, ſah auc Paulus von der definitiven Entſcheidung 
Israels die Endvollendung abhängig, nur daß der von dem jüdiſchen 
Fanatismus verfolgte Heidenapoftel nichts anders mehr als die höchſte 
Steigerung feiner Verſtockung bis zur fatanifchen Geftalt des Pfeudo- 
Meſſias und mit ihr das Gericht erwartete. Wer nicht eine fata— 
Kiftifche Vorherbeftimmung dev Weltgefchide annimmt, fondern an 
ein der menſchlichen Selbftentfcheidung freien Spielraum gemäß 
vendes Walten der göttlichen Weltregierung glaubt, der muß zugeben, 
daß die eine Anfchauung fo berechtigt war als bie andere; daß 
aber jede, weil fie auf das zuletzt doch menschlich unberechenbare 
Spiel der freien Entſcheidung gegründet war, ihre Bewährung der 
Zufunft anheimftellen mußte. Wenn nie mehr in dem fpäteren 
paufinifchen Briefen diefe apofalyptifhe Combination auftaucht, jo 
ift das ein deutlicher Beweis, daß Paufus felbft fie Tpäter aufe | 
gegeben Hat. ALS er deu Römerbrief fchrieb, war er zu der An-| 
ſchauung der Urapoftel zurücgefehrt, wonach die endliche Bekehrung 
Israels die Heilsvollendung herbeiführen werde (11, 15). Aber 
freilich konnte diefe nicht, wie es die Urapoftel anfangs erwarteten, 
die Bedingung für die Ausbreitung des Heils über die Volkerwel 
ſein. Die zeitweiſe Verſtockung Israels war bereits das Mittel 
geworden, um das Heil den Heiden zu bringen (11, 11), und erſt 





Apolalyptiſche Studien. 20 


wrenn die Fülle der Heiden eingegangen war, konnte Israel als 
Bf, nun nicht mehr zur Feindſchaft wider das Chriftentum, 
fondern zur Nacheiferung gereist (11, 11. 14), gerettet werben 
(11,25. 26). In diejer Umwandlung der paufinifchen Anſchauung 
fiegt von felbft der Beweis, daf es fich hier nicht um die Subftanz 
der göttlichen Offenbarung über die Heilszufunft, fondern um die 
Lorftellungsform* von ihrer gefchichtlichen Verwirklichung hanbelt, 
welche durch die wechfelnden Zeitverhäftnifje bedingt war und fein 
mußte, . 


3. Die Zeitlage der johanneifhen Apofalypfe. 


Eine völlig geänderte Zeitlage zeigt uns die johanneifche Apofa- 
Igpfe, die kurz vor der Zerftörung Jeruſalems geſchrieben ift. 
Das Judentum, das einft fo enge mit den Geſchicken des jungen 
Chriſtentums verflochten war, daß in einer oder der andern Form 
feine definitive Entſcheidung dafür oder dagegen diefem den Sieg 
bringen mußte, hatte feine weltgeſchichtliche Rolle ausgefpielt. Die 
Heubomeffianifche Revolution war gefommen; aber fie Hatte fich 
im ofnmächtigen Kampfe gegen das übermächtige Nömerreich ver- 
rt, von ihr war für das Chriftentum nichts mehr zu fürchten. 
Im Vordergrunde der Zukunftsausſicht des Apofalyptifers fteht der 
unmittelbar bevorftehende Fall Jeruſalems, der ihm eine fo aus- 
gmahte Sache ift, daß er denfelben keiner eingehenderen Darftellung 
fr würdigt, fondern ſich nur noch mit der Frage befchäftigt, wie 
ogdem die von allen Propheten verheißene endliche Errettung eines 
Iegten Reſtes diefes unglücklichen Volkes zu Stande kommen werde. 
Das ift die Bedeutung des fo viel misdeuteten Kap. 11 der Apo— 
flgpfe. Dasfelbe beginnt mit der Groberung Jeruſalems durch 
die heidniſchen Heere (11, 1. 2). Daß der Apofalpptifer eine 
Errettung des eigentlichen Tempelhauſes gehofft habe, würde nur 
Tühtig fein, wenn e8 möglich wäre den vos Tod Yeod (11, 1) 
äigentlich zu faffen. Dies ift aber augenſcheinlich unmöglich, da 
dann nicht nur feine Errettung, fondern auch die der jüdiſchen 
Priefterfchaft (od rgosxvvoörres Ev avrh) in den Blick gefaßt 
wäre, was felbftverftändfic ein Widerfinn ift, Es kann darum 


80 " Weiß 


der Tempel Gottes in Jeruſalem nur die gläubige Judengemeinde 
daſelbſt fein, die ſchon Chriſtus zur ſchleunigen Flucht beim Aus- 
bruch des letzten Krieges ermahnt Hatte (Matth. 24, 16) und die 
nun vor dem Zorngericht über Israel bewahrt wird, wie die Ge— 
meinde in der Völferwelt vor den über fie ergehenden Zorngerichten 
(7, 2. 3; 9, 4). Nur fie kann ebenfogut als der Tempel Gottes 
(1 Petri 4, 17 vgl. 2, 5) mit feinem Altar (Hbr. 13, 10), wie | 
als die Gefamtheit der in diefem Tempel Anbetenden bezeichnet | 
werben. Der Vorhof dageger oder die ungläubige Judengemeinde 
wird der Heibenherrfchaft preisgegeben, welche nach dem Typus ber 
danieliſchen Unglüdszeit (Dan. 7, 25; 12, 7) 3*/s Jahre dauert ®). 
Der Fall Yerufalems ift alfo nicht mehr das unmittelbare Signal 
zur Wiederfunft Chrifti, wie in der älteſten Weberlieferung der 
Wiederkunftsreden, deren wefentliche Echtheit gerade durch ihr Ber- | 
hältnis zur Apofalypfe auf die einleuchtendfte Weife fich bewährt, 
die Zeit der großen Trübfal, welche nach Matth. 24, 21 die Gläu- 
bigen zu erwarten Haben (vgl. Apot. 7, 14), fällt nicht mehr 
zuſammen mit diefer Kataftrophe, fondern „beginnt mit ihr. Der 
Grund davon ift auch hier nicht, daß die ältere Weißagung ſich 
geirrt hat, fondern daß dem Volt Israel, das durch feine Haupt 
ftadt repräfentirt wird, felbft nach bem Eintritt des von Jeſu ge- 
drohten Gerichtes noch eine Bußfriſt vergbnnt wird. So gewiß 
nämlich dieſe Heidenherrfchaft, die mit dem Fall Jeruſalems beginnt, 
ein Gottesgericht ift, fo hat dasfelbe doch den Zweck, Israel zur 
Buße zu führen. Geradefo find ja alle vorbereitenden Plagen, 
welche über die Völkerwelt ergehen, zugleich Aufforderungen zur 
Buße; aber immer und immer wieder hebt die Apofalypfe hervor, 
daß die Erdbewohner nicht Buße thaten (9, 20. 21; 16,9. 11. 21). 
Während jo das Heidentum im großen und ganzen unbußfertig 
dem Gerichte entgegenreift ®), hat das Volk der Verheißung noch 


3) Diefe Zahlen find natürlich nicht chronologiſch, fondern ſchematiſch zu nehmen. 
Es iſt der ganzen Zahlenfgmbofif der Apokalypſe widerſprechend, Hierin eine 
wirkliche Zeitangabe zu finden. Die 8/sjährige Dauer Harakterifirt diefe 
Zeit als eine drangfalsvolle Gerichtszeit. 

db) Obwol die Chriftengemeinde der Gegenwart ans allen Völkern gefammelt 
it G, 9; 7, 9; 14, 3), fo ſcheint der Apokalyptiler doch in ber nähften 


Apotalyptiſche Studien. 3 


ine Zufunft. Um biefe herbeizuführen, fendet Gott in diefer Zeit 
der Heidenherrfchaft zwei Propheten gleich Mofes und Elias, bie 
freilich wie der fette Gottgefandte von den Heiden getödtet, aber 
auferwedt und zum Himmel erhöht werden (11, 3—12). Wenn 
nun das letzte Gottesgericht (vgl. 6, 12) hereinbricht, dann wird 
war immer noch ein großer Theil des Volkes zu Grunde gehen, 
über die Webrigbleibenden werden Buße thun (11, 13). Der Apo- 
talpptifer wagt nicht mehr wie Paulus (Röm. 11, 26), auf die 
endliche Geſamtbekehrung Israels zu hoffen; aber gemäß der alt- 
mophetifchen Verheißung (vgl. Röm. 9, 27—29) wird doch noch 
tin Reft Israels gerettet werben, freilich nicht ohne daß Gott durch 
feine Gerichte nicht weniger wie durch feine Propheten und die an 
ifnen und durch fie verrichteten Wunderwerfe das Aeußerfte gethan 
bat, um fie zur Buße zu vermögen. Und wie einft mit der Ge— 
fomtbefehrung Israels die Urapoftel (Act. 3, 19. 20), wie 
Paulus mit der Wiederannahme Israels (Röm. 11, 15) den Ein- 
tritt der Vollenbungszeit erwartete, fo tritt auch Bier mit dieſer 
Belehrung des Reſtes Israels das Ende der Heidenherrſchaft über 
Israel "und der großen Trübjalszeit der Gemeinde ein mit dem 
Gerichte über die Weltmacht (11, 14) und der dann folgenden 
Vollendung des Gottesreiches (11, 15 ff.) *). 


Zukunft feine irgend umfaffende Heidenbelehrung mehr zu erwarten. Wahr⸗ 
ſcheinlich erwartete er auf Grund der altprophetifchen Borftellung (Jeſ. 60, 
3. 11. Pf. 72, 10) die Belehrung der Heiden im weiteren Umfange erft 
dur Zeit des taufenbjährigen Reiches, in welchem er allein unter ben neu⸗ 
teftamentfichen Schriftftellern eine irdiſche Vollendung der (freilich keines - 
wegs mehr national⸗ israelitiſchen) Theolratie Hofft. 

a) Dieſe Folge der Ereigniſſe richtig zu erkennen, iſt für die ganze apokalyp- 
tiſche Conception unſeres Buches von entſcheidender Bedeutung. Es iſt 
dabei zu erinnern, daß das erſte Wehe mit ber fünften Poſaune gekommen 
war (9, 12), das zweite umfaßt bie Ereigniffe, die ſich an die ſechſte Po- 
faune anfchloffen (11, 14). Diefe brachte nämlich über bie Völferwelt das 
holliſche Reiterheer (9, 18—21) und über Israel das letzte Gottesgericht 
(11, 18), zu defen Verftänbnig 11, 1—12 voraufgefdjict werben mußte. 
Das dritte Wehe, das mit der fiebenten Poſaune kommt (11, 15), kann 
darum nur noch das Endgericht ſein. Aber basjelbe kann in dieſem Ge- 
ſichte noch nicht beſchrieben werben; denn das Büchlein, welches biefe Schluß« 


32 Weiß 


Während fo das Schickſal Jeruſalems oder die Endentſcheidung 
Israels feinen unmittelbaren Anhaltpunkt mehr für die apolalyptiſche 


Tataftrophe enthielt (10, 1. 2), muß der Seher verfchlingen, und alfo feinen 
Inhalt noch bei fich behalten, fo bitter es if, dieſes Güfsefte bei ſich behalten 
zu müſſen (10, 8-10), oder, unter einem andern Bilde, er muß verfiegeln, 
was bie Donner dieſes Gerichtes reden, und darf es mod; micht mieder- 
[reiben (10, 8. 4), obwol er bie eibliche Verficherung erhält, daf es in 
den Tagen der fiebenten Pofaune fi vollenden foll und damit alle Ber- 
heißung ber Propheten zur Erfüllung bringen (10, 5—7), obwol ihm die 
Ausficht eröffnet wird, daß es noch durch feinen Mund prophezeit werden 
fol (10, 11). Daß es aber mit der fiebenten Pofaune eingetreten if, 
zeigen die himmlischen Lobgefänge, welche bie Vollendung bes Gottesreiches 
feieen (11, 15—18). Es iſt dies einer ber entſcheidendſten Punkte, an 
welchem fid; zeigt, daß die Auffaffung der Apolalypſe als eines fort 
laufenden Gefichtes exegetiſch unhaltbar ifl. Daß ber Engel ſchwört, «6 
Tomme mit ber fiebenten Bofaune bie Vollendung und daß fie „thatfächlic 
doch nicht Tommt“ (nf. nad) Düfterbied, Kritsereg, Handlung über 
die Offenbarung Johannis [Göttingen 1859), S. 348), ift eben ein unlös 
barer Widerſpruch, wie die Annahme, daß das Endgeriht und die End- 


volfenbung teof; des 7498» in 6, 17; 11,18; 19, 7 mod} nicht gefommen | 


fei; und bie bei biefer Auffaffung nothwendige Annahme „proleptifcher 
Scenen“ ift nur dos offene Eingeftändnis ihrer exegetiſchen Undurchführ- 
barfeit. Diefe der Defonomie aller anderen prophetiichen und apokalyptiſchen 
Schriften wiberfpredende Annahıne fegeitert ſchon an der Einleituugsviſion 
(1, 9 bis 3, 22), die nothwendig von dem folgenden abgelöft werden muf, 


ſofern fie die Berufung des Sehers und bie praftifch- paränetifche Ber ' 


werthung aller folgenden Gefidite enthält. Mit ihr enthält die Apofalypie 
deren fieben, die durch befondere Eingangsfcenen beutlich von einander ge 


fondert und ihrem Inhalt nach darakterifict find. Diejelben gehen fänt 


lich 6i8 zum Ende, nur daß basjelbe fortgehend immer klarer in feinen 


Details enthüllt wird. Gleich bie zweite fondert fih nad) der Einleitung | 


(4, 1) durch daB eV9dws Eyevöum Ev nveuuer (4, 2) bentlich von ber 
vorigen ab. Sie läßt aus dem dem Lamme übergebenen Zukunftsbuch 
durch Oeffnung feiner Siegel die von Ehrifto geweißagten Vorzeichen des 
Endes hervorgehen; aber nachdem fie mit bem beim ſechsten Siegel eintree 
tenden Borboten des Weltunterganges (6, 12—14 vgl. Matth. 24, 29) 
bis zum Kommen des Cıldes vorgerüdt (6, 17) und Kap. 7 gezeigt, wit 
die Gläubigen vor den letzten Gerichten, die über die Völlerwelt exgehen, 
bewahrt und bie in der letzten Drangſalszeit gefallenen Märtyrer der Se 


figfeit theifhaftig werden, tritt mit der Eröffnung des ſiebenten Siegele | 


ein momentanes Schweigen ein, in welchem bie nähere Schilberung des 


Apolalyptiſche Studien. 33 


Gombination bietet, hat ſich derſelben ein ganz neuer Spielraum 
aufgethan. Die vömifche Weltmacht, einft das Bollwerk gegen das 
Andringen des judiſchen Antichriftentums, hat eine ganz neue Stel- 
lung gegen das Chriftentum eingenommen. In den Yunitagen des 
Jahres 64 Hat Eine blutige Verfolgung in Rom Taufende von 


fegten Gericht® für jetzt noch gurldgehalten wird (B, 1). Durch eine neue 
Einfeitung (8, 2—5) wird das Pofaunengeficht eingeführt, das, wie wir 
ſchon fahen, die legten zugleich zur Buße mahnenden Gotteögeridhte über 
die Völferwelt nud über Israel mit ihrem Erfolge näher darftellt und mit 
dem Ertönen ber fiebenten Pofaune wieder das Ende bringt, das aber nur 
im Simmel gefeiert wird, ohne näher geſchildert u werden (8, 6 bis 11, 18). 
Die vierte Viſion wird ähnlich wie die zweite (4, 1) durch die Oeffuung 
des himmiliſchen Tempels und ähnlich wie 8, 5 durch Donuerftimmen ein- 
geleitet (11, 19). Der Seher ſchaut den Kampf des Satan mit dem 
Meſſias von feinen erften Anfängen au (Kap. 12) und die Werkzeuge, die 
er zu biefem Kampfe ausrüftet (Rap. 13). Er ſchaut aber auch deu Meffias, 
umgeben von feinen Gläubigen, der fie zum legten Kampfe mit ihm führt 
(14, 1—5). Dann fommt aud hier mit dem falle Babel, der jet 
(fiehe oben) das Sigual zum letzten Gerichte ift (14, 8), dieſes Gericht 
ſelbſt, das aber vorerft nur in ſymboliſchen Bildern geſchaut wird (14, 14—20). 
Eine neue Ueberfchrift (15, 1) und eine himmliſche Scene (15, 2—4), wie 
Rap. 4 und 8, 3—5, leitet das Schaleugeficht ein, das wie 4, 1; 11,19 
mit einer neuen Oeffnung des hinnnliſchen Tempels (15, 5) beginnt, und 
nun bie fieben Engel mit ben fieben Zornſchaleu hervortreten läßt, deren 
ſechſte das letzte der dem Endgerichte vorhergehenden Gottesgeridhte, den 
Fall Babels (vgl. 14, 8) bringt (16, 19), mm den ſich als das Haupt 
thema dieſes Gefihts Kap. 17 u. 18 dreht. Nach ihm verkündet das 
Hallefuja im Himmel, daß das Ende gelommen ift (19, 1—10). Das 
fedjfte Geficht beginnt 19, 11 wieder mit der Oeffuung des Himmels wie 
4,1; 11, 19; 15, 5. Es ſchildert num wirklich den letzten Kampf und 
Sieg Ehrifti, die irdiſche Vollendung bes Gottesreiche, die Vernichtung des 
Satan, den Weltuntergang und das Weltgericht (19, 12 bis 20, 15). 
Die fiebente Bifion hat wieder in 21, 1. 2 eine Art Meberfchrift, wie 4,1; 
8, 2; 15, 1, wird danu ähulid) wie Kap. 4; 8, 35; 15, 2—4 durch 
himmliſche Stimmen eingeleitet (21, 3—8) und beginnt 21, 9. 10, wo 
chulich wie 4, 2 der Seher zum Anſchauen des hinimliſchen Jeruſalem, 
d. h. der himmliſchen Endvolleudung, entrüdt wird. Der Schluß dieſes 
Gefichtes (22, 611), dem Schluß des fünften (19, 9. 10) parallel, bildet 
zugleich den Schluß des Ganzen; denn der Epilog (22, 12—21) entjpricht 
dem Prologe (1, 18), ber das Weißagungsbuch als einen Brief an die 
firben Meinafiatifgjen Gemeinden fendet. 

Tirol. Stud. Jahrg. 1868. 8 


4 Bei 


Ehriften Hingeopfert, die Häupter der Apoftel, Paulus und Petzus, 
find unter Nexo gefallen, das Bild der blutbefleckten Welthauptftadt 
bat alle Gefühle des Grauens und Entſetzens aufgeregt. Das 
entihriftliche Princip hat bereus eine vorläufige Berwirkiihung ger 
funden, aber auf dem Gebiete der heidnifhen Weltmacht, im der 
Berfon eines römischen Kaifers. Die legte Offenbarung und Boll: 
endung des Antichriftentums konn nur auf demfelben Gebiete er- 
wartet werden, der Antichrift lann nur die Geftalt eines römiſchen 
Weltherrfchers annehmen. Das ift der Standpunft der johanneifchen 
Apokalypfe. Eine Vergleihung ihrer Anſchauungen mit denen des 
zweiten Theffalonicherbriefes zeigt von jelbft den Unterſchied und 
das richtige Verhältnis ihrer Zeitftellung. Die johanneifche Apo- 
tafypfe kann nur die fpätere fein, denn erft mit dem Wechſel der 
weltgefehichtlichen Scenerie konnte diefe Umbildung der apofalyptifchen 
Auſchauung vor fich gehen, melde das antichriftlihe Princip nicht 
mehr im Boden des Judentums, fondern des Römertums ſuchte, 
Die Vollendung der Chriſtusfeindſchaft nicht mehr im Pfeubo-Mieffio- 
nismus, fondern in dem Träger der Weltmacht erwartete, die End: | 
tataftrophe nicht mehr an den Untergang Serufalems, fondern an 
den Untergang Roms Tnüpfte. Damit find wir zu unferer Haupt 
frage zurüdgelehrt, ob diefe neue apolalyptifche Anfchauung am die 
Nero-Sage anknüpft. Es ift gewiß nicht richtig, wenn Düfterdied 
von vornherein behauptet, man dürfe dem Apofafyptifer ohne Un 
gerechtigfeit nicht eine ſolche Unlauterkeit und Beſchränktheit feine 
Glaubens und jeiner chriſtlichen Bildung zutrauen, wie fie die 
Anlehnung an einen ſchon von den römijhen Schriftftellern ver- 
fpotteten Aberglauben verrathen würde, man würde damit ber 
Apokalypfe jeden Anfpruc auf Infpiration und Kangnicität vauben 
(a. a. O., ©. 437). Un ſich lag eine folde Combination gar 
nicht fo fern. In Nero hatte das römifche Kaijertum zum erftene 
male fi als eine antichriftliche Macht gerirt, der erwartete Anti 
chriſt konnte alfo nur eine potenzirte Nero»Geftalt fein. Erinnern 
wir une doch nur am die wirklich geſchichtlich comftatirte Geftalt 
der Nero-Sage und vermifchen wir biefelbe wicht mit den Phan⸗ 
taftereien, die ſich fpäter am diejelbe geknüpft Haben. Wenn man 
in Rleinafien um das Jahr 70, wie das Auftreten des Pfeudor 


Apolalyptiſche Stubien. ss 


Rero zeigt, zu wiſſen vorgab, Nero fei nicht geftorben, fondern zu " 
den parthern gefflichtet, und feine Wiederkunft von dort erwartete, 
mas ift denn da von Beſchränktheit, Unlauterfeit und Aberglanben 
reden; wenn der bort lebende Apofalyptifer diefem Gerlicht glaubte ? 
36 wenigftene Tann mir feine vernünftige Borftellung von einer 
Infpiration machen, die eine untrügliche Gewißheit darüber mittheilt, 
ob Rero wirftich geftorben oder zu den Barthern entkommen war. 
Refrte er aber fiegreih aus dem Orient wieder, um an feinen 
Feinden Rache zu nehmen, fo war ja vorauszufehen, daß aud feine 
michriftliche Bosheit ihren höchſten Gipfelpunlt erreichen und dann 
mittelbar das letzte Eingreifen Gottes durch die Wiederkehr des 
Meſſias herbeiführen werde. In diefer Form würde die Vor⸗ 
feflung einfach an die Vorausſetzung anknüpfen, daß Nero noch am 
ben fei, was doc) zwei Jahre nach feinem angeblichen Tode noch 
ſcht wohl der Fall fein konnte. 

Aber felbft in einer anderen Weiſe noch konnte der Apokalyptiker 
die Nero⸗Geftalt in feine Combinationen aufnehmen. Er fonnte von 
der Borausfegumg ausgehen, daß Nero wirklich geftörben fei, und 
tmmarten, daß er von der fatanifchen Macht, deren Werkzeng er 
während feines Lebens geweſen war, wiederd auferwedt und auf 
den Schauplatz der Geſchichte geftellt werden würde, um fein unter» 
krechenes Werk zu vollenden und fo die letzte Entfaltung des Anti⸗ 
driftentums herbeizuführen. Dadurch gewann man eine Bor- 
fl, welche den auferftandenen und wiederkehrenden Nero in 
fie bedeutfame Barallefe zu dem auferftandenen und wieberfehrenden 
Chriftus ſtellte, deſſen Gegenbild er ja ohmehtn als der Antichrift 
fildete; denn wie diefer war er dann gerade durch feinen Tod zum 
Gipfelpunkt feiner ſataniſchen Würde und Machtentfaltung gelangt. 
Bir haben gefehen, mie dieſer Gedanke ber urſprunglichen Nero⸗ 
Sage völlig fern Tiegt, wie er, foweit wir, abgefehen von der 
Welalypſe, etwas davon hören, erft ganz fpät bruchſtückweiſe aus ⸗ 
bildet ift, um die Deutung des neuteftamentlichen Antichrift auf 
Nero unter Verhaltniffen durchzuführen, wo ein Antnüpfen an bie 
urfprängfiche Geftolt der Nero-Sage nicht mehr möglich mar. 
Dennoch wäre es an ſich durchaus moglich, daß ſchon der Apo- 
lalyptiler, den aan fpäter in dieſem Sinne verſtand, dieſe Vor⸗ 

de 


36 Weiß 

ſtellung gefaßt Hätte. Nur überſehe man nicht, daß dann won einer 
Anknüpfung an die Nero-Sage gar nicht mehr die- Rede fein 
tann. ° An diefe würde lediglich jene erſte Conception anfnäpfen, 
die in der erwarteten Rückkehr Nero's den gefchichtlichen Anlaß jah, 
mit welchem das Antichriſtentum fich vollenden konnte. Diefe 
Gonception aber hätte das dogmatiſche Motiv, die Vollendung des 
Antichriftentums im einer gefchichtlihen Grfcheinung zu denken, 
welche das vollendete Gegenſtück zu dem Meffins bildete; fie würde 
ſich nicht an die Nero-Sage anlehnen, fondern nur an den Typus 
des Antichriftentums, welchen die Perfon Nero's in der Erinnerung 
der Ehriften bildete. Wir können demnach mit voller Unbefangen- 
heit unterfuchen, ob in einer ‚diefer Formen der Apolalyptiker · die 
Nero» Sage oder Nero» Geftalt wirklich in fein Zukunftsbild auf 
genommen bat. 


4. Die geheilte Todeswunde. 


Im vierten Geſicht der Apokalypſe (fiehe oben) erfcheint der 
Drache, d. h. der Satan, wie er ſich zum leiten entjcheidenden 
Kampfe wider den Meffias rüftet und zu dem Ende ein Thier aus 
dem Meere auffteigen-Täßt, dem er feine ganze Macht und feine 
Weltherrfchaft überträgt (13, 1—8). Dies Thier -wird als ein 
Ungeheuer gejchildert, da8 von jedem der vier Thiere, welche bei 
Daniel die vier aufeinanderfolgenden Weltreiche barftellen (Kap. 7), 
etwas an ſich trägt (13, 2). Es ift alſo ein großes Weltreich 
gemeint, das die Macht und Herrſchaft alfer vorangegangenen in 
ſich vereinigt, und da es aus dem Meer im Weften fich erhebt, 
ohne Zweifel: das römische. Dieſes Weltreich fommt aber nur in | 
Betracht von Seiten der Herrfchaft und Gewaltübung, die von ihm 
ausgeht; die Thiergeftalt ftellt alfo die Herrſchermacht diefes Reiches 
dar, d. 5. das römiſche Imperium. Die Thiergeftalt repräfentirt 
alfo nicht eine einzelne Perfon, fondern einen Collectivbegriff, die 
Gefamtheit der Träger der Herrſchaft im Mömerreih. Das 
erhellt deutlich daraus, daß das Thier.nah 13, 1 fieben Häupter 
und zehn Hörner hat. Auch diefe Züge ſind der Schilderung bei 
Daniel entnommen, bei welchem. von den vier. Thieren eines bier 


Apolalyptiſche Studien. 37 


Häupter at, fo daß das fie alle zufammenfaffende Ungeheuer fieben 
haben muß. Es ift für das Verftändnis der apofalyptifchen Eon» 
ception ſehr bedentfam, von vorußerein zu conftatiren, daß dieſe 
fieben Häupter nicht der Zahl einer dem Verfaſſer vorſchwehenden 
Herricherreihe nachgebildet find, fondern fo zu fagen a priori aus 
Daniel aufgenommen. Ebenfo die zehn Hörner, die das legte Thier 
bei Daniel trägt und bie dort (7, 24) ausdrücklich auf Könige 
gedeutet werden und auch Bier durch die Königsbinden, welche ihre 
Hörner ſchmücken, als ſolche gekennzeichnet werden. Aber aud die 
fieben Häupter können nur ſieben perfünfiche Träger bes römifchen 
Iinpeeiums, alſo fieben Kaifer bedeuten, und wenn diefe nicht mit 
Konigsbinden geſchmückt erfcheinen, fo deutet dies nur noch beftimm- 
ter auf die älteften römijchen Cüfaren hin, welche befanntfich das 
Diadem nicht annahmen. Dagegen trägt jedes der Häupter einen 
Namen der Läfterung, was wol nicht auf die Vergötterung im 
alfgemeinen geht, welche den Kaifern bei Lebzeiten oder nach ihrem 
Tode zutheil. ward, fondern auf den Namen Auguftus, aeßaozoc, 
der den. Epriften ſchon an fich als eine läſterliche Aumaßung gött- 
fiher Verehrung (vgl. Röm. 1, 25. 2Theff. 2, 4. Act. 17, 28; . 
18, 13; 19, 27) exſcheinen mußte. In welchem Verhältnis die 
zehn Hörner zu diefen fieben Häuptern ſtehen, erſcheint hier noch 
als ein ungelöftes Räthjel, das die danielifhe Schilderung dem 
Wolalyptiker ftelit und, deffen Löfung er erft fpäter verſucht. Es 
it dabei vor alfem feftzuhaften, daß dies Thier das römijche Im⸗ 
xrium in feiner zukünftigen Vollendung darftellt, in der es einft 
den legten Kampf gegen den Meſſias beginnen foll, fo daß erft 
an diefem Ende die volle Dentung aller einzelnen Züge. erjcheinen 
lann. Um diefelbe vorzubereiten, geht aber die Schilderung zurück 
auf die gegenwärtige Erfcheinung des Thieres und hebt ein Mert- - 
mal an derfelben hervor, das uns fofprt- in der zeitgefchichtlichen 
Situation des. Verfaffers orientiren ſoll. 

Der Apolalyptiler erblictt nämlich eines der Häupter des Thieres 
wie geſchlachtet zum Tode, aber die Todeswunde des Thieres, die 
13, 14 als Schwerteswunde bezeichnet ift, wird geheilt (13, 3 
dgl. V. 12). Zum Berftändnis des Bildes ift zunächſt zu erwägen, 
dag Epriftus 5, 6 unter dem Bilde eines Lammes erſcheint, das 


38 Beh 


ebenfalls als es doyayudvov bezeichnet wird. So gewiß nun 
damit nicht gefagt fein ſoll, daß Chriſtus nur eine töbliche Wunde 
empfangen hat, fondern daß er wirklich geftorben tft, fo gewiß 
erſcheint auch hier bie Schlachtung bes Hanptes als eime folde, 
welche den Tod eines Hauptes wirklich Herbeigeführt hat. Im 
Bordergrunde der apolalyptiſchen Anſchauung fteht alfo der blutige 
Tod eines der Caſaren. Damit ift jede Anlehnung an bie Rero- 
Sage von vornherein ausgeſchloſſen; denn dieſe weiß eben von 
einem Selbftimorde Nero’s, auch von einem mißlungenen, ober etwa 
redreffirten Selbftmordverfuche nichts, fondern fie glaubt denſelben, 
tie gezeigt, einfach) zu den Barthern entflohen und hält das Gerucht 
von feinem Tode für ein falſches. Ginge wirklich, wie man gemeins 
hin annimmt, die Heilung der Tobeswunde auf die Reſtituirung 
dieſes Hauptes, fo wäre nicht, wie Sulpichns Severus annimmt, 
die Wunde, welche fi Nero mit dem Schwerte beigebracht, als 
wunderbar geheilt gedacht (fiche oben), fondern es könnte Die ge- 
Heilte Todeswunde nur ein freilich fehr ungeſchicter Ausdrud für 
die wunderbare Auferweckung Nero’s nach feiner Selbftentleibung 
fein, wie etwa der BVietorin’fche Commentar die Sache faßte. Wir 
hätten alfo hier. bie zweite der oben als möglich, gefegten, die mehr 
dogmatiſche Eonception, welche ſich rein an die antichriftliche Nero- 
Geftalt halt und in dem durch fatanifhe Kräfte wieder ermedten 
Nero den vollendeten Antichrift ſchaut. Aber gegen diefe Auffaffung 
erheben fi die größten eregetifchen Bedenken. 

Es wird von den Auslegern gewöhnlich überfehen, daß die ge- 
hellte Todeswunde bereits 13, 3 nicht als eine Wunde, welche das 
eine Haupt (dur feine Schlachtung), fondern als eine, welche das 
Thier feloft empfangen hat (m Any) voü Iavdrov euros), 

dargeſtellt wird. Ebenſo heißt es 13, 12 ausdrucklich, daß die 
Todeswunde des Thieres geheilt fei, und 13, 14, da das Thier 
die Schwerteswunde empfangen Habe und doc; lebe. Das Thier 
aber ift, wie wir gefehen haben, nicht ein einzelner römiſcher Kalſer, 
fondern das römifche Imperium als Collectiobegriff, und dies ent⸗ 
ſpricht auch allein dem Standpunkte des Geſichtes, in welchem noch 
nicht der ietzte Kampf ſelbſt gefihildert werden fol, fondern bie 
Mächte, welche der Teufel zum letzten Kampfe ausräftet, in ade 





Apolalypthche Gtubien. » 


geriſchen Geftalten vorgeführt werben. Diefe Mächte, obwel in 
ihter legten Vollendung noch zufünftig, find doch fchen gegenwärtig 
af dem Plan und der Hier jo beſonders Hervorgehobene Zug joll 
een den Zuftand einer derfelben in ber Gegenwart des Verfaſſers 
derftellen. Dem Thier mit der geheilten Todeswunde wird bereits 
von allen Selten gehuldigt (13, 4. 12), umd alle Welt ftaunt über 
die Hellung der Todeswunde (12, 3). Die Erfcheinung des wieder- 
emedten Nero kann aber erft zufünftig fein. Nach der gangbaren 
Auslegung, welche die geheilte Todeswunde in der Wiedererweckung 
Vero's fieht, müßte alfo dasfelbe Thier, welches eben noch das 
timifche Imperium war (13, 1. 2), von V. 3 ab plöglicdh einen 
ängelnen Imperator bezeichnen. Man könnte fich djes mit Ver⸗ 
weifung auf 17, 11 fo vermitteln, daß in diefem einzefnen Ym- 
perator das amtichriftliche Wefen des ganzen Thieres fi am voll- 
fändigften perfonificirt; aber in unſerm Kapitel fehlt eben jede 
Andeutung eines ſolchen Wechſels der Borftellung, wie fie bort der 
Apotalyptiter ausdrücklich fir nothwendig Hält, ja da gerade in 
8. 3 der einzelne Imperator, um deſſen Auferwedung es ſich han» 
den ſoll, als ein geſchlachtetes Haupt des Thieres von dem Thiere 
felbft umterfchieden war, ift ein folder Wechſel ganz unmöglich. 
Ban könnte ferner dafür anführen, dag in der weiteren Schilderung 
des Thieres die Züge fichtlich entlehnt find von dem Bilde des 
Ianiefifchen Anticgrift, der doc auch eine concrete Perſon ift. Allein 
ile Züge, die Hier namhaft gemacht werben, bie gottesläfterliche 
Schftüberhebung, in der das Thier ſich zum Gegenftande der An- 
belumg macht (8. 5. 8), die Weltherrſchaft (8. 5. 7) und die 
delanwfung der Chriften, die übrigens — wohlgemertt — 8. 7 
eft als vom Saten intendirte gedacht ift, alles das find bed 
Züge, Die auch das römifche Imperium als ſolches charatterifiren, 
ſobald dasfelbe einmal in der apofalyptifchen Auſchauung den Cha - 
tafter der fpecififch-antichriftlichen Macht angenommen hatte. Da- 
gegen bleibt es dabei, daß die letzte Perfonification diefer Macht, 
die alfo in dem wiedererwedten Nero zu fuchen wäre, nod nicht 
af dem Plane ift. Dies ift der legte entſcheidende Punkt, der 
fi} fringent beweifen läßt, ſobald man nur die apotafyptifche Com- 
bination des Verfaſſers ſich etwas ſorgfältiger analyfirt. Dem 


40 Weiß 


Thiere mit der geheilten Todeswunde wird nach 13, 5 noch eine 
Friſt von zweiundvierzig Monaten gegeben, während derer es feine 
Herrihaft ausüben Tann. Mit der Heilung der Todeswunde be 
ginnt alfo die nad dem Typus der danieliſchen Unglückszeit von 
3%: Jahren (fiehe oben) bemefjene legte Trübfaldzeit, während 
welcher der gottfeindlichen Macht Raum gegeben wird, wider die 
Gemeinde Gottes zu wüthen (B. 7). Nun ift es aber der Grund⸗ 
anſchauung der Apokalypſe völlig zuwider, anzunehmen, daß die fette 
concrete Erſcheinung der antichriftlichen Wacht oder der perfünliche 
Antichriſt noch eine längere Frift bekommen ſollte, innerhalb welder 
er feine Verfolgung ausüben kann. Vielmehr wie bei Paulus die 
volfendete Offenbarung des Antichrift unmittelbar die Kataftrophe 
herbeizieht, welche durch die Intervention des wiederkehrenden Meſſias 
bewirkt wird (2 Theſſ. 2, 8), fo wird es hier 17, 12—14 deutlich 
gefagt, daß fofort mit dem Auftreten des legten Weltherrfchers der 
Entſcheidungslampf mit dem Lamme beginnt, der nad) 19, 19. 20 
mit der fofortigen völligen Niederlage der in ihm perfonificirten 
Weltmacht endigt. Es kann demnach das Thier, welchem noch für 
314 Jahr Macht ‚gegeben wird, nicht der perſönliche Antichriſt fein, 
und wenn diefer als der wiederfehrende Nero gedacht war, fo ift doch 
auch in der Gegenwart des Apofalyptifers diefer jedenfalls noch nicht 
erfchienen, während das Thier bereits arigeftaunt und angebetet wird. 
Die Trübfalszeit, die mit der Heilung der Todeswunde beginnt, iſt 
aber ferner diefelbe, die nah 11, 2 für Israel die Zeit der Heiden 
herrſchaft war (ſiehe oben), die mit dem Fall Jeruſalems begann 
und Raum fehaffen follte für die legten Veranftaltungen Gottes, 
um das Volk der Verheißung zur Buße zu führen. Da wir nun 
fahen, daß der Fall Jeruſalems unmittelbar bevorfteht, fo muß die 
Gegenwart des Apofalyptifers, in welcher er die Todeswunde geheilt 
fieht, in eben diefer Zeit gefucht werden, und fo gewinnen wir mit 
voller Sicherheit den zeitgefhichtlihen Horizont, innerhalb deffen 
wir die Deutung jener bildlichen Darftellung zu fuchen haben. 
Wenn dadurch, daß ein Haupt am Thiere zum Tode geſchlachtet, 
d. h. wie wir fahen, wirklich getödtet ift, das Thier ſelbſt eine 
tödliche Winde empfangen hat, fo fann dies nur bedeuten, daß 
dem römifchen Imperium dur den Tod eines feiner Kaifer eine 


Apolalyptiſche Studien. 4 


übliche Wunde beigebracht ift. Dies ift aber wirklich gefchehen, 
indem durch den Tod des letzten Sproffen aus dem alten Cuſaren⸗ 
gihfeht der Julier das römiſche Imperium in eine, bedenkliche 
Krifis gelommen war, welche die biutigen Kämpfe des Interregnums 
dentfich genug kennzeichnen. Verſchiedene Ufurpatoren hatten ſich 
trgoben, aber entweder tiberhaupt nicht allgemeine Anerfenmung ober 
doch jedenfalls mur eine kurze Herrſchaft fich erringen können. Es 
fonnte zweifelhaft erfcheinen, ob das römische Imperium je wieder 
zum alten Beftand und zur alten Macht fich wiederherftellen werde. 
Et durch die Erhebung der Flavier ſchien diefe Beſorgnis befeitigt. 
veſpaſian Hatte durch den Feldzug in Britannien und durch den 
fübifchen Krieg ſeine militärifche Befähigung bewährt, die vafche 
Niederwerfung der Vitellianer bezeugte fein Gfüd und wohl konnte 
mit ferner alfgemeinen Anerkennung der Apofalyptifer die Todes- 
nunde des römifchen Imperiums geheilt fehen, zumal er in feinem 
Sohne Titus, der die Kriege feines Vaters mitgemadjt, mindeftens 
einen ebenfo tüchtigen Nachfolger'befaß, alfo alle Ausficht vorhanden 
war, daß mit der Erhebung Vefpafians ein neues Cäſaren geſchlecht 
auf den Thron gelommen war. Man Tann die gefchichtliche Sach⸗ 
tage, welche, die Folie für die bildliche Darftellung des Apola- 
Ipptier8 gab, nicht treffender charakterifiven als mit den Worten, 
mit denen Sueton die Gefchichte Veſpaſians eröffnet: „‚rebellione 
trum principum et caede incertum diu et quasi vagum im- 
rum suscepit firmavitque tandem 'gens Flavia ·· (ogl. auch 
Div Cassius 66, 10). Es ſchien wie ein Gotteögericht, daß mit 
dem Tode des Cäfaren, in welchem das römifche Imperium zuerſt 
eine antichriſtliche Haltung angenommen hatte, dasfelbe eine Todes- 
wunde empfangen hatte, an der es langſam hinzufterben fehien. 
Da auf einmal fieht die Welt mit Staunen mit ber Uebertragung 
des Imperiums durch den römiſchen Senat an Veſpaſian (den 
21. December 69) diefe Todeswunde geheilt (13, 3), und, während 
alles ſich anſchickt dem Thiere zu huldigen (V. 4), ahnt der Pro- 
dhet, daß nun die letzte große Trübſalszeit beginnt (V. 5), in 
welcher das römiſche Imperium feine antichriftliche Qualität bie 
ur höchften Potenzirung offenbaren wird, zumal gleichzeitig die 
Nachrichten aus Sprien verkünden, dag der Fall Jeruſalems, mit 


2 Bes 


welchem fir Israel die legte Trübfalsgeit beginnt, unmittelbar 
bevorfteht. 

Es darf, noch ein befonderes Moment hier hervorgehoben werden. 
Im Bunde mit dem erften Thiere erjheint 13, 11 ein zweites, 
das durch feine zwei Lammshörner eine Art Gegenbild Chriſti bildet, 
fi aber durch feine dämoniſche Sprache als ein Organ des Satan 
tennzeihnet. Die Apokalypfe bezeichnet es felbft wiederholt als das 
Pſeudo⸗ Prophetentum (16, 13; 19, 20), das mit feinen Lügen 
wundern die Erdbewohner verführt (13, 13—15). Wir fahen 
fon oben, daß die beiden Momente der Weltherrſchaft und bes 
falſchen Prophetentums, bie in dem pauliniſchen Pſeudo-Meſſfias 
noch vereinigt waren, bier auf zwei verſchiedene Träger vertheilt 
werden mußten. Nun kennt unfer Buch eine fatanifche Pſeudo⸗ 
Prophetie, melde inmitten der Gemeinde auftritt und diefelbe zu 
heidniſchem Libertinismus verführt (2, 20. 24 vgl. V. 2); aber 
das Pſeudo⸗Prophetentum, das in diefem zweiten Thiere repräfen 
tiet erfcheint, ift doch ein wefentlich anderes. Seine fpecififche 
Birkfomteit befteht darin, daß es die Welt dazu verführt, dem 
Thier, defien Wunde geheilt üft, zu huldigen (13, 12. 14. 16). 
Es Handelt ſich alfo darım, dem römifchen Imperium die alle 
gemeine Anerkennung zu gewinnen, und dies deutet unzweifelhaft auf 
einen Moment, wo ein neues Herrſchergeſchlecht auftritt und es 
daranf ankommt, ihm die Hufdigung des ganzen Weltreichs zu ver⸗ 
ſchaffen. Die Geſchichte hat Beifpiele genug, wie in folden Fällen 
heidniſche Orakel und angebliche Wunberzeichen mithelfen nmußten, 
wie Heidnifche Gauffer und Wahrfager das Ihrige thaten, um die 
Welt zu bezaubern und für die Anerkennung des neuen Herrſchers 
zu gewinnen. Auch bei der Erhebung Veſpaſians Hat bergfeichen 
nicht gefehlt (cf. Tacit. Hist. U, 78; IV, 81. 82. Suet. Vesp., 
cap. 5. 7. Dio Cass. 66, 1. 8) und bier hat ja ſelbſt der Jude 
Joſephus dazu mitgeholfen (cf. Suet. Vesp., cap. 5). Die Rolle, 
die das Pfendo-Prophetentum in unferm Buche fpielt, ift ein laut 
redendes Zeugnis dafür und fie beftätigt und, daß wir den gefchicht- 
fihen Moment, an welchen die apokalyptiſche Combination umferes 
Verfaſſers anknüpft,. richtig erkannt haben. 

Unfere ganze Erklärung ſcheint nun freilich an einer fpäteren 


Apolalyptiſche Studien. [ 


See zu ſcheltern, anf deren Zuſammenhang wir erft weiter unten 
prictennen Tönen, die aber fchon Hier berüchfichtigt werben muß, 
weil marı in ihr ſtets den Harften Beweis für die Anfnüpfung an 
die Rero⸗Sage zu finden geglaubt hat. Bon dem Thiere mit den 
fihen Häuptern und zehn Hörnern (17, 3. 7) fagt der angelus 
interpres 17, 8: „Das Thier, das du gefehen Haft, war und ift 
nit and wird auffteigen aus dem Abgrund und fährt in's Ver⸗ 
derbe.“ Hier meinte man num ganz fider zu gehen, wenn man 
deſe Rathſelrede gleichſetzte mit dem Rathſel der geheilten Todes⸗ 
wune des Thieres und an Nero dachte, der ſchon einmal regiert 
ht, gegemolirtig nicht regiert, aber wieberfommen wird. Zunächft 
zu bemerken, daß auch dann von einer Anlehnung an bie Nero- 
Gage nit die Rede fein kann, denn in ihr Hat Nero gar nicht 
aufgehört zu fein, fondern iſt einfach zu den Parthern entflohen, 
ud wird auf ganz natürliche Weiſe wiederkommen. Das Wieder 
fommen ans dem Abgrund Lönnte vielmehr nur auf eine wunder⸗ 
bare Etrweckung Nero's Hindenten. Aber auch Hier wird jede Deu- 
tung auf Nero durch den Contert einfach ausgefchloffen. Das 
Vier, um deſſen Erklarung es ſich Handelt, ift ja nad V. 3 und 
8.7 das Thier mit den fieben Häuptern; es Tann alfo Bier un. 
möglich mit einem der Häupter ibentificirt werden; es Tann nicht 
8.32. 7 einen Collectivbegriff repräfentiren und V. 8, mo das 
50 erflärt werden foll, auf einmal die fpecielle Beziehung auf 
Im befommen. "Wollte man auch hier fagen, in dem dageweſenen 
um) wiederkommenden Nero fei eben das Weſen des Thieres auf's 
veltonmmenfte perfonifichtt, fo fehlt es auch hier noch an jeder 
Andentung dieſes Gedantens, wie fie V. 11 ausdrüdfich gegeben 
Bird. Vor allem aber ift zu ermägen, daß nach der Nero-Gage, 
Bie fie in der jülbifcher Apokatyptit ausgebildet ift (fiehe oben), 
der wiederfeßrende Nero Rom zerftört, wie es auch hier das in 
dm testen Herrfcher perfonificirte Thier thut (B. 16), während 
das Thier, um beffen Erklärung es fich hier handelt, die Hure 
tägt (8. 7 og. 8. 3), d. 5. Rom zur Welthauptftabt macht. 
& lann alfo nur das römiſche Imperium als folches gemeint fein, 
das Rom den Glanz und die Macht der Welthauptftadt verleiht. 
kndlich aber fagt V. 8 ausdrücklich, daß die Erdbewohner das 


4 Weiß | 
Thier fehen, daß es war und nicht iſt und da fein wird. Hier⸗ | 
durch wird jede Beziehung auf die Perfon Nero’s: ausgefchloffen; 
denn wenn Nero felbft dies Thier ift, der erft mieder da fein. wird, 
wenn er aus dem Abgrund auffteigt, fo kann er- für jet, wo er 
völlig verſchwunden ijt, nicht gefehen werden. Darin liegt aber 
eben das ganze Acumen der Räthfelrede, da ein Thier- gefehen 
wird, das gegenwärtig nicht ift und doch gejehen wird, ati. doch 
in gewiſſem Sinne da iſt. 

Die Loſung dieſes Räthſels ſcheint mir auch Duſt erdiee nicht 
gefunden zu haben. Er verſteht das gegenwärtige Nichtſein des 
Thieres davon, dag Veſpaſian noch nicht das volle, ungetheilte und 
unbeftrittene Imperium erlangt hat (a. d. O., ©. 52. 513). 
Allein das widerſpricht der ganzen bisher dargelegten Conception 
des Apofalyptifers. Die Todeswunde des Thieres ift erft ‚geheilt, 
wenn Veſpaſian ſich im unbeftrittenen Beſitz des Imperiums be- 
findet, und dies iſt ſeit dem Senatsbeſchluß vom 21. December 69 
der Fall. Es iſt vielmehr daran zu erinnern, daß das römifche 
Imperium, wie es Rap. 17 erfcheint, als Träger der vom Blut 
der Heiligen trunfenen Hauptftadt, das Imperium in feiner -anti- 
riftlichen Qualität ift. In diefer war es bereits aufgetreten zu 
Nero's Zeit; gegenmwärtig,. wo der Träger des wieberhergefteliten 
Imperiums nod keinerlei Feindfeligkeit gegen die Chriſten gezeigt 
hatte, trat dieſer antichriftliche Charakter nicht hervor, das Thier 
in feiner Gegenwart war nicht da8 Thier, wie es hier gefchildert 
wird, dag dem Weibe das Blut der Märtyrer zu trinken .gibt. 
Obwol darum das Thier an fi wieder da ift, nachdem feine 
Todeswunde geheilt, und wieder von den Erbbewohnern gefehen 
wird, fo fann man doch im Näthjelmort von ihm fagen, daß es 
gegenwärtig nicht da ift, wie es geweſen ift-und wie es fein wird, 
wenn es einft in feiner antichriftlichen Qualität fi nicht nur offen- 
baren wird wie früher, fondern wenn es gleihfam aus dem Ab» 
grund der Hölfe kommend, diefelbe zur höchſten Steigerung bringen 
wird. Das ift ja eben der Punkt, von dem die ganze apokalyp⸗ 
tiſche Conception des Verfaſſers ausgeht, dag das in Veſpaſian 
wiederhergeftellte römifche Imperium, obwol es für den Augen- 
blick noch feine eigentliche Natur durch nichts verräth, dieſelbe ſchließ⸗ 


Apotalyptiſche Studien. . 45 


ih, doch offenbaren wird, wenn es den perfonificirten Antichriſt zu 
jinem Repräfentanten erlangt haben wird. 

Völfig abweifen müffen wir dagegen die Juſtanz, die aus dem 
Zahlenräthſel 13, 18 gegen unfere Erklärung erhoben werden könnte. 
Die Anflöfung desfelben durch Idy 11%, fo viel Freunde fie auch 
gefunden hat, bleibt abgefehen von allem anderen ſchon darum höchſt 
annatütlich, weil die Herbeiziehung des hebräifchen Alphabets dem 
zriechiſchen Sprachcharalter und Lejerkreife unſeres Buches durchaus 
viderſpricht. Ich will nicht behaupten, daß die uralte Erklärung 
hu Aureivog fehr befriedigend jei. Aber wenn wir aud für 
immer auf eime fichere Deutung verzichten müßten, der Ereget muß 
len früheren und zufünftigen Deutungen gegenüber nach dem oben 
Dargelegten darauf beftehen, der Contert fordere mit zwingender 
Coidenz, dag dns Thier, um deſſen Namen und Namenszahl es 
ſich handelt, mir entweder das römifche. Imperium überhaupt oder 
höhftens das wiederhergeftellte Imperium in feinem Träger Veſpa⸗ 
fion, dem das andere Thier oder der Pfendo- Prophet Thronhelfer 
genejen -ift, fein könne. 


5. Der adte Raifer. 


Im fünften Geſicht ſchaut der Apofafyptifer den Anfang des 
Endes (fiehe oben) und dies.ift für feinen Standpunft der Unter« 
um Roms. Demnach erjcheint Kap. 17 ein Weib in Purpur 
und Scharlach, mit Gold und Edelfteinen gefhmüct, trunken vom 
Bat der Heiligen, weldes aud ohne die ausdrückliche Deutung 
(8.18) jeder als die Welthauptftadt erfennt. Diefe ift aber, was 
fe ift, nur. durch das römiſche Imperium, welches in ihr reſidirt, 
fit mit Glanz und Herrlichkeit geſchmücktt, aber auch mit dem Blut 
der ‚Heiligen getränft hat. Daher darf die unferer Anfchauungs- 
wile von der Hauptftadt als dem Sig des Imperiums feltiam 
widerſprechende Vorftellung, daß das Thier fie trägt, nicht dadurch 
erläutert werden, daß die Hauptjtadt über das Weltreich herrſcht 
(Ewald a. a. O., ©. 300) oder von ifm getragen wird (Baur 
20. D., ©. 329), da das Thier nie das Welt reich, jondern 
ts die it den Caſaren perfonificirte Weltherrſchaft ift, fondern 


4 Weiß 


nur dadurch, daß die Herrlichkeit der Welthauptſiadt anf dem Im⸗ 
perium berußt und von ihr getragen, d. 5. erhalten. wird (vgl. 
Hr. 1, 3: psgew za ndvsa). 

Die Deutung diefes Geſichts wird nun zuerft in der Ruthſel⸗ 
rede gegeben, die wir bereit oben befprachen, wonach biefe® Thier, 
das hier deutlich in feiner antichriftlichen Qualität vorgeführt wird, 
geweſen ift und nicht ift, aber aus dem Abgrund wieberlommen 
wird. Damit aber ift eben die große Grundfrage ber Apolaiyptit 
geſtellt. Wann wird das römijche Imperium, das in Nero aller 
dings ſchon einmal als Vorſpiel feinen antichriftlichen Charakter 
gezeigt Hat, aber mit ihm untergegangen ift und jegt nach feiner 
Wiederherftellung ſcheinbar durchaus nicht mehr ift, was es geweſen, 
wann wird es auf's neue und in höchſter Steigerung jenen feinen 
antichriftfichen Charakter offenbaren und damit die Endlataftrophe 
Herbeiführen? Ratürlich, wenn die biefem Imperium beftimmte 
Herrſcherreihe abgelaufen ift; denn die höchſte Steigerung des Anti« 
riftentums kaun mur am Ende erfolgen. Nun bat aber das 
Thier, welches alle Macht der danieliſchen Weltmonarchieen in fich 
zufammenfaßt, fieben Häupter (fiehe oben), und dieſe Siebenzahl 
der Häupter entfpricht der Siebenzahl der. Hügel, auf melden das 
Weib figt (17, 9). Was im Bilde die fieben Häupter des Thieres 
find, auf welchen das Weib figt in dem oben entwickelten Sinne, 
das find in der Wirklichkeit die fieben-Hügel, auf denen Rom Liegt, 
in dem buchftäbfichen lolalen Sinne. In diefem Zufammentreffen 
fieht der Apolalyptiler feine Combination bewährt, daB diefer Stadt 
eine Reife von fieben Herrſchern beftimmt ift. Nun ift die Pro- 
guofe auf's Llarfte geftellt. Die fünf gefallenen Häupter (17, 10) 
find die Kaifer aus dem mit Nero untergegangenen alten Eäfaren- 
geſchlecht der Julier: Auguftus, Tiberins, Caligula, Claudius, 
Nero. Der gegenwärtige Herrſcher (6 als Zosw) iſt Beſpaſian; 
denn es verfteht ſich von felbft, daß die Kaifer des Interregnums, 
das Sueton als eine bloße rebellio trium principum bejeidmete, 
und während deſſen das Imperium am der Todeswunde Mitt, die 
ihm der Untergang der Julier geſchlagen, nicht mitgezählt werben 
lönnen. Denkt man an Galba, fo wird die ganze Eombination 
des Apolalyptilers undurchſichtig. Man jagt zwar, der Apolalyp-⸗ 


Apotalyptiſche Studien. 47 


tler habe vorauögejehen, daß Gaiba fih nicht fange Halten werde 
md nun vor dem wiederfehrenden Nero noch einen fiebenten ers 
wartet, um die Siebenzahl voll zu machen. Allein abgejehen davon, 
dag von einer kurzen Dauer der Herrſchaft des fechiten nichts an⸗ 
gedentet iſt, wird hierbei daß eigentliche Weſen folcher apokaldptiſchen 
Combinationen ganz verkannt. Die Apelalyptit, ſoweit ſie an die 
sigigtlichen Zeitverhäftuifie ankunpft und fi nicht in ganz vagen 
Zufunftsphantafteen verliert, geht nicht von einer felbftändig be⸗ 
ftünmten ober überlieferten bedeutungsvollen Zahl aus und beftimmt 
wa ihr ans, wieviel Herrſcher noch lommen müfjen bis zum Ende, 
jmdern gerade darin, daß in ihrem geſchichtlichen Horizont eine 
keftimmte Herrſcherreihe liegt, die einer. bedeutungsvollen Zahl ente 
ſpricht, fieht der Apekalyptiter ein Zeichen, daß die durch biefe 
Herrſcherreihe repräfentirte Entwicklung zu ihrer Vollendung ger 
fsarmen ift und nunmehr das Ende eintreten müffe. Wie der erfte 
Erangeliſt darans, daß zweimal fieben Generationen verfloffen 
varen bis zur Erhebung des davidiſchen Geſchlechts zur Konigs⸗ 
berrihaft und ebenſoviele bis zu feinen Sturze, ſchloß, daß nun 
mc abermals vierzehn Geuerationen der Zeitpuntt gekommen ſei, 
wo ber Legitime (wenn auch nicht leibliche) Sohn des legten Da- 
wlden bieje Wönigeherrjhaft wiederherftellen werde (Matth. 1, 17), 
ahalich argumentiert ber Apolalyptiler. Die Siebenzahl der Häupter 
wer ihm aus Daniel gegeben nud fie eutſprach, mie oben gezeigt, 
da fieben Hügeln Roms. Und eben darin, daß die Zahl der in 
ſeinm geſchichtlichen Horizonte Tiegenden Herrſcher dieſer Siebenzahl 
euiſprach, ſieht er die Gewähr, daß mit ihnen die gottbeſtimmte, 
derrſcherreihe der Siebeuhügelſtadt zu ihrem Abſchluß gekommen 
if. Nur bei unſerer Deutung aber liegt noch ein ſiebenter Herrſcher 
in feinem. Geſichtslreiſe. Iſt in Veſpaſian das römiſche Imperium 
wieder zu Beſtaud gelommen, fo darf ja nicht bloß er regieren, 
2 muß auch fein Sohn Titus ihm im legitimer Weiſe folgen. 
Damit iſt aber bie gottgeordnete Siebenzahl der Herrſcherreihe, 
weiche bie dem römifgen. Imperium beſtimmte Eutwicklung tepräs 
jeutirt, abgefäjloffen. Wer dann noch folgt, kann nur der Anti- 
Gift ſelbft fein, deſſen Etſcheinen das Ende unmittelbar herbeiführt. 
Daß übrigene für Diefen fiebenten nur eine kurze Dauer feiner 


43 Weiß 


Herrſchaft in Ausficht genommen. wird (17, 10: oAdyov avziv . 
dei usivaı), Tann an ſich ſchon daran liegen, daß das Ende in 
der ganzen. Apofalypfe als nahe erwartet wird und daher. für ihn 
nur noch eine kurze Regierungszeit übrig bleibt. 

Es könnte nun feinen, als ob dieſe Combination am .natür- 
lichſten dahin führe, in dem fiebenten die Vollendung des römischen 
Antichriftentums zu erwarten. Allein das ift gegen die Weife der 
Apokafyptif. Schon bei Daniel fteht das kleine Horn, welches ben 
Antichrift felbft darftellt, außerhalb der fieben Häupter und. zehn 
Hörner (7, 8 vgl. 8, 9. 23), d. 5. außerhalb der gottgeordneten 
Entwicklungsreihe. Der Antichriſt ift eben die Geftalt, welche der 
Satan jelbft zum legten Kampf gegen den Meſſias und fein Reid) 
heraufführt, in welcher das Thier aus dem Abgrund ber Hölle 
herauffommt. In ihm löft fih nun erft ganz das Mäthfel von 
dem Thier, das war und nicht ift und doc fein wird; denn das 
Thier in feiner antichriſtlichen Quafität ift in diefem achten Herrſcher 
volftommen perſonificirt (17, 11: 10 Mnolov ö 7v xal oux doru 
xab aus öydoos Eorıv), wie es einft in Nero bereits vorläufig 
gleichſam perfonificirt war; daher es denn auch fofort in's Ver⸗ 
derben fährt (B. 11 vgl. V. 8). Hier ift alfo wirklich das Thier 
zugleich eine einzelne conerete Perfon, aber es ift nicht willkürlich 
das Imglov bald als Eoliectiv- und bald als Einzelporjon ‚gedacht, 
fondern es iſt ausdrücklich hervorgehoben, daß das Thier, das fonft 
das römiſche Imperium ift, hier „auch ſelbſt“ als einzelne 
Perſon, als ein achter Herrſcher nach der ſiebenzähligen Herrſcher⸗ 
reihe auftritt, weil es ſich um die vollendete Verwirklichung ſeiner 
antichriſtlichen Qualität handelt. Dieſer achte Kaiſer iſt alſo jeden⸗ 
falls ein zweiter gleichſam potenzirter Nero, da in dem erſten das 
Thier in ſeiner antichriſtlichen Qualität ſchon da war; aber daraus 
folgt keineswegs, daß es der wiedererwedte Nero ſelbſt iſt, der Hier 
als achter erfcheint. Vielmehr ift und bleibt es für die gangbare 
Auslegung eine faft unerträgliche Härte, daß einer von den fieben, 
der dort ohne jede Unterſcheidung als einer der fünf gefallenen 
Herrſcher gezähft war, jegt als ein achter außer der Neihe.bezeichnet 
werden fol, in welchem das Thier felbft ſich perfonificirt. Frei⸗ 
lich behamptet man, es werde ja ausdrüclic gejagt, daß dieſer 


Apotalyptifäie Studien [‘} 


afte einer von den fieben fei (dx =öv ärıra dos). Aber wenn 
auch nach der Analogie von Act. 21, 8 dies allenfalls in ben 
Borten liegen könnte, und das als im Apol. 17, 1; 21, 9 nicht 
ſchlechthin dagegen beweift, fofern es fich in diefen Stellen um eine 
Subjectsbezeichnung, in unferer um eine Prädicatsbezeihnung han- 
delt, jo wird doc jeder Kenner des Griechiſchen zugeben, daß die 
Worte zunächft dem Lefer den Gedanken erwecken mußten, daß der 
achte von den fieben abftammt. Wenn man fid) daran geftoßen hat, 
dub bie fieben ja nicht demfelben Geſchlecht angehörten, fo ift zu er⸗ 
Digen, daß dies eben nach der Natur der Sache jedem Lefer Mar 
mar und er aljo nicht an eine Abftammung aus dem allen gemein» 
fimen Gefchlechte, fondern nur an eine Abftammung denken fonnte, 
die innerhalb der Reihe der fieben zu ſuchen fei. Dabei ift aber 
vor allem zu bedenken, daß es ſich Hier eben nicht um eine genen» 
logiſche Notiz Handelt, fondern um ein für die eschatologifche Com⸗ 
bination des DVerfaffers fehr wichtiges Moment. Wenn es aller⸗ 
dings bei der Beftimmung des Antichriſt nicht in dem Maße, wie 
bei der des fiebenten Kaiſers, nothwendig war, daß der Verfaſſer 
tine in feinem gefchichtlichen Gefichtskreife liegende Perſon für das 
Auftreten desfelben in den Blick faßte, fo gewann doch eben feine 
Eombination dadurd ungemein an anfchaulider Evidenz, wenn in 
jman Horizont bereits eine beftimmte Perfon lag, die er für die 
vollendung des antichriftlichen Wejens in Ausficht nehmen konnte. 
Und dieſes eben will der Verfaffer durch jene Bemerkung anbeuten. 
& war noch einer vorhanden, der wie der nächſt dem gegen- 
värtig regierenden Kaiſer zu erwartende fiebente aus ber Weihe 
der fieben ftammt, in dem alfo das Weſen biefer fieben fich ver- 
förpert und darum die letzte Vollendung des antichriftlichen Weſens 
erwartet werben muß, weil der außerhalb der abgejchloffenen fieben- 
füpfigen Herrſcherreihe ftehende nur noch der Antichrift fein kann 
(fiehe oben). Dies ift der zweite Sohn des Kaifers, defien Ger 
[let das Imperium wiederhergeftellt Hat, Domitian *). 





2) Es laßt fich, wie ich glaube, mit höchſter Evidenz darthun, daß die Ve 
nichung der Apofafypfe auf Domitian, d. h. die Deutung, wonach fie in 
Domitian den Antichriſt erwarte, die ältefte Ueberlieferung if. Die augen- 
Ziel. Stud. Jahrg. 1869. 4 


0 0. Beiß 


Diefe Combination wäre denkbar, auch wenn der Apolalyptiker 
nichts weiter von Domitian wußte, was ihn veranfaßte, in ihm 
den zufünftigen Antichrift zu fehen. Aus feiner Jugendzeit, die 
unter ſehr beſchränkten Verhältniſſen verfloß, Hatte man ſchwerlich 
in Kleinaſien etwas gehört, aud nichts von den ſchmutzigen Ge 
ſchichten, die man fi in Rom erzählte über die Art, wie er von 
feiner körperlichen Schöneit zu profitiren geſucht Hatte (Sueton. 
Dom., cap. 1). Aber daß der achtzehnjährige junge Cäfar in 
Rom, wie Tacitus (Hist. IV, 2) ſich ausdrückt, stupris et adul- 
teriis die Rolle des faiferlichen Prinzen fpielte und daß er bald 
mit Mucian in Ehrgeiz und Herrſchſucht wetteiferte, das mußte 
man wol in Kleinafien jo gut, wie, es fein Vater wußte, ala er 
ihm fehrieb, er wundere ſich mur, daß er ihm noch feinen Nachfolger 
ſchicke (Sueton. 1. c.). Und wenn man gar aud in Kleinaſien 
glaubte, dag er mit Petitius Cerealis, der den germaniſch-galliſchen 
Aufftand dämpfte, im geheimen über den Oberbefehl unterhanbdelte, 
um je nad) Umftänden des Bruders Kriegeruhm zu erwerben ober 
gar als Nebenbuhler des Vaters aufzutreten (Tacit. Hist. IV, 86. 
Suet. Dom., cap. 2. Dio Cass. 66, 3), fo war e8 fein Wunder, 
wenn man dort in dem jungen Domitian bereit den zufünftigen 
Tyrannen ahnte. Meinte doc) auch Sueton, er Habe damals ſchon 


ſcheinlich untichtige Angabe des Irenäus, ber in Betreff der Apolalypſe 
fo wohl unterrichtet ift, daß er ſich für eine Lesart in ihr auf das Zeugnis 
der Zeitgenoffen des Verfaſſers beruft, Hinfichtfich ihrer Abfaſſung unter 
Domitian (V, 30, 8) ift bisher noch ein unerklärtes Räthſel geblieben. Wenu 
nun die dem Irenäus wohlbelannte ältefte Ueberlieferung berichtete, daß bie 
Apokalypfe auf Domitian gehe, fo konnte er vom feiner Auffafjung der 
Prophetie ans unmöglich dies fo verftehen, daß der Antichrift der Apo- 
talypſe Domitian fein folle: Sonſt wäre ihm ja ber Apoftel Johannes 
ein falſcher Bropfet geweſen, da body nun einmal Domitian nicht ber Antie 
chriſt gewefen war und fein Auftreten ‚nicht die Wiederkunft Chriſti herbei - 
geführt Hatte. Er konnte ſich alfo jene alte Ueberlieferung nur ſo zurecht - 
legen, daß bie Regierung Domitians der geſchichtliche Aniaß und Aus- 
gangspunft, nicht aber der Schlußpunft ihrer eschatologiſchen Zukunfts- 
ausficht fei; dann aber war fie unter Domitian gefcjrieben. Indem wir 
fo den Urfprung feines Irrtums erfennen, erhalten wir baburd die Ger 
wißheit, daß die Zeitgenoffen des Johannes die Apokalypſe nicht anders 
berftanden, wie wir fie glauben verſtehen zu müffen. 


Mpolafgptifge Stubien. si 


neigt, qualis futurus esset (cap. 1). Und wenn man bereits 
damals ahnte, was fpäter wirklich der Tall war, dag er gegen 
ftinen Bruder beftändig offen und insgeheim intriguirte, fo lag ja 
darin mit ein Grund, weshalb der Apokalyptiker dem Titus nur 
eine kurze Herrſchaft prognofticirte.e Daß aber dem wirklich fo 
war, erhellt deutlich aus einem Punkt in dem apofalyptifchen Ges 
funtbifde, der viel zu wenig beachtet iſt. Es ift nämlich Mar, daß 
ber achte Kaifer nicht auf dem Wege legitimer Erbfolge zur Regie 
rung gelangt, was auch dem Hervorgehen des Tieres aus dem 
Wgrunde wenig entfprechen würde. In der Art, mie dies nad 
11, 12. 13 befchrieben wird, fommt nämlich nod ein Zug des 
Dierbildes zur Deutung, den wir oben als ein dem Apofafyptifer 
durch die danieliſche Schilderung geftelltes und noch nicht gelöftes 
Problem erfannten. Das Thier hat außer den fleben Köpfen auch 
in Hörner, und and) diefe müffen nah 17, 12 wie bei Daniel 
Könige fein. Im Römerreiche gibt es aber nur einen Baskevg, 
das ift der Kaiſer (Joh. 19, 15). Man Hat darum gewöhnlich 
an die parthifchen Bundesgenoffen des wiederkehrenden Nero gedacht, 
wobei aber die Zehnzahl völlig unerffärlich wird. Nun Heißt es 
in ober ausbrüctich, dag diefe zehn noch nicht Konigsherrſchaft 
empfangen Haben (17, 12), es find alfo gegenwärtig noch nicht 
Vnige, fondern, wie ſchon Ewald und Baur erklärt haben, bie 
Sttthalter der großen römiſchen Provinzen. Diefe können aber 
m auf eine kurze Friſt königliche Machtvollkommenheit erlangen 
(17, 12), wenn auf allen Enden des Weltreihs die Revolution 
lothricht und jeder der Statthalter ſich felbft als Ufurpator erhebt. 
Bie der, Apofalyptiter auf diefe Eombination kam, ift Mar, ſobald 
man fi) erinnert, daß es in biefem Geficht fi um den Fall Roms 
handelt und um eine Veranſchaulichung der Wege, auf denen es 
ad) der zeitgefchichtlichen Situation zu diefer Kataftrophe kommen 
lonnte. So Tange der Träger des twiederhergeftellten Imperiums 
in der MWeltftadt herrſcht, ift dieſe natürlich vor einem ſolchen Ger 
ſcid gefichert. Aber in den blutigen Kämpfen des Interregnums 
bar Rom jelbft der Schauplag des Krieges und von all feinen 
Greueln ſchwer heimgefucht worden. Solche Zeiten mußten wiebere 
khren und fie tonnten Leicht genug wiederkehren. In jener Zeit 
4 


[27 Weiß 


hatten ja die Provinzen, wie Tacitus ſich ausdrüdt (1, 4), das 
Geheimnis des Imperiums kennen gelernt, daß auch anderswo als 
in Rom Kaifer gemacht werden könnten. Wie damals bald hier 
bald da in den Provinzen Aufftände ausbrachen, fo mußten nun 
in allen Provinzen des Weltreichs zu gleicher Zeit Ufurpatoren ſich 
erheben, alfe von gleichem Haſſe befeelt gegen den regierenden 
Herrſcher und feine Hauptftabt; dann waren plöglich aus dem Thiere 
des antihriftlichen Imperiums die zehn Königehörner hervorgewachſen, 
wie fie Daniel geſchaut. Aber freilich fo lange diefelben nur jeder 
für ſich ftritten, konnten fie nur einander zerfleifchen, und Rom mit 
feinem Kaifer war noch ſicher genug vor ihnen. Andererfeits liegt 
es ja tiefbegründet in dem Grundgedanken der Apofalyptik, daß der 
Antichrift, che ihn felbft das Gotteögericht ereilt, die Gotteögeifel 
werden muß, welde das Strafgeriht an der Wiege des Anti— 
Hriftentums, an der vom Blute der Heiligen trunfenen Babel 
vollzieht. So geſchieht es denn durd ein Wunder Gottes, daß 
alfe diefe zehn Könige, plöglich eines Sinnes geworben, ihre Macht 
dem Thiere, das in Domitian fich verkörpert Hat, übertragen 
(17, 13. 17). &o, von der Revolution auf den Thron erhoben, 
sieht Domitian mit feinen zehn Thronkelfern gegen Rom, und in 
den Kämpfen, welche der Herrfchaft des fiebenten Kaifers ein ſchnelles 
Ende machen, geht die Welthauptftadt, durch Feuer und Schwert 
verwüſtet, zu Grunde (17, 16). Rom ift gefallen und der Ans 
fang des Endes ift da. Der Antichriſt Hat die Weltherrſchaft er- 
langt und der legte Entfcheidungstampf fteht vor der Thüre. 
Es ift ein großartiges, phantafievoffes Tableau, das fi vor uns 
. aufrolit, die Spufgeftalt eine® Nero redivivus hat nirgends einen 
Plag darin, die Farben find alle der wirklichen zeitgefchichtlichen 
Situation und ihren Erlebniffen entnommen. So jollte fih das 
römische Imperium zum volfendeten Antichriftentum entwickeln, 
fo ſollte die Welthauptftadt felbft das Gericht durch ihre eigenen 
Kinder ereilen, vorausgefeßt, daß die Entwiclung der Weltgefehichte 
fo raſch zum Ende eilte, wie der Apofalyptifer vorausfegt. Diefe 
Vorausfegung hat ſich nicht erfüllt, darum konnten ſich aud) Die 
Geſchicke Roms und feines Imperiums nicht fo erfüllen,’ wie es 
der Apokalyptiker in den Zeichen der Zeit und der ihm fo räthfel- 


Apolalyptiſche Studien. 58 


volfen Geheimfchrift der danielifchen Weißagung zu Iefen glaubte. 
Aber feine gefchichtlihe Spur führt darauf, daß man in der da- 
moligen Zeit die von Gott ſtammende Weigagung der leiten Dinge 
fo wenig von der menjchlichen Vorftellungsform über die Wege 
ihrer geſchichtlichen Verwirkfihung zu unterfcheiden wußte, wie man 
heutzutage in gewiſſen Richtungen der Theologie e8 verfteht. Paulus 
hat die Geftalt des jüdifchen Pſeudo-Meſſias von feinem Zu» 
lunftshorizonte ruhig verfehwinden gefehen, als der fortfchreitende 
Sieg des Evangeliums in ber Völterwelt die von dorther drohen- 
den Gefahren bejeitigte; auch die VBefürdtungen, mit welden der 
Volalyptiler der Thronbefteigung des dritten Flavier entgegenfah, 
haben ſich im diefem Umfange nicht erfült. Man mag über den 
Urfprung der johanneifchen Schriften denken wie man will, das 
wird niemand leugnen, daß der Verfaffer des Evangeliums und der 
Briefe die Apofalypfe kannte und mit der kleinaſiatiſchen Kirche 
für ein prophetiſches Buch Hielt. Aber er hat fih nicht daran ge⸗ 
ſtoßen, daß ſich die Vollendung des Antichriftentums nicht in der 
von ihr in Ausfict genommenen Weiſe verwirklicht hat. Seine 
Zeit Hatte der Gemeinde ſchlimmere Gefahren gebracht in der aus 
ihrem Schoße auftauchenden, die Fundamente des chriſtlichen Glau⸗ 
bens untergrabenden Irrlehre. In den Pfeudo- Propheten diefer 
Ittlehre Hat er darum das Kommen des Antichrift (1 Joh. 4, 3) 
geiehen und daraus die Nähe der legten Stunde erſchloſſen (2, 18). 
Ad diefe Erwartung Hat fi nicht erfüllt und die Kirche Ehrifti 
hält das echt, weiter zu forfchen in den Zeichen der Zeit, wo 
das Auftauchen neuer antichriftlicher Geftalten auf die der Boll- 
mdung des Antichriftentums entgegenreifende Entwiclung und damit 
af die Nähe des Endes deutet. Sie hat ſolche Zeichen zu fehen 
glaubt in dem Auftreten des Islam, in der Herrichaft des Papſt ⸗ 
tms in dem neuen Rom, felbft in den meueften Verſuchen zur 
Aufrichtung einer gott- und geſchichtswidrigen Weltherrfchaft. Es 
war nur ein bei der Unreife der hermenentifchen Kunft verzeihlicher 
Yertum, wenn man folche an fid) wohlberechtigte apofalyptifche Com⸗ 
binationen für eine Auslegung der johanneifchen Apofafypfe ausgab ; 
der es ift warlich Zeit, daß man endlich die Exegefe der Apofa- 
Üpfe von ihrer praktiſchen Anwendung und Verwerthung zu unter⸗ 


ba Weiß 


ſcheiden anfängt. Auch fo wird es dabei bleiben, daß niemand Zeit 
und Stunde weiß und daß die Weltgefchichte noch manche apofa- 
Ipptifhe Combination zu Schanden machen wird. Aber die Kirche 
behält die Aufgabe, mit wachſamem Auge die Zeichen der Zeit zu 
begleiten und bei jedem neuen Zeichen der vorgefchrittenen antie 
Hriftlichen Entwidlung die Nähe des Heren zu verkünden, defjen 
Kommen erft das Wort der Löfung für die große Frage bringen 
wird, welches die legte und höchſte Verwirklichung des antichrift« 
lichen Principe war. 


6. Legter Kampf und Sieg. 


Um die Nero⸗Hypotheſe in ihren legten Schlupfmwinfel zu vers 
folgen, müfjen wir den eschatologijchen Entwicklungsproceß der 
Apofalypfe noch einen Schritt weiter begleiten. Das Erſcheinen 
des Antichrift zieht unmittelbar die Wiederkunft Ehrifti Herbei, der 
zum Gericht über diefe höchfte Vollendung des gottfeindlichen Wefens 
kommt. Nun ift das legte Gericht, das der Endvollendung vorau⸗ 
geht, in der altteftamentlichen Prophetie häufig als ein Sieg er 
hova's über die zum Kampfe wider fein Volk verfanmelten Heiden- 
völker dargeftellt, und im Anſchluß an diefe Bilder bejchreibt der 
Apofalyptifer das meſſianiſche Gericht in feinem Vollzuge näher. 
Iſt das Antichriftentum. in der Geftalt eines Weltherrfchers ver- 
förpert, fo kann der Untergang feiner Macht, in dem ſich das Gottes⸗ 
gericht über ihn vollzieht, am natürlichften anſchaulich dargeftellt 
werden als feine Niederlage in einer großen Entſcheidungsſchlacht. 
Zum erftenmal taucht dieſes Bild eines ungeheuren Blutbades im 
vierten Geficht auf (fiehe oben), wo das meſſianiſche Gericht erſt 
in fombolifchen Bildern vollzogen wird und die Kelter des Zornes 
Gottes getreten (14, 20). Aber erft im fünften Geſicht rüftet 
ſich der Antichrift felbft mit feinen zehn Thronhelfern zu diefem 
legten Kampf mit dem Lamm und feinen Öläubigen (17, 14), 
tote er nad) 11, 7 bereits mit den legten Gottesgefandten in IJorael 
(fiehe oben) gekämpft und fie getöbtet Hat. Dennoch bleibt bie 
umiverfaliftifhe Anfhauung des Apofalyptiters auch Hierbei nicht 
ftehen. Das Weltreih des letzten römiſchen Imperators umfaht 


Apotalgptifcie Studien. [3 


denn doch nicht die ganze Erde. Jenſeits des Euphrat find noch 
jefbftändige Staaten, die als heidnijche füh an dem legten Kampfe 
gegen das Chriftentum betheiligen müffen. Wir haben fehon oben 
gezeigt, wie willkürlich die Identificirung diefer Könige des Oftens 
mit den zehn Hörnern in Kap. 17 iſt. Diefelbe wiberfpricht ber 
ganzen Delonomie des fünften Geſichts. Während erft mit der 
fiebenten Zornfchale der Untergang Roms erfolgt, nach welchem der 
feste Imperator, ber ihn mit feinen zehn erft im legten Augenblick 
fonverain gewordenen Helfershelfern Herbeiführt, zu der Weltherr⸗ 
ſhaft gelangt, die ihn zum legten Kampf gegen das Ehriftentum 
befähigt, find bereits während der fechften Zornſchale die Könige 
des Oftens durch fatanifhe Verführung bewogen worden, ſich auf 
dem Schauplag der großen Entſcheidungsſchlacht einzufinden, nad» 
dem ihnen durch Austrocknung des Euphrat der Weg dorthin be 
reitet ift (16, 12—16). Es bedarf durchaus nicht der Reflerion 
auf die parthiſchen Bundesgenoſſen Nero’s, um diefe Anſchauung 
des Apofalyptifers zu erflären. Bon Oſten her über den Euphrat 
waren ftet die Feinde des altteftamentlichen Gottesvolks heran⸗ 
gezogen, und ber durch die ganze Bilderfprache der Apofalypfe ſich 
hinziehenden typiſchen Parallele zwiſchen dem altteftamentlichen und 
neuteftamentlichen Gottesreiche entjpricht es durchaus, daß auch beim 
festen Kampf der Weltmacht wider das Chriftentum die Könige 
des Oſtens nicht fehlen können, nur daß jet, wo der Schwerpunkt 
der antichriftlichen Macht in dem römifhen Imperium ruht, fie 
mr noch als Bundesgenoſſen desfelben erfheinen können. Diefe 
Könige der Erde (vgl. 16, 14) find es nun, die im fechften Ge- 
fihte wirklich ihre Heere mit denen des Antichrift zum letzten Lampfe 
wider den Meſſias verbunden haben (19, 19); denn die zehn 
Hörner, die auch im Bilde zu dem Thiere felbft gehören, haben ja 
ihre ufurpatorifche Königsmacht dem Antichrift abgetreten (17,13. 17). 
Ihnen entgegen zieht der Meffias mit feinen himmliſchen Heerfcharen 
(19, 11—16) und ein Engel fordert die Vögel des Himmels zum 
großen Leichenſchmaus auf (19, 17.18), der nad) dem ungeheuren 
Blutbade, in dem alle Mitftreiter des Tieres umkommen, ifmen 
bereitet iſt ( B. 21). 

Die Vorſtellung von dem meſſianiſchen Gericht hat ſich hierdurch 


Be Weiß 


eigentümlich modificirt. Ohne daß es aufhört, das Gericht zu fein, 
welches die verdiente Vergeltung über das Antichriſtentum bringt, 
hat es doch ſeinen nächſten Zweck und Erfolg in der Beſiegung 
aller gottfeindlichen Mächte. Die beiden Thiere mit ihren Helfers— 
helfern find jegt für immer vernichtet (19, 20), die Macht bes 
Satans, dem feine Werkzeuge entriffen find, ift für lange Zeit 
gebrochen (20, 1—3), dadurch ift Raum gemacht für die Herr- 
schaft Ehrifti auf Erden. Hieran fchließt ſich der eigentümlichſte 
Zug in dem apokalyptiſchen Zufmftsbilde unferes Buches, das 
allein unter allen neuteftamentlihen Schriften eine irdiſche Voll- 
endung des Gottesreiches in Ausficht nimmt (20, 4—6). Iſt die 
gottfeindfihe Macht in dem Träger der Weltherrfchaft concentrirt 
gedacht, fo fteht nach dem Sturze desfelben einer irdiſchen Vollen- 
dung des Gottesreiches nichts mehr im Wege. Diefe irdifche Voll⸗ 
endung hat der Natur alles irdifchen gemäß nur eine begrenzte 
Zeitdauer; aber man würde fehr unrecht tun, wenn man dem 
Apokafyptifer, weil er im Anfchluß an jüdifche Borftellungen diefe 
Dauer auf die ſchematiſche Zahl von taufend Jahren beſtimmt, 
deshalb alle chiliaſtiſchen Träumereien des fpäteren Judentums zu⸗ 
ſchreiben wollte. Die Borftellung Hält fih von allem Phantaftifchen, 
das die Ausleger fo freigebig Hineingetragen haben, vollftändig frei. 
Die fhon von Ehrifto felbft für feine Wiederkunft angekündigte 
Sichtung der Gläubigen entfcheidet, wer treu geblieben ift und daher 
an dem taufendjäßrigen Reiche theilnefmen darf (20, 4); wenn 
die Märtyrer zu demfelben auferwedt werden, fo ift diefe erfte 
Anferftehung (20, 5) lediglich als Erweckung zum irdiſchen Leben 
gedacht, wie die Todtenerwedungen, die Ehriftus während feines 
Lebens vollzog. Das priefterlihe und königliche Walten der Gläu- 
bigen in diefem Reich (20, 6), das noch ganz unter die Bedin- 
gungen des biesfeitigen Weltlaufs geſtellt erfcheint, hat Lediglich den 
Zwed, den Nationen der Erde, foweit fie nicht im Heere des Anti- 
Hrift geftritten Haben und mit ihm untergegangen find, das Heil 
zu vermitteln und fomit das Werk der Völterbefehrung zu vollenden 
(fiehe oben). Eben darum können auch die entfernteften derfelben, 
die von diefer Wirkſamkeit am wenigſten erreicht find (Gog und 
Magog), ſchließlich noch vom Satan zum legten Anfturm wider 


Apotalyptiſche Studien. 87 


das Gottesreich verführt werden (20, 7. 8), dem dann freilich 
durch unmittelbare Intervention Gottes ein vafches Ende gemacht 
wird (20, 9. 10). Erft am diefem legten Ziele der irdiſchen 
Entwicklung lenkt der Apofalyptifer in die allgemeine neuteftament- 
fie Eschatologie ein, die nur ein Weltgericht und eine ihm fol⸗ 
gende himmliſche Vollendung in der neuen Welt kennt. Es ift uns 
begreiflich, wie man ein Zeichen einer äußerlichen grobfinnlichen 
Anſchauungsweiſe darin hat fehen können, daß die Apofalypfe einen 
ötfhen Steg und ein irdiſches Reich Chrifti Hoff. Die Schil- 
kung des himmlifchen Jeruſalem vereinigt, allerdings in plaftifchen 
Gilden, wie fie ja aber durch die Anfchauungsform der apofalyp= 
tiſchen Geſichte gefordert waren, die ibealften Züge, mit denen je 
die Ehriftenhoffnung die himmliſche Enbvollendung ansgeftattet Hat. 
Unmoglich alfo kann es ein finnliher Realismus ſein, der die dis 
liaſtiſchen Anſchauungen unſeres Buches Hervorgerufen. Vielmehr 
ift es auch hier einfach die zeitgefchichtliche Situation, wonach die 
weltbeherrſchende Macht des römiſchen Imperiums fih zum Träger 
des antichriftlichen Princips gemacht Hatte, welche mit dem Sturz 
deöfelben auch zuerft einen irdifchen Sieg des Ehriftentums hoffen 
leg, Die Form, in der ſich derfelbe verwirklichen konnte, entzieht 
fi natürlich jeder Berechnung; auch die Apofalypfe hat dafür nur 
&in mit wenig großen Zügen gezeichnetes Idealbild, an deffen Buc- 
fuben herumzudeuteln oder herumzumäfeln eine wahre Sünde gegen 
da Geift ihres Verfaſſers iſt. Wenn man in der Herrſchaft des 
Gpriftentums von 800— 1800 die Erfüllung dieſes Idealbildes 
A finden gemeint hat, fo ift dies, abgefehen von dem ſchon oben 
beſprochenen Irrtum, als ob das Exegefe der Apofalypje ſei, und 
von dem gründlichen Verkennen der Bedeutung der Zahlen in der 
Wolalypſe, die nicht chronologiſch fondern ſchematiſch gemeint find, 
gewiß eine ſehr befcheidene Erfüllung der großen Zufunftshoffnung, 
du der ſich der Seher der Apofalypfe emporgeſchwungen hat. Es 
ift wol Sache des Glanbens, auf eine Höhere Erfüllung zu Hoffen 
und für fie zu beten und zu arbeiten; denn die Erfüllung diefer 
Zukunftshoffnung hängt wie alles, was noch in die irdiſche Ent 
wicllung fällt, von dem Verhalten der Menſchen ab, und wie Israel 


feine irdiſche Vollendung verſcherzt hat, fo kann aud das Jorael 


Be: 
#6 Irzer Äondee er rum Ser !ee Sirene werfcherzen. 


Far ze immmmiÜne ter „ze Some Torte mmwerforem und te 


Zw m mer em Sorr m Srrummeeg ganzen, jo jä 


# ns ru, me mm mem oe a Ibieen Zir haben 










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Kl re Buzes mmberiorehen, hierin 
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‚her me ꝓer: atte Ärzer re m zur uimliehen, darin eine 











Anm "ur im Ixier pinimer Offenbserungen 
eswege LE fe * auehzuegki us Prodmıe einer 
zur fm mmler Gerade bei der 
® yenfine Sefizem: ung rriime u ne Bedingungen 
‚ameies aes meigigen Teuaimens ein. WE des in 
Hr zume Bid rule zu Brom des gottichen und 
Tora Sum, Auf die Darſtellung 
rnemnegs als ae maminlurice Seichreibung ge 
änge zeugt meer Sm Damt me die füeben fih 
terre Bene vieſ gr ommicer um Amftrail amgefogt, dazu 
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mwicder aibt, mas er geiuut Ser nz wos er abs im der Bifion 
Art yarited:, Fr ein Brot des Frosdcrangeiäes, der qha befeelt 





Apotalyptiiche Studien. [7 


(%, 7.11. 17. 29; 3, 6.13. 22 vgl. 14, 13; 22, 17), weshalb 
ud bie Geſichte am Schluffe ohne ausdrückliche Abteilung in bie 
eigentlich prophetifche Rede übergehen. Was alfo irgend im pro= 
phetifchen Geifte von menjchliher Combination und Reflexion Raum 
bat, das kann auch in diefen Gefichten vorkommen, ohne daß fie 
darum den Anfpruch auf ihren höheren Urfprung verlieren. Mag 
eine andere Vorftellung von diefem Urfprunge für fich den Vorzug 
in Anfpruch nehmen, dem Prophetenwort in allem einzelnen un⸗ 
mittelbarere Göttlichfeit und Untrüglichkeit zu vindiciren, fie thut es 
un den Preis, die Apofalypfe immer auf’ neue zu einem Räthfel- 
Inh zu machen, in das jeder feine alten oder neuen Fundlein 
tineindeutet, um biefelben dann für göttliche Wahrheit auszugeben. 
Die zeitgefchichtliche Erklärung kann irren, wie auch die methodifchfte 
Etegeſe irren Tann; aber hier gibt es eine Bafis der Verftändigung 
und einen Kampf mit Gründen, der die endliche Löſung des Räthſels 
in Ausficht ftelit. 


2. 
Ve Grundzüge der Heilslehre Jeſu bei den Synoptikern, 
vorzüglich nach dem Evangelium Matthäi dargeftellt 
bon 


Hermann Weiß, 
Diakonus in Vaihingen a. €. ®) 





Eine doppelte Vorausfegung Fiegt in der Faffung unferes Thema's: 
einmal, daß eine zufammenhängende Lehre Jeſu von der Erlangung 
des Heils ſich aufftellen Kaffe, ſodann daß dieſe in befonderer Eigen» 





8) Der nachſtehende Anfjay möge auch unbefangenen Leſern einen weiteren 
Anfaltspunkt darbieten, um zu entſcheiden, wie viel Recht Here Profeffor 


us Beiß 


des Neuen Bundes den irdiſchen Sieg des Chriftentums verſcherzen. 
Nur die himmliſche bleibt der einen Herde unverloren und un« 
verlierbar. 


Haben wir mit einem Wort zur Verftändigung begonnen, fo jei 
es uns erlaubt, auch mit einem folchen zu ſchließen. Wir haben 
wiederholt hervorheben müffen, wie die großen eschatologifchen Wahr: 
heiten der neuteftamentlichen Prophetie in ber Apofalypfe in Bor 
ftellungsformen auftreten, deren Urfprung augenſcheinlich zeitlich und 
menſchlich bedingt ift. Die größte Schwierigfeit dabei feheint zu 
fein, daß die Apofalypfe ihre Bilder in Geſichten vorführt, die fie 
ſelbſt als gottgegebene, geiftgewirkte bezeichnet. Es würde ſchon 
einfach dem ſittlichen Charakter unferes Buches widerſprechen, hierin 
ſchwärmeriſche Einbildung oder gar abfichtliche Tauſchung zu ſehen; 
aber wir wenigftens Fünnen und auch nicht entfchließen, darin eine 
bloße fchriftftellerifche EinFleidungsform zu fehen, wir können nur 


annehmen, daß der Verfaſſer wirklich Gefichte geſchaut hat, die ihm | 


die großen Bilder der Zukunft vor’ Auge geführt haben. Aber 
daraus, daß diefe Gefichte für ihn Träger göttlicher Offenbarungen 
waren, folgt Teineswegs, daß fie ausſchließlich als Producte einer 


übernatürlichen Geifteswirfung gedacht fein wollen. Gerade bei der | 


Viſion geht die göttliche Geifteswirkung dergeftalt in die Bedingungen 
und Wirkungsweifen.des menfchlihen Seelenfebens ein, daß das in 
ihr erfcheinende Bild jedenfalls ein Product des göttlichen und 
menschlichen Factors zugleich ift. Dazu kommt, daß die Darftellung 
der Apofalypfe Teineswegs als eine protofollarifche Befchreibung ger 
ſchauter Vorgänge gefaßt werden kann. Dazu find die fieben ſich 
fteigernden Gefichte viel zu complicirt und kunſtvoll angelegt, dazu 
weiſt die Abhängigfeit von aftteftamentlichen Vorbildern viel zu ſehr 
auf fchriftftellerifche Thätigkeit hin, und die Actionen, die der Ber 
faffer fich ſelbſt beilegt und die mit dem vifionären Zuftande gan 
unvereinbar find (1, 12. 17; 5,4; 10,4. 10), führen von felbft 
darauf Hin, daß der Verfaffer in freier fünftlerifcher Reproduction 
wiedergibt, was er geſchaut hat. Auch was er als in der Bifion 
gehört darjtellt, ift ein Product des Prophetengeiftes, der ihn befeelt 


Apolalyptiſche Stubien. ss 


@, 7.11. 17. 29; 3, 6.13. 22 vgl. 14, 13; 22, 17), weshalb 
ud die Gefichte am Schluffe ohne ausdrückliche Abtheilung in bie 
tigentlich prophetifche Rede übergehen. Was alfo irgend im pro= 
Petifchen Geifte von menſchlicher Kombination und Reflexion Raum 
bat, das kann auch in diefen Geſichten vorkommen, ohne daß fie 
darum den Anfpruch auf ihren höheren Urfprung verlieren. Mag 
eine andere Vorftellung von diefem Urfprunge für fi den Vorzug 
in Anfpruch nehmen, dem Prophetenwort in allem einzelnen un« 
nittelbarere Göttlichfeit und Untrüglichkeit zu vindieiven, fie thut es 
m den Preis, die Apofalypfe immer auf's neue zu einem Räthjel« 
Inh zu machen, in das jeder feine alten oder neuen Fündlein 
hineindeutet, um diefelben dann für göttliche Wahrheit auszugeben. 
Die zeitgefchichtliche Erklärung kann irren, wie auch die methodiſchſte 
Etegeſe irren Tann; aber hier gibt es eine Bafis der Verftändigung 
und einen Kampf mit Gründen, ber die enbfiche Loſung des Räthſels 
in Ausfight fteilt. 


2. 


Ur Grundzüge der Heilslehre Jeſu bei den Synoptikern, 
vorzüglich nach dem Evangelium Matthäi dargeftellt 


von 


Hamann Weiß, 
Diakonus in Baifingen a. €. *) 





Eine doppelte Vorausſetzung Tiegt in der Faffung unferes Thema’s: " 
einmal, daß eine zufammenhängende Lehre Jeſu von der Erlangung 
des Heils fich aufftellen Laffe, ſodann daß diefe in befonderer Eigen- 





®) Der nachftchende Aufja möge auch unbefangenen Lejern einen weiteren 
Anhaltspunkt darbieten, um zu entſcheiden, wie viel Recht Herr Profeffor 





60 Weiß 


tumlichkeit bei den Synoptilern und unter dieſen wieder am treueſten 
(urſprünglichſten) und vollſtändigſten im Evangelium Matthai über⸗ 
liefert ſei. Den Beweis für die erſtere Vorausſetzung wird die 
Darſtellung ſelbſt liefern, und zwar wird ſich namentlich auch der 
Ausdruck Heilslehre durch dieſelbe rechtfertigen. Was die andere 
Vorausfegung betrifft, fo wird menigftens das an derfelben jegt 
allgemein anerkannt fein, daß die Lehre Jeſu, verglichen mit der 
apoftolifchen, namentlich der pauliniſchen, einen ganz eigentimlichen 
Charakter zeigt; aber es kann auch faum mehr bejtritten werben, 
daß man zwifchen dem Typus diefer Lehre in den drei erften und 
in dem vierten Evangelium zunächſt gleichfalls zu unterfcheiden hat. 
Endlich ift augenſcheinlich, daß das Evangelium Matthäi namentlich 
in feinen größeren wohlzufammenhängenden Redeabſchnitten die befte 
Grundlage für die Darftellung der Heilslehre Jeſu nach den Syn- 
optifern darbietet. Auch wird geftattet fein, daß wir ung duch 
die einfache Annahme, daß diefes Evangelium die relativ urfprüng- 
lichſte Relation der Reden Jeſu enthalte, der verwidelten Fragen 
über die größere oder geringere Authenticität der einzelnen Ausſprüche 
im alfgemeinen fo lange entſchlagen, als diefe Fragen noch auf eine 
fo vielfach divergirende Weife beantwortet werden. Die Grundzüge 
der Lehre Jeſu bei den Synoptifern werden auch ftets als diefelben 


D. Hölemann gehabt Hat, in feinen „Neuen Bibelftudien” (Vorrede, 
©. XVf.) den Berfaffer wegen feiner Veröffentlichung über „die Principien 
ber modernen Theologie” (Stud. u. Krit. 1866 I, 102—126) als ab- 
ſchredendes Beifpiel des in der modernen Theologie ftedenden, nur in das 
Gewand der Zeit gefleideten Nationalismus, in welchem keine Safer vom 
Evangelium mehr übrig fei, Hinzuftellen. Jedenfalls Hat er feiner dortigen 
Arbeit zu viel Ehre angethan, wenn er in berfelben gleichſam ein Pro- 
gramm dieſer Zeitſchrift erbficht Hat; davon hätte ihm ja ſchon die War - 
nehmung abhalten follen, daß der Verfaffer in derſelben zum erſtenmal, 
und als eine überhaupt in ber theologiſchen Literatur noch ziemlich uber 
tannte Perfönficjfeit auftrat. Uns fpeciell mit einem fo abweichenden 
Standpunkt, wie derjenige von Heren Hölemann ift, auseinanderzufegen, 
halten wir nicht für erfprießfich. Die moderne Theologie, wie fie wenigftens 
der Berfaffer auffaßt, macht feinen Anfpruch darauf, daf ein „Kauft“ in 
ihr ftedde, fpürt aber auch nichts davon, daß fie „ihrem Mephiftopheles 
verfallen“ (Hölemann, ©. XVI) fei. 


Die Grumbzüge der Heilslehre Jeſu bei den Shuoptitern. 61 


feinen, ob man nun in dieſem oder jenem Falle der Relation 
ss Markus oder des Lukas oder des Matthäus den Vorzug gibt, 
md immer wird man wieder zu bem Eindruck zurüdfehren, daß 
bi Matthäus diefe Grundzüge am Harften und reinften überliefert 
fein. Hierfür ſoll nur die aud von Weizfäder gemachte Be . 
merkung (Ev. Geih., ©. 140. 146) hier angeführt werden, daß 
ums Matthäus die Reden Jeſu am meiften in ihrer Beziehung auf 
ſolche geſchichtliche Verhältnife überliefert, in welchen Jeſus un⸗ 
weifelhaft ſich bewegt hat, während z. B. bei Lukas diefelben Reden 
vielfach eine deutliche Beziehung auf das apoſtoliſche Zeitalter ver- 
tathen. 

Unfere Unterſuchung hat alſo vor allem ein hohes geſchicht- 
lides Sntereffe, indem fie die Frage nach dem „Urchriftentum“ 
5i8 dahin verfolgt, wo die reinfte und zuverläffigfte Antwort auf 
diefelbe zu erwarten ift. Die Reinheit der Antwort liegt nament» 
lich darin, daß fie bei unferer Unterfuchung zunächft ohne alle Com⸗ 
plication mit der Wunderfrage auftritt; ihre Zuverläffigkeit gründet 
fih darauf, daß auch die fchärffte Kritit, wie z. B. die der Tür 
dinger Schule, vor der Anerkennung der Thatfache ftehen bleiben 
mußte, daß Jeſus vor allem in jenen Reden, wie fe das Evan- 
gelium Matthäi überliefert, fein urfprüngliches veligiöfes Bewußt⸗ 
fein und feinen eigentümlichen Beruf entfaltet habe. Es Handelt 
fd num eben darum, daß der Inhalt diefer Reden rein und richtig 
afgefaßt, daß der innere Zufammenhang ihrer Lehre dargeftellt und 
dk fodann diefe Lehre namentlich mit der johanneifchen und pau- 
liniſchen verglichen werbe. Wenn dies geſchieht, werden wir freilich 
fhon von diefer Betrachtung aus eine ziemlich verfchiedene Anficht 
über das Urchriftentum gewinnen als die Tübinger Schule: es wird 
fi namentlich zeigen, daß die johanneifche und pauliniſche Lehre 
war durchaus eigentümliche Typen der riftlichen Auffaffung dar- 
fellen, daß diefefben aber doch zu der Lehre Jeſu keineswegs etwas 
ſclechthin neues und fremdes ober gar etwas entgeg:ngefeßtes hin⸗ 
fügen, fondern daß fie ganz organifch aus derſelben hervor⸗ 
gewachſen find. 

Daß unfere Unterfuchung aber aud ein wejentlihes dogma- 
tiſches Intereſſe für ſich Hat, verfteht ſich von ſelbſt. Man hat 


2 Weiß 


ſich neuerdings namentlich überzeugt, daß die Heilslehre der evan⸗ 
geliſchen Kirche, weil zu einſeitig nach dem pauliniſchen Lehrtypus 
gebildet, einer Fortbildung und Erweiterung bedurftig ſei, indem 
fie fon dem johanneiſchen Typus nicht ganz entſpreche. Vollends 
aber muß ein Zurüdgehen auf den Grundgehalt der Lehre Jeſu 
bei den Synoptikern unferer kirchlichen Heilslehre eine nothwendige 
Bereicherung und Vertiefung zuführen. Durch diefelbe wird das 
einfeitige Hängenbleiben an der Rechtfertigung und die damit ver⸗ 
bundene Gefahr eines intellectuatiftifchen oder quietiftifchen Glau- 
benabegriffes, ſowie die einfeitige Beziehung des Heils auf das 
Seligwerden des Individuums überwunden, indem und die Lehre 
Jeſu in ihrem Grundbegriffe vom Reiche Gottes und von feiner 
Gerechtigkeit daS durchaus ethifche und univerfelle Ziel des Heiles, 
d. 5. des Ehriftentums, energifch vorhält. 

Es könnte nun zwedmäßig feinen, daß wir unfere Ausführung 
damit beginnen würden, den Grundbegriff der Lehre Jeſu, nämlich 
den Begriff des Reiches Gottes, zu entwideln. Aber diefer Begriff 
hat eine folhe Ausdehnung und greift jo vielfad in die einzelnen 

. Kehrpunfte ein, daß er fi nur im Zufammenhange mit diefen 
darlegen und dann etwa zum Schluſſe einheitlich zufammenfafjen 
laßt. Auh Schmid ftellt in der neuteftamentlichen Theologie das 
„Reich Gottes“ an den Schluß feiner Darftellung ber Lehre Jeſu, 
obwol dasfelbe die innere Voransfegung für alles Vorangegangene 
bildet. Jeſus nimmt den Begriff des Reiches Gottes Herüber aus 
dem Alten Bunde in dem doppelten Sinne, daß damit die Sphäre 
der göttlichen Herrſchaft, aber auch das höchſte Gut bezeichnet wird, 
beidemal als etwas nicht bloß individuelles, fondern die menfc- 
liche Gemeinfchaft umfafjendes. In der altteftamentlichen Theo» 
kratie ift die volle Erſcheinung des Reiches Gottes nur vorbereitet; 
diefelbe Hat begonnen mit Jeſu einzutreten, findet aber erft bei 
feiner Wiederkunft ihre Vollendung. 

Sofern nun das Reich Gottes die Sphäre ber vollen Gottes- 
herrſchaft bezeichnet, entfpricht ihm die volle Gottesgerechtig- 
teit (dixamadın Isod Mattd. 6, 33) als Eigenſchaft feiner 
Mitglieder. Es ift wichtig, daß Jeſus diefen Grundbegriff der 
dixasocdvn Heod mit dem Apoftel Paulus theilt; man erkennt 


Die Grundzüge ber Heilslehre Iefn bei den Synoptikern. 6 


darin leicht das gemeinfame Zurüdgehen auf da8 A. T., bie Ten- 
denz, das Chriftentum als die Erfüllung des dort angebahnten, 
voftulirten, aber nicht erreichten Zieles aufzufaſſen. Aber wir wirben 
irren, wenn wir die dieasogden son Im Sinne Jeſu ohne weis 
teres gleichbedeutend mit der paulinifchen Auffafjung verftehen wollten. 
Ohne allen Zweifel bedeutet für Jeſum die dexasoaden Fsod bie 
wirffihe der Forderung Gottes entſprechende fittliche Beſchaffenheit 
Qustitia habitualis), während Paulus in erfter Linie die justitia 
forensis darunter verfteht (Möm. 1, 17 vgl. 3, 21—26). Der 
Bifag NR000 bedeutet allerdings beidemal dasfelbe, nämlich, daß 
die Gerechtigkeit „vor Gott gilt“, von Gott und nicht bfoß von 
den Menfchen als ſolche anerkannt. wird; etwa auch, daß fie von 
Gott ihren Ausgang und Urfprung nimmt; aber die Art des Aus: 
gangs und der Grund der Anerkennung ift verſchieden gedacht. Bei 
Paulus "anerkennt Gott die von ihm in dem Opfertode Chriſti für 
den Sünder befchaffte Gerechtigkeit, nach der Meinung Jeſu foll 
das Glied des Reiches Gottes in der Gemeinſchaft Gottes, in der 
Beziehung auf fein Gefeg, eine perfönfiche fittliche Befchaffenheit 
ſich aneignen, welche der abfoluten Forderung Gottes entſpricht. 
Es ſoll hier diefe Differenz, deren Ausgleihung wir zum Schluffe 
finden werden, nicht weiter verfolgt werden; aber fo viel ift deutlich, 
dag für Jeſus die dixasoodvn Heod nicht im paulinifchen Sinne 
Bedingung für den Eintritt in das Reich Gottes, fondern vielmehr 
1 Ziel ift, welches man im Reiche Gottes zu erreichen traten 
muß. Deshalb fteht auch in dem Sprude Matth. 6, 33 die Bu- 
Ulein od Heod voran. 

Die dixaoodyn Heod, welche Jeſus fordert, ift nichts anderes 
als die Anewoıs von Gefeg ‚und Propheten (5, 17 vgl. 22, 40), 
d. 5. des im Alten Bunde geoffenbarten Gotteswillens. Die rAn- 
woıg bezieht fi) auf der Seite Jeſu fowol auf das zroseiv als 
das didoxsır, Jeſus will den ſchon im Alten Bunde enthaltenen 
Gotteswillen zum vollen Ausdrud und Berftändnis, aber auch bei 
fh und anderen zum ganzen Vollzuge bringen. Diefe ungefchiedene 
Einheit der theoretifchen und praktiſchen Thätigkeit lag ja auch ſchon 
in der Miffton der aftteftamentlihen Organe Gottes, von Mofe 
und den Propheten. Indem Jeſus bei feiner Stellung zum Ges 


64 Weiß 


ſetze die dıxasoodvn Fsod zum Ziele hat, tritt er in einen noth- 
wendigen Gegenfag zur Gefegesbehandlung ber Schriftgelehrten und 
Pharifäer (5, 19). Indem diefe nämlich an der Aeußerlichkeit des 
Geſetzes hängen bleiben, fo wird gerade der Sinn und bie Abſicht 
Gottes mit dem Gefege nicht erreicht, fondern umgangen, e8 kommt 
zu keiner dixmsooven Isod, fondern mir zu einer dieasooden 
av9gunv (5,20; 9,13; 12, 7; 11, 28ff.; 15, 1ff. Kap. 23). 
Jeſus verwart fih nun zunächſt, als ob er bei feiner Polemik 
gegen die äußerliche Gefegeserfüllung das Gefeg aufföfen wollte 
(5, 18f).. Seine Verwarung kann aber nicht fo gemeint fein, 
als ob er die ewige Geltung des mofaifchen Gefeges in feinem 
äußeren Beftande des Buchſtabens fanctioniren wollte. Denn nicht 
nur geht aus der Stellung, welde er fpäter fogar zum Sabbat- 
gejeg eingenommen hat (12, 1—8), ferner aus folden principielfen 
Erklärungen wie 15, 11. 17—20 u. 9, 16f. vgl. noch 17, 26ff. 
beutfich hervor, daß YJejus eine künftige freiere Stellung feiner 
Junger zu der äußeren Form des Geſetzes im Auge hat, wie er 
19, 8f. deffen Forderungen auf der anderen Seite für zu lax er- 
flärt. Auch ſchon feine Gefegesausfegung in der Bergrede, wenn 
fie auch zunächſt nur gegen die jüdifche gelehrte Tradition gerichtet 
ift, führt ducch ihre tiefere und geiftige Auffaffung über den Buch⸗ 
ftaben bes Gejeges, über den Hiftorifchen Sinn der durch Mofe 
gegebenen Gebote hinaus. Jeſus wollte nur erflären, dag er in 
feiner Weife direct polemifch gegen die altteftamentliche Ordnung 
auftrete und dadurch fein echt reformatorifches Wirken von aller 
revolutionären Weife von vornherein ftreng unterfcheiden *). 

Diefes reformatorifhe Verhalten erfennt man auch, wenn man 
den Kreis in's Ange faßt, welchem Zeus, hauptſächlich im der 
Bergrede, bie von ihm geforderte dixasoaden Heod als Aufgabe 
vorhält. Es ift bekanntlich eine alte Streitfrage, ob die Bergrede 
an die Gefamtheit des Volkes oder nur an die unmittelbaren Schüler 
a) Wenn die Worte Jeſu 5, 18 durchaus in dem Sinne verflanden werben 

müßten, daß darin bie ewige Geltung des moſaiſchen Gefeges jeinem 

buhftäbligen Beftande nach ausgeſprochen fei, fo bliebe nichts an- 
deres übrig, als biefelben mit Baur für einen Zufag der Tradition zu 
erklären. 





Die Grundzüge der Heifelehre Jeſu bei den Synoptitern. 66 


Ifu (worunter man dann gewöhnlich ohne weiteres bie Zmölfe 
verfteht) gerichtet fei. Dieſes ganze Dilemma ift nicht richtig ge- 
ftelt, und man findet auch alsbald, daß ein Theil der Bergrede 
nicht auf das ganze Volk und ein anderer nicht auf die Singer 
allein paffen will. Die Bergrede ift gerichtet an die in den Mas 
farimen zum Eingang befchriebenen und dadurch zunächit allerdings 
nur als unſichtbare Gemeinde ausgewählten Glieder des Volles 
Jerael; dieſe betrachtet der Herr im Anfchluffe an die Propheten 
als das wahre Israel, eben damit als bie Genoſſen des Gottes- 
wies, denen er auch den welthiftorifchen Beruf Jsracls, das Salz 
ber Erde und das Licht der Welt zu fein, alsbald zuſpricht (5, 3—16). 
Bon felbft folgt, daß diefe Leute an Jeſum als den Stifter des 
Gottesreiches und den Erfüller von Gefeg und Propheten ſich an⸗ 
fließen. Aus dem empirifchen Judenvolke bildet ſich das wahre 
Prael, die wahre Genofjenfchaft des Meiches Gottes, Heraus in 
der Genofjenfchaft der Jünger Jeſu. 

Wir betrachten num zunächft nicht, wie der Uebergang aus der 
bloß theofratifchen Vollsgemeinſchaft in die Genoffenfchaft des Reiches 
Gottes ftattfindet, fondern wir entwideln näher den Inhalt der 
dixasoodyn Hsoö, welde wir jegt als bie von Chriſto nicht 
nädft aller Welt, fondern eben den Genoffen feines Reiches 
vorgehaltene Lebensanfgabe kennen gelernt haben. 

Die dıxasoodvn son befteht ihrem alfgemeinften In— 
halte nach in einer gottähnlichen Vollkommenheit der Gefinnung 
und des Handelns (5, 48; 19, 21). Die Vollbringung des götts 
lichen Willens, offenbar au im gefamten äußeren Thun, fowol 
Reden als Handeln, wird ausdrücklich gefordert (7, 21 vgl. 5, 16.19; 
12, 50. 36f.). Es liegt aber auch in der Idee der Vollkom⸗ 
menheit, daß das Aeußere dem Juneren ganz entſpreche (vgl. 7, 17). 
Es ift alſo nicht ganz rigtig, wenn man das Unterjdeidende der 
behre Jeſu eben darin findet, daß er gegenüber aller bloßen Aeußer⸗ 
lichleit der Gefegeserfüllung auf die Reinheit der fütfihen Gefin- 
ung dringe, da er jedenfalls aud ein diefer Gefinnung entſpre⸗ 
Hendes Thun verlangt. Aber allerdings fordert Jeſus vor allem 
die rechte Beſchaffenheit der innerſten Gefinnung des Menfchen, 
und zwar faßt er dieſe Gefinnung in ihrer Wurzel als eine Einheit. 

Theol. Stud. Jahrg. 1869. 5 


[27 BVeiß 


Das Herz ift der einheitliche geiftige Grund des Menſchen; mur 
wenn das Herz recht beſchaffen ift, kann das rechte fittliche Ver⸗ 
halten des Menſchen fich bilden (5, 8; 6, 21; 7,17; 12, 33—85; 
13, 15 u. 19; 15, 8. 19; 23, 26; 22, 37; 11, 29). Ebenſo 
etnheitlich und innerlich wird nun die vollfommene Gefinnung nad 
ber Seite ihres Inhaltes bejtimmt; fie befteht in der Liebe Gottes 
von ganzem Herzen, an welche die Liebe des Nächften ſich unmittele 
bar als ihre Folge anſchließt (22, 37ff.). Die völlige Hingabe 
des Herzens an Gott ift die auch fonft von Jefu überall gefor- 
berte Örundgefinnung. Diefe Hingabe beihätigt fih namentlich 
darin, daß dem Trachten nad dem Weiche Gottes und nad; der 
Erfüllung der in ihm geftellten fittlichen Lebensaufgabe alle anderen 
Zwede unbedingt untergeordnet werben (6, 19—24. 33; 7, 13; 
10, 837—39; 13, 44-46; 19, 21 u. 27). Es find mr bes 
fondere Seiten jener durch die vollkommene Liebe Gottes bezeichneten 
Grundgefinnung, wenn Jeſus im einzelnen befonders fordert: Rein- 
heit umd Lauterkeit des Herzens namentlich in feiner unmittelbaren 
Beziehung zu Gott (d, 8 u. 6, 1—18), die kindliche Gefinnung 
der Demut und des unbedingten Vertramens gegenüber von Gott, 
welcher ſich durch Chriſtum fpecififch als der Vater im Himmel 
offenbart (18, 3 ugl. 19, 14; 11, 29; 6, 25ff.; 7, 71), 
die Richtung des Sinnes vom Irdiſchen und Vergänglichen hinweg 
anf das Himmliſche und Unvergänglihe (7, 19ff.), die Treue in 
der Benugung der von Gott amvertrauten Gaben und Kräfte 
(25, 14—30), die rückſichtsloſe Zucht der eigenen Perſon zu ihrer 
Neinigung von ber. Sinde und Hingabe au den Dienft Gottes 
(5, 29f.; 18, 8f.; 20, 22; 16, 22—26). Un diefe unmittelbar 
auf Gott gerichtete Gefinnung reiht ſich als deren nothwendiger 
Ausflug (5, 45—48) die entfprechende Gefinnung gegen den 
Menſchen. Diefelbe befteht weſentlich darin, daß id meinen 
Näcften liebe wie mich felbft (22, 39). Daß der Begriff dee 
Nächten Leine Einſchränkung dulde, lehrt Jefus nicht bloß in der 
Parabel vom barmherzigen Samariter (Luft. 10, 29ff.), ſondern 
namentlich auch in dem fo nachdrücklich gegebenen Gebot der Feindes- 
liebe (5, 43—48. vgl. 7, 12), in deffen Erfüllung ganz befonders 
die Berähnlihung des Menfchen mit Gott fi darſtellt. Hieran 


Die Grundzüge ber Heilefehre Jeſu bei den Symoptilern. e7 


ſchließt fi die Wufforderung zum Vergeben und zur Berföhnfichtelt 
(5, 21-26; 6, 12. 14f.; 18, 21—35), zur Sanftmut und 
Friedfertigfelt, wobei man fogar bereit iſt Unrecht zu leiden 
8, 5. 9. 39ff.), zur Barmherzigkeit und werkthätigen Liebe (5, 7; 
19, 7; 23, 23; 26, 34ff.; 18, 5), die Warnung vor Fieblofem 
Rihten (7, 1—8), die Aufforderung zu felbftverleugnendem Dienen 
und Gicherniebrigen (20, 25—28; 23, 11ff.). Auch in dem Ger 
bote unbedingter Wahrhaftigkeit gegen den Nächten (5, 37f. vgl. 
12, 36f.), fowie in dem Verbote der Scheidung außer megen Hu- 
me (5, 31f.; 19, 3—10) tritt das Princip der von Jeſu ger 
fnderten Nüchfteiliebe zu Tage. Aus allen den einzelnen Beſtim ⸗ 
nungen erfieht man, wie rein nnd vollkommen dieſes Princip von 
Jefu gefaßt ift, indem als beifen Erfüllung weſentlich die Selbſt ⸗ 
derleugnung und Selbftanfopfenung um des Nächſten willen ber 
zeichnet wird. 

Befondere Beachtung verdient noch das Baterunfer ala präg- 
nonter Ausdruck der von Jeſu geforderten Grundgeſinnung. Das 
Verlangen nach dem Kommen des göttlichen Reiches foll den ganzen 
Menfchen beherrfchen, das Zeitliche ftellt er Gott vertrauend anheim, 
die Berpflichtumg, dem Nädjften zu vergeben, wird ausdrücklich in 
die Bitte um Wergebung von Gott aufgenommen. Faßt man nım 
die beiden Seiten der von Jeſu geforderten Grundgefinnung zu 
fenmen, fo ift umverfennbar, dag in ihr das Ideal menſch⸗ 
Uber Bolllommenheit, die gottebenbildlihe Geſin— 
aung des Menſchen, befchrieben ift. Diefe Gefinnung bildet einen 
direeten Gegenfat gegen den natürlichen Sinn bes 
Menſchen, infofern auch gegen die natürliche Tugend des Heiden» 
tms; fie geht aber auch Hinaus über das fittlihe Maß des alte 
teftamentlichen Gefeges, obwol in den Pfalmen und Propheten, am 
alfermeiften in der Schilderung des Knechtes Gottes bei Deutero⸗ 
Rſaia, werigftens vereinzelte Annäherungen an das von Jen auf- 
geftelte Ideat ſich finden. Sich felbft flelt Jeſus wiederholt als 
Mufter der von ihm geforberten Gefinnung hin (20, 28; 16, 23f.; 
11, 29 vgl. 9, 13; 3, 15; 18, 11—13) und fein ganzes Thun 
macht auf feine Jünger den Eindend, daß in ihm jener von 
Jeſaia gefchilderte Knecht Gottes erfhienen fei (12, 17-21; 

5. 


ss Weiß 


8, 17) ). — Gehen wir num über zu der Frage nach der Ver— 
wirklichung der von Jeſu befchriebenen und geforderten dexuio- 
um Yeod, fo ift vor allem zu conftatiren, daß Jeſus den all⸗ 
gemeinen Mangel berjelben bei den Menſchen durchweg theils 
lehrt, theils vorausfegt. Die von Jeſu geforderte vollkommene 
Sxosooden ift bisher in der Menfchheit ſchlechthin unbekannt und 
ſchon deshalb keinenfalls irgendwo verwirklicht. Auch in Gefeg und 
Propheten war dieſe Gerechtigkeit nicht enthalten; Jeſus muß erft 
beide vollenden, um biefelbe zu offenbaren (5, 17). Schon aus 
pädagogifcher Rüdficht auf die Herzenshärtigkeit der Menfchen Tonnte 
Gott durch Mofe das Gefeg nicht in feinem vollen Umfang und 
in feiner ganzen Tiefe dem Volke Israel vorlegen (19, 8). Jeſus 
bezeugt aber auch unzweidentig, daß die Menfchen allgemein 
im Widerfprud mit den Forderungen der Geredhtig- 
keit ſich befinden, und daß diefer Zuftand der Sünde ein habi— 
tueller fei. Er beginnt, wie Johannes der Täufer, mit einem 
ausnahmslofen Ruf zur Sinnesänderung (4, 17), nachdem er durch 
feine eigene Taufe (wenn er auch perfünfih der Reinigung von 
Sünden nicht bedurfte) jedenfalls darauf Hingewiefen, daß niemand 
ohne eine vor dem Angefichte Gottes vollzogene totale Erneuerung 
in das Himmelreich eintreten fünne. Ya e8 Tiegt ſchon von Seiten 
des Täufers Johannes in dem ganz neuen Gebraude des Taufritus 
als Weiheact für den Eintritt in das Himmelreich die auch durch 
feine Bußpredigt hinreichend begründete (3, 7—12) Erklärung, daß 
die altteftamentliche Oekonomie durch eine neue erfegt werden müffe, 
weil fie die dixasoodem Heod nicht herbeizuführen vermochte. In 
den Mafarismen der Bergpredigt (dB, 3. 4. 6. 7) fegt Jeſus 
offenbar gerade bei den Beſten in Israel, melde er zum Eintritt 


a) Die von Jeſu geforderte und gelehrte, gleichzeitig aber auch in feiner Perſon 
dargeftellte dıxauadın Seov ftellt uns bie wahre Heiligkeit in ber voll- 
tommenen Durchdringung des Religiöfen und des Sittlichen dar und ift 
ebenſoweit entfernt ſowol von aller heidniſchen, fei es autonomifchen und 
profanen Tugend oder antinomiftijchen Untugend, als auch von aller jü- 
diſchen fei e8 pharifätfchen Geſetzlichteit oder myſtiſch- asketiſchen effäifchen 
Frömmigkeit (vgl. den Artikel „Sündlofigfeit Jeſu“ in Herzogs Real - 
enchelopäbie XXI v. d. Berf.). 


Die Grundzüge ber Heifslehre Jeſu bei ben Synoptilern. 6 


in das Himmelreich einfadet, das Verlangen nad) göttlicher Gnade 
und Gerechtigkeit als Grundftimmung voraus. Diefelben Leute 
nennt er 7, 11 ohne weiteres zrommgol. Auch die Genofjen des 
Himmelreiches müffen allezeit um Vergebung ihrer Sünden und 
um Rettung von dem Argen bitten (6, 12f.). Das Gleichnis 
vom großen Schuldner wird gerade zunächft den Jungern zur Ans 
wendung auf die eigene Berfon vorgelegt (18, 21ff.) und zur Ver» 
gebung ihrer Sünden wird das Blut Jeſu vergoffen (26, 28). 
Daß das Bolt Yörael im ganzen und befonders feine Führer, 
de Pharifäer, Sadbucder, Schriftgelehrten, nad der Anſchauung 
Mu tief in den Zuftand der Sünde verfunfen und darin gefangen 
find, braucht kaum mit einzelnen Stellen belegt zu werden; man 
vergleiche nur 19, 8; 10, 6. 16. 17; 11, 16ff.; 13, 13ff.; 
12, 31ff.; 21, 31ff.; Kap. 23. Die Gefamtheit ift überhaupt 
der Macht des Böfen fo bahingegeben, dag von ihr nothwendig 
Berführung ausgehen muß; fie bildet die arge Welt (zdanos, 18, 7). 
Demnach Tann die öfters wiederkehrende Bezeichnung Hxasoı nur 
ganz abftract gemeint fein (wobei den Zuhörern überlaſſen bleibt 
zu unterfuchen, ob der Begriff auf jemanden feine conerete An⸗ 
wendung finde), da ja Jeſus gerade den Pharifäern auf's ent» 
ſchiedenſte zeigt, daß fie am tiefften in die Sünde verftridt feien. 
Bern einzelne wirklich ſich für Hxasos Halten, fo find fie entweder 
inoxgirei, wie bie Pharifäer, deren Bild der Herr in jenem 
weiten Sohne (21, 30 vgl. Luk. 15, 28, wo die mangelnde Ge⸗ 
tehtigfeit von anderer Seite her aufgebedit ift) zeichnet; oder fie 
fnnen, wie der reihe Jungling, leicht davon überführt werden, 
daß ihre vermeintliche Gerechtigkeit keineswegs die wahre ift, weil 
fie nicht aus der vollfommenen Selbfthingabe an Gott und fein 
Reich, Hervorgeht. 

Der Grund dieſes Zuftandes ber allgemeinen Sündhaftigkeit 
liegt in der Befchaffenheit des menjchlichen Herzens, weiches Jeſus 
(15, 19) offenbar ganz alfgemein als die Quelle jeder Art von 
Sünde befchreibt. Der Mensch ift überhaupt auch als geiftiges 
ſittliches Wefen eine organische Einheit; num ift aber gerade die 
Burzel im geiftigen Wefen des Menfchen böfe (vgl. 6, 22f.; 
7,16—20; 13, 4ff. 38; 12, 33ff.). Diefer Sa ift von 


70 Weiß 


Jeſu freilich nirgends mit dogmatiſcher Beſtimmtheit ausgeſprochen; 
aber er iſt unleugbar als allgemeiner Erfahrungsſatz vorausgeſetzt, 
wie die unten darzuſtellende Lehre von der Erneuerung des Menſchen 
vollends beweiſen wird. Wie dieſer Zuftand überhaupt einmal in 
der Menfchheit entftanden fei, lehrt Jeſus nicht. Auf den Teufel 
als Urheber der Sünde weift er zwar Hin (13, 19. 39), wol 
aud im Vaterunſer (6, 13 vgl. 4, I—11), aber ohne alle nähere 
Beftimmung. Auf der anderen Seite ift beachtenswerth, daß Jeſus 
das Lüften der Pharifäer in Kap. 12 nicht auf den Teufel, fon- 
dern nur auf die Bosheit ihres Herzens zurüdführt, daß er auch 
B. 43—45 nur bildlich von den unfaubern Geiftern redet. Ehen 
fowenig wird in der Leidensgefchichte von den Synoptikern der Teufel 
als Urheber des Todes Yen genannt weber bei den Synedriſten 
noch bei dem Verräther *); auch wird die Anfechtung Jeſu im Geth- 
ſemane nicht auf ihm zurückgeführt, und Jeſus warnt dort nur vor 
der Schwachheit des Fleiſches 26, 41 vgl. 16, 17. 

Wenn indefien Jeſus die vadicale Sundhaftigkeit der Menſchen 
als eine Erfahrungswahrheit vorausfegt, jo lehrt er dom auch auf 
der anderen Seite entſchieden die angeborene Empfänglid- 
keit der menfhlihen Natur für das Gute und Gött- 
liche. Im diefer Beziehung verdienen feine Ausfprücde über die 
Kinder eine ganz befonbere Beachtung. Aus ben Stellen 18, 3.10 
u. 19, 14 ergibt ſich nicht bloß, daß Jeſus den Kindern das Him- 
melreich als Eigentum zufpricht, ſondern au, daß er bies darum 
thut, weil er bei ihnen eine natürliche Dispofition für dasſelbe 
vorausjegt. Man darf wohl vermuthen, daß 18, 6 die Worte 
av miorsv6yrov eis Zus erſt in der Tradition zudem Ans- 
ſpruche Jeſu hinzugelommen ſeien und daß aud in diefem Ders 
Jeſus durch of wixgod eben die Kinder Habe bezeichnen wollen, 
wie in ®. 3. 5. 10. In diefem Falle erſcheinen die Kinder in 
unferer Stelle weniger als Objecte der errettenden, als vielmehr 
der vor der argen Welt bewahrenden Thätigkeit Jeſu. Damit ift 
gar nicht ausgefrhloffen, daß auch in ihnen die Wurzel der Sünde 


a) Nur bei Lutas Inte man eine Andentung finden in dem Eovola 
Tod oxörous (22, B8). 


Die Grundzüge der Heilslchre Jeſu bei den Synoptikern. 7 


vorhanden fei, fonbern nur gejagt, daß die Entwicklung bes finde 
fihen Keimes in ihnen fünnte gehindert werden, wenn fie, dem 
Einfluffe der Welt entzogen, vielmehr im Kreife und unter den 
Einwirkungen des Himmelreiches auferzogen würden, für welche 
eine natürliche Empfänglichteit in ihrem kiudlichen Wefen vorhanden 
iſt. Es liegt in diefer Auſchauung ein entſchiedenes Correctiv einer 
überfpannten Erbſundenlehre, welches feit Anguftin in der kirchlichen 
Khrbifdung nicht. mehr zu feinem Rechte gefommen ift. Auch das 
6,23 erwähnte Licht im Menſchen, von welchem dort nicht voraus. 
geht ſcheini, daß es in einem Jeden ſchlechthin Finſternis geworden 
fü, weift auf eine im Menfchen noch vorhandene Empfänglichkeit 
fir das Göttliche Hin. 

Im dem fiber die Finder insbefondere eben Entwidelten liegt 
nun aber bereits eine Hinweiſung darauf, welches der funda- 
mentale Anfang zu der Verwirklichung der Gottesgerechtigfeit 
in denen fein müſſe, melde, wie alle Menfchen vor Chriſto, nur 
im Sreife der Welt und unter ihrem Einfluſſe aufgewachſen find. 
Zu feiner Voransfegung hat diefer Anfang die Er- 
fHeinung, Ankündigung und Darbietung ber Baosı- 
lea 159 odgavay mit und in ber Berfou Jeſu ober 
de Berufung zu dem mit Chriſto erſchienenen Himmelreiche. Die 
Berfemung biefer Wahrheit Hat den durchaus oberflächlichen Schein 
emgt (von welchem im Grunde auch noch Baurs Darftellung 
der dihre Jeſu beherefcht ift; vgl. Kirchengeſch. I, 29—35), als 
Ob meigftens nad) den Symoptifern Jeſus weſentlich eben ein volle 
foormenes Geſetz, eine reine Moral geprebigt hätte, durch deren 
Sfüllung dann der Menſch das Wohlgefallen Gottes nnd die Theil- 
nahme an den Giltern des Himmelreichs fich erwerbe. Es verhäft 
fih aber auch hier, wie in der gefamten neuteftamentlichen Lehre, 
Vielmehr umgelehrt, Gott fommt dem Menſchen mit feiner Gnade 
Bor, und knüpft nur den Empfang diefer Gnade an gewifje fitt- 
liche Bedingungen. Der vollftändige Beweis hierfür würde den 
reis unferer Unterfuhung, welche vornehmlich; auf die fubjective 
Seite der Heifslehre gerichtet ift, überfchreiten; namentlich folf Hier 
feine vollſtandige Darftellung von dem Werke Chrifti gegeben werben. 
& mögen die folgenden Andeutungen genügen, Jeſus fordert zur 


72 Weiß 


Sinnesanderung auf, weil das Himmelreich herbeigekommen iſt 
(4, 17). Und nun bietet er in den Makarismen, welche ſchon 
durch ihre Stellung an ber Spige der Bergrede ihre principielle 
Bedeutung verraten, das Himmelreich mit feiner Seligkeit denen 
an, welche im lebendigen Bewußtfein ihrer geiftlichen Armut, fpe- 
ciell ihrer Ungerechtigfeit, nach Gerechtigkeit und göttlicher Erbar⸗ 
mung fehnfüchtig verlangen (5, 3. 6. 7)*). Wenn Baur meint, 
daß Hier die Armut zugleih den Reichtum, ber Hunger und Durft 
die Sättigung unmittelbar in fich ſchließe, fo ift dies eine ganz 
tertümliche Auffaſſung. Auch im Vaterunſer geht das Kommen 
des Reiches Gottes der Erfüllung des göttlichen Willens voran. 
Und bezeichnet denn nicht Jeſus feine ganze Sendung als eine Gnade, 
Heil -bringende, erlöfende (9, 10—13; 10, 6ff.; 15, 24; 18, 11ff.; 
11, 27ff.; 20, 28; 21, 28—32; 23, 37; 26,28 vgl. Ruf. 
4, 16—22), wie fich die auch auf dem Teiblichen Gebiete beſonders 
in feinen wunderbaren Heilungen darftellt! In diefer Weife wird 
feine Wirkfamfeit au in unmittelbarer Anſchauung von feinen 
Jüngern aufgefaßt und befchrieben (4, 16; 8, 17; 12, 17—21; 
dgl. 1, 21 u. Luk. 1, 47ff.; 2, 10ff.). Das Gleichnis vom 
Töniglichen Hochzeitmahle (22, 2—14) ftellt das Himmelreich ganz 
unter den Gejichtspunft ber frei angebotenen Gnade. Die For- 
derung des hochzeitlichen Kleides befagt nur, dag man dieſe Gnade 
nicht in Empfang nehmen könne ohne die Erfüllung gewiffer fitt- 
licher Bedingungen. Jeſus könnte feine Jünger nicht felig preifen, 
daß fie die Geheimniffe des Himmelreichs vernehmen und feine 
Erſcheinung fehen (13, 16f.), wenn es ſich zunächft um ein neues 
Sefeg und feine Erfüllung handeln würde. Sünden zu vergeben 
ift nad der Erzählung vom Gictbrüchigen ebenfo die eigentum⸗ 


a) Wollte man auch zö nveduer in 5, 3 mit Rüdficht auf Luk. 6, 20 
für fpäteren Zufag erflären ober (mie Luther und Baur) die arwyoi zö 
avedpers für Leute halten, welche ihre leibliche Armut geiſtlich auffaffen, 
fo blieben immer ®. 6 u. 7 mit ihrem entſcheidenden Gewichte fiehen. 
Aber die Verſion bei Lukas ift fiher die abgeleitete und hängt mit ber 
allgemeinen Tendenz dieſes Evangeliums zufammen, die äußerlich bebrängte 
EhHriftengemeinde durch die Hinweiſung auf den mit der Parufie Chriſti 
bald erfolgenden Umſchlag zu tröſten. 


Die Grundzüge der Heilslehre Jeſu bei den Synoptikern. 73 


liche Function Jeſu, wie feine höchſte Prärogative (9, 2—8), welche 
er fpäter (18, 19, denn jedenfalls ift diefelbe in dem Avsı» ein⸗ 
gefhfoffen) feinen Jungern überträgt (vgl. Luk. 7, 37ff.). Die 
beiden Stiftungen Jeſu für die Aufnahme in fein Reich und für 
die fortwährende Feier der Gemeinfchaft feiner Junger mit ihm, 
Taufe und Abendmahl, haben zu ihrem nüchſten Inhalte den Em- 
pfang der Sündenvergebung (28, 19 vgl. 3, 6. 11; 26, 28 vgl. 
20, 28). Beſonders zu beachten ift, daß das von Jeſu geftiftete 
Himmelreich bei der Einfegung des heiligen Abendmahls ald „der 
Rene Bund“ bezeichnet wird. Schon im Alten Bunde gieng 
dr Geſetzgebung die Erwählung des Volkes Israel und feine Er⸗ 
(fung aus der Knechtſchaft Egyptens voran; das Gefeg war nur 
die von Gott gegebene Lebensordnung für das von ihm durch einen 
freien Act der Gnade zu feinem Eigentum ermwählte Volt, Für 
„ben Neuen Bund“ war noch beftimmter fchon bei den Propheten 
geweißagt, daß er auf der Grundlage göttlicher Gnade und Erlöfung 
ruhen folle (Ser. 31, 31 —37; 32, 37 ff.; 33, 6ff. Ezech. 37, 25 
und das ganze Buch ef. 40—66). Somit mußte die Erſcheinung 
des erfüllenden Gottesreiches in dem Vollender und Erben der 
Deokratie auch die Erſcheinung der vollen Gnade Gottes 
in ſich fchließen, und alles Thun und Reden Jeſu muß, auch wo 
8 nicht gerade diefe Form an fich trägt, zunächft als Vermittlung 
tier Gnade und Einladung zu derfelben ſich darftellen. In Hohem 
Se bemerkenswerth tft, daß die Vermittlung diefer Gnade durch 
gemgthuenden Gehorfam und fühnendes Leiden Jeſu in feiner 
üigenen Lehre, namentlich bei den Synoptikern, faft gar nicht er⸗ 
wahnt wird. Wreilich fällt die Stiftung des heiligen Abendmahls “ 
mit den Einfegungsworten ſchwerer in's Gewicht als wiederholte 
Reden über diefen Punkt, und innerhalb der Reden Jeſu findet 
fih wenigftens ber Ausfprud 20, 28 als deutlicher Beleg dafür, 
daß Jeſus namentlich gegen das Ende feines Lebens ſich über die 
fühnende Bedeutung feines Todes auögefprochen hat. Wenn auch 
die ftrenge Satisfactionstheorie, nämlich der Gedanke, daß Jeſus, 
beladen mit dem göttlichen Zorne über die Sünden der Welt, den 
Tod erfitten und erft durch die volle Erduldung der von der Menfch- 
hit verdienten Sündenftrafe die Gnade Gottes erworben habe, dem 


74 j Weiß 


Sinne Jeſu in den genannten Stellen ſchwerlich entfpricht, fo lehrt 
er darin boch deutlich, daß er fein Werk der gnabenvolfen Bundes⸗ 
ftiftung nur dadurch vollenden könne, daß er fein Leben in füh- 
nendem Opfertode fiir die Sünden der Menfchen, genauer ber 
jegigen und fpäteren Genofjen feines Reiches, dahingebe. Und & 
ift nicht zu verfennen, daß diefe Lehre, einmal ausgeſprochen und 
namentlich fixirt in einer heiligen eier, nothwendig eime centrale 
Bedeutung gewinnt, wenn auch fouft nicht von ihr die Mede iſt. 
Aber fo viel geht auch deutlich aus einem Weberblide über die ger 
famte Lehre Jeſu von dem mit feiner Perfon erfchienenen Heil 
und Gnadenreich hervor, daB die in der evangelifcen Dogmatil 
herkömmliche einfeitige Hervorhebung feines Opfertodes oder über: 
Haupt feiner fatisfactorifchen Zhätigfeit feiner eigenen Lehre nicht 
entfprechend ift. Daß das Himmelreich nur durch Ueberwindung de | 
Teufels oder böfen Geiftes in der Vollkraft des Heiligen Geiſtes 
von Jeſu hergeftellt werben könne, ift als beachtenswerthes Moment 
für die Lehre von feinem Werke noch aus 12, 28—30 (vgl. die | 
Verſuchungsgeſchichte, Kap. 4) zu entnehmen. 

Indem wir nun nad der Aneignung des Himmelreiches und 
der Gottesgeredhtigfeit fragen, fo übergehen wir zunädjit das Mo | 
ment der ausdrücklichen göttlichen Berufung und wenden uns je 
gleich zu” den Acten des Subjectes, welche den principiellen Anfang 
der Verwirklichung der dixasoodvr, Fsod in ihm bilden. Die 
Acte find die Buße und der Glaube. Schon aus der Voraus⸗ 
ſetzung der allgemeinen Sündhaftigfeit einerfeits und ber ethifchen 
Natur des Himmelreichs andererjeit® ergibt ſich, dag der Eintritt 
in dasſelbe notwendig durch die Buße oder Sinnesauderung (nera- 
vore) Hindurchgehen muß. Darum bereitet der Täufer Johaunes 
zum Gintritt in das Himmelreih vor durch die Predigt umd die 
Taufe zur Buße (Kap. 3). Darum beginnt Jeſus mit dem Ruf 
neravoeise (3, 17) und wendet fich bei feiner Einfadung zum 
Himmelreih an diejenigen, melde geiſtlich arm find und nad Gr 
rechtigkeit verlangen, aljo an die Bußfertigen (5, 3—7). Die 
ossvn avan, durch welche man iu das Himmelveich eingeht, it 
offenbar zunächſt die Buße (7, 13). Diejenigen, welche der Buße 
nicht zu bedürfen meinen, wie die Pharifäer und ber reiche Jüung⸗ 


Die Grundzüge der Heilslehre Jeſu bei den Synoptikern. 75 


fing, kommen nicht hinein (21, 28—32; 19, 16—24). Auch die 
Jünger müffen umlehren und wie die Kinder werden, um in das 
Hünmelreich zu fommen (18, 3). Der Mangel des hochzeitlichen 
leide, weldher vom Himmelreich ausfehließt (22, 12Ff.), ift jeden- 
falls vor allem der Mangel der Buße, wenn auch (wie unten ge- 
zeigt werden fol) durch diefen Begriff die Bedeutung jenes Bildes 
noch nicht erſchöpft ift. Daß. die geforderte Buße jedenfalls eine 
tadicale Umkehr und Sinnesänderung, feine bloße Ablegung ein» 
jener Sünden, in ſich ſchließt, ift aus dem Ritus der Taufe, wie 
ws den angeführten Bezeichnungen erfichtlih. Im übrigen aber 
it es ein Hauptbeweis für die Tiefe und Weite der Heilslchre 
iu, daß gerade auch die Buße in mannigfaltiger Geftalt von 
im beſchrieben wird. ALS gründliche Selbftverurteilung, Reue 
und Umkehr des Sinnes und Lebens wird fie geſchildert bei den 
offenbaren duagrwmädot (9, 12f.; 21, 29ff.), den auch äußerlich 
Lerlorenen (18, 12 vgl. befonders das Gleihnis vom verlorenen 
Sohne Luk, 15 und die bußfertige Sünderin 7, 38 und Zöllner 
18, 13), als Sehnſucht nad; dem Heile, nad) Ruhe der Seele, 
Mittheilung göttlicher Gerechtigkeit und göttlichen Lebens bei den 
drommen (5, 3. 4. 6; 11, 28; 13, 45), welche in fi ſelbſt 
und ihrem gefeglichen Thun und Stande keine Befriedigung finden; 
als Selbftdemütigung im Bewußtfein des eigenen Unwerthes er 
ieint fie beſouders bei Heiden (8, 8; 15, 27). In allen diejen 
falten aber Hat die Buße nicht fowol die Forderungen und 
duhungen des Geſetzes als vielmehr den Ruf, die Darbietung und 
Gmartung der göttlichen Gnade und des göttlichen Heiles zu ihrer 
Lorausfegung, und eben deshalb hat fie zu ihrem näch ſten Ziele 
tt den neuen Gehorſam, jondern die Theilnahme an der gött- 
fihen Gnade. Man könnte ſich zwar gegen diefe Behauptung auf 
21, 29 berufen wollen, aber gerade jene ganze Parabel zeigt, daß 
en die Buße felbft ſamt dem Glauben (V. 32) diejenige Erfüllung 
des göttlichen Willens ift, welche Gott von dem Sünder erwartet. 
E handelt ſich zunächft darum, daB der Sünder eingehe auf die 
tbenfowol guädige als Heilige Willensbezeugung Gottes in feinen 
Dffenbarungsorganen. Diefes Eingehen ift nach der einen nega= 
tiven Seite, fofern fie fi gegen den Sünder felbft kehrt, die Buße, 





76 Weiß 


nad) der anderen, pofitiven, ſofern der Sünder die dargebotene Be- 
zeugung ergreift, der Glaube. So ift vielmehr der Glaube das 
nädjte Ziel der Buße, wie umgefehrt die Buße einen gemiffen 
Grad des Glaubens zu ihrer Voransfegung hat (21, 32). 

Der Glaube Hat eine ebenfo fundamentale Bedeutung für die 
Erlangung des Heiles und die Verwirklichung der Gerechtigkeit wie 
die Buße. Aber gerade an diefem Begriffe zeigt fi, wie an den 
correlaten der Gerechtigkeit und des Himmelreiches und befonders 
aud der Perfon Jeſu als des Heilandes felbft, dag die Lehre Jeſu, 
namentlich bei den Synoptifern, die Momente noch ungefdie- 
den beifammen hält, melde die apoftolifche Lehre, zumal- die 
pauliniſche Dialektit, von einander geſchieden hat. Es werben 
nämlich an der Perſon Jeſu nicht ftrenge gefchieden feine Bedeu⸗ 
tung als Verföhner und als Erlöfer, ebenfo nicht in dem Heile, 
das er bringt, das innerliche und das üußerliche. Es findet auch 
feine genauere Scheidung und Verbindung ftatt zwifchen den drei 
Momenten der Perfon, des Werkes und der Verkündigung Jeſu. 
Wenn der paulinifche Glaube vornehmlich auf das im Tode Jeſu 
duch ihn vollbrachte Verſöhnungswerk ſich richtet, der johanneifche 
auf das in der Perſon Jeſu erfchienene ewige Leben, fo Hat der 
felbe bei Matthäus, beziehungsmweife bei den Synoptifern, meift den 
unbeftimmten elementaren Charakter des Glaubens an das mit der 
Berfon Jeſu erfchienene Gottesreih, an feine Meffianität im all- 
gemeinften Sinne. Diefer Glaube entwidelt ſich ganz naturgemäß 
vielfach an der Wahrnehmung der äußeren, befonders der heilenden 
Wunderthätigfeit Jeſu, und Jeſus ift fo weit entfernt, diefe Art 
des Glaubens an ihn zurückzuweiſen, daß er diefen Glauben viel- 
mehr in einzelnen Fällen, wie bei dem Hauptmann von Kapernaum 
und dem kanandiſchen Weibe (8, 5—13; 15, 21ff. vgl. 9, 22 
u. 29; 8,2) ſehr hoch ftellt und demfelben geradezu die Theilnahme 
an dem Himmelreich verheißt (anders dagegen Joh. 4, 48). Der 
Glaube des Hauptmanns und des Tananäifchen Weibes zeigen ja 
auch im wejentlihen und feimartig diefelbe Herzensftellung zu dem 
in Ehrifto erſchienenen Heile, welde der paufinifche Glaube in 
entwidelter Form enthält, nämlich jenes vertrauensvolle Ergreifen 
des Heiles in Chrifto als einer göttlichen Gnadenhulfe bei voller 


Die Grumbzüge der Heilslehre Jeſu bei den Synoptilern. 77 


Anerkennung der eigenen Unwürdigkeit. Cine etwas andere Form 
des Glaubens entfteht, wenn derfelbe überwiegend an die Verkün« 
tigung Jeſu, am, fein Wort vom Himmelreiche und von der Ges 
tehtigfeit Gottes in demfelben, ſich anfnüpft. Hier richtet fich der 
Glaube beftimmt auf den geiftigen, etbifh=religiöfen Inhalt der 
Etſcheinung Jeſu; aber weder jheidet er an dem Worte Jeſu 
näher Evangelium und Gejeg, noch wird unmittelbar die Perfon 
fu in feinem Worte angeeignet. Der Glaube ift bier Annahme 
des Wortes Jeſu vom Himmelreich in dem ganzen Umfang feiner 
nd ungefchieden in einander fiegenden Beziehungen. Er ift mwilliges, 
seorfames, bezichungsweife auch begieriges und Frendiges Annehmen 
des Wortes Jeſu mit der unmittelbaren Tendenz, nun auch mit 
Aufgeben des feitherigen Eigenfebens danach ſich zu halten und zu 
tun, dadurch in einen neuen gottgemäßen Lebensftand einzutreten. 
€ ift dies die gewöhnlichfte Form, in welcher der Glaube bei den 
Synoptikern in Betracht kommt, obwol das entfprechende Verhalten 
eben nur felten gerade mit diefem Ausdrucke bezeichnet ift (21, 32; 
7,13: slosggeodan dia vis orevis Ans; T, 24: dxovew 
tovg Aoyovs xai rroisiv vgl. B. 21 u. 12, 49f.; 10, 14. 40: 
Hyde xal dxovsw; 13, 23: 70V Aöyov dxovev xal ovv- 
wor x. ©. A, mit beftimmterer Beziehung auf die im Worte 
Shrifti angebotene Gnade des Himmelreiches 13, 44—46; 22,10, 
Das Gegentheil diefes Glaubens fiehe 11, 16—19. 20ff.; 13, 
fi. 19; 12, 22—42; 23, 37; 22, 23ff.; 22, 5). Wie der 
Glube darin befteht, daß der Menſch die ihm überzeugend nahe 
brachte Willensoffenbarung Gottes durch Chriftum aufnehmen und 
befolgen will, fo der Unglaube darin, daß der Menſch aus Leichte 
fin, Stumpffinn oder Trotz die göttliche Offenbarung durch Chriftum 
nicht als ſolche anerkennt, ignorirt oder beftreitet. Die dritte Form 
des Glaubens ift bereit® eine entwideltere, indem derfelbe in ihr 
fh ſchon ganz beftimmt auf die Perfon Jeſu als des Erlöfers 
füßtet. Zu dieſem Glauben fordert Jefus anf 11, 28; 10, 32f.; 
12, 30 vgl. 28; er ift vorausgejegt 18, 5: ri zo dvonazi 
#ov vgl. 10, 40 u. 42; 5, 11; er findet fich bei Johannes dem 
Täufer 11, 3 vgl. V. 6, befonders aber bei den Jungern Jeſu, 
wo er feinen Höchften Ausdruck erlangt in dem Bekenntnis des 





8 Weiß 


Petrus (16, 16 vgl. 14, 33). Wenn auch nicht unmittelbar aus ⸗ 
gefprochen, Tiegt diefer Glaube dem von Jeſu empfohlenen Ber: 
halten der Maria zu Grunde (Luk. 10, 39—42). Dagegen hat 
der Glaube der Dämonen an die Gottesfohnfchaft Jeſu (8, 29 
vgl. Jak. 2, 19) michts mit dem eben bezeichneten Glauben zu 
hoffen. Aus der Art, wie Jeſus 16, 17f. das Bekenntnis des 
Petrus aufnimmt*umd erwidert, geht deutlich hervor, daß derſelbe 
erft in biefem aus der innerften Tiefe des Gemüthes hervorgegan- 
genen und auf bie lebendige Erfahrung von feiner Berfon begrün- 
deten Glauben an feine Gottesfohnfhaft die dolle 
Realität des Glaubens erkennt, wie er allein die Grund— 
lage abgeben kann für den Aufbau feiner. Gemeinde 
Es ift aber auch bei einer tieferen Erforſchung des gefamten Auf 
treten® und der gefamten Lehre Jeſu bei den Synoptifern unver 
Iennbar, wie Jeſus auch da, wo er feine Perfon nicht jo ausdrüd- 
fi) in den Vordergrund oder Mittelpunkt ſtellt, doch überall in- 
direct darauf hinleiten will, daß man in ihm den abfofuten Mittler 
und Träger des Heiles, den Stifter und Herrn des Himmelreiches 
erkenne und annehme. So erfcheint z. B. namentlich auch die gamze 
Bergrede nur dann unter dem wahren Gefihtepmift, werm man 
fein örı 490» (5, 17) wohl in's Auge faßt, um nichts zu fagen 
von dem Evexev Euod 5,11 und von den Ausſprüchen 7, 21ff., 
welche nicht urfprimglih an diefer Stelle fo geſprochen zu fein 
feinen. Man darf ja in diefer Beziehung nur auf einige Steffen 
wie beſonders die Gleichniſſe vom königlichen Hochzeitmahle (wozu 
man vgl. 9, 15), den ungehorfamen Weingärtnern (21, 33—44) 
und auf Stelfen wie 10, 32f.; 11, 27—30. 6; 12,8. 41 u. ſ. f. 
hinweiſen, um anzudeuten, baß die Erlangung des Heiles allerdings 
durch den gläubigen Anflug an Yefum als den Sohn Gottes, 
d. h. den Stifter und Heren des Himmelveiches bedingt erfcheint. 
Es verhäft ſich mit diefent Punkte wie mit der anderen oben er» 
wähnten Frage, ob bei den Synoptikern nicht Jeſus eben weſentlich 
ein neues Geſetz verfündige und von der Erfüllung desfelben die 
Erlangung des Heiles abhängig made. Die oberflächliche Betrach- 
tung ſcheint darauf zu führen, daß Jeſus bie Erlangung des Heiles 
nicht weſentlich abhängig mache von dem Glauben an ſeine Perſon 


Die Grundzüge ber Heilslchre Jeſu bei den Synoptilern. 79 


oder gar an feine einzigartige Verbindung mit Gott; bie tiefere 
Etforſchung entdedt, dag dieſe Forderung ale das leitende 
Ziel durd die ganze Wirkſamkeit und Lehre Jefu aud 
beiden Synoptifern fi hindurchzieht. Freilich erſcheint 
im Gleichnis vom großen Schuldner (18, 21ff.) wie auch im 
Gleichnis vom verlorenen Sohme die Erlangung ber Sündenver- 
gebung und die Mettung des Sünders überhaupt nicht ausdrücklich 
durh Jeſum und den Glauben an ihn vermittelt, wie auch dieſe 
Vermittlung im Vaterunſer nicht erwähnt ift; aber fehon das 
Geihnis vom verlorenen Schafe (10, 12F.) weift auf die Ver⸗ 
aittfung des guten Hirten hin, und aus der Gefamtheit der Lehre 
fu, namentlich auch feiner Lehre vom zufünftigen Gericht (wovon 
unten !), ift diefe Vermittlung deutlich zu ergänzen. Nur ift aller« 
dings der bei den Synoptikern auftretende und geforderte Glaube 
an die Gottesſohnſchaft und abfolute Heilsmittlerfchaft Jeſu fogar 
im Munde eines Petrus keines wegs ein bogmatifcher (vom 
iiner unbedingten Annahme des Athanasianum oder Chal- 
tedonense gründlich verfchieden!); er ift ethifch-religiöfer 
Natur, weſentlich Hervorgegangen aus dem Iebendigen unmittelbaren 
Eindrude der Perſönlichteit Jeſu und aus dem Bebürfniffe des 
Auſchlaſſes am diefelbe. Sofern eine beftimmte Vorftellung damit 
verbunden war, ruhte fie auf der Verheißung des A. T.'s von 
im Meſſias als dem mit Gott durch eine einzigartige Sohnes- 
itlung verbundenen Stifter und Herrn des Gottesreiches. Allem 
nd wurde aber die Perjon des Meſſias dabei wefentlich als eine 
mnihliche, nur aus bem heiligen Geifte erzeugte und mit feiner 
Bülle ausgerüftete, namentlich jündlofe, nicht aber als eine perſön⸗ 
lich gotthafte, vorgeftellt. Man fan aber nicht einmal fagen, daß 
Feſus dieſen entwidelten Glauben an feine Perfon zur Bedingung 
idon des Eintritts in das Gottesreich made. Vielmehr ſcheint 
die Sache eher fo zu ftehen, daß der Eintritt in das Gottesreich 
gihehen kann, wo auch nur jene erfte ober jene zweite Form des 
Glaubens vorhanden ift, wenngleich bei dieſen beiden Formen Jeſus 
zuuächſt nur als der gejchichtliche Ueberbringer, noch nicht als der 
abſolute Vermittler und noch weniger “als der perſönliche Inhalt 
der Bezeugung Gottes erſcheint, auf welche der Glaube eingeht. 


80 Weiß 


Nur ergibt ſich von ſelbſt, daß eine Fortbildung jener beiden nie⸗ 
drigeren Glaubensformen zu der Erfaſſung Jeſu als des perfün- 
lichen abſoluten Heilsträgers durch die Conſequenz des wahren 
Glaubens gefordert und gegeben iſt. In derſelben Conſequenz liegt 
die fpecielle, bei Paulus fo fehr betonte Beziehung des Glaubens 
auf den Verföhnungstod Jeſu, obwol aud Hier hervorgehoben werden 
muß, daß im Munbe Jeſu bei den Synoptikern ſich (abgefehen von 
der Stiftung des heiligen Abendmahle) fein einziger Ausſpruch 
findet, worin er den gnadefuchenden Sünder fpeciell auf die That: 
ſache feines Verföhnungstodes verwiefen hätte (vgl. dagegen oh. 3, 
14—16 u. 6, 51—58). Dan muß alfo auch von diefer Seite 
her in der Lehre Jeſu ein Correctiv erkennen gegen die aus ein- 
feitiger Berückſichtigung des pauliniſchen Lehrtropus hervorgegangene 
enge Beſchränkung des Glaubens auf die Thatſache des Verſbh⸗ 
nungstodes Jeſu *). Bon der Nachfolge Jeſu, weiche aus dem 
Glauben an feine Berfon nothwendig folgt, kann erft unten die 
Rede fein, wenn der durch den Glauben erlangte neue Lebensbeftand 
befehrieben wird. 

Hier muß und nod die Frage nad: der Entftehung de 
Glaubens beſchaftigen. Daß derfelbe durchweg als ein freier religiöt- 
fittlicher Willensact erjcheint, braudt wol nicht im einzelnen nach⸗ 
gewiefen zu werden. Aus den Spnoptifern würde wol niemals | 
die Lehre von der gratia irresistibilis in der Kirche gebildet worden 
fein. Um fo beachtenswerther ift aber, daß auch in den Synoptitem 
der Glaube doch ganz entjchieden auf die göttliche Gnade als erfie 
Urſache zurüdgeführt wird. Gott beruft die Menfchen durch fein 
Wort (9, 13; 13, 9). Bei diefer Berufung find die Einen (fo 
beſonders bie Juden gegenüber von ben Heiden) näherftehend, fo 
daß fie bälder und Teichter von dem Rufe erreicht werden, die An- | 
deren fernerftehend (Gleichnis vom königlichen Hochzeitmahle und 
von den Arbeitern im Weinberge, dazu 8, 10ff.; 15, 24). Aber 
aud den Entfernteren wird ber Ruf gebracht, zu allen Völlern 


a) Man begreift ſchon von Bier ans, wie 3. B. ein Bengel, welder bit 
geſamte Schrift in fi aufgenommen hatte, an der herrenhut'ſchen „Blut 
and Wunden · Theologie“ kein Gefallen finden konnte. 


Die Grundzüge der Heilslehre Jeſu bei den Synoptilern. 8 


fol er getragen werden (28, 19; 24, 14 vgl. 22, 9 u. 21, 43). 
Denen, welche ſich (zunächſt alferdings von der durch den Alten 
Bund begründeten Gottesgemeinfchaft weg) verloren haben, geht 
us nach, fie, zu ſuchen (18, 12). Der Ader, auf welchem der 
Same des Himmelreich® ausgeftreut wird, ift die ganze Welt 
(13, 38). Nach diefem Gfeichnifje vom Säemann ift die inner- 
liche Dispofition für die Aufnahme des Wortes allerdings eine fehr 
verfhiedene; aber wie groß auch der Grad der vorhandenen Em— 
pfänglichkeit fein mag, fo ift doch der Glaube nirgends einfaches 
Product des Menſchen, fondern in erfter Linie göttliche Wirkung. 
Des berufende Wort trägt felbft göttliche Kraft in fih, darum 
vird es mit dem Samen verglichen (13, 3ff.). Zu dem äußeren 
Borte muß noch eine befondere Wirkung Gottes auf die Erkenntnis 
und den Willen des Menfchen Hinzutreten, wenn er dasjelbe in fein 
innerſtes Verftändnis und in feinen Willen aufnehmen foll (11, 25ff.; 
13, 11; 16, 17; 19, 26). Denn der Inhalt diejes Wortes ift 
iin auorigiov, d. h. eine Wahrheit, welche, über das natürliche 
Weſen des Menfchen Hinausliegend, wie fie nur von oben her mit» 
getheift ift, fo auch nur durch befondere göttliche Einwirkung auf 
die Seele des einzelnen Menfchen derfelben aufgefchloffen und faß- 
bar gemacht wird (arroxakinzemw). Vielen Menſchen ift durch 
göttlihes Gericht das ihnen zuvor noch eigene natürliche Fafjungs- 
vermögen für die göttliche Wahrheit entzogen und fie befinden fich 
ige vorangegangener Schuld im Zuftande der Verblendung und 
Lerfocdung (6, 22f.; 13, 12ff.). Auch am ihnen bezeugt ſich 
die mit der Erſcheinung und fpeciell dem Worte Jeſu verbundene 
Birffamteit des Heifigen Geiftes; aber biefelbe gereicht zur Stei- 
gerung ihres Unglaubens und damit zu ihrer Verdammnis (12, 31ff.). 
Bern demnach der Menſch zum Glauben nicht kommen kann ohne 
befondere innere Gnadenwirkung Gottes, fo bleibt aber doch ſchließ⸗ 
{ih beim Willen des Menfchen die Entſcheidung. Es kann wer 
nigſtens Heutzutage niemanden mehr einfallen, aus dem Gleichniffe 
vom Unfraute unter dem Weizen den Schluß ziehen zu mollen, 
daß Glaube und Unglaube abfolute Gottes- oder Teufelswirkungen 
fein. Der Ausfprud 22, 14 drüdt nur ein thatſächliches Re— 
ſultat aus, ohne im geringften die Annahme auszuſchließen, daß 
Weol. Stud. Jahrg. 1869. 6 





[> " Weiß 


diejenigen xantoc, welche nicht dxAexros werden, durch ihre eigene 
Schuld dies herbeiführen. Welcher Art die menſchliche Willens⸗ 
thätigfeit fein muß, damit der Glaube entftehe und beftehe, ift bee 
ſonders in dem Gleichniſſe vom Säemann angedeutet. Das Wort 
muß in den Grund der Seele, in das Herz hereingenommen, darin 
bewahrt und verarbeitet werden (vgl. uf. 11,28; 10, 39—42). 
Die vjmıos (11, 25 vgl. 18, 6), die mewgoi s@ nveunar, 
bie apagrwdoi, find empfänglic für das göttliche Gnadenwort, 
während die Goyol, rAovaros, dixaros, wie der oberflächliche Leicht 
finn (11, 16ff.) nichts davon vernehmen (22, 8—5 vgl. V. 10) 
oder ſich das Herz nicht faſſen fünnen, feinen Inhalt ſich -anzur 
eignen (19, 22 vgl. mit 13, 44—46). Daß aber der Glaube, 
obwol er einerfeits ein reines Annchmen des Wortes ift, welches 
den Verzicht auf alle Eigenheit in ſich ſchließt, andererfeits, zumal 
in jeiner nothwendigen Verbindung mit der Buße, die ernftefte 
Willensentfcheidung und intenfivfte Willensthat ift, geht aus allem 
feitherigen hervor (vgl. noch bef. 11,12; 7, 13, aud 8, 19—22). 

Wir fommen nun an den Stand des Heiles und jeine Ent 
widlung. Durch Buße und Glaube’ tritt man in das Himmelreich 
ein und damit in den Stand der Gerechtigkeit zunächſt als einen 
Stand der Gnade bei Gott. Wenn es fchon im Wefen des alt« 
teftamentlihen Bundesvolles lag, daß basfelbe in einem gnaden⸗ 
reichen Gemeinfchaftsverhäftnis zu Gott ftand, fo findet dieſes 
Verhältnis, für die Glieder des Himmelreiches feine Vollendung. 
Dieſes Gemeinfchaftsverhältnis ift als wefentliches Moment des 
Himmelreiches dargeſtellt in ber Parabel vom königlichen Hochzeit 
mahle, deren Inhalt keineswegs nur auf die Vollendung des Gotted 
reiches bezogen werden darf. Gerade in diefer Parabel ift aud, 
wie 8, 11f. und ganz befonders 15, 26, angedeutet, dag es ſich 
beim Himmelreihe um die Vollendung desjenigen Gemeinfchafts- 
verhältniffes Handle, welches zwiſchen Gott und feinem altteftament- 
lichen Bundesvolle beftcht. Denn es .ift fein Zweifel, daß dort 
unter den zuerft geladenen Gäften eben die Juden gemeint find, 
fpeciell wol derjenige Theil derfelben, welcher durch fein Verbleiben 
innerhalb der äußerlichen Schranken der altteftamentlichen Bundes⸗ 
ordnung äußerlich das nächte Anzecht an die Vollendung der Bundes⸗ 


» 


Die Grundzüge der Heilslehre Jeſu bei den Synoptilern. 88 


gemeinfchaft Hatte. Es befteht nun aber das igentümfiche des 
moen Gemeinfchaftsverhättniffes im Himmelreiche kurz gefagt in 
der vollen und indivibuellen Kindſchaft Gottes und zwar ift 
diefe Kindfchaft vermittelt durh Yejum als den Sohn 
Gottes im fpecififhen Sinne. Daß die Stellung im Him⸗ 

mefreiche eine ſchlechthin neue und höhere fei als biefenige innerhalb 
ber alten Bunbeögemeinfchaft (vgl. za) diedixn 26, 28), 
darüber hat ſich Jeſus in Kap. 11 namentlich V. 11 fehr deutlich 
ausgeſprochen. Der Mleinfte im Himmelreich ift größer als Jo— 
haunes der Täufer, der größte Prophet, der größte Knecht Gottes 
im Alten Bunde. Der Vorzug der Stellung im Himmelreide ift 
djo ein qualitativer, und er fann im nichts anderem gefunden 
werden als eben in ‘der Kindſchaft Gottes. Die neue religiöfe 
Ordnung, welche mit dem Himmelreiche eingetreten ift, befteht ihrem 
tieften. Wefen nach darin, daß fie eine Gemeinde von Kindern 
Gottes Herjtellt und umfaßt. Geht man einmal hiervon aus, fo 
wird man der häufigen Bezeichnung Gottes als des rare im 
Munde Jeſu, befonders in der Bergrede (5, 16. 45. 48; 6, 4. 
6.9. 14. 18. 26. 32; 7,11. 21; 18,14; 23, 9) ein größeres 
Gewicht beilegen, als bisher in ber Regel gefchehen iſt ). Es war 
ja den Juden vom A. T. her gar nicht fo geläufig, Gott ale 
ihten Bater in individuell perfünficher Beziehung zu betrachten und 
reden. Jeſus aber wählt offenbar bdiefen Ausdrud, um das 
Weifiiche Gottesbewußtfein für die Genoffen des Himmelreih® darin 
aspjprechen. Auch jagt er Matth. 11, 27 ebenjo deutlich wie 
bei Johannes, daß feine eigentümliche Aufgabe darin beftche, den 
Vater zu offenbaren. Wenn 5, 9 den Friedfertigen bie Verheißung 
geben wird, daß fie Kinder Gottes werden genannt werden, und 
8. 45 die Ermahnmg zur Feindesliebe durch die Verweifung auf 
bie Gotteslindſchaft verftärft wird, fo ſchlagt hier freilich der Ber 
if der ſittlichen Aehnlichkeit mit Gott vor; aber es liegt der 





a) Reneftens hat Wittichen in feiner Schrift „Die Idee Gottes ‚als des 
Baters u. f. w.“ diefem Punkte die gebirende Aufmerkſamleit gefchenkt, 
hat aber das fpecifiiche Sohnesbewußtfein Jeſu und die Abhängigfeit des 
Kindfchaftsverhäftniffes feiner Fünger von feiner Sohnſchaft nicht genügend 
autrlanut. 


8 Beiß 


andere der Kindesftellung zu Gott zu Grunde. Diefe Kindes- 
ftellung äft vermittelt durd die Gemeinfhaft mit Jeſu, 
dem Sohne Gottes ſchlechthin, welder in einer ſpecifiſchen 
und abfoluten Gemeinfchaft des Erfennens und damit auch des 
Lebens mit Gott feinem Vater fteht (11, 27), auf melchem das 
abjolute Wohlgefallen des Vaters ruht (3, 17; 17, 5), welder 
der Herr bes Himmelräiches und Bermittler. feiner Güter ift 
(21, 37ff.; 22, 2). Er bezeichnet num diejenigen, welde mit ihm 
in Gemeinfhaft ftehen, als feine Brüder u. ſ. w. (12, 49f;; 
25, 40) und Hausgenofjen (10, 25 vgl. 9, 15), und wir erhalten 
fo die Idee einer durch Jeſum begründeten Gottesfamilie, welde 
einen Gegenfag bifdet gegen die bloß äußerliche theofratifche Volts- 
gemeinfchaft und die natürliche Blutsverwandtſchaft (10, 35—37. 
21 ff. vgl. 12, 48—50). Es liegt, im Zufammenhange mit dem 
ſchon durch die ganze Entwidlung des Alten Bundes vorbereiteten 
Univerfalismus des vollendeten Gottesreiches, in der onfequenz | 
einer folchen allein durch den gläubigen Anſchluß an Jeſum, alfo | 
durch diefes rein geiftige ethifchreligiöfe Band, vermittelten Stellung 
zu Gott, daß die Heiden höchſtens temporär von bdemfelben aus 
geſchloſſen fein können, wie umgekehrt, daß die Genoffen des theo- 
fratifchen Volkes durch den Unglauben der Theilnahme daran ver 
Tuftig gehen (8, 10—12; 15, 26—28 und ſchon die Worte des 
Taufers 3, 9). 

Ein befonderes Licht über die Stellung der Genofjen des Him- 
melreiches zu Gott verbreiten noch die Erklärungen Jefu 12, 2—8 
u. 17, 24—27. An der erfteren Stelle nimmt Jeſus im Prin- 
cipe für feine Jünger die Freiheit von ber Beobachtung des ino- 
faifchen Sabbatgefeges (nicht bloß der traditionellen Zufäge zu 
demfelben) in Anſpruch, und begründet diefe Freiheit durch ihre 
Gemeinſchaft mit ihm, welcher größer als der Tempel und als ber 
Menſchenſohn ein Herr über den Sabbat fei. Er ſcheint zugleich 
durch feine Hinmweifung auf die Freiheit der Priefter im Alten 
Bunde feinen Yüngern eine Art von priefterlicher Stellung in dem 
Sinne beilegen zu wollen, daß fie auf Grund ihres Rechtes und 
ihrer Pflicht, durch feine Vermittelung Gott allezeit [dienend] zu 
nahen, von der Beobachtung folder bloß äußerlichen Gebote, wie 


Die Grundzlge der Heilslehre Jeſn bei ben Synoptilern. 8 


das der Sabbatruhe, befreit fein. Wie die Priefter um ihrer in 
tem Tempel mit feinem Cultus begründeten priefterlichen Stellung 
willen befreit find von der Beobachtung der Sabbatruhe, fo noch 
mehr die Yünger Jeſu wegen ihrer Stellung zu dem, welder 
größer ift als der Tempel (bie Lesart neo» würde den Sinn 
nit weſentlich verändern). Demnach würde Jeſus für feine Jünger 
auf Grund ihrer Gemeinfhaft mit ihm bereit8 jene Freiheit vom 
mofaifchen Gefege in Anfpruch nehmen, welche Paulus fpäter, nur 
in ausführlicherer Begründung, für die an Chriſtum Gläubigen als 
Kinder Gottes im Kreife der Apoftel zuerft gefordert Hat. Auch 
9, 14ff. vertheidigt Jeſus den Umftand, daß feine Jünger das 
äblihe Faften unterlaffen, durd die Hinweifung darauf, daß dies 
felben in ihrer Lebensweiſe durch das Verhältnis zu ihm beftimmt 
feien, und fnüpft daran eine deutliche Hinweifung auf die zufünftige 
Aufgebung der bisherigen Form des religiöfen Lebens für die Sei- 
nigen, weil ber neue Geift aud) eine neue Form verlange, und, 
wie wir hinzufügen dürfen, fich felbft fchaffen werde (vgl. 15, 1—20 
u. 11,19 mit 16, 24). Unmittelbarer aber bezieht fi auf unfere 
Frage die Erklärung Jeſu in Betreff der Tempelfteuer (17, 25 ff.). 
Feſus erflärt, daß er und feine Junger eigentlich nicht verpflichtet 
feien, diefelbe zu bezahlen, weil fie Kinder Gottes feien. Zweierlei 
verdient hier ganz befondere Beachtung, einmal daß Jeſus den 
Begriff der Gotteskindſchaft hier unmittelbar von fih aus ausdehnt 
af feine Sünger, ſodann daß er offenbar auch von dem jüdifchen 
Volle denjenigen Theil, welcher nicht-an ihn glaubt, hier von der 
Gotteskindſchaft ausſchließt. Er behandelt das freilich als efoterifche 
dehre; darum übt er auch das nur im Kreife der Jünger behaup⸗ 
tete Recht nicht aus, fondern bezahlt die Zinsmünze, um diejenigen 
nicht zu ärgern, welche ihrer ganzen geiftigen Stellung nach jenes 
Recht nicht anzuerfennen vermögen. Darf man, obwol die Be- 
Ablung der Tempelfteuer nicht durch das moſaiſche Gefeg vor⸗ 
geſchrieben war, nicht von Hier aus ben Schluß ziehen, daß Jeſus 
auch das moſaiſche Gejeg nur aus pädagogifcher Accomodation für 
feine Berfon beobachtet und feinen Jüngern zur Beobachtung em» 
pfohlen habe (23, 3)? Unter die Attribute der durch Jeſum 
vermittelten Kindfchaft Gottes werden wir auch das Gebet in feinem 


86 Veit 


Namen zu ftellen Haben, zu welchem Jeſus die Seinen mit der 
Zufage unbedingter Erhörung auffordert (18, 19f.). Diefe Bers 
heißung wird in’ diefer Stelle alferdings zunächft dem gemeinfamen 
Gebete gegeben; aber einerſeits liegt es in der Natur des Betens 
der Jünger Jeſu, daß es wefentlich auf die Zwecke der chriftlichen 
Gemeinschaft, des Reiches Gottes, ‚gerichtet ift (vgl. das Vaterunſer), 
andererfeit8 darf aus unjerer Stelle gewiß auch für das Gebet det 
einzelnen Jungers Jeſu das entnommen werden, dag ihm (die Ber 
heißung richtig verftanden) durch die Vermittlung Jeſu die umbe | 
dingte Erhörung zukomme. Jeſus ehrt überhaupt feine Junger 
mit unbedingtem Vertrauen Gott als ihren Vater anrufen (6, 6—13. | 
25—34; 7, 7—11; 17, 20). 

Kommt der Menſch dur den Eintritt in das Himmelreich auf 
dem bezeichneten Wege zu Gott in die Stellung eines Kindes, fo, 
verjteht es fich von felbft, daß er damit volle Vergebung feiner 
Sünden empfängt, in den Stand der Gerechtigkeit oder Recht⸗ 
fertigung vor Gott eintritt. Die Seligpreifungen, womit Jeſus 
die Bergrede eröffnet, hätten feinen Sinn ohne diefe Vorausſetzung 
Sündenvergebung hatten ja ſchon diejenigen gefucht, welche durch 
die Taufe Johannis zum Eintritt in das Reich Gottes ſich vor- 
bereitet hatten. Jedenfalls muß die im 5, 6 verheißene dixcio- 
odrn die Rechtfertigung als erſtes Moment in ſich ſchließen; aber 
aud in 6, 33 werden wir diefes anzunehmen haben, wenn and 
nad) der vorangegangenen Gefegesentwidlung der Gedanke Hier vor- 
wiegend auf die nachfolgende Geſetzeserfüllung gerichtet ift. Es ift 
freilich die Rechtfertigung von Jeſu nicht im der fcharfen logiſchen 
Sonderung wie bei Paulus als ein in der Gegenwart an bem 
Gläubigen vollzogener abfoluter Act Gottes firirt; die Aufnahme 
in’g Himmelreid) bringt diefelbe mehr unter der Form des Schutzes 
vor dem zufünftigen Gerichte, vor welchem man bei Jeſu Zufludt 
findet (vgl. Hier nur 23, 37 mit 3, 7, aber auch analog bei Paulus 
Phil. 3, 8f. u. fonft). Indeſſen iſt die Sündenvergebung als 
gegenwärtige und anf die Theifnahme an dem Opfertod Chrifti 
begründete den Jüngern Jeſu im heiligen Abendmahle ausdrüdlid 
verfiegelt (26, 28) und bei der (11, 28f.) den Seelen der zu 
Jeſu im Glauben Kommenden offenbar ſchon für die Gegenwart 


Die Grundzüge der Heilelchee Iefu bei den Synoptilern. 87 


verfeißenen avarravaıs werben wir zunäcft an ben Srieden ber 
Rechtfertigung zu denen haben, namentlich wenn wir den Zuſam⸗ 
menhang mit V. 25—27 beachten. Jeſus vermittelt die dvd- 
revOss, indem er diejenigen, welche zu ihm kommen, mit Schleier» 
macher zu reden, zu allererft in die Seligkeit feiner volltommenen 
Gottesgemeinfchaft aufnimmt. Das Wort Jeſu enthält für den 
bußfertig Gläubigen die Bürgfehaft der Sündenvergebung, ob es 
ihm num unmittelbar von Jeſu ober durch den Dienft feiner Jünger 
augefprochen wird (9, 6 vgl. 18, 12—14). Die Taufe auf den 
Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geiftes, 
alfo als Act und Zeichen der Aufnahme in die dur Chriſtum 
und den heiligen Geift vollendete Vateroffenbarung Gottes (28, 19), 
fliegt als erftes Moment die volle Begnadigung nothwendig in 
fh. Daß nun aber Jeſus allerdings die Rechtfertigung als abfor 
luten Gnadenact Gottes in der Gegenwart nicht ftreng fir ſich 
fzirt, hängt mit der ganzen Eigentümlichkeit feiner Lehrweiſe zu 
fammen, wonach er die Begnadigung mit der fittlichereligiöfen Er» 
nenerung des Menfchen, feiner Belehrung, Wiedergeburt und neuem 
Gehorſam ſtets auf's unmittelbarfte Tebendig zufammenfaßt. Das 
Trachten nach dem Himmelreiche und nad feiner Gerechtigkeit faßt 
das Intereſſe der Seligfeit und das der fittlihen Erneuerung ale 
wei ganz unzertrennliche Momente in fih, und Buße und Gfaube, 
welche den Eintritt in das Himmelreih vermitteln, kommen ftets 
mittelbar als fittliche Grundacte in Betracht, welche ein neues 
nigioß »fittliches Leben im geiftigen Mittelpunkte des Menfchen 
ſchen ®). Nirgends erfcheint auch der Glaube nach der Lehre Jeſu 
als bloßes ögyavor Annzıxdv für den Empfang der Gnade, Bei 
dieſer Lehrwelſe fönnen daher ſolche Fragen allerdings gar’ nicht 
aufgeworfen werden, ob wir propter fidem oder per fidem jufti- 
fiihrt werden, ob Chriftus extra nos oder in nobis der Grund 
unferes Heiles fei. Gerade au in denjenigen Abfchnitten, in 
welchen man eine fpecifiich=paulinifche Färbung ſchon gefunden hat, 
weil fie aud nur bei Lukas überliefert find, im der Erzählung von 
der bußfertigen Sünderin, den Parabeln vom verlorenen Sohne und 


a) Bel Schmid, Theol. d. N. T. I, 320. 





88 Weiß 


vom Pharifäer und Zöllner (Luk. 7, 36—50; 15, Lff.; 18, 9—14), 
ift in der Tebendigften Schilderung das fittlihe Moment der Buße 
und Belehrung als die Urſache der Begnadigung hervorgehoben. 
Nur liegt Hierin bet weitem nicht, daß die Begnadigung im Sinne 
der römifchen Lehre durch die fittliche That und Beſchaffenheit des 
Menfchen verdient werde. Eine ſolche Anſchauungsweiſe ift aller» 
dings, wie unfere feitherige Darftellung gezeigt Haben wird, durch 
die Lehre Jeſu ebenfo völlig ausgeſchloſſen, als jener intellectua- 
liſtiſche oder quietiftifche Glaubensbegriff, welcher bei einfeitiger 
Verfolgung des pauliniſchen Lehrtropus die Rechtfertigung des Sün- 
ders ifofirt von feiner Wiedergeburt und Heiligung zum Objecte 
bat und über dem Intereſſe für die Seligfeit des Individuums die 
davon unzertrennliche fittliche Lebensaufgabe des Einzelnen und der 
Gemeinfhaft aus dem Auge verliert. 

Hiermit find wir bereits darauf geführt, daß die Gotteskindſchaft 
der Himmelreichögenofjen in und mit der neuen Stellung zu Gott 
die fittlich - refigiöfe Erneuerung oder Wiedergeburt unmittelbar 
befaßt. Kurz gefagt: der durch Buße und Glaube vollzogene.Ein- 
tritt in das Himmelreih und Anfchluß an die Perfon Jeſu ift 
zugleich die Wiedergeburt. Diefe radicale fittlihe Erneuerung der 
betreffenden Subjerte ift das nothwendige Correlat zu der fittlichen 
Vollkommenheit Jeſu als des Stifter des Himmelreiches, an den 
fie ſich angeſchloſſen haben oder von welchem fie ſich Haben aneignen 
laſſen, fowie zu dem durch Jeſum vermittelten Heiligen Geifte, 
deffen eigentümlichen Wohn- und Wirkungsfreis das Himmelreid) 
ausmacht. Jeſus wird nach feiner eigenen Lehre nur in einem 
unmittelbar als die Weisheit, Gerechtigkeit und Heiligung wie als 
die Erlöfung im Principe angeeignet (vgl. 1 Kor. 1, 30). Der 
Beweis für die aufgeftellten Säge liegt großentheifs fon in dem 
oben gegebenen näheren Nachweiſe vom Wejen und der Entftehung 
der Buße und. des Glaubens. Hier foll noch einmal beſonders 
auf Stellen wie 18, 3 vgl. 19, 13; 7, 13; 16, 17; 19, 26. 
Luk. 7, 47 (innigfter Zufammenhang von Buße, Glaube und Liebe, 
letztere im Grunde auch fehon das innerfte Wefen, wie die unmittelbare 
Frucht der beiden erfteren); 15, 24 (vexgos dvelnoev vgl. Matth. 
8, 22) verwiefen werden, welche zugleich zeigen, daß diefe Er- 


Die Grundzüge ber Heilslehre Iefır {7} den Synoptilern. 89 


neuerung beides ift, ein Wert Gottes im Menfchen und eine That 
der Freiheit. Der Gedanke der Wiedergeburt als der Pflanzung 
eines neuen Lebens durch Gott im Menſchen ift mum aber ganz 
befonders in dem Bilde des gefüeten Weizens (13, 24ff. vgl. 
8.38) ausgefprochen, zu welchem das vorangehende Gleichnis vom 
Siemann als ergängender Commentar dient. Hier werden die Ge- 
noffen des Himmelreich® geradezu mit dem von Gott gefäcten 
Samen identificirt; fo fehr erfcheinen fie als Product der durch 
das Wort vom Himmelreich neuſchaffenden Gotteskraft. Vielleicht 
it auch 15, 13 hierherzuziehen, wenn unter den Pflanzen dort 
Menschen und nicht Lehren zu verftehen find. Jedenfalls lehrt ja 
Feſus wiederholt, daß nur ans der Wurzel eines guten Herzens 
bie Früchte eines Gott mohlgefälligen Lebens hervorgehen können 
(7, 16ff.; 12, 33 ff.), und da er das natürliche Menſchenherz fiir 
unten und böfe erflärt (15, 19), fo ergibt ſich daraus von felbft 
die Lehre, daß nur eine radicale Erneuerung des Menfchen durch 
den Geift Gottes ihn zum Eintritt in das Himmelreih, welches 
ein Reich der Gerechtigkeit ift, befähigen könne *). Das Himmel» 
reich ift felber nichts anderes als das Reich der durch Jeſum ver 
mittelten Specififch neuen Wirffamteit des Heiligen Geiftes (12, 28 ff.), 
mit weldyem die einzelnen, welche in die Gemeinschaft Jeſu durch 
Buße und Glauben eintreten, getauft werden (3, 11; 28, 19). 
Außer der Gemeinfchaft mit Jeſu und feinem Reiche ift das Ge— 
bit deg geiftlichen Todes (8, 22). Es zeigt ſich eben das Spe— 
cifſhe der durch Jeſum gebrachten Baoılzir zöv ougavav aud) 
gegenüber don der altteftamentfichen Delonomie darin, daß fie ſo— 
wohl nach der idealen (adoptio) als der realen Seite (regeneratio) 





3) Es gehört indeſſen zu der idealen Haltung der Lehre Jeſu, daß ſich nach 
derfelben Zeitpunkt und Art der Wiedergeburt kaum empiriſch firiren Iaffen. 
Man Tann wol fagen, der entſchiedene Lebendige Anſchluß an Jeſum fei 
das Kennzeichen berfelben; aber ‚fir denſelben Tennt der Here feinen ber 
fimmten methodus, auch wäre 3. B. ſchwer zu fagen, von welchem Zeit 
punkte am wir bie Zwölfe als wiedergebovene wirkliche Genoffen des Him- 
melreiches zu betrachten haben. Freilich weiß der Herr noch weniger von 
einer „objectiven Wiedergeburt” durch magiſche Taufgnade. Ueber ber 
Realität des vefigiöfen Lebens fäßt ber Here feine ideale Subjectivität nie 
aus den Augen. 


” ot 


die abfolute Gottesgemeinfchaft vermittelt und in ſich ſchließt. 
Ganz beſonders ift diefe abfolute Gottesgemeinſchaft darin gegeben, 
daß das dur Jeſum geftiftete Gottesreich ein Reich des’ Heiligen 
Geiſtes ift; nur indem es diefen zu feiner inneren Subſtanz hat, 
iſt es eben Himmelreich und die geweißagte Vollendung des 
Gottesreiches (vgl. Act. 2, 16ff. Joel 3, Uff. Ser. 31, 33f,; 
32, 40. Ezech. 36, 26f.). Es fehlen freilich im Munde Jeſu 
Ausfprüche, welche den eben dargelegten Zujammenhang zwiſchen 
der Gotteskindfhaft und der Erneuerung in feiner Gemeinſchaft, 
fowie durch den Heiligen Geift fo -ausbrüdlich darlegen, wie wir 
dies Joh. 1, 13 und oftmals bei Paulus (Röm. 8, 14 u: fonft) 
ausgefprochen finden. Vielleicht können die rexve Goplas 11,19 
hierhergezogen werden, da unter denfelben nicht bloß Jeſus und 
Zohannes, fondern auch alte, welche ſich an fie anſchlleßen und das 
Wefen der himmlifchen Weisheit in fih aufnehmen und darftellen, 
gemeint find. Auf der anderen Seite durfte vielleicht der Ausbrud 
“ yevrnsol yuvarxöv (11, 11), worumter Johannes im Gegenjah 
gegen die Genoffen des Himmelreichs mitbegriffen wird, im Sinne 
einer ähnlichen Antithefe, wie fie Joh. 1, 13 ausgeſprochen ift: 
prägnant zu verftehen fein. Jedenfalls find, "wie ſchon angedeutet, 
für Jeſum im Begriffe der Gotteskindſchaft die z. B. bei Paulus 
deutlich gefonderten Momente der adoptio und regeneratio in 
ungetrennter Einheit beifammen, und wiederum wird bei ber ethiid- 
realen Seite der Gotteskindſchaft nicht abftract gefchieden zwiſchen 
dem nenen von Gott im Menſchen erzeugten Leben, welchem gegen 
über diefer wefentfich nur aufnehmend ſich verhält, und demjenigen, 
mas der Menſch in Buße, Glaube und neuem Gehorfam felbft- 
thätig dazu beiträgt, daß er Gott wohlgefällig werde. Darum wird 
die Gottesfindfhaft auch wieder als das Ziel und Reſultat der 
fittlichen Verähnfihung mit Gott dargeftelft (5, 9. 45; 12, 50), 
wie andererfeit8 im Gleichnis vom verlorenen Sohne die urfprüng 
Tiche auf die Erſchaffung nad dem Ebenbilde Gottes begründete 
Gotteskindſchaft des Menſchen feſtgehalten ift (vgl. 21, 28ff.). 
Diefe Weite der Anfchauung, welche alle Momente eines Begriffes 
durch da8 Band desfelben in unmittelbarer Qebenseinheit zufammen- 
Hält, breitet über die Lehre Jeſu einen Hauch der erhabenften 


Die Grundzüge der Heilslehre Jeſu bei ben Ghuoptifern. 9A 


Peolität und Univerfalität; auf derfelben beruht aher auch ebenfo 
ihre unvergleichliche praftifche Wirkung, weil der Inhalt diefer 
daftiichen Anfchauungen fein anderer ift als die unmittelbar aus 
der Tiefe von Gott und Menſch gefchöpfte, durchaus gediegene 
teligiöß=fittliche Lebenswahrheit. Nicht die ſtets irgendwie einfeitige 
und abftracte Reflexion, fondern die unmittelbare und ſchöpferiſche 
religiö® = fittliche Intuition und Conception Hat diefe Anfchauungen 
meugt. Darum find fie ebenfo tief und weit, al8 wiederum con» 
et und praktiſch. Es ift ſchon angedeutet, daß uns diefelbe Zu- 
funmenfaffung aller Momente, wie in der Anſchauung von der 
Gotteskindfchaft, beim Begriff der dixasoouvn Isod im Munde 
fu begegne, fofern dieſelbe Rechtfertigung, Wiedergeburt und 
Heiligung in eines zufammenfaßt, und daß diefe Zufammenfaffung 
anf der jubjectiven Seite nur einer ähnlichen Zufammenfafjung der 
objectiven Momente in der Perſon Jeſu und im Weſen des Him- 
melreiches entjpreche. Jeſus ift demjenigen, welcher an ihn ſich 
anſchließt, Vermittler der Gnade, der Wiedergeburt und Antrieb zu 
ſelbſtthätiger Ernewerung und neuem Gehorfam ganz in einem, 
md das Himmelreich erſcheint ebenfo in einem als bie geſchenkte 
Gnade und das mitgetheilte neue Leben des Heiligen Geiftes, wie 
andererfeits als das Gebiet bes neuen Gehorfams, in welches ber 
Menſch durch eine entfcheidende fittliche That eingetreten ift. Es 
figt in diefer Zufommenfafjung das, was man den ethiſchen 
Sundharakter des Chriſte ntums nennt, auf das entfchier 
deafte ausgefprochen, ohne daß darum fein fpecifiiches Weſen als 
gotliche Gnadenoffenbarung und neues Leben aus Gott damit al 
terirt wäre. Wir haben hieran das heilfamfte Correctiv gegen alle 
tefigiöfe Ginfeitigkeit, welche aus der doctrinären Zerfplitterung der 
arfprüngli in Tebendiger Einheit verbundenen Momente hervorgeht. 
Damit foll nicht gelengnet werden, daß die in der evangelifchen 
Dogmatik aufgejtelfte Folge der Momente des ordo salutis für 
die theoretifche Betrachtung aus der Natur der Sache ſich ergibt 
(wie wir uns ja auch bei unferer Darftellung an dieſe Folge ger 
halten Haben), fondern es follte nur gefagt werden, daß für das 
teligiöfe Leben eine abſtracte Scheidung derſelben unpajjend und der 
genen Lehrweiſe Jeſu zuwiderlaufend ift. 


9” Weiß 


Wie nun nach dem oben Dargeſtellten ſchon im Eintritte in das 
Himmelreich durch die Annahme des Wortes Jeſu und den An— 
ſchluß an ſeine Perſon der Grundact des neuen Gehorſams gegen 
Gott fid) vollzieht, fo ergibt fi num. von ſelbſt für die Genoſſen 
des Himmelreich® die weitere Aufgabe, ihr ganzeg, Leben zu einem 
Gehorfam gegen den neuen volltommenen Gotteöwillen zu geftalten, 
wie er durch Jeſum geoffenbart ift, oder zu trachten nad) der di- 
xesoodyn Beod inder Nachfolge Jeſu (5, 10; 6, 33; 7,21; 
12, 50; 11, 29; 28, 20), fortzumandeln auf dem ſchmalen Wege, 
welchen man betreten hat, indem man durch die enge Pforte der 
Buße und des Glaubens in das Himmelreic eingetreten ift. Der 
Inhalt des neuen Gehorfams ift gleich beim Beginne unferer Aus: 
führung dargelegt worden. Wie derfelbe mit den ſittlichen Grund⸗ 
acten der Buße und des Glaubens zuſammenhängt, beziehungsweiſe 
aus ihnen hervorgeht, bedarf feiner befonderen Ausführung. Der 
Zufammenhang ift ein fo inniger, daß die fortgefegte Erneuerung 
auch bei den ſchon im Himmelreiche befindlichen Jüngern Jeſu immer 
noch als eine beftändige Umkehr bezeichnet werden kann (18, 3). 
Hier ſoll nur noch beſonders hervorgehoben werden, daß dem ganzen 
fittlichen Streben des Menfchen ein über diefe Welt Hinausliegendes 
himmliſches und eben damit wahrhaft abfolutes Ziel geftect wird, 
was einen ganz fpecififhen Unterfchied zwifchen ber 
durch Jeſum vermittelten Lebensrihtung und ber 
altteftamentlihen begründet und auf’ engfte mit der durch 
ihn mitgetheilten Gottesfindfhaft zufammenhängt (6, 20—24; 
10, 37—39). Auch das folgt von felbft aus dem feither Dar- 
gelegten, daß der neue Gehorfam fein knechtiſcher Gefegesdienft, 
ſondern ein kindliches Vollbringen des Willens des himmliſchen 
Vaters und ein williges Tragen des fanften Joches Jeſu ift 
(5, 45—48; 12, 50; 11, 30). Ein bejonderes Motiv für die 
Vollbringung des göttlichen Willens liegt für die Genoffen des 
Himmelreih& auch darin, daß fie durch ihr fittfiches Verhalten eine 
erneuernde Wirkung auf die Welt ausüben und ihren Vater im 
Himmel verherrlihen ſollen (5, 13—16). Die eigentlich treibende 
Kraft aber des neuen Gehorfams bleibt die Gemeinfhaft mit Chrifto, 
welder feine Jünger nad) ſich zieht auf dem fchmalen Wege des 


Die Grundzüge der Heilslehre Jeſu bei den Synoptilern. 9 


eichs, auf welchem der Wille feines himmliſchen Vaters 
wird (ogl. die ganze Stellung dev Jünger zu Jeſu und 
12, 49f.; 19, 27ff.; 20, 25ff.). Wenn auch der 
Begriff der Lebensgemeinfchaft, wie er z. B. bei Jo— 
urch das Gleichnis vom Weinſtock und den Reben zu einem 
ſchönen und deutlichen Ausdrud gebracht ift, zurüdtritt 
m mehr üußerlihen Verhältnis der Nachfolge, fo ift doch 
ctifch keineswegs ohne bie erftere gedacht. In diefer Nadj« 
altet fih num der neue Gehorfam zu einer ftetigen und 
Berleugnung und Aufopferung des natürlichen Eigenfebens 
Borbilde Jeſu (16, 24f.; 19, 29; 20, 25ff.; 10, 22ff.; 
vgl. 13, 44—46), und damit ift offenbar das deal 
er Vollkommenheit erreicht. 
ohn aber diefer Dahingabe des natürlichen Lebens ift die 
g des wahren, ewigen Lebens, der Cor, Lum aluwıog. 
find wir auf die Schlußfrage nad) dem Heilsgute im 
Sinne und feiner vollfommenen Erlangung geführt. Der 
e Begriff für das Heilsgut ift, entſprechend der alttefta- 
ı Bezeichnung desfelben, derjenige der Con. Die Lam 
unächſt in Betracht als Gegenfag gegen die dnwlse 
), welche felbft bald pofitiv als Wirkung des göttlichen 
nd Strafgerichtes (3, 7—12; 18, 7), bald als einfache 
eit und Verlorengehen (18, 11f.; 10, 6) erſcheint, jeden- 
ſchließlich zum abfoluten Verderben ausſchlägt (7, 13). 
er Menſch durch den Eintritt in das Reich Gottes und 
Tuß an die Perfon Zefu diefer drrwdsım entgeht, hat die 
ihn zumächft die Bedeutung der Owzngia (18, 11; 
Der Menſch errettet feine durch Schuld und Macht der 
er Verdammnis und dem Verderben anheimgefallene Seele 
; 16, 25f.; 18, 8. 11. vgl. 10, 28). Die Zorn hat 
auch einen reichen pofitiven Inhalt. Sofern derfelbe ein 
r it, d. 5. im die gegenwärtige Periode (aid oöros) 
hen Lebens fällt, wird er fo ziemlich durch das ausgefüllt, 
oben als das Gut der Gottesfindfchaft entwickelt haben. 
tesfindfchaft ift der individuelle Antheil am Reiche Gottes, 
eſes unter den Gefihtspunft des Heilsgutes fällt (vgl. 


4 Bei B 


5,2—9). Das Reich Gottes ift nad; einer Seite feines Begriffes 
nichts anderes als das univerfelle Heilsgut, die Lam in ihrer uns 
verfellen organifirten Geftalt (vgl. die Parabeln von der Kojtbaren 
Berle, dem Schatz im Ader, dem königlichen Hodhzeitmahle). So 
weit fi namentlih aus dem letzteren Gleichniſſe ſchon für den 
gegenwärtigen Befig des. Reiches Gottes einzelne Züge entnehmen 
fafjen, bietet derjelbe vor allem die volle Gemeinfchaft mit Gott, 
mit dem Sohne Gottes und den übrigen Gliedern des göttlichen 
Neiches, aber auch noch den Genuß der dur diefe Gemeinſchaft 
vermittelten wahrhaftigen Lebensgäter. Die Mafarismen der Berg 
rede bezeichnen ebenfalls das Himmelreich felber als den eigentlichen 
Iubegriff des Heilsgutes; fie nennen dann im einzelnen die Trö⸗ 
ftung (Aufpebung aller Trauer), die Erbarmung (Aufhebung aller 
Schuld und Strafe), die Gotteskindfhaft, das Schauen Gottes, 
den vollen Befig der Gerechtigkeit und den Beſitz der Erde (resp. 
des Landes, d. h. nad aftteftamentlicher Redeweiſe des ganzen 
äußerlihen Gottesſegens). Auch diefe Verheißungen weifen zu ihrer 
vollen Erfüllung hinaus auf die Vollendung des Reiches Gottes, 
finden aber ihre relative Verwirklichung offenbar fon in dem 
jetigen Beftande desfelben. Die Erkeuntnis Gottes als des Vaters 
und die Erquidung der Seele in der Gemeinſchaft Jeſu werden 
11, 27ff., ebenfo 13, 16f., die Erfenntnis der Geheimnifje des 
Himmelreih® und die Auſchauung Jeſu Ehrifti (vol. 16, 17) 
jedenfall® als gegenwärtige Beſtandtheile der Seligkeit der Genofien 
des Himmelreichs genannt. Waffen wir alle diefe Momente zus 
ſammen, fo ergibt ſich jedenfalls, daß auch ſchon das biegfeitige 
Heilsgut von abfolutem Anhalt und Werth ift, himmliſcher geiſt⸗ 
licher Natur, entjprechend dem Weſen de8 Himmelreihes und 
der Gotteskindfchaft, ſpecifiſch verfchieden von dem altteftamentlichen 
Auhalte der Lam. 

Die Lo wird nun aber im den meiften Stellen ausſchließlich 
als eine jenfeitige bejchrieben *), als Lu alamıos im engeren 


a) Es ift befannt, daß Hierin ein weſentlicher Unterſchied der Lehre Jeſu bei 
den Symoptilern gegenüber von der Darftellung des vierten Evangeliums 
Megt; doch zeigt eine genauere Unterſuchung, daß die Differenz der Lehr- 
weife feinen @egenfag ber Lehre enthält, 


Die Grundzlige der Heilelchre Jeſu bei den Etmoptifern. 95 


Eine, und ihr die ewige Verdammnis gegemübergeitellt. So 8, 11; 
13, 30 vgl. 43; 18, 8f.; 25, 34. 46 vgl. V. 21 u. 10. Hier- 
ker gehören auch 5, 12; 19, 27—29; 20, 23 vgl. 22, 30ff. 
und die Schäge im Himmel 6, 20. &8 liegt nicht in, unferer 
Aufgabe, ans diefen Stellen eine genauere Vorftellung der ewigen 
Seligteit zu entwideln, wobei der Umftand einige Schwierigfeit 
bereitet, daß die Seligkeit in einem Theile derfelben als eine rein 
himmlische dargeftellt ift, in einem anderen dagegen auch als irdiſche 
Vollendung bei der Parufie -Chrifti erſcheint, eine Schwierigkeit, 
wide indes auf dogmatifchem Wege ganz wohl aufzulöfen ift. 
Bo weniger ift es unfere Aufgabe, eine nähere Befchreibung von 
dm Zuftande der Verdammten hier zu geben (vgl. außer Luk. 
16, 23ff. bei Matth. 5, 25f. 22; 8, 12; 10, 28; 12, 32; 
13,42. 50 u. 3,12; 18,18; 22, 13; 24, 51; 25, 30. 41. 46). 
& kann keinem Zweifel unterliegen, daß diejer Zuftand der Ver · 
dammnis in der Geenna ebenjo als ein ewiger gedacht ijt wie der» 
jmige der Seligfeit im Himmel. Die Entſcheidung des legten Ge- 
tichtes führt nach beiden Seiten hin zu einem volltommenen Ab» 
ihfuß; nach der Parabel vom reihen Manne und armen Lazarıs 
ideint dieſe Entfcheidung alsbald mit dem Tode einzutreten (vgl. 
&t. 12, 20). Was ift aber die Grundlage diefer Ent» 
iHeidung? Es ift vor allem Kar, daß man namentlich eine 
tiuelne Parabel, wie z. B. diejenige vom reichen Manne und 
sen Lazarus, nicht dazu benugen darf, um den in einer ſolchen 
einxlnen Lehrrede vorherrſchenden concreten Gefichtöpuntt für ſich 
len zum entſcheidenden zu machen. Namentlich lernen wir aus 
difer Parahel nicht, welches Verhalten den Menſchen zur Seligteit, 
fondern bloß, welches ihm ficher in die Verdanunnis führt. Als 
Bedingungen bes Seligwerdens werden genannt die Erfüllung des 
öttfihen Willens (7, 21), der Glaube an Jeſum (8, 10Ff.), 
das Belenntnis feines Namens und die Beharrlickeit in feiner 
Vachfolge auch unter Verfolgungen (5, 10ff.; 10, 22. 32 u. fonft), 
Grweifungen der Liebe gegen die Jünger Jeſu, welche alſo offen» 
bar ans der Xiebe zu ihm hervorgehen (10, 42; 25, 40), Barm- 
herzigleit und vergebende Liebe (5, 7; 6, 12. 14f. vgl. 7, 2; 
18, 23ff.), Wachfameit und Treue in der Ausrichtung des von 


% Weiß 


dem Herrn angewieſenen Berufes und Verwendung der anvertrauten 
Gaben (13, 12; 25, 1—30; 24, 46), die Wiedergeburt aus dem 
Worte Gottes und die Beharrlichkeit im Hervorbringen guter Frucht 
(13, 1-30; 12, 37 vgl. 3, 8—10). Nimmt man alle diefe 
einzelnen Gefichtspunfte zufammen, fo ift Har, daß das freie fittlich- 
religiöfe Verhalten des Menſchen den Maßftab der Entſcheidung 
bildet. Es Hanbelt fich aber bei dieſem Verhalten nach allem feit- 
herigen nicht um ein vereinzelte Gott wohlgefälliges Thun, fondern 
um eine beharrliche Richtung des Lebens, getragen von 
jener im Innerſten auf Gott und fein himmliſches Reich gerichteten 
Gefinnung, wie fie oben zu Anfang befchrieben wurde. Seinen 
Mittelpunft hat aber diefes Verhalten in dem Glauben und be 
harrfichen Anfchluffe an die Offenbarung (das Wort) und bie 
Berfon Jeſu (7, 24ff. 13f. vgl. 10, 38f.). Der Ausfpruch 
Jeſu 7, 21 bildet zu unſerer Behauptung feinen Widerſpruch, er 
befehrt und nur, daß der feligmachende Glaube an den Herrn (wie 
wir ihm auch durchweg befchrieben haben) die Erfüllung des Willens 
Gottes notwendig in fich ſchließen und zur Folge haben müſſe. 
Aehnlich verhält e8 fi mit dem Widerſpruche, welcher fih aus 
der Darftellung des Gerichtes (25, 31—46) ſcheinbar gegen unfere 
Behauptung ergibt. Denn die allein richtige Auffaffung diefes Ab- 
ſchnittes ift die, daß Jeſus feinen Jüngern zum Troſte darftellen 
will, das endliche Schickſal der Menfchen werde ſich nach dem Ber- 
halten entfcheiden, welches diefelben gegen feine Jünger einnehmen. 
Denn unter den @dsAyod find allein die Junger Jeſu zu verftehen, 
und wir haben fomit in dem genannten Abſchnitt einen ähnlichen 
Gedanken wie 10, 40—42, alfo gerade eine Beftätigung unferes 
Sages*). Schon der Umftand, daß Jeſus in feiner Lehre faft 
durchweg fich felbft als den zufünftigen Richter darftellt, weit dar- 
auf Hin, daß auch das Verhalten gegen feine Perſon und feine 
Dffenbarung bei dem Gerichte maßgebend fein werde. Und das 


a) Aus dem bezeichneten Abſchnitte kann man höchſtens mittelbar bie 
Idee ableiten, daß folden, welche geſchichtlich nicht mit Jeſu bekannt 
geworben find, ihre Menſchenliebe am Tage des Gerichtes zu gute kommen 
werde, 





Die Grundzüge der Heilslehre Jeſu bei den Synoptilern. 9 


hat er ja auch wiederholt in der entjchiedenften Weife ausgefprochen, 
daß der definitive Unglanbe gegenüber von feiner Perfon und die 
Jurikweifung feiner Einladung zum Himmelreiche die Verdammnis 
uch fi) ziehe (8, 12; 10, 15. 33. 37—39; 11, 6. 20—24; 
12, 41f.; 13, 13ff.; 21, 31f. 43f.; 22,2. 7f.; 23, 33—89; 
8ıp. 24 u. 25, 1—13). Es geht ja auch ſchon Johannes der 
Zäufer bei feinem Auftreten von der Borausfegung aus, dag man 
me durch den bußfertigen Eintritt in's Himmelreich im Anſchluß 
an die Perſon feines Stifters dem Zorne Gottes und der ewigen 
berdammnis entfliehen Könne. Und fo liegt auch der Lehre Jeſu 
nihts ferner als die Annahme, daß ein Menſch, an welden fein 
Bort gelangt ift, auch etwa mit Umgehung und Zurückweiſung 
beöfelben auf dem Wege felbftgerechten fittlihen Strebens der Ser 
ligkeit tHeilhaftig werden könnte. Solche Leute Haben ihr Vorbild 
an den felbftgerechten, unbußfertigen, aber eben damit auch der Ber« 
dammnis entgegenreifenden Pharifäern. Der bußfertige Glaube an 
Feſum ift auch der rechte Gehorfam gegen Gott, feinen himmliſchen 
Toter; die Verweigerung dieſes Glaubens, bis zum äußerften feit- 
gehalten, führt auch zur äußerften Spige des Ungehorfams gegen 
Gott, zu dem Frevel ber Zäfterung des Heiligen Geiftes (12, 22—37). 
Die Offenbarung des heiligen Geiftes ift nämlich nicht eine von 
der Erfcheinung des Neiches Gottes in dem Sohne verſchiedene, 
ſondern nur durch diefelbe vermittelte; daher ift feine Läfterung 
mn die vollendete, nämlich durchaus bewußte, Form des Unglaubens 
an den Sohn Gottes, als den Stifter des Heiligen Gottesreiches. 
Dieſe Sünde kann nicht mehr vergeben werben, weil fie aus einem 
dölig böfe gewordenen und verftodten Herzen kommt. Wir müffen 
dermuthen, daß eigentlich nur diefer Grad ber Reife zur Berdamm- 
nis auch ſchließlich die wirkliche Urfache der Verdammnis wird *). 
Auf diefe Vorftellung ſcheint auch das Gleihnis vom Unkraut unter 
dem Weizen zu führen (vgl. bejonders 13, 30). Es entſpricht 
die ganz dem Umftande, daß auch von dem Glauben feine Be- 
währung im Heiligen Wandel bis an's Ende gefordert wird, als 





3) Bergleiche den Artikel des Berfaffers „Die Sünde wider den heiligen 
Geiſt“ in Herzogs Realenchefopädie XXI. 


Dheol. Stud. Jahrg. 1869, 7 


98 Weiß 


deſſen Ziel dann erſt das ewige Leben erſcheint (7, 14; 10, 22; 
25, 12f.). Die durd Jeſum in der Menſchheit einge- 
leitete fittlihe Entwidlung begründet eine princi» 
pielle Scheidung unter den Menfden, welde ſchließ— 
lid von felbft zu einer abjoluten ſich geftaltet, fo daß 
die äußere Scheidung im Gerichte nur als die letzte Conſequenz 
und der äußerliche Vollzug des durch jene Entwidlung herbeigeführten 
Zuſtandes der Menfchheit erſcheint (10, 34ff.; 12, 30; 13, 24—30). 
Auch das hochzeitliche Kleid (22, 12) darf nicht bloß von Buße 
und Glaube als grundlegenden Akten, noch weniger bon ber ju- 
stitia imputata, fondern es muß überhaupt von ber fittlichen Ans 
gemefjenheit des perfünlichen Verhaltens zum Weſen des Himmels 
reiches in den verfchiedenen Stadien feiner Eutwicklung verftanben 
werden. In's Himmelreih darf feiner kommen fo, wie er (von 
Natur) ift, fondern er muß feinen füttfichen Zuftand auf eine dem 
Weſen des Himmelreiches entſprechende Weiſe abgeändert Haben. 
Nun entfpricht der erſten Einladung zum Himmelreiche die grund⸗ 
fegende Belehrung in Buße und Glaube; da aber in V. 11 auf 
den Zeitpunkt des Endgerichtes hinausgewieſen ift, fo ift in das 
Bild von dem hochzeitlichen Kleide zugleich die fortfchreitende fitte 
liche Ernewerung (vgl. das Anziehen Chrifti als Einheit ber Recht⸗ 
fertigung und Heifigung bei Paulus Gal. 3, 27 u. Röm. 6, 3) 
einzufchliegen. Demnach könnte es ſcheinen, als ob nad} der Lehre 
Zefu die Seligkeit ſchließlich doch durch unfer eigenes fittliches Vers 
halten verdient würde und bie Lehre von dem Heil aus Guaden 
erft eine Neuerung des Apoftels Paulus wäre. Gegen eine folde 
Behauptung kann uns aber ſchon das bedenklich machen, daß bes 
tanntfich auch Paulus beim Gerichte den Maßſtab der Werke zu 
Grunde legt und die zufünftige Sefigkeit als einen Kampfpreis und 
die Frucht unferes Lebens bezeichnet, dag auch er ſchließlich die 
Seligleit von der Heiligung und Erneuerung abhängig macht (Röm. 
2, 6ff. 1Kor. 6, 9; 4, 5. 2Kor. 5, 10; fodann 1Kor. 3, 8; 
9, 24ff. Phil. 3, 14. Gal. 6, 7. 2 or. 9, 6. Röm. 8, 4, 9. 
14. 17; 6, 22). Sollte num der Apoſtel fich ſelber handgreiflich 
wiberfprechen? Der Schein des Widerſpruchs löft ſich auf durch 
die einfache Unterfcheibung von causa und meritum einerfeits und 
conditio sine qua non andererfeit8 (mas mit der Unterfcheidung 


der Heilslehre Jeſu bei ben Shmoptitern. "99 


gno und ex congruo nicht zufammenfält, 
mer noch meritum bfeibt) *). Die Auf: 
eich ift und bfeibt ein Wet der göttlichen 
m Anfang (vgl. Parabel vom königlichen 
»en Arbeitern im Weinberge). Aber fie ift, 
am Anfange, gefnüpft an die fittliche Be- 
gegen den heifigen Gnadenwillen Gottes. 
»dingung ift für den einmal in das Him- 
Glaube Eingetretenen ganz unmöglich ohne 
ber habituellen Gerechtigkeit, ohne ernftliches 
gen Wandel (6, 33), ohne eine beftändige 
(18, 3). Dabei bleibt freilich, wie das 
Schuldner zeigt, bei ber ſchließlichen Ab» 
1d, welche allein durch Gottes Erlaſſung 
tifgt wird (18, 22f.), und der Herr macht 
feit keineswegs abhängig von der Zeit ber 
iantum der Arbeit für ihn (20, 1—16). 
ven Untreuen in fein Reich auf (25, 24ff.) 
Treue ihren befonderen Lohn aufbehalten 
—42; 5, 11f.). Der Begriff des Lohnes 
die Seligkeit geftellt wird, foll keineswegs 
b die Werke des Menfchen einen Rechts⸗ 
weten (Luf. 17, 10), fondern er bezeichnet 
Gottes begründete Ordnung, daß das Gott, 
halten auch die Erreichung eines entfprechen- 
ve, zumal da dasjelbe mit der Aufopferung 
ift (6, 33° vgl. 10, 37—89; 19, 28f.). 
dem erreichten Ziele aus noch einmal ben 
ihn Jeſus darftellt, fo Tann von einem 
r&ehre und der apoftolifchen, auch ber 


Dogmatiler haben das Verhältnis richtig fo ber 
endigleit ber guten Werke im Verhältnis zur Gelig- 
linis, nicht causae fei; aber fie haben den Grund 
dem Heifigen Charakter auch des göttlichen Gnaden« 
ialfehen Entgegenfegung der Siebe und Geredhtigfeit 
segehoben. 

1* 





100 Weiß 


am meiften davon abweichenden pauliniſchen, Lehrbildung nicht die 
Rede fein. Nur einer faljchen. einfeitigen Auffafjung des pau- 
liniſchen Lehrtropus ftellt fich die Lehre Jeſu entgegen. Sobald 
nämlich bei Paulus das fo ftark für ſich hervorgehobene Moment 
der Rechtfertigung allein durch den Glauben auf Grund der na— 
mentlich in feinem Opfertode erworbenen Gerechtigkeit Chriſti ifolirt 
gefaßt und ſowohl die fittliche Natur des Glaubens als die im 
Glauben principiell ſchon geſetzte Vereinigung mit Chrifto al die 
Quelle der Heiligung überfehen wird. Dann allerdings erhebt fih 
hiergegen die durchaus von der ethiſchen Forderung der Gottes 
gerechtigfeit durchdrungene Lehre Jeſu. Aber Paulus ift ja weit 
entfernt davon, die fittliche Bedeutung des Glaubens und des Glau— 
benslebens als eines Lebens in der Gemeinschaft Chrifti und im 
heiligen Geifte zu überfehen, und wie energiſch er da8 Ziel der 
Heiligung dem Chriften ald Bedingung aud des Seligwerdens 
vorhäft, ift oben angedeutet worden. Allerdings tritt bei Paulus 
das Trachten nach der Siündenvergebung ober Rechtfertigung, rein 
auf Grund der durch Chriftum erworbenen Gerechtigkeit im Gegen- 
ſatze gegen alle Gerechtigkeit aus der Gefegeserfüllung, zunächſt für 
fi) in den Vordergrund, während bei Jeſu das Verlangen nad 
Gnade und Seligkeit ſich gar nicht denken läßt ohne die gleichzeitige 
energifche Richtung des Willens auf die Gerechtigkeit als perſön⸗ 
liche Angemefjenheit an den Heiligen Willen Gottes. Aber bier 


‚heilige Wille Gottes wird doc auch von Jeſu durchaus als Gnader- 


wille, welder den Sünder in das Himmelreih beruft und int 
befondere in der Perjon und dem Wirken Jeſu zur volffommenen 
Erſcheinung kommt, befchrieben. Man wird den tiefften Unterſchied 


zwiſchen beiden Lehrweiſen daher eben darin finden Können, daf 


Paulus an dem Willen Gottes eine. abjtracte Scheidung zwiſchen 
feinem Gefegeswillen und feinem Gnadenwillen vornimmt, wobei 
dann das Geſetz felber weſentlich abftract und negativ gefaßt wird 


- (wie dies fpäter Luther in ganz ähnlicher Weiſe gethan hat), 


während Jeſus an die Stelle diefer abftracten Scheidung ben vä- 
terlihen Willen des heiligen Gottes ſetzt, welcher Heiliger 
Gnadenwille in einem ift. Indem nun das Subject auf diefen 
heiligen Gnadenwillen Gottes, wie er ihm in der Perſon, dem 
Worte und Werke Jeſu geoffenbart ift, eingeht, vollzieht es gleich⸗ 


Die Grundzüge der Heilslehre Jeſu bei den Synoptilern. 101 


zeitig den entfcheidenden Akt des Gehorfams gegen Gott, während 
es die Gnade fich zueignet, und es bringt darin ſchon unmittelbar 
den Impuls mit zu einer immer volffommeneren Erfüllung des 
söttfichen Willens. Geht man von diefer Einheit bes durch CHriftum 
in Wort und That geoffenbarten heiligen Gnadenwillens Gottes 
as, dann muß allerdings auch von dem fittlichen Gehorfam und 
namentlich aud von dem Verföhnungstode Jeſu diejenige Vorftellung 
fallen gelaffen werden, als ob erſt durch biefe der göttlichen Ge- 
tehtigfeit dargebrachte Genugthuung die Gnade Gottes biefer Ger, 
techtigleit ſozuſagen abgerungen worden wäre. Vielmehr tritt die 
ganze Stiftung des Himmelreihes durch Ehriftum in der Totalität 
feiner Erfeheinung und feines Wirkens unter den Gefihtspunft einer 
realen heiligen Bundesftiftung als Vollzug des Heiligen Gnaden- 
willens Gottes. Der Herr, in welchem bie göttliche Gnade und 
Heiligkeit in Einheit mit dem Glauben und Gehorfam der neuen 
Menschheit zur Erſcheinung kommt, ftiftet das Himmelreih als die 
Gemeinfchaft der ihm anhangenden und damit ebenfo in die Gnade 
Gottes als in das neue Heilige Gottesleben aufgenommenen, dem 
Ziele der Seligfeit auf dem Wege Heiliger Nachfolge Jeſu zu- 
firebenden Menſchheit. Diefe Stiftung erhält alferbings ihre voll- 
tommene Ausführung und Weihe nur durch den heiligen Opfertod 
Rſu, indem der heilige Stifter des Himmelreiches in diefer Voll⸗ 
endung der Selbftaufopferung gleichzeitig die Schuld der Menfchheit 
(bo weit fie an ihm Antheil nimmt) fühnt, als auch das Princip 
der Sünde, die Selbftfucht, dem Tode übergibt und fo erft voll- 
ftändig die Bahn eines vbenfo gottbegnadigten als gottgeweihten 
Lebens bricht. Wenn diefe Anfchauung, welche offenbar den in 
nerften Kern der Heilslehre Jeſu bei den Spnoptifern enthält, 
einige Abweichung von dem paufinifchen Typus zeigt, fo berührt 
fie fih umfonäher mit der johanneifchen Lehrweiſe, ſowol den 
Reden Jeſu bei Johannes als den eigenen Ausführungen des 
Apoftels. Die ganze Darftellung des Johannes geht ja aus von 
der in der Perfon, dem Worte und Werke Jeſu erjchienenen heis 
figen Baterliebe Gottes. In dem ganzen Leben und Wirken Jeſu 
volfziehen fich nach Johannes in ungetrennter Einheit die drei Mo— 
mente, diefe Heilige Vaterliebe Gottes zu offenbaren, die Empfäng- 
lien in den Kreis derfelben hereinzuziehen und zugleich derſelben 


102 Weiß 


. vom Standpunkte der Menſchheit aus Genüge zu leiſten; unter 
dieſem dreifachen Gefichtspunfte erfcheint namentlich auch der Opfers 
tod Jeſn, die Spige feine® ganzen Lebens und Wirfens bei Jos 
hannes (oh. 1, 16—18; 3, 16f.; 17, 3—6, insbeſ. V. 19. 26). 

Allerdings tritt in der Lehre Jeſu bei den Synoptikern die 
unmittelbare Hinweifung auf feine Perſon und deren erlöfende 
Wirkſamleit verhältnismäßig zurüd, die Peripherie des Himmel- 
reiches wird vorangeftelft gegen fein Centrum, der Glaube bezieht 
fi nicht fo ummittelbar auf die Perfon Jeſu und das an diefelbe 
gefnüpfte Heil, das Heil und die Heilsaneignung tragen nicht jenen 
durchaus innerlichen myſtiſchen Charakter, wie bei Paulus und 
noch mehr bei Johannes. Aber wir erfennen bei genauerer Be: 
trachtung im jenen Zügen nur das durchaus gefchichtliche Gepräge 
und den weiſen pädngogifchen Charakter der namentlich auch an 
das 4. T. fich anlehnenden Lehre Jeſu bei den Synoptikern, die 
mumftößfiche Hiftorifche Grundlage der bei Johannes und Paulus 
weiter entwickelten chriſtlichen Heilslchre *). Diefer Sachverhalt 
zerftört gründfich die Hypotheſen der negativen Kritif, als ob die 
reine Lehre Jeſu oder das reine geſchichtliche Urchriftentum nichts 
als. eine vergeiftigte Gefegesichre, eine fogenannte reine Moral ent» 
hielte. Der unzweifelhaft echte und Hiftorifche Grundtypus der 
Lehre Jeſu bei den Spnoptifern enthält ſchon diefelben Grundzüge 
evangelifcher Heilslehre, wie diefelben, unter befonderer Anlehnung 
an den paulinifchen Typus, eben auch in dem kirchlichen evange- 
liſchen Glaubensbefenntniffe ausgeprägt find. Die Lehre Jeſu bei 
den Shnoptifern kennt nur das durch Jeſum als den Sohn Gottes 
und Heiland der Sunder vermittelte, im bußfertigen und gläubigen 
Anflug an ihn ergriffene, in feiner Nachfolge vollfommen erreichte 
Heil. Aber fie gibt allerdings von diefem alleinigen Heilswege 
wiederum eine fo reiche, weite, lebensvolle, durchaus praktiſche Bes 
a) Die Frage, wie die Weiterbildung bei Johannes und Paulus 

entftanden fei, welchen Einfluß die Thatſachen. des Todes, der Auferſtehung 

und Exköhung Jeſu, ſowie der, Mittheilung feines Geiftes babei ausgeübt 

Haben, und melde Folgerungen fid etwa hieraus für die Frage nach der 

Geichichtfichkeit ber Neden Jeſu im Evangelium Johannis ergeben, müffen 

wir Hier ganz umberüfet Taffen, da dieſelbe eine befondere eingehende Unter- 
ſuchuug erfordert. . 





Die Ormndzüge ber Heilelchre Iefa bei dem Oymoptifern. 108 


ſchreibung, daß namentlich für die praltifche Verkündigung des 
Helles nichts Heilfamer fein kann, als ſich möglichft an diefe Lehr⸗ 
weife Jeſu zu halten, welche das ficherfte Eorrectiv bildet ebenfo 
gegen allen vationafiftifhen Pelagianismus als intellectualiſtiſchen 
Orthodoxismus und Magismus ober quietiftiichen Myſticismus. 
In der Predigt vom Reiche Gottes und von feiner Gerechtigkeit 
nach dem fynoptifchen Typus der Lehre Jeſu Liegt befonders auch 
das Mittel, den ernerftehenden das Ehriftentum wieder näher zw 
bringen, indem fie in ber Tiefe des unmittelbaren fittlichen Be- 
wußtſeins und Heilsverlangens gefaßt auf den Weg des Heiles und 
der Gerechtigkeit geiwiefen werden, auf welchem ſie bei.den erften 
ernſtlichen Schritten dann von felber auch mit dem Heilande zu 
ſammenkommen müffen. Cine gründliche Benutzung und Ernenerung 
der Heilslehre Zen bei den Synoptifern wird endlich dahin führen, 
daß die wiſſenſchaftliche Forderung erfüllt werde, das Chriftentum 
weit mehr erhifch als dogmatifch, weit mehr als Leben denn ale 
Lehre, weit mehr in feiner univerfellen Bebeutung und Wirkung 
als nur in feiner Beziehung auf das Individuum aufzufafjen. 


3. 


Zur Geſchichtsſchreibung und Sittenlchre 
Hermanns von Reichenan. 
Bon 


Lie, theol. X. Bazmann. 





Den frommen Wünfchen, die man fir bie Förderung der firchen- 
hiſtoriſchen Studien Hegen kann, gehört auch mol das gewiß von 
monden getheilte Verlangen an, es möchte ſich für die Quellen 
der Kirchengeſchichte ein Bearbeiter finden, der mit gleichem Geſchick 
und gleicher Unermüdlichkeit, wie Wattenbach an den „Deutſchen 
Geſchichtsquellen“ bewiefen hat, aud) die Geſchichtſchreiber der Kirche 
in allen Völkern und Zeitaftern behandelte. So banfenswerthe 
Beträge Baur in feinen „Epochen der kirchlichen Geſchichts- 


108 Barmenı 


fertig“ Das geliriert It, in Dede made Ram grgeramdnmnger. 
Emmmte der Turge anf turiem Gcharie medh onmeit mache arindher: 
Ep che ame im elpameimen geheime Cherelwrikit. Ienseiteinen, 
wor fr Yınicae fir Coumiemind geliriert hei, wirken im Act gaminr. 
Yinge mer Direiar Der Siremgricicher amprikchkon fein, die cır 
Teldet Hamttudy, wür mir of um Sirme haben, ehgridkeiken werter. 
ramtr. Fir Dur dinne mh mucineikanntüce GEetemifing merken 
weuriänächäen Surdee Meffen ja Freie Air wem Goccheccha amt 
Berta turgcheunen Zrhmmmenficinugen ei dee Iuır auf, 
Ir worum Umärut hier Furcr heuciie Der Eirdlien Mami ae 
Gctuheteeäen cr ven turdgemiken Es fen werfaen, anf: 
was Melez ide Eicwere oem 6 Bege za helfen bar Aemganiger. 
Aumehdper Eimer fhoe, Der um ciiaa Faheiemtert fir die Wehemitung 
Wer LLraweri iiprichnditer ern mem Wehen geftwedenen mm wide MecıEm at 
Tem Air Aumng Der Erdlchen Frireungragige beigetmagem hat, demet 
Fuommttihe meh Cchentarkrtüge Perfteinthlrt une am Amudh azz 
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Er das je für dem Einen Dertichticas dee Zumtamm ja dur 
Sci Zuäuaten grürtert, Ion im dom Iufrien Tagen dee Samt 
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Shit, mar der Almen Berigelt + BASS, ®), waior emfiedierer. 
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5 Serge. VI, FF oh Wainz, 


Bar Gehichtsfägrribung n. Gittenlchee Hermanns v. Reidenen. 105 


äfrig fir Gregor, den „Diener Gottes“, und wider Heinrich IV., 
Dielen Autiochus, Partei ergreifenden Bernold*) am meiften mit 
iyeen möndjifhen Barben beigetragen haben, das Bild des Kaifers 
# verunftalten: Rambert®), ber Mönd von Hersfeld, der in 
Adaffenburg, wonach man ihn früher nannte, im Jahre 1058 
a feine Priefterweige empfing und die Weltgeihichte bis zur 
Bahl Rudolf von Schwaben (März 1077) etwa tm Jahre 1080 
kerebführte, und Marianus Scotus ), der nad einem eigenen 
vuologiſchen Spftem die Begebenheiten bis 1082 nen zu ordnen 
æernahm. Srüher noch ſchrieb bis 1073 der Annalift von Nieder- 
Sid, deſſen urſpruuglicher Tegt fich endlich wiedergefunden hat *). 
Bor all dieſen Weltdroniten Liegt num das Werk Hermanns, 
36 fid) füglid betrachten läßt, auch ohne daß ſchon von feiner 
derſon und feiner ſittlichen Weltanfhauung die Rede geweſen ift. 
Tamm das iſt gerade bei ihm und den genaunten Nachfolgern das 
Sherafteriftifhe, daß hochſtens bei der eigenen Zeitgeſchichte bie 
Perteitendenzen das Urtheil beftimmen, fonft aber lediglich That- 
’aen, wie fie in der Ueberlieferung feftftanden, Jahr fir Jahr 
= großer Kürze zufammengeftellt werden, nad; Art einer ſinchro⸗ 

i Geſchichtstabelle; auf innere Motive der handelnden Per- 
'suca, auf Schilderungen ihres Charaktere läßt man fi nicht ein, 
26 weniger auf die Ergründung eines weltgeſchichtlichen Planes 
a den Fügungen Gottes. Das Gefühl, daß der alte Rahmen der 
mar Beltreiche beim Propheten Daniel zerfprengt ift, daß auch die 
Be von den fieben Weltaltern nicht mehr recht ſich ſchicke, macht 
#4 vielfach geltend, auch wo man noch an jenem Rahmen ober 
ir Idee fefthält. Daß das Zufammenordnen der Thatſachen 
’s Jahr für Jahr kein leichtes Stüd Arbeit ift, empfand wol 
deutlichften Eflehard, und gern überlägt er, wo ihm unlösbare 
Baeripruche im den Berichten entgegentreten, 3. B. betreffs der 
Veigereihen in Israel im A. T. und bei Joſephus, und fpäter 
"nzeffe der Nadholger auf dem Stuhle Petri, die Ausgleichung 


Seript. V, 444: Gregorius famulus Dei (cf. ad a. 1076, 1077. 1068). 


"8 Giefebredt, Ueber einige ältere Darflellungen der deutſchen Kaifer- 
rit (Münden 1867). Geſqhichie der deutſchen Raiferzeit III, 1001. 














106 Bormann 


einem kundigeren Urtheil *). Es find nicht verächtlich zu behan- 
delnde Anfänge Hiftorifcher Kritik. Durchgängig machte man ſich die 
Arbeit der Vorgänger mit deren eigenften Worten zu Nutze; und mo 
wir im Beſitze diefes älteren Materials find, haben wir kaum An- 
deres als Wiederholung und Abfchrift bekannter Dinge zu eriarten. 
So hat nun auch Hermann für bie alte Kirchengefchichte redlich 
die Chroniken namentlich deB Hieronymus, des Prosper und 
des Beda ausgefchrieben. Nur beim Jahre 395 fligt er ein, daf 
Rufin dort abbredie. Gleiches bemerkt er a. 454 wegen Prospe 
und a. 703 wegen Beda. Mit den Worten Prospers. hat er bi 
Lehre des Pelagius dahin befgrieben, daß der Menſch ohne Bei— 
hulfe der göttlichen Gnade durch eigenes Vermögen die Vollkommer— 
heit zu erreichen im Stande fei; Auguftins einzigartiger Kampf 
und Sieg ift ihm denkwürdig ®). Werdienftlich ift für das fünfte, 
ſechſte und fiebente Jahrhundert die Zuſammenſtellung der gleid- 
zeitigen Dinge, die ſich in Griechenland, Italien, Spanien, Eng 
land, Frankreich und Deutjchland befonders bemerkenswerth machten. 
An Unrichtigkeiten fehft es freilich nicht, 3. B. wenn nach dem 
Tode des Papftes Honorius (638) eine Sedisvacanz von 1 Jehr 
7 Monaten und 14 Tagen angefegt wird, weil die kaiſerliche Auto 
zität in Conftantinopel durch den Tod der Fürften in Schwanken 
gerathen fei: Heraclins ftarb ja erft 641. Einen Tangen Zeitraum 
hindurch bedient er fich der .Gesta Pontificum und der Annales 
Fuldenses als feiner Hauptquellen. Etwas ‚mehr. Selbftändigket 
gewinnt fein Griffel vom Anfang des zehmten Jahrhunderts, ſeit 
901; die Reichenauer Annalen von 860--939, welche jegt am 
reinfichften im dritten Theile von Jaffe's Bibliotheca rerum Ger- 
manicarum edirt find, bilden eine trefflihe Handleitung für ihn 
Er nimmt fein Blatt vor den Mund, um das unreine Leben der 
Papfte im zehnten Jahrhundert zu brandmarfen °). 
Am Schluffe ergeht fih von 1039 an bis 1054 feine Dar: 


a) Seript. VI, p. 48. 99 (cf. Waitz, p. 6. not. 70). 

b) Hominem sine gratiae Dei auxilio proprio nisu perfectum fieri posse. 

c) a. 955. Romae Johannes XI... . tanti ordinis, heu pro dolor! 
oblitus, vanitati et spurciciae vitam suam deditus vixit. — a. 962. 
Otto rex ..... papam pro sceleribus, quae fama de illo vulgabat, 
arguens eius corrigere turpitudinem non valebat. 


Zaur Geſchichteſchreibung u. Sittenlehre Hermann v. Keichenan. 107 


fellung etwas weiter. Jedoch das deutſche Reich feſſelt ihn ſchließ⸗ 
lich allein; auswärtige Dinge erregen fein Intereſſe nicht für ſich 
feft, fondern nur, fofern fie anf die deutfchen Angelegerfheiten 
Einfluß ausüben. An dem Thatfächlichen Hat er fort und fort fein 
Bohlgefallen; nur in wenigen Fällen berichtet er von Wundern 
ud Zeichen, die für den Glauben feiner Zeitgenofjen Bedeutung 
hatten *). Gieſebrecht nennt die Zuverfäßigkeit feiner Nachrichten bes 
wundernswerth und hebt feine freien Urtheile heraus über die Habfucht 
des Kaiſers Heinrich III. und die Rriegführung des Papftes Leo IX., 
tmgbern beide ihm perfünfich begegnet waren. Der Deutjche ging ihm 
über. den Schwaben, durch und durch war er Faiferlich gefinnt. 
Mit befonders Hohem Bewußtſein wird er freilich eines Mannes 
gebadht Haben, ben er zu feinen Ahnen rechnen durfte, der zuerft 
die Ehre einer Heiligſprechung erfuhr, des Heiligen Udalrich, des 
Biſchofs von Augsburg, deffen Wunderglanz in der Kirche St. Afrae 
zu Augsburg noch in Hermanns Tagen fortleuchtete d). Mit diefem 
durch Otto's I. Steg auf dem Lechfeld mit verherrlichten Biſchof °) 
hing Hermanns Stammbaum zufammen d). Eines anderen Ver⸗ 
wandten von miltterlicher Seite, Nubpert, thut er zum Jahre 1006 
Erwähnung, der als Mönd im Kloſter Reichenau auf der Inſel 
des Bodenſees Tebte und die Verbdung desſelben befungen hatte, 
a8 dort durch Heinrich IT. ein Abt aus Lothringen, Immo, den 
Monchen aufgebrängt wurde, der durch feine misfälfige Härte und 
Strenge viele der Zucht nicht gewohnte Mönche aus den Mauern 
des Mofters trieb und das ganze in Verfall brachte *). Der König 
fah fich gendthigt nachzugeben und einem milderen Mare aus dem 
Hofer Prüm jene Abtei anzuvertrauen. Es war Berno, ber vierzig 
Yıhre fang (1008—1048) der Abtei vorftand und ihr zur alten 


®) a. 1021 bei Heribert von Eöln, a. 1051 bei Bardo von Mainz und 
& 1052 bei Zeno in Ulm. Ueber die Benutzung von an. Bang. und 
'Wipo’s vita Chuonradi, fowie des auch von an. Saxo benutzten Werkes vgl. 
Steindorff, Forſch. 3. deutſch. Geſch. VI, 491. Gieſebrecht II, 562. 

b) a. 955. 971. 973 in basilica sanctae Afrae innumeris usque hodie 
elaret miraculis. 

9 Biefebreht, Geſchichte der deutſchen Kaiferzeit (3. Aufl.) I, 419. 

d) Seript. V, 67. 

9 Bol. Watten bach, Deutſche Geſchichtsquellen (2. Aufl), ©. 247. 


108 “ Barmann 


Blüte verhalf. Seiner gedenkt auch Hermann zu den Jahren 1008 
und 1032, denn er war der Obhut besjelben übergeben. Ueber 
Theologie und Muſik hatte er nicht ohme Geſchick gefchrieben *). 
In einer Trage über die Anordnung des Kirchenjahres, wie es zu 
halten fei, wenn einmal Weihnachten auf den Montag falle, ob 
dann vier oder fünf Adventsfonntage zu feiern feien, gab er — im 
Jahre 1027 oder 1021 — fein Gutachten für den Erzbiſchof 
Aribo von Mainz ab’). 

Mit fieben Jahren war Hermann, wie er felber zum Jahre 
1020 anmerft, dem Studium übergeben °), wahrſcheinlich doch im 
Kloſter Reichenau. Er war ein Grafenfohn. Sein Vater hieß 
Wolverad, feine Mutter Hilteud. Schwaben war die Heimat dieſes 
Grafengefchlechtes. Ein ſchweres Törperliches Leiden bannte den 
Knaben, wie fein Schüler Berthold fpäter berichtet‘): er. war dem 
äußeren Menſchen nach contract — und danach trägt er den Bei- 
namen „der Lahme“ —, vielleicht auch an Bruft und Rüden ver- 
wachen, in einem Zragftuhl ſaß er und bedurfte ſtets fremder 
Hüffe; aber wunderbar weiten Kreis des Willens und Wirkens 
beſchrieb er wie ein großer Held mit feinem inneren Genius; und 
zum Belege dafür ftellt Berthold die Reihe der Schriften feines 
Meifters zufammen. Wir haben den Verluſt mancher derfelben zu 
beffagen. Gern wüßte man, was ber gleich Gerbert durch feine 
aftronomifchen Inſtrumente berühmte Mann, etwa de indagacio- 
nibus cordis et rebus occultis astronomiae entwickelt hat. 
Neben der vielbenugten Weltchronit °) hatte er auch die Regierung 
Konrads II. und Heinrichs III. in einem Geſchichtswerk bejchrieben, 
dem ſchwer auf die Spur zu fommen ift *). Von feinen poetifchen 
Verſuchen Hat neuerdings ein moralifches Lehrgedicht feine Ber 


3) Seript. IV, 381. not. 35. 

b) Jaffe, Biblivth. rer. Germ. III, 305 cf. an. Weissemb. 1038 
(Seript. IN, 70): „Dissensio facta est de adventu Domini per Willi- 
helmum Argentinensium episcopum.“ 

c) „literis traditus“, 

@) Script. V, 267: „heros magnus .. contractus, sed in interiori ingeni| 
vena mirabiliter dilatatus“. Vgl. Anm., ob vorn und hinten gibbosus? 

e) Wattenbad, ©. 296. 302. 345. 437. 

f) BWattenbad, ©. 281. 


Daran Google 


‚110 Barmanu 


falls macht ſich bei; Hermann ähnlich wie ‚bei feinem Zeitgenoſſen 
Wipo in dem ftemden Gewande doch ein deutſcher Geiſt geltend, 
der dem Ganzen eine innere Wärme gibt.“ Das Gedicht iſt ein 
fchöner Beitrag für die Kenntnis der Perfönfichteit Hermanns, dee 
angefehenften Gelehrten feiner Zeit. Durchaus beftätigt es, was 
. Berthold, der dankbare Schäfer, über bie anmutende Liebenswürdig- 
keit des verehrten Mannes *) wie über feinen hohen fittfichen Ernſt 
fagt, und läßt einen tiefen Blick in feine der Welt zwar abgeftorben, 
doch mit der Welt keineswegs unbefannte Seele thun. 

Für ein Zeitalter, in welchem bie Muſe des deutfchen Volkes 
feier ganz verftummt ift und nur hie und da ein bdeutfches- Lied 
ſich Hervorwagt, um etwa eine Summa theologiae in Berfe zu 
bringen ®), hat es umfomehr Reiz, dem lateiniſchen Dichter zu 
laufen, beffen Diftihen für die im Jahre 1052 Heiingegangene 
Mutter, Gräfin Hiltrude, von fo fehöner Pietät befeelt find: 

Mater egenorum, spes auziliumque suorum..... 
Vixit divinis prona ministeis. 

Inque bona Marthae satagens consistere parte, 
Practica quod docuit, vita sequi studuit. ©) R 

Einen Spiegel des fittlichen Lebens im elften Jahrhundert Hält nun 
aud) das neu herausgegebene Gedicht uns vor, deſſen Abfafjungszit 
fich ziemlich genau beftimmen läßt. Denn der Hiftorifer, deffen Blic 
wie auf alten Zeiten, fo aud auf der jüngften Vergangenheit weil, 
hat ſich im Dichter nicht verleugnet. Das Hinfällige irdiſcher Madı, 
das bezeugen im Hiftorifchen Rüdbli die älteften Zeiten, V. 617fj- 

probant et haec praesentia.... 
hoc Nero sensit perfurens, 
Valerianus ac Valens, 

hoc nuper exul et Petrus, 

hoc Ovo nunc seit mortuus, - 

Das geht auf den Thronftreit in Ungarn, an welchem man in 
Deutſchland, namentlich, auch in Reichenau lebhaften Antheil nahm ?). 


a) In dem St. Galler Todtenbuch (Cod. 8. Galli 915, p. 388) finbet fih 
unter VIII Kal. Oct. (Obitus) Heremanni claudi viri doctissimi et 
benignissimi (f 24. Sept. 1054). 

b) MälfenHoff u. Scherer, Denk. b. dtjch. Poefie (1864), ©. 84. 359.872. 

ce) Chron. 1062. Script. V, 181. 

d) Wattenbad, ©. 294 Anm, 


Geſchichtsſchreibung u. Gittenlehre Hermanns v. Reichenau. 111 


d war im Sommer 1044 erfolgt (Dümmfer fliegt aus 
enburger Todtenbuch, vielleicht am 15. Auguft); der ge- 
Betrus war aus feiner Verbannung auf den Thron zu- 
t*), und ehe feine zweite Entthronung im Herbſt 1046 
und er Andreas I. Play machte, ſchrieb Hermann offen- 
fünftlich gebautes Lehrgediht zu Nut und Frommen einiger 
undeter Klofterfrauen. Engila hieß die Aebtiffin (B. 59), 
eider noch nicht hat nachmeifen laſſen. 
n den Gedichten des Ermoldus Nigellus für eꝛdwig den 
vom Jahre 826 Ceres und, Bacchus ſich friedlich in den 
chriſtlichen Heiligen miſchen dürfen; wie Hrotſuitha im 
a Oddonis abwechſelnd die ſchirmenden Fittige Gottes und 
nd die alae Cereris erwähnt: fo hat auch Hermann fein 
‚ die heidniſche Mufe anzurufen, Melpomene: 
usa mi dileota, surge, dulce quiddam concine, 
erheißt ihm ein Lied für die Schwefterlein (B. 12f.): 
raucida quamvis 
voce Joquar vix. 
uß hinziehen und fragen, ob die Dämchen (dominellae 
ieber Eruftes oder Heiteres vernähmen. Unmwürdigen Vers 
ummt fie aus jener Munde gegen ſich und gegen Her» 
. 54ff.): 
fors ille vitro corpore purior 
putatus, ille turture castior 
fideliorque perfidus & sua 
tecum, o puella, conteret otia, 
ne ber neun Schweftern ſtellt fie fih nun der Engila, 
ch hätte befannt fein follen, vor (B. 68ff.): 
quas fert dulcicanas fama camenas, 
natas esse Jovis celsitonantis, 
ex Junone satas, psallere doctas, 
Idolatrae fatui numina vulgi 
olim falsiloquis grata poetis, 
nune iam christicolae noseimur esse 
susdentesque viam pergere reotam, 
castos diligimus, sancta docemus, 
mentis cultores semper amantes. 


nn. Hildesheim. 1042 und Miracula S. Cholomanni, cap. 14 
. IV, 678). Giefebredt IL, 391. 


112 Barmann 


Schonungslos gibt fie dann den erhobenen Verdacht zurücd und 
ſchiebt es den Anklägerinnen in das Gewiffen, was der befannte 
Spruch fage (®. 105): 

mentem femineam mobile quoddam. 

Was unferm modernen Gefühle etwa in der Zeichnung der 
fleiſchlichen Sünden, bie nun folgt und noch öfter wiederfehrt, an 
ftößig ift, das begreift ſich doch aus dem Charakter jenes Zeit- 
alters: Hinlänglih. Hatte doch Hrotfuitha eben deshalb ſich zur 
Nachahmung der Komödien des Terenz entſchloſſen, ut eodem di- 
ctationis genere, quo turpia incesta lascivarum feminarum 
recitabantur, laudabilis sacrarum virginum castimonia cele- 
braretur. Und Hermann felber fürdtet, da die Mufe ihm von 
ihrem Streit berichtet, daß fie am Ende mit ihrer beigenden Satyre 
die Schweftern verftimmt Habe (V. 279 ff). Sie enthuüllt die 
Greuel, welche Kloſtermauern bergen können, und Dümmler er 
innert *) an bie für Hermann befonders naheliegenden Beifpiele. 
Denn eben damals’ hatte die Aebtiffin Hirmingard von Zürich wegen 


ausfchweifenden Wandels abgefegt werden müffen, nur aufrichtige | 


Buße verſchaffte ihr die Furſprache von Abt Bern bei Heinrich II. 
Den Verfall der ſchwäbiſchen Nonnenklöfter Buchau und Lindau 
berichtet Hermann felbft in feiner Chronik ®) (a. 1021. 1051). 
Hermann fehreibt aber feiner Mufe ein gar allgemeines Thema 

vor, das für alle Zeitalter, die von einem ſittlichen Geifte durd- 
weht waren, faft in denfelben Ausdrücken aufgeftelit ift (B. 390 ff.). 

concine vani noxia mundi 

gaudia, nugas, plures naenias 

pestes, mortes, mille labores, 

die aeterni maxima regni 

gaudia, tantam lauda gloriam, 

suade talem carpere cullem, 

qui nos gaudia ducat ad ista, 


2) ©. 434. " 

b) a. 1021. Irmendrudis, Buchaugiensis abbatissa venerabilis, X. Kal. 
Martii obiit eique Abarhild abbatissa successit. Ex quo tempore 
locus ille magis magisque in deterius defuere coepit. — a. 1051. 
Defunctis uno pene in tempore Lindaugiense et Buchaugiense abba- 
tissis, Touta, nobilis prudens et religiosa vidua, utrigue loco 
recuperando ab imperatore praeficitur. 


Geſchichtsſchreibung u. Sittenlehre Hermanns v. Reichenan. 118 


bt denn die Mufe ihr Lieb de contemptu mundi 
1666) an. Sie hat die düfteren Bilder de vitiis ent 
verführerifchen Künfte des alten Feindes ber Menfchheit, 
md Sthr mit ihren Schredten befchrieben. Die Nonnen 
ich die Kehrfeite zu fehen, den Weg des Heils (8. 1694 ff.). 
Mufe will Athem jhöpfen und fließt mit bem Ver⸗ 
« künftig zu thun (1720ff.): 
-et quod petistis anxie, studebo 
pro uiribus, pio iuvante Christo 
cantare uestri prompta caritati. 
r glaubt, daß dieſer zweite Theil mindeſtens unvolfendet 
i, teogdem fich ein Diftichon unter der Ueberſchrift Her- 
mtractus in libro de virtutibus in dem Codex Udal- 
berg. (Eccard, Corpus histor. II, 6) erhalten Hat: 
i non suffciant tibi res, tu suffice rebus: 
suffciens fueris nil cupiendo magis. 
s oben angeführter Titel De octo vitiis principalibus 
eilich nur auf den erhaltenen erften Theil Hin, der indes 
mit dem anderen Titel De contemptu mundi bezeichnet 
ıB diefe irdifche Welt mit ihren flüchtigen Freuden nichts 
egen bie ewige Welt und ihre Seligleit, davon geht ja 
'engang aus (V. 495ff.). Reichtum, Macht und Ehre 
we Süßigfeit, denn ftets mischt fi wibriges ein; 
» 635. episcopatus appetit, 
abbatias ardens cupit 
uel tale quid, quo ceteris 
sit ipse formidabilis — 
: und Schuld weichen nicht, und das Schredlichfte der 
leibt, 


. 733. mortis atrae terminum 
semper timemus ultimum. 
. 767. ubi Ninus, Arbaoes, Cirus, 
ubi nunc Alexander ferus? 
Octavianus, Julius 
clarusque noster Carolus? 
der leibliche Tod ift nicht fo furchtbar. 
tab. Jahrg. 1869, 8 


114 . Barmanıt 


2. 811. est namque multo nequior 
mors altera et crudelior ®). 

Des Fleiſches Leben ift der Geift; fo ift des Geiftes Leben 
Gott (B. 823). Der Leib mag fterben; doc wenn der Geljt fein 
eigen Leben, den frommen Gott, gar von ſich ftößt, das iſt der 
ſchlimmſte Tod. Dahin führt aber Satans Lift: er weiß in un 
ferer Seele Haus und grauſam zu ertöbten durch die Sünden, 

" feine Bundeögenoffen. . 

Es ergeht ſich die Muſe in der Schilderwag jener Hauptfünden, 
ehe fie mit ben Schrecken der Hölle und des zweiten Todes ihr 
graufes Lied (von V. 1503 ff. an) abſchließt. Acht ſolcher Haspt 
und Todſunden zählt Hermann auf, gemäß ber alten Tradition, 
bie ayf das im Jahre 417 verfaßte Buch des Caſſian: De insti- 
tutis coenobiorum zurädgept, in welchem ja bie legten adt 
Bücher die colluctatio adversus octo principalia vitia darbieten ꝰ). 
Die Reihenfolge ift bei ihm; 1. gastrimgrgia, 2. fornicatio, 
3. philargyria, 4. ira, 5. tristitia, 6. dxmdia ©), 7. cenodoxia 
und 8. superbia. Die Achtzahl Tieß fich aber leicht auf die Sie⸗ 


benzahl zucädführen, wenn man bie legtgenannte Sünde zur mater ' 


et regina ber anderen erhob, wie durch Iſidorus von Hifpalis 
geihah, der daher auch in der Zählung ſchwankt, je nachdem er 
der septiformis gratia ein septemplex vitium gegenüberftelft: 
oder die Wurzel befonders zuſammenrechnete mit den mancherlei 
hervorgejproßten Zweigen ). „Octo sunt perfecta vel prinei- 
palia vitia, quae omne genus humanum inquietant, ex qui- 
bus vitiorum turba exoritur copiosa: id est gulae concu- 
piscentia, fornicatio, avaritia, invidia, tristitia, ira, inanis 
glorig, novissima dux ipsa et harum radix, superbia. Ex 
quibus omnibus duo sunt carnalia, fornicatio et ingluvies 
ventris; reliqua spiritualia.“ Man bemerte, daß hier an Stelle 
der acedia die invidia eingefegt iſt. Die Achtzahl blieb Lange 
Zeit die herrſchende: fo ſchrieb Columban (F 615), mit deſſen 


a) Bol. B. 1648. 1688. 1684. 
. b) Migne, Patrol. Iat., vol, 49. col. 201. 
e) taedium ex inutili otio nascens, Blaſirtheit. 
d) De differentiis. U, 40 (Migne, tom. 88, <ol. 96); vgl. Wiggers in 
Zeitfejeft £ Hi. Theol. 1855, ©. 808. 


Zur Geſchichtsſchteibung u. Sittenlehee Hermanns v. Reichenan. 115 


Sprahfarbe ſich übrigens Hermann von Reichenau viel berührt, 
in Brofa de octo vitiis prineipalibus °), und über dasſelbe Thema 
fieferte der Angelſachſe Aldhelm, der 675—705 Abt von Malmes» 
bury, dann Bifchof von Sherburn war (} 709) eines feiner fünfte 
lich gefchrobenen Gedichte). Während Johannes Damascenus 
noch die Achtzahl fefthielt, waren Gregor der Große in feinen 
Moralia und Beda in feinen Faſtenpredigten auf bie Siebenzahl 
zurüdgegangen, die dann in der fpäteren Scholaſtik durchdrang *). 
Amar Hermanns Jahrhundert bot uoch die Achtzahl, als Abt Aelfric 
in feinen Homilien die Reihe der verberblichen Feinde aufzählte 
(gfernyss, gälnyss, gitsung, veamet, unrötnyss, äsolcennys, 
ydel gylp, mödignys), ganz jo wie bei Caſſian geordnet 4). Nur 
wenig anders ordnete er ein andermal®):; 1. gyfernes metes, 
2. unriht haemed, 3. vovulde unrötnes (Traurigkeit), 4. gib- 
sung feos, 5. ydel gylp, 6. aefest (Neid), 7. yrre (Zorn), 
8. ofermedia (Verſchwendung). 

Auch der Lebensbeſchreiber, ber das Leben Udalrichs von Augs- 
burg verfaßte, Gerhard, deſſen Werk Hermann in feiner Chronil 
and benutzt Hat, ließ von octo vitia die Mede fein ). Die 
Stelle erklärt mandes in der Darftellung Hermanns: Primum 
est gastrimargia, hoc est ventris ingluvies, cum sua 
prole, commessatione et ebrietate. Secundum est forni- 
tatio cum sua prole, turpiloquio, scurrilitate, ludicris, quae 
etiam sunt stultiloquia. Tertium est filargiria, hoc est 
ayaritia sive amor pecuniae cum sua prole, mendatio, frau- 
datione, furto, periurio, turpis lucri appetitu, falso testi- 
monio, violentia, inhumanitate, voracitate ac rapaeitate. 





a) Migne 80, 259. 

b) Migne 89, 281; cf. Jaffe, Biblioth. II, 24. 

e) Petrus Lombardus, Sent. II, Dist. 42. Bonaventura, Brevil. 
IN, 9: „septiforme caput, seilicet superbia, invidia, ira, accidia, 
avaritis, gula et luxuria“, ‚Bol. Hofe, Polemil, ©. 413, 

d) Hom. II, 218—222; vgl. Dietrid) in Zeitſchriſt f. hiſtor. Theol. 1865, 
©. 568. 

©) Ed. Instit., cap. 31. 

f) Gerhardi Vita Udalrici, cap. 9 (Script, IV, 396). 

FL 


116 Barmarı 


Quartum ira cum sua prole, homicidio, clamore et indigna- 
tione. Quintum tristitia cum sua prole, rancore, pusill- 
animitate, amaritudine, desperatione. Sextum accedia 
cum sua prole otiositate, somnolentia, inoportunitate, inquie- 
tudine, pervagatione, instabilitate mentis et corporis, verbo- 
sitate et curiositate. Septimum cenodoxia, hoc est vana 
gloria cum sua prole, contentione, heresi, iactantia ac prae- 
sumptione novitatum. Octavum superbia cum sua prole, 
contemptu, invidia, inobedientia, blasphemia, murmuratione, 
detractione, inimicicia. Indes in fpäterer Zeit wurde die Sie 
benzahl unter Einrechnung der superbia, die in der Regel an ber 
Spige fteht, vollftändig durchgefegt, aber, wie leicht zu begreifen 
ift, mit den manigfaltigften Abweichungen. Eine Tabelle, die auf 
die Katechismen des fünfzehnten Jahrhunderts nah Geffkens 
Angaben (Leipzig 1855, ©. 21. 51) geftügt ift und deren Zahlen 
an Caſſians Ordnung erinnern (6b ift die von Iſidor eingeführte 
invidia), möge das veranſchaulichen: 


il De 
obkepanokirit | Epieget res @ünbers | Beictiaet von 1usı. | Geftten, ©. bi. 


Nr. 438. (etwa 1470). 
Hoffart 8 |Hoffart 8 |Hochfartt 8 |Superbus sis 8 | 
Geyerheit 3 |neyd 6b |Geytigkayt 3 |Invide 6 
freszheit 1 |zorn 4 | Unrarnygkayt2, |Irascere 4 
unkeuscheit 2 |tragkeit 6 |Ney 6b | Tristare 5 
ezorn 4 |geytigkeit 8 — 4 |Cupidus esto 3 
neyt 6% raszheit 1 |Frashayt 1 |Ingurgitare 1 
troghet 6 junkeusch 2 |Trackhayt 6 |Luxuriare 2 
Bol. Gefften, 
©. 21. Beil. 190. 








Aus dem Veichtbüchlein Peniteas cito gibt Geffken (Beil. 
©. 194) die vox memorialis saligia an mit dem Merkvers: 

Monstrat saligia quae sunt mortalia septem 

Luxus . aua(rieia) . super(bia) . ac(cidia) . invidus . ira . gula. 

Hermann hebt mit der fonft am achter Stelle genannten su- 
perbia an (®. 859); fie ift ihm die Mutter alfer anderen, ähnlich, 
wie etwa bie Pistis im Pastor Hermae °) die Stammutter der 
übrigen fech® Tugenden ift. Dann eröffnet die cenodoxia (B. 935) 
den Reigen der Töchter, ihr zur Seite tritt nicht wie ſonſt die 
acedia, fondern die invidia (V. 955). Darauf folgt ira (B. 979); 


a) Vis. III, 8 (Patres apostol. ed. Dressel 1868, p. 582). 


ar Geſchichtsſchreibung u. Sittenlehre Hermanns v. Rei 


 tristitia (V. 999) und filargiria (®. 1 

rdnet er umgefehrt, wie Eafftan ; dann fegt er 

sjenige, welches bei Caſſian den erften Ple 
rimargia (3. 1095) und madıt den Beſchluß 

an zweiter Stelle beſprochenen libido (V. 11 

haec septima extat filia 
superbiae spurcissima. 

tte offenbar die Abficht, Hierauf befonderes 

d fo befchreibt er denn auch die Pflichten dei 

aien in diefem Punkte. Es wird niemand Wu 

sarteiftelfung feiner Freunde und Schüler bedei 
für das ftrengfte Cölibat ber Geijtlichkei 

3. 1239 ff). Spendet doch aud ein Scholi 

ten dem Erzbijchof dortiger Stadt, Bescellin (1 

, weil er jehon gegen die connubia clericorui 

t für Hermann das alte Vorurtheil, 

1259. quam sit scelestum corpore 

spurco et manu popismate 
ad templum et aram accedere 
Christique corpus tangere. 
Sed haec uoluptas perditos 
peiora adhuc in clericos 
audet coequans laicis 

hoc in malo spureissimis. 

r ſchildert auch mit düfteren Farben die eheliı 

3, namentlich bei den Reichen, die ſich ein, z1 

n halten, 

. 1303. nil lex, pudor, timor ualet, 
libido totum possidet . .. . 

. 1319. sed est parum si terrei 
corrumpitur thorus uiri, 
temerantur ipsae nobiles 
regis superni virgines . 

. 1330. peccatur infandis modis. 
iam pro dolor! gentilium 
enormitate criminum 
uitam et scelestis actibus 


. Schol 54. Script. VII, 331. 





218 Bazmann 


aequamus aut devinoimus. 
acri poetae plurima 

stilo notant nefaria, 

quae sola natura oderat, etc. 

Es ift der Ton, den noch in jedem Jahrhundert die ernſten 
Prediger der Buße angeftimmt haben, voran Salvian für die Städte 
im Weſten Deutſchlands, und ähnlich auch zu Anfang des elften 
Jahrhunderts der Biograph Adalbero’8 II. von Met für Ober- 
fothringen *), da e8 fo arg ſchien, daß man das Leben verfluchte 
und haßte, dag man nichts fehnlicher wünſchte als den Tod in den 
veröbeten Städten und entvölferten Klöſtern und ausgeraubten 
Gotteshäuſern. Auch Thietmar ), der Merſeburger Biſchof (F 1019), 
hatte die Zuchtloſigkeit der Frauen gegeifelt, die dem Holden Abo 
und dem fanften Jaſon zu Liebe ihre rechtmäßigen Ehegatten ver» 
ſchmähen und endlich gar der mörderifchen Hand des Buhlen über 
liefern. Auf der Frankfurter Synode (1027) wurden zwei edle 
Frauen angeffagt, Willefuma, die den Grafen Sigfrid, und Go— 
derun, bie ihren eigenen Sohn Hatte morben laſſen. Und man 
vergegenwärtige ſich, was Gieſebrecht weiter von jener, beutfcen 
Medea, der Gräfin Adela, zu erzählen Hat, die im Jahre 1015 
zu Dortmund ihr Urtheil empfing und als Bettlerin. in Cöln ftarb: 
ihre Afche warf man in den Rheinſtrom und e8 brauften die Fluthen 
empor °). Wol gab es ja. daneben auch Lichtſeiten. Neben jener 
Adela waltete ihre Schwefter Lindgarda als fromme Aebtiffin im 
&t.-Bitus-Rlofter auf dem Eftenberge bei Emmerich. Von goldenen 
Friedenszeiten konnte Kaifer Heinrich II. in den Briefen Bebo's 
leſen ). Vielleicht Hätte auch Hermann von Reichenau neben dem 
düfteren Nachtbild uns ein helleres: Lichtbild: geboten, wenn das 
Gedicht De virtutibus zur Ausarbeitung. gekommen wäre. 


a) cap. 27 (Script. IV, 668), vgl. Gieſebrecht Fl, 158. 
b) Chron. VII, 2; vgl. Gieſe bvecht IN, 12. 

©) Ibid. II, 14859. 596. 

d) I, 598. 


Hedanken und Bemerkungen. 


„G aogle 


Daran Google 





122 Das Abendmahlsdogma 


boben hinaus“ nicht auszubehnen, alfe „nicht weiter als auch bie 
Wirkfamfeit der Sonne“, tft gefallen, feit von Thomaflus die com- 
municatio idiomatum felbft in der Chriftologie in Frage geftellt 
worden ift. Wo Luthardt in feinem Compendium die Lehre der 
modernen Tutherifchen Theologie beſpricht, wird der Präſenz 
Ehrifti im aftlutherifchen Sinne nicht einmal Erwähnung gethan. 

Auch ohne auf diefe zurüczugehen, glauben die beiden Erlanger 
Theologen Hofmann und Thomafius das Tutherifche Dogma feft: 
Halten zu können. Daß der vor den Jungern figende finnlich ficht- 
bare Leib Chriftt bei der erften, wie bei allen folgenden Commu- 
nionen den Jungern mitgetheilt werden fonnte, wie kann dies be: 
hauptet werben, nachdem die communicatio idiomatum aufgegeben 
if? Hofmann (Schriftbew. I, 2. S. 215, 2. Aufl): „Was 
er ihnen gibt, ift feine jegige Leiblichkeit, fofern fie dieſelbe 
ift mit der, welche er nad} feiner Auferftehung haben wird, nicht 
die von letzterer verſchiedene, nicht in diefer jetzigen Anbersartigkeit 
gibt er fie dar, fondern in ihrer Diefelbigfeit mit der nachmals 
verflärten.“ Der Berfaffer hat ſchon einmal Veranlaffung ge 
nommten, fich über Misverſtändnis diefer feiner Anficht zu beſchweren. 
Auf die Gefahr Hin, daß er dies abermals thue, wovon dann die 
Schuld gewiß nicht dem Ausleger feine Worte beizumefjen, müſſen 
wir fagen, daß wir bei dem- beften Willen diefem Ausfpruche keinem 
andern Sinn beizulegen wiffen, als den: in feiner damaligen Leib 
lichteit war bie verffärte potentiell vorhanden. Wohl, war fie aber 
nicht actuell, fondern nur potentiell vorhanden, und das mas 
er ihnen gab, wie es ausdrüucklich Heißt „feine jetzige Leiblichteit“, 
wie konate dieſe ausgetheilt werden? — Ich befenne, was das lu⸗ 
theriſche Dogma bettifft, mich immer am liebſten von der ſchlichten 
Frommigkeit eines Thomaſius belehren zu laſſen. Hier jedoch fehlt 
auch bet ihm die gewunſchte Auskunft. Thomaſius führt (II, 2. 
©. 89; vgl. ©. 62) die von Hofmann ausgeſprochene Anficht in 
einem Ausſpruche Luthers vor: „Wir fagen nicht, daß im Abend» 
maht Chriſtus Leib fei, wie und im welcher Geftalt er ift für und 
gegeben, fondern es fei derfelbige Leib, der für uns gegeben ift 
nicht in derfelben Geftalt oder Weife, fondern in demfelbigen 
Weſen und Natur“, Statt des Verſuches jedoch, die Mittheilung 


in bee meneren lutheriſchen Theologie. 193 


je Leibes durch Hinweifung auf die Identität mit dem 
perftändficher machen zu wollen, begnitgt fih Thomafius 
Stelle mit Anführung eines anderen Ausfpruchs Luthers. 
t Luther“, heißt es weiter, „anf bie Verklärung kein 
Gewicht; das Fleifh des Herrn ift ſchon an 
lich, weil aus dem heiligen Geifte geboren: 
lich und des Heiligen Geiftes Ding ift und heißet Altes, 
em heifigen Geifte fommt, wie leiblich, äußerlich, ficht» 
immerhin fein mag‘.“ Vermag jedoch Thomaſius diefe 
e Begrenzung hingeworfene Bemerkung Luthers anders 
iſch zu verftehen? 
nft an bdiefem Erlanger Dogmatifer fo wohlthuend, ift 
h Fromme Sinn, mit welchem er, ftatt fi mit den 
ı der alten Dogmatifer viel einzulaffen, immer auf die 
Grundgedanken Luthers felbft zurückzugehen pflegt. So 
tun, daß er auch hier beffer gethan hätte, geradeheraus 
zu befennen: „derm ich in feinem Wege Teugnen will, 
Gewalt vermag, daß ein Leib an vielen Orten zugleich fet, 
her, begreifliher Weiſe“ (Belenntnis vom Abend» 
Bald XX, 1197); um das Wie war ja Luther, dem 
ſo felfenfeft ftand, wenig: befümmert, und die ſcholaſtiſche 
der dreifachen Art der Gegenwart ift von ihm nur uti- 
irt worden, weil fie ihm gerade entgegenfam. 
Allmachtswunder kommt doch am Ende ſowol Hofmann 
ius zurück. Ohne Rüchhalt erklärt Hofmann (Schrift⸗ 
2. S. 215): „Dieſe Selbſtmittheilung des Herrn iſt 
er, welches ſich gleich jedem feiner Wunder an denen 
welchen er es erzeigt, mögen fie glauben, daß e8 geſchehe 
Ebenſo Thomafius (II, 2. ©. 61): „Wir Haben 
tmittheilung des Herrn als ein Wunder zu denken; 
r aber liegt feiner Natur nach außerhalb des Gebietes 
ichen Möglichkeit und der natürlichen Begreiflichkeit, denn 
Art der ımmittelbaren Machtwirkung.“ Wird man jedoch 
efem bündigen Beſcheide zu der ernftlichen Frage gend» 
das Schlagwort des Wunders hier wirffih an feiner 
Auch nach Luthardt ift das‘ Wunder „die Aufhebung 





124 Das Abendmahlsdogma 


der natürlichen Vermittlung in der Wirkung der übernatürlichen 
Eaufalität Gottes auf die Natur“, — eine Definition, die keinen 
logiſchen Widerſpruch involoirt. Hier dagegen Handelt es fi dod 
darum, ob Gott den logiſchen Widerſpruch durch feine All— 
machtwirkung aufheben könne, den Widerſpruch, daß ein materiell- 
finnlicher Leib ohne Zertheilung und Selbftzerftörung ſich an andere, 
noch dazu geiftlich, mittheilen und ferner, wenn nicht eine ubiquitas 
absoluta, doch eine respectiva haben könne? Bei den alten Dog 
matifern diente, wie auch Luthardt bemerkt, gegen die Befchuldigum 
eines ſolchen logiſchen Widerſpruchs, welchen ja aud fie — mil 
logiſche Wahrheiten nicht empirifche, fondern ewige Wahrheiten — 
für unmöglich hielten, die Waffe zur Abwehr, daß es ſich ja nicht um 
einen ſinnlich⸗menſchlichen, fondern um einen gottmenfchlichen Leib 
handele (cf. B. Meisner, Philosophia sobria) : wie aber bei den 
neueren, welche zugleich mit der communicatio idiomatum diefe Waffe 
aufgegeben? — Und nicht bloß um einen Logifchen Widerfprud 
würde es fich Hier handeln, fondern auch um einen Widerfprud 
mit der Schrift. Laßt es ſich denn betreiten, was Kahnis 
neuerlich in feiner Dogmatik (I, 422) fagt: „in allen Stellen, die 
wir bis jetzt betrachtet Haben, ift nicht von verklärtem, fondern 
von gebrochenem oder gegebenem, d. 5. geopfertem Leibe die 
Nede“? Xäßt ſich dies nicht beftreiten, was bedarf es eines Wur- 
ders zur Erklärung diefer Ausfprühe? Alle diefe Schwierigkitn 
und die Ausflüchte bei ihrer Löfung, find fie nicht bloß die ol 
von Luthers in der Tradition befangenen Auslegung des Tode 
⸗0107 Und ob noch hundert andere Gegenreben aus Schrift und 
Vernunft ihm gegenübergetreten wären, bei ihm hieß es: „Auf 
dem Worte fteht’s, am Worte iſt's genug; wie bie 
Worte lauten, will ich's halten.“ Nun ift e8 aber gerade 
die Auslegung Luthers von diefem Worte, welche neueſter Zeit auch 
den Vertretern des lutheriſchen Dogma's zweifelhaft geworden. 
Ehe wir indes von dieſem ezegetifchen Widerſpruch gegen Luther 
unter den neueften lutheriſchen Exegeten und Dogmatikern ſprechen, 
ift noch eine andere Auskunft zu erwähnen, wodurch von ber all 
lutheriſchen Präfenzlehre im Abendmahl Umgang genommen wurde. 
Dem durch die communicatio idiomatum gottmenſchlich gemor- 


in der neueren lutheriſchen Theologie. 126 


je Chriſti wird der nah der Auferſtehung ver— 
eib des Erldfers fubftituirt, und um diefen ſchon vor 
tehung vorausjegen zu können, wird aus ber Verflärung 
Berge das Vorhandenfein desfelben ſchon vor feinem Tode 
en, was dann weiter zur Annahme eines allmählichen Ver- 
oceſſes führt, durch welchen bei dem Erlöfer ſchon während 
fchen Lebens das Vergängliche in das Unvergängliche ver« 
worden. So nad) dem Vorgange von Sartorius auch Ols— 
d Kahnis in der Schrift Über das Abendmahl. Am über- 
ften nad} diefer Anficht Sartorius in feinen „Medita- 
: die Gegenwart des verflärten Leibes und Blutes im Abend» 
355, ©. 149): „Selbft wenn ex feiner in jener Nacht 
enen Verklärung nicht ausdrücklich gedacht hätte, fo würden 
die Worte der Einfegung nöthigen, fie auf feinen Leib 
verflärten Zuftande zu beziehen, weil von dem unverflärten, 
chweren Leibe gar nicht zu fagen wäre: nehmet Hin und 
8 ift mein Leib. Weder in wirklichem (fapernaitifhem) 
inte ein foldes Effen gedacht werden, als eine tödliche 
ng des Fleiſches Chriſti, noch im bedeutfichen Sinne, in 
ıh in diefem Sinne monftrös fein würde, unter dem 
‚ natürlichen, compacten Leib bildlich fich vorzuftellen und 
effigie dann zum Gedächtnis zu verzehren, während fein 
Andenken vielmehr conſervirt zu werden verdiente.“ — 
par der genuine Sinn der alten Ubiquitätslehre feit Rein« 
ergeſſenheit gekommen, daß ihr fat allgemein die Lehre 
nach der Auferftehung verklärten Leibe Chrifti unter 
wurde, wie 3. B. von Weiße in feiner Chriftologie 
5. 33); wogegen authentifher Thomafins (II, 229): 
erhält es fic eben nicht. Denn obgleich von dem gegen- 
Stande der Herrlichkeit Chriſti ausgehend, bezieht doch 
18 er von dieſem fagt fofort auch auf deffen irdifchen 
d.“ Ließe fich ohme offenbaren Widerfpruch gegen die 
‘© von einer Leibesverffärung vor dem Tode ſprechen? 
t bei der Verklärung das Sterbliche vom Unfterblichen, 
ache von der Kraft, der natürliche Leib vom geiftigen 
n werden? (1Kor. 15, 42—44. 2Ror. 5, 4.) Auch 


18 . "Das Menbmahfebogte 


die neneften Abhandlungen über leibliche Verflärung von Ham- 
berger und Schöberlein (in den Jahrbb. f. deutſche Theologie 
VI u. VII) führen auf den Begriff einer Entſchränkung der ma- 
teriellen Leiblichteit zu einem Lichtleibe. Und da diefer eben als 
Lichtleib auch nicht mehr unter den Schranken der Schwerkraft 
ftehen Tann, fol da8 Wandeln Chrifti auf dem Erdbpden zu einem 
fortgehenden Wunder geworden fein? Im Gefühl diefes Wider- 
ſpruchs gegen Schrift und Vernunft hat nun die newefte lutheriſche 
Exegefe und Dogmatik ſich auch mit diefer Auskunft nicht befriedigt, 
fondern ift zu einer Anficht übergegangen, mit welcher ſchon Sar- 
torins, wiewol auf eine ſehr unklare und widerſpruchsvolle Meile 
vorangegangen war (Dorpater Beiträge I, 332). 

Dos erfte Abendmahl fol nur einen prophetiſch teftamen- 
tarifhen Charakter gehabt Haben und die ſymboliſche Verheißung 
der zukünftigen nach dem Tode des Erlöfers ftattfindenden Bit: 
theilung feines verflärten Leibes geweſen fein. So befonders Stier 
(„Die letzten Reden des Herrn“), aber auch mehrere Vertreter des 
lutheriſchen Dogma's auf den Kathedern von Berlin, Leipzig und 
anderen Univerfitäten, jo daß dieſe Faffung alle anderen zu per 
drängen im Begriff fteht. Mit wie wenig ſchmeichelhaften Prö- 
dicaten berfelben von Luther begegnet und wie wenig fie on ihm 
als fein eigenes Kind anerfaunt fein würde, ſoll nicht unterjuht 
werden. Genug, daß keinem der früheren Dogmatiker ein Zueid 
darüber gewefen, daß zipifchen dem erften unb den folgenden Abend- 
mahlen kein Unterfehied zu fegen fe. CL Gerhard, Loci X, 
169: „Quod vero in prima coena quae estregula forma, 
et exemplar reliquarum omnium manducandum et 
bibendum Christus dedit apostolis, illud vero hodie in encha- 
ristiae administratione manducatur et bibitur vi ordimationis 
institutionis et mandati: hoc facite.“ Da indes von ber 

Mehrzahl der gegenwärtigen Intherifchen Theologen von ‚dem sola 
regula et norma scriptura sacra Ernſt gemacht werden 
will, fo wollen wir von dem Widerſpruch mit ihrer kirchlichen 
Tradition abfehen und nur die Zuläßigleit der neuern Auskunft 
felbft in Erwägung ziehen. 

Die Verkundigung zukünftiger Begebenheiten pflegen die Propheten 


in der negeren lutheriſhen Theologie. ur 


98 zumeilen duch fymbolifche Handlungen plaftisch zu ver⸗ 
irtigen, wie aud im N. T. der Prophet Agabus die Ge- 
haft des Paulus (Act. 21). Was feine Handlung bedeutet, 
ituriſch Hinzugefügt: wade Asyaı 76 nveine z0 dyıov. 
dge ou Easy 1, Lay urn odrw dijvovow &v Tsgov- 
oi "Iovdalcı za Ragudwoovoı eis yeigus EIvay. Wie 
18 in der Natur der Sache liegt, von dem für die Zukunft 
nen im Zuturum gefprochen wird, müßte nicht auch in den 
ngöworten, wären fie nur prophetifh zu fallen mit dem 
Yäysıs ein Aıyeose yag co oune wov verbunden fein? 
wahr, dag Stier ſich auf einen Ausſpruch berufen kann, 
heinend wirklich der aoriftifche Imperativ Adßers im Sinn 
‚ophetifchen Verheißung fteßt, nämlich in der Stelle Joh. 
: xal vodro sinur, Evspvonds xal Asysı autoig‘ Au- 
veöpa Ayıov. Die Nothiwendigfeit diefer rein prophetifchen 
Scheint fih auch aus Joh. 7, 39 zu ergeben: voözo da 
sg: vod rveiuaros od Zusllov Aaupdvew ol ni6rev- 
ls avrov‘ oönw yag 7v meine äyov u hjoovs 
s⸗doccicon — falls hierdurch jedwede Wirkung des heiligen 
auf die Jünger vor der Verklärung ausgefchlofjen wird. 
dieſes früher die Anficht einer Anzahl von Auslegern war, 
rtig Hat ſich jedoch die Exegeſe faft allgemein dahin ent- 
daß der Imperativ Außere nur von einer damals wirklich 
ndenen relativen Geiftesmittheilung — einer arrha pente- 
wie Bengel fagt — verftanden werden könne (vgl. be— 
Brüdner z. d. ©t.). 
päre alfo auch diefer Verfuch, den Einfegungsworten den 
pen Sinn abzugeiwinnen, vergeblich. Mag er indes haltbar 
r nicht, wird man nicht zu ber Trage gedrängt: bei einer 
Uneinigfeit der lutheriſchen Exegeſe über die Auffajfung des 
Ipunftes der confejfionellen Polemik, läßt ſich die fchroffe 
liche Stellung der confeffionellen Theologen zu folchen recht⸗ 
welche bei aufrichtiger Bereitwilligkeit, dem Schriftworte 
ten Gehorfam zu leiften, in den Ginfegungsworten den 
rund für die lutheriſche Faſſung nicht anzuerfennen per⸗ 
und die ſich daher genöthigt ſehen, Luthers Frog auf daß 





158 das Mendmahlsdogittd 


Toörd aoru nur aus ber pietätvollen Gebundenheit im ber ererbten 
Transfubftantiationsfehre finden Können? Als armen Paßgängern 
tritt die lutheriſche Vollblutsorthodoxie den fogenannten „Vermitt- 
kungstheologen“ gegenüber. Und wer ift ein folder? Nach dem 
Sprachgebrauch der evangelifchen Kirchenzeitung und der Tutherifchen 
Theologen: alle Gläubigen, welche weder befenntnistrene Lutheraner 
noch Reformirte. Aber jet, nachdem ein Hofmann die Verfühnung 
im kirchlichen Sinne aufgegeben, ein Thomafius die communicatio 
idiomatum, ein Luthardt die wörtlihe Inſpiration, ein Kahnis 
die Kirchliche Trinitäts- und Abendmahlslehre — wer ift noch ein 
völlig befenntnistreuer Lutheraner? Vernehmen wir einen gewiß 
Farbe haltenden lutheriſchen Theologen: „Feder fließt mit 
dem Belenntniffe fein befonderes Eoncorbat, dem er 
allein Rechtskraft verleiht, und in Folge defjen dies Bekennt⸗ 
nis bald viel, bald wenig opfern muß, um zur Anerkennung 
und Geltung zu gelangen. So befommen wir allerlei Luther: 
tümer, die darin eins find, daß fie ſämmtlich auf dem Grunde 
des Bekenntniſſes ftehen, aber darin verfchieden, dag fie dieſen 
Grund bald ſchmäler, bald weiter abfteden“ (Müntel, Zeitblatt 
für die Intherifche Kirche 1868). Weiß fich doch die Leipziger lu⸗ 
therifche Eonferenz von 1867 nur damit zu tröften, „daß fich trof 
alter Lehrdiffenfe ein namentlich vom Paftorat getragen 
tirchlicher Confenfus gebildet Hat.“ Möchten unter diefen Um 
ftänden doch die ehrenwerthen Vertreter der Intherifchen Theologie 
offen eingeftehen: die theologiſche Wiffenfchaft hat eine Entwicklung, 
und wer im neunzehnten Jahrhundert fteht, kann nicht mehr die 
Theologie des fichzehnten Haben; zwifchen ihnen und den fogenannten 
Vermittlungstheologen gibt e8 daher in der Wiffenfchaft feinen 
ſpecifiſchen, fondern nur einen graduellen Unterſchied. Andererfeits 
gibt es einen folhen im kirchlichen Glauben und Belenntnit, 
welcher durch Erziehung, Lebensführung und religiöſe Individualität 
beftimmt wird. Denn wenn auch nicht ganz in Luthers Sinne, fo iſt 
es in gewiffem Sinne doch wahr, was Luther dem Zwingli fagte: 
„ihr habt einen andern Geift“ — nämlich den der pietätsvollen 
Anhänglichkeit an die kirchliche Tradition die Lutheriſchen, ben des 
abſtracten Schriftprincips die Reformirten. Was bei einer lirchlichen 


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180 Rrummel 


2. 


Iohannes Dränder' 
ein Märtyrer des Hufitentums 
Son 


&$ Krummel 


viarrer iu Rirnbad (Baden). 





In feiner Heinen Nachleſe reformatorifcher 
Leipzig 1730) theilt der Leipziger Collegia 
die Akten über den Inquiſitionsproceß mit, 
bruar 1425 zu Heidelberg von dem Bifchof 
mit Zuziehung verſchiedener Commifjarien 
Geiftlichen, Johann von Drändorf, 
Irrtümer beſchuldiget und hierauf zu Worn 
geftellet worden“. Diefe Mittheilung, einem 
Georg Spalatins befindlichen Manuferipte 
ungewöhnliches Intereſſe dar. Die Nachric 
tung des Huſitismus in Deutſchland ſind bekc 
aus ihr iſt an der Hand eines höchſt eclata 
nehmen, daß die Hufiten in Deutfchland d 
gehabt haben, wie man aus den zahlreich 
Kriegszügen ſchließen könnte, fondern auch, 
Freunde und Anhänger, und das nicht nu 
angrenzenden Ländern, wie Schlefin, Sad 
Defterreich, fondern au am Rhein hin. & 
ſchiedenen neueren Kirchenhiftorifern hervorg 
von Ullmann (Reff. vor der Ref. I, 31 
(Gef. der evang. Kirche Badens I, 57ff.), ! 
andere Hufitifch gefinute Männer am Obi 
Turnau in Speier, Friedrich Reiſer aus Do 
haft machen. 


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132 Krummel 


welche ber Rector und die Doctoren ber Univerfität Heidelberg 
auf Befehl des Pfalzgrafen abgefertigt haben.“ 

In dem 6% Quartfeiten umfaffenden und mit einem auf das 
Bafeler Eoncil ſich beziehenden Aftenftücke zufammengehefteten Manu: 
feripte ift nicht bemerkt, weder wie der Rector, die Doctoren und 
der Pfalzgraf geheißen haben, noch im welchem Fahre dasfelbe ge- 
ſchrieben und an wen es abgefertigt worden tft. Aus feinem. In 
halte und der Vergleihung mit dem fpalatinifchen Manufeript if 
jedoch zu ſchließen, daß dasfelbe wahrſcheinlich unmittelbar nad} dem 
bezüglicen Vorfalle für die Canzlei des Pfalzgrafen Ludwig dei 
Bärtigen abgefaßt und hernach aus fpäter anzugebenden Gründen 
an das Bafeler Concil eingefchidt worden iſt; Rector war in 
Jahre 1425 Gerhard Brant von Deventer, Canonicus bei der 
Kirche zum heiligen Andreas in Worms, Profefjor der Theologie, 
Philoſophie und Medicin, nachmals auch Abgeordneter der Uni 
verfität zum Baſeler Concil *); als bei der Inguifition anweſende 
Doctoren werden im fpalatinifchen Manuſcript bezeichnet: Nicolant 
Magni de Jauer (Rapp ſchreibt irrtümlich Pauer), Dechant der 
Stiftsfirhe zum heiligen Geiſt und vorzuglichſter Rathgeber dei 
Pfalzgrafen auf dem Conftanzer Concil, Johannes de Francfordia, 
Zohannes Pläter oder Platen von Friedberg, Johannes de No 
oder Johannes van der Naht, Dithmarus de Triefa oder Ditämer 
Treys von Friglar und Otho de Lapide, die beiden letzteren mi 
gelehrte Zuriften, außerdem noch Job Bener, Petrus de Lapitt, 
Heinrich Erenuel (Rapp fehreibt irrtümlich Heifo Crawel), Lude: 
vicns de Busco und Johannes de Randftein. 

Die erfte Seite des Manuferipts enthält nun zunächft die Artifel, 
die man dem Drändorf zur Laft oelegt und auf Grund deren man 
ihn verurtheilt hat: 

Art. 1, daß man überhaupt nicht ſchwören dürfe. 

Art. 2, daß die Excommunication des Papſtes, der Cardinält, 
Erzbifhöfe, Biſchöfe und anderer geiftlicher Prälaten wegen welt 
licher Dinge feine Wirkung habe, dem davon Betroffenen an feinem 
Seelenheile weder zu ſchaden noch zu nügen. 


8) Haut, Geſchichte der Univerfität Heidelberg I, 277 ff. 


"  Iohannes Drändorf. 133 


3. Der Firdliche Gehorfanr verpflichtet Keinen Untergebenen 
Id eine Weiſe. 

t. Weltliche Herrſchaft zu Haben ift für Papft, Cardinäle, 
fe, Biſchöfe und alle anderen Prälaten, auch die Mönche, 
rchaus Häretifches und Verdammliches. 

5. Grade und Titel an den Hochſchulen find diabolifche 
Kirche verderbende Einrichtungen. 

3. Die Mefje kann auch mit dem bloßen Vaterunfer und 
andern Reden gefeiert werden, wenn nur die Einfegungs- 
jend eines Evangeliften dabei find; und er (der Hufite) 
die Mefje öfter jo gefeiert zu haben. 

'. Die Laien beiderlei Gefchlehts müſſen durchaus unter 
eftalten communiciren, nnd das dürfen auch ſchon getaufte 
on einem Zage; er ſelbſt befennt, oft fo communicirt 


3. Die Abläffe gelten durchaus nichts, wen fie nur er= 
d bon wen fie empfangen werden mögen. 

. Wenn man die Kinder an der Taufe theilnehmen Täßt, 
man fie aus demfelben Grunde auch an der Communion, 
: unter beiberlei Geftalt, theilnehmen laſſen. 

0. Wer die heilige Schrift kennt und doc die Laien nicht 
berlei Geftalt communiciren Täßt, ift im Stande der Ver- 


1. Die römifche Kirche hat und Hatte niemals das Recht, 
nunion unter den beiden Geftalten des Leibes und Blutes 
rifti abzuſchaffen. 

2. Die Kirche befteht nicht aus dem Papſte, den Cardinälen, 

fen, Biſchöfen und anderen Prälaten, fondern aus denjenigen 

fein, welde im Belenntnis des wahren Glaubens ftehen. 

3. Papſt Splvefter hat eine Sünde begangen damit, 

ie weltliche Herrjchaft vom Kaifer angenommen Hat. 

4. Den allgemeinen Concilien darf man nicht Glauben 
fondern demjenigen allein, was in der Heiligen Schrift 
ift. 

15. Jeder Presbyter kann, wo und fo oft es ihm gefällt, 





184 Reummet 


Art. 16. Er fagt, Papft Martin V. Habe zwar Macht und 
Gewalt über Häufer, Gold und Silber; aber er gibt nicht au, daß 
er auch in der Kirche Gottes Macht und Gewalt habe. 

Art. 17. Jeder Eid ift an und für ſich Gott und der fatho- 
liſchen Kirche zuwider. 

Art. 18. Die kanoniſchen Stunden Hält derjenige am beften, 
welcher die Bibel Tieft und Palmen fingt. — 

Auf S. 2 folgen einige Bemerkungen, welche nad dem Bor 
hergehenden für die Behandlung der Häretifer und beſonders ber 
Hufiten von Nugen zu fein ſcheinen: 

1. Man-Habe für gut befunden, den Proceß gegen diefen Hu⸗ 
fiten zw befchleunigen, weil feine Lehren leicht die Laien Hätten an- 
fteden und ihnen Aergernis geben können. 

2. Sie hätten übrigens feine authentische Bulle ober Beichre- 
bung der zu Conftanz verdammten Artikel Hufens, daher es win 
fchenswerth wäre, wenn darüber allgemeine Mittheilungen gemacht 
würden. 

3. Insbeſondere wäre e8 gut, wenn über das heilige Abend⸗ 
mahl und vor allem über den Genuß desfelben blos unter einer 
Form einige Statuten und Verordnungen der römischen Kirche, der 
Päpfte und allgemeinen Concifien zur Belehrung der Laien ver- 
öffentficht würden. 

Weiter folgt (S. 2—7) die Uebertragung eines in gewöhnlichen 
Deutſch gefchriebenen Briefes, welchen der Häretifer, defjen Namen 
unterfehrieben ift, an den VBürgermeifter und die Nathöherren ber 
Stadt Weinsberg geſchickt hat: 

„Gnade und Friede von Gott dem Vater und dem Herrn Jeſu 
Ehrifto fei mit euch an allen euren Orten, und er gebe euch in’ 
Herz, daß ihr nicht weichet von der wahren Gerechtigfeit wegen ber 
Gottlofigfeit und Ercommunication der umordentlichen Cleriker und 
gebe euch zu veden wider die gegneriſchen Männer, wie jener ger 
rechte Hiob geredet hat wider feine Freunde und fein Weib, die 
ihn fmähten, und er feine Stimme erhob und ſprach (27, 5—6): 
das fei ferne von mir, daß ich euch Recht gebe; bis daß mein 
Ende kommt, will ich nicht weichen von meiner Gerechtigkeit; von 
meiner Gerechtigkeit, die ich Habe, will ich nicht laſſen; mein Ge 


ohanned Drändorf. 188 


ißt mich nicht meine® ganzen Lebens Halber. — Liebe 
Bürgermeifter und Rathsherren und gefamte Bürgerfchaft! 
nte Ermahnung habe ich deshalb gethan, weil ich aus dem 
Schriften weiß, dag eine Excommunication, mag fie vom 
Bifchof oder anderen Glerifern kommen, euren Seelen in 
ife etwas fchadet vor dem allmächtigen Gott, da fie weder 
Herrn Jeſus Chriftus, noch von dem heiligen Petrus 
ilus Macht empfangen haben, weltliche Dinge zu richten 
jeltliche Händel ſich zu mifchen. 
bemeife ich erften® aus jenem Evangelium (Luk. 12, 13f.): 
aber einer aus dem Volfe zu ihm: Meifter, fage meinem 
daß er mit mir das Erbe theile. Er aber ſprach zu ihm: 
wer hat mich zum Richter oder Erbfchichter über euch ge⸗ 
Yarum, ihr geliebte Herren und gefamte Burgerſchaft, er- 
ch aus dem heiligen Evangelium, daß Chriftus, welcher 
Papſte ift, die Biſchöfe ſich nicht in die Kirche ein- 
laſſen wollte, um weltliche Händel zu richten und zu 
‚ wie die ſchlechten Cleriker Heutzutage fo anmaßend find, 
8 zu richten, was Chriftus nicht gethan, noch gelehrt Hat. 
zweiten beweiſe ich bdafjelbe aus 2Tim. 2, 4, wo 
abwehrend fchreibt: Kein Kriegemann flicht fih in Händel 
ung, auf daß er gefalle dem, der ihm angenommen hat. 
et doch aus den Worten des Apoftels, daß fie nicht nur 
icht haben follen, Weltliches zu richten, fondern ſich nicht 
arein mifchen folfen. 
ttens beweiſe ich da8 aus 1Kor. 6, 4, wo der Apoftel 
je aber, wenn ihr weltliche Händel habt unter euch, fo 
uch rechtſchaffene und kluge Laien zum Gericht *). Nicht 
iſt am Rande die Bemerkung gemacht: „Der Hufite hat Hier falſch 
; 68 Heißt: fo beftellet ihr die, fo bei der Gemeine verachtet find, zu 
een.“ — Sowol das Eitat des Hufiten als die Randbemerkung des 
(bergers if auffallend; erftens, weil der Hufite (nad) Bulg., Peſch., 
., Theodor. u. Theophyl.) der imperativen Faflung de xasilers 
er imbicativen den Vorzug gibt und aus „ben bei der Gemeinde ver- 
en“ Berfonen „vechtichaffene und kluge“ Leute macht; bei der letzteren 
man fid wundern, daß der Heidelberger den Tert der Bulgata ver- 


136 Krummel 


ſchreibt ihnen Paulus: ich will, daß ihr fie vor mid) citiren müßt, 
ih will fie ercommuniciren und verfluchen, wie Heutzutage die 
bfinden Führer der Chriften thun. 

„Herr, erbarme did) und fiche dein armes Volt an, für welches 
du dein heiliges Blut vergofjen haft, und erlöfe e8 von dem Banne 
bes Teufels, da es Heutzutage ſchlechte Cleriler, jo viel an ihnen 
ift, mit teufliſchen Banden feſſeln wollen durch ihre Excommuni- 
eationen! Deshalb möchte ich euch nun aus dem heiligen Schriften 
und den Beifigen Kirchenfehrern, welche Teßtere anzuführen jedoch zu 
weit führen würde, bemweifen, daß feine Ercommunication, welde 
fie etwa über euch verhängen, vor Gott etwas ift oder den Er⸗ 
communicirten irgend einen Schaden bringt. 

„Darum, ihr geliebte Herren und gefamte Bürgerfchaft, fürchtet 
den Bann nicht, fondern bfeibet feft und beharrlich in eurer Ge: 
rechtigleit. Denn diefe weltliche Herrſchaft [des Clerus] geftattet, 
daß fie mit ihren Exrcommunicationen eure Städte und Leute ruis 
niren; dann folgt nothwendig auch das andere Uebel daraus, daß 
fie aud) mit ihren Ercommunicationen ſelbſt eure Weiber nehmen. 
Und dagegen wird nun doch wol eingefchritten werden müſſen. 

„Gott fei mit euch Allen! Gegeben mit meinem Siegel. 

Joh. Presbyter in spe Jesu Christi 
nec non sacrae theologiae praedicator.“ 

Ueberfegung eines anderen Briefes desfelben an befagte Städter: 

„Bei meinen Dienften und Unterredungen in eurer Mitte habe 
id) von vielen Mitftreitern erfahren, daß euch große Gewalt und 
Unrecht gefchieht, dadurch daß ihr ercommunicirt werdet. Eben 
deshalb Habe ich euch und der ganzen Stadt zu Troft und Hülfe 


Iaffen und bie bon dem meiften neueren Eregeten (Ruther, de Wette, 
Neonder, Meyer u. A.) acceptirte indicative Faſſung vorgezogen hat. — 
Uebrigens Hat der Hufite nicht gerade falſch eitirt, infofern der Sinn ber 
Ueberfegung der Vulgata der if: fo beftellet euch Fieber die Geringften aus 
der Gemeinde, d. h. eben doch rechtſchaffene und Auge Leute, zu Richtern, 
als die heidniſchen Richter. — Diefe Randbemerkung ift von Wichtigkeit, 
infofern fie einen ganz ſicheren Beweis dafür abgibt, daß in dem Manu ⸗ 
feripte wirklich ein vom Heidelberger Profeſſoren abgefafites Aftenftüd 
vorliegt. 


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188 Rrummel 


preisgeben. Aber wie ich euch gefchrieben, daß dies am beften im 
geheimen gefchieht, fo könnt ihr ja ſolche Leute, welche euch nüglic 
feinen, an mich abfdiden. Denn die Sache ift wichtig und bedarf 
Huger Fürforge und vor allem der Hülfe Gottes. 

„Gegeben mit meinem Siegel. Yoh. Drändorf, 


Presbyter in spe Jesu Christi.“ 


Auf S. 4—7 folgt fehließlich die Rede oder Information, von 
welcher im dritten Briefe geredet ift, und die ich micht nöthig Babe 
hier abdruden zu laſſen, weil fie fi bei Kapp (III, 41—46) 
wörtlich ebenfo findet. Sie enthält einen ausführlichen, aus der 
Heiligen Schrift und vielen Stellen von Kirchenvätern begründeten 
Nachweis, daß das hrjftliche Volk in Teiner Weife gehalten fei, die 
frivofen Exrcommunicationen, die von den Prieftern verlangte Ger 
horſamspflicht und ihre weltliche Herrſchaft ſich gefallen zu laſſen 
und fchliegt mit den Worten: „Das find die Bande, im melden 
nicht nur die armen Völker, fondern auch die Könige von den 
Prieftern gefangen gehalten werden. Aber es ift num die Zeit 
gekommen, wo die Gläubigen zum Gefeg der Kirche zurückkehren 
und ſprechen müffen: lafjet uns ihre Bande zerreißen! Laſſet une 
die ungerechte Excommunication und den blinden Gehorfam famt 
dem Joch der weltlichen Herrfcaft von uns werfen, denn der im 
Himmel wohnet, facht ihrer und der Herr fpottet ihrer. Er wird 
mit ihnen reden in feinem Zorn, und mit feinem Grimm wird er 
fie fchreden (Pf. 2). Amen, Herr!“ 

Vergleicht man nun die in diefem Manufeript angegebenen und 
für den Pfalzgrafen ertra verzeichneten Artikel mit den Kapp'ſchen 





Procegaften, die freilich nicht vollftändig find, fo erfieht man_aus | 


der MUebereinftimmung des wejentlihen Inhaltes beider auf den 
erften Bid, daß es diejenigen Artikel oder angeblich ketzeriſchen 
Lehren find, wegen deren die Inquiſitionscommiſſion den unglüd- 
lichen Drändorf des Todes ſchuldig erflärt hat. Iſt in denfelben 
auch nicht die von Kapp gefuchte förmliche Todesfentenz aufgefunden, 
fo ift man nun dod darüber im Elaren, welche Art angeblicher 
Härefie es ift, wegen deren Drändorf verbrannt worden ift. Dem 
Pfalzgrafen konnten auf fein Verlangen doch nur gerade diejenigen 


Iohannes Dränborf. 188 


Mogepımfte vorgelegt werden, welche jenem entweber nachgewieſen 
tber von ihm zugeftanben worden waren. 

Aus Kapp erfahren wir, dag Johannes Drändorf ein Sachſe 
von abeligem Geſchlechte aus der Stadt Stiben oder Schlieben in 
der Meißner Didcefe war, daß er in Dresden (bei bem als Haupt» 
urheber des Laienkelches bekannten Magifter Peter von Dresden), 
Prag und Leipzig ftudirte und um's Jahr 1416 von einem Sufs 
fragan des Prager Erzbiſchofs (Conrad von Vechta) die Ordi— 
nation erhalten Hatte, daß er ſodann als veicher Mann (er bot den 
Seibelbergern 1000 Gulden für feine Freilaffung) und wahrſchein⸗ 
fi auch wegen feiner Hufitifchen Grundfäge fein beftimmtes Benefiz 
angenommen, fondern zuerft drei Jahre lang im Böhmifchen, hier⸗ 
af in Dentfchland, in Meißen und Sarhfen und in den Gegenden 
von Würzburg, Bafel, Straßburg und Speier theils lehrend und 
predigend, theils bie kirchlichen und religiöfen Zuftände erforfchend 
umbergezogen war und endlih, da er in Weinsberg Anhang ges 
funden und dadurch größeres Auffehen erregt Hatte, in Heilbronn 
gefangen genommen worden war. Er war damals etwa vierund- 
dreißig Jahre alt und hatte zwei Diener bei ſich, einen Weber, 
Namens Martin, aus Sachfen und einen Schneider, Namens Hänffin, 
as Franken. Als er nad) Heidelberg verbracht wurde, fo ver 
fammelte ſich die Inquiſitionscommiſſion unter dem Vorſitz des 
Biſchefs von Worms, dem die Jurisdiction über die Univerfität 
aftend, am 13. Februar 1425 in dem Haufe des Biſchofs Ra— 
bamıs won ‚Speier und fie fand fogleich bei der Eröffnung des 
Verhöres einen Anflagepunft, der and in Artt. 1 u. 17 des 
Bofeler Manuferipts aufgenommen ift. Der Magifter Johann von 
Frankfurt las ihm eine Schwurformel vor, daß er nichts als die 
Wahrheit angeben wolle; Drändorf weigerte fich jedoch durchaus, 
den Eid zu Teiften, da dies durch den Apoftel Jakobus, Matth. 5 
und verfchiedene Ansprüche bei Chryfoftomus und Cyprian unter» 
fagt fei, man folfe ihn nicht zwingen, dem Evangelium zuwider zu 
handeln, er werde übrigens feine Angaben der Wahrheit gemäß 
machen. Nachdem man ihn hierauf über feine perfönlichen Ver— 
hältniffe befragt, kam zuerft der Hauptpunkt der huſitiſchen Lehre, 
das Communiciren unter beiden Geftalten, zur Sprade, und Dräns 


1440 Krummel 


dorf belannte offen und frei, daß er an dieſem Lehrſatze mit aller 
Entſchiedenheit feſthalte und auch nicht davon abweichen wolle, da 
er im Evangelium begründet ſei. Dieſer Punkt iſt in den Artt. 
7. 9. 10 u. 11 aufgenommen, dgch mit dem in den Procefaften 
nirgends erwähnten Zufage, daß auch die Kinder ſchon an der Com⸗ 
munion theilnehmen dürften, was die Hufiten bekanntlich angenom- 
men haben, Man befragte Drändorf ſodann nad) der Legitimation, 
die er für fein Predigen an den vielen von ihm bereiften Orten 
aufzuweifen Habe; er antwortete in echt huſitifcher Weiſe, fein Or- 
dinator habe ihm das Wort des Herrn zugerufen: gehet Hin in 
alle Welt umd prediget das Evangelium, und auf Grund diejes 
Befehles habe er Erlaubniß gehabt, überall zu predigen. Aud 
diefer Punkt ift in Art. 15 berührt. Am ausführlichſten verbreiten 
ſich die Procefaften über die Anfihten Drändorfs bezüglich der 
Ercommunication, des kirchlichen Gehorfams und der weltlichen 
Herrfchaft des Papftes und der übrigen Cleriker. Was aber dort 


gefagt ift, ftimmt ganz mit den Artt. 2. 3. 4. 13 u. 16, und it | 


insbefondere Hervorzuheben, dag Drändorf dort ausdrücklich dem 
damals regierenden Papfte Martin V. die Macht und Gewalt über 
die Kirche Gottes abgefproden Hat, — eine Behauptung, melde 
ihm nach den Anſchauungen jener Zeit allein ſchon den Scheiter: 
haufen eingebracht Hätte. Ebenſo verhält es ſich mit dem Artt. 
12. 14 u. 18. Nicht erwähnt ift dagegen in den Proceßaften, 
mas in den Artt. 5. 6 u. 8 von ben Graben und Titeln an den 
Univerfitäten, von der Meſſe und den Abläffen gefagt ift; und doch 
find gerade diefe non befonderer Wichtigkeit, indem fie zeigen, zu 
welcher Partei der Hufiten Drändorf gehört hat; er war offenbar 
nicht Utraquift, fondern Taborite, denn nur dieſe legteren haben 
die Meſſe fo einfach gehalten, wie Hier beſchrieben ift, und grund- 
Täglich alle Grade und Titel von Theologen verworfen und für 
etwas Verderbliches gehalten *). 

Ermägt man dies Altes, jo fieht man, das Bafeler Manufcript 
bat als Ergänzung des fpalatinifchen einen nicht zu unterfchägenden 


a) Höfler, Gefchichtfchr. der huſit. Bewegung I, 399. Brodasta, 
Miscellen der böhmifchen und mahriſchen Literatur, S. 261 ff. 


Johannes Drändorf. 11 


Werth; umfomehr, als durch dasfelbe auch feftgeftellt wird, daß 
Drändorf, wie in der Aufſchrift desfelben ausdrücklich bemerkt ift, 
zirgend anderswo als in Worms verbrannt worden ift; und na⸗ 
türfich nicht am 3. Februar 1425, wie Ullmann angibt, fondern 
einige wenige Tage nad) feinem Verhöre am 13. Februar; man 
aite damit, wie die Doctoren fagen, damit die Laien nicht bon 
jinen Irrlehren angeſteckt werden möchten. 

Damit könnte ich meine Mittheilung in dieſer Sache abſchließen; 
ki der näheren Unterfuchung derfelben habe ich jedoch noch einiges 
Andere aufgefunden, was hierfür von Intereſſe ift. Ein Doppeltes 
it mie nämlich bei der Auffindung des Baſeler Manufcripts ſo— 
eich aufgefallen, erftens, daß die Heidelberger Doctoren von da— 
nals ih fo übermäßig glaubenseifrig und haſtig in der Verur- 
teilung Drändorfs bewiefen haben, und zweitens, daß die, feheint 
#8, einzige Urkunde über die Gründe derjelben nach Bafel gelommen 
iſt. Ich Könnte als Drittes noch anführen, daß in den Heidelr 
berger Univerfitätsaften und den churpfälziſchen Ardiven diefer 
Thatſache nirgends auch nur mit einer Silbe Erwähnung geſchieht, 
io daß fie 3. B. weder bei Häußer in feiner Geſchichte der rhei- 
niſchen Pfalz, noch bei Haug in feiner Gefchichte der Univerfität 
Deibelberg angegeben wird. Doc ift darauf weniger Gewicht zu 
legen, da bekanntlich wenige Gegenden in früheren Jahrhunderten 
mit friegerifchen Verheerungen fo arg Heimgefucht worden find als 
Ye Rheinpfalz; insbeſondere ift das pfälziſche Kanzleigebüude, in 
veldem fich gewiß auch Notizen über das in Mebe ftehende und. 
fiterlich vom Pfalzgrafen beftätigte QTodesurtheil befunden haben 
mögen, wie Häußer bemerkt, ſchon im fünfzehnten Jahrhundert 
durch Brand zerftört worden. Möglich wäre freilich immerhin, 
dab ſolche Notizen fpäter durch die proteftantifch gewordenen pfäl- 
älden Fürften abfihtlich vernichtet worden wären. Hat es doch 
Kurfürft Otto Heinrich als eine gerechte Strafe Gottes angefehen, 
daß mit ihm der Stamm erlofch, deſſen Gründer (eben Ludwig IIL 
oder der Bärtige) fi) mit dem Blute eines Zeugen der Wahrheit 
(ur die Abführung des Johannes Hus zum Scheiterhaufen) be- 
fedt habe. 

Bas nun das Erfte betrifft, fo gibt uns darüber folgendes Auf- 


142 Krummel 


ſchluß: Die Heidelberger Profeſſoren Hatten ſich in der Tehhafteften 
Weife an dem Concil zu Conftanz und, wie wir aus ben Ber: 
Handlungen mit Hus und befonders dem im Jahre 1406 in Heitel- 


berg gewefenen und dortfelbft wegen wykliffitiſcher Lehren aus der | 


Artiftenfacultät anegefchloffenen Hieronymus entnehmen dürfen, auch 
an der Berurtheifung diefer beiden betheiligt; jo mußten fie es für 
ihre Pflicht Halten, die Ketzerediete jenes Conciles, an denen ſie ſelbſ 
mitgearbeitet, bei der erften Gelegenheit mit aller Schärfe zu voll: 
ziehen und feine Rückficht zu nehmen, wenn es auch einen fächfifchen 
Edelmann von hervorragender Bildung und Gelehrjamfeit (als 
ſolchen gab ſich ja Drändorf bei der Inquiſition zu erkennen) betraf. 
Dazu fam, daß die Gegenden am Oberrhein längft von Kegern 
aller Art wimmelten; Biſchof Humbert von Bafel hatte ſich dei 
Halb im Jahre 1405 in einem befonderen Schreiben an die Uni- 
verfität gewendet und fie zu eifriger Verfolgung der in feiner Did 
cefe ſich verbreitenden Begharden und Loliharden aufgefordert’). 
Bei Dründorf wurden die Profefforen gewiß nod außerdem von 
dem Pfalzgrafen und feiner bigotten Gemalin Mechtildis von Sa 
voyen ®) zu einem ftrengen Einfchreiten veranlaßt, weil die Hufiti- 
ſchen Lehren in der Oberpfalz, den Gebieten von Ludwigs Bruder, 
Johann von Neuburg, vielfach Anklang gefunden Hatten. 

Was das andere betrifft, fo ließe fih wol annehmen, daß da 
Manufeript in mehr zufälliger Weife durch die zum Concil depu⸗ 
tirten Profefforen (Gerhard Brant und Otho de Lapide) im Jahre 

„1433 nad) Bafel mitgenommen worden und aus unbekannten Grün 
den bei den Concilsakten verblieben wäre. Biel wahrſcheinlicher 
ift jedoch, daß der Pfalzgraf dasfelbe. in officieller Weife an das 
Bafeler Eoncil abgefandt Hat, um demfelben den Beweis zu Liefert, 
daß er e8 an der ſchon durch das Conſtanzer Concil gebotenen 


Strenge gegen die Hufitifchen Ketzer nicht Habe fehlen laſſen. Ray: 
naldus ) teilt ein (d. d. 13. November 1431) von Papfı| 
Eugen IV. an den Cardinal Julian äfarini gerichtetes Schreiben: 


2) Haug, Geſchichte der Umiverfität Heidelberg II, 364ff. 
b) Ueber fie vgl. A. Schreiber, Miscellen (Heidelberg 1812), S. 172f. 
ce) Raynald, Ann, ecel. XVII, 89, 





gohaunes Dräuderf. 148 


mit, worin berfelbe das damals fchon zahlreich verfammelte Concil 
affordert, feinen Sig von Bafel nach Bologna zu verlegen und 
fife von ihm angeordnete Mafregel unter Anderem auch bamit 
gründet, daß, wie er von dem Magifter Joh. Puldipater, als 
Abgefandten des Conciles, erfahren habe, „pestis illa Bohemica 
ad multas Alemanniae partes serpens venenum suum eflu- 
derat et partes illas tam detestabili labe inquinaverat, quod- 
qe etiam exinde in partibus Basileae infinita scandala sub- 
orte erant, cum nonnulli oppidani sectam Bohemorum imitan- 
\s clerum persequerentur et crudeliter trucidarent‘‘. Diefer 
Aufforderung hat man in Bafel befanntfich nicht entſprochen, hat 
S aber für möthig erachtet, die vom Papſte dafür vorgebrachten 
Grunde in eingehender Weife zu widerlegen, und da wird in dem 
betreffenden Schreiben bezüglich der Hufitifchen Ketzerei bemerkt: 
„dicebant primo, quod causa illa expressa, quod nonnulli op- 
pdani circa Basileam erant infecti haeresi Bohemica et per- 
squebantur clerum, non erat vera, quoniam omnes sunt 
fdeles et nihil tale auditur in his partibus, immo isti cives 
Basileenses sunt boni catholici et bene defendunt et prote- 
gut clerum“ *). Dieſe Erflärung befriedigte den Papft jedoch 
übt; er Lifte das Concil auf und ernannte zu Präfecten des nad 
ehe Monaten in Bologna zu eröffnenden Concils unter An« 
ken gerade auch den vorgenannten Joh. Pulchipater, „qui retu- 
kat luem Bohemicam finitimis aspergi Basileae regionibus, 
aquibus jam nonnulli clerum inhumane vexarent‘“ ®). Wan 
ft, er ſchenkte der die Sache einfach in Abrede ftellenden Angabe 
Alians feinen Glauben; fie verdiente ihn auch nicht und wird 
kshalb in dem gegen die Auflöfung des Concils proteftirenden 
Shreiben Julians und Kaifer Sigismunds ©) nicht wiederholt, in 
hiden vielmehr zugeftanden, daß die huſitiſche Irrlehre und Feinde 
kligit gegen die Geiftlichfeit fih über viele Gegenden Deutſchlands 
breitet Habe, befonders in Folge von vielen Schriften, bie fie 


— 


») Raynald, Ann. ecel. XVIII, 90. 
) bid. p. 92. 
9 id, p. 98. 97. 





144 Krummel, Johannes Drändorf. 


überall Hin unter die Laien vertheilt Hätten umd noch vertheilte 
Die Sache wird aber fo gewendet, daß eben deshalb das Baſel 
Concil um fo nöthiger fei, „cum Bohemi jam pluries et nu: 
proximis diebus diffuderint per totam Alemanniam libell 
famosas continentes circiter triginta articulos contra fide 
praesertim contra statum ecclesiasticum, cum multis auct 
ritatibus Sacrae Scripturae et sanctorum doctorum, in qı 
bus expresse asserunt, quod nostri sacerdotes non habent 
quod illis respondeant, nunquam voluerunt illis dare audie 
tiam“. Sigismund fehreibt: „quid dicent ipsi haeretici sentie 
tes dissolutionem concilü, nisi quod nos fugiamus eos, etE 
clesiam contra eorum rationes quodammodo succubuisse? | 
sic confortabunt suos, et fideles populos, ad quos jam, 
audivimus, errores suos et articulos cum insertionibus s 
crarım Scripturarum miserunt, mortali contagione inficie 
in quo cunctus populus spem suam defixit. Re vera time 
dum est, quod laici, qui multimode contra clericos del 
chantur, capiant occasionem irruendi contra ipsos, dicen! 
in congregandis et dissolvendis conciliis sine fructu illusion 
fieri, prout etiam factum est, prout manifeste clamant, qu 
non expectant nisi finem hujus coneilii.“ Angeſichts diefer Zei 
niffe darf man annehmen, daß ſich das Bafeler Concil neben fein 
mit fo großem Eifer und Erfolg betriebenen friedlichen Verhau 
lungen mit den Böhmen insgeheim auch an die benachbarten Fürf 
wegen gewaltfamer Unterdrüdung der Hufitifchen Ketzerei gewen 
hat und daß ihm dann von dem Pfalzgrafen bei Rhein zum % 
weife feines Eifers Hierin das in Rede ftehende Manufeript üb 
fandt worden ift. 


Necenfionen. 


Deeol. Stud. Jahrg. 1889, 10 


" Google 





Mercelus von Auchra. Cin Beitrag zur Geſchichte der 
Theslogie von Theodor Zahn, Repetent in Göttingen. 
Gotha, F. U. Perthes. 1867. 245 SS. 





Wenw mir file dieſe dogmenhiſtoriſche Unterſuchung einer fo emt- 
legen erfcheinenden Specialität in den Studien und Kritlken den 
Raum: zu eines engegenderen Befprechung: beanfpruden, fo möge 
dieg nice nur durch bie Tuchtigkeit der die Aufgellung des Gegen⸗ 
ſtandes wirklich ſordernven Arbeit, fordern auch durch den. beſon⸗ 
deren Umſtand gerechtfertigt werben, daß der Verfaſſer dem Marcell 
tue weit höhere und eigentinmlicheve. Bebentung zuſchreibt, als ge⸗ 
wöhnkich :gejchieht, und Gefichtspwilte dabel hervorlehrt, welche für 
de Beurteilung der gefamten altkirchlichen Lehrentwicklung wichng 
fab, Zur vovläufigen Ortemieung darüber jel: auf Einleitung ud 
Sqluß des Buches Hingewiefen. Dort (S. 7) heißt es, Martell, 
weniger als irgend ein ans befaunter Zeitgenoffe. von ihm ein Kins 
friuer Zeit, Habe „im bewußten Beucht mit derjenigen Theologie, 
welhe an Origenes ihren letzten großen Vertreter gehabt: hatte, den 
aften zufammenhängenden Vetſuch gemacht, die Trimtäb md Ehrir 
ftologie auf ihre bibkifchen Normen zuukczufüheen". Und am Schluß 
(©. 2445.) fagt der Werfoffer: „es wor nicht bie Abficht diefer 
Sqhlußabhandlung/ eine Ehvenvettung des ,eblotifivenden Sabellta⸗ 
uns‘ Marcellus zu gebe; aber die Widerlegung des Urthrils, daß 
«ms allen: fruheren Ketzereirn das Schlimmſte ausgewählt habe, 


ı0* 


148 Zahn 


führte von felbft zu der Beobachtung, daB er von dem Beſten 
früherer Zeit nicht wenig gerettet Hat. Wer die Meinung theilt, 
daß nicht Drigenes, fondern Irenäus der Stammvater einer ger 
funden Wiffenfchaft vom Ehriftentum fei, der wird auch dem Biſchof 
von Anchra unter ihren äfteften Vertretern nicht den niedrigften 
Platz anweiſen dürfen.“ Dem gegenüber können wir freilich von 
vornherein nicht bergen, daß, fo anziehend uns das Buch geweſen 
und fo dankbar wir dem Verfaffer für vieles find, er uns doch 
in feiner. Vorliebe für feinen Schügling die Bedeutung desfelben 
etwas überfchägt zu haben ſcheint. Doch wir wenden uns zu dem 
Buche felbft, welches im erften Abfchnitt: Marcell und feine Zeit: 
1) Marcell und das nicänifche Bekenntnis, 2) die Herrſchaft des 
Eufebianismus, 3) das Werk und den Standpunkt Marcells, 
4) feine weitere Geſchichte, vorführt, im zweiten Abſchnitt die 
Lehre Marcelis entwidelt, um dann im dritten Abfchnitt die 
dogmengeſchichtliche Würdigung fo folgen zu laſſen, daß er 1) jeinen 
[angeblichen] Ebionismus, 2) fein Verhältnis zu Sabellius, 3) die 
Vorgänger Marcells befpricht. | 
Für die Lehre Marcells — um gleich auf diefen Mittelpunft 
der Unterfugung zu fommen — find befanntlic, die in den Gegen 
fchriften des Eufebins von Cäfarea (adv. Marcell. und de eccle- 
siast. theologia) enthaltenen, immerhin bebeutenden Fragmente 
(von Rettberg befonders zufammengeftellt) bie entſcheidende Quelle, 
der ‚gegenüber alle fonftigen Notizen fehr zurüdtreten. Zahn tritt 
der ziemlich allgemeinen Annahme entgegen, daß dieſes Buch Mar- 
cells den Titel reg) zig Tod viod Önorayis oder einen ähn⸗ 
lichen und zwar mit beftimmter Beziehung auf 1Kor. 15, 28 
geführt Habe. Allerdings ruht diefe Annahme wie es fcheint nur 
auf Hilarius, Fragm. II, $ 22: „Marcellum ab Arianis oc- 
casione libri, quem de subiectione domini Christi 
ediderat, una cum Athanasio fuisse damnatum “, was zwar 
mit großer Wahrſcheinlichkeit auf einen ſolchen von Marcellus felbft 
dem Buche gegebenen Titel führt, aber doch nicht ſchlechthin noth- 
wendig fo zu verftehen. ift. mbeffen find uns Zahns Gründe 
gegen die gewöhnliche Annahme keineswegs entfcheidend vorgefommen, 
wenn es auch auffallen kann, daß Eufebius weder einen Titel nennt 


Mareellus von Anchra. 148 


nod feine Polemik gleich gegen denfelben richtet. Zahn nennt es 
eine unverzeihfiche Unvorfichtigkeit, wenn Marcellus gleih an die 
Spige eines Buches, welches außer einer umfafjenden Trinitäts⸗ 
lehte noch vieles andere enthielt, auf einen Lehrpunkt hingewieſen 
hätte, von dem er erwarten mußte, daß er darüber angegriffen würde. 
Allein die Angriffe find ja jedenfalls darauf erfolgt und haben diefen 
Bunkt immer wieder beſonders hervorgehoben; das Meiden des 
Titels hätte ihm alſo nichts geholfen. Daß er aber damit nad) 
Zahns Meinung gerade einen Lehrpunft fignafifiren würde, über 
welchen er felbft nicht zum völligen Abſchluß gelangt ſei, trifft nicht 
ganz, denn das, worauf jener Titel führen würde, die Uebergabe 
und Endſchaft des befonderen Reiches Chriſti entſprechend feinem 
zeillihhen Anfange, ift etwas von Marcellus, wie Zahn anerkennt, 
entjhieden und befonders nachdrucksvoll Feſtgehaltenes; was zu 
einem pofitiven Abſchluß ihm nicht gelangt, weil, wie er meint, 
die Schrift ihm dabei im Stiche laffe und — müffen wir Hinzu- 
fegen — weil feine dogmatifche Theorie ſich Hier als befonders 
unzureichend erweift, ift nur die damit zufammenhängende Frage 
nad) dem Verbleib des Fleiſches Chrifti beim Ruckgang des Logos 
in fein vorweltliches ewiges Sein in Gott. Wir find dur die 
Anführungen des Eufebius doch nicht hinreichend über das ganze 
Bud) inftruirt, um zweifellos entfcheiden zu fönnen, ob nicht die 
Boranftellung der Beziehung auf jene subiectio Christi nad 
1ßor. 15, welche unzweifelgaft für den Lehrzuſammenhang Mars 
«ls von der größten Bedeutung ift, ihre befondere Veranlaſſung 
hatte, Der orthodoren Dogmatit war jene Stelle der Korinther- 
briefe Häufig unbequem, wie die wiederholten Erörterungen darüber 
digen, welche den Auſtoß heben und den orthodoxen Sinn wahren 
fellen. Man vergleiche darüber Gregorius Nyssen. (eis 70 örav 
inorayij xrA. Opp. I, 838sqg. Par. 1615) und noch Nicolaus 
donMethone (Demetracopulus, Biblioth. eccles. I, 293 sqq. 
Lips. 1866). Dagegen bot fie der arianifchen und femiarianifchen 
Theologie eine Handhabe, ihr conftantes Verfahren auch Hier anzu 
legen, wonach die Schriftausfagen über den hiftorifchen Chriſtus 
und feine Unterordnung unter den Vater für die Subordination 
des Sohnes Logos überhaupt ausgebeutet werden (Eunom. Lib. 


150 Za hu 


apol. 27 bei Thilo, Bibl. dogm. II, 610). Marcelius glaubie 
nun für diefe wie für andere Schriftausfagen den rechten Schfüffel 
zu Haben; freili mußte er damit nach beiden Seiten anftoßen. 
Aber es iſt fehr möglich, daß er gerade im Gegenſatz gegen Afterius 
diefe fignificante Beziehung am die Spitze ftellte. Wir wollen diefer 
Anſicht Kein großes Gewicht beilegen. Das aber möchten wir gegen 
Zahn behaupten, daß, wenn wirklich Marcells Schrift jenen Titel 
trug, mit der oͤrorcynj nicht bloß der allgemeine Begriff ber Nie- 
drigfeit Chrifti (im Unterfchiebe vom Logos als folhem) gemeint 
fei, fondern eine beftimmte Beziehung auf die subiectio und tra- 
ditio regni barin Tiege, zumal da, wie der Verfaffer felbft erinnert, 
Hilarius an der genannten Stelle fofort auf diefen Lehrpunkt zu 
reden kommt. 

In der Darſtellung der Lehre Marcells beginnt der Verfaſſer 
fachgemäg mit Marcells Kritit der von der Heilsblonomie ent: 
Tehnten Namen Eprifti, welche ihn dazu führt, ſich, um es kurz zu 
bezeichnen, der Debuction bes prücgiftenten Weſens Chrifti aus dem 
Begriff des Sohnes, wie nammtlic auch aus dem auf eufebia- 
niſcher Seite beſonders beliebten des Ebenbildes Gottes zu wider ⸗ 
fegen. Marcell behält nur den Logosbegriff übrig als einzige 
eigentliche Bezeichnung des ewigen Weſens Eprifti, „als einzige 
Fundgrube der, Triuitätslchre" (S. 99); da denn das ganze Ge 
wicht auf die entfchiebenfte Behauptung der didkorns des Logos 
fällt und zwar fo, daß auch die Vorſtellung einer [ewigen] Zengung 
als damit unvereinbar ausgefhloffen wird. Für bie hierauf ge 
gründete Trivitätölehre, zunächſt die Beftimmung des Berhäftuifies 
des Logos zu Gott, geht Zahn auf die wichtige Erörterung Mar- 





eells über Joh. 1, 1 zurück, worin derfelbe die Ewigkeit des Logos 


in feinem Sinne begründet faud. Die hei Euſebius an zwei Stellen 
(p. 37 A. 118D) mit einigen Ubweichungen ſich findenden Worte 
lauten: „DV dv iv ad yüoaı ‚ev agyih au 6 Adyos“ deikn 
devdneı ev 7@ nargl van zov Aoyoy — Ev dayh (dexi 
p. 118D.) yag dndvrov zw yeyovorav 6 Heos dE od 1a 
ravsa' Ev de a ‚mal 0 Aoyos qu megds adv Heov‘ evegyeig 
ragös Tor Hey alvmı zov Aoyov — navıe yag di avrov 
eycverq wi zwogis ad dydvero oUda Ev’ dv di za „YHeor 


Mareellus von Aucyra. 151 


elvas sov Adyov“ slgmaevar pn dinsgelv sjv Pedınea, Aneıdı) 
6 Aöyog ze (vd p. 37 A.) &v aurd zul OVr0G (adrds p. 118. D.) 
dd Aöye — &v Zuoi ydog gmow Ö narijg adya Ev vd 
rergl.“ In der Erläuterung dieſes Fragments (©. 121ff.), 
welches alfo im erften johanneiſchen Sage das ewige Sein bes 
2ogos im Vater, Im zweiten eine Unterfihiedenheit des Logos vom 
Later lehre, im dritten einer Zerreißung ber Gottheit entgegentrete, 
tobelt Zahn, daß Rettberg (fr. 47), deſſen Werdienfte er fonft 
mit echt Hervorhebt, der Lesart von p. 118 D: dexn yag zei, 
wor der anderen: av Gogh xeA. den Vorzug gegeben habe. . Er 
int e8 eine wunderfiche Annahme, daß Marcel unter der dexr, 
in welcher nach Johannes der Logos geweſen ſei, Gott verftanden 
habe, oder daß fein Gedanke mit Hülfe einer doppelten Deutung 
eigentlich der fel: dr’ dogs d Aoyos ıjv dv ei dx sc. so 
Yes. Ueberdies bernhe diefe Auslegung auf der unrichtigen Ans 
nahme, daß Marcel die Begriffe 6 mare und 6 Heos ſchlecht⸗ 
weg ibentifteire, während er fie auch Hier unterfceide. Zahn will 
dagegen 89 px; (wie p. 87 A wirklich fteht) leſen und erklärt 
mit Zuhulfenahme einer ſonſt afferdings bei Marcel vorlommenden 
Shlußfolgerung: „Wenn zugeftanden witd, daß alles von Gott 
seihaffen ober aus Gott geworben ift, fo ift auch, ehe oder als 
ales feinen Anfang nahm, nichts außer Gott zu denken. Wenn 
num gleichwol heißt, daß etwas im Anfang aller Dinge war 
wicht wurde, fo folgt ihm daraus, daß es weder ein Theil 
def gefchaffenen Alls, noch ein Zweites neben Gott fei; es muß 
deimehr mit inbegriffen fein in 6 9edg.“ Bugeftanden, daß dieje 
Argumentation ftch fonft bei Marcell findet, fo liegt doch auf der 
Sand, daß Hier eine ganze Reihe Mitielglieder erft gu fuppfiren 
Diren, um diefelbe Hier twieberfinden zu Tönen. Zudem ſcheint 
8 ber Genitiv dnrdvrar vor yeybvörwv bei weitem natürlicher 
deranf zu führen, daß in coxnj der Vegriff der anfänglichen Ur- 
hberfchaft Tiege. Wir fiehen daher nicht an, Metiberg beizutreten. 
Die „munberliche Annahme“ ift gar nicht fo fingufär, vielmehr 
«hört diefe Wendung zu den wiederkehrenden patriftifchen Aus- 
drutungen der Stelle, wobei «gxn aus dem bfoßen Begriff deö 
xrilihen ober vorzeitfichen Anfangs in den des urſprünglichen Brins 


— 


182 Bahn 


cips übergeht. So jagt Athanafins, wo er von der mia dgyı; 
Jeörnrog redet (Orat. IV c. Arian. bei Thilo, Bibl. p. dogm. 
1, 606): „xare yag ludvrnv &v vadın Ti) day mv 6 Aöyog, 
æat Ö Aöyog jv mgös Tov Feov, Jeös yag Eorw 7 deyi‘ 
zei dns) dE adrjs dorı, dia Toiso zal Iads mv 6 Aöyos“. 
Ebenfo Gregor. Nyss. (c. Eunom. IV, 534 bei Oehler, Gr. | 
opp. 1,268), Cyrill. Alex. u. 9. und früher ſchon Methobins, 
dgl. Semler, Einl. in Baumgartens Polemik II, 59; Suicer, 
Thes. s. v. Der Wechſel der Ausdrüde Seös und rag ift 
dabei, auch wenn Marcel fonft diefelben unterfceidet, ganz uns 
verfanglich. 
Bon der von uns beanſtandeten Faſſung, welche Zahn den an- 
geführten Worten gibt, ift übrigens die folgende Erörterung des⸗ 
felben der Hauptfache nach unabhängig. Zahn dringt Hier darauf, 
daß bei Marcelis bekannter Unterfcheidung von einem duvansı und 
einem &vsgyelg elvar des Logos es ſich nicht bloß um einen Unter- 
fchied des Rubens und des Wirfens, fondern um eine wirkliche 
zwiefache Exiſtenzweiſe Handle; evegyeig elvas könne nicht 
gleih Evegyeiv fein. Es bezeichnet „ein concretes Etwas, welches 
eben ber Hervortretende Logos ſelbſt ift, alſo nicht ein thätiges 
Wirken, fondern eine wirkende Kraft. Der beim Beginn der Welt 
Svegyelg exiſtirende Logos ift felbft die Evseysın demore, und 
damit er dieſes fei, ift er in diefe Weiſe der Exiftenz übergegangen, 
welche nicht feine einzige und nicht feine erſte ift. Es bezeichnet 
alfo das Svepysig elvar Teineswegs ein vom Logos ausgehende, 
ihn felbft von fich ausfchließendes Wirken, fondern ein Sein des 
Logos als wirkende Kraft“ (125). Demgemäß bezeihne das du- 
vorne elvos nicht die bloße Potenz im Sinn „der auf die Ueber- 
führung in die Wirklichleit wartenden Möglichkeit“, wol aber „die 
in Gott ruhende Kiaft, das Vermögen zu der Wirkung, welche er 
als docoruxnj Evspysa wirft“ (127). Die beiden Eriftenzformen 
find feine ſich ablöfenden, fo daß die duvauuıs, indem fie zu Eveg- 
yeız geworden, aufgehört hätte duvanıs zu fein (16). Wie neben 
dem Ausbrud dvsgyeie slvas die Bezeichnung des Logos felbft als 
vsgyeiw fteht, fo neben dem Ausbrud duvauss elvas aud) der: 
divanıs vov masgös 6 Aöyos und 7 duvapıs. „Weil der Logos 


Marcelius vom Ancyra. 188 


felber beides ift, ruhende und wirende Kraft, darum kann au 
fein Sein nach beiden adverbial benannt werden. So gewiß einer» 
fitg die Evegyee nicht eine bloße Handlung, fei es Gottes, fei 
6 des Logos ift, fo gewiß geht andererjeits das Weſen des Logos 
nit völlig auf in biefer Exiftenzform, fondern bleibt ald eine von 
Gott untrennbare Kraft in Gott. Er führt ein Doppelleben, ein 
Gott und ein der Welt zugefehrtes. Aber er felbft lebt das letztere 
nicht minder als das erſte“ (128)*). „Im jenen Anfang der , 
dinge, in welchen der johanneifche Prolog verjegt, weiß Marcellus 
den Logos bereits in jener doppelten Seinsweife befindlich, als 
dynamis in Gott, als Energie bei Gott ober neben Gott, und 
trog dieſes Auseinandertretens nicht Tosgerifjen von Gott, fondern 
nad wie vor unter den Begriff Gottes fallend (Ysoc 7» 6 A). 
Die als Hülfsbeweis für letzteres beigebrachte Ausfage Jeſu über 
fine Einheit mit dem Bater (der Vater in mir und ic im Bater) 
weiſt auch darauf ſchon Hin, daß jede Spannung des Gegenfages, 
"melde im Verlauf der Welterlöfung nöthig werden mag, nicht bis 
dahin dringen fann, daß die Gottheit, wie Marceli Vater und Sohn 


a) Bern Zahn Hier Bezug nimmt auf eine Stelle des Eunomius (Lib. 
apol, cap. 22. Thilo, Bibl. p. dogm. I, 604), fo erf eint mir dies 

" umzutreffend, da Eunomins in derſelben nicht, wie Zahn anzunehmen ſcheint, 
auf Marcells Lehre Rückſicht nimmt, fondern es mit der athanaſianiſch - 
mieänifchen zu thun hat. Denn es handelt fih ihm da nicht um die Lehre 
vom Logos als der Wirkenskraft, fondern um die Art der Hervorbringung 
des Sohnes durch den Vater, und daß man Bierbei die ovale aus dem 
Spiele laſſen müffe, die betreffende’ Wirfamteit alſo nicht als Theilung 
oder Bewegung der Subftanz felbft angefehen werden dürfe, wie diejenigen 
iu thun verleitet würden, welche durch die Sophismen der Hellenen ſich 
keflimmen Tiefen; denn dieſe (die Hellenen) identificirten die Wirkſamkeit 
mit dem Weſen und Tießen deshalb zugleich; mit Gott die Welt vorhanden 
fein, wobei fie die dem Begriff der Welt nothwendig anhängende Endlichteit 
in einen Widerſpruch verwidele. Dem gegenüber fei es nöthig, die ovale 
als ävapyos zu faflen, die dvegyesm aber nicht. Mit anderen Worten: 
die rigyein (vermöge welcher der Sohn fubfict) if auf den Willen 
jurticäubegiehen, nicht anf die ouola. Der Eingeborne if} durch den Willen 
des Vaters entftanden, und darum die duodens des Sohnes mit dem 
Bater auch gar nicht auf die odaie, fondern auf die &vegyem fr: dar 
ei BodAnas zu beziehen. 


184 Zahn 


aufammenfaffend "Hier das göttliche Weſen nennt, zerriffen wird und 
zwei Cingelwefen einander gegenüberftehen. Che aber der Logos 
außer feinem Sein in Gott auch noch eine folche Stellung nebm 
ihm einnahm, wie fie das rrods zov Isov außdrädt, war er 
lediglich im Vater. Wie alle Gedichte des Logos, alle Bewegung 
Gottes, fo Hat auch dieſe erfte ihren Grund nicht in einem Be— 
dürfnis Gottes, fondern in feinem Weltzweck, der als göttlicher 
Gedanke der Verwirklichung vorausgeht. Da aber der Logos, 
welcher in ber Erfhaffung und Erlöfung der Welt als Wirkens- 
kraft Gottes offenbar wird, in anfangslofer Ewigkelt in Gott ift, 
fo ift es auch unmöglich, daß er nicht Theilhaber jenes die Welt- 


ſchbpfung vorbereitenden göttlichen Denkens Hätte fein follen; und 
eben darin bemeift fich die Allgenügſamkeit Gottes, daß er feiner | 


anderen Zurüftung *) oder Materie wie menſchliche Künftler bedarf, 
fondern in ihm ſelbſt alles befchloffen fiegt, was man eine Zur 
rüftung nennen Tann. Der göttliche Gedanke ift gleichfam ber Stoff, 
und der ihm mitdenkende Logos die Kraft, welche bann als wirkende 
Kraft heraustteten kann.“ (129.) Wir haben den Verfaffer über 
den vorliegenden Punkt felbft zu Worte kommen laſſen, weil man 
hier nach mehreren Seiten hin einen Einblid in feine ganze Auf 
faffung Marcells gewinnt; und wir knüpfen nun einige Bemer⸗ 
tungen an das Mitgetheilte. Den zuletzt mitgetheilten Worten 
schließt Zahn die Erinnerung an, dag Marcell, was für ihn in 
hohem Grade bezeichnend fei, nicht etwa die verfchiedenen Bedeutungen 
des Wortes Logos unterfuche und dann den Logos als die Vernunft 
ober den Gedanken Gottes bezeichne, welcher bei ber Schöpfung 
zum Worte werde. Vielmehr erft nachdem er fic durch die Aus: 
fagen Jefu über feine Einheit mit Gott und durch die Johannes- 
ftelfe der Ewigkeit des Logos vergewifjert habe, gebrauche er nach- 
trägfih, aber. mit beftändigen Refervationen die vom Verhältniſſe 
des menfchlichen Denkens und Nedens entlehnten Gleichniſſe. Wit 
wollen num mit Beziehung auf die von Zahn in einem früheren 





a) Es ift wol nur Verfehen, wenn Zahn (©. 129. Anm. 2) od yao di 
Erögas övomaains (nad) Eur. p. 40 A) abbruden lieh ſtatt 67 06- 
kacias, wie Eus. p. 125C die Stelle wiebergibt. 


Mareellus von Anchra. B 185 


Ahmitt gegebenen Erörterungen über Marcells Berhältnis zu 
Dogma, Tradition und Schrift (S. 51ff.) im allgemeinen nicht 
in Abrede ftellen, daß Marcel das Bedürfnis empfand und ben 
Anlauf machte zw einer methodiſcheren Schrifttheologie. Allein 
Jahn ſcheint uns darin viel zu weit zu gehen und zu wenig zu 
beachten, wie auch für Margell, fo fehr er Schriftgrund fucht und 
fi daran anliegt, am Ende doch fpeculative Momente, die er 
dem Logosbegriff ſelbſt entnahm und fpeculative Probleme, welche 
der Bewegung des Trinitätsdogmas felbft entfprangen und Löſung 
ferderten, das Beftimmende waren. So hat er ſich ja freilich das 
Wht, von der Ewigfeit des Logos in feinem ‘Sinne zu ſprechen, 
md fein Sein im Vater als Dynamis, ſowie fein Sein als wir- 
feube Kraft neben dem Vater ohne Aufhebung der Einheit mit ihm 
u behaupten, durch Zugrundelegung des johanneifchen Prologs ver⸗ 
idafft. Allein in der von Zahn in den oben angeführten Worten 
(©. 129) zuletzt berüdfichtigten Stelle (p. 40 A.B. 125 C.) fol» 
gert Marcell keineswegs, wie es nach Zahns Darftellung ben An 
idein gewinnt, ans ber ſchriftmäßig erhärteten Ewigkeit des 
Logos erft die Nothwendigfeit der Wetheiligung an dem die Welt- 
ſchöpfung worbereitenden Denken Gottes, fonbern er debucirt ficht« 
{ih aus dem Begriffe des Logos felbft als der gött- 
ligen Vernunft (gleihfem ber, das göttliche Bewußtſein ge- 
ſaltenden Kraft): „Gott bedurfte Feiner anderen Zurüftung zur 
Vitſchopfung als der in feinem Denken vorhandenen. Da es 
mmunmöglid war, daß Gott ohne Logos (Vernunft) 
und der ihm beimohnenden Weisheit die Bereitung 
des Himmels denkend erwägen konnte, heißt 8: ba Gott 
den dimmel bereitete, war ich bei ihm“ =). Gerade weil Marcel 





2) 0 yag di dregas Eroastug olov Uns hi Kling ziwös dvSgumivns 
6 dedg Edeiro mpds zuruaxevunv, dAAd ran ig &r zj are dia- 
volg Eroaalas. 'Enei odv aduvarov v zupis Aöyov zai Tijs 1g00- 
ons (p. 40 B wol faljch: mgosmoden) tu Adyp ooplas Evvoisa 
negi vis 700 ougavo) zerwoxsvis rdv Iedr, elxörms En’ Nvlxa jrol- 
ale zöv ovgavdv avunagijum aurö. Cf. p. 41D. 163B: zöre 
3 Möyos ngosAdeiv dyivsro Tod xdauou nammis d zul nedregor 
Indov vogreis Erosuator audıoy xra. Es ſcheint uns dem That- 


8. Bahn 


biefen Gefichtöpunft feftpäft, wonach der Logos zunächſt als Ber- 
nunft und Weisheit des Vaters erfcheint, ein Gefichtspunft, der bei 
Athanaſius in fo ſchwer zu Löfenden Widerftreit kommt mit dem 
durch die Zeugung geſetzten hypoſtatiſchen Unterſchied, dem realen 
Unterfchiebe des Sohnes vom Vater (vgl. Zahn, ©. 28), legt 


er ein folches Gewicht auf die eine Zeugung ausfchliegende Ewig⸗ 


keit des Logos und die eine zweite Hypoſtaſe ausſchließende Einheit 
Gottes, und erinnert daran, daß auch im Menjchen der Logos nicht 
der Kraft und der Hypoſtaſe nach gefondert gedacht werden fünne: 


„Ev yag Sor xai Tavıdv 1@ dvdgunw 6 Aöyos xal ouderi | 


xugılönevos Ergo N Mom Th Ts modkeng Evegyelg“ 
(40 A). Zahn follte Hier garnicht ſolches Gewicht darauf legen, 
daß Marcell überall, wo er auf die Analogie des menſchlichen 
Denkens und Redens zur Erläuterung des Logos, feines Verhält- 
niffes zum Vater und feiner Thätigfeit zurücgeht, die Refervation 
beifüge, daß es fich Hier nur um eine Vergleichung des göttlich 
Großen mit menſchlich Kleinem handle. Denn dies Hindert ihn 
doch nicht im mindeften, eine wirklich überzeugende Analogie darin 
zu finden. Das Ynadägquate Tiegt darin, daß menschlicher und 
göttlicher Logos miteinander verglichen werden, wobei aber die 
Beifpiele felbft zeigen (befonders p. 414, bei Zahn, ©. 130f.), 


wie ernftlich doch trogdem ber Vergleich genommen ift. Das aber | 


beftand außerordentlich wenig entſprechend, wenn Zahn, wo er Marcells 
Lehre mit der der älteren Apologeten vom Ady. dvdidderos und ugo- 
Pogıxös vergleicht und namentlich mit Athenagoras eine wirkliche Verwandt- 
ſchaft anerkennt, einjchräufend bemerkt, Marcel verzichte uur darauf, aus 





der Bernünftigfeit Gottes das ewige Sein eines Logos in ihm herzueiten. | 


Marcel nehme den bibliſchen Ausdrud, welchen ihm feine Kritit der Namen 
Chriſti übrig gelaffen Hatte, einfach an, und halte ſich dadurch nur bered- 
tigt, das immer als incongeuent bezeichnete Gleichnis vom menschlichen 
20908 in feiner doppelten Bedeutung anzumenden, um ſowol die Unzertrenns 
lichteit desfelben von dem, deffen Logos er iſt, al8 die trotzdem vorhandene 
Möglichfeit eines Hervorgefens desfelben ivgendioie vorfielig zu machen. 
* „Für Marcell ift das johanneiſche Wort Aöyos doch nur ein Name, wenn- 
gleich ein werthvoller. Er entninmt demfelben für die Beſtimmung des 
Verhältniffes der teinitariichen Subjecte viel weniger als dem breimafigen 
#9 der Stelle.“ Dies ericheint uns als Eintragung einer modernen Künftelei. 


Marcellus von Anchra. 157 


ſcheint allerdings Zahn mit Recht hervorzuheben (S. 132), daß 
Marcell wol einmal an einer Stelle (p. 39 B wiederholt 104D. 
106 B) jenen urfprünglichen, aller Weltwirffamfeit vorangehenden 
Zuftand, da der Rogos im Vater war, als ein Ruben (jovxla zıs 
19) bezeichnet, daß er aber keineswegs die gefamte der Welt zu- 
gelehrte Wirkſamkeit des Logos als Reden des Logos, biefen als 
den fprechenden Gott im Unterfchiede vom fchmeigenden zu bezeichnen 
pflegt. Vielmehr fegt er entſprechend ber Bezeihnung decoruxij 
öeoy. die weltſchöpferiſche und heilsöfonomifche Wirkſamkeit des 
logos unter den Gefichtspunft des aus der göttlichen Erwägung 
kervorgehenden Thun, während das Reden des Logos ſich auf das 
göttliche Offenbarungswort bezieht, weldes der Bater durch den 
Logos fpricht; daher er, auch Hier die menſchliche Analogie herbei⸗ 
jehend, fagt: „xal mjueis yag navra doa dv Ielonev xara 
10 duvarov Adysıy Te xal moieiv To Nuerdep moiodler 
köyg“ (p. 39 D), womit man die Worte vergleiche: „warzeg 
rag za yeyovdra ndvra Uno Tod nargös dia Tod Aöyov 
riyovev, odrw xal ra Asyöusva Uno Toü nargos dia ou 
köyov omnalveraı“ (p. 79 B. 114 D). Es hängt dies zufammen 
mit einer durch die Polemik des Eufebius veranlagten, aber, wie 
Zahn uns nachgewieſen zu haben ſcheint, durch die von ihm mit« 
getheiften Fragmente nicht beftätigten Anficht, „als denke ſich Marcell 
Gott abwechſelnd redend und ſchweigend und fei der Logos nichts 
witr al8 ein gebietendes Wort und fein Hervortreten ein bei jeder 
neuen Action ſich wieberholendes". Dem gegenüber beſteht Zahn 
darauf: das neue Verhältnis zu Gott, in welches der Logos im 
Anfang der Gefchichte eintritt, um diefen Anfang zu ermöglichen, 
fein gleichzeitige Sein in und bei Gott, hört nicht auf nach der 
Betfhöpfung, fondern fteigert ſich noch bis zur Menfchwerdung 
fin. Auch nad) dem Ende des menfchlichen Lebens des Logos noch 
nicht, fondern erft nad bem Weltgericht findet der bem Hervor⸗ 
gehen bei der Weltfhöpfung entſprechende Act des Zurücktretens 
fatt. In aller Geſchichte, welche zwiſchen beiden Tiegt, verharrt 
der Logos als Evsgyeım dgaarıxı; in feiner Zulehrung zur Welt, 
vermittelt alle Offenbarung Gottes an fie“. — „Gerade Marcel 
webet in einer ihn auszeichnenden Weife -von einer einheitlichen, im 


168 . Zahn 


Königtum Chrifti gibfelnden göttlichen reakıs, und von den drei 
Berioden, in welchen bie zwiſchen Bott und ber Welt ſich begebende 
Geſchichte verläuft, ift ihm die erfte der Menſchwerdung voran- 
gehende nicht minder als bie zweite... eme alxovonia. — — 
So ift alfo auch jenes Hervorgehen des Logos nicht ein einmaliges, 
je und dann fich wiederholendes Ereignis, fondern Eröffnung eines 
zufammenhängenden Verhältniffes Gottes zur Welt und eine dem 
entfprecgende Selbftanorbnung des göttlichen Weſens.“ Der Ber: 
faffer wendet fi) mit diefen Erörterungen nicht nur gegem Klofe's 
hier mehr durch die euſebianiſche Auffaſſung als durch die eigenen 
Ausfagen Marcells beſtimmte Darftellung, fordern auch gegen 
Bour und Dorner, infofern dieſelben zwar nicht ausdrücklich von 
bloß vereinzeltem Herauswirlen des Logos reben, aber doch bie 
Svegyeıe dgaor. des Logos ſo falten, daß durch diefelbe nicht eine 
conftante Bafis für ein bleibendes Berhültnis Gottes zur Welt, 
für jene Selbftanordnung bes göttlichen Weſens gewonnen wird. 
So ſoll nah Baur damit bloß die nad) außen gehende Thätigkrit 
des Logos bezeichnet und ausgedrückt werdet, daß durch die Welt: 
Fhöpfung in dem immanenten Verhältnis des Logos: zu Gott nichts 
fh, ändere, und der Logos nicht am ſich, fordern nur feiner Thü- 
tigfeit nach Princip der Weltſchöpfung fei, demnach auch an 


ein Heraustreten des Logos aus fi felbft nicht ger | 
dacht werden könne. Es Legt ja im der That nach einigen | 


früher berührten Stellen ſehr nage, mit Baur zu jagen, Marcell 
wolle Gott und den Logos wie Sein und Bewußtſein nnterfcheiden, 
und bei dem eitjchiedenew Dringen auf Ginheit Gottes im. Logos 


uur das Selbftbewußtfein Gottes ſehe (Baur, Vorkfungen über | 


die Dogmengefhichte I, 2. ©. 182f.), oder etwas anders mit 
Dorner, der Logos, fofern noch adgefehen werde vor: der Welt 
wirkfamteit, müffe einfach mit. dem. Vater identifieirt werdem, welcher 
and) der Seiende Heißt, aber nicht jo, daf das Denken von ihm 
ausgefchlojjen wäre. Dann würde man audy; geneigt jein, mit Baur 
in dem Hervorgehen des Logos zur dena) Evegy. nichts weiter 
zu' fehen als. den Uebergang. zur Thutigkeit, oder umgefehrt mit 
Dorner zu behaupten, eine Vorbildung der dvdeyssa deworii) in 
inneren göttlichen Wefen habe Marcell nicht. Daß aber doc; beides 





Marcellus von Ancyra. 160 


dem nicht völlig eutſpricht, was Marcell mit feiner Unterſcheidung 
der divauıs und Evdeyerm will, baß er bei erfterer trotz der Ver⸗ 
verfung der zmeiten Hypoftaſe ein irgendwie unterſchiedenes Princip 
in Gott, und in ber dvdoy. eine befondere und conftante Exiftenz- 
weiſe des Logos, welche aber nur der Weltwirffamfeit angehört, 
feſthalten will, jcheinen uns bie oben berichteten Erörterungen Zahus 
allerdings darzuthun, und nur hierdurd; gewinnt auch die Chriſto⸗ 
logit Marcells einigen Anhalt. Wie fliegend freifih und wenig 
joßbar und ſtaudhaltend dieſe Unterfcheidung Marcelis ‚doch bei alle 
dm bleibt, muß Zahn indirect feibft zugeftehen, wenn er fagt: 
„Nur ein gewiſſes Auseinandertreten deffen, was wordem in Gott 
hihfoffen war, des entjendenden Vaters umd des als, wirkende 
Kraft entfendeten Logos findet ftatt; ich fage ein gewifjes Aus⸗ 
einandertr eten, denn daß fich Vater und Lagos durch diefe Verän« 
derung nicht etwa gegenübertreten mie zwei felbftändige für fich 
ftiende Weſen, von denen das zweite in Folge feiner einzigartigen 
Urfprumgsverhältniffe den Anfpruch auf göttliche Namen erheben 
fann, wird dadurch verhlitet, daß der Logos gleichwol duwamıs in 
Gott bleibt. — Was alſo bei Marcells Lehre wirklich zu drohen 
ſcheint, ift eine Zerreißung des Logos in einen in Gott bleibenden 
ud einen aus Gott heraustretenden Logos, welcher letztere dann 
af om Ende des. Weltbramas zu ſich felbit, fofern er in Gott 
blieben iſt, zurüdkehre" (©. 137f.). Es Üegt auf der Hand, 
wie dieſe Faſſung einerfeits, wie Zahn anerfennen muß, an die 
Ültere Unterjcheibung. des Asyos dvdiad. und rgop. ſehr erinnert, 
Dogegen doch nicht ensfcheiden kann, daß biefer Ausdruck felbft von 
Marcell wicht reproducirt wird (vgl. Dorner), den übrigens ge» 
tode Athenagoras, welchen hier am nächften fteht, auch nicht hat; 
md wie es anbererfeits doch feine Berechtigung Hat, wenn Marceli 
von feinen Gegnern unter die Anklage des Sabellianismus geſtellt 
wird. Hierüber Hat freilich, der Verfaſſer feine von der gewöhn- 
lihen ſehr abweichende Anfiht, wovon ſogleich zu reden. Vorab 
ur noch das: eine. Zahn rügt (S. 142), daß Baur dem Mar— 
cll eine Unterſcheidung von Vater und Monas abfpreche, und ber. 
ʒeht ſich dabei auf Baurs Aeußerung, daß Marcell auf Seite der 
ſebellianiſchen Tpeorie ſtehe, aber jene ſchlechte Form des Sabel⸗ 


160 , Zahn 
lianismus repräfentire, bei welcher die Monas nicht, wie von Sa- 
bellius felbft geſchah, vom Vater unterfchieben, fondern mit dem 
Vater ibentificirt wird. Zahn meint, Marcells ganze Beweisfüh- 
rung aus dem U. T. für bie eine Zweiheit von Hypoſtaſen aus 
ſchließende Einheit Gottes (S. 139-142) würde ihn felbft treffen, 
wenn er den Logos der Monas gegenüberftelfte, ftatt ihm mit dem 
Vater unter der Monas, unter 6 Fsos zu begreifen. Diefe Ent- 
gegnung ift infofern irrefeitend, al® ja ganz gewiß, wenn Marcell 
überhaupt fabellianifirt, er nicht jene andere Anficht Hat, die nad 
Baurs freilich anfechtbarer Meinung die echte des Sabellius iſt, 
nämlich die, wonad alle drei mredcwre, auch das rg. des Vaters 
fon, dem vedenden Gott (Logos) im Unterſchiede von der ſchwei⸗ 
genden Monas angehören; er fann alfo jedenfalls nur zufammen- 
geftelft werden mit derjenigen für ſabellianiſch gehaltenen Anſicht, 
wonach die göttliche Monas felbft in anderer Beziehung, nämlich 
im Unterfchiede von den beiden folgenden Offenbarungsmweifen Gottes 
als Sohn im Geift, als erſtes gsownov, als Vater erjceint. 
Allerdings aber macht e8 nun Hier einen Unterſchied, und das ift’s, 
worauf Zahn hinaus will, ob die Begriffe Monas und Vater fh | 
bei ihm ſchlechthin deden, fo daß der Begriff des Logos, welder 
dem des Vaters gegenüberfteht, ebendamit au dem der Monad 
gegenübertritt, oder ob bie Monas der eis Heos oder die Faden 
ſchon in fich ſelbſt diefen Unterfchied von Vater und Logos birgt. 
Inwiefern wir letzteres zugeftehen, ift oben gejagt. Nur ift freilich 
diefer Unterſchied des Vaters und des Logos als duvapız ein jo 
ſehr in die Einheit BHineingezogener, und der Logos als duvanıs 
fo ehr das Wefen des Vaters felbft mit ausmachend, daß es nad, 
unferer Auffafjung der Stelle über den johanneifchen Prolog voll 
tommen unverfängli erſchien, daß Marcell die Begriffe ed rng 
und eos auch wieder für einander fegen Tann, und der Unterfchied 
von Monas und Bater in der That ein faft verfehwindender wird. 
Noch mehr zeigt fich dies, wenn man die Trage nach dem Geiftı 
hinzunimmt. Es ift eine Inſtanz Dorners für den fabellianifchen 
Charakter der Lehre Marcells, daß bei ihm in dem „jhweigender 
Gotte“ vom heiligen Geifte nicht die Rede fei und daß nichts au! 
die Anerkennung einer immanenten Trinität über der Öfonomifcher 


Marcellus von Ancyra. 161 


führe. Dagegen muß Zahn zwar zugeben, dag nad Marcell auf 
tie Monas, abgefehen von ihrem Eingehen auf die offenbarungs- 
efhichtlichen Unterfchiede, die Dreizahl nicht anmendbar fei. Er 
meint aber doch als den Sinn Marcells feſthalten zu können: „was 
in der Gefcjichte fich offenbart, ift Gottes ewiges Weſen felbft, 
welches an und für ſich ſchon jene Manigfaltigkeit in 
fig ſhließt, die in Weltſchöpfung und Offenbarung Hinaustritt“. 
„Er lehrt beides, eine ewige Geftalt des Lebens Gottes, welche es 
im möglich macht, ſich als Schöpfer, Erföfer und Heiliger zu 
ofenbaren, und biefe Offenbarung als Darftellung eines dreieinigen 
bottes“ (S. 154). Ja er meint nad Erörterung der Haupt 
fell (p. 167 Dsqq.) die beftimmte Anerkennung des Ausgehens 
des Geiſtes von Vater und Sohn, die unbedingte Erhebung des 
Geiſtes in Gottes Weſen nicht bloß als einen zufälligen Vorſprung 
vor der kirchlichen Lehrentwiclung, fondern als einen dur die 
idärfere Erfafjung der göttlichen Einheit wohlverdienten Gewinn 
bezeichnen zu bürfen (©. 153). Allein mas das Ausgehen von 
Bater und Sohn betrifft, fo ift hier, wo nad) ber eigenen Erinnes 
tung Zahns es ſich ja nicht wie in der fpäteren Differenz darum 
handeft, den processus als Ausdrud des ewigen, die eigene Sub- 
fiteng der dritten Hypoſtaſe begründenden Verhältniſſes entfprechend 
der Zeugung des Sohnes zu fafien, von einem Vorfprung gar 
übt zu reden, denn wo jenes transcendente Verhältnis noch nicht 
hifirt, wielmehr das heilsgefchichtliche Hervorgehen des Geiſtes 
nd mit in Betracht gezogen wird, werden von anderen die ber« 
ifiedenen Data der Ausfprühe des Herrn in gleich unbefangener 
Beife combinirt (vgl. z. ®. Athan. ad Serap. I, 20). Und 
06 das Andere, die unbebingte Erhebung in Gottes Ween, betrifft, 
delche von Athanafius allerdings erft in biefen Briefen (ad Serap.), 
do der Zeit nach etwas fpäter eingehender entwidelt wird, jo 
finnte auch dies nur dann als ein Vorfprung bezeichnet werben, 
em von Zahn eine fihere Spur davon nachgewiefen würde, daß 
‚Darcell wenigftens in ähnlicher Weife dem Geijte als unterſchie-⸗ 
kenem eine ewige Wurzel in der göttlichen Monas gegeben hätte, 
vie dem Logos durch die dovanıs Adyov. Davon finden wir 
Wer auch in der Stelle p. 167 Dsqq. feinen irgend fiheren An 
Tot. Stub. Jahrg. 1869. u 


162 Zahn 


halt. Iſt dem aber fo, dann Bat fjene Erhebung des Geiftes in 
Gottes Wefen hier eine ganz andere Bedeutuug, nämlich eine im 
weiteren Sinne fabellianifcde — denn das erfeunt auch der Ber: 
faffer als wahrfcheinlih an, daß Sabellius bereits den Heiligen Geiſt 
als die dritte Offenbarungsform der göttlichen Monas herangezogen 
habe. In jener Stelfe behauptet Marcell die Unmöglichkeit, bei 
Borausfegung pon drei unterſchiedenen Hppoftafen wirklich zu einer 
einheitlichen Zufammenfaffung derjelben in ginge Monas gelangen 
zu Können, vielmehr müffe die Trias ihren Ausgang von ber Wonas | 
nehmen. Namentlich zeigt er, wie die Ausſagen über das Ausgehen 
des Geiftes vom Vater und die Warte des Herrn: „von dem 
Meinen wird er es nehmen und verfündigen*, ſich widerſprechen 
würden, wenn Vater und Sohn in der Weife des Afterins als | 
dvo diepovusve rgdoorea angejehen würden. Vielmehr offen | 
barten jene ſcheinbar widerſprechenden Ausſagen ein verborgenes 
Myſterium, nämlich das der Ausdehnung (mAarövsctes) der un, 
zertrennten Monas zur Trige. eve Musfagen widerſprechen fih | 
nicht — dies ift doch die nädjftliegenbe Folgerung aus dem abe | 
gebrochenen Fragment —, wenn Vater und Sohn trog des offen | 
barungsgeſchichtlichen Auseinandertretens in der innern Identitit 
ihres Weſens gefaßt werden, ba dann das Hervortreten des Geiſtes 
nur als eine weitere offenbarungsgeichichtliche Entfaltung dieſes ein⸗ 
Heitfichen göttlichen Weſens jelbft erfcheint. Wie in der Perſon 
Ehrifti, wenn man lediglich die geiftige Seite feines Wefens in, 
Betracht zieht, der Logos als ein und dasfelbe mit Gott erfcheint| 
(Ev zal zadıov dv 6 Adyos zo Fed Yaivoro), und nur wenn 
die Beifügung des Fleiſches in Betracht kommt, bie Gottheit ſich 
auszubreiten ſcheint und zwar Lediglich der Evsgyaa nad (Eveo-' 
yelg 7) Hedeng won nlarivscdas doxei, p. 107 A), fo dürfte 
Marcell auch in der weitergehenden fich differenzirenden Heilsthätig⸗ 
teit Gottes als rvsöpe &ysov den Unterfchied de8 rveüuer vom! 
Aöyos aud nur wieder als einen formalen, durchaus nur auf der 
Seite der öfonomifchen Thätigkeit liegenden anfehen. Es feheint 
uns daher doch wenig gerechtfertigt, wenn Zahn (S. 152f. Anm. 4) 
die Angabe Theodorets über Marcel (haer. fab. II, 10) als ein 
ſehr abgeleitetes und ſchiefes Urtheil bei Seite ſchiebt, zumal der 


Marcellus Yan Anchra 188 


Anstrud, deſſen ſich Theobaret bedient, es fei eine Zxranıg der 
väterlichen Gottheit in Chriftug Herabgefommen und dies fei Gottes 
2ogo8, und ber Heilige Geift fei eine magsxranıs wis Exsdosug, 
doch laum danach ausſieht, ald enthalte er eine bloße falſche Con⸗ 
fequenzmacherei Theodorets. Müſſen wir alfo auch nad dem frü- 
heren gnerkennen, daß Marcell durch feine Logoslehre, auf welche 
ww gerade Sabellius gegenüber Gewicht legte, eine Art von Selbſt⸗ 
diremtion Gottes feiner üfonomifchen Augbreitung zur Triag zu 
Grunde fegte, fg ſcheint uns doch für das dritte Moment diefer 
Trias jede immanente Diftinction zu fehlen. Und unter dieſen 
Umftänden gewinnt 8 denn doch eine eigentümfiche Bedeutung, 
nenn Marcell npn Chriftt Menfchmerbung handelnd fragt: „was 
war nun jenes Herabgekommene yor der Menſchwerdung?“ und 
darauf antwortet; „ohne Zweifel Geift“, mit Berufung auf das 
Wort des Engels: „heiliger Geift wird üher dich kommen“, und 
Heranziehung des Wortes Jeſu: „Gott ift Geift“. Falls hier auch 
dahn (9. 159f,) Recht haben ſollte, daß der Schluß Baurs zu 
taſch fei, da rreöua und Aöyog nur yerſchiedene Ausdrüde feien, 
um das ſubſtantielle Wefen Gottes zu bezeichnen, da die johanneiſche 
Stelle von Maxcell nur verwendet werde, um feinem Gegner den 
Schluß nahezulegen, daß, wenn quch Luk. 1, 35 vom Beiligen Geifte 
die Mede fei, nicht am ein geichaffenes Weſen gedacht werben dürfe, 
da es das Eigentlumliche Gottes fei, im Gegenfag zu allem Ger 
Iheffenen ein Geift zu fein, fo würde fih doch Marcel ſchwerlich 
jo mggedrückt Haben, wenn er in der Gottheit, abgefehen von ihrer 
Ausbreitung in der heilsgeſchichtlichen Trias, irgendwie eine unter- 
ſchicdene Dispofition für diefes dritte Moment der Trias gelannt 
hätte, 


Bevor wir meitergehen, Können wir num aber nicht umhin, gleich 
Bier, wo nom Verhäftnis Marcells zu Sabellius öfter die Rede 
fein mußte, die Aufmerkſamkeit auf den Theil yon Zahng Arbeit 
zu lenken, worin gr dieſes Verhältnis erörtert (S. 196—216). 
& ift vielleicht mandem ergangen wie dem Referenten, dem ſich 
bei Betrachtung der auseinandergehenden Anſichten über diefen 
Monarchianer die Vermuthung öfter aufgedrängt hat, als fei ber 
ſonders feit Schleiermachers genialer Arbeit gar manches in bie 

1* 


164 Zahn 


Lehre desſelben „hineingeheimnist“ worden. Dem kommt nun Zahn 
mit feiner Unterfuhung entgegen. Er erinnert daran, daß „die 
ausführlichften Nachrichten über den Sabellianismus aus einer Zeit 
ftammen, in welder e8 nicht galt, die Lehre eines vor hundert 
Jahren geftorbenen Theologen zu ermitteln, von welder man über- 
dies feine Urkunden befaß, fondern eine in manigfachen Geftalten 
ſich darftellende theologische Richtung der jedesmaligen Gegenwart 
zu befämpfen, welche man Sabellianismus nannte und als einen 
der beiden Fallſtricke firchtete, zwiſchen welchen hindurch der jhmale | 
Weg wahrer Theologie führe. Zumal feit dem Bekanntwerden ber 
Theologie Marcells dachte man bei jenem Namen mehr an biefe 
als an den Hiftorifchen Sabellianismus. Wie Hilarius den Photin 
nicht einen Ebjoniten, fondern Ebjon nannte, fo wurden die beiden 
Reden des emeſaniſchen Eufeb De fide adv. Sabellium über- | 
fchrieben, obmol nur Marcel damit gemeint war. Was Athanafins | 
in der vierten Rede gegen die Arianer beftreitet, iſt nicht die Lehre | 
des Sabellius, fondern ein Collectivum manigfacher Theorien, unter 
denen auch die des Sabellius felbft vorkommt, meift aber nicht als 
Gegenftand der Beftreitung, fondern als abfchredendes Extrem, vor | 
welchem Athanafius warnt“ (©. 198). Wir Halten nun ben 
©. 199 ff. verfuchten Nachweis, worin Zahn jelbftändig mit Rett⸗ 
berg und Kuhn (Kathol. Dogmatit II, 344) zufammengetroffen 
ift, daß Athanaſius in der vierten Rede gegen die Arianer es nicht 
fowol mit Sabellius als vornehmlich mit Marcel, deſſen Lehre 
nur als zum Sabelfianiemus führend darakterifirt wird, zu thun 
habe, in der Hauptfache für gelungen. Nicht minder einleuchtend 
ift, dag Gregor von Nyffa in der von Ang. Mai zuerft 
edirten Schrift Adv. Arium et Sabellium die Richtungen feiner 
Zeit unter allgemeine Kategorien bringt und bei ber zweiten ficher 
auch Marcell im Auge hat. Ein gleiches behauptet Zahn von ber 
Schrift Contra gregales Sabellii, die ſich in des Athanafins und 
des Bafilius Werken findet. Behält man dies im Auge, fo werden 
ſich allerdings die Ausfagen über die Lehre des Sabellius wefent- 
lid) rebuciren. Ob in dem Grade, wie Zahn will, welcher zwifchen 
ihm und den älteren Patripaffianern keinen wefentlichen Unterfchied 
findet, eine eigentliche Logoslehre bei ihm ganz in Abrede ftellt, 


Mareellus von Anchra. . 165 


and nur darin einen Fortfchritt ber jene zugibt, daß er den Geift 
mit herangezogen und darum nicht fo einfeitig bei der Betrach⸗ 
tung der Offenbarung Gottes im geſchichtlichen Chriftus ftehen 
geblieben, fondern die ganze Heilsötonomie in Betracht gezogen und 
dadurch die manigfaltigen Offenbarungsmeifen Gottes begründet 
babe, — ift ung zweifelhaft. Namentlich ſcheint uns Zahn darauf 


' an zu großes Gewicht zu legen, daß Sabellius lediglich eine fuc- 


effie Trias, deren Momente ſich ablöfen, weil in ihnen immer 
mr wieder dasſelbe göttliche Wefen fich offenbare, gelehrt Habe; 
fer dürfte er, was nur der unbeholfenen Ausbrudsweife und der 
Confequenzmacherei der Gegner angehört, nicht genug im Auge 
haben; die ihm zugefehriebenen Gleichniffe von Leib, Seele und 
Seift, wie von wärmender und leuchtender Kraft der Sonne und 
tem oxñuce derfelben — das einzige was Epiphanius pofitives zu 
berichten weiß —, dürften unterfchägt fein. Auch find foldhe den 
Stempel der Originalität tragende Ausfagen, wie die des Bafilins 
(Ep. 210, 5), außer Acht gelaffen: 169 ye dvunöozerov cur 
ngo0drwv dvaniaauov oda 6 ZaßsAhos napnriuaro ei- 
aiv‘ T0v aurdv FEov, Eva To Umoxsıusvo övıe, 
1066 Exdorore napenınroigag xgeles usTauogpyouusvor, 
vv udv ds Tarsgm, vüv dd ds viov, vor da ds nveüne 


 iov duadsysodas. Gleichwol erkennen wir in diefer Unter- 


ſutung Zahns den berechtigten Antrag auf eine Revifion deſſen, 

Ds als Lehre des Sabellius ausgegeben wird, und einen beachtens⸗ 
verthen Verſuch folder Reviſion. 

Benden wir uns zur weiteren Darftellung der Lehre Marcelis 
ki unferm Verfaſſer. Im den Erörterungen über den menfch- 
gworbenen Logos zeigt ber Verfafjer mit Recht, daß der neben 
dem Borwurf des Sabellianismus hergehende des Samofatenismus, 
dfo einer ebionifirenden Chriftologie, als nehme Marcell einen 
Bogen durch den Logos in ausgezeichneter Weife infpirirten Menfchen 
a, ein unbegründeter ift. Nicht die menfchliche Natur ift der 
Heilsmittler. Ohne fie würde der Logos allerdings alles das nicht 
fin, was er dem Menſchen zu gute geworden ift, und alle bie 
Namen nicht tragen, welche ihm daher beigelegt werden. Aber er 
Klbft iſt doch das eigentliche und einzige Subject jener Prädicate. 


186 Bahn 


Die S. 155f. zufammengeftellten Ausdrucksweiſen zeigen nad 
Zahns Darlegung, daß es nicht bloß eine Anbeguemung an kirch- 
Tiche Lehrweiſe ift, wenn er von Fleiſchwerdung, Menfchmwerdung, 
Geburt des Logos (6 dia Tjs magdsvav yerımdeis ouv fi 
avdgmrelvn Gagxı Aöyos, p. 48 B) redet, wobei nur die mit 
Vorliebe gebrauchten Ausbrüde eines Kommens, Herabkommens, 
Gefendetwerbens verhiten, dag don dem ewigen Logos als ſolchem 
nit ein Werden ausgefagt werde. „Diefe Seite der Hinaus⸗ 
bewegung des Logos als wirkender Kraft ift ihm überall 7 xu- 
SBodoc, die andere die Annahme einer menfhlihen Natur.“ Was 
nun biefe zweite Seite betrifft, fo erinnert Zahn, wie es die por 
lemiſche Aufgabe Marcells mit fich gebracht Habe, daß er vor allem 
aufzeigte, wie auch der menfchgeworbene Logos fich feiner Einheit 
mit dem Bater bewußt geweſen fei, und wie hierfür die Ausfprüde: 
„Ich und der Vater find eins, ich im Vater ꝛc.“, „Wer mid 
fiehet, der fichet den Vater“, mit befonderem Nachdruck verwandt 
werben. Wenn befonders erfterer Ausſpruch von arlanifcher Seite 
und fo auch von Afterine auf Uebereinftimmung des Willens ber 
zogen wurbe, fo will natürlich Marcell, wie bie Nicäner, ihn von 
der Wefengeinheit verftehen. Zahn beſpricht eingehender das Hierauf 
begiigfiche intereffante Fragment (p. 375qq,, bei Rettberg Mr. 65), 
worin Marcel in eigentümficher Weife gegen jene Behauptung der 
Willenseinheit (d. i. Uebereinftimmung) zu Felde zieht. In jenen 
Ausfprücen rede Chriſtus nicht mit Ruckſicht auf die menſchliche 
Natur, fondern im bloßen Hinblid auf den aus Gott gekommenen 
Logos. Halte man ſich an bie geſchichtliche Erfheinung, fo fei an 
mehr als einer Stelle eher eine Nichtübereinftimmung der Willen 
zu erkennen. Werm er in Gethfemane zuerft bitte: „Laß den Kelch 
an mir vorlbergehen" und dann erft: „boch nicht mein, fondern 
dein Wille geſchehe“, fo laſſe der Buchſtabe Hier den Zwieſpalt 
eines wollenden Vaters und eines nichtwollenden Sohnes erkennen. 
Daß ber Vater wirklich gewollt Habe, zeige der Erfolg, und daß 
der Sohn wirklich nicht gewollt Habe, deffen Bitte. Ein gleiches 
finde Joh. 5, 30 ftatt. Faſſe man Gott und Logos als zwei wie 
menſchliche Perfonen einander ausfchliegende und gegenüberftehende 
Perfoiten, jo könne man nichts weniger als Wilfensübereinftinnmung 


Morcellus vom Anchra. 167 


in ſolchen Worten erfennen, wie: „Alles was der Vater Hat, ift 
mein“, oder: „Meine Worte find nicht mein ꝛc.“ Es feien das 
dann eher Zeichen Habfüchtiger Beraubung des andern, im erſten 
Sag von Seiten des Sohnes, im zweiten von Seiten bes Vaters. 
Wo es Heißt, nicht: ‚ih und der Vater ftimmen durchaus mit 
einander überein‘, fondern: ‚wir find eins‘, da muß eine urſprung⸗ 
fie Wefenseinheit zu Grunde liegen, melde auch alfein genügt, 
um das Wort zu erklären: ‚wer mich fiehet, fiehet den Vater‘. 
Bern nun in jenen vorhererwähnten Fällen eine gewiſſe Dishar- 
nonie wirklich ftattfindet, woran nicht zu zweifeln ift, da der Er» 
Gier nur Wahrheit fagen kann, fo muß man deutlich erkennen, daß, 
nenn er ſpricht: „Ich und der Vater find eins‘, er damit abfieht 
von dem Lebensgebiet, auf welchem allerdings eine Disharmonie 
fiatthaben Tann, umd lediglich fieht auf ſich als den von Gott aus» 
gegangenen Logos. Wenn irgendwo eine Disharmonie zu fein 
ſcheint, ſo muß fie auf die Schwachheit des Fleifches bezogen werden, 
welches der Logos, der es vorher nicht hatte, angenommen hat; 
wo aber von Einheit geredet wird, ba bezieht fie fih auf den 
Logos.” — Zn der Würdigung diefer Ausfage müffen wir doc 
Jahn entgegentreten. Allerdings beftätigt auch dieſe Stelle, daß 
Marcell nicht in Chriftus ein menfchliches, nur unter der Einwir- 
fung des Logos ſtehendes Ich ammehme, weil ihm dann die Frage 
4 anders geftellt haben würde und das Problem jenes Ausein- 
abertreten® des Willens des Vaters und bes Logos nicht auf diefe 
Beife fich geftalten witrde. Allein wir können nicht finden, daß 
Narcell, indem er jenen im Evangelium thatſächlich vorliegenden 
Unterſchied eines die Einheit mit dem göttlichen Willen erft fuchen- 
den menfchlichen Willens und des göttlichen nicht als einen trüg- 
fihen Schein oder eine Affectation anfehe, ſondern rückhaltslos aus- 
ſpreche, „hoch über den chriftologifchen Anſchauungen der orthodoxen 
Zeitgenofjen“ ftehe. „Was Chriftus fagt, muß, wie unbequem es 
au gerade fir feine Auffafjung fei, unbedingt wahr fein, der 
Schriftbuchſtabe (70 yorupe) bindet.“ Zahn felbft muß erinnern, 
daß ſich daneben (und zwar in derfelben Stelle) Ausdrücke zeigen, 
welche jenes Auseinandertreten als eine fofort wieder verſchwindende 
Eſcheinung und infofern doc wieder faſt wie Schein barftellen 


168 Zahn 


(ed yag rıs doyuyaria slvas doxoln); und bie Loſung, welche 
Marcell gibt, ift im wefentlichen gar feine andere, als Athanafins 
fie ähnlichen Inſtanzen der Schrift, die er ebenfowenig wegleugnen 
tann oder will, entgegenftellt. Die Ausfagen der Einheit läßt 
Marcel den Heiland fagen nicht im Hinblid auf den angenom- 
menen Menfchen, fondern auf den aus dem Vater hervorgegangenen 
Logos. Wo aber ein Nichtzufammenftimmen zu fein ſcheint, ift 
dies auf die Schwachheit des Fleiſches zu beziehen, welches der 
Logos erft angenommen hat (ed ydg zıs dovuymrla elvaı do- 
xoln, adın dvaysgesodaı eig ν rüs vagxds dose 
veıav Öyslksı, jv um ngöregov Exwv dveilmper 6 Aöyos). 
Dian halte damit zufammen, was Athanafins fagt, z. B. Orat.3, 
c. Arianos, p. 57 (bei Thilo, Bibl. p. gr. dogm. I, 580) 
mit Beziehung auf die Worte: „iſt's möglich, fo gehe diefer Kelch 
von mir“. Er erinnert, daß derſelbe, der dies gejprochen *), den 
Petrus bedrohte mit den Worten: 0) Ygoveis ra Tod „son, 
alla va züv dvdgeunuv. Er wollte, was er abzuwenden bat 
(6 ragnreivo), und eben deshalb ftellte er fi ein: aAde zoü 
navy nv To Iehw, t zodro yag nase, zig dd Gagxos 02 
rò daily, di6 xal ds dvdgwrog Elsys vv ToIavenv ya 
vv xal dupdrege ndhıv naga od advov SAsyero, Iva dei 
En Örı Ieög jv Ielav uiv arıds, yevönevos dd dvFgmnos 
elye deihäcer mv Gagxe, di jv auvexsgace ro dav- 
tod Isınna 15 avdogunivn dossvsig xl. Bi 
beiden ift das Problem noch ganz auf der Oberfläche erfaßt und 
nur ſcheinbar gelöft, und die wahrgenommene Differenz droht zum 
Schein Herabzufinfen. Aber auch Athamſius will, wenn er weiter 
unten a. a. O. von einer vowLousn della redet, nicht im min- 
deften das wirkliche Vorhandenfein eines folhen dem göttlichen 
Willen widerfteebenden Affects Teugnen, fondern nur daß diefer im 
eigentlichen Sinne auf das Subject des Logos falle. Man fann 
höchſtens fagen, daß Marcell dem Afterius gegenüber aus pole⸗ 
miſcher Rückſicht in der etwas fophiftifchen Argumentation, um zu 


a) Es dürfte zu emendiren fein: ueasere müs 6 raüra eipeus Emeriua 
78 erw zu. 





Marcellus von Anchra 169 


zigen, daß durch arianiſche Zurücführung der Einheit von Vater 
und Sohn auf Willensübereinftimmung die Schwierigkeit gerade 
herauſbeſchworen werde, fich ftärker ausdrückt, wenn er fagt: örs 
nv yag EBovlsro 6 narie, djkov dy' av ö EBovksro yd- 
yowev' örı di oUx EBovlsto 6 vios, dijkov di’ dv nagasseiran, 
ober nur auch zu berüdfichtigen ift, welche verfchiedene Bedeutung 
der Sohnesname bei Marcelf und bei Athanafins Hat. Auch aus 
dem, was Zahn fonft beibringt, glauben wir nichts anderes ent⸗ 
nehmen zu Lönnen, als daß fich die hriftologifche Seite der Frage 
im wefentlichen bei ihm auf derfelben umentwidelten Stufe befindet 
8 bei feinen orthodoren Zeitgenofjen, nur daß fie bei ihm noch 
durch die befondere Schwierigkeit gedrückt wird, welche feine Logos» 
lehre im Unterſchied der athanafianifchen Lehre von der ewigen 
Zeugung mit fich bringt. Wenn durch letztere wenigftens ein wirk- 
liches Subject gewonnen wird, welches nad) Annahme bes Fleiſches 
als gottmenfchliche Perfon dem Vater gegenübertreten kann, fo bleibt 
es bei Marcell nad} feinen Vorderjägen völlig unerfindlich, wie er, 
nah Zahns Ausdruck, den Gegenfag zwifchen Vater und Logos 
fich fpannen laſſen kann bis zu dem Punkte, wo ein Ich dem ans 
deren Sch gegenüberfteht. Unzweifelhaft fol der Logos das eigent- 
liche Berfonbildende, das Ich des Sohnes fein, und andererjeits 
iſt es doch nur das Fleiſch, um deswillen und in dem er für bie 
Dauer der Heilsgefhichte als Perfon und vom Vater getrennt 
tiideint. Daher denn ſolche fchillernde Aeußerungen wie p. 51 A: 
oiroüy Evegyelg udn did rnj Omgxös ngdyaaıv äygs 
tocoirov xeyuglodm Toü nargos yalvaras, äygis od dv Ö 
mgoowWv Ts xolasws dvayarjj xaıgös. Auch die entſchiedene 
und bewußte Beziehung aller fonftigen bibfifchen Namen und Be— 
zeichnungen Chrifti, mit Ausnahme des Logosnamens, auf die ges 
ſchichtlche Perſon, auf den mit dem angenommenen Menſchen ver- 
enigten Logos, ein fruchtbarer Anfag zu einer eigentümfichen und 
lebendigen Chriſtologie, ruht fo auf einem durchaus ſchwankenden 
dundamente. Dies zeigt ſich namentlich auch in feiner Lehre vom 
Bilde Gottes (S. 108f.). Wenn er hier, was an Frühere (Zre- 
naus, auch Tatian) erinnert, die dem Menfchen anerfchaffene Gott 
tbenbildlichleit ſo faßt, daß darin der Menfc auf das angelegt und 


170 Bahn 


für das beftimmt erfcheint, was im menfchgetvordenen Logos zur 
Erfüllung kommen follte, fo daß nicht der Logos für ſich, fondern 
der menfhgewordene Logos als das Bild des unfichtbaren Gottes 
anzufehen ift, der Menſch eine Weißagung auf den Menfchenfohn, 
fo entgeht ihm der Gewinn aus diefer Auffafjung wieder dadurch, 
daß ihm diefe gottmenfchliche Perſönlichkeit nur eine vorübergehende 
ökonomtfche Bedeutung, feinen bleibenden ewigen Beſtand hat, wir 
er auf's beftimmtefte verfichert: „Deutlich und Mar ergibt ſich, da 
in einem im Vergleich zu den vorausgegangenen umd zufinftigen 
Aeonen kurzen Zeitraum bie fleiſchliche Defonomie des Logos um 
unfertiilfen ftattgefunden habe; und daß biefe wie einen Anfang 
fo auch ein Ende haben werde, hat der göttliche Paulus gefagt mit 
den Worten: ‚Dann das Ende, wenn er das Reich dem Later 
übergibt ‘* (©. 177). Es ift doch mur ein Reſultat der Ver 
legenheit, das ihm feine eigene Grundanfhauung vom Logos be- 
reitet, wenn er, barüber vollfommen ficher, daß die menſchliche 
Natur Chriſti mit dem Logos nicht vereinigt bleiben könne, feine 
pofitive Antwort zu geben vermag auf die Frage, was denn old 
bann mit dem Fleiſch Ehrifti werde, und fich dann darauf zu⸗ 
rüdzieht, daß. die Schrift darüber Leine Auskumft gebe: „Brage mid | 
nicht nach Dingen, worliber ich aus ber göttlichen Schrift nidts | 
deutlich gelernt Habe; darum weiß ich auch über jenes göttlicht 
Fleiſch, welches mit dem Logos Gemeinfchaft gehabt Hat, nichts 
deutlich zu jagen“ (©. 178f.). Es ift dies ein mit Marcells 
Grundlehre vom Logos, feinem Hervorgehen als Energie zum Zued 
ber Heilswirkjamfeit und feinem ebenfo notwendigen Rückgang zu 
jenem Zuftand der Dynamis in Gott nothiwendig zufanmenhängen 
der, aber um fo anffalfenderer Mangel, ale ſich Marcell fonft in 
Betreff des Werkes Chrifti im allgemeinen auf einen ſehr ähnlichen 
Standpunkt ſtellt wie Athanafius. Denn auch ihm liegt das Ent⸗ 
ſcheidende der Erlöfung bereits in der Thatfahe der Menſchwer ⸗ 
dung felbft, der Vereinigung des Logos mit der menfchlichen Natur, 
wodurch ber durch den Teufel verführte Menſch (d. i. die Menfd- 
heit) mit Gott vereinigt, zufammengefügt, die Kindſchaft erlangt, 
der Unfterblichfeit und Herrlichkeit theilhaftig wird (©. 166ff. 
dgl. 159). „Um dieſen Zwed der Menfchwerdung und die damit 


Marcellus den Aucyra. 171 


gegebene repräfentative Stellung Ehrifti recht beftimmt hervorzu⸗ 
Ieben, liebt Marcell folche prägnante Redeweifen wie die, daß Gott 
den durch Ungehorfam gefallenen Menfchen durch die Jungfrau 
mit dem Logos geeinigt Habe“ (S. 168) *). Umfomehr Tegt fi 
bier die Frage nahe, wie ſich denn Marcel das endlihe Schickſal 
der erlöften, verffärten und an ber Herrſchaft Chrifti teilnehmen. 
den Menfchheit, die er in ein fo Inniges Verhältnis zu dem Menſch⸗ 
gewordenen geſtellt Hat, denke, wenn doch nicht nur dies Reich mit 
dr Uebergabe unter den Water ein Ende nehmen, fondern damit 
auleih auch bie Geftalt des Gottmenfchen, welcher die Menſchheit 
fo hoch mit ſich emporgehoben, fi aufföfen fol durch Ablegung 
des Fleiſches und Ruckgang des Logos in feine Beſchloſſenheit in 
Gott. Dorner (I, 876f.) fieht fi Hier zu der Vermuthung 


3) In meinem Artikel über Marcel in Herzogs Real-Encpllopäbie IX, 23 
hatte ich, anknüpfenb daran, daß Marcel ben Sohnesnamen erft auf den 
Wenfehgetoordenen bezogen wiſſen will, auf Grund der Stelle p. 42 A 
(meldye öfter wiederholt wird) dem Marcel die Ausfage in den Mund 
gelegt, Chriſtus nenne fih davam Menſchenſohn, um anzuzeigen, daß 
an Sohn Gottes erſt Hcası, eben in der Annahıne eines Menſchen durch 
den Logos, werde. Zahn bekämpft diefe Faffung und findet vielmehr den 
Skin: daß ber Menſch (b. i. die Menfchen) durch feine Gemeinſchaft mit 
ihm zum Gottebfohn aboptirt werde. Die Worte lauten: za did roũro 
eig ubov Hsod dauzöv droudgen dAld nayrugod viov dväguinon Sav- 
tv Myaı, iva did zig roavıng duokopias Iası röv dvdgunor 
de Tg mgös auıdv xowuvlag ulov Peoö yerdadaı magaoxeudap. 
Der beſtimmte Artitel (709 &$o.), auf welchen mich Zahn verweiſt, ſcheint 
Mir meine Anffafjung keineswegs auszuſchlleßen; es kann ſehr wohl be» 
zeichnen den Menſchen, d. i. bie menſchliche Natur, welche Chriftuß annahın; 
auch dag Eufebins den Marcel beſtimmt von denen unterfdheibe, welche 
Chriſtum durd Adoption Sohn Gottes werden laſſen und überall aner- 
leune, daß er die Gottesſohnſchaft Chrifti auf die Menfchwerdung gründe, 
ift nicht widerlegend, denn Eufebius redet (p. 33 C) von folchen, die Chriſtum 
als einen wıAdv Arsewnor durch Aoption (vlt) Sohn 
Gottes werben laſſen, was durch die obige Faſſung ebenfo aus- wie das 
Andere eingefjloflen wird, daß bie Gottesfohufchaft Cprifti auf der Menſch- 
werbung ruhe. Gleichwol gebe ich nad; Vergleihung der Stellen, in 
welchen Marcel den Menſchgewordenen in jene unmittelbare Verbindung 
mit dem Menſchen, d. i. der Menfchheit fett, Zahn auch in der Er— 
Mäcumg der obigen Gtelfe Recht. 


17a Bahn 


gedrängt, Marcel denfe auch das endliche Ziel der Menſchhelt als 
ein Erhobenwerben derfelben in das göttliche Wefen, daß in diefem 
Sinne Gott fei alles in allem; die Knechtögeftalt müfje auch von 
ihr, wie von Ehriftus ihrem Herzog, abgeftreift, alſo die Menſch- 
heit aufgehoben und in’s göttliche Wefen gerüdt oder verwandelt 
werden. Allein wir müffen geftehen, daß uns Zahn von der Un: | 
haftbarfeit diefer Folgerungen überzeugt hat. Es ift dafür nament- 
lich wichtig, daß Marcell die bkonomiſche Königsherrſchaft des Menjd- | 
gewordenen, welche im Gerichte gipfelt und alsdann in der Ueber: 
gabe an den Water ihr Ende erreicht, beftimmt unterfcheidet von | 
der allgemeinen Königsherrfchaft Gottes, an welcher der Logos als 
ſolcher Theil Hat. Es bedarf dann nicht mehr jener theilweifen | 
Herrfchaft, da er des ganzen Alls König ift (p. 51 D). And 
darauf macht Zahn wol mit Recht aufmerkfam, dag Marcel, melde 
durch den Menfchgeworbenen die Menfchen zur Unfterblichkeit und | 
Unvergängfichkeit geführt werden läßt, im Betreff des Fleiſches Chriſti 
die Inſtanz nicht gelten Tafje, daß es durch feine Erhebung zur | 
Unfterbficjteit der Gottheit würdig werde, dr od n&v One 
dsdvarov, vodro &ıov Jeod. Das Unfterbliche fei damit not | 
nicht wirbig, mit Gott geeint zu werden, wie dies die Engel, Her 
ſchaften und Mächte zeigten, welche, obwol unfterblih, mit der 
Einheit Gottes nichts zu thun haben. Ein Schluß auf den Zu- 
ftand der verflärten Menſchheit Liegt nahe. Aber freilich Tiegt es 
nicht bloß am Schweigen des Marcel oder der von Eufebius mit- 
getheilten Fragmente über biefen Punkt, daß die Vorftellung von 
dem endlichen Zuftande der erlöften Menfchheit im Dunfel bleibt, 
fondern daran, daß der Grundgedanke Marcells vom Logos und 
von Ehrifto ihn Hier im Stiche läßt. Auch Zahn erfennt die Un 
volfftändigfeit und‘ Unficherheit an, mit welcher er da8 Verhältnis 
der erlöften Menſchheit zu Gott erft gefaßt habe. „Nur gelegent- 
lic) hatte Marcell den Heifigen Geiſt als das die Gläubigen mit 
Gott und dem Logos Verbindende bezeichnet; von einer Rückkehr 
des Geiftes, deſſen Hervorgehen er mit dem des Logos paralfelifirt 
hatte, redet er nicht, weil ihm der Gedanke einer aus eigener Kraft 
fortlebenden Menſchheit chenfo fern lag als der einer Vernichtung 
ober Verſchlingung in’s göttliche Leben, Aber er gab diefem Glau- 


Marcellus von Anchra. 173 


benartifel feine weitere Folge für den Abſchluß feines Syſtems. 
Er bedachte nicht, daß es gerade nach feiner Auffaſſung der johan⸗ 
neifchen Stellen vom Geiſt der menſchgewordene und auferſtandene 
Chriſtus ift, von welchem der Geift ausgeht. Auch dem Gedanken, 
deß Chriftus das Haupt der neuen Menfchheit fei, gibt er nicht 
die Folge, welche ex hätte haben können.“ Schon hierin wird aber 
ziel behauptet; denn es ift, gerade wenn Marcell fo, wie Zahn 
befauptet, den Geift bewußter Weife in das göttliche Wefen er- 
hoben Bat (f. o.), nach feinen Vorderfägen völlig unerſichtlich, wie 
ıt demſelben in der verflärten Menfchheit eine bleibende Wirkfam- 
kit zufchreiben fönne,. da eime ſolche nur aus der Erſchließung der 
göttlichen Monas durch das Hervorgehen des Logos gemonnen 
werden kann, letzteres aber nur ein vorübergehendes bkonomiſches 
Verhältnis des Logos iſt, weiches wieder aufhört, wenn ber Logos 
das wird, was er vorher war. Hier verläßt den Verfaffer, mie 
er felbft (S. 244) eingeftehen muß, die Parallele zwiſchen Marcell 
und Irenäus, die er mit folder Vorliebe verfolgt, daß er geneigt 
it, einen directen Zufammenhang zwiſchen beiden, fei e8 durch Ber 
lanntſchaft des Marcell mit des Irenäus Schriften, fei es durch 
fine ums verborgene Ueberlieferung zwiſchen ber vorberaftatifchen 
Theologie des zweiten und ber galatifhen des vierten Jahrhuuderts 
anzunehmen. Gerade darin findet er ja das Verdienft des Marcell, 
dh er aus den Gleiſen alexandriniſcher Theologie Heraus und den 
Spıren der gefunden Schrifttheofogie des Irenäus nachgegangen 
fi, — eine mehr reaftionäre als revolutionäre Erſcheinung. Allein 
mie wir oben unfere Meinung dahin ausgeſprochen, daß Zahn den 
Einfluß der gleichzeitigen fpecufativen Bewegung des Logosbegriffes 
auf Marcell unterſchätze, fo müffen wir hier jagen, daß er aud) 
den Jrenäus wieder zu marcellianifch auslege. Obwol er (S. 241) 
werfennen muß, daß ja, wie offenbar, bei Irenäus der Sohnes» 
griff eine ganz andere Stellung hat, da er hier feineswegs für 
den Menfchgeworbenen refervirt wird, meint er doch bei ganz ans 
derer Ausdrucksweiſe denfelben Gedanken im Hintergrunde zu ent- 
deden, welchen Marcel durch feine Unterfcheidung der duvanıs 
ud &vsgysca ausdrüdt, nämlich den Gedanken einer erft gewor⸗ 
kenen öfonomifchen Selbftanordnung Gottes, in Folge deren erft 


174 Zahn 


ber Logos zu Gott in das Verhältnis des Sohnes zum Vater trete; 
fo daß alfo bei Irenäus der Sohnesname etwa dasfelbe auszu- 
drüden Hätte, was bei Marcell der Logos 7 Evegysın. Der Br 
weis hierfür (S. 242f.) ſcheint mir ein fehr ſchwacher. Wenn 
Srenäus (II, 28, 6f.) fagt, niemand kenne in Wahrheit die pro- 
latio oder generatio oder nuncupatio oder adapertio, ober wie 
man auch fpnft die generatio fili bezeichnen wolle, das Berhält- 
nis fei und bleibe ein inenarrabile mysterium, niemand hefamt | 
als dem Vater, qui generavit filium, und dem Sohn, qui natus 
est, fo fpricht der Zufammenhang entjchieden dagegen, daß renäus | 
bier nur von einem neuen Verhältnis des bereits vorquqgeſetzten 
Logos zu Gott yebe, weil er unter anderem auch bexgit jei, fh 
den Ausdruck nuncupatio gefalfen zu laffen, aljo „eine Namen 
gebung, Anerkennung eines neuen Verhältniſſes, in weldes fih 
Gott erft zum Logos fee“. Der Fortgang der ganzen’ Stelle | 
ſpricht entſchieden Hiergegen, wo Irenäus ſagt, Pas wiſſe freilich 
jeder, daß beim Menſchen aus dem Denken und Verſtand das Wort 
hervorgefchiett werde. Es fei alfo feine große Erfindung, noch ei 
verborgenes Myſterium si id quod gab hominibus intelligitur,| 
transtulerunt in unigenitum dei verbum. Auch di 
Irenaus fonft alles Werden und Anfangnehmen vom Sahne aut) 
fchließt, beweift im geringften nicht, daß er Bier, mo er die ange| 
führten Ausdrüde alle als das Geheimnis nicht erreichend bezeichnet, 
bloß an ein ökonomiſches, nicht an das ewige Weſensverhältnis von) 
Vater und Sphn denke. Ebenſowenig läßt ſich diefe Anficht er 
härten aus der Stelle II, 22, 3; hier ſchreibe Irenäus, jagt 
Zahn, dem vorweltlichen Chriftus die Eigenſchaft eines salvans 
zu, um bderentwillen. nothwendig ein Object feiner falvirenden Thi‘ 
tigkeit gefhaffen werden mußte, damit er die Fähigkeit dazu nicht 
umfonft befige*). „Würde er ſich diefe Beftimmtheit des vor: 
weltlichen Chriftus ewig, immanent denken, fo würde er bamil 
feinem unermüdlich) wiederholten Sage von ber Freimilligfeit, Zeit 
lichleit, Willfürfichkeit der Schöpfung vollftändig widerſprechen 





&) Cum praeexisteret salvans, oportebat et quod salvaretur ſieri, ul 
non vacuum sit salvans. 


Mareellus von Ancyra 


h dieſer Drang der Selbſthingabe, u 
ans ift, muß alſo ein gewordener feiı 
völlig eingetragen und thut dem Go 
cht. Die Freiheit, das Ungenöthigte d 
Gottes, fteht bei ihm lediglich tm Gegı 
fatafiftifch gedachte Nothwendigkeit nad 
m, und erhält gerade bei ihm mit b 
ive Ergänzung in der Teleologie des 
je uns wie nichts anderes gerade in di 
n läßt. Weder die Freimilligkeit, ı 
ipfung darf uns veranlafjen, diefen W 
Willkur und zu einer bloß acceſſoriſchen 
ion herabzuſetzen ®). Weberhaupt aber ı 
twilfigfte die große Bedeutung des Ir 
Öegenfag gegen die Gnofis, die TH 
t Specufationen auf den Boden der ( 
t Offenbarungsthatfa_hen in Schöpfi 
dzuführen fucht und daß er hierin mit ı 
als die älteren Apologeten und auch 
ne zwifchen der Wiſſenſchaft vom Ehri 
e zu ziehen unternommen hat. Wi 
Tauſchung Halten, daß er deshalb der 
iven Momente ganz entrathen fünne, ı 
Gott nach feinem Weſen und feiner € 
m öfonomifchen Verhältnis“ rede (S. 
t Bekämpfung der Gnofis, z. B. fein 
eit nicht bloß, fondern die Einfachheit 
ı deshalb wird man ihm aher feine E 
Verhaltniſſes des Logos zum Vater : 
m anrechnen dürfen, ſondern auch einer 
n das kann doch nicht als gute Schrifttf 
ı man folche Begriffe, wie den Logos— 
nt und „gelten läßt“, ohne fie in Har 
sten Gottesbegriff zu bringen. Nur bi 





Bgf. dagegen meine Geſch. der Kosmal., S 


76 Kritzler 


in ſolcher Mangel hier, wo der Schwerpunkt der ganzen The 
ogie in dem liegt, was wir (Geſchichte der Kosmol., ©. 1303 ff 
ils religiöfe Teleologie charafterifirt Haben, meit weniger verhän 
nisvoll wird, als der ähnliche Mangel bei den Apologeten in iht 
iberwiegend ontologifchen Betrachtungsweife. 


W. Mölter. 


2. 


Humanität und Chriftentum. Bon Heinrich Kritzle 
Erfter Band: Humanität und Offenbarung. Goth 
Friedrich Andreas Perthes. 1866. 





Verfaffer möchte mit diefer Arbeit zur chriſtlichen Apologetit u 
Irenit beitragen. Wol fieht er nach dem Lärm der Verfafjung 
rage eine Zeit ruhigerer Erwägung gelommen; aber bie Feldzeich 
ver Zerwürfnis find aufgepflanzt geblieben. Er findet Troſt u 
Dülfe allein in der alten, ewig neuen Loſung des chriſtlichen Geifte 
Bertiefung, Verinnigung, Vereinigung; über Ordnung und We 
Theorie und Gedanken bleibt das Recht des Grundprincips, t 
entralen Wahrheit; Erftarfung des inneren Lebens allein brir 
ınd auf den heiligen Boden. Im Verkehr mit den manigfadft 
Anſchauungen und Standpunften ift Verfaffer überall dem Ning 
iach der großen chriftlichen Einheit begegnet. Er verfennt nicht 
Nothmwendigkeit, in der Manigfaltigkeit umfomehr das Eigene u 
Deimifche zu wahren. Aber in aller Spnderung bleibt das Re 
viefes einen Bodens, des Belenntniffes zu der ecclesia u 
zancta catholica. Die Wahrheit und das Recht, die in der alt 
Eonfeffion und modernen Union liegen, einigen ſich in Höhen 
roncentriſcher Anſchauung. Ubi veritas, ibi ecclesia. 

Alfo Irenik will Verfafer. Die Verſöhnung der Gegenfä 


Humanität und Chriſtentum. 177 


ift ihm nicht bloß ein frommer Wunſch, ein ideales, in ber Luft 
ſchwebendes Ziel, fondern eine Pflicht, an beren thatſächliche Er- 
fülung er geht. Das ift fhön, fo felten es ift im unferer Zeit. 
Es wird erft recht ſchön umd werthvoll, weil nicht Indifferentismus 
den Verfaffer treibt, nicht die zweifelgafte Liebe des Fühlen, falten 
Glaubens, fondern die warme Liebe des innigen, lebendigen, pofi- 
tiven Glaubens. Er will eben nicht Irenik bloß, er will auch 
Apologetik. Er erfennt, welche Schwierigkeit der chriſtlichen 
Apologetit daraus erwächſt, daß das Chriftentum die materia 
vmmunis für alle Welt und die materia individua für jede 
&bensfphäre ift; aber er ift doch mit Vertrauen erfüllt, weil er 
über die Aufgabe feines Berufs und über die heiligfte Aufgabe 
fineg Lebens ſchreibt. 

Daß Verfaſſer auf dem Standpunkte des poſitiven evans 
geliſchen Glaubens fteht, leuchtet überall deutlich und erhebend 
hervor. Obwol er gern, wie wir fehen werden, von Allen lernen 
will, will er es dod als ein Freier und kann darum gar Manche 
mehr lehren, als er von ihnen zu lernen vermag. Er dedt bie 
Schäden der modernen Naturwiſſenſchaft mit den feharfen Worten 
auf: „Es ift Befangenheit, wenn fie, von dem Schöpfungsreichtum, 
den fie auf dem einen Gebiete gefunden Hat, geblendet, feine weis 
teren Gebiete anerkennt; es ift Anmaßung, wenn fie überall da, 
no das Recht des Glaubens mit ihren Theorien in Conflict kommt, 
dhne weiteres verlangt, daß der Glaube fi) auf Gnade und Un— 
mode ihr ergeben foll. — Noch heute gilt von ihr Plato's Wort: 
öl almdwov weudog.“ (©. 60.) Er geifelt gleich darauf die 
Materialiften: „Sie negiren das Jenſeits, weil, wie fie fagen, fie 
zur das Diesfeits klennen, und leugnen den Geift, weil noch fein 
Anatom und Phnfiolog mit der Loupe und dem Secirmeſſer ihn 
nachgewieſen Hat. Dieſe Leugnungen deſſen, worin nicht bloß alle 
Gründung der Vergangenheit, fondern ebenſo alle Freiheit, Sitt⸗ 
lichleit, Freudigkeit und Verantwortlichkeit beruht, diefe frechen Per- 
nunciamentos der Fleiſchesvergötterung, die, auf die Autorität der 
Wiſſenſchaft geftügt, auf der Gaſſe vernehmbar werden, dieſe 
Menſchen, welche .. Gottesfurdt . . für Thorheit erklären: — — 
fein Wunder, wenn fromme Chriften dadurch an die PHilofophie 

Tool. Stud. Jahrg. 1869. 12 


178 Krigler 


des Thieres erinnert werben, das aus dem Abgrunde auffteigt u 
gegen die Wahrheit ftreitet.“ (S. 61f.) Er Hält dem Panthe 
mus feine verderblihen Confequenzen vor, daß er zum ohnmäch 
werdenden Gott und zum vermejjenen Menfchengotttum führe. 

züchtigt die Gegner des Glaubens, die „mit ihrer fogenannten V 
ausfegungstofigfeit fich breit machen“. „Das Dilemma heißt daı 
‚Schrift oder Geift‘ — ‚Glaube oder Vernunft‘ — ‚Natur o 
Offenbarung‘. Das Chriftentum gilt als Werkzeug der Finf 
nis, der Glaube als niedere Stufe; er ift in der Civilifation 
zurüchgebliebene, unbequeme Wilde, der vor dem Wiffen von % 
zu Tag mehr weichen muß. — 8 ift aber ein Zeichen unfe 
Sprad- und Denkverwirrung, wenn das Dilemma wie oben 
ſtellt werden konnte. Es handelt fid) Hier um Glaube wider Glau 
Schrift wider Schrift, Geift wider Geift, Vernunft wider Vernun 
(S. 60). Alte Geſchichte der Euftur ift dem Verfaſſer eine gr 
Verfinfterung, wo nicht als das Ziel des Fortſchritts ein ne 
Himmel und eine neue Erde mit Tebendig befeelten neuen Ereatu 
erfteht (©. 55). Er fagt von der modernen Bibelkritik: „Q 
als Heiliger Tempel in der Geſchichte, als frifche Lebensquelle 
den Herzen fteht, wurde unter ihren Händen zum chaotifchen Tri 
merhaufen. Ehriftus wurde das Naturfind Renans, das die Fra 
entzüdt, der Schenkel'ſche Erlöfer, dem alles das fehlt, das erlö 
kann. — Trog aller Halbheit und Verhüllung ftehen wir fu 
bei dem Dilemma: Jeſu Erfheinung war entweder die des Soh 
Gottes, ober die eines Betrüger und Betrogenen.“ (©. 18 
Die Religion der fogenannten gefunden Vernunft erflärt er für 
de8 profanen Unverftandes, hier der Menge, dort des Einzel 
(S. 157). Feſthaltend an der centralen Bedeutung des Glaube 
nennt er die gegnerifche Forderung: „erft muß ich erkennen, da 
glauben“, ein für die chriftliche Erkenntnis unwürdiges Hpfter 
Proteron. „Wie kann der Geift der profanen Seele die Schlüſ 
der himmliſchen Welt: übergeben, wie ihr den Wunderftab, d 
Xebensbaum, den Leuchter auf dem Altar begreiflich machen? D 
Weltheiligtum muß dem gottabgemandten Sinn das Welträtf 
bleiben.“ (©. 344). Die Offenbarung ift dem Verfaſſer die al 
einige Quelle göttlichen Lichts. Mit grhabenen Worten eines ti 


Humanität und Chriftentum. 179 


gläubigen Sinnes verjenft er uns (S. 89. 129) in den Geiſt der 
altteftamentfichen Prophetie und Täßt Jeſaja weißagen von Jeſu 
Erniebrigung, „als ob er felbft unter Chrifti Kreuz gefeffen“ 
(&. 287). In der Krippe zu Bethlehem ſchaut er die Liebe, die 
Scepter und Thron verlafien und eine Herrlichkeit und Größe ger 
finden hat, wie fte der Thron nie geben konnte. Aber freilich: 
„man muß dasfelbe“ — das gottfelige, höchſte und feligfte Ge- 
heimnis — „mit chriftfichem Ange anfehen und etwas von dem 
großen Weltruthſel verftehen, das überall das Nahetreten und Herein- 
heten des Unendlichen in das Endliche finnbildet und verkündet“ 
(6.220). Den Wimderbeweis Hält er nicht für die große Schwäche, 
fondern fir die große Kraft des Ehriftentums. Nicht daß Chriftus 
heilt und auferweckt, fondern daß das Auge erblindet, daß ber 
Bruder, die Schwefter ftirbt, das ift gegen die Natur. Chriſti 
Vander find das Aufrichten der wahren Natur; ihre Gefege find 
für CHriftum wicht Ketten, fondern Fäden, dienende Gewalten, 
welche feinem höheren Geſetz gehorchen und feine mächtigere Geiftes- 
kraft verherrfichen (S. 246). Ja Berfaffer ift fogar z. B. in 
ber Lehre von den Sarramenten ſpecifiſch lutheriſch (S. 293); er 
ft orthodor, obmol er die Schäden und Gefahren des Orthodogis- 
ms mit ſcharfen Worten aufdeckt (S. 157). Ein tief ethifcher 
Ernft ift die Frucht dieſes feines entfchiedenen Glaubens. Er 
froft dte „weichfiche eudämoniſtiſche Sentimentalität, die ſich der 
Ltergiite Gottes auch ohne Chriſti Verdienft und Mittlertum glaubt 
tröften zu Können“. „Das Wort Gnade und Sünde und noch 
mehr das Wort Zorn umd Fluch wurde unferer Bildung anftößig. 
Sie Hat das Wort ‚Fehler‘ und gefällt ſich darin, einen Judas 
tein, einen Hohen Rath unfchuldig, die Verdammten feltg zu ſprechen.“ 
(©. 268.) Mit demfelben tiefen Ernſt ruft er der modernen 
Leichtfertigkeit Clans Harms' herbes Wort in bie Seele: „Ehedem 
fi man fich doch noch die Vergebung Geld koſten, jet vergeben 
derren und Damen ſich ihre Sünden felber* (S. 273), und fpricht 
&.299: „Unfere Zeit ift voller Zukunftspläne, aber fie hat wenig 
Empfängfichfeit für diefe“ (die apokalyptiſch⸗eschatologiſchen) „Worte, 
die in Mark umd Bein erfHütterndem Poſaunenton das: ‚Höre, 
ber Ohren Bat zu hören‘ in's Herz rufen.“ Mur tief ernfter 
12° 


180 Krigler 


Herzensglaube kann fo über den neuen Menfchen ſprechen, wie 
Berfaffer (S. 67. 132 ff.), und über das Gebet (S. 149). 
Wir haben Beweife dafür genug gebracht, daß Verfaſſer nidt 
aus Indifferentismus, fondern enfcieden im lebendigen Glauben 
ftehend, die Verföhnung will. Iſt nun an diefer theologifch » philor 
ſophiſchen Dogmatik - Ethik, wie wir das voliegende Werk bezeichnen 
möchten, ſchon die Fülle und Tiefe der eigenen Gedanten 
und Gefühle des Verfaſſers charalteriſtiſch, fo ift mod mehr 
überrafcgend die wahrhaft erſtaunliche Belefenheit und 
Bielfeitigfeit der Bildung, von der das Werk Zeugnis 
ablegt. Da wird die Literatur aller Zeiten benugt; aus allen Ge⸗ 
bieten der Wiffenfhaft, der Kunft, der Natur und des Lebens 
werden in reichſter Zahl lehrreiche Anwendungen, treffende Ver⸗ 
gleiche, fefte Stügen gezogen, und alles wird durchhaucht von dem 
Wehen bes Geiftes des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung, 
denn voll Hoffnung zumal ift diefes Bud. Verfaſſer fegnet feinen 
Beruf, weil er ihn zu den ewigen Quellen des Lebens führte und 
ihm die Gebanfenarbeit der riftlichen Geiftesmänner, der begab- 
teften, reblichften und tiefften Menſchen nahe brachte. Das Wort 
der bewährteften Männer, das dieſe aus dem inneren Geſetz de 
Geiftes und dem iuneren Triebe des wirklichen Lebens heraus 
geſprochen, nennt er die Stimme der wahrhaften Tradition. Er 
hat auf's fleißigfte und empfänglichfte diefer Stimme gelaufcht, er 
läßt die Worte der Bewährteften in feinem Buche allenthalben 
wiederhalfen und gibt feine Blumenlefe nicht in trockner, ſchablouen⸗ 
artiger Aufeinanderfolge, fondern er verwebt die fremden Gedanten 
mit feinen eigenen, er läßt fi von ihnen erfüllen und erfüllt fie 
mit friſchem Geift und Leben *). Nach Titel u. f. w. citirt werden 


2) Es ſei uns geflgttet, die Schriftfteller, aus denen Berfaffer Stellen anführt, 
zum Theil zu nennen. Aus dem theologijchen Gebiete begegnen uns 
von ben Kirchenlehrern: Irenäus, Tertullion, Eyprian, Ignatins, Clement 
Alerandrinus, Arnobius, Lactantius, Auguftin, Makarius, Theognis, Lo 


der Große; ans dem Mittelalter: Anjelmus, Tauler, Sufo, Meifter Edart, 


Thomas a Kempis; von neueren: Lamenais, Hamann, Oetinger, Binet, 
Monod, Claus Harms, Sartorius, 3. P. Lange, Grau, Ebrard, Nitih, 
Culmann. Ebenſo ift die Philoſophie aller Zeiten vertreten: Plato, Herallit, 


Humanität und Chriſtentum. 181 


dagegen nur einzelne wenige Schriften, die ihm unmittelbar bei der 
Niederfhrift zur Hand waren. Weiteren gelehrten Apparat hinzus 
fügen, lag nit im Zweck feiner Arbeit. Stellen der heiligen 
Schrift führt er in großer Zahl an; er erfaßt fie mit theologifch- 
philoſophiſcher Tiefe und dedt die im ihnen liegende Fülle auf; 
*jelten citirt er fie wörtlich; er wendet fie, fo zu fagen, pneumatiſch 
an. Ueber die kirchlichen Dogmen und ihren Inhalt geht er Kurz 
und zuftimmend hinweg und ergeht ſich dann in Reflerionen über 
die Hauptpunkte des Dogmas, ſchöpft aus der Tiefe desfelben neue 
lehendige Gedanken; fo beſonders Kap. 10 u. 12. 

Ein Grundzug der Methode des Verfaffers ift der Gegen» 
fag und der Vergleich. In tieffinnigen Gegenfägen bewegt fi 
infonderheit das Kapitel von der Menfchwerdung des Gottesfohnes. 
Die Mythologie, die Medicin, die Muſit, die Natur zumal (S. 59. 
159. 162. 165. 260f. 296f. 301. 329): alles, alles bietet ſich 
im zu trefflihen Vergleichen dar (S. 35. 37. 53. 58. 74. 76. 
80. 99. 100. 103. 113. 115. 187f. 192). Ueberhaupt ift fein 
Stil edel, ſhwungvoll, erhaben, und dabei doch nichts Ger 
ſuchtes, alles Natur und Geift. Gedankenblitze, in Worte gefleidet, 
die den Nagel auf den Kopf treffen, erheben und entzunden das 
Herz des Leſers (©. 9. 12. 14. 17. 19. 20f. 54. 58. 60. 79. 
107. 112. 125. 176. 289. 345. 351f. 354, infonberheit ©. 129. 
132. 157). Wie ſchön und wahr redet er z. B. ©. 91 vom 
Ride Gottes und ©. 162 vom Erfennen im Geift und in der 
be)! Mit wie erhabenen Worten ſchildert er ©. 98f. die ber 


Philo, Seneca, Epiktet, Campanella, Jakob Böhme, Pascal, Carthefius, 
Leibnitz, Rouſſeau, Spinoza, Kant, Fichte, Hegel, Schelling, Laffaufg, 
Sarlyle, Baader, Görres, Guizot, Steffens, Schoppenhauer, Job. Fr. 
dv. Meter. Berfafer ſchöpft aus Napoleon I., Bunfen, Stahl, Beleler, 
3. ©. Schubert, Alex. v. Humboldt; aus Dichtung und Profa der Belle- 
triftik: Sophoffes, Dante, Schiller, Goethe, Leffing, Herder, Jean Paul, 
Bettina, Byron, Bogumil Col, 2. Schefer; er hat ſich endlich auch im die 
Schöpfungen bes Drients verjenft: Rabbinen, Dſchilaheddin, Mehmed, 
Bhagavad + Gita. 

3) „Die Seele wird von Gott belehrt und von ihm genährt; je mehr fie 
mit ihrem ganzen Leben es vermag, in das Ueberfinnliche ihre Wurzeln 
einzufchlagen, umfomehr erfährt fie deffen Keimkraft, und in ihr den Pro- 


182 Rrigler 


feligende Kraft und Fülle, das Bewußtſein des echten Lebensgutes, 
das in dem Mofterium ruht, redet er (S. 275) über das alt 
teſtamentliche Heiligtum, führt er (S. 182) das Wunder der Er 
ſcheinung Eprifti vor die Augen des Glaubens *), drüdt er (©. 189) 
die Zuverficht des chriftlichen Glaubens auf den Sieg des Evan 
geliums aus!) Umd „die Liebe aller Liebe“, das Wunder des 
Kreuzes, feine Macht, fein Segen, bewegen ihn zu dem erhabenen 
Worten: „„Gott ift in Chriſto verföhnt, fein ewiger Zorn hat fih 


ceß, in dem alle Diffonanzen von Wiffen und Glauben überwunden werden, 
weil darin weber Wiffen noch Glauben bleibt, fondern allein bie Lieb, 
welche nicht glaubt und nicht nah, ſonderu ſelig ſchaut.“ 

a) „Verbum caro factum est. Die Erſcheinung des von dem Himmel ge 
ſchenkten, von der Erde empfangenen Wunders, die Hütte von Bethlehem, 
umrauſcht von ben Iobfingenben Geiftericharen, bie Herrlichkeit des neun 
Himmels, deſſen Klarheit fi in der Erdennacht aufthut, Auguſtus, Ser 
rodes, die Schriftgelehrten, die Weifen, die Engel, bie Hirten, die jauch 
gende Prophetie der beiden Hocjbetagten im Tempel, das Paradies der 
Kinder, die Weihnachtsfeier der Ehriftenheit, dieſes Feſt, die metropolis et 
fons omnium: barin eine mit jedem Feſttag neu werdende Fülle von 
Borbildern, BVereitungen, Wirklichteiten. Das Kind in. der Krippe, dr 


Prophet mit dem Geifteswort und dem Ziefblid, der Dulder mit m | 


Dornenkrone, der Auferflandene und gen Himmel Fahrende mit feinem 
Siegeöglanz, der König mit der Weltkugel, der Richter vom jüngften Tage: 
darin der göttlichen Liebe höchſtes Kunftwverk, ‚Gottheit und Menjchheit in 
Einem geeinet‘,* 

b) „Es iſt die apoftofifche Zuverficht, daß die göttliche Thorheit weiler 
fei als die Menſchen, und die göttliche Schwachheit ſtär ker fei ale 
die Menſchen. Da die ungebildeten Fiſcher und Zöllner vor achtzehn 
Hundert Jahren ihre Botſchaft von Ehrifto begannen, verlegten fie mit 
biefen wunderbaren Gejchichten, biefen myſtiſchen Geboten Geſetz und Gitte 
jedes Haufes, befeidigten fie das Nationafgefühl von Hellas und Rom 
ebenfo wie bon Israel, traten fie der Aufflärung der Philofophen und der 
weiſen Politit des Staatsmannes ebenſo wie den Vorurtheilen und ber 
Sittficeit der Menge entgegen; aber damals dachte ſelbſe der vorurtheils⸗ 
freiefte griechiſch · römiſche Kosmopolit nicht daran, daß, was in biefen Ber- 
achteten und Berfannten fo fill und wunderbar feimte, und deffen Symbol 
das Marterholz des Sclaven war, über die Götter des Olymps und bie 
Macht des Kapitols den Sieg erringen, das Kreuz über die Krone der 
Caſaren aufpflanzen und mit dem Evangelium von dem getöbteten und 
auferftandenen Nozarener die Welt umgeſtalten würde.“ 


Sumanität und Chriſtentum. 188 


in ewige Gnade verwandelt.‘ In diefer Wandelung bleibt das 
eine Wefen Gottes, und in diefem Weſen die eine Heiligkeit und 
Gerechtigkeit, und die eine erbarmende Liebe. Aber der berühmte 
Ausruf der hriftlichen Seele: ‚O felix culpa, quae meruit ta- 
lem habere redemptorem‘, fennt über dem erften Reich das 
höhere Reich, neben der erften bereitenden die volltommene Mani- 
feftation der Liebe Gottes, in diefer göttlichen Thorheit des Lammes 
Gottes, im dieſer Lauterleit und Herrlichkeit der fich felbft ver» 
geffenden, durch Demut und Entäußerung unmiderftehlichen Liebe, 
welche mächtiger als alle Macht, allem Widerfpruch des Hoffärtigen, 
felöftgerechten Menfchenherzens entgegen, aus dem Fluch den Segen, 
aus dem Tode das Leben wirkt“ (S. 207f.). 

Dagegen müſſen wir zweifeln, ob wir uns, in Ruckſicht auf den 
nem guten Buche von biefer Tendenz doc zu wünfchenden grö- 
heren Leſerkreis, einer anderen Eigentümlichkeit der Diction des 
Berfafjers ebenfo freuen dürfen. Sein Stil ift nämlich in feltenem 
Grade brachyologiſch, prägnant. Sicherlich ift ja zwar diefe 
Tiefe und Fülle der Gedanken bei wenigen Worten in hohem Maße 
anziehend; ebenfo gewiß ift, daß, wo die Gedanken ohne Zuſam⸗ 
menhang aneinander gereiht ſcheinen, ein tiefer innerer Zufammen- 
hang befteht: allein diefe gedrängte, änigmatiſche Sprache ſetzt eine 
hohe Bildungsftufe beim Lefer voraus und Hindert das Buch, ein 
kiht zugängliche, in feiner ganzen Gediegenheit bald offenbares 
ud fegensreiches Gemeingut aller Gebildeten und für den erha- 
benen Gegenftand warm ſich Intereſſirenden zu werden. 

Berfaffer Hat feine Arbeit in zwei Bünde getheilt; der zweite 
Band ſoll die praftifche und Hiftorifche Seite des Gegenftandes 
darftellen. Der vorliegende erfte Band legt bie ihm zugefallene 
theoretiſche Seite in vierzehn Kapiteln dar. Im erften Kapitel: 
„Die Frage nad Humanität und Chriftentum“, flößt 
Lerfaffer fi und dem Lefer Muth und Freudigkeit zur Erfüllung 
der Aufgabe ein. Iſt Humanität und Ehriftentum auch ein viel- 

beſprochener Gegenfag, fo doch auch eine tiefbedeutfame Harmonie, 
Der Streit um das Chriftentum ift der Streit um das gotterfüllte 
Menſchendaſein. Wir ſollen nad; dem hohen Ziel des Lebens des 
Menſchen und Chriften den Weg forfchen, und weil wir's follen, 


184 Rrigler 


Können wir's. Zuvor aber muß Verfaffer (Rap. 2) mit den mo⸗ 
dernen Humanitätsanfhauungen ſich auseinanderfegen. 
Er findet in ihnen die moderne Zerriffenheit. Humanitat heißt 
ung Recht und Bildung jedes Einzelnen, Humanität ift uns aber 
auch Organifation. Und do fehlt und der zur rechten Organi⸗ 
fation nöthige freie Menſch. Als den einzigen Weg zur Freiheit 
und Einigung nennt Verfaffer den, daß die Tiefen des criftlicen 
Mofteriums fi) vor und aufthun, und fo die Geifter den Höheren, 
einigenden Mittelpunkt ihres inneren Lebens gewinnen. Der wahr 
hafte Menfch ift der religiöfe Menſch. Verfaſſer bahnt ſich weiter 
den Weg zur Löfung feiner Aufgabe, indem er (Kap. 3) die Eins 
heit des Lebens aufſucht. Cr betont Hier den Begriff der Per⸗ 
ſonlichkeit. Das Menfchenleben ein Chaos, die Perfünlichkeit foll 
daraus werben; aus und in der Entfaltung des Beſondersſeins 
entfteht da8 ineinander des Lebens. Er weift darauf Hin, daf, 
wie in der Schöpfung Anfang und Ende, fo im Geiftesleben Frei: 
heit und Nothwendigfeit gefchieden und geeint find, daß aber wit: 
derum nur die chriftliche Anſchauung das wahrhafte Centrum des 
AUS, die Liebe, kennt. Die Natur verflärt der Geift; der endliche 
Geift führt zum allwaltenden Leben des ewigen Geiftes; die Hir 


gabe an diefen und die ewige Vollendung in diefem ift Quell, Kraft | 


und Ziel aller wahren Humanität. Hiermit hat Verfaffer dann 
zugleich da8 centrale Leben (Rap. 4) gefunden. Das „in Gott“ 
zeigt er als den großen Lebensfactor, der das Reale und Idealt 
des Lebens in eins umbildet. Gerade die hieraus folgende For- 
derung der Wiedergeburt verfteht aber das moderne Antichriftentum 
am wenigften; die Medicina coelestis, welche die Seele in das 
Neich des Lebens verfegt und darin erhäft, ftrömt nur aus dem 
Evangelium. 

Hat Berfaffer fo, die Löſung feiner Aufgabe vorbereitend, gezeigt, 
wie alle wahre Humanität zum Chriftentum hindrängt als ihrem 
Quell, ihrer Kraft, ihrem Ziel, fo führt er jet, an die eigentliche 
Löfung gehend, in's Heiligtum der criftlichen Offenbarung, aus 
der Welt in den Tempel Gottes ein. Das Chriftentum — zeigt 
Kap. 5: der Hriftlihe Humanitätsbegriff — will nidt 
Frieden mit dem Menſchentum um jeden Preis, es will fi nicht 


Humanität und Chriftentum. 185 


an die in der Menfchheit ihm wiberftrebenben Elemente gefangen 
geben; vielmehr ift der unverföhnfiche Kampf des Chriftentums 
gegen den Gegenfag, den es in der Menfchheit findet, gerade das 
Durchgreifende umd Charafteriftifche des bibfifchen Humanitäts- 
begriffes. Aber das Chriftentum will, indem das Weſen Gottes 
das reicherfüllte Leben der Ereatur wird, die ganze Menfchheit ver- 
Mären, vereinigen und vollenden; e& will, die Welt in ihn beſie⸗ 
gend, den Menſchen zum wahren Menfchen machen, es will dies 
durch die Offenbarung. Das Aergernis der Welt am Myfterium 
m beſchwichtigen, zeigt Kap. 6: Myfterium und Offenba- 
tung, daß gerade aus dem verborgenen Abgrund bes Myſteriums 
der Inhalt der Offenbarung als Licht dem Geifte aufgeht und ein 
neues Geiſtesleben bringt. Als Fundament der Offenbarung nennt 
Verfaſſer die Gnade. Die Offenbarung vollzieht fih in der Schö⸗ 
Pfung; das universum tft da8 omnia uni versum. Verfaſſer führt 
es den ans irrigen Humanitätsrüdfichten ber Offenbarung Wider» 
ftrebenden zu Herzen, daß trog der Störung durch die Sünde es 
dod die ewige Beftimmung der Menjchenjeele bleibt, das Andere 
für die Offenbarung der Gottheit zu fein und zwar für die Offen 
barung in Chrifto, denn das A und O aller Offenbarung ift die 
Lerföpnung und Welterlöfung in Chriſto; Chriftus ift das My- 
ſterium, das Offenbarung geworden ift. Weit entfernt, daß das 
Evangelium gegen die Humanität ift, wird ung vielmehr der Chriſtus, 
die Chriftenheit, der neue Kosmos als Beweis für das Evangelium 
geannt. Der neue Mensch ift des Evangeliums Forderung, feine 
immer neue Probe und fein großer Tauſch. In Chriſto ift der 
neue Kosmos vorgebildet, der neue Geift und die nene Natur, beide 
in erhabener, verflärter Einigung. Myſterium und Offenbarung 
fordern aber den Glauben, von ihm Handelt Kap. 7. Obmol 
der Glaube fein eigenes Wefen von allen Lebenszweigen trennt, ift 
er doch auf allen Lebensſtufen die überall Harmonie bringende Er- 
ſcheinung. Erft der Glaube bringt den vollen Selbſtbeſitz; höherer 
Repräfentant der Humanität als der Genius bleibt der Wieder 
geborene. Es wird uns dargelegt, wie der Glaube den Menfchen 
erzieht und, zur Liebe, zur Hoffnung, zum Gebet werdend, den 
Menſchen befehrt und Heilig. Darauf wird der Glaube als ein 


186 J Kritzler 


Wiſſen, Fühlen und Wollen vorgeführt und gezeigt, wie erſt ber 
Glaube auf allen drei durch die Sünde geftörten Gebieten die Boll- 
tommenheit bringt. Den Gonflict zwifchen Glauben und Wiſſen 
findet Verfaffer nur in den Mängeln der menfchlichen Entwicklung 
begrimdet; beide find unzertrennlich verbunden, brauchen einander, 
müffen ihre Gebiete bewahren, werden aber im Anfftreben nach den 
höheren Regionen ihre Einigung finden. Das Wollen allein brings 
nur zum Moralismus, Nomismus, Methodismus. Erſt der Gottes 
Willen wollende Glaube bringt die Freiheit. 


Nachdem Verfaſſer fo gezeigt Hat, wie der Glaube als die Hin 


gabe defien, was Perſonlichkeit in uns ift, fich gründet und ald 
diefe Perfönfichkeit felbft ſich entfaltet, geht er auf die einzelnen 
firhlihen Dogmen als Glaubensobjecte und zwar zunächſt auf 
die Chriftologie ein. Ihr widmet er allein vier Kapitel: der 
Gottmenſch (Rap. 8), die Menfhwerdung des Gottes 
fohnes (Kap. 9), die zwei Naturen in Chriſto (Rap. 10), 
die drei Aemter Chrifti (Kap. 11). Hier, wo die mit der 
Humanität Abgötterei Treibenden vorzugsweife als Gegner fih 
erweifen, find wir am gefpannteften auf das, was Verfaffer ald 
Friedensbote fagen wird. Kap. 8 erinnert die Gegner daran, da 
fie ſelbſt ja das Factum des mwahrhaften Lebens, das deal, das 
eine reale Gejtalt hat, fuchen und wollen, daß fie es aber nirgends 
in den Menfchen finden, fondern nur in Chriſto, der vollen Einigung 
zwifchen Gottheit und Menjchheit. Kap. 9 gibt zu, daß die Menfd- 
werbung des Gottesſohnes das unbegreiflichfte Geheimnis ift, nennt 
fie aber auch das gemifjefte und göttlichfte Geheimnis. Erſt als 
Ehriftus das neue fiat lux gefprochen, ift die Urreligion wieder- 
hergeftelit, da8 Paradies aufgefchloffen, hat die gottverflärte Schöpfung 
in der Welt und Seelengefchichte begonnen. Verfaſſer muß be 
haupten, daß auch ohne die Dazwiſchenkunft der Sünde das emige 
Wort Menfch geworden wäre, ſchon deshalb, weil der Gottesfohn 
nad) feiner trinitariſchen Stellung auch der Mitbegründer und Boll- 
ender des Weltalls ift. Der Philofophie gegenüber betont er, daß 
die Menſchheit nicht durd einen Denlproceß erlöft werden kann, 
fondern durch Leben und That, die erft und nur das Chriftentum 
habe; in Ehrifto, dem Mikrokosmos in deſſen höchſter Erſcheinung, 





Humanität und Chriſtentum. 187 


trete die dolle Rebenswahrheit der Perſönlichkeit im reinen Originals 
bilde entgegen. Gegen den modernen Unglauben führt Verfaſſer 
(S. 202.) fchlagend den Beweis für die Gottheit Chriſti. Er 
macht gegen den Pelagianismus die Nothwendigkeit der Menfch 
werdung geltend und zeigt, wie ihre Möglichkeit dem chriſtlichen 
Bewußtſein aus dem Weſen Gottes feitftche. Nachdem er darauf 
die einzelnen Stufen der Erniedrigung beſprochen, ſchließt er fchön: 
„Aber diefer Weg des Gehorfams, ein Weg des Todes für ihn 
(Iefum), wird ein Weg des Lebens für uns und ftellt mitten in 
die Dienfchheit das Bild des wahrhaften Humanismus, die ganz 
üinzige Perfönlichkeit, über der das Wort ertönt: Das ift mein 
Über Sohn, den follt ihr hören.“ — Gegenüber den Zweifeln 
an der Möglichkeit, eine Darftellung des Wefens der Einigung der 
beiten Naturen zu finden, hält Verfaſſer (Rap. 10) ſich an das 
Axiom: natura humana capax divinae, betont die Thatſache, 
daß, was Ehriftus von ung will, er vor und und für uns ift, 
dag in feiner Erfceinung die Macht und Fülle der wahrhaften 
Perfönlichkeit gegeben ift, und nennt diefe Perjünlichkeit in Chrifto 
den Iebendigen Punkt, in dem beide Naturen fich geeinigt haben. 
In dem Geſchichtsbilde Jeſu werden wir überall auf den doppelten 
Zug des Geheimnifjes und der Offenbarung aufmerffam gemacht. 
So ſehr Jeſu Geſchichte die eines wirklichen Menſchen ift, fo ift 
Ifu Entfaltung allein doc; die eines wahren Menſchen, weil ohne 
Tinde. Die Verehrer des Claſſiſchen und Unfterblichen werden 
darauf Hingemiefen, daß fie das Höchfte und Wahrhaftigfte im Leben 
fu finden, die Macht des Emigen in voller Incarnation. Ber- 
faffer zeigt dann, wie die allein in Chrifto repräfentirte volfe innere 
und äußere Harmonie ſich intenfiv und egtenfiv in fortfchreitendem 
Verden entfaltet; aus der Wirklichkeit der Verſuchung entfteht die 
Wirklichkeit der fittlihen Verklärung. Die Wunder Jeſu ftehen 
feit, aber jie find nur Wirkungen des höheren Lebens; wichtiger ift 
das Wefen dieſes Lebens; das eigentliche Wunder ift das neue 
Princip der Gnade umd des Lebens und defjen wunderbare Geiftes- 
wirfungen. Schön zeigt DVerfaffer an Jeſu Weg von Golgatha 
in den Himmel jeder Epriftenfeele und der wahren Humanität ‚ihren 
Weg und ihr Ziel: in dem Tode und Dunkel des Lebens zur erjten 


188 Kritzter 


Auferſtehung, zur Wiedergeburt, zu kommen und dann bis zur 
Himmelfahrt ſich zu erheben. — Im elften Kapitel: von den 
drei Aemtern Chriſti, tritt die Abſicht des Verfaſſers recht 
ſichtlich hervor, das kirchliche Dogma feſtzuhalten und die Gegner 
unter den Humaniſten dafür zu gewinnen, und zwar in ihrem 
eigenen Intereſſe, weil dies alfein der Weg zur wahren Humanität 
fei. Die drei Aemter Chriſti find nöthig, weil das Heil für den 
ganzen Menjchen und Kosmos ift und den ganzen Menfchen und 
Kosmos fordert. Verfaſſer findet in der Sund- und Irrtums⸗ 
Tofigkeit Ehrifti den Ausdrud des volffommenen gottmenſchlichen 
Lebens. Was Chriftus ehrt, ift das lebendige Wiffen; feine Lehre 
ift das Wort von feinem Wefen, nicht bloße Inſpiration, fondern 
Incarnation. Verfaffer fordert für die Anſelmiſche Satisfaction® 
theorie die Anerkennung des unendlichen Sündenelends und den 
Dank für die unendliche Erlöfung, gibt aber zu, daß die ftarre 
juriftifche Faſſung umd die Steifheit zu befeitigem ift, welche vergißt, | 
daß Sünde und Gnade in ber wirklichen Welt nicht tolirte und 
erftarrte Factoren find, fondern daß, wie die Sünde concretes Leben, 
fo auch die ewige Weisheit und Gnade in dem wirklichen Leben 
von Natur ‚und Gefchichte dem natürlichen Leben das höhere in 
fundire in innerem ethifchen Proceß. Er fordert vom Rationalis 
mus die Anerkennung, daß nicht nur den Ausbrüchen des Boſen 
zu wehren, fondern aud Fluch und Schuld des Böen zu fühnen 
ift; wie aber von alfer fentimentalen Schwachheit, jo will er gan; 
richtig auch von aller Rachſucht und aufmwallenden Leidenſchaft die | 
severa misericordia fern Halten. Und nun, wie ernft, mie ent- 
ſchieden, und doch wie lodend und gemwinnend zugleich: „Der Galgen 
des Sclaven wird zum Freiheitsbaum der Geſchichte. Am Frey 
vollzieht fi die ewige Krifis. Von der That der Liebe geht das 
furchtbarſte Gericht aus. Der Baum des Kreuzes iſt der andere 
Baum der Erkenntniß!“ — Das königliche Amt Chrifti gibt 
dem Glauben des Menſchen feine Bedeutung und Erfüllung. Die | 
Einheit von Zeit und Emigkeit ift dem Verfaffer das große Wort | 
des Königreichs Chrifti. Er geht von hinnen und bleibt das feſte | 
perfönlihe Centrum; was nicht aus Chrifti Leben ift, verfällt dem 
Gericht; Menſchen werden wir, wenn wir Ehriften werden. Und 


Humanität und Chriſtentum. 189 


doch fein Zwang, feine mechaniſche Ordnung. Natur und Geift 
fommen im neuen Leben des Chriften in neue, viel innigere Ver- 
bindung. Die großen Ziele der Offenbarung zeigen das vollendete 
Befen der Humanität, die weltbeherrfchende und volfendende Macht 
des Heiligen. Die Zweifler am Erfolg erinnert Verfaffer daran, 
dab es auch im Geiftesleben Gewitter, Srrfterne und Seuchen 
sit. — Nach diefer chriſtologiſchen Darftellung geht Verfaffer 
af die Lehre vom heiligen Geift ein (Kap. 12) und auf 
das Wert des heiligen Geiftes, indem er Kap. 13 Sünde und 
Gnade und Kap. 14 die Erneuerung im Heiligen Geifte 
behandelt. Iſt Epriftus der. wahren Humanität nöthig, fo auch 
der heilige Geift, denn durch den Geift kommen wir zu Ehrifto. 
Berfaffer zeigt in längerer Darlegung und Kritif des Naturgeijtes, 
des Geiftes der Bildung, des Eros Plato's, der Kant'ſchen, 
Hegel ſchen und Fichte’fchen Philofophie, daß der Philoſophie über 
der Einheit das Bewußtſein des Unterſchiedes von Gotteögeift und 
Menfchengeift zu ſehr ſchwand, daß die Philoſophie in ihrer Lehre 
vom Geift feinen rechten Halt hat, daß diefen Halt erft die Schrift 
und chriſtliche Erfahrung gibt, daß die Einheit des heiligen Geiftes 
und der Strom des Heiligen Lebens der Liebe, der alle Fernen der 
Zeiten und Räume verbindet, der hriftlichen Erkenntnis verborgenes, 
ftrahlende8 Kleinod ift. Der allem das Leben gibt, follte der nicht 
ben Haben? Gottes Leben ift das Leben der Liebe. Wie der 
Geiſt der verbindende und abfchliegende in der Gottheit ift, wie 
one den Geift wol Unterfchied und Gemeinſchaft, aber nicht Ein« 
kit von Bater und Sohn in der Gottheit wäre, fo vollendet der 
Geiſt auch nach außen die Einigung. In Kap. 13 zeigt Verfaffer 
junächſt mit ergreifenden Worten das intenfive Wachen des fünd- 
lien Verderbens, aber auch dag, obwol es einen Lehrlings-, Ge 
fellen- und Deiftergrad der Sünde gebe, doch jede Sünde mit der 
tiefften Sünde zufammenhänge, wie ein beginnender Riß mit dem 
völligen Brud. Und er thut recht daran, dies zu betonen, denn 
aur durch Buße führt ja der Weg zum Glauben; jegt und einft 
wußte der Humanismus viel von Unglauben, weil er wenig von 
Bufe wußte. Die Rettung aus dem Abgrund, die Wiedergeburt, 
muß Gott geben; menſchliches Ringen macht annehmbar, aber nicht 


190 Krigler, Humanität und Chriſtentum. 


„gerecht. Wo Gott aber begnadigt, geht es vom Gnade zu Gnade, 

In der dreifachen Wirkung der Gnude Tiegt das „in Gott“ des 
chriſtlichen Humanitätsbegriffes. Weber die ſchöne Seele, die geniale 
Natur, diefe Werfe moderner Bildung, hinweg bildet die Gnade 
zur herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. In dem ſchweren Kampf 
de8 Lebens fällt freilich alle Illuſion, aber die höchfte Bedurftig 
keit begnadigt die wirfungsreichfte Erlöfung. Die Erneuerung im 
heiligen Geifte befhäftigt den Verfaſſer zulegt. Er lockt die Hu 
maniften mit dem herrlichen Ziel alfer wahren Humanität, mit der 
Gemeinde der Heiligen. Der Geift geht, fie zu ſchaffen, über 
natürliche Wege, und doch folgt jede Bewegung wieder dem natür- 
lien Gefeg. Verfaſſer erinnert das moderne Humanitätsftreben 
daran, daß es die innere Herzensfeere nicht überwinden kann, und 
zeigt dagegen, wie dem Glauben der Reichtum des unendlichen 
Lebens ſich aufthut, wie der „Chriftus in uns im heiligen Geiſte“ 
der Anfang ift, daraus das Wachstum ſich geftaltet. Der Haube 
bringt jedem Wiedergeborenen eine befondere Aufgabe, aber in ber 
Verfchiedenheit bleibt die Einigkeit des Geiftes. Die Freiheit wirkt 
im Verbande der Gemeinfchaft. Er nennt es die Hoheit des Epriften- 
tums, daß e8 der Menſchheit da8 Auge für die durchgeiftete, gott 
befeelte und harmoniſch geeinte societas aufgethan hat. Auf die 
Trage, wo der Weg zum wahrhaften Chriftentum mitten in der 
Ehriftenheit, wo fein Heiliger Erneuerungsodem, wo die Einheit der 
Kirche fei, antwortet er, es fei der königliche Weg der Wahrheit, 
der Weg der ewigen Gotteögebote. In dem pax vobiscum de 
Erlöfers ift die Einheit gegeben. Das ift die hriftlihe Einigung, 
welche die fiegende, untheilbnre, höhere Affirmation als Kraft und 
Macht der Einheit mitten unter die Streitenden ftellt, und dadurch 
beider Rechte fichert, daß fie beider Rechte in dem höheren Gen 
trafen einigt. Mit dem Blick Jacob Böhme's auf die Zeit und 
Ewigkeit, wo ein eitel Paradies fein wird, fließt Verfaſſer fein 
Bud. — — 

Daß feine - Arbeit unter dem Segen von oben dazu beitrage, 
mitten in unferer Zerriffenheit die Anfchauung der höheren Lebens⸗ 
macht näher zu bringen und den Geift des chriftlichen Glaubens 
und der driftlichen Einheit zu nähren, dem es Im Herzen verfiegeft 


Knaake, Johann von Staupitzens fämtl. Werke. ım 


wird: ecclesia est societas fidei et spiritus sancti — dies wünfcht 
der Berfaffer, und er Hat durch das fehöne, verheigungsvolle Ziel, 
das er erftrebt, und durch die Gediegenheit feiner Arbeit Recht und 
Grund gegeben, die Erfüllung feines Wunfches in reihem Maße 
Mhoffen. 

Richter, Paſtor in Rohlsdorf bei Prigmwalt. 





3 


Jhannis Staupitii, Ordinis S. Augustini per Germa- 
niam Vicarii generalis, opera quae reperiri potuerunt 
omnia edidit J. K. F. Knaake, Vol. I. Potisdamiae 
apud A. Krausnick 1867. 

Mit dem befonderen Titel: 

Jehann von Staupitzens ſämtliche Werke, heraus 
gegeben von J. K. F. Knaake, Lehrer und Prediger 
am Cabeltenhaufe zu Potsdam. Erſter Band. Deutſche 
Scriften. (186 SS. 8°). 





Es ift fehr erfreulich, daß den Ausgaben der Werke der Refor⸗ 
mtoren erften und zweiten Ranges auch folhe fich jet anſchließen, 
keren Urheber zwar nicht ben Reformatoren ſelbſt beizuzählen find, 
vol aber im enger Verbindung mit einzelnen derfelben ftehen und 
ſroßen Einfluß auf fie gehabt Haben. Zu diefen gehört namentlich 
ad Johaun von Staupig. 

As derfelbe nad feinem Eintritt in den Auguftinerorden auf 
derſchiedenen Univerfitäten, zulegt von 1497 an in Tübingen, philo- 
ſophiſchen und theologiſchen Studien obgelegen hatte und 1500 
als Brior des dortigen Auguftinerklofters zum Doctor der Theo⸗ 
Iogie promopirt war, gewann er die Gunft Friedrichs des Weiſen, 


193 anaake 


Kurfurſten von Sachſen, da er nicht bloß durch feine vornehme 
Abftammung , fondern auch und mehr noch durch Adel der Gefin- 
nung, Geift, Bildung, praftijche Tüchtigkeit und weltmännifche Ge 
wandtheit fich auszeichnete, wozu noch ein ftattliches Aeußere kam. 


Deshalb wählte ihn dieſer Kurfürft bei der von ihm beabfichtigten ; 


Stiftung der Univerfität Wittenberg neben feinem Leibarzte, dem 


D. Martin Bollrih von Melferftadt, zu feinem Beirathe. Staupig , 


folgte diefem Rufe, und reifte dann im Auftrage des Kurfürften 
nad Rom, um bei dem Papft Alexander VI. die Privilegien für 
die zu errichtende Univerfität auszuwirken. Nach deren Erlangung 
wurde darauf 1502 diefe Hochſchule geftiftet, Mellerſtadt zum erften 
Rector derjelben, und Staupig zum Profefjor und erften Decan 
der theofogifchen Bacultät ernannt. Im folgenden Jahre 1503 
wurde legterer von dem Ordenscapitel zu Eſchwege einftimmig zum 
Auguftiner- Generalvicar für Deutfchland erwählt, Durch dieſes 
Hohe Amt wurde er zu Snfpectionsreifen durch ganz Deutſchland 
genöthigt; außerdem wurde er von dem Kurfürften wiederholt an 
geiftfiche und weltliche Höfe gefandt, vertrat aud 1512 im Lateran- 
concil zu Rom den Erzbifchof von Salzburg. 

Auf einer jener Inſpectionsreiſen fam er auch in das Auguftiner- 
Hofter zu Erfurt, in welches Luther 1505 eingetreten war, Ternte 
diefen hier Tennen und nahm’ fich feiner väterlih an. Er tröftete 
ihn, der von ſchweren Geiftestämpfen beunruhigt war *) und fih 
außerdem Harten asfetifchen Uebungen unterwarf ®), verwies ihn 
bei feinen ſchweren Gedanken über die Gnadenwahl auf die Wunden 
Chriſti 2). Auch verbejjerte er feine äußere Stellung im Kloſter, gab 


ihm Anfeitung zum Studium der heifigen Schrift, der Werke Auguftins | 
und der Moftifer, verhalf ihm fo zu einer richtigeren religiöfen 


Erkenntnis, und veranlaßte dann 1508 feine Berufung an die Wit: 
tenberger Univerfität als Docent zunächſt der Diafektif und Ethif. 
Hier in inniger Freundſchaft mit ihm verfehrend bewog ihn Stau- 


pig aud zum Predigen. und 1512 zur Promotion als Doctor. der | 


a) Bgl. meine Ausgabe der lateiniſchen Tiſchreden Luthers II, 290f. 
b) Ebend. II, 188. ö 
ce) Ebend. I, 80. 


Johann von Staupitens fämtlide Werke. 188 


Theologie *). Einen neuen Beweis feines vollen Vertrauens gab 
ihm Slaupitz auch dadurch, daß er ihm 1516 für die Zeit feiner 
durch eine Reiſe nad) den Niederlanden verurfachten Abmwefenheit 
die Inſpection von vierzig Kloſtern in Sachſen und Thüringen 
übertrug. Auch zum Auftreten gegen den durch Tegel betriebenen 
päpftlichen Ablaßtram trieb ihn Staupig an ®), ftand ihm dann 
gfeihfalle im Oktober 1518 in Augsburg bei den Verhandlungen 
mit dem Cardinal Eajetan zur Seite und half ihm, dag er von 
dort ſicher enttam. Bald darauf aber zog ſich Staupitz von der 
ijm bis dahin fo wichtigen Sade der Reformation zurück, ging 
1519 nad) Salzburg, wurde hier bei dem zum Erzbifchof ernannten 
Gardinal Matthias Lang Hofprediger, legte 1520 fein Amt als 
Anguftiner-Generalvicar nieder °), wechſelte 1622 mit päpftlicher 
Genehmigung den Orden und wurde Abt des Benedictinerkloſters 
St. Peter zu Salzburg, fpäter noch Vicar und Suffragan des 
Etzbiſchofs. Er farb am 28. December 1524 und wurde in der 
St. Veitskirche zu Salzburg begraben. 

Bon der zu feiner Zeit herrſchenden ſcholaſtiſchen Theologie ab- 
geftoßen, Hatte ſich Staupig dem Studium ber heiligen Schrift, 
der Werke Auguſtins und der Myſtik zugewandt und darin Be- 
friedigung gefunden. Seine Theologie ſchließt fich einerfeits an 
Anguftin, andererfeits an die Heilige Schrift, befonders an Paulus 
m. Dos Eigentimliche feiner Myſtik beſteht nicht bloß In ihrer 
Berbindung mit dem Auguftinismus, fondern aud in dem einfachen, 
Äbfifcepraftifchen Geifte derfelben. Durch diefe feine Glaubens⸗ 
lchre und die darauf geftügten Ermahnungen und Belehrungen 
hirkte er gleich anfangs ſchon in Erfurt mächtig auf Luther ein, 
welcher von. da an erft das Unzureichende und Verkehrte bes mön« 
chiſchen Werkdienftes erkannte und fi dem Evangelium von der 
Gnade Gottes in Ehrifto zuzuwenden begann. Beſonders auch in 
der Lehre von der Buße empfing er von Staupig eine tiefe und 





a) Ebend. IT, 154 vgl. 109. 

b) Ebend. IH, 188. - 

©) Sein Nachfolger wurde Wenzel Link; fein Vorgänger war Andreas Proles 
beweſen. 

Kal. Stud. Jahrg. 1869, 18 


194 Rnaale 


nachhaltige Einwirkung, wie er ſelbſt in dem Briefe hom 80. Mai | 


‚1518 (bei.de Wette I, 116-118) ihm bekennt. Er nennt 
ſich deshalb im der Weber» und Unterfchrift diefes Briefes feinen 
digeipulus, ihn als denjenigen anerfennend, durch welchen das Licht 
des Evangeliums in feinem Herzen zu leuchten anfing. 

Demnach ift Staupit, obgleih er nicht direct am Neformatione- 
werte fich betheiligt Hat, deſto mehr indireet als Mitarbeiter zu ber 
traten, indem er durch feine Ermahnungen. und Belehrung Luthern 
zur richtigen Erkenntnis leitete und durch feinen Einfluß ihm die 
Stellung verfehaffte, in welcher er die erfannte Wahrheit am wirt 
famften verbreiten konnte. Hieraus ergibt ſich die Wichtigkeit won 
Staupigens Schriften, da wir feine Lehre, von welcher wir in 
Luthers Schriften und Tiſchreden nur Bruchſtücke und eingelne 
Ausiprüge finden, wenigftens in einzelnen derfelben im Zuſammen⸗ 
hange kennen Ternen, 

Man kannte bisher außer zehn Briefen folgende Schriften von 
ihm: 1) eine ganz ſcholaſtiſch gehaltene Meine. Abhandlung: De 
audientia missae in parochiali ecclesia [Tubing. 1500], in 
welcher aber fein Name bloß unter der kurzen Vorrede fteht,. wes⸗ 
halb feine Autorfchaft bei biefer Schrift bezweifelt werben kann; 
2) Constitutiones fratrum Heremitaram Sancti Augustini etc. 
1504, worin er die von ihm als Generalvicar für Deutſchland 
gefommelten und vevidieten Ordensſtatuten herausgegeben hat; 
3) Bon der Nachfolge des willigen Sterbens Chriſti [1515]; 
4) De exsecutione aeternae praedestinationis [1517];. 5) Won 


der Holdfeligen Liebe Gottes [1518]; 9 Bon unferem Heiligen | 


riftlichen Glauben [1525]. 
Ueber diefe Schriften und ihren Berfaffer geben Earl Ludm 
Wilib, Grimm (De Joanne Staupitio) in Chriſt. Friedt. 
Illgens Zeitſchrift fir hiſtoriſche Theologie (1837; IL,,58—126), 
Ant. Dan. Geuder in ſeiner Dissertatio inauguralis: Vita 
Joannis Staupitii, ad probatissimorum quorumdam librorum 
fidem examinata et composita (Gottingae 1837, 40; IV, 52 
pagg. cum tab. lithogr.) und €. Ullmann, Reformatoren vor 
der Reformation II, 256—278 ausführliche Nachricht; eine kurze 
gibt 5. Mallet in feinem Artikel „Staupig“ in Herzogs Real 





Zohann von Gtanpigens ſamtliche Werke. 106 


Enchtlopadie für proteftantifche Theologie und Kirche (XV, 17-28), 
welchem ich dis hierher Hauptfächich gefolgt bin. Mach den vier 
legten jener Schriften Staupitzens hat Ullmann (a. a. O. 
©. 269—276) eine Skigge und Charakteriftil der Theologie des⸗ 
felben gegeben, womit Grimm (a. a. O., &. IT-115) zu ver- 
gleichen ift. 

De bisher noch keine Geſamtausgabe feiner Werke erſchienen 
war, fo ift es ein fehe verdienſtliches Unternehmen des Herrn 
Bredigers J. 8. 3. Knaake, eine ſolche herauszugeben. Er hat 
fie der theologiſchen Faeultüt dee halle'ſchen Univerfität bei Ges 
Iegenheit ber im Jahre 1867 feſtlich begangenen fünfzigjährigen 
Iubelfeier ihrer Vereinigung mit ber Wittenberger gewidmet und 
damals bie erſten gebructen Bogen überreicht. Sie iſt in zwei 
Bände getheilt, deren erfter bereits zu Ende des Jahres 1867 
erſchienen bie deutſchen Schriften enthält; der noch zu erwartende 
Weite wird bie lateiniſchen unsfafien. 

In dee Vorrede des erften Bandes gibt Herr Knaake eine kurze 
Nachricht über feine Quellen und fein Verfahren bei biefer Auge 
gabe. Er gibt darin bisher Ungebrucktes und ſchon früher Ger 
drudtes. Das Erftere bot Ihm theils bie Herzogl. Bibliethet in 
Gotha, theils das v. Scheurl'ſche Familienarchiv, weiches jegt im 
Bermanifchen Muſenm zu Märnberg fich befindet, bar; das Letztere 
dagegen fand er außer feiner Privatfammlung größtentheils in 
dee Berliner Koniglichen Bibliothel. — Jeder Schrift wird eine 
hiſtoriſche und Uterarifche Einleitung porangeftellt. Der Tert wird 
dei den ſchon Früher im Druck erfchienenen wach den älteſten und 
bewährteften Ausgaben wiedergegeben und, wo «8 wehr als eine 
gibt, die Abweichungen der andern am untern Rande verzeichnet; 
ner offenbare Druckfehler werden berichtigt und bei ben lateiniſchen 
veraltete Juterpunctionsweiſen der Deutlickeit wegen in bie jept 
üblichen verändert. 

Der vorliegende erfte Band enthält folgende Schriften: 

1) Litterae testes, 7. Dec. 1510 (©. 13). 

Eine Quittung, welche Staupitz als Auguſtiner⸗Generalvicar am 
T. December 1510 zu Wittenberg ausgeſtellt Hat. Sie war bie 
dahin noch uicht gebrmft, fondern nur lithographirt in A. D. Geuders 

J 18% 


196 Anaate 


oben angegebener Differtation auf der beigefügten Tafel aus der 
Originalhandſchrift bekannt gemacht. 
2) Concionum epitomae. Sententiae. Sermones con- 
vivales. 1517. (&. 13-50.) 

Diefe Stücke waren noch nicht gedruckt und deshalb bis dahin 
ganz unbefannt. Ste finden fi in einer Handſchrift des zuvor 
erwähnten Scheurl'ſchen Archivs, welche großentheils Briefe‘ des 
fechzehriten Jahrhunderts enthält. Hierin nehmen zwifchen den Jahren 
1516—1518 die Auszüge aus Predigten vierundzwanzig Yolioblätter 
und die Tiſchreden dreizehn Seiten ein. Die legteren wurden von 
dem Nürnberger Rechtsgelehrten D. Chriſtoph Scheurl am 8. Yan. 
1518 an einen ungenannten Freund gejgidt. In dem Begleit- 
fchreiben werden fie sermones convivales reverendi primatis 
nostri genannt, und Lazarus Spengler als berjenige bezeichnet, 
welcher fie ohne Staupigens Vorwiſſen aufgezeichnet habe. Vielleicht 
machte eben derfelbe auch jene Auszüge aus Staupigens Predigten, 
welche in demfelben Briefe mit den Worten eius (Staupitii) do- 
ctrinae ecclesiasticae gemeint fein fönnten. Staupig war im 
December 1516 und in den Monaten März und April 1517 zu 
Nürnberg. In diefe Zeit fallen demnach auch feine dortigen Tiſch- 
reden und Predigten. Daß namentlich jene Predigten dem Jahre 
1517 angehören, ergibt fi) aud aus der Vorrede der von Caspar 
Güttel in Eisleben 1518 gehaltenen und herausgegebenen Predigten, 
welche folgenden Titel haben: „Ein faft fruchtbar buchlein von 
Adams Wergeen, vnd gottes genaden mit unterricht wie recht beichten, 
buſſzen, und das hochwirdigiſt Sacrament felig gu entpfahen im 
Auguftiner Elofter Yu fandt Anne vor Eiſleben diſe Heiligfte faften 
gepredigt vnd gegeben“ (1518, 7%. Bogen 4%). Zu Unfang biefes 
Buches ſagt nämlich der Verfaffer, daß er zwar den größten Theil 
aus dem Apoftel Paulus und Auguftin, einiges aber aus den von 
Staupig im vorhergehenden Jahre (1517) zu Nürnberg gehaltenett 
Predigten „von der Veichte, der Buße und der feligen Empfahung 
des Sacraments“ gefhöpft habe. Er hatte alfo’ diefe Predigten 
vollftändig oder im Auszuge. Da nun eben jene Prebigtausglige | 
auf die genannten Gegenftände ſich beziehen und ein von Scheu | 
an Caspar Güttel am 22. Januar 1517 gejihriebener Brief die | 





Johann von Staupitzens ſamtliche Werke. 107 


Freundſchaft beider bezeugt, ſo iſt es nicht unwahrſcheinlich, daß 
auch der ungenannte Freund, an welchen Scheurls obenerwähnter 
Brief vom 8. Januar 1518 mit den beigelegten Tiſchreden gerichtet 
war, Caspar Güttel in Eisleben ſei, und daß derfelbe auch Stau« 
pigens Predigten von jenem Nürnberger Freunde empfangen Habe. 

Diefer zweite Abſchnitt enthält, wie feine Ueberfchrift anzeigt: 
a) Auszüge aus (7) Predigten Staupigens (S. 15—27..36—39); 
b) Etliche chriſtliche und fittliche Sentencien beffelben (S. 27—36. 

39—42); 

e) Etlich Nutzlich leren vnd facecien die der Erwirdig vnd gaiſt⸗ 
lich herr Johann von Staupitz doctor vicarius Auguſtiner 
ordens etlichen erbern perſonen die mit Ime die malzeit ge⸗ 
nomen mundilich alſo Vber tiſch mitgetailt hat (S. 42—49). 

Dieſe dritte Abtheilung bildet ein kurzes Geitenftüd zu Luthers 
Vſchreden, aus welchen fi) fir die zweite Abtheilung mehrere Bei- 
träge entnehmen laſſen (cf. Lutheri Collog. lat. nad meiner 
Ausgabe I, 51. 80. 136; II, 2. 275. 290. 292; III, 109g. 
135. 154). 

3) De imitanda morte Jesu Christi libellus. 1515. 
(&. 50—88.) 

Diefes der Franken Gräfin Agnes von Mansfeld zugeeignete, in 
fünfzehn Kapitel eingetheilte „Buchlein von ber nachfolgung des 
willigen fterbens Chriſti“ erfchien zuerft 1515 zu Leipzig bei Melch. 
Lotther (30 Blätter 49), wurde bei Lebzeiten des Verfaffers noch⸗ 
mals 1523 (22 Blätter 4°) ohne Angabe des Ortes gebrudt, 
md dann noch im ftebzehnten Jahrhundert einigemal neu aufgelegt. 
Die Titel jener zwei Alteften Ausgaben find S. 51 genau an⸗ 
gegeben. Der jetzige Herausgeber hat die erfte Ausgabe wieder 
abdrucken laſſen und die Randbemerkungen berfelben nebft den Ab⸗ 
weichungen der zweiten Ausgabe am untern Rande verzeichnet. 

4) De amore Dei libellus. 1518. (S. 88—119). 

Diefe Schrift Staupigens von der Liebe Gottes, melde aus 
feinen zu Münden 1517 gehaltenen Predigten hervorgegangen war 
und als feine bedeutendfte gilt, erfchien zuerft 1518, wie die vorige, 
in Leipzig bei Melch. Lotther, mit dem Titel: „Ein ſeligs newes 
ar von der lieb gottes“, weil fie vom Verfaſſer der Fürftin 





198 Ancale 


Kunigunde, Gemalin des Herzogs von Baiern, Alberts IV., Tochter 
des Kaifers Friedrich III, zum Nenjahrögefchent überfandt wurde 
(16 Blätter 4%). In demfelben Jahre wurde fie auch, wie ans 
ber Schreibweife des Titels „Aln fäligs newes jar. Bon der lieb 
gottes“ erſichtlich ift, in einer nicht genannten ſüddeutſchen Stabi 
(Nürnberg?) *) gebrudt (32 Blätter 4%). Im Jahre 1520 wurde 
fie auf's neue, aber vielfach verändert, mit dem Titel: „Von bei 
Tiebe gottes ein wunder hübſch underrichtung“ in Baſel von Adam 
Petri gedrudt (18 Blätter 4%). Die an vielen Stellen gemachten 
Veränderungen werden dem Caspar Schwendjeld zugefegrieben. 
Dieft veränderte Ausgabe wurde dann, vielleicht bald daranf, in 
einer ſüddeutſchen Stadt (wie man aus der Schreibweile „Ain, 
baide“ ftutt „ein, beyde“ erſieht) nochmals ohne Angabe des Jahree 
und Ortes (18 Blätter 40) gedruckt. Die Titel dieſer vier bei 
Lebzeiten des Verfaſſero erfihienenen Ausgaben find S. 88f. gen 
verzeichnet und befchrieben. 

Spüter wurde diefes Buch wiederholt neu herausgegeben, beſon⸗ 
ders von oh. Arndt, welcher dasfelbe zufammen mit einer. andern 
Staupitziſchen Schrift (ſithe unteh) mit folgendem Titel herausgab: 
„Zwey alte geiftreiche Büchlein, Doctoris Johannis von Staupig, 
weiland Abt zu Saltzbergk, zu S. Peter. Das Erfte. Von ber 
holdſeligen Liebe Gottes. Das Under. Bon vnſerm H. Eprit 
lichen Glauben. Zu erweckung der Liebe Gottes, und vermehrung 
deß Glaubens, in allen Gettfeligen Hergen. Durch Johannem 
Arndt, Dienern der Kirchen Chriſti zu Braunſchweigk publicitt. 
Cum Gratia et Privilegio, ete. Gedruct zu Magdeburg, durch 
Andreas Seydners Erben. In vorlegung Johan, Francken. 1606." 
80 SS. fi. 8%, wovon die erftere Schrift, mit Weglaffung der 
Vorrede, S. 3-57, die andere nebft der Vorrede S. 60-80 
einnimmt. 

Auch wurde es mehreremal in's Lateiniſche und einmal in’s 


a) An dieſe Stadt zu denken wird man veranlaßt durch Luthers Brief an 
Scheurl in Nurnberg vom 5. März 1518 (bei de Mette I, 195f), 
worin er wunfcht, baf dieſe im Buchhandel bereite bergriffene Schrift dort 
weiber gebrmdt werden mdqhte. 


Johann von Gtanptiens Hämtihe Bee. 199 


Branzöfifche überfegt. "Eine der erſteren, welche mir aus ber hie⸗ 
fen Waiſenhausbibliothek vorliegt, hat. folgenden Titel: 

De Amore Dei. Tractatus vere aureus; a Reverendo et 
Pientissimo Patre Domino Joanne Staupiz, 8. Theol. Doct. 
Ordinis D. Augustini 'Presbytero quondam germanice con- 
seriptus: Nunc in gratiam exterarum Nationum latine editus. 
na cum adjuncfis ejusdem materise Tractatibus gelectissi- 
mis. Francofurti Apud Lucam Jennisium. M. DC. XXIV. 

Diefe Schrift füllt 106 Seiten M. 8%. Statt ber Vorrede 
er Dedication Staupigens fteht p. 838q. bie Vorrede des Ueber⸗ 
fgers. Die auf. diefem. Titel bloß angebeuteten Schriften, welche 
mit befonberen Titeln und Seitenzahlen angehängt worden, find: 
2) die lateiniſche Usberfegung der Schrift, welche auch Arndt mit 

jener verbunden Hat: De Fide Sancta Christiana, D. Joan- 

nis a .Staupiz, In Ipsius Symbolum: Sum tuus, o Jesu, 
facias me quaeso beatum. Francofurt, M.DO.XXIV.- 

26 Seiten kl. 80; 

b) die von Balentinus Crotoaldius 1548 verfaßte Schrift: Novus 

Homo. 46 &eiten Ei. 8%; 
©) bie Inteinifche Ueberfegung einer anonymen deutſchen Schrift: 

Corbieula institoria etc. 35 Seiten Mi. 8°. 

Jene im: einundzwanzig Abfchnitte (welche im der dritten und 
Vierten Ausgabe, ebenfo bei Arndt unb in ber lateiniſchen Ueber 
Hung als geräfte Kapitel erſcheinen) eingetheilte Schrift Stau 
Higens tft Hier nach der Leipziger Ausgabe abgedrudt, weil biefe 
vol mit Recht als die Ältefte und von dem DVerfaffer felbft ver 
anſtaltete Ausgabe betrachtet wird; die Abweichungen der brei ans 
deren Ausgaben find am untern ande verzeichnet. 

5) De sancta fide christiana libellus. 1525. (©. 119-136.) 

Diefe Schrift „Bon dem hehyligen rechten Chriſtlichen glauben“ 
wurde, wie auf dem Titelblatte ausdruclich erwühnt iſt, erſt nad) 
des Verfaſſers Tode (1525) im zwei Ausgaben ohne Ortsbezeich- 
tung (deren jede aus 20 Blättern 80 befteht) veröffentlicht, melde 
fest äuferft felten find. Sie enthalten eine Vorrede, dreizehn Kar 
pitel mit voranftehendem Regiſter derfelben, und einen Beſchluß. 
Von diefen. dreizehn Kapiteln drüden aber nur die zehn erſten die 


20 Anaale 


wahre Ueberzeugung des Verfaſſers aus; die drei letzten: „Bon 
der Tittelchriften jerung; Von dem ordenlichen aufflug der götlichen 
gaben von Got; Bon den Epriftenlichen werden“, find ihm von 
feinen Tatholifchen Freunden in Salzburg, wo er damals Abt des 
Benedichinerflofters St. Petri war, wol befonders von dem dor⸗ 
tigen Cardinal- Erzbiihof Matthias Lang, gleichſam abgendthigt. 
Diefes fagt der erfte Herausgeber biefer Schrift in einer zwiſchen 
dem zehnten und elften Kapitel eingefchalteten Bemerkung ausdrüd- 
lich. In der anderen Ausgabe, welche von dem-jegigen Heraus 
geber mit Recht als die zweite betrachtet wird, ift diefe Bemer⸗ 
ung, welche anftößig erfcheinen mochte, weggelaffen. in entſchie⸗ 
deneres Verfahren haben Arndt und der Iateinifche Ueberſetzer, 
welde diefe Schrift mit der vorigen vierten, wie dort gezeigt it, 
verbunden haben, beobachtet, indem fie. diefe drei letzten Kapitel 
(nebft dem Regifter und dem Beſchluſſe) ganz weglaffen. 

Fragt man, wo und von wem biefe Schrift nach des Verfaſſers 
Tode zuerft heransgegeben fei, fo ift wol mit Knaake Wenzel Lint, 
Anguftiner in Nürnberg, als Herausgeber, und Nürnberg als Ber- 
fagsort zu betrachten. Denn Luthers Brief vom 7. Februar 1525 
am benfelben (bei de Wette II, 624), worin er ben von Link u 
Frage geftellten Drud einer im Manufeript zur Beurtheilung an 
Luther überfandten und jegt von dieſem zurücheſchickten Schrift 
Staupigens in deſſen Belieben ftellt, obgleich fie ihm nicht gefällt, 
ift wol auf diefes Buchlein zu beziehen. Auch deutet die Schreib 
weife vieler Wörter, wie das im Titel vorkommende „abſchahden“, 
md viele andere in der Schrift felbft, 3. B. „Lain, warhayt, bay 
loſen, mainung“ auf einen ſüddeutſchen Verlagsort hin. 

Auch Hierbei iſt die erſte Ausgabe zur Grundlage des Textes 
genommen, und die Abweichungen der zweiten, gleichfalls in Sud⸗ 
deutjchland gedruckten, unter dem Texte angeführt. 

6) Libellus de exsecutione aeternae praedestinationis 
a Ch. Scheurlo Noribergensi ex Latino in Germa- 
nicum sermonem versus. 1517. (S. 136—184.) 

Als Staupig zur Adventszeit 1516 in Nürnberg, wie oben er⸗ 
wähnt ift, verweilte, predigte er dafelbft über die Vollziehung ewiger | 
Vorſehung, über die Gnade Gottes, das Berbdienft Chriſti, die 





Iohann bon Stanpihens ſannliche Werke. 201 


Rechtfertigung, und über die Vereinigung mit Gott und Ehrifto. 
Diefe Predigt ſchrieb er dann lateiniſch nieder, wibmete fie in einem 
am Neujahrötage 1517 im dortigen Auguftinerffofter gefchriebenen 
Briefe dem damals regierenden Bürgermeifter Hieronymus Ebner, 
mb übergab fie dem D. Ehriftoph Scheurl. Diefer begnügte ſich 
nicht damit, das von Staupitz Tateinifch Gefchriebene Heranszugeben, 
fondern überfeßte es auch, zum Behuf alfgemeinerer Verbreitung, 
ing Deutſche. Beides, Original und Ueberfegung, ift 1517 zu 
Nürnberg bei Friedr. Peypus gebrudt und in vierundzwanzig Ka⸗ 
pitel eingetheilt. — Da diefer erfte Band der gefammelten Stau« 
Pisifchen Schriften nur die deutfchen enthalten fol, fo ift hier nur 
die Bloß ‚in. einer Ausgabe erſchienene deutſche Ueberfegung, deren 
ütdl ©. 137 genau verzeichnet iſt (34 Blätter 49), gegeben, und 
Ye an das Ende geftelit, weil fie nicht vom Verfaſſer felbft aus⸗ 
gegangen ift; das lateinifche Original wird, der befchloffenen Ein- 
teilung gemäß, erft im zweiten Bande mit feinen übrigen latei⸗ 
niſchen Schriften folgen. - " 
Das auf diefe letzte Schrift folgende nicht paginirte Blatt ent 
halt das Inhaltsverzeichnis diefes Bandes und Berichtigungen zu 
demſelben. — Die äufere Ausftattung diefer Ausgabe ift fehr gut. 
Ton ben obenerwähnten zehn Briefen Staupigens, melde Grimm 
glommelt und feiner Abhandlung (a. a. O., ©. 116—126) als 
Appendix beigefügt hat, find der erfte, dritte, fünfte, fechfte, achte, 
nte und zehnte Tateinifch und können deshalb erft im zweiten 
‚Bande diefer Ausgabe erwartet werben; ber dritte, an Hieronymus 
ner gerichtete, welcher vor der zufegt bejchriebenen Schrift (Nr. 6) 
"a8 Dedication fteht, wird in diefem erften Bande nur nad) Scheurls 
deutſcher Ueberfegung mitgetheitt; der zweite, vierte und fiebente 
Brief find von Staupitz deutſch geſchrieben: der zweite an bie 
Gräfin Agnes und der vierte an die Furſtin Kunigunde als Des 
dintionsfcpreiben gerichtet, ftehen in dieſem erften Bande unmittel- 
far vor den gewidmeten Schriften, jener vor Nr. 3, biefer vor 
RM. 4. Der fiebente Brief aber, welcher von Staupig zu Augs- 
furg am 15. October 1518 in deutfcher Sprache an den Rurfürften 
driedtich über Cajetaus dortiges Verfahren gegen Luther, und bie 
Gefahr, wovon diefer und er felbft bedroht werde, geſchrieben ift, 


203 Knaake, Joham von Gtanyigens ſamtliche Werke. 


fehlt Hier. Das Original biefes Briefes befindet fi in Erfurt; 
Grimm, welcher damals durch die Glite des Generalfuperintendenten 
Bretfchneider eine Abſchrift davon erhielt, hat denfelben (a. a. DO, 
©. 122f.) zuerft durch den Druck befannt gemacht. 

ch ſchließe diefe Anzeige mit dem innigen Wunſche, daß diefem 
erften bald der zweite Band nachfolgen möge, da es für alle 
Freunde der Reformationsliteratur von großem Intereſſe ift, jekt 
endlich eine Geſamtausgabe der Schriften des Mannes zu erlangen, 
welcher auf Luther einen fo bedentenden und fegensreichen Einfluß 
ausgeübt Hat, daß er ihn als feinen geiftfichen Vater betrachten 
konnte. 


Sal. . Bindfeil. 


 Irklärung. 


Die Auslaffung, mit welcher Herr Brofeffor Keim in ber 
Proteftantifchen Kirchenzeitung (1868, Nr. 23) meine Unterfuchung 
der Tradition von der MWirkfamfeit des Apoftels Johannes in 
Epheſus (Studien und Kritifen 1868, ©. 487 ff.) erwiedert hat, 
euthalt eingeftandenermaßen nichts, was die zwifchen ihm und mir 
freitige Sache angeht. Herr Keim beſchränkt ſich vielmehr darauf, 
fh gegen angebliche Enttellungen und Verdrehungen zu wehren, 
he ich gegen ihn ausgeubt haben ſoll, und zwar bebient er ſich 
A diefem Zwecke gleicher Höflichleiten, wie er fie in bem Werte 
über „Jefus von Nazara“ gegen die Bertreter abweichender An- 
fen in freigiebiger Weiſe ausgeftreut und badurd dem Buche 
finen eigentümlichen Schmuc gegeben hat. Daß die Lefer !ver 
Froteftantifchen Kirchenzeitung nicht in ber Lage waren, die Vor⸗ 
Dirfe des Herrn Keim gegen eine in den Stubien und Kritiken 
gedrudte Beweisführung an dem Zufammenhange derfelben und 
mit felbftändigem Urtheile zu prüfen, wird feinem Scharffinne 
übt verborgen geblieben fein. Wenn er diefelben trogbem zu Zeugen 
finer ausfallenden Empfindlichkeit gemacht Hat, fo Hat er damit 
ur gezeigt, daß feine Hauptforge weder der Erforſchung der wiſſen⸗ 
ſhaftlichen Wahrheit gift, noch der Aufrechthaltung des Anftandes, 
den man auch dem Gegner als Mitarbeiter an der gemeinfamen 
Yufgabe ſchuldet. Er Hat eben auch hier nad) demjenigen Geſchmacke 
Aandeft, mit welchem ex jeins. Dazftellung des Lebens Jeſu würzen 


204 Erklärung. 


zu dürfen geglaubt Hat, nach jenem Geſchmacke, der allerdings nicht 
ungeeignet ift, den Schein ber Unfehlbarkeit des Biographen Jeſu 
aufrecht zu erhalten, da er es einem verleiden kann, in öffentliche 
Discuffion über die Forſchungen des Herrn Keim einzutreten. Ich 
überlaffe Heren Keim, in dem eigenen Gefallen an feiner Auctori- 
tät auch fernerhin über die gute Sitte zu triumphiren, werbe mid 
aber dadurch nicht abhalten Lafjen, wenn e8 mir nöthig erfcheint, 
bie Ergebniffe feiner kritiſchen Phantafie auch fernerhin zu con 
trofiren. 


Frantfurt a/M. 
D. Georg Eduard Steig. 


Verthes Buchbruderei in Gotha. 





Theologiſche 


Studien und Kritiken. 


Line Zeilſchrift 
für 
das gefamte Gebiet der Theologie, 
begründet von 
D. €. Ullmann um D. F. W. 6. Umbreit 
und in Verbindung mit 
D. 3. Müller, D. W. Beyfälag, D. 3. Aöflin 


herausgegeben 
von 


D. ©. 8. Hundeshagen uw D. E. Riehm. 


Bafrgang 1869, zweites Heft. 





x 
Gotha, 

bei Sriedrih Andreas Berthes. 
1869. 





Dorworf. 


"In dem am 21. Auguft d. I. im einundachtzigſten Rebens- 
jahre zur ewigen Ruhe eingegangenen Ober - Eonfiftorialrath 
Propſt D. Earl Immanuel Nigfch Haben wir den legten 
bon ben an ber Begründung biefer Zeitfchrift unmittelbar be- 
theiligten Mitarbeitern verloren. Es it bier nicht der Ort, " 
an das zu erinnern, was Gottes Gnade in dem ehrwürdigen 
Manne der Kirche und ber theologifchen Wiſſenſchaft geſchenkt 
hat. Die Lefer der Studien und Kritiken haben ein Recht 
zu erwarten, daß wir das Gedächtnis eines Mannes von fo 
hervorragender Bebentung durch eine umfafjendere Charakteriftik 
feiner Perſönlichteit und feines Lebenswerkes ehren werben; 
und diefe Erwartung Hoffen wir zuverfichtlich in einem ber 
nãchſten Hefte erfüllen zu Können. Seine lebendige Theil⸗ 
nahme an der Verfolgung der unferer Zeitfchrift geſtellten 
Aufgaben und Ziele Hat der Vollendete während der zwei 


a \ Borwort. 


erften Jahrzehnte ihres Beſtehens durch zahlreiche Abhand- 
lungen von anerkannt bleibendem Werthe — unter benen 
bie „über ben Religionsbegriff der Alten“ (Jahrg. 1828), 
die „proteftantifche Beantwortung der Symbolit von D. 
Möhler“ (Jahrg. 1834 u. 1835), die „theologifche Beant- 
wortung ber philofophifchen Dogmatik des D. D. F. Strauß“ 
(Sabrg. 1842 u. 1843), die „über bie weſentliche Drei- 
einigkeit Gottes (Jahrg. 1841) und die „über die Gefamt- 
erfcheinungen des Antinomismus“ (Jahrg. 1846) befonders 
erwähnt fein mögen —, fowie durch Ueberfichten ber prak⸗ 
tifhe mn, der ſyſtematiſch- theologiſchen Cerakar ab guch- 
rere Recenſionen einzelner bebeutender Werke aus dieſen Ge⸗ 
bieten bethätigt. Geit der dem Jahrgang 1846 seinperfeihten 
Abhandlung zur „Werteibigung ber lutheriſchen Lehre um 5 
Eheftande“ weißen die Studien zwar keinen meiteren Beittag 
von feiner Hand auf. Aber feine Teilnahme Hat er um 
ſerer Zeitſchrift fortwährend, auch unter der gegenwärtigen 
Redaction, bewahrt. In einem hiejefbe auf's neue zuſagen⸗ 
ben Schreiben vom 22. Febrnar 1865 heißt as: „AG 
wenn ich doch für bie Zeitfchrift mit Beiträgen wicher wader 
unb lebendig werben könnte. Durch Tein anderes Organ 
würbe ich lieber noch meine thenlogica mittheilen. Wenn 
ich .erft noch in einigen Punkten meiner breiten Amtlichleit 
emgritus fein werbe, und meiner praltiſchen Theologie noch 
übriger Jegter Band erfjimen ift, waren vielleicht nad, rin 


Borwort. m 


mal die dazu nöthigen Lebensgeiſter und Mräfte in erwwünfd- 
tem Grade wieder auf." — Haben wir aud auf bie Ere 
füfung diefer Zuſage verzichten mliffen, fo iſt es ung doch 
von befonberem Werthe geweſen, barüber verſichert zu fein, 
daß der chrwürdige Mann dag Bertvauen in uns ſetzte, es 
werde der Zeitſchrift unter wferer Leitung in Geiſt und 
Haltung ein ihren Anfängen entfprechender Charakter bewahrt 
bleiben, und daß er ausdrücklich wünſchte, dafür auch ferner 
mit feinem Namen vor ben Lefern einzuſtehen. 

Es iſt unſer Beſtreben geweſen, für den durch ſeinen 
Heimgang erlittenen Verluſt einen entſprechenden Erſatz zu 
gewinnen; und wir haben die Freude, unſere verehrten Mit- 
arbeiter und Leſer davon benachrichtigen zu können, ba uns 
fere Bemühungen nicht erfolglos geblieben find, indem Herr 
Conſiſtorialrath D. I. Köftlin in Breslau ſich auf unfere 
Bitte bereit erklärte, in die Reihe der mit der Redaction 
näher verbundenen Mitarbeiter einzutreten. Ueber bie freu- 
digen Erwartungen” erfprießlicher Förderung der gemeinfamen 
Arbeit, welche fi für ung am feine zufagende Antwort 
tnüpfen,, bedarf es feiner befonderen Ausſprache. Mehrere 
größere Werke und eine Reihe von Abhandlungen, die theil- 
weiſe in unferer Zeitfchrift veröffentlicht find, und von denen 
die über Calvins Institutio ben vorigen Jahrgang ziert, 
haben unſern verehrten Freund dem Leferkreife der Studien 
ſchon in einer Weiſe befannt gemacht, die ifm das all« 


w Borwort. 


gemeine Bertranen und uns die Billigung unferer Wahl 
verbürgt. . 

Und fo richten wir ſchließlich nur noch auch an ben mer 
teren Kreis unferer geehrten Mitarbeiter bie ernente Bitte 
um ihre fernere Mitwirkung und empfehlen unfere Zeit 
ſchrift auf's neue der geneigten Theilnahme wohlwollende 
Leſer. 


D. Huudeshagen. D. E. Riehn. 


Abhandlungen. 


1. 


Zur Cparakterifit 
der 
ueffianifhen Weigagung und ihres Verhältnifles zu der Srfüllung. 
Bon 
D. Ed. Riehm. 


Dritter Artikel. 


Unſere bisherigen Unterfuchungen *) ſollten dazu dienen, das 
Weſen und den gefdichtlichen Charakter der mefftanifchen Weißagung 
in helleres Licht zu fegen. Man verfennt fie, wenn man in ihr 
bereinzelte Producte einer Schöpferkraft des Offenbarungsgeiftes 
vor ſich zu Haben meint, die in ganz unvermittelter Weiſe wirkfam, 
an fein Geſetz menſchlich- geſchichtlicher Entwidelung fi) bindet, 
fondern fich in fortgehenden durchaus übernatürfihen Hervorbrin— 
gungen abſolut neuer Erkenntniſſe gefällt. Die durch die Selbft- 
ofenbarung Gottes begründete und entwidelte Religion des alt⸗ 
teftamentlichen Bundesvolkes ift der mütterliche Boden, auf dem 
fie erwachfen ift, und aus dem fie ihre Nahrung gezogen hat. Wir 
etlannten in ihr die neuen Blüten und Früchte, die fi vermöge 
der fortgehenden offenbarenden und erleuchtenden Wirkfamteit des 
Geiftes Gottes aus Keimen organifch entwickelt haben, welche die 


») Sal, Jahrg. 1865, Heft In. III. 


10 Kiehm 


aftteftamentliche Religion von Anfang an in fi ſchloß. — In 
diefen im Laufe der Zeit Hervorgetretenen Blüten und Früchten | 
trat ung eine reihe Manigfaltigfeit der Geftaltung und Färbung | 
vor Augen. Den Grund diefer Mantgfaltigkeit fanden wir, neben | | 
der Geifteseigentümlichkeit der einzelnen Propheten, vorzugsweiſe in 
dem bedingenden und beftimmenden Einfluffe, welchen die geſchicht 
lichen Zuftände und DVerhältniffe der jedesmaligen Gegenwart auf 
den Inhalt der meffianifhen Weißagungen üben. Wie jeder Bro 
phet feine gefhichtlihe Gegenwart in dem Xichte betrachtet, welches 
von dem Ende der Wege Gottes auf dieſelbe zurückfällt, fo fickt 
er auch umgefehrt den Glanz des Heiles der Vollendungszeit nır 
in der Strahfenbrehung und Färbung, in welder die Atmofphär 
feiner geſchichtlichen Gegenwart ihn erfcheinen läßt. Ebenſo hängt 
es von den gefchichtlihen Zuftänden und Verhältniffen der jedes⸗ 
maligen Gegenwart ab, daß die meſſianiſche Weißagung bald die 
eine und bald die andere der in ber altteftamentlichen Religion ent 
Haltenen und im altteftamentlihen Gottesſtaate verkörperten Jen 
zu ihrem Hauptausgangspunkt macht, und durd Entfaltung, der 
darin liegenden Keime meſſianiſcher Erfenntniffe bald diefe und bald 
jene Seite des Heiles der Vollendungszeit vorzugsweiſe hervorhebt. 
Und endlich find die Gottesgedanfen, welche als Grundfüge dee 
Weltregiments oder als Momente des Reichsplanes Gottes zur 
Zeit des Propheten den Gang der Geſchichte vorzugsweiſe beſtim⸗ 
men, auch die Grundgedanken, die feiner meffianifchen Weißagung 
ihren eigentümlichen Charakter und Inhalt geben; und demgemäß 
leuchten im Verlauf der Gefchichte des Alten Bundes, fo oft Neus 
anfängt fi vorzubereiten, den Propheten auch neue Erfenntnift 
auf über den Heilsrathſchluß Gottes umd über die Art umd Weile, 
wie er zur Ausführung kommen foll. 

Wir ſchicken uns nun an, auf Grund der gewonnenen Erkennt 
nis über den innigen organifch= genetischen Zufammenhang der mel: 
fianifchen Weißagungen einerfeits mit der altteftamentlichen Refigion | 
überhaupt und audererfeits mit der Geſchichte ihrer Entſtehumgeheit 
ihr Verhältnis zu der neuteſtamentlichen Erfüllung: 
näger zu beftimmen. Dabei fei noch einmal: daran erinnert, daß 
der Inhalt der Weißagungen, d. 5. der Sinn, in weldem bie 





Zur Charakterifit der mefflanifchen Weißagung ıc. a 


Propheten diefelben felbft verftanden und von ihren Zeitgenoffen 
verftanden wifjen wollten, und ihre durch Gottes Rathſchluß ger 
ordnete offenbarungsgefchichtliche Abzielung auf die Erfüllung 
durd Chriſtum wohl von einander zu unterfcheiden find, und daß 
in jenen nichts von der Bedeutung eingetragen werben darf, welche 
das Wort der Weißugung erft für uns gewonnen Bat, die wir im 
Lichte der neuteftamentlihen Erfüllung auf den gefamten Entwides 
lungẽgang der meffianifchen Weißagung zurücbliden *). Auf Grund 
folder reinlichen Sonderung von altteftamentlicher Weißagung und 
neuteftamentlicher Erfüllung haben wir ebeufo die zwifchen beiden 
befteßende Berfchiedenpeit als ihren Einklang nachzuweiſen. 


Daß altteftamentliche Weißagung und neuteftamentliche Erfüllung 
einander nicht vollftändig decken, daß vielmehr diefe über den In— 
halt jener hinausgeht, wird auch "vom Standpunkte der einfeitig 
ſupranaturaliſtiſchen Schriftbetradhtung aus nicht in Abrede geſtellt, 
wenn auch die Neigung, dur Eintragung neuteftamentliher Heils⸗ 
erfenntniffe in die Weißagungen die Verfchiebenheit auf ein möglichft 
geringes Maß zurückzuführen mit dem inneren Wefen jener Schrift- 
betrachtung genau zufammenhäugt, und ſich in ihrer Eregefe immer 
mehr oder weniger geltend macht. Dagegen muß, auf dem bezeich- 
neten Standpunkte allerdings wenigftens da s vorausgeſetzt werden, 
daß die Weißagung von der Erfüllung vollftändig gedeckt wird. 
Man fagt: die einzelnen meſſianiſchen Verfündigungen tragen zwar 
alle den Charakter der Einfeitigkeit an fi, weil den Propheten im 
Gefichte immer nur das gezeigt wird, was gerade unter den jedes⸗ 
maligen Berhältniffen das Zweckmäßige und Wirkfame ift, und ihre 
Weißagung immer nur eben das zu getreuem Ausdrud bringt, 
was fie geſchaut haben. Sie find alſo Fragmente; aber diefe Frag- 
"mente müfjen fich zu einem einheitlichen, wohlzufammenpaffenden Mo⸗ 
ſaitbild, zu einem im wefentlichen vollftändigen Gemälde des meſ⸗ 
fianifchen Heiles und der Art feiner Herbeiführung zufammenfegen 
laſſen, — ein Gefchäft, das uns dadurch fehr erleichtert ift, daß 


3) Bol. Jahrg. 1865, ©. 10f. - 


212 : Riehm 


wir an der Erfüllungsgefchichte den Leitfaden Haben, der uns zeigt, 
wo jeder einzelne Zug eingereigt werden muß. Das Weißagungs: 
bild mag einzelne Lücken haben; es mag aud) nicht vollftändig aus 
reichen, um bie ganze Fülle und Herrlichkeit des neuteftamentlichen 
Heiles zur Anfhauung zu bringen. Aber in den Meißagungen 
kann kein Zug vorfommen, dem nicht irgend ein Zug 
der Erfüllung genau entfpridt. Sonft hätten die Pro- 
pheten nicht wirklich Gottes Wort geredet, hätten nicht ausſchließlich 
das befchrieben, was Gottes Geift fie von dem fünftigen Heile 
ſchauen ließ. Dies ift im wejentlihen Hengftenbergs An 
ſchauung über das Verhältnis der Weißagung zu der Erfüllung ); 
und die unvermeidliche Conſequenz derfelben ift jene fpiritwaliftifche 
Verflühtigung der conereten zeitgeſchichtlichen und der fpecififch aft« 
teftamentlihen Züge in den meifianifchen Weißagungen, von deren 
Unzuläffigkeit wir und hinreichend überzeugt Haben ®). — Auf 
Grund der bisherigen Ergebniffe unferer Unterfuhung müſſen wir 
diefe Anfhauung für unhaltbar, und das Unternehmen, ohne wei 
teres alle einzelnen Züge der mejfianifchen Weißagung zu einem 
Gefamtbild zufammenfegen und die Erfüllung jedes einzelnen Zuges 
in Chriſto und feinem Reiche nachweiſen zu wollen, für ein ebenfo 
unberechtigte8 als unausführbares erflären. Die einzelnen meſſia⸗ 
nifchen Weißagungen find, nach ihrem wahren gefchichtlichen Sinne 
verftanden, die verfchiedenen Geftaltungen, in melden ſich die meſ⸗ 
fianifche dee im Verlaufe ihrer Entwickelung unter den jedes 
maligen zeitgeſchichtlichen Verhältniſſen geltend machte. Sie ver- 
gleichen fich nicht Fragmenten eines Gemüldes — ein Bild, das 
nur für die unfebendige, Außerliche und mechanifche Betrachtungs- 
weiſe des einfeitigen Supranaturalismus charalteriſtiſch ift —, 
fondern den verſchiedenen Geftaltungen eines eine Reihe von Ent⸗ 
widelungsphafen durchlaufenden lebendigen Organismufjes. Wie 
von der Pflanze im Laufe ihrer Entwickelung einzelne Blätter abs 
fallen und durd neue erfegt werden, wie am thierifchen Organie 
mus im Laufe feiner Entwidelung jedes Organ immer gerade bie 


a) Vgl. Hengftenbergs Ehriftologie III, 2. S. 185ff. 
b) Bgl. Jahrg. 1865, ©. 444 f. 





Zur Charakteriftit der meifianifchen Weißagung 2c. 218 


Geftalt annimmt, in welcher es feine Beftimmung während des 
betreffenden Entwickelungsſtadiums am beften erfüllen kann, fo ver- 
hält es ſich and mit der mefjianifchen Weißagung. Ihr concreter, 
ſpeciell anf die gefchichtlichen Verhäftniffe ihrer Entftehungszeit ber 
gügliher Inhalt hat zwar zur Zeit ihrer Verkündigung eine fo 
große Bedeutung, dag fie ohne benfelben ihre Beftimmung gar 
nicht oder nur fehr unvollkommen zu erfüllen vermöchte. Aber 
diefe Bedeutung ift eine vorübergehende; fte beſchränkt ſich auf die 
Zeit, während welcher jene Verhältniſſe fortbeftanden, ift alfo den 
zeitgefchichtlichen Zügen der einzelnen Weißagungen nur fo lange 
eigen, als das geſchichtliche Entwidelungsftadium dauert, dem fie 
angehören. Waren einmal die gefchichtlichen Verhäftniffe weſentlich 
andere geworden, fo hatten in der Megel jene Elemente der Weißagung, 
wenigſtens theilweife, ihre vefative, zeitgefchichtliche Erfüllung ge⸗ 
funden, und fo weit dies nicht der Fall war, konnten fie in dem 
Sinne, welchen fie für den Propheten und feine Zeitgenoffen Hatten, 
fortan wicht mehr erfüllt werden. Solde Erfüllung wäre eben nur 
möglich gewefen, wenn daB meſſiauiſche Heil nad Gottes Rath⸗ 
ſchluß wirklich fo bald, als die Propheten erwarteten, wirklich noch 
in der Periode, während deren die gefchichtlihen Verhältniſſe ihrer 
Entftehungszeit in der Hauptſache unverändert fortbeftanden, hätte 
erſcheinen folfen. Später fehlten die Vorausſetzungen für eine ihrem 
geihichtlihen Sinne entſprechende Erfüllung. Darum ftreift die 
meſſianiſche Weißagung, fobald die zeitgefchichtlichen Werhättniffe 
wefentlich andere geworden find, jene concreten Züge ab, mögen fie 
ihre relative Erfüllung gefunden haben oder nicht, und es tritt 
Neues an die Stelle des überlebten, feiner vollen Bedeutung und 
Virkungskraft verluftig gewordenen Alten. Ein dem Umfang nad) 
ſehr beträchtlicher Theil des Inhaltes der meffianifchen Weißagungen 
bleibt alfo außerhalb des Bereiches der neuteftament- 
lihen Erfüllung, indem er entweder, fchon ehe die Zeit er- 
füllt war, eine relative zeitgefchichtliche Erfüllung fand, oder über- 
haupt unerfüllt bleibt. 

Muß nun aber nicht diefes Unerfültbleiben eines Theiles des 
Weißagungsinhaltes bedenklich erſcheinen? Ankündigungen, denen 
die Beglaubigung durch die Erfüllung fehlt, ſcheinen überhaupt nicht 


214 Richm 


zu dem, mas auf Offenbarungsmittheilung beruht, zu gehören, 
fondern reine Menfchengedanten und Menſchenworte zu fein, die 
aus dem eigenen Geifte der Propheten, (ob) entfprungen, und 
in das aus Gottes Dffenbarung- Stammende eingemengt find. 
Zwar hängt die Erfüllung von Weißagungen in der Regel noch 
von ausgeſprochenen oder ftilljchweigend vorausgefegten Bedingungen 
ab, die dem Gebiete der menſchlichen Freiheit angehören, und es 
Tann daher manche Weißagung, obſchon im Geiſte Gottes verkündet, 
unerfitlft bleiben *). Aber nimmermehr kann allein Hieraus jenes 
Unerfülftbfeiben eines Theiles des Weißagungsinhaltes erflärt werden. 
Es wird niemand im Ernfte behaupten wollen, daß, wenn nur 
Israel feinem Gotte volle Treue bewiefen hätte, das meſſianiſche 
Heil jedesmal fo bald und genau in der Weife, wie die Propheten 


es anfündigten, hätte erfcheinen können; und nur in diefem Falle | 


hätten ja alle zeitgefchichtlichen Elemente der meffianifchen Weißagung 
erfüllt werden fönnen. Ihre theilweife Nichterfüllung hat alfo 
aud ihren, mit der Bedingtheit der Verheifung durch das Ber- 
halten der Menfchen nicht zufammenhängenden Grund in dem Rath 
ſchluſſe Gottes. Weil das Heil erft, als die Zeit erfüllet war, 
erſcheinen folite, konnte der Weißagungsinhalt theilweiſe nicht erfült 
werden. Dann aber ſcheint jenes Bedenken gegründet; bie dem 
Rathſchluſſe, welchen Gott wirklich gefaßt und zur Ausführung 
gebracht hat, nicht entfprechenden Ankündigungen fcheinen nur ein 
trübendes Element zu fein, welches ber Prophet infolge der feiner 
Vorausfiht gezogenen Schranken ®) in die Verkündigung deſſen, 
was ihm ‚der Geift von Gottes Rath offenbart hatte, eingemengt hat. 

So müßten wir in der That urtheilen, wenn den concreten, 


a) Bol. hierüber Bertheau in den Jahrbb. f. D. Th. IV, 334—358, der 
jedoch zu weit geft, wenn er alfe Niterfüllung von Weißagungen aus 
der Bedingtheit derfelben erfären zu können glaubt, und deſſen Ansfüh 
rungen theilweife fo klingen, als ob es gar nichts unbedingt und um 
wandelbar feftfiehendes in dem göttlichen Rathſchluſſe gäbe, und nament- 
lich die Zeit der Verheißungserfüllung nicht in Gottes ewigem Rathe vor- 
augbeftimmt wäre; aus fpäteren Ausführungen (3. B. ©. 668 f.) geht 
aber hervor, daß dies nicht wirklich feine Meinung iſt. " 

b) Bol. Jahrg. 1865, S. 486 ff. 442. 4597. 


Zur Eharakteriftif der meſſianiſchen Weißagung zc. 218 


geitgefchtchtfichen Zügen der mefftanifhen Weißagungen nur jene 
Bedeutung zufäme, die ſich auf ihre Entftehungszeit befchränft. 
Allein daneben haben ſie auch ihre bleibende Bedeutung, vers 
möge welcher auch fie auf den Neuen Bund bezogen find und in 
ifm ihre Erfüllung finden. 

Es find ja doch Momente der meſſianiſchen dee felbft, die in, 
ihnen auf die Verhäftniffe einer beftimmten Zeit angewendet find, 
Das Vergängfiche muß alfo aud) ein Bleibendes, die zeitgeſchicht ⸗ 
fihe Hülle einen idealen Kern ewiger Gottesgebanten in ſich fchließen ; 
amd wenn in der weiteren Entwidelung der meffianifchen Weißagung 
jene abgeftreift wird, fo wird darum doch diefer nicht aufgegeben; 
er erfcheint wieder als Beſtandtheil fpäterer Welßagungen, aber 
freifich metamorphofirt, in neuer, ben andersgewordenen Verhält- 
niffen entfprechender Geftalt; und auch diefe wird, wenn ihre Zeit 
abgelaufen ift, wieder durch ein neues zeitgefchichtliches Gewand 
erſetzt. So vollzieht fih im Verlauf der Entwickelung der meſ⸗ 
fianifchen Weißagung ein kritiſcher Sonderungsproceß an dem In⸗ 
halte der einzelnen Weißagungen, in welchem ſich Herausftellt, was 
davon als Enthitlfung des die Heilsvollendung betreffen- 
den göttlichen Rathichluffes wefentlihe und bfeibende Bedeutung, 
und was dagegen als bfoße Hülle, in welder die betreffenden Mo— 
mente dieſes Rathſchluſſes dem Propheten und feinen Zeitgenoffen 
zum Bewußtfein und zu Tebendiger Anfchauung gebracht werden 
mußten, nur eine accidentielle und vorübergehende Bedeutung Hat. 
Jenes ift die eigentliche Subſtanz der für alle Zeiten beftimmten 
Offenbarung ; diefe Beftandtheile des Weißagungsinhaltes dagegen 
find entweder nur Kundmachungen folher Momente des göttlichen 
Rathſchluſſes, welche ſich auf einzelne Stationen des Weges zum 
Ziele der Heilsvollendung beziehen, oder fie find überhaupt nur 
zeitweilige Mittel und Vehikel der Offenbarung; und deö- 
halb ift ihre theilweife Nichterfüllung unbedenklich und Tennzeichnet 
fie keineswegs als ein trübendes Element, das ohne Zuthun des 
Geiftes der Offenbarung von dem Propheten in die Weißagungen 
eingeengt worden wäre. \ 

Hinſichtlich ihres wefentlichen und bleibenden Gehaltes nun ftehen 
die einzelnen Weißagungen wirklich in einem Ergänzungsper- 


216 Riehm 


hältnifje zw einander. Denn die gefchichtlichen Verhältniſſe einer 
beftimmten Zeit haben ja immer in größerem oder geringerem Mafe 
ihr eigentümliches Gepräge; fie haben immer ihre Beſonderheiten, 
die ganz ebenfo in feiner fpäteren Zeit wieberfehren; immer werden 
alfo aud) in den zeitgeſchichtlichen Zügen der einzelnen Weigagungen 
diefe oder jene Momente des göttlichen Heilsrathſchluſſes zur Dar- 
ftelfung kommen, welche in fpäteren Weißagungen nicht mehr hervor: 
treten, ober fie werden wenigftens von einer Seite her befeuchtet, 
welche auf's neue in's Licht zu ftellen die gefchichtlichen Verhäftniffe 
fpäterer Zeiten feinen Anlaß darboten. Die meſſianiſche Idee ent⸗ 
faltet alfo im ihrer im Laufe der Zeit erfolgten Anwendung auf 
bie Manigfaltigkeit verſchiedener geſchichtlicher Verhältniſſe den 
Reichtum ihres Inhaltes, und jede einzelne Weißagung trägt an 
ihrem Theile dazu bei, denſelben vollſtäudig zur Anſchauung zu 
bringen. ö 

Hinſichtlich ihres idealen und bleibenden Gehaltes ferner beziehen 
ſich auch die zeitgefchichtlichen Züge ber meſſianiſchen Weißagungen 
anf Ehriftum und fein Reich; aber aud nur in Bezug auf 
ihn gilt von ihnen das von Chriftus wiederholt bezeugte dei mär- 
gusjvaı navra Ta yeygauueva reegl Euod. Die ihren Kern 
bildenden ewigen Gottesgedanfen mußten im Neuen Bunde zu voller 
Ausführung kommen in Chrifto, und durch ihn finden fie darum 
die ihrem tiefften, ihrem idealen Gehalte entfprechendfte Erfüllung, 
während die zeitgeſchichtliche Erfüllung, falls fie eine ſolche ſchon 
in der Gefchichte des Alten Bundes gefunden Haben, zwar ihrem 
Wortlaut und gefhichtlihen Sinne, d. h. der conereten Faffung, 
welche die ewigen Gottesgebanfen in der Anwendung auf beftimmte 
gefchichtliche Verhäftniffe in ihnen erhalten haben, genauer entjpricht, 
aber doc) nur als eine unvollkommene und vorläufige Ausführung 
der ihren Kern bildenden Gottesgedanfen ſich darſtellt. Es erhellt 
hieraus, daß ſchon infolge der zeitgefchichtlihen Färbung aller meſ⸗ 
ſianiſchen Weißagungen das Typiſch-Meſſianiſche einen beträchtlichen 
Theil ihres Inhaltes bildet; die Behauptung, es fei ihnen allen 
mehr oder weniger ein typiſch-meſſianiſcher Charakter 

. eigen, hat aljo guten Grund. 
Mit diefen Bemerkungen glauben wir ber oben arafterificten 





Zur Charatteriſtit der meſſianiſchen Weißagung 2c. 217 


Anſchauuug Hengftenbergs, und namentlich feiner fpirituafiftiichen 
Auslegung der Weißagungen vollftändig gerecht geworben zu fein. 
Es ift wahr, daß, wo es fih um die offenbarungsgefchichtliche Ab- 
zielung der mefftanifchen Weißagungen auf die Erfüllung in Chriſto 
handelt, nur die in den zeitgefchichtlicen Zügen enthaltene Idee 
weſentliche Bedeutung hat, fo unrichtig e8 auch ift, daß die zeit- 
geſchichtliche Form, in welcher biefelbe ausgeſprochen ift, bloßes 
Bid fein fol. Der freilich fehr folgenreiche Fehler Hengftenbergs 
befteht in der That nur darin, daß er ben Inhalt und bie erſt 
Im weiteren Verlauf der Offenbarungs- und Heilsgejchichte erkenn⸗ 
bare, von Gott beabfichtigte und geordnete Abzielung der Weißagun- 
gen auf die Erfüllung nicht genügend unterſcheidet und die Be» 
deutung ihres gejchichtlichen Sinnes verkennt *). 

Aehnlich wie mit den zeitgeſchichtlichen Elementen verhält es ſich 
nun auch mit den fpecififch altteftamentlichen Zügen der 
meſſianiſchen Weißagungen. Diefe erwachſen aus dem Boden der 
altteftamentlichen Religion; aus altteftamentlichen Anfchauungen ent« 
widelt ſich zufolge ihrer pſychologiſch vermittelten Entftehung die 
prophetifche Erfeuntnis der göttlichen Heilsgedanken, die im Neuen 
Bunde zur Ausführung kommen follen; fie können darum diefe 
Heilsgedanfen auch nur fo fund machen, wie fie ſich für den alt- 
teftamentlichen Standpunkt darftellen ; namentlich kann fi die pror 
phetiſche Vorftellung von dem Gottesreihe der Vollendung nie 
vollftändig von der Anſchauung des beftehenden Gottesſtaates ab- 
loſen; in irgend einem Mae wird jeder Prophet die Vollendung 
dlg Reiches Gottes als bloße Vervolllommnung und Verklärung 
des beftehenden Gottesftantes auffajlen und darſtellen; in irgend 
einem Maße alfo auch jede Weißagung eine ſpecifiſch altteſtament ⸗ 
liche Färbung haben, die den mütterlichen Boden, aus dem fie er- 
wachſen ift, erkennen läßt ®). Auch diefe ſpecifiſch altteftament- 
lichen Elemente der meſſianiſchen Weißagungen find für das pro» 
phetiſche Bewußtſein feine bloßen Wilder; fie find vielmehr die 
Anfheuungsformen, in welchen es bie Erkenntnis der Heilsgedanfen 





a) Bgl. Jahrg. 1865, S. 445. Anm. 
. b) By. Dehter, Art. alenung· in Herzogs Reafenezfiopäie XVII, 655, 


218 Richm 


Gottes befigt. Zwar Bat in manden Fällen chen der Prophet 
felbft ein mehr oder weniger klares Bewußtſein darum, daß dieſe 
Anfhauungsformen unzureichend find zum entſprechenden Ausdrud 
der in fie gefleideten Heilsgedanken; und es finden fi daher nicht 
felten aus ber Anfhauung des beftehenden Gottesftantes entlehute 
Züge, welche die Propheten unmöglich buchſtäblich verftanden wiſſen 
wollten, bei denen es ihnen vielmehr offenbar weit mehr auf die 
Idee, als auf die Anfhanungsform ankommt, und die letztere wol 
auch geradezu in das Gebiet bewußter Symbolik übergeht... Wir 
erinnern beifpielsweife an die Ankündigung, dag alle im Gericht 
übrig gelaffenen Heiden Jahr für Jahr nad Jeruſalem kommen 
werden, um das Laubhättenfeft zu feiern (Sad. 14, 16ff.), 
oder daß gar die Völler an jedem Sabbat und Neumond 
nach Zerufalem wallfahrten werden (Jeſ. 66, 23). Selbſt in 
Schilderungen des vollendeten Gottesreiches, die ſich fonft ganz in 
den Schranken der altteftamentlihen Anfhauungsformen Halten, 
findet in einzelnen Zügen ein folcher Uebergang ftatt, ohne daß 
man darum beredjtigt wäre, das Ganze allegorifch zu deuten; fo 
3. B. bei Ezechiel, in deffen Befchreibung des neuen Gottesftantes 
die berühmte Weißagung über den von Gottes Wohnfig ausgehen 
den Strom, welcher das heilige Land zum Paradiefe umwandelt, 
die Idee am jtärkften aus der Hilfe der altteſtamentlichen An 
ſchauungsformen Heraustreten, und diefe nur noch als ſymboliſches 
Gewand für jene erfcheinen läßt. — In der Regel aber kann der 
Prophet felbft nicht mit Bewußtſein zwiſchen der altteſtamentlichen 
Anfhauungsform und den darin enthaltenen göttlichen Heilsgebanfen 
unterfheiden; er erfaßt diefe nur in der Hülle jener, und wäre 
nit im Stande, die altteftamentlichen Hüllen abzuftreifen *). Aber 
mas er nicht zu thun vermag, das vollzieht ſich großentheils ſchon im 
Gefamtverlauf der Entwidelung der altteftamentlichen Weißagung, 
indem auf den Höhepunkten bderfelben die Erkenntnis ber Heils— 
gedanfen Gottes freier wird don der Gebundenheit an die Hülle 
der altteftamentlichen Anfchauungen. Und zwar ift im allgemeinen 


a) Bol. zu obigen Sägen bie treffenden Bemerkungen Tholnds in: Die 
Propheten und ihre Weifagungen, S. 149-156. 





Zur Chacafterifit der meffianifcien Weiiagung ac. 219 


die der Zeit nach fpätere Weißagung auch die entwickeltere, den 
Heilsrath Gottes und den wahren Charakter des Gottesreichs der 
Vollendung Harer und volfftändiger in das Licht ftellende. Der 
Kern der ewigen Gottesgedanken leuchtet, im ganzen genommen, 
in den meffianifchen Weißagungen fpäterer Propheten immer mehr 
durch die altteftamentlihen Hälfen hindurch und ftreift diefe mehr 
und mehr ab. Während z. B. die ältefte meffianifche Weißagung 
noch den nationalen Particularismus des beftehenden Gottesftantes 
aud in der Zeichnung bes vollendeten Gottesreiches feſthält, ſtellt 
fich diefes ſchon bei den Propheten der affyrifchen Periode als ein 
über bie ganze Erde ſich ausbehnendes uud alle Völker umfafjendes 
dar ®). Namentlich aber erreicht bei Jeremias und Deutero-Yejajas 
die mefflanifche Weißagung einen Höhepunkt ber Entwickelung, auf 
welchem ber tiefgreifende Unterſchied zwiſchen der altteftamentlichen 
Delonomie und ber des fünftigen Neuen Bundes Mar erkannt und 
ausgeſprochen wird. — Aber die Gültigkeit jenes Kanons ift doch 
nur eine bedingte und befchränfte; einmal weil das Maß, in welchem 
die meffianifchen Erkenntniſſe noch in ſpecifiſch aftteftamentlichen 
Anſchauungsformen bejehloffen bleiben, aud von dem individuellen 
Standpunkte der ‚einzelnen Propheten abhängt, wie denn neben Je⸗ 
remias fein Zeitgenoffe Ezechiel fteht, der es am alferwenigften 
vermocht hat, ſich das Gottesvolk der Vollendungszeit ohne bie In⸗ 
ftitetionen umd Ordnungen des altteftamentlichen Gottesſtaates vor⸗ 
ftellig zu machen d); und fodann weil im Verlauf der gefchichtlichen 
Entwickelung nach Erreichung der Höhepunkte auch wieder Ride 
gänge eintreten, wie denn in der naderilifchen Zeit die Gebunden- 
beit der meſſianiſchen Erkenntniſſe an die aftteftamentlichen Ans 
ſchanungsformen wieder viel- größer ift als bei Jeremias und Den- 
tero-Jefajas. — Die Höhepunkte ber Entwickelung, auf welchen fi 
die mefflanifche Weißagung im ganzen oder hinſichtlich einzelner 
Etlenntniſſe am meiften ber neuteftamentlichen Heilserkenntnis nähert, 
treten nun aber für das Auge des im der Zeit der Erfüllung Le- 
benden von felbft Mar und beftimmt hervor. Bon biefen Höher 


) Bol. Yahrg. 1866, ©. 462ff. 
b) Bgl. Yahrg. 1885, ©. 4287. 


220 Riehm 


punkten will das weſentlich einheitliche, aber im verſchiedenen ge⸗ 
ſchichtlichen Entwidelungsftufen vorliegende Ganze der meſſianiſchen 
Weißagung überbfidt fein. Durch das Licht, welches von ihnen 
aus auf die niedrigeren Stufen fält, Täßt fie felbft auch viel 
in ihr enthaltene altteftamgntliche Elemente als vergängliche An- 
ſchauungsformen ber göttlichen Heilsgedanken erfcheinen, die, wie die 
zeitgefchichtlichen Züge, nit zur Offenbarungsfubftanz -felbft ge: 
hören, fonbern bloße zeitweilige oder auch individuelle Offenbarungs 
mittel find und nur vermöge ihres ſymboliſch- typiſchen Charakters 
auch eine bleibende Bedeutung beanſpruchen können. Wenn z. 8. 
nach Ezechiel auch im Gottesreiche der Vollendung noch Thieropfet 
dargebracht werden, felbft mit Einfluß der Sünd- und Schuld⸗ 
opfer (Ez. 40, 39; 42, 13; 44, 29; 46, 20), fo lehren uns 
ſchon Hoſea und Jeſajas hierin etwas erkennen, was zu den alt- 
teftamentlichen Hüllen bes Weißagungswortes gehört, jener, indem 
er das bußfertige Bolt als Dank für feine Begnadigung nicht 
XThieropfer, fondern „Frucht von unfern Lippen“, d. i. Lob Gottes, 
geloben läßt (Hof. 14, 3), diefer, indem er (abgefehen von Jeſ. 
19, 21) im Hinblid auf das Gottesvolk der mefjtanifchen Zeit 
nie von Opferweien und Prieftertum redet. Wenn nach Ezechiel 
aud in der meffianifchen Zeit des Unterfchied zwifchen Prieſtern 
und Laien fortbeftehen, ja noch ſchärfer als bisher geltend gemadt 
(&. 44, 19), und das Volk wie bisher über das Carimonialgeſeh 
von den Prieftern belehrt werden wird (Ez. 44, 23), fo ſtellen 
Weißagungen, wie die Jeremia's, daß im Neuen Bunde alle in 
gleicher Weife Gott nahe ftehen und Gott erfennen werden (Jet. 
31, 34), und die Deutero-Jeſaja's, daß ganz Israel ein Priefter- 
volt fein wird, in allen feinen Gliedern von Jehova felbft gelehrt 
(Jeſ. 61, 6; 66, 21; 54, 13), dies als ein altteftamentlices 
Element der Weißagung Ezechiels dar, dem nur individuelle Der 
deutung zufommt. Und wenn Gzechiel bis in's einzelnfte hinein 
den neuen Tempel befchreibt, der in Serufalem errichtet werden 
fol und in welchem Gott inmitten feines Volles Wohnung machen 
wird, wenn ebenfo die nacherilifche Prophetie auf den Ausbau und 
die Ausfhmüdung des Tempels zu einer Gottes würdigen Wohn: 
ftätte das größte Gewicht legt, weil fie auch in der Vollendungezeit 





Zur Charatteriſtik der meifianifchen Weißagung zc. 221 


Gotted Gnadengegenwart unter feinem Volke an das ſichtbare Heilig- 
tum geknüpft denkt, fo Haben wir damit die Ankündigung Sere- 
mies zuſammenzuhalten, daß es im meffianifchen Gottesreiche keine 
Bundeslade, kein umnahbares Allerheiligftes mehr geben wird, daß 
vielmehr die ganze Heilige Stadt zum Thron Jehova's wird und 
alle Völker fi dahin fammeln zu bem dort offenbaren Gott (Ser. 
3, 16f.); im Lichte diefer Ankündigung erſcheint auch jene Vor⸗ 
ftellung als altteftamentliche Anfchauungsform, welche ſchon die 
Höher entwicelte meſſianiſche Weißagung als bloßes Gewand ber 
Heilsgebanfen Gottes abgeftreift hat. — Durch die Kritik, welche 
die altteftamentliche Weißagung ale Ganzes betrachtet an dem De- 
tail ihres eigenen Inhalts übt, werden aljo auch an einem großen 
Theil ihrer ſpecifiſch altteftamentlichen Züge bie vergänglichen An⸗ 
ſchauungsformen und bie darin befchlofjenen Heilsgebanten von ein» 
ander gefondert; und es verfteht ſich von felbft, daß jene außerhalb 
des Bereiches ber neuteftamentlichen Erfüllung fallen müfien, wäh— 
tend diefe im Neuen Bunde zur Ausführung kommen. Somit 
umfaßt das Gebiet des Typifch -Mefftanifchen, d. h. deſſen, was nicht 
nach feinem geſchichtlichen Sinne, fondern nur nad) feinem ibealen 
Gehalte in Chriſto feine Erfüllung findet, wie die altteftamentliche 
Weißagung felbft lehrt, auch einen großen Theil der in ihr ent- 
haltenen altteftamentlich » theofratifchen Vorftellungen *). 

Sollte nun aber diefe in dem geſchichtlichen Entwidelungsgange 
der Offenbarung erfolgte Herausftellung der göttlichen Heilsgedanken 
ans den vergänglichen altteftamentlihen Anfhauungsformen ſchon 
in der Zeit des Alten Bundes, etwa mit dem Erlöfchen der Pro- 
phetie zum vollendenden Abfchluß gefommen fein? Muß man nicht 
von vornherein erwarten, daß die göttlichen Heilsgebanfen überhaupt 
erſt durch ihre thatſächliche Ausführung in volles Licht getreten 
find, und daß darum auch die vollftändige Abftreifung der alttefta- 


a) Bol. Oehler, Art. „Weißagung“, S. 666: „Nicht das Bewußtſein des 
eingelnen Propheten, fondern der Geift der Offenbarung ift es, ber ſchon 
innerhalb des A. T.'s auf jeder Höheren Stufe der Weißagung das ab- 
freift, was als zeitliche Form an der Weißagung der früheren Stufe 
haftete, bis in der Erfüllung vollends erfannt wird, wie weit die jyinbo- 
liſche Hülle reichte, 

Tal. Stub. Jahrg. 1869. 15 


222 Richm 


mentlichen Hülfen, von welchen. fie in ber meſſianiſchen Weißagung 
umgeben find, nicht früher erfolgt fein faın? So verhält es fich 
in der That. Auch auf den Höhepunkten ihrer Entwicelung konnte 
die meſſianiſche Weißagung noch nicht von allen fpecififd alt 
teftamentlichen Anfchauungsformen frei werden. Cinige gehen durch 
die gefamte Prophetie hindurch und ſtellen ſich erſt im Lichte der 
neufeftamentlichen Erfüllung als bloße ſymboliſch⸗ typiſche Hüllen 
der Ideen dar, deren Ausführung in Gottes Heilsrath beſchloſſen 
war. — Dahin gehört die Vorftellung, daß Jeruſalem, die 
Stadt, welde Jehova erwählt Hatte, um feinen Namen bafelbft 
wohnen zu laſſen, auch in der Vollendungszeit die Stätte der Offen 
barungs⸗ und Onadengegenwart Gottes auf der Erde, und als 
folhe der Mittelpunft des Gottesreiches bleibt; dort wird Gott 
inmitten feines Volles wohnen; von dort aus übt er die Herrſchaft 
über fein alle Lande umfafjendes Reid; dort wird er and den 
Heiden offenbar, und dort beten alle Völker ihn an. Dieſe Vor 
ſtellung ift felbft in der Ankündigung Jeremia's, daß Gottes Offen 
barungsgegenwart nicht mehr an die Bundeslade und das unnahbare 
Allerheiigfte gebunden fein werde (Ser. 3, 16f.), noch feftgehalten; 
und ebenfo beherrſcht fie alle anderen meffianifchen Weigagungen 
des A. T.'s umd übt bald in weiterem, bald in engerem Umfange 
ihren Einfluß auf die concrete Detailausführung des von dem 
meſſianiſchen Gottesreihe entworfenen Bildes. — Nun ift ja 
alterdings Jeruſalem als die Stätte, wo der Mittler des Neuen 
Bundes fein allgenugfames, ewig gültiges Opfer dargebracht hat, 
mo er durch feine Auferftehung als der Fürft des Lebens ſich er- 
wiefen hat, wo der heilige Geift über die Jünger des Herrn aus 
gegoffen worden ift, auch erfüllungsgejejichtlich der Hauptſchauplatz 
der die Heilsvollendung herbeiführenden Gottesoffenbarungen und 
Gotteöthaten geworden; es bleibt als folder in gewiffen Sinne | 
auch für das neuteftamentliche Gottesreih ein Mittelpunkt, dem 

alle auf Gottes Heilsoffenbarung in dem Sohne gerichteten Blicke 

ſich zuwenden. Inſoweit ift Jeruſalems Erwählung and in der 

neuteftamentlichen Erfüllung zu ihrem Nechte gekommen; infoweit 

alfo auch jene durd) die ganze altteftamentliche Weißagung hindurch⸗ 

gehende Vorftellung als eine dem Rathſchluſſe Gottes entſprechende 





Zur Charalteriſtil der meſſianiſchen Weißagung ꝛtc. 228 


beſiegelt worden. Aber auch nur inſoweit; weder am Jeruſalem, 
noch an einem anderen Orte der Erde hat das Reich Chriſti, das 
„nit von dieſer Welt“ iſt, einen äußerlichen, ſichtbaren Mittel- 
punlt, wie ihm der Gotteöftant des Alten Bundes hatte; mit Chriſto 
ift die Zeit angebrochen, in der fowol Serufalem als der Garizim 
die Geltung als vor allen anderen Orten heilige Anbetungsftätten 
verforen Haben, die Zeit der aller Gebundenheit an Orte, Zeiten 
und äußerliche Formen enthobenen Anbetung Gottes im Geift und 
in der Wahrheit (Joh. 4, 28f.). Das ausbrüdliche Zeugnis 
Chriſti und der thatfählic vorhandene Charakter feines Reiches 
Rift in der Vorftellung, daß Jeruſalem die bleibende Offenbarungs- 
und Anbetungsftätte Jehova's fein werde, eine bloße altteftament- 
liche Anfhauumgsform erkennen, welche die meffiantfche Weißagung 
nicht abzuftreifen vermochte; und zwar darum nicht, weil fie auch 
bei der Vorftellung eines anf die dieffeitige, irdiſche Welt 
beſchränkten Gottesreiches ftehen blieb, worauf wir fpäter zu. 
tüdfommen werden. — Deshalb hat denn auch die Vorftellung 
der Gottesſtadt Jeruſalem im N. T. eine fymbolifch»typifche Ber 
deutung erhalten. Wie ſchon die jüdifche Theologie von dem ums 
teren Jeruſalem (myby orıyımı) das obere (naun-byi "), jene 
feitige, himmliſche, von welchem jenes nur das irdifche Abbild ift, 
umerſchieden, und wie Philo’8 fpeculativer Idealismus in der Gottes · 
ftadt Jeruſalem ein Bild der Welt, als der Wohn und Offene 
barungeftätte Gottes, oder der Seele des Weifen, in welcher Gott 
Bohrung macht, gefunden Hatte *), fo ftelit auch das N. T. dem 
irdifchen Jeruſalem als fein Gegenbild dag himmliſche gegenüber; 
und es bezeichnet mit diefem ſymboliſchen Ausdrud, im Gegenjag 
zu dem. durch jenes repräfentirten altteftamentlichen Gottesſtaat, das 
feinem Charakter nach der überſinnlichen, himmlifchen Welt anger 
hörige Reich Ehrifti, als Stätte der wefenhaften Gegenwart Gottes 
und der vollen Gemeinfchaft mit ihm, wobei dasfelbe gedacht wird 
als in der Kirche fchon jet auf der Erde beftehend, aber in voll⸗ 
endeter Geftalt derzeit nur im Himmel vorhanden, und erft mit 
der Wiederkunft Chrifti von da aus aud auf die Erbe hernieder⸗ 


a) Bol. meinen Lehrbegeiff des Hebräerbriefts, ©. 268 f. - 
15* 


224 Riehm 


tommend *). Dieſes himmliſche Jeruſalem tritt im Neuen Bunde 
an die Stelle des irdiſchen, welches von jenem nur ein Schatten 
bild war; und fo Haben denn auch die neuteftamentlihen 
Säriftfteller die Weißagungen der Propheten von 
der Berherrlihung Jerufalems, als der Wohn- und Offen 
barungsftätte Gottes im meffianifchen Reiche, unter Abftreifung 
der aftteftamentlichen Hüffe, auf dies himmlische Jeruſalem, auf 
das Rei ChHrifti bezogen (vgl. z. B. das Citat in Gal. 
4, 27), und fanden darin insbefondere die dereinftige, zur Zeit 
der Parufie erfolgende Aufrichtung desfelben in feiner herrlichen 
Vollendung geweißagt, wofur die zahlreichen, aus den letzten Ka— 
piteln Ezechiels und aus Deutero-Jeſaja entlehnten Züge in dem 
von dem Apofalyptiter entworfenen Bilde des neuen Serufalems 
bie augenfälligften Belege find. 

Wird es ſich nun anders verhalten mit der ebenfalls durch die 
ganze altteſtamentliche Weißagung hindurchgehenden Vorſtellung, daß 
Israel, als das erwählte Eigentumsvolk Jehova's, auch in der 
Vollendungszeit ber in feiner nationalen Eigentümlichkeit ſich er 
haftende Kern des Gottesvolfes bleiben, als Nation eine königliche 
Herrſcherſtellung im meſſianiſchen Reiche einnehmen und für die 
übrige Menfchheit das priefterlich zwiſchen ihr und Gott ftehende 
Mittlervoit fein werde? In prophetifcen Anfündigungen folden 
Inhaltes will befanntlich eine Anfhauung, die in früheren Jahr⸗ 
hunderten nur vereinzelt auftauchte, aber durch Bengel und feine 
Schule nachdrücklich geltend gemacht wurde, und im neuerer Zeit 


a) Und zwar ift in dev Apokalypſe (3, 12; 21, 2ff. 10ff.), im unmittel- 
baren Anſchluß an das jübifche Theologumenon, „das neue Jeruſalem“ 
dag Reich Chriſti in feiner jenfeitigen Vollendung, wie es jet 
nur im Himmel vorhanden ift, und erſt zur Zeit der Barnfie von da zur 
Erde fid) herabſenkt. Im Hebräerbriefe (11, 10.16; 12, 22; 18, 14) 
dagegen bezeichnet „das himmliſche Jeruſalem“ das in feiner Vollendung 
allerdings erft im Himmel vorhandene uud infofern noch zukünftige, aber 
auch ſchon jet in diefer irdiſchen Welt aufgerichtete, den Gläubigen ben 
Verkehr mit der überſinnlichen, himmliſchen Welt und den Genuß ihrer 
Güter ermöglichende Reich Chriſti (vgl. meimen Lehrbegriff des Hebräcr- 
briefes, S. 117 ff). Und weſentlich diefelbe Bedeutung Hat auch „das 
obere Jeruſalem“ bei dem Apoſtel Paulus (Gal. 4, 26 vgl. Phil. 3, 20). 





Zur Charakteriftik der meſſianiſchen Weißagung ꝛc. 225 


in England und Deutfchland vielen Eingang gefunden hat, auch 
durch namhafte Theologen, wie Mid. Baumgarten, J. T. Bed, 
Auberlen, v. Hofmann, Deligfh, Stier u. U. vertreten 
ift, Weißagungen erkennen, die dereinft, wenn die xargol EIrdv 
abgelaufen find, an Israel, als Nation, nach ihrem vollen Worte 
fin fich erfüllen follen. Dem Volke Israel, fagt man, kommt 
koft feiner Ermählung ein» und fr allemal der heilsgeſchichtliche 
Beruf zu, Empfänger und Vermittler der göttlichen Offenbarungen 
zu fein, und die Beftimmung, als königliches Prieftervolf die Ber 
ziehungen der übrigen Menfchheit zu Gott zu vermitteln. War 
Israel mun auch in der Zeit des Alten Bundes Empfänger der 
göttlihen Offenbarungen, und ift aud fein Beruf und feine Wer 
ftimmung dur Chriſtum und bie Apoftel, die ja ſämmtlich Y8- 
taeliten waren, erfüllt worden, fo find doch damit die Abfichten, 
welche Gott bei Israels Ermählung Hatte, noch nicht zu voller 
Ausführung gefommen, und die ihm gegebenen Verheißungen, daß 
es dereinft als Volt heilig fein und feinen Priefterberuf für alfe 
Voller Üben werde, noch nicht erfüllt. Auch in der Zeit des Neuen 
Bundes bleibt ihm fein Beruf, bleiben ihm dieſe Verheißungen; 
und zwar trog feiner Verſtockung gegen die Gottesoffenbarung in 
dem Sohne und feiner zeitweiligen Verwerfung; denn Gottes Gaben 
und Berufung mögen ihn nicht gereuen (Röm. 11, 29); und jene 
Berheißungen gehen auf die letzte Vollendungszeit, in welcher das 
Reich Gottes in feiner vollen Herrlichkeitserſcheinung in's Dafein 
treten wird. Nach der jegigen Periode des Reiches Gottes, nad) 
den Zeiten ber (Heidenchriftlichen) Kirche, wenn das taufendjährige 
Reich aufgerichtet werden wird, wird das befehrte und aus ber 
Zerftreuung in das Heilige Land gefammelte Israel an die Spitze 
der Menfchheit treten. Dann wird die feit Israels Verwerfung 
derftummte göttliche Offenbarung wieder beginnen; dann wird, was 
die verffärten Priefterfönige im Himmel find, das Priefterfönigtum 
des Volles Israel auf der Erde fein; dann erft erfüllt es als 
Volk feine Beſtimmung und wird der ihm verheißenen Herrlichkeit 
theilhaftig *). Es ift dann nur confequent, wenn einzelne Vertreter 


a) Man vergleiche beifpielsweife Auberlen, Der Prophet Daniel und die 


*6 J Riehym 


eſer Anſchauung nicht nur die Sammlung ber zerſtreuten ißr 
tifchen Nation im Lande Kanaan und die Wiederherftellung | 
iſalems als Hauptftadt des Gottesreiches, fondern auch den A 
m des von Ezechiel befchriebenen Tempels und das Wieberaufle 
s cärimonialen und bürgerlichen Gefeges Mofis in dem Cul 
ad der Verfaffung des taufendjährigen Reiches als bevorfteh 
warten *). Diefe Auffaffung der altteftamentlichen Weißagun 
ihmt man, der ſchon feit dem dritten Jahrhundert in der Ki 
errſchenden und als rechtglaubig geltenden fpiritualiftifchen ı 
ıpifch »alfegorifchen Auslegung gegenüber, als einen fehr weſe 
chen Fortſchritt, den die neuere Zeit in dem Verftändniffe 
sopbetifchen Gotteswortes gemadt Habe; als einen. Fortfcht 
ch welhen die Schriftanslegung fowol dem wahren, geſchi 
chen Sinne der Weißagungen, als „dem biblifchen Realism 
ft gerecht werde. — Allein diefer Ruhm dirfte doch theilm 
n zweifelhafter fein. Das freilich unterliegt feinem Zweifel, 
ı dem Verlaffen jener in der Kirche herkömmlichen fpiritwaliftife 
id ber Annäferung an die ftreng Hiftorifche Interpretationsmeth 
a Fortſchritt zu erfennen ift. Wenn aber dann dieſer geſchi 
he Sinn, ohne Unterfcheidung der zeitweiligen und individue 
nfchauungsformen und des idealen ewigen Gehaltes, ohne weite 
ir eigentlichen Weißagungsfubftanz gerechnet, und als reine un 
illte Kundmachung der auf die fchliegliche Vollendung des Gott 
iches bezüglichen göttlichen Rathſchlufſe betrachtet wird, fo f 
> darin feinen Fortſchritt, fondern nur einen Rückſchritt und 
ıbaiftifhen Irrtum erfennen. Es ift eine Ueberſchätzu 
r Bedeutung des gejchichtlichen Sinnes, die auf derfelben ei 


Offenbarung Johannis (1854), S. 341ff.; deffelben Mbhanbfung i 
bie meſſianiſchen Weifagungen der mofaifhen Zeit in den Jahrbb. f. 
Theol., Jahrg. 1858, Heft IV, beſ. S. 791. 801 ff. 834 ff. und He 
manns Sqhriftbeweis, Sb. II, Abth. 2, ©. 74ff. (der erſten Kuflage 

8) So 3.8. 3.3. Heß in feinen Briefen über bie Offenb. Joh., ©. 130 
aber aud; Auberlen, Der Prophet Daniel, ©. 352 und Hofma 
a. a. D., ©. 538, wiewol in weniger buchftäblicher Auffaffung, fo 
M. Baumgarten im Wet. „Ezechiel“ in Herzogs Realenchkiopä 
IV, 3085. 


Zur Eharakteriftit der meſſianiſchen Weißagung ac. 237 


feitig fupranaturaliftifhen Betrahtungsmweife ber 
Beifogungen beruht, wie jene ungeſchichtliche, fpiritualiftifche Zu- 
terpretationsmethode der älteren Orthodoxie; mit dieſer theilt fie 
darum auch bie irrtümliche Vorausfegung, die altteftamentliche 
Beifogung müffe von der nenteftamentlihen Erfüllung vollftändig 
gedeckt und jeder einzelne Zug berfelben feinem ganzen Inhalte nach 
erfüllt werden; und mit ihr macht fich auch diefe Anſchauung der 
Vermiſchung des Alte und des Neuteftamentlichen ſchuldig, nur 
daß jene neuteſtamentliche Erkenntniffe in das U. T. einträgt, 
während diefe was der Delonomie des Alten Bundes angehört 
in bie des Neuen herübernimmt. 

Es ann hier feine in's einzelne eingehende Begründung dieſes 
Urtheils gegeben werden, zumal die Widerlegung der Borausfegungen, 
auf welchen jene Anficht beruht, großentheils ſchon in den, in un« 
feren erften beiden Artikeln enthaltenen Ausführungen über das 
Befen und den gefchichtlichen Charakter der meifianifchen Weißagungen 
liegt. Wir wollen nur einige allgemeine Geſichtspunkte hervorheben, 
von welchen aus ihre Unhaltbarkeit Teicht erkannt werden kann *), 
ud uns im übrigen auf eine_pofitive Darlegung des wahren Sach⸗ 
verhalts befchränfen. 

Es ift zumäcft ſchlechterdings unmöglich, jene Anfchauung 
auch nur mit einiger Conſequenz durchzuführen. Schon 
inter den altteftamentlichen Elementen des Weißagungsinhaltes fin« 
den fi mande, von denen auch die entſchiedenſten Vertreter der⸗ 
felben nicht annehmen können, daB fie, ebenfo wie die übrigen, 
dereinft nach ihrem vollen gefchichtlichen Sinne ſich erfüllen werden, 
bei denen fie vielmehr genöthigt find, zu der alten allegorifch- 
tpifchen Auslegung ihre Zuflucht zu nehmen. Wir erinnern beir 
ipielöweife an die nachdrückliche Geltendmahung des Unterfchiedes 
wilhen Prieftern und Laien und des Privilegiums der Nachkom⸗ 
men Zabols, fowie an die Erwähnung der Darbringung von Sünde 


a) Dabei wollen wir aber nicht unterlaffen, den Vertretern derfelben die treff» 
lichen Abhandlungen Bertheau's über „Die altteftamentfiche Weißagung 
von Israels Reihsherrlichteit in feinem Lande” in den Jahrbb. f. D. Th, 
Jahrg. 1859, ©. 814ff. u. 595ff. umd Jahrg. 1860, ©. 486ff. zu 
nener, unbefangener und gründlicher Erwägung beftens zu empfehlen. 


228 Richm 


und Schuld, und überhaupt von Thieropfern in der mefflanifchen 
Weißagung Ezechiels. Hier würde die Durchführung jener Ans 
ſchauung zum Handgreiffichften Widerſpruch nicht nur mit den 
MHarften Zeugniffen des N. T.'s, fondern auch mit der meſſianiſchen 
Weißagung des -Alten Bundes ſelbſt führen; hier muß darum 
irgend eine typifch-alfegorifche Erklärung helfen. . Gewiß aber ges 
hört die Inconfequenz, welche darin Liegt, daß ſolche Züge typiſch⸗ 
allegoriſch, das meifte Andere aber nad) feinem Wortfinn verftanden 
wird, nicht Ezechiel an, fondern dem Ausleger, der einen falſchen 
„Hauptſchlüſſel zum Verſtändnis des prophetifchen Wortes“ ) mit ⸗ 
bringt. — Aber noch mehr! Schon Bertheau- hat treffend 
hervorgehoben, daß die Ankündigung der „Reichöherrlichteit Israels· 
in den einzelnen Weißagungen faft durchweg im engften Zufammen- 
hang fteht mit demjenigen Theil ihres Inhaltes, der fich auf bie 
geſchichtlichen Verhäftniffe ihrer Entftehungszeit bezieht, und daß 
darum die Anficht, man habe ihre dereinftige Erfüllung nach ihrem 
vollen Wortfinn zu erwarten, fih nur dann confequent durchführen 
Tiege, wenn man die Wiederkehr alfer jener gefchichtlichen Verhält⸗ 
niffe vorausfegen könnte ?). Da dies nun an fid unmöglich ift, 
weil die geſchichtlichen Verhältuiſſe der einen Zeit die der andern 
ausfhließen, und da zu ber abenteuerlichen Annahme, es werbe vor 
der erwarteten Reftitution des Reiches Israel die aſſyriſche und 
die babplonifche Weltmacht, e8 würden die Philifter, die Edomiter, 
die Moabiter, die Ammoniter wieder auf den Plan der Weltgefchichte 
treten, e8 werde auch die Spaltung zwifchen dem Reiche Juda und 
dem Zehnftämmereiche wieberfehren, um fi aufheben laſſen zu 
fönnen u. ſ. w., niemand ſich entſchließen mag, fo bleibt man auch 
bier bei der herkömmlichen typifch-allegorifchen Erklärungsweiſe. 
Welche Inconfequenz ergibt fih nun aber bei diefem Verfahren! 
Wir follen es buchftäblich verftehen, daß das Volk Jsrael im Lande 
Kanaan gefammelt werden und dort unter dem Regimente des 
Sohnes Davids einen mächtigen blühenden Staat im Mittelpunkte 
des Reiches Gottes auf Erden bilden wird, aber nicht buchftäblich 


a) Worte Auberlens, Der Prophet Daniel, S. 344. 
b) Bgl. Bertheau a. a. O., Jahrg. 1859, S. 356. 368, 





Zur Eharakteriftit der ineffianifchen Weißagung 2c. 229 


die damit verbundenen Anfündigungen, daß es ben’ Reſt Edoms, 
die Philifter, die Ammoniter und Moabiter fih unterwerfen werde 
(gl. 3. B. Am. 9, 12. Jeſ. 11, 14); wenn Jeſajas das Gottes- 
reich der Bollendungszeit ſchildert als eine die ganze damals bes 
lannte Welt umfafjende Univerfaltheokratie, beftehend aus drei von 
einander unabhängigen, aber in frieblichem Verkehr ftehenden und 
in gleicher Weife Jehova angehörenden und Ihm dienenden Reichen, 
Jerael als vorzugsweife gefegnetes Stammland Jehova's in ber 
Mitte und Affur und Aegypten zu beiden Seiten (ef. 19, 23ff.), 
fo fol, was von dem Volle Israel gefagt ift, wörtlich gemeint 
fein und nad) jeinem vollen Wortfinn fich erfüllen, nicht aber daß, 
was fih auf Affur umd Aegypten bezieht; überhaupt folfen wir 
kei der Erwähnung Israels immer an die israelitifche Nation 
denten, fobald aber andere Völker genannt werden, foll das Wort 
der Weißagung nicht die gefchichtlichen Völfer meinen, die uns unter 
den betreffenden Namen befannt find, fondern dieſe ſollen nur ty— 
piſche Repräfentanten der dem Gottesreiche gegenüberftehenden Welt 
reiche fein. — So bleibt alfo diefe Auffaffung der Weißagungen 
in den Fehlern der herkömmlichen typifch «alfegorifchen Interpre⸗ 
tation, welche fie verbeffern wollte, ſtecken, und ift wegen ihrer 
Halbheit und Inconſequenz nur noch unhaltbarer als diefe felhft. 
Schon aus den eben gemachten Bemerkungen erhellt auch, wie 
fehr fie den wahren gefchihtlihen Charakter der Weißagung 
verfennt. Sie verfennt ganz befonders, daß fir die Propheten 
und ihre Zeitgenoffen auch Nahebevorftehendes ſchon ganz verffärt 
wird von dem Lichte, das don dem Ende der Wege Gottes darauf 
fat, daß alſo nahebevorftehende Heils- und Gnabenzeiten häufig 
fo gefhildert werden, als ob ihr Anbruch ſchon der Anbruch der 
Vollendungszeit wäre). Die echt geſchichtliche Betrachtung der 
Weißagungen hat in ſolchen Fällen felbftverftändfid die Ankündigung 
der dem Volke Israel für eine mehr oder weniger nahe Zufunft 
und unter beftimmten zeitgefchichtlichen Verhältniſſen in Ausſicht 
geftellten Gnaben- und Erföfungsthaten feines Gottes und die ideale 
Haltung und Färbung, welche diefelbe dadurd; gewinnt, daß für 





3) Bıl. Jafıg. 1865, ©. 44öf, 


230 Riehm 


das Bewußtſein des Propheten dieſes Israel zugeſagte Heil ud 
das Heil der Vollendungszeit in einander fliegen, zu unterfceiden. 
Sie wird es darum als in der Natur der Sache begründet erkennen, 
daß die zeitgefchichtliche Erfüllung der Israel gegebenen Verheißung 
nur eine relative, theilweife, an innerer Bedeutung und am äußerer 
Herrlichteit dem in der Weißagung entworfenen Bilde beträchtlich 
nachſtehende fein muß; und fie wird anerkennen, daß die Weißagung 
nad) ihrem idealen Gehalte no eine höhere, vollere, end- 
geſchichtliche Erfüllung finden muß; nimmermehr aber wird fie 
diefe endgeſchichtliche Erfüllung als eine ſolche anfehen können, die 
dem gefamten Wortfinn der Weißagung auch äußerlich 
völlig entfprechen werde; weder wird fie die concreten Weißagungs⸗ 
elemente, welche ſich auf die in ber folgenden Gefchichte Jsraels 
vorliegende ‚Erfüllung beziehen, zu jenem idealen Gehalt rechnen 
und ihre nochmalige glänzendere Erfüllung erwarten, noch wird fie 
ohne weiteres vorausfegen, daß der ideale Gehalt der Weißagung 
ebenfalls ſpeciell der israelitifchen Nation gilt, und an ihr al 
folder ſich erfüllen fol. — Es ift alfo eine Verlennung des ge: 
ſchichtlichen Charakters der Weißagung, und ein Außer» Acht =Taffen 
der Belehrung, welche der weitere Verlauf der Gefchichte des Reiches 
Gottes über den Unterfchied der zeit- umd der endgeſchichtlichen 
Elemente im Inhalte der Weißagungen gibt, wenn man jagt: was 
von Israels Bekehrung und herrlicher Wiedereinfegung in das ger 
lobte Land geweißagt ift, Hat ſich in feiner Heimkehr ans dem ba- 
byloniſchen Exil und den kümmerlichen Jahrhunderten der Wieder: 
herftellung des altteftamentlichen Gottesftantes nur fehr unvoll⸗ 
fommen erfüllt; darum ift feine vollere Erfüllung in der dereinftigen 
Sammlung des befehrten Israel im heiligen Lande und der Reihe 
herrlichkeit, mit der es dann beffeidet werden wird, noch zu erwarten, 
fofern man überhaupt an die Erfüllung der Weißagungen glaubt ®). 
Bas nur der Vorftufe der zeitgefchichtlihen Erfüllung angehört, 
wird Hier ohne weiteres auf die endgefchichtliche Erfüllung über 
tragen; was in Wirklichkeit Anfang der Erfüllung ift, wird zum 
volfendenden Abſchluß derfelben gemacht. 


a) Bol. Auberlen, Der Prophet Daniel, ©. 348. _ 





Zur Eharakteriftif der meſſianiſchen Weißagung 2c. 231 


Ferner hat die Hier belämpfte Auffaffung der Weißagungen von 
Zeraels Reichsherrlichleit Die Analogie gegen fi. Wir haben 
gejehen: es gibt innerhalb der meſſianiſchen Weißagung des Alten 
Bundes bedeutende Stufenunterſchiede in Betreff der Feſthaltung 
der altteftamentlichen Anfchauungsformen; auf den Höhepunkten 
ihrer Entwidelung jtreift fie viele berjelben ab, gibt uns alſo felbft 
Anweifung, feine dem vollen Wortfinn entſprechende 
Erfüllung folder Weißagungen zu erwarten, Statt um dieſem 
Fingerzeig zur folgen und nach diefer Analogie auch die durch bie 
ganze altteftamentliche Weißagung Bindurchgehenden altteftamente 
lichen Anfchauungsformen zu beurtheilen, verfümmert und beſchrankt 
jene Anſicht, fobald fie mit einiger Eonfequenz durchgeführt wird, 
m Gunften des Wortfinnes der in den Schranken der altteftament- 
lichen Anfhauungsformen ſich Haltenden Weißagungen den Inhalt 
der höher entwicelten, der neuteftamentlichen Heilserkenntnis näher 
lommenden. Statt nach dem da und dort unverhüffter fich offen⸗ 
barenden Geifte der Weißagung den Buchſtaben derſelben zu beure 
theifen, wird umgekehrt durch Geltendmachung des Buchſtabens jene 
Offenbarung bes Geiſtes der Weißagung wieder verdunkelt. — 
Bir Haben aber auch noch eine vollftändigere Analogie, gegen welche 
man verftößt. Es ift fehon gezeigt worden, wie es ſich nach dem 
Zengniffe des N. T.'s mit der Vorftellung verhält, dag Jeruſalem 
auch in der meffianifchen Zeit die Wohn- und Offenbarungsftätte 
Fehova's und der ‚Mittelpunkt des Gottesreiches bleiben werde. 
Diefe ebenfalls durch die ganze altteftamentliche Weißagung hin« 
durchgehende Vorftellung hängt mit der Weißagung von Israels 
NReicheperrlichleit in feinem Lande auf's unauflöslichſte zufammen. 
Wenn nun fie zwar bei der Gründung des Meiches Chrifti fich 
auch erfüllungsgefchichtlich fo weit bewährt hat, als es der durch 
Gottes Rathſchluß ‚geordnete nicht bloß vorbildliche, fondern auch 
organisch» geſchichtliche Zufammenhang des alt- und des neutefta« 
mentlihen Gottesreiches und Gottesvolles mit ſich brachte, im 
übrigen aber für das Reich Chrifti nur eine ſymboliſch- typiiche 
Bedeutung behält, fo darf die Ankündigung von Israels Reice- 
herrlichteit in feinem Sande nicht ganz anders, fondern nur dieſer 
Analogie gemäß beurtheilt und aufgefaßt werben. 


232 Riehm 


Endlich muß auch noch hervorgehoben werden, daß die Anfiht 
unferer Gegner zu Gunften ber israelitifhen Nation zuvörderſt 
der Kirche Jeſu Ehrifti den größten Theil der Verheißungen 
abfpricht, deren fie fi) bisher. glaubte getröften zu dürfen. Denn 
von allen Israel, als dem ermählten Eigentumsvolke Jehova's, 
gegebenen Berheißungen — und fie bilden ja die große Mehrzahl — 
wird behauptet, daß fie nicht nur nad) ihrem geſchichtlichen Sinne 
(was wir entfchieden anerfennen), fondern auch nach ihrer gott: 
gewollten offenbarungs- und heilsgefchichtlichen Abzielung auf die 
Erfüllung Israel, als Volt, als Nation gelten. Nur mittelbarer 
Weife dürfte die ihrem Grundcharakter nach heidenchriſtliche Kirche 
diefelben auch als ihr gegebene Heilsverheigungen betrachten. Als 
unmittelbar ihr geltende blieben ihr nämlich noch die Weißagungen 
don dem Eingange der Heiden in das Reich Gottes und ihrer 
Theilnahme an dem Israel gefchenkten Heile; und diefe würden 
ihr denn allerdings die Berechtigung geben, die nach ihrem eigent- 
lichen Sinne dem Volle Israel für die Zeit feiner dereinftigen 
Belehrung gegebenen Verheißungen mittelbar auch auf ſich felbft zu 
beziehen. Nicht aus „heidenchriſtlichem Stolz“ *), fondern im dank⸗ 
baren Bewußtſein der ihr geſchenkten Gnade Gottes und, wie wir 
bald fehen werden, auf da8 Zeugnis des N. T.'s geftügt, wird die 
Kirche gegen ein ſolches Ergebnis immer entfchieden proteftiven, 
und die Anficht, deren Frucht dasfelbe ift, als unkirchlich und hetero⸗ 
dog verwerfen. — Aber noch mehr! Jene Anficht nimmt, um 
Israel zu verherrlichen, and Chriſto felbft die ihm gebikrende 
Ehre. Denn wenn das Volt Israel für immer dazu beftimmt 
ift, als priefterliches Mittlervolt die Beziehungen der Menſchheit 
zu Gott zu vermitteln, und dereinft im taufendjährigen Reich diefe 
Beftimmung erfüllen und „den Nationen nod) anf eine ganz andere 
herrlichere Weife als bisher den Segen der Gottesgemeinfchaft ver⸗ 
mitteln wird“ ®), fo ift Chriftus’ nit mehr der einige Mittler 
zwiſchen Gott und den Menfchen, fo wird die Mittlerfchaft Israels 
zwiſchen ihn und die übrige Menschheit eingefchoben, und zwar fo, 


a) Auberlen, Abhandl., ©. 835. 
b) Auberlen, Der Prophet Daniel, &. 346 und Abhandl, S. 803. 





Zur Eharakteriftit ber meſfianiſchen Weißagung zc. 288 


deß die volle Wirkſamkeit feines Mittleramtes von Israels Mittler 
ſchaft abhängig gemacht wird. Und wenn Israels Belehrung und 
Errettung „für die heidnifchen Völfer erft die rechte Neubelebung“ 
fein fol, fo ift wiederum die volle Offenbarung und Wirkſamleit 
Chriſti als des rvsöue Lwonosodv für die Bölfer und die heiden« 
Hriftfiche Kirche durch das Verhalten Israels bedingt und an feine 
noch zu erwartende treue Erfüllung feines Berufes gebunden. Wenn 
vollends jene Anficht auf diejenigen Weißagungen angewendet würde, 
welche ihre Vertreter direct meffianifch zu deuten pflegen, während 
fie in Wahrheit nach ihrem gefchichtlihen Sinne ebenfalls auf Is⸗ 
tael als Bolt Gottes ſich beziehen, auf die gefamte Weißagung von 
dem Knechte Gottes, fo ‚würde e8 noch viel mehr offenbar, wie 
ſolche Ueberfchägung der Bedeutung des gefchichtlihen Sinnes der 
Weißagungen nothwendig dazu führt, daß die Ehre des Namens 
Rſu Chriſti gefeämätert und die Allgenugfamteit feines Heilswertes 
verfannt wird. 

Indeſſen gehen viele Vertreter der von ung befämpften Anſi ht 
nit fo weit, als z. B. Auberlen gegangen ift. Sie erwarten 
kine Erfüllung der Weißagungen von Joraels Reichsherrlichkeit 
nah ihrem vollen Wortfinn; daß mandes davon im Lichte der 
neuteftamentlichen Erfüllung als altteftamentliche Hille der gött- 
lichen Heilsgedanken anzufehen ift, wird zugeftanden, und nur der 
allgemeinere Grundgedanke, daß Israel in feiner Zerftreuung unter 
den Nationen der Erde in gefonderter Exiftenz für feine legte Be⸗ 
ſtimmung erhalten werden, und, wenn die Zeiten der Weltvölfer 
erfüllt find, als Volt dem Rufe des Evangeliums folgen und feine 
eentrale Stellung im göttlichen Reiche wieder einnehmen foll, wird 
feitgehaften als eine noch ihrer Erfüllung Harrende Weißagung *). 
Diefen allgemeineren Grundgedanken als weſentlichen Beſtandtheil 
des Weißagungsinhaltes zu betrachten, dazu glaubt man theils durch 
die Thatfache, dag Israel in feiner Zerftreuung bis auf den heu⸗ 
figem Tag noch eine gefonderte nationale Eriſtenz Bat), theils durch 





2) So 3. B. Dehler im Art. „Weißagung” in Herzogs Realenchfiopäbie, 
S. 668f. 
b) „Das Wunder der Erhaltung Israels bis auf dieſe Stunde, während alle 


284 Riehm 


das Zeugnis des N. T.'s genöthigt zu fein. Dieſer Modiſficatien 
und Begründung jener Anſicht gegenüber verlieren unſere obigen 
Einwendungen ihr Gewicht; ihr gegenüber- kann es ſich nur noch 
darum handeln, ob fie wirklich das Zeugnis des N. T.'s für fih 
bat, und wir wenden uns daher mım zur pofitiven Darlegung des 
wahren Sachverhaltes. 

Die altteftamentlihe Weißagung kennt allerdings „nur eine zit 
weilige Verftogung Israels, die zugleich in folder Weiſe erfolgt, 
daß Israel als Volt nicht untergeht, fondern zu feiner kunftigen 
Wiederbringung aufbewahrt wird“ *). Zur richtigen Würdigung 

. biefes Thatbeftandes darf zweierlei nicht außer Acht gelaſſen werben. 
Einmal nämlich gelten die Verheißungen der Propheten trogben 
nicht der Nation Israels als folder, dem Jsrael nach dem Fleiſch, 
fondern fie gelten im nur, fofern es auch wirklich das ermählte 
Eigentumsvolt Jehova's ift; daher die Weißagung von der Sich⸗ 
tung und Säuterung des Volfes durch die göttlichen Strafgerichte, 
und von dem in den Gerichten erhaltenen Reſt, aus welchem das 
Bolt Gottes fich erneuern ſoll. Erft infolge der göttlichen Gerichte 
wird theils durch Ausrottung der unbußfertigen Frevler, theils durch 
die Belehrung der übrigen und die allgemeine Geiſtesausgießung 
Geſamt⸗gIsrael zum wahren Gottesvolke, welches die Erfüllung der 
Verheißungen zu hoffen hat. — Damit ift num aber weiter zus 
fammenzuhalten, daß für das prophetifche Bewußtfein an die Fort 
exiftenz des Volkes Jsrael überhaupt die Erhaltung, bezichungs 
weife die Wiederherftellung eines Volles und Reiches Gottes auf 
Erden unauflöglich geknüpft war; was ſich ja au, bevor bie 
Zeit erfüllet war, wirffich fo verhielt, falls nicht duch 3% 
raels Untreue das mit feiner Erwählung begonnene Heilswerk Gottes 
vereitelt werden und wieder ganz von neuem beginnen follte. Die 
Erhaltung des Volkes und Reiches Gottes auf Erden ift aber den 


anderen antifen Nationalitäten vernichtet oder doch durch Vermiſchung mit 
fremden Blut bis zur Untenntlichleit entſtellt find, diefes doppelte Wunder, 
da bie anderen Völker am ihren Wohnfigen bfieben, während Israel in 
alle Welt zerſtreut wurde, ift der große. Commentar ber Geſchichte zur 
Offenbarung.“ Auberlen, Der Prophet Daniel, ©. 348. 

8) Borte Oeh ler's a. a. O. 





Zur Eharakteriftit der meſſianiſchen Weißagung zc. 285 


Propheten ohne Zweifel die Hauptfache, wenn fie die Künftige Er⸗ 
loſung Israels aus der Gewalt der Heiden und die Wiederher⸗ 
ſtellung des israelitiſchen Staatsweſens in Ausficht ftellen, obſchon 
fie beides nicht mit Bewußtſein von einander unterfeheiden.. — 

. Hieraus erhelit ſchon, daß e8 nit einmal der wahren Mei— 
nung der Bropheten entfpricht, wenn man ihre Israel, als 
dem Eigentumsvolfe Jehova's, gegebenen Werheigungen fo auffafen 
mil, als ob fie dem befehrten Israel, als Nation, im Unters 
ſchied und Gegenfag zu einem unterdeffen aus J8+ 
tael und aus den Heiden gefammelten Bolfe Gottes 
gelten ſollten. 

Bern num die vorerififche und die erilifhe Weißagung bie Er⸗ 
löſung Israels aus der affgrifhen und babyloniſchen Gefangen» 
ſchaft, feine Heimkehr und Sammlung in das Heilige Land, den 
Wiederaufbau Yerufalems und des Tempels und die Wiederauf- 
richtung des zertriimmerten Gottesſtaates in Ausſicht ſtellt, fo find 
diefe göttlichen Zufagen befanntlich in den Zeiten Serubabels, Esra's 
und Nehemia's an Israel als Volk auch erfüllt worden. Darum 
verſchwinden fie aus dem Inhalte der nacherxiliſchen Weißagung, 
die nur noch einmal für die im Often und Weften, d. h. in alfen 
Ländern auch damals noch Gefangenen oder Zerftreuten Befreiung 
und Heimführung anfündigt (Sad. 8, 7f.)*). Allerdings ent⸗ 
ſprach diefe zeitgefchichtfiche Erfüllung auge nicht den idealen Schil- 
derungen, welche das Wort der Weißagung von der Wiederherftellung 
des Gottesreihes entworfen hatte (mas nur theilweife als Folge 
davon betradjtet werben Tann, daß Israel feinem Gotte noch nicht 
mit ganzem Herzen fich zumendete). Denn für das prophetifche 
Bewußtſein ſtellte ſich diefe Wiederherftellung zugleich als ſchließ⸗ 
liche Vollendung des Gottesreiches dar. Namentlich blieb die zus 
erſt von Deutero-Jefaja in voller Klarheit verkündete Weißagung 
noch unerfült, daß Gottes Abficht bei Israels Ermählung nunmehr 
zur Ausführung fommen, daß Israel als der Knecht Jehova's 





a) Die Stelle Sach. 2, 10ff. kann nur hierher gezogen werben, wenn man 
die Eigentümlichleit der in den Nachtgeſichten Sacharja's ſchon herrſchen- 
den apolalyptiſchen Darftellungsmeife verkennt. 


236 Riehm 


durch Erfüllung feines prophetiſchen und prieſterlichen Berufes an 
allen Bölfern Gottes Heilsrath über die Menfchheit ausführen, und 
felbft der ihm beftimmten, priefterTich - Königlichen Herrlichkeit theil- 
haftig werden folle. Diefer Gegenfag zwiſchen der zeitgefchichtlichen 
Erfüllung und dem viel Herrliheren Inhalte der Weißagung — 
für den DVerfaffer des Buches Daniel ein Räthſel, deffen Löfung 
ihm nicht eigene Reflerion, fondern göttliche Offenbarung gibt 
(Dan, 9) — wies darauf hin, dag die Erlöfung Israels aus der 
Gewalt der Chaldäer und die Wieberherftellung des Gottesftantes 
nur als Anfang der Weißagungserfüllung zu betrachten fei, und 
daß das Volt Gottes ihrer vollen Erfüllung noch zu warten habe, 
wie e8 denn bie Aufgabe der nachexiliſchen Weißagung ift, die zu 
verfihtliche Hoffnung auf die bevorftehende Vollendung des Gotted- 
reiches in jenen kümmerlichen Zeiten lebendig zu erhalten. 

Und diefe Hoffnung wurde nicht zu Schanden. Ein weiterer 
vorbereitender Schritt auf dem Wege zur Erfüllung der Weißagungen 
Deutero = Jefaja’s ift fhon darin zu erfennen, daß Israel in den 
leisten Jahrhunderten vor Chriftus, befonders durch Vermittelung 
des alerandrinifchen Judentums und die Webertragung der Offen 
barungsurfunden in bie damalige Sprache der ganzen gebildeten 
Welt (LXX), unverkennbar einen Täuternden Einfluß auf die re 
ligiöſen Vorftellungen von Griechen und Römern geübt und viele 
ſuchende Seelen unter den Heiden zur Erkenntnis und Verehrung 
des wahren Gottes geführt Hat. — Aber erft als die Zeit erfüllet 
war, wurde auch die Israel, als dem Volke Gottes, gegebene Ber- 
heißung nach ihrem auf die Vollendung des Gottesreiches bezüg- 
lichen Inhalte erfüllt. Das Heil fam von den Juden (Joh. 4, 22). 
Chriſtus und feine Apoftel gehörten dem Volke Israel an. Das 
Gebiet der perfünlichen Berufswirkſamkeit Chrifti waren die ver- 

lorenen Schafe vom Haufe Israel. Den Juden wurde fein Heil 
zuerft dargeboten; Söhne Israels bildeten ben Grundftod der Ger 
meinde Jeſu Ehrifti und waren die erften Empfänger der Gabe 
des Heiligen Geiftes und die Boten des Evangeliums wie für ihte 
zerftreuten Brüder, fo auch für die Heiden. So erfüllte fich auch 
die auf die Vollendung des Gottesreiches bezügliche Weißagung 
als eine dem Volke Israel gegebene; in der nationalen 


Zur CEharakterifiif der meſſianiſchen Weißagung ꝛc. 237 


Zugehörigkeit Chrifti zu dem Volle Israel und dem organiſch⸗ 
geſchichtlichen Zufammenhang feiner Kirche mit dem erwählten Eigen- 
tumsvolle Jehova's ift es erfüllungsgefchichtlic, befiegelt worden, 
daß es dem Mathe Gottes entfprach, wen die Propheten die Ber 
heißung des mefftanifchen Heiles als eine dem Volle Israel ge⸗ 
gebene verfündigten. Die Erwählung Israels und die durch die 
ganze altteftamentliche Weißagung hindurchgehende Borftellung von 
feiner centralen Stellung im Reiche Gottes, fowie die Weißagung 
von feiner offenbarunge- und Heilsmittlerifhen Berufswirkamteit 
unter den Völkern ift alſo in der neuteftamentlichen Erfüllung zu 
ihrem Rechte gelommen. 

Aber nicht Gefamt-Yerael, nicht dad Voll als Bolt wurde des 
ifm dargebotenen Heiles theilhaftig, fondern nur ein Reſt, eine 
Auswahl, während die übrigen das Heil in dem Gekreuzigten und 
Anferftandenen in unbußfertiger Verſtockung verwarfen (vgl. Röm. 
11, 1—10). So ergieng nun über Israel ala Wolf das gött- 
liche Verwerfungsurtheil, und das Reich Gottes wurde, wie ſchon 
der Here ſelbſt angekündigt hatte, den Heiden gegeben. Das Volt 
Gottes beftand fort, aber nicht in Israel als Nation, fondern in 
der neuteftamentlichen Gemeinde, die aus dem „Refte“ Israels und 
aus den als Bürger und Hausgenoſſen in das Reich Ehrifti auf- 
genommenen Gläubigen aus den Heiden gebildet war. Was alſo 
für das prophetifche Bewußtſein noch unauflöslic verbunden ift: 
die Borftellung Israels als Nation und die Idee des Volkes 
Gottes, das tritt nun erfüllungsgefchichtlih auseinander: neben 
Serael als Nation, das jedenfalls für die gegenwärtige Weltperiode 
aufgehört hat, Volt Gottes und Bewahrer der göttlichen Heilsoffen- 
barung zu fein, fteht ein Gottesvolf, das feinem erften Beftand 
nad aus Israel hervorgegangen, alſo — gemäß der prophetifchen 
Weißagung — aus dem „Reſte“ Israels ſich erneuert hat, aber 
fo, daß es vorzugsweife durch den Zutritt der Gläubigen aus ben 
Heiden Beftand gewann. — Wer ift nun der rechtmäßige Erbe 
der dem aftteftamentlichen Bundesvolle gegebenen Verheißungen, 
foweit fie noch nicht erfüllt find? Denn daß ihre volle Erfüllung 
durch Chriftum noch bevorfteht, jo lange das Reich Chrifti noch 
nit zum alle Völker umfaffenden geworden, und bie innere Herr⸗ 

Deol. Stud. Jahrg. 1869. 16 


air... 


238 \ Rie hm 


lichkeit der Kirche Chrifti noch nicht zur Vollendung und zu fiht: 
barer Darftellung gefommen ift, ift zweifellos gewiß. — Offen: 
bar fann die gegenwärtige Berwerfung Israels nicht auf gleihe 
inte geftellt. werben mit der früheren zeitweiligen Verſtoßung in 
den, Zeiten, im welchen der Fortbeftand des Reiches und Volles 
Gottes auf Erden noch ganz von dem Fortbeftand der israelitiſchen 
Nation abhieng. Man ignorirt eine der Hervorragendften srfüllungs- 
geſchichtlichen Thatſachen und den in ihr liegenden Auffchluß zur 
richtigen Würdigung des prophetiſchen Gotteswortes, wenn man, 
was die Propheten im Hinblick auf diefe früheren Verftoßungen 
weißagen, einfach auf bie gegenwärtige Verwerfung Israels über 
trägt; und man wird — wie wir ſchon gefehen haben — nidt 
einmal dem wahren Sinn, welchen die Propheten felbft mit ihren 


Weißagungen verbanden, gerecht, wenn man wicht das neuteftament- 


Tiche Gottesvolk, fondern bie israelitiiche Nation als Erben ber 


noch unerfüllten, dem altteftamentlichen Bundesvolke gegebenen Ver- | 


Heißungen betrachtet. Im Lichte, welches die Erfüllungsgeſchichte 
auf die Weißagung fallen läßt, erfcheint als der rechtmäßige Erbe | 
derfelben nur das nenteftamentliche Gottesvoll. Von Israel aber | 


iſt zu fagen: damit, daß das Heil in ihm für. die ganze Menfd- 
heit bereitet worden ift, ift der Zweck feiner Erwähluug erreiät, 
hat es feinen offenbarungs- und heilsgeſchichtlichen Beruf ein- und 
für allemal erfüllt; durch Chriftum und die Apoftel ift fein Pros 
pheten- und Priefterdienft :ein- und für allemal gethan. orten 
participirt e8 an den dem Wolke Gottes gegebenen Verheißungen 
und an dem ihm übertragenen Beruf nur noch infofern und info 


weit, als e8 in die Kirche Chrifti eingegangen ift oder eingeht, und | 


zwar in ganz gleicher Weife und unter den gleichen Bedingungen, 
wie die Gläubigen ans den Heiden; d. 5. die einzelnen Is— 
taeliten haben daran Theil, fofern fie durch den Glauben Glieder 
des nenteftamentlichen Gottesvolfes werben, aber ohne Vorzug vor 
den andern. Dagegen hat Israel als Nation, feit e8 die Gnaden⸗ 
heimſuchung feines Meffias verſchmäht hat, Teinen Heil» und 
reichsgeſchichtlichen Beruf mehr, und die Verheigungen der Pro- 
npeten ftellen ihm feine Wiederherftellung in feiner nationalen 

eſonderheit, feine centrale Stellung im Reiche Gottes, keine 


Zur Eharakteriftit der imefftanifchen Weißagung sc. 2 


ihm als Ration beſtinnnte Reichsherrlichleit in feinem. Lande in 
Ausfiht. . 

Gegen den Einwand, daß ja doch im A.T. Israels Erwählung 
als eine fir immer erfolgte dargeftellt ift, ift zu erinnern: einmal, 
daß die Ermählung Israels ſich vermöge der israelitiſchen Abkunft 
Jeſu Ehrifti und der Entftehung der chriſtlichen Kirche aus dem 
Schoße Israels wirklich als eine Thatſache von ewiger Bedeutung 
und Tragweite darftellt; e8 verhält fich damit ganz ebenfo mie mit 
der Ermählung des Geſchlechtes Davids, von welcher das A. T. 
in gleicher Weife vedet wie von Israels Erwählung, und bie darin, 
daß Chriſtus als Sohn Davids geboren wurde, als eine für immer 
oefhehene ſich ausweiſt. Sodann aber ift im Hinblid auf bie 
Berwerfung Israels als Nation geltend zu machen, daß es im alt- 
teftamentlichen Gotteswort, wie ein nur relativ gemeintes obiyr 
(ogl. 3. B. Jeſ. 32, 14), fo auch ein-von den altteftamentlichen 
Shriftitellern zwar abfolut gemeintes gibt, das aber im weiteren 
Verlauf der Heilsgeſchichte zu relativer Geltung herabgeſetzt, d. h. 
als nach Gottes Rathſchluß nur relativ gemeintes offenbar wird. 
So verhält es ſich mit dem ewigen Prieftertum des Geſchlechtes 
Aarons und den damit verbundenen ewigen Prärogativen (vgl. 3.8. 
&. 40, 15. Num. 18, 19; 25, 13, aud) Ser. 33, 18ff.); fo 
mit der ewigen Erwählung Jeruſalems und dem ewigen Wohnen 
Jehova's dafelbit; fo aud mit der Erwählung der israelitifchen 
Nation für immer. Der treue Bundesgott erhält diefelbe aufrecht 
bis zu dem Zeitpunfte, wo er fein Wolf zu dem zuvorbeftimmten, 
bei der Erwählung in-Ausfiht genommenen Ziele geführt hat; 
aber nach Erreichung desfelben fann ihn „die Erwählung für immer“ 
nimmermehr bei der weiteren Voltführung feines Heilsrathſchluſſes 
an das Volt binden, das durch feine Verwerfung des dargebotenen 
Heiles untüchtig geworden ift, ihm als menfchliches Organ dazu 
zu dienen, und an deſſen Stelle er-fid, in dem neuteftamentlichen 
Gottesvolle ein anderes Organ zubereitet hat. 

Diefe Darftellung des Sachverhaltes hat das Zeugnis des 
N. T8 für ſich. Dosfelbe bezeugt allerdings durchweg, daß 
Gottes Verheißungen zunächft dem Volke Israel gegeben waren, 
und daß darum auch ihre Erfüllung, das Heil in Chrifto von Gott 

16% 


0 Riehm 


feiner Wahrhaftigkeit und Treue zuerſt Israel dargeboten wur! 
id werden mußte, während dieſe Darbietung an die Heiden, welche 
jott feine bundesmäßigen Zuſagen gegeben hatte, aus reinem ©: 
men erfolgte (vgl. den Gegenfag von dmg adAndeins Her 
ıd öndg EAeovs in Röm. 15, 8f.). Mit dem Apoftel der B 
hneidung (vgl. 3. B. Act. 2, 39; 3, 25f.) bezeugt dies befann 
ch auch in Wort (vgl. 3. B. Act. 13, 46. Röm. 1, 16; 3, 1f 
nd That ber Apoftel der Heiden. Aber ebenjo einftimmig fi 
ud) beide darin, daß, feit es eine Gemeinde Jeſu Chriſti git 
icht mehr Israel als Nation, fondern diefe aus ihm und aı 
m Heiden gefammelte Gemeinde das erwählte, Heilige und priefte 
he Eigentumsvolt Gottes ift (vgl. 1 Petr. 2, 9f. Röm. 9, 24| 
Kor. 6, 16. Tit. 2, 14)°). Sie ift das wahre Israel Gott 
dal. 6, 16. Röm. 9, 6ff.), der wahre Same Abrahams (Ror 
‚ 16ff. Gal. 3, 7. 29; 4, 28); weshalb bie dem altteftamen 
hen Bundesvolte gegebenen Verheigungen als ihr geltend und 
e ſich erfüllend betrachtet werden (vgl. die Eitate in Röm. 9, 25 
Kor. 6, 2. 16—18. Gal. 4, 27); Daß innerhalb der nei 
ftamentlichen Gemeinde die jitbifche und die Heibnifche Abkun 
inerfei Unterſchied begründet hiuſichtlich der Teilnahme an de 
Ehrifto dargebotenen Heile und der Bedingungen derfelben, di 
elmehr die vormafigen Heiden vollberechtigte Mitbürger der He 
zen und Miterben der dem Samen Abrahams gegebenen Be 
ißungen find, wird von dem Apoftel Paulus oft genug ausdrüc 
h gelehrt (vgl. Röm. 3, 29f.; 10, 12. 1Kor. 12, 13. Ga 
28f.; 6, 15. Eph. 2, 11—22. Rol. 3, 11). Im biefer volle 
leichberechtigung der Heideu mit den Juden im Reiche Chrift 
rin, daß ihr Verhältnis zu Chriftus und zu Gott und ihre Thei 
ihme an dem Heil und an den Verheißungen unter vollftän 
ger Aufhebung des bisherigen israelitiſch-natio 
ılen Charakters des Gottesreiches eine unmittelbare if 
fteht eben die. neue Erkeuntuis über die Berufung ber Heide 


a) Aud) Auberlen (Abhandl., S. 803) Tann dies natürlich nicht in Abrel 
ftellen, meint aber: «8 fei nur jo „für die jegige Weltzeit, wo Israel ve 
worfen ift“. 


Zur Charakteriftik der meſſiauiſchen Weißagung zc. 241 


in das Reich Chrifti, von welcher der Apoftel Paulus fagt, daß 
fe fo den früheren Gefchlechtern noch nicht fund gemacht worden 
fi (Eph. 3, 5), fofern nämlich bis dahin das Eingehen ber Heiden 
in das Reich Gottes immer mehr oder weniger zugleich als Ein» 
tritt in die nationale Gemeinfchaft Israels und ihre Theilnahme 
an dem Heile als durch Israel, den eigentlichen Empfänger des ⸗ 
felben, vermittelt erfchien *). — Mit diefen unzweideutigen Zeug- 
niffen des N. T.'s ift jedenfalls feinerlei heilsmittlerifche Priefter- 
ftelfung des befehrten Israel vereinbar. Dagegen ſchließen fie 
allerdings noch nicht aus, daß Israel als Nation, unbejchadet diefer 
Gleichheit, in dem Organismus de vollendeten Reiches Chriſti die 
hervorragendfte Stelle einnehmen könnte. Man hat in diefer Be- 
ziehung nicht ohne Grund mit dem Verhältnis von Juden und 
Heiden das von Mann und Weib verglichen ®). Aber dann müßte 
das N. T. nothwendig diefen dem jlidifhen Volke immer noch bfei» 
benden Vorzug ebenjo Mar und unzweideutig bezeugen, als jene 
volle Gleichberechtigung von Juden und Heiden. Am erften müßte 
ein folches Zeugnis in dem prophetiſchen Buche des N. Ts, in 
der Apofalypfe erwartet werden. Aber gerade Bier fucht man 
basfelbe vergeblich. Sie weiß wol von 144000 aus den zwölf 
Stämmen Israels erwählten Knechten Gottes, die in den 
bevorftehenden Gerichten bewahrt und als Sieger in das Reich der 
Herrlichkeit eingehen follen, im Unterfdied von der unzählbaren 
Schar der Ueberwinder aus allen Völkern der Erde (Apok. 7, 4ff.); 
aber in der Schilderung der legten Entwidelungsftadien des jeiner 
Vollendung zueilenden Gottesreiches, namentlich in der Ankündigung 
über das taufendjährige Reich kommt der Unterfchied zwifchen Is⸗ 
rael und den Heiden gar nicht mehr in Betracht, und gefchieht 
überhaupt des befehrten Israel gar feine Erwähnung, wol aber 
werden mit dem Namen Jeruſalems auch die der zwölf Stämme 
und viele Züge der von Israels Reichsherrlichkeit handelnden 


3) Nur in der Weißagung Jeſ 19, 19. und etwa Zeph. 2, 11 if diefe 
Schranke der prophetifchen Erkenntnis über den Eingang der Heiden in 
das Reich Gottes einigermaßen durchbrochen. 

b) Auberlen, Der Prophet Daniel, S. 847. 


242 Richm 


Weißagungen zur Befchreibung des Reiches Chrifti in feiner himm⸗ 
liſchen Vollendungsgeftalt verwendet. Die Behauptung, dieſe in 
der Apotalypſe vorhandene Lucke fei aus der altteftamentlicen 
Weißagung zu ergänzen *), hat feinen anderen Werth als dm 
einer Anerkennung dieſes Thatbeftandes. Diefer felbft aber ift ein 
entfcheidender Beweis dafür, daß der Apofalyptifer, ber ſich doch 
au auf den „biblischen Realismus“ verftand und an die Erfüllung 
der DVerheißungen des treuen Bundesgottes glaubte, die altteſta⸗ 
mentliche Weißagung nicht fo aufgefaßt Haben kann, als ob fie eine 
fo wichtige reichsgeſchichtliche Thatſache, wie die Wiebereinfegung 
der israelitiſchen Nation in ihre centrale Stellung im Reiche Gotteb, 
in Ausficht ftellte. — Indeſſen foll, was man in der Apokalypfe 
nicht findet, gerade bei dem Apoftel der Heiden Cin Röm. 11, 25ff. 
vgl. V. 15) ſich finden ®). Und Hier fündigt allerdings der Apoftel 
Paulus auf's beftimmtefte an, daß Israels Verftodung nur jo 
lange dauern werde, bis die Vollzahl der Heiden in die Kirche 
Ehrifti eingegangen fei, und daß dann ganz IJsrael ſich befehren 
und geyettet werden werde. Hier haben wir alfo für das noch 
ungläubig gebliebene Geſamt⸗ Israel eine Hoffnungsreiche Weißagung; 
und zwar wird diefelbe durch Berufung auf eine dem altteftament- 
lichen Bundesvolte gegebene Verheißung, die ihm volle Vergebung 


a) Hofmann a. a. O., S. 666. Auberlen, Der Prophet Daniel, S. 341f. 
Die Verfuche, diefes auffallende Stillſchweigen der Apofalypfe zu erflären, 
find fo unbefriedigend als möglich. Sehr naiv klingt es, wenn Auberlen 
unter anderm fagt: „Die Mpolafypfe ift für bie heidenchriſtliche Zeit ber 
ſtimmt; der newteftamentlichen, vorzugsweife aus den Heiden gejammelten 
Gemeinde hat fie mitzutßeilen, was ihr auf ihrer Pilgerfahrt durch die 
Waſie zu wiffen noth thutz für fie if fie das deeiſehandbuch; ihre Schid- 
ſale hat fie zu beſchreiben. Israel als Volk Tann hier nicht in Betracht 
tommen“. As ob es fir die heidenchriſtliche Kirche nicht von größter 
Wichtigkeit wäre, zu wiffen, daß fie erft von der Bekehrung und Wieder 
herſtellung Jraels als Voll den vollen Segen der Gottesgemeinſchaft und 
die rechte Neubelebung zn erwarten Habe! " 

b) Wir übergehen Ausſpruche Chriſti, wie Matth. 19, 28; 28, 89; 24, 3 
auf welche man fid auch berufen Hat, da eine- unbefangene Egegefe «eine 
dereinftige Wiederherftellung Israels als Nation keinenfalls darin geweißagt 
finden Tann. Bgl. über diefelben Bleek, Synopt. Erklärung, der drei 
ern Evangelien IL, 272 u. 882. 





Zur Sharatterifit der meſſiauiſchen Weißaguug 2c. 28 


feiner Sünden in Ausſicht ſtellt (Jeſ. 59, 20f. vgl. Jeſ. 27, 9); 
fowie dadurch unterftügt und-befräftigt, daß die Juden mit Rück⸗ 
fiht anf Israels Erwählung „um der Väter willen Geliebte“ 
find, da Gott ſich feine Gnadengaben und feine Berufung zum 
heile nicht gerenen läßt. In der That bleibt aljo nad) dem Zeug. 
niſſe des Apoſtels Israels Erwählung und die ihm gegebene Ver⸗ 
heißfung auch für das jegt verworfene Bolt in Kraft; die Israeliten 
haben ihr natürliches, nächſtes Anrecht auf das zuerjt unter ihnen 
und für fie begründete Gottesreih nit für immer verſcherzt; 
zuletzt werben auch fie alle desfelben noch theilhaftig werben. Aber 
man hüte ſich doch in den Text einzutragen, was nicht darin fteht. 
Der Apoftel redet wol von Israels Gefamtheit; aber eine Hervor⸗ 
bebung bes. iöraelitifchen Volfstums als eines in fich gefchloffenen, 
ftantlic zur Einheit verbundenen und feine nationale Eigentümliche 
keit zur Geltung dringenden Organismuffes liegt in dem Ausdrud 
räs IogemjA nicht. Ferner redet der Apoftel wol von der Wieder« 
einpflanzung der Israeliten in das Gottesreich, von ihrer Errettung, 
von ihrer Wiederbegnadigung; aber wir lefen nichts von einer heils⸗ 
geidichtlichen Miſſion, welche Jsrael dann erfüllen, nichts von 
einer centralen Stellung im Neiche Gottes, die es einnehmen, nichts 
von einer befonderen Meichöherrlichleit, mit der es bekleidet werden 
fol, und vollends nichts von einer Sammlung desſelben im heiligen 
Lande und der Wieberaufrihtung eines israelitiſchen Reiches *). 


2) Daß Paulus dem befehrten Israel noch einen befonderen heilsgeſchichtlichen 
Beruf zufpreche, will man theils mit dem Ausbrud Zaplauare in ®.29, 
teile mit den Worten r45 ı mgdohmps ed wur Zur dx vergur (8. 16) 
beweifen. Allein jener Ausbrud Tann im Zufammenhange nicht befon- 
dere, Israel zur Erfüllung feines Berufs verliehene Gnadengaben, 
fondern nur die in deu Heilsgfitern des Gottesreiches befichenden Gnaden - 
gaben bezeichnen (zagoua wie Röm. 5, 16f.; 6, 28; Gnadenermwei- 
fungen darf ſchwerlich überjeigt werden, da die LXX das in dieſem Sinn 
gebrauchte OIGM nie durch zuglouere, fo.ıneen duch za EAen od. dgl. 
wiedergibt). Und in jenem Safe des fünfzehnten Verſes liegt, man möge 
den Ausdrud Zon Ex vergöv erflären wie man tolle (vgl. darüber Meyer 
32. ©t.), jedenfalls, dem vorherigen cortefpondirenden Satze zufolge, nicht, 
daß das Leben aus den Todten von bem bekehrten Israel ausgehen foll, 
vermöge einer heilsmiitleriſchen Berufsthätigkeit, die es zu üben hätte; 


244 Richm 


In dieſer Beziehung verdient es aud alle Beachtung, daß der 
Apoftel von den Israel gegebenen Verheißungen gerade eine ſolche 
anführt, welche ihm Vergebung und Wieberbegnadigung, nicht aber 
eine befondere Herrlichkeit in Ausficht ſtellt. An wen folkte denn 
auch Jsrael noch einen prophetifchen und priejterlichen Beruf, wie 
ihn die altteftamentliche Weißagung ihm zufpricht, zu erfüllen Haben? 
Setzt ja doch der Apoftel feine Belehrung und Wiederannahme 
ausdrüdlich in die Zeit, wo die Vollzahl der, Heiden fon 
in das Neih Gottes eingegangen ift!*) Ya’ fo wenig 
weiß er von einer heilsmittleriſchen Miffton, die das befehrte Is⸗ 
rael an den Heiden zu erfüllen hätte, daß er vielmehr umgekehrt 
die reiche Offenbarung des göttlichen Erbarmens an den Heiden 
als das Mittel betrachtet, durch welches Jsrael erft zur Belehrung 
geführt wird, um auch diefe® Erbarmens theilhaftig zu werden 
(8. 31 vgl. 11. 14). Offenbar ift alſo diefe Israel in Ausſicht 
geftellte Wieberherftellung doch nur eine ſolche, daß das Wort „die 
Erften werden die Letzten werden“ auf basfelbe Anwendung findet’), 
und fie hängt, wie ®. 32 Mar hHervortritt, mit der von Paulus 
öfter wieberholten Weißagung von der fehließlichen ausnahmelofen 
Allgemeinheit des Heilsbefiges zufammen, nur daß für Israel diefe 
Hoffnung an feiner Erwählung und den ihm gegebenen Verheißungen 
noch befondere Stügen hat. Israels Erwählung und die ihm 
gegebenen Verheißungen bleiben alfo auch für das um feiner Ber- 
ftoctheit willen vermworfene Volt: infofern und infoweit in 


fondern nur daß der Heilsvollendung die Belehrung und Wiederannahme 
Israels vorausgehen muß. 

a) Bei Auberlen lefen wir dagegen in der Schilderung der Folgen "von 
Israels Reftitution: „Man braucht den Heiden jet nicht mehr mühjam 
nachzugehen; fie fommen von felbft Herzis, angezogen von den reichen Gnaden- 

ı der Gottesoffenbarung, die fie vor ſich ſehen“ (Der Proph. Dan., 
52). Und „Israel fol ein Königreich won Prieftern fein, welches 
Bölfern das Heil bringt” (Abhandl., S. 835). 

Bertheau a. a. O. (1859), ©. 325: „An den wenigen Stellen 
R. &.'8], wo uns ein Blick auf Israels Zukunft eröffnet wird, ſteht 
ht da als der triumphivende Exftling unter den an der Seligkeit des 
s Gottes theilnehmenden BVöltern, jondern als ein Spätling, dem 
Bottes Gnade auch noch die Beſeligung zu Theil wird,“ 





Zur Eharakteriftil der meſſiauiſchen Weißagung ıc. 245 


Kaft, als fie verbürgen, es ſei nicht für immer verworfen, habe 
das Heil in Chriſto nicht unwiederbringlich verſcherzt, fondern werde 
fHlieglich desfelben aud noch theilhaftig werden. Ein befonderer 
Vorzug. vor den Gläubigen aus den Heiden wird dagegen dem be- 
ffrten Jsrael auch in Röm. 11 nicht zugefprochen *). — Das 
RT. berechtigt uns alſo dazu und fordert, daß wir auch in der 
Beißagung der Propheten von der künftigen Reichsherrlichkeit des 
itrelitifchen Volkes in feinem Lande zwifchen der aftteftamentlichen 
Yılhaunngsform und den ewigen Heilsgebanfen Gottes unterſcheiden. 
Sir ift in der israelitiſchen Abkunft des Weltheilandes, in dem 
organijch » gefchichtlichen Zufammenhang des neuteftamentlichen Gottes» 
volles mit Israel, in der Wahrung des nächiten Anrechtes Israels 
un das Heil erfüllungsgefchichtlih als eine dem Rathſchluſſe Gottes 
eutſprechende befiegelt worden. Someit fie aber noch nicht erfüllt 
it, fällt auch fie, im Lichte des Nenen Bundes und des neutefta 
mentlichen Gotteswortes betrachtet, in den Bereich des Typifch- 
Neſſianiſchen. Alles was die Weißagung nach ihrem geſchichtlichen 
Sinne von der Reichsherrlichteit Joraels in der Vollendungszeit 
fügt, Hat feine gottgewolkte offenbarungsgefchichtliche Abzielung auf 
de dereinftige Herrlichleitserfcheinung der Kirche Eprifti, des neu» 
teitamentlichen Gottesvolles; und es ift nur eine alttejtantentliche 
hülle der göttlichen Heilsgedanten, daß die Weißagung diefe Herr⸗ 
lichteit dem israelitiſchen Wölfe in Ausſicht ſtellt d). 





a) Die Thatſache der nationalen Forteriſtenz Joraels in feiner Zerſtreuung 
fan unter diefen Umftänden nicht beweiſen, daß der israelitiſchen Nation 
noch eine veichögeichichtliche Miſſion vorbehalten if. Wir brauchen auf 
geſchichtliche Urfache und Grund derfelben, uud auf die Frage, inwieweit 
auch Kinftig ihre Fortdauer zu erwarten fteht, hier nicht einzugehen. Es 
genügt die Bemerkung, daß Röm. 11, wie auch andere neuteftamentliche 
Stellen, fie in ein anderes Licht teilt, ſofern nämlich die das Heil in 
Chriſto verwerfende judiſche Nation vorerft ein Erempel des göttlichen Ger 
richts, ſchließlich aber ein um fo leuchtenderes Exempel feiner Barmherzig ⸗ 
kit und Treue fein foll. 

b) Trog ihrer Ungeſchichtlichteit if alfo die aftfirchliche Auffaſſung biefer 
Beifagungen, welche Hengfenberg, beſonders in feinem Auffat „Die 
Juden und die chriſtliche Kirche‘ (Evang. Kirchenzeitung 1857, Maiheft) 
wieder gelteud gemacht hat, in ihrem Ergebnis wejentlich richtig und jener 





246 Riehm 


Die in neuerer Zeit viel vertretene Anſicht, es laſſe ſich die 
davidiſche Abkunft Chriſti auf dem Standpunkt der kritiſchen Er- 
forſchung der evangeliſchen Geſchichte nicht feſthalten, legt die Frage 
nahe, ob nicht auch die davidiſche Abkunft des Meſſias 
zu den in der Weißagung feſtgehaltenen altteſtamentlichen Anſchau— 
ungsformen gehört, welchen nach Ausweis der neuteſtamentlichen 
Erfüllung nur eine typijch = jymbolifche Bedeutung zufommt; wobei 
man fih auf die Loslöfung der meffianifchen Heilsausfichten von 
dem davidiſchen Königtume und die Zueignung der David gegebenen 
Gnadenverheigungen an das Bolt Gottes bei Deutero - Jejaja, 
fowie darauf, daß der Meſſias bei Daniel nicht als Davidsſohn 
Harakterifirt "wird, als auf ein Zeugni® der altteftamentlichen 
Weißagung felbft berufen könnte *). Allein fon aus dem Die 
herigen erhellt, daß und warum jene Frage zu verneinen ift. Es 
- fteht die davidifche Abkunft des Meſſias auf einer Linie damit, daß 
da8 Heil von den Juden fommen mußte. In ihr mußte die neu 
teftamentliche Erfüllung der Erwählung des davidifchen Königshauſes 
und den ihm gegebenen Verheißungen gerecht werben, wenn Gottes 
Treue und Wahrhaftigleit beſtehen ſollte. — Dagegen gibt es 
allerdings auch noch andere, mehr vereinzelte Züge in den meſſia⸗ 
nifchen Weißagungen, bei denen erft durch die Erfilllung das Weſen 
aus der zeitlichen Anfchauungsform herausgeftellt worden ift. Be 
fondere Hervorhebung verdient in dieſer Beziehung Maleadhi's 
Weißagung, daß dem zum Gericht und zur Heilsvollendugg fom- 
menden Gotte der Prophet Elias‘ als Wegbereiter vorausgehen 
werde (Mat. 3, 23f. vgl. V. 1). Schwerlich Hat nämlid der 
Prophet den Wegbereiter nur in dem Sinne Elias genannt, wit 
manchmal der Meffias ſchlechtweg David, d. i. Ein zweiter David, 
genannt wird (Hoj. 3, 5. er. 30, 9. Ez. 34, 23; 37, 24); 





judaiſirenden weit vorzuziehen. Treffeud bemerkt Keil (Genefis, S. 146 
der zweiten Aufl): „Durd Ehriftum wird die Verheißung aus 
ihrer zeitlihen Form zum Wejen erhoben, buch ihn wird bie 
ganze Erde Kanaan.” Bol. auch die ausführliche Erörterung der ganzen | 
Frage in deſſen foeben erſchienenem Commentare über Exedjiel, ©. 847 fl. | 
u. 497 ff. 

©) Bgl. Jahrg. 1865, &. 473ff. 





Zur Eharakteriftit der meſſianiſchen Weißagung ze. 247 


viefmehe erfcheint die ſchon zur Zeit Chriſti verbreitete und bei 
Juden, Muhammedanern und Chriften (bis zur Reformation) Herr 
ſchende Erwartung einer perfönlihen Wiederkehr des nicht ger 
ftorbenen, fondern in ben Himmel entrüdten Elias als 
eine dem Sinne des Propheten ganz entſprechende. Daß aber diefe 
Veißagung in Johannes dem Täufer ſich erfüllt Hat, bezeugen 
bekanntlich nicht nur die Evangeliften, deren Bericht über das Aufs 
treten und die Predigt Johannes' die Aehnlichkeit mit Elias recht 
gefliffentfich Hervorhebt, fondern auch in wiederholten Ausſprüchen 
der Herr felbft (Matth. 11,14; 17, 10ff.). Much Hier tritt alfo 
im Lichte der neuteftamentlichen Erfüllung der mefentliche, ideale 
Gehalt der Weißagung aus der typifch = ymbolifchen Anfchauunger 
form, in welcher fie dem Propheten zum Bewußtſein kam, heraus; 
und in dem bedeutungsnollen el Feste defaodas in Matth. 11 
mat Chriftus felbft auf den Gegenfag des im buchſtäblich⸗ ge⸗ 
ſchichtlichen Sinne befangenen Verftänbniffes der Weißagung und 
der wahren, ihren wefentlichen Gehalt erfafienden und darım die 
don gefhehene Erfüllung nicht verfennenden Auffaffung auf 
merffam ). 


Mit dem Nachweis derjenigen Incongruenz zwifchen altteftaments 
fiber Weißagung und neuteftamentlicher Erfüllung, welde in den 
zitgefchichtfichen und ſpecifiſch altteftamentlichen Elementen des 
Weißagungsinhaltes, d. i. in ihrem ſymboliſch- typiſchen Charakter 
begründet ift, Haben wir nun aber den Unterjchied awifchen beiden 


a) Es iſt auffallend, daß die Vertreter jener judaiſirenden Auffaffung der 
Beißagungen von Israels Reichsherrlichteit nicht auch bie perfönliche Wieder» 
tunft des Elias in ihre eschatologifchen Erwartungen aufgenommen haben 
(ogl. übrigens Hofmann a. a. O. II, 1. ©. 103), zumal fie Bier die 
58 zur Reformation im der Kirche herrſchende Anficht für fich hätten, nach - 
welcher die Erfüllung in Johannes dem Täufer nur eine vorläufige, und 
die volle Erfüllung des Wortfinnes unmittelbar vor der Parufie zu er- 
warten fein fol. — Chriftus aber würde gewiß aud die Erfüllung der 
Beißagungen von Israels Reichsherrlichkeit und heilsmittleriſchem Beruf 
in ihen felbft und feiner Gemeinde mit jenem ei.Iedere deknodes ihrer 
Befangenfeit im budtäblich-geicihtfichen Giune gegenüberftellen. 





248 Riehm 


noch keineswegs vollſtändig aufgezeigt. Es iſt auch ſonſt in t 
meſſianiſchen Weißagung noch keine volle Erkenutnis des 
Neuen Bunde zur Ausführung kommenden Heilsrathſchluſſes Got 
gegeben; erft die thatfächliche Ausführung desſelben ift auch fe 
volle Offenbarung. Nicht der einzige, aber ein Hauptgrund je 
Unvollkommenheit liegt darin, daß die Prophetie, indem fie zu v 
ſchiedenen Zeiten bald die eine, bald die andere der in der alttej 
mentlihen Religion enthaltenen und im altteftamentlichen Gott 
ftaate verförperten Ideen zum Hauptansgangspunft der Weißagı 
macht und ihren meſſianiſchen Gehalt zur Entwidelung bringt 
vieffah nur einzelne Momente des Heilsrathfchluff 
Gottes brudftüdartig erkennt, ohne fie in den 3 
fammenhang ftellen zu können, in welchem fie int 
Erfüllung zu einem einpeitlihen Ganzen verfnü 
find. Was der Apoftel Paulus von der neuteftamentlichen P 
phetie jagt: dx uegovs reoymrsvouev (1Ror. 13, 9), das 
in noch viel höherem Maße von der altteftamentlihen. Das ro 
nsgws Hebr. 1, 1) tritt auch in ihrer meffianifchen Weißag 
rrecht augenfällig an den Tag‘). Wir verfuden, ſoweit es 
der Kürze gefchehen kann, an den Hauptpunkten zu veranjd 
lichen, immieweit die Erkenntnis des im Neuen Bunde zur 9 
führung kommenden Heilsrathſchluſſes Gottes ſchon in der altte 
mentlichen Weißagung gegeben war, und inwieweit dieſelbe u: 
der Höhe und dem Reichtum der neuteftamentlichen Erfüllung 
blieben ift. 

1) Der neuteftamentlichen Heilserfenntnis kommt am nächf 
was über den Bollendungszuftand des Boltes und Reic 
Gottes geweißagt ift. Tritt auch oft, beſonders in den älte 
Weißagungen, die äußerliche Seite des meffianifhen Heiles, 
übrigens immer als Folge und Segen der vollendeten Gottesgem 
ſchaft aufgefaßt wird, in den Vordergrund, fo wird doch auch ı 
felten das geiftlihe Heil, welches dem Gottesvolfe der Vollendur 





a) Bol. Jahrg. 1865, ©. 462 ff. 
b) Bol. darüber meinen Lehrbegriff des Oebräerbriefes, ©. 89 u. 92. 
© Bgl.Dehler, Art. „Weißagung“ in Herzogs Realenchklopädit XVII, 


Zur Eharakteriftil der meſſianiſchen Weißagung zc. 249 


zeit zuteil wird, als Hauptſache Hervorgehoben. Beſonders 
treten bie vollfommene und allgemeine Vergebung ber Sünden 
infolge einer neuen, allgenugfamen Erweifung der fündenvergebenden 
Gnade Gottes, und die gründliche ſittlich-religiöſe Erneue— 
tung der Herzen und des gefamten Volkölebens infolge der Aus» 
giefung des Geiftes Gottes über alle Glieder des Volkes 
ohne Ausnahme uud feiner Einwohnung in den Herzen, mit 
der Entwidelung der meffianifchen Weißagung immer mehr als 
hauptſächlichſte meffianifche Heilsgüter Hervor (vgl. namentlich Joel 
3,1. Jeſ. 29, 18. 24; 30, 19ff.; 32, 3f. 16; 38, 24, 
Mid. 7, 18ff. Sad. 12, 10; 13, 1ff. Jer. 3, 21ff.; 24, 7; 
31, 29ff.; 32, 39f.; 33, 8; 50, 20. &. 11, 19f.; 16, 63; 
36, 25ff.; 37, 23; 39, 29. Jeſ. 44, 3). Die Bundesgemein- 
ihaft Israels mit Jehova vollendet fih in einer unmittelbaren 
perfönlihen Liebesgemeinfhaft aller einzelnen mit 
Gott, der dann in wefenhafter Weife und für immer in— 
mitten feines Volkes wohnt, ſich in der ganzen Fülle feiner 
Herrlichkeit und Gnade für alle offenbart und in dem, von ihm 
ausgehenden Heil und Segen feine Onabengegenwart in vollem 
Maße erweift, der namentlich auch durch die fräftigiten Wirkungen 
feines Geiſtes alle einzelnen unmittelbar erleuchtet, regiert, zu feinen 
Organen macht und des vertrauten Umgangs und Offenbarungs- 
verfehrs mit ihm ſelbſt würdigt, fo daß nur die außerordentlichiten 
Erfahrungen von Geifteswirkungen und Offenbarungsmittheilungen, 
welche im Gebiet des Prophetismus vorfamen, das veranſchaulichen 
Bunen, was dann allen gemeinfame Erfahrung wird (vgl. Joel 
3, 1ff. Hof. 2, 18ff. Ier. 31, 31ff. Jeſ. 54, 7—10. 13; 
65, 24). Dann wird das Volk Gottes ein in allen feinen Glier 
den wahrhaft Heilige (Gef. 4, 3; 35, 8. Dan. 7, 18. 22. 27) 
ud priefterliches (Gef. 61, 6; 66, 21) Volk fein, eine Ger 
meinde der Gerechten (ef. 60, 18. 21), Kinder des leben— 
digen Gottes (Hof. 2, 1). Das Geſetz Gottes aber wird 
nicht mehr in der Form des Staatsgefeges mit feinen Forderungen 
dem Gottesvolfe äußerlich gegenüber, und zwifchen ihm und feinem 
Gott ftehen, fondern es wird durch den Geift Gottes in aller Herzen 
geihrieben fein, d. h. jeder trägt dann eine Hare Tebendige, als 


2350 Kichm 


kräftiger innerer Antrieb zu einem gottgefälligen Leben wirhame 
Erkenntnis des göttlichen Willens in fi; und dadurch wird der 
Neue Bund zum ewigen, feiner Gefahr der Auflöjung durch des 
Volke Untreue unterfiegenden Bund (Ser. 31, 31ff.; 32, 40). 
Mit diefer Vollendung der Bundesgemeinfchaft wird die ganze alt 
teſtamentliche Gottesdienftorduung, ja die ganze altteftamentliche 
Oetonomie gründlich ernenert. Die heils⸗ und offenbarungsmittles 
riſche Berufsftellung und Wirkjamteit eines befonderen Prieftertums 
umd Prophetentums, die Gebundenheit der Onadengegenwart und 
Offenbarung Jehova's an das äußerlihe Heiligtum des Tempels 
und der.änßerliche in Thieropferdarbringungen beftehende Gottes: 
dient fällt als etwas nur der gegenwärtigen noch unvolllommenen 
Form der Bundesgemeinfhaft angehöriged weg (Ser. 31,.34. 
gef. 54, 13; 61, 6; 66, 21. — Jer. 3, 16f. — Hof. 14, 3. 
gef. 56, 7). — In biefen ganz befonbers bei Jeremias ſich 
findenden tiefen Einblicken in das Weſen der vollendeten Gottes- 
gemeinschaft in ihrem Unterfchiede von der bißherigen aftteftament- 
fichen Liegt implieite aud) die Erkenntnis, daß das Reich Gottes 
nicht mehr in erfter Linie ein national + politischer Gottesſtaat, fon- 
dern vor allem ein geiftliches Reich, die Gemeinfchaft derer, welde 
mit Gott Gemeinfhaft haben, fein wird. Sonft aber wird es 
vorzugsweife gefchildert, wie es ſchließlich auch äußerlich Geftalt 
gewinnen fol: als ein Reich, in welchem Gott felbft in viel- volle 


tommenerer Weiſe als im beftehenden Gottesftante das Regiment | 


führt. Es iſt dann, wie das Volk Gottes, heilig, yon allem, was 
die Weltreihe harakterifirt, volljtändig gereinigt; alles, was es in 
fich ſchließt, Jehova's Heiligem Willen unterftellt und feinem Dienft 
geweiht (Sad. 14, 20f.); Recht und Gerechtigkeit, Wahrheit und 
Zriede wird darin walten. Seine Heiligkeit wird auch im volle 
endeter Herrlichkeit ſich äußerlich darftellen *), und dem geiſtlichen 


a) Die ansgeführteften, ſchwungvollſten und glänzenbften Schilderungen diefer 
Herrlichkeit gibt Deutero- Iefaja; man erinnere ſich, wie er zur Beran- 
ſchaulichung der Herrlichkeit der Stadt Gottes das Koftbarfte und Glän 
zendſte, was es auf, Erden gibt, Gold und Silber und die jhönften Edel 
fleine, zu ihrem Bau verwenden (Jeſ. 54, 11f.; 60, 17) und den lich 
lichſten Baumgarten fie ſchmücken läßt (60, 13). 


Zur Charakteriftit der meſſianiſchen Weißagung 2c. 31 


Heil der vollendeten Gottesgemeinſchaft wird bie reichfte Fulle ir⸗ 
diſchet Segnungen entjpreden; ein Strom des Segens der von 
dem inmitten feines Volkes mohnenden, alles Verlangen und Sehnen 
des menfchlichen Herzens erfüllenden, ‚Leben und volles Genüge 
gebenden Gotte ausgeht *). — An dem Israel beftimmten Heile 
nehmen auch die durch das Gefeg von der Gemeinde Ausgefchloffenen 
(gef. 56, 3ff.) theil. Beſonders aber follen daran aud alle 
Völfer theilnehmen, indem fie dem Gottesvolfe eingegliedert werden, 
und das Reich Gottes zur über die ganze Erbe ſich ausdehnenden 
Univerfaltheofratie wird d). Schon in der aftteftamentfichen Weißa- 
gung ift die Mare Erkenntnis dargeboten, daß Gott will, daß allen 
geholfen werde und alle zur Erfenntnis der Wahrheit kommen. 
Die Ankündigung, das Reich Gottes werde nad) Zertrümmerung 
der Weltreiche an deren Stelle treten (Dan. 2, 34. 44; 7, 14. 
18. 22. 27), ftellt diefe äußere Vollendung besfelben als durch 
äine Gerichtöfataftrophe fi verwirflichend dar. — Endlich weiß 
and ſchon die altteftamentliche Weißagung von der fchlieglichen Auf- 
hebung alles ‚durch die Sünde in die Welt gefommenen Uebels 
(og. 3. B. Jeſ. 33, 24), von der Wiederherftellung der ganzen 
Schöpfung in ihrer urfprünglichen Vollkommenheit und noch höherer 
Verklärung (of. 2, 20. 23f. Jeſ. 11, 6ff.; 30, 26; 65, 25), 
don einem neuen Himmel und einer neuen Erde, bie Gott fchaffen 
wird (Jeſ. 65, 17; 66, 22), und befonders von einer dereinftigen 
Aufhebung der Herrſchaft des Todes (ei. 25, 8) und einer Aufs 
erftehung der Todten (Jeſ. 26, 19), die nach der Weißagung des“ 
Buches Daniel eine zweifache fein wird, für die Einen zu ewigen 
Geben, für die Anderen zu ewiger Schmach (Dan. 12, 2f.), fo 
daß Hiernach das Endgericht auch über die ſchon verftorbenen Glieder 
des Gottesvolles ergeht. — 


a) Unterpfanb und ſymboliſche Darftellung desſelben ift die Zermpelquelle, die 
zum wafferreichen Strom wird und das heilige Land zum Paradieſe um- 
wandelt (Joel 4, 18. Sad. 14, 8. Ezech. 47, If). Ueber die Algenug- 
famteit des inmitten feines Volles thronendeu Gottes vgl. auch Jeſ. 60, 19f.: - 
mie Gottesſtadt bedarf nicht mehr der Sonne und des Mondes; denn 
Iehonn ift ihr ewiges Lit.” \ 

b) Bol. Jahrg. 1865, ©. 482ff. 


262 Richm 


Bergegenwärtigt man fich alles dies in der manigfaltigen, reichen 
Detailausführung, welche die einzelnen Weißagungen darbieten, jo 
wird man anerfennen müffen, daß die Prophetie des Alten Bundes 
einen der nenteftamentlichen Heilserfenntnis ſich annähernden Aus 
blick auf den Vollendungszuftand des Reiches und Volkes Gottes 
eröffnete. Immer aber bfeibt noch ein beträchtliher Abftand und 
zwar nicht bloß in der Klarheit und Fülle, welche jene im all: 
gemeinen vor der prophetifchen Heilserkenntnis voraushat. Wir 
wollen fein befonderes Gewicht auf Einzelnheiten legen, 3. B. darauf, 
dag die Todtenauferftehung auch noch im Buche Daniel auf die 
verftorbenen Israeliten beſchränkt erſcheint, wogegen von einer all: 
gemeinen Auferwedung der Todten in der ganzen altteftamentlichen 
Weißagung nirgends die Rede if. Auch auf die in ben oben er- 
örterten fpecififch altteftamentlichen Vorftellungen Tiegenden Schranten 
der prophetijchen Heilserfenntnis fei nur noch einmal zurückgewieſen. 
Gerade fie hängen aber mit emer anderen fehr weſentlichen Schranfe 
derfelben zufammen. Diefe befteht darin, daß trog der Weißagung 
Deutero⸗Jeſaja's von dem neuen Himmel dod nur das Diefjeits, 
die irdifche Welt als das Gebiet des für das Gottesvolk errichteten 
Reiches Gottes und als Stätte der Heilsvollendung erfcheint. Der 
Vorhang, der die jenfeitige, himmliſche Welt verhüllte, ift noch 
nicht hinweggezogen. Daß das Gottesreih der Vollendung ald 
Himmelreich auch das Jenſeits mit umfaſſen, dem Wolfe Gottes 
auch der Himmel aufgethan werden follte, ift nicht geweißagt. So 
ſtellt die Weißaguug zwar die fehliegliche Herrlichkeitsgeftalt des 
Reiches Gottes auf Erden, nicht aber den himmlischen Charakter 
des Reiches Chrifti in das Licht. Und darum eröffnet fie aud, 
trog der Ankündigung von der Aufhebung der Tobesherrfchaft und 
der Todtenauferftehung, den Frommen noch nicht die troſtreiche 
Ausfiht, dag der Tod ihnen zum Eingang in die Seligfeit der 
vollendeten Gemeinschaft mit Gott im Himmel werde. Die Ieben- 
dige Hoffnung, welche uns durd die Auferſtehung Jeſu Ehrifti 
geſchenkt ift, geht alfo noch weit über das hinaus, was die meſ⸗ 
fianifche Weißagung des Alten Bundes verheißt *). 


8) Bgl. Del itzſch, Jeſajas, ©. 634: „Bon einem feligen Jenſeits weiß 





Zur Charakteriſtik der meſſianiſchen Weißagung zc. 253 


2) Mar bezeugt ſchon die altteftamentliche Weißagung, dag Is⸗ 
rael die volfendete Gemeinſchaft mit Gott nicht durch ſich felbft, 
nicht aus eigener Kraft erreicht, daß vielmehr die Herftellung der⸗ 
ſelben und überhaupt die Herbeiführung jenes Bollendungszuftandes 
des Volkes und Reiches Gottes durchaus Gottes eigenftes Wert, 
das Werk feiner freien Gnade iſt. Er tilgt die Sünden feines 
Volkes nicht um der Würdigfeit besjelben, fondern um feines hei⸗ 
figen Ramens und um feiner Treue‘ willen (&. 16, 63; 36, 31f. 
Jeſ. 43, 25; 48, 9. 16), und zwar indem er an Stelle der un« 
zureichenden Sifmanftalt des Alten Bundes neue und wirffame, 
Leranftaltungen zur Sündenreinigung trifft (Sad. 13, 1. &. 
36, 25). Er wirft durd die Ausgiegung feines Geiftes die buß- 
fertige Umtehr (vgl. 3. B. Sad. 12, 10ff.), die Herzenserneuerung, 
den willigen und einmüthigen Gehorfam gegen feine Gebote. Ueber- 
haupt ift e8 fein Gericht und feine Erlöfungsthat, welche die Voll⸗ 
endung herbeiführen. Aber bei der Ausführung feines Heilsrathes 
bedient er fih au vermittelnder Organe. Hier fommt vor 
allem der Meſſias in Betracht, an deffen Auftreten die meffia- 
nifhe Weißagung befonbers in der affyrifchen Periode den Anbruch 
der Bollendungszeit knüpft. Es ift fein in Niedrigkeit und Knechts- 
geftalt erfcheinender Meſſias, den fie ankindigt. Das zwar fekt 
fie allerdings voraus, daß vor Anbruch der meffianifhen Zeit wie 
dag Volt, fo auch das Königtum des davidifchen Haufes durch 
Gottes Gericht auf's tieffte erniedrigt fein und demgemäß in dem 
Meſſias aus der Niedrigkeit zur Herrlichkeit ſich wieder erheben 
werde. Darum ift der Meffias in Jeſ. 11, 1 ein Sprößling 
aus dem abgehauenen Stamme Iſai's; darum geht er nad) Micha 
5, 1, ebenfo wie der erfte David, aus dem Heinen, unſcheinbaren 
Bethlehem hervor; darum ijt er in Ez. 17, 22ff. ein von der 
hochragenden Ceder des davidifchen Königshauſes genommenes Reis, 
das neugepflanzt wird, und in welchem jenes fich erneuert und 





überhaupt das A. T. nichts. Jenſeit des Dieffeits liegt der Hades. Einen 
Himmel mit feligen Menfchen fennt das U. X. nicht. Um den himm- 
ůſchen Thron Gottes find nur Engel und nicht Menſchen.“ Satze, die 
nur mit Ruckſicht auf Henoch und Elias zu beſchräulen find, aber für ben 
Inhalt der altteftamentlichen Weißagung ‚volle Gültigkeit haben. 

Theol. Stud. Jahrg. 1869. 7 





24 Riehm 


wieder zur herrlichen Ceder erwächſt. Auch begründet ‚er fein | 
Macht nicht als Eroberer mit den Mitteln mweltlicher Kriegemadt; | 


vielmehr ift er, gleich den mm ap,, demüthig und fanftmüthig, 
ein von aller Selbftüberhebung und aller Gemaltthätigfeit ferne, 
nicht auf ſtolzem Schlachtroß, fondern auf dem friedlichen Cjelt- 
füllen veitender, nur durch Gottes hülfreiche, Heiffchaffende Matht 
itarfer Briedenstönig (Sad. 9, 9)*). Aber bei alledem ift fein 
Bild doch night das des Menſchenſohned, der nicht hatte, da er fein 
Hanpt hinlegen konnte; vielmehr zeigt ihm die altteſtamentliche 
Weißagung dabei doch immer mit gottverliehener königlicher Herr⸗ 
lichkeit. beffeidet. — 

Audererfeits reicht aber auch ihre Schilderung feiner Herrlichlit 
nicht hinan an die Herrlichkeit des in Jeſu Chriſto erſchienenen 
Meſſias. Sie ſtellt ihn dar als einen menſchlichen König, einen 
Sprößling aus Davids Stamm, der über-alle anderen Menſchen 
Hoch hinausragt, und deſſen Perfönlichkeit etwas wunderbares und 
geheimuisvolles Hat. Wird auch nirgends angedeutet, daß er in 
außerordentlicher, wunderbarer Weife in die Welt eintreten werde), 
fo fteht er doch als Nepräfentant des Gottfönigs auf der Erde 
und als das Organ zur Aufrichtung jeines Reiches und zur Uebnug 
feines Regimentes in einem ganz einzigartigen, nahen Verhältnifie 
zu Gott, dejfen Geift auf ihm, wie auf feinem anderen, ruht, und 
deſſen allmächtige Kraft, Weisheit, Gerechtigkeit und hülfreiche Gnade 
in fo vollem Maße durd ihn wirkt, daß in feinem Regiment und 
durch dasfelbe Gottes großer Name, d.h. jeine Offenbarungs- 
herrlichkeit, Eund wird. Gott macht ihn nämlich zum Organ feiner 
Selbftoffenbarung, ähnlich wie er fonft den Engel Jehova's alt 
ſolches gebraucht. Daher wird fogar die Gotteöbezeichnung rar dx 
ihm als Name beigelegt (Jeſ. 9, 5); und daher auch felbft in 
einer allgemeineren, dem Haufe Davids geltenden Ankündigung 
(Sad. 12, 8) die Ausſage: es werde jein wie Gott, wie ber 


8) Bgl. Dehler, Art. „Meſſias“, ©. 417 f. 
b) Ief. 7, 14 können wie mit Tholud (a. a. O., ©. 170) nicht als eine 


direct-meffianifche Weißagung anfehen. Ueber Micha 5, 2 vgl. Jahrg. 1865, | 


©.-469. 





Zur Charakterifit der mefftanifhen Weißagung zc. 265 


Engel Fehova's vor den Bewohnern Jeruſalems her. — & 
nimmt der Meffias im Reiche Gottes und in der Menſchheit 
(Jeſ. 11, 10) eine centrale Stellung ein, nicht nur als ihr Haupt, 
jondern auch als das mittleriſche Organ, von welchem bie richter- 
liche und heilfchaffende Wirkſamkeit und Selbftoffenbarung des Gott- 
tönigs ausgeht *). In dem fpäten, apofafyptifchen Nachtrieb der 
altteftamentlichen Prophetie, dem Bude Daniel (7, 13f.), ift 
ſchließlich die Erhabenheit des Meſſias über alle anderen Menſchen 
und fein einzigartige nahes Verhältnis zu Gott noch ſtärker her⸗ 
vorgehoben, indem er, ohne Hindeutung auf feinen menfchlichen, 
oder jpecieller davidiſchen Urfprung, als eine Menfchengeftalt tra- 
gende, aber, wie fonft Jehova felbft, auf des Himmels Wolfen 
lommende Perfon bejchrieben wird ®). — ber doc bleibt noch 
ein bedeutender Abftand zwifchen diefem altteftamentlichen Meſſias- 
bilde und der neuteftamentlichen Erkenntnis bes Gottmenfchen ©); 
fo groß die Herrlichkeit des Meffias als Vermittler ber Offen- 
barung des Namens Jehova's auch iſt, es ift doch nicht die Herr- 
ligjkeit des eingeborenen Sohnes Gottes; das Geheimnis, daß in 
dem Meffias der ewige Sohn Gottes als Menſch in die Welt 
eintreten folfte, um Gottes Liebesrathihlug zur Ausführung zu 
bringen, ift erft als die Zeit erfüllet war thatſächlich offenbar ger 
worden. In der altteftamentlichen Weißagung fteht jedoch neben 
der Hinweifung auf den fünftigen Meſſias auch die auf die jhlieh- 
fiche fihtbare Erſcheinung Jehova's feldft, der zum Gericht 
und zur Heisvollendung zu feinem Volke kommt, für immer in 


a) Bol. Jahrg. 1865, ©. 464ff. bei. 4674. 
b) Bol. Jahrg. 1865, ©. 475. Uebrigens darf das P in WIN IP nicht 
"im Intereſſe des übermenſchlichen Charakters des danielifhen Menfchen- 

ſohnes urgivt werden, wie aus der Correſpondenz mit dem D in®.4u.6 
erhellt. Ebenſoweuig kaun die Vorftellung einer realen Präegiften de 
Menſchenſohnes aus der Stelle begründet werden. 

©) Geringer wäre biefer Abftand, wenn neuere Darftellungen ber Chriftofogie, 
foweit fie den Gottmenfchen fefthalten, aber die perſönliche Präegiftenz des 
Sohnes fallen laſſen, die neuteftamentliche Erkenntnis in ausreichender Weile 
zam Ausdrud brächten. Ihre nicht zufällige (man denfe am die ſpecifiſch 
aftteftamentliche Form des Monotheisinus) Verwandtſchaft mit dem alt« 
teſtamentlichen „Meffiasbilbe ift noch nicht gebürend beadjtet worden, 

17% 





256 Riehm 


feiner Mitte Wohnung macht und feine Herrlichkeit und Gnade 
volffommen und für alle fichtbar offenbart *). Und diefe fichtbare 
Selbftoffenbarung Gottes ift nad Mal. 3, 1 eine durd den Engel 
Zehova’s, in dem Gottes Namen wohnt (Er. 23, 21), vermittelte, 
Aber obſchon hiemit diefe Ankündigung der anderen, welche in dem 
Meſſias ein ähnliches perfönliches Organ der Selbftoffenbarung 
Gottes fchildert, ſich nähert, fo find doch beide nirgends einheitlich 
zufammengefaßt ®); fie bleiben unvermittelt neben einander ftehen, 
als Beleg für das dx usgovg mgoymrevouer. — Ein weiterer 
Beleg dafür liegt ferner darin, daß der Meſſias nicht einmal das 
einzige menfchlihe Organ der die Vollendung herbeiführenden Heild 
wirkfamfeit Jehova's ift. Neben ihm ftehen nämlich) als Subject 
heilsmittlerifcher Thätigkeit — abgefehen von den meffianifchen 
Stellen, in welden von einer Mehrheit auf einander folgender dar 
vidifcher Könige oder von Heilanden in der Mehrzahl (Obadja, V. 21) 
die Rebe ift — auch noch der deutero-jefajanifhe Knecht Gottes, 
d. i. die mit einem prophetiſchen Beruf für die Menſchheit betraute 
Gottesgemeinde des Alten Bundes und Sacharja's meſſianiſcher 
Hoheprieſter ); auf diefe Subjecte vertheilt fich die Ausführung 
des die ſchließliche Vollendung betreffenden Heilsrathſchluſſes Gottes, 
foweit fie nicht unmittelbar Jehova felbft zugefchrieben ijt. 

3) Damit ergibt fih von felbft, wie fehr der bruchſtückartige 
Charakter der meffianifchen Erfenntniffe der Propheten auch in der 
Darftellung bes meſſianiſchen Heilswerkes erſichtlich werden 


a) Bol. Jahrg. 1865, ©. 479f. und aufer den dort angeführten Stellen 
die noch unentwickelteren Geftakten diefer Weihagung in Joel 4, 21 und |, 
ähnlichen Stellen; ferner in Sad. 9, 14. Jeſ. 4, 6f. Sach. 14, 3ff. und 
Jeſ. 24, 23. 

by Bgl. Dehler, Prolegomena zur Theologie des A. T.'s, ©. 675. u. At. 
„Meſſias“ in Herzogs Realencykiopädie, S. 408 f. — Stellen, wie Ez. 34 
bef. V. 24 kann man nicht al8 Gegenbeweis anführen, da hier der Meffins 
nur als Organ, durch welches Jehova felbft das Hirtenamt über feine 
Schafe übt, neben Gott geftellt ıft, wie anderwärts aud Gott umd der 
König zufammengeftellt werden (Spr. 24, 21. Hof. 3, 5, 1Sam. 12, 3. 5. 
Pi. 2, 2). Solche Weißagungen gehören alſo ganz jener erſten laffe an; 
von einer fichtbaren Erſcheinung Jehova's felbft ift in ihnen nicht die Rede. 

e) Bgl. Jahrg. 1865, ©. 4775. 


Zur Charakteriftif der meſſianiſchen Weißagung zc. 257 


muß. Der Meſſias ift allerdings dargeftellt als der Vermittler, 
von welchem Gottes meſſianiſche Heilswirkſamkeit ausgeht; aber es 
gefchieht dies doch nur da, wo diefe als königliche Herrſcher- 
thätigfeit in feinem Reich und für fein Reich in Betracht genommen 
ift. Ueberall erſcheint er nur als König, und fein meffianifches 
Heilswerk bejteht in der Befreiung des Gottesvolles aus der Ger 
walt feiner Feinde, der Sicherung des Gottesreiches, der vollkom⸗ 
menen Geltendmachung von Recht und Gerechtigfeit in demfelben, 
feiner Ausdehnung über alle Völker, der Herftellung des ewigen 
Sriedensreiches auf Erden. Durch fein fünigliches Regiment wird 
das Reich Gottes zu dem, was es fein foll, ein Reich, in welchem 
nichts böfes mehr gefchieht, und feiner dem andern mehr ſchadet, 
ein Reich, erfüllt von lebendiger Erfenntnis Jehova's und darum 
von Gerechtigkeit und Frieden *). Kurz, das meffianifhe Heil 
ift dur ihn vermittelt Hinfihtlih aller der Seg- 
nungen, welche dem Volke Gottes durd die vollſtän— 
dige Uebernahme des königlichen Regiments und bie 
volle’ Geltendmahung des königlichen Willens Je— 
hova's zutheil werden. — Dagegen weiß die altteftamentliche 
Weißagung nichts von einem prophetifchen Amte des Meffias; 
er macht wol den Willen Gottes fund, macht ihn auch den Völfern 
fund, aber nicht als Prophet lehrend, ermahnend, tröftend, fondern 
als König durch Unterweifung, Anordnung, richterliche und ſchieds ⸗ 
richterliche Entſcheidung (vgl. Jeſ. 11, 10. Sad. 9, 10). — 
Ebenſowenig ftellt die altteftamentfiche Weißagung den Meſſias als 
eigentlichen Hohepriefter dar. Sie fagt wol, daß er priejter- 
lich zu Gott nahe (Fer. 30, 21), aber nur um das innig nahe 
Gemeinfhaftsverhältnis, in welchem er felbit als König zu Gott 
fteht, zu veranſchaulichen, nicht aber um ihm eine priefterlich - Heile- 
mittlerifche Thätigkeit zuzufchreiben. Sie macht den Hohepriefter 
zu feinem Typus (Sad. 3 u. 6), ftellt ihn alfo als Prieſterkönig 
dar, aber wiederum nicht weil er Opfer darbringt zu des Volkes 
Entfündigung, fondern nur fofern er felbft eine im höchſten Grade 
Gott geheifigte und ihm zu nahen beredjtigte Perfon und fofern er 


2) Bgl. Jahrg. 1865, ©. 4677. 








258 Riehm 


Haupt und Vertreter eines von Sünden gereinigten, Heiligen Priefter- 
volkes ift. Noch mehr, fie darakterifirt auch das Regiment in 
dem meffianifchen ottesreiche als ein königliches und hoher 
priefterlihes und dabei in vollem Maße einheitliches; aber 
nicht indem fie dem Meſſias auch das hohepriefterliche Amt zutheilt, 
fondern indem fie einen das Regiment in einem Sinn und Geift 
gemeinfam mit ihm führenden meffianifchen Hohepriefter neben ihm 
auf feinem Throne figen läßt“). — Man nimmt zwar mit vollem 
Recht daran Anftoß,. wenn behauptet wird: das Leiden und das 
Verföhnungsopfer Jeſu Chrifti fei nicht von den Propheten ge 
weißagt, als ob an diefem Punkte gar fein Zufammenhang zwiſchen 
altteftamentlicher Weißagung und neutejtamentlicher Erfüllung be⸗ 
ſtünde; wer das Verhältnis beider nicht ganz oberflächlich betrachtet, 
"wird, dergleichen nimmermehr behaupten. Wahr aber iſt trotzdem, 
daß die Weißagung des Alten Bundes einen leidenden und 
ſterbenden Meſſias nicht kennt; und wahr iſt, daß ſie dem 
Meſſias nirgends eine die Sündenvergebung vermittelnde 
und die fittlihereligiöfe Ernenerung der Herzen wirkende 
Berufsthätigfeit zufchreibt ®), überhaupt die vollendete perſönliche 
LTiebesgemeinfhaft mit Gott nicht als duch ihn ver: 
mittelt darſtellt. Andererfeits aber verkündet. fie klar und be 
ftimmt nicht nur — wie fon bemerft —, daß Gott neue und 
ausreichende Veranftaltungen zur Entfündigung feines Volkes treffen 
(Sad, 13, 1. &. 36, 25) und die Herzenserneuerung durch feinen 
Geift bewirken werde, fondern auch) daß eine große, die überfchiveng- 
liche Gnade Gottes auf's herrlichfte für Israel und alle Welt 
offenbarende Erlöfungsthat Gottes, des Heilandes das Heil 
und die Vollendung herbeiführen werde. Allerdings reden dabei bie 
Propheten ‚von der bevorftehenden Erlöfung aus der Gewalt Affur 
und Babels, fo daß auch Hier der Weißagung ihr ſymboliſch⸗ 


2) Bol. Jahrg. 1865, ©. 478. 

b) Der Meſſiasname WPI$ MM Ser. 23, 6 befagt nur, daf durch ihm als 
Organ des Gottfönige dem ottevofke feine hatſächliche Rechtfertigung, 
beftehend in Errettung, Heil und Sicherheit, zutheil wird. Daher konntt 

‚berfelbe Name auch auf die das Gottesvolt repräfentirende Hauptftadt 
übertragen werden (Ser. 33, 16). 





Zur ChHarakteriftit der mefflaniichen Weißagung ꝛc. 259 


tppifcher Charakter eigen bleibt. Aber diefe Erlöfung aus der Gewalt 
der Weftreiche umd der Gerichtsnoth ift zugleich Erlöfung des Voffes 
Gottes aus aller feiner Noth; mit ihr ift eben die volle Sünden- 
vergebung verbunden, und dur fie wird Israel aud) von feiner 
Verblendung und von feiner Herzenshärtigkeit geheilt. Durch fie 
erfauft fih Gott fein Volk aufs neue zum Eigentum; fle ift der 
Vollzug einer zweiten Höheren Erwählung, durch welchen das Wort: 
„‚ich will ihnen Gott, und fie follen mein Volk fein“, erft volle 
Wahrheit gewinnt, d. H. die volle Gemeinſchaft des Gottesvolkes 
mit feinem Gotte erft hergeftellt wird. Darum wird fie häufig 
mit dem erften gefchichtlichen Vollzug der Erwählung, der Erlöfung 
Rraels aus Aegypten, verglichen und auch gefagt, daß fie diefe 
(bie doch für die aftteftamentliche Religion das Fundament ber 
Gewißheit über Israels Erwählung war) ganz in Schatten ftellen 
werde (vgl. 3. B. Gef. 10, 26; 11, 11. 16. 12. Mid. 7, 15; 
diefe Stelfen bei Dentero⸗Jeſaja u. bef. Jer. 16, 14f.; 23, 7f.). 
Aber auch Hierbei bleibt die prophetiſche Heilserkenntnis noch 
nicht ſtehen. Die Weißagung kündigt auch einen prophetiſchen 
und prieſterlichen Heilsmittler an, durch den Gottes’Heils- 
rathſchluß über’ Israel und die Menſchheit zur Ausführung kommt. 
Es ift der Knecht Gottes, den ums Dentero - efaja ſchildert, 
wie er feinen prophetifchen Beruf, Gottes Wahrheit zu bezeugen 
und Gottes Heil bis zu den Enden der Erde zu bringen, von Ser 
hoda durch feinen Geift dazu ausgerüftet, demüthig und geräuſchlos, 
nichts verderbend, fondern als Heiland tröftend und helfend, in 
unermüdlicher ausdauernder Geduld und glaubensſtarker Hoffnung 
unter Schmach und Verfolgung und in Treue bis zum Tode erfüllt; 
wie er zugleich ſelbſt ſchuldlos, als priefterlicher Vertreter des dem 
Zorne Gottes‘ verfallenen Volkes die Schuld aller‘ in Liebe und 
leidenswilliger Geduld auf ſich nimmt, ihre Strafen ſtellvertretend 
trägt, fein Leben als Schuldopfer für ihre Untreuen hingibt, und 
fo durch fein ſtellvertretendes Strafleiden und durch feine Fürbitte 
bie Begnadigung und das Heil alter Herbeiführt; mie er endlich 
auf diefem Leidend- und Todeswege zu unvergänglicher Herrlichkeit“ 
eingeht, in der ihm. beftimmten koniglichen Herrfcherftellung und 
als prẽeſterlicher Mittler, dem’ alle iye Heil zu danken haben, von 


260 Richm 


aller Welt anerkannt. Sold tiefen Einblid in den Heilsrathſchluß 
Gottes eröffnet die Prophetie; aber es bleibt doc nur bei einer 
bruchftüctartigen Erkenntnis; denn das Bild diefes Kuechtes Gottes 
fteht ohne uermittelnde, einheitliche Zufammenfaffung neben jenem 
Bilde des gottesmächtigen meffianifchen Königs; ja es iſt im Sinne 
des Propheten gar nicht das Bild einer mit dem heilsmittleriſchen 
Berufe betrauten Eingelperfon; vielmehr ift in der idealen Perfon 
des Knechtes Gottes die Gottesgemeinde des Alten Bundes ein- 
heitfich zufammengefaßt. Und dazu fommt, dag für die Anſchauung 
des Propheten jenes ftellvertretende Strafleiden wenigſtens theifweife 
und in feinen Anfängen zufammenfällt mit den Leiden, welde die 
Gottesgemeinde des Alten Bundes während des Eriles ſchon ge 
tragen hatte *), und die Erlöfung aus dem Exile und die Heimkehr 
in das heilige Land der Anfang ſowol der Verherrlichung des 
Kuechtes Gottes als des durch ihn für Israel vermittelten Heiles 
iftd), fo daß alfo die Weißagung auch Bier ihren ſymboliſch⸗ 
typiſchen Charakter nicht verleugnet. 

4) Schließlich ftellen wir noch kurz die Grundzüge der prophe⸗ 
tifchen Erkenntnis über die Bedingungen und den gefdidt- 
lichen Gang ber Heilsverwirklichung zufammen, ſoweit fie nidt 
in dem Bisherigen ſchon zur Sprache gefommen find. Das me 
fianifche Heil wird nad) der gefamten altteftamentlichen Weißagung 
zunädhft Israel als dem ermwählten Eigentumsvolke Jehova's 
zutheil, und gelangt erft von ihm aus zu ben Heiden. Israel 
kann desfelben aber nur theilhaftig werden unter der Bedingung, 


daß es fih in Buße und Glauben rückhaltslos und von ganzem | 


. Herzen zu feinem Gotte befehrt. Darum geht der erföfenden 
und ‚die Vollendung des Gottesreiches Herbeiführenden Heilsthat 
Gottes ein Gericht voraus, und ift auch mit diefer felbft ein 
Gericht verbunden. Alle Propheten weißagen von diefem Gerichts⸗ 
tage Jehova's, und alle ftimmen darin mit einander überein, daß 
das Gericht bei dem Volke Gottes anfängt. Der Zwed des Ge 


" a) Bol. Jahrg. 1865, ©. 488 f. 
b) Letzteres hebt auch Del itzſch in, feiner Auelegung von 3%. 40—66 wit 
derhoft nahdrüdtic, hervor; vgl. 3. B. feinen Comm. zu Jeſajas, S. 484. 


Zur Charafterifit der meffianifchen Weifiagung ec. 281 


richts über Israel ift eben, es zur Buße und Bekehrung zu führen. 
Häufig wird geſchildert, wie dasſelbe Jsrael demüthigen, es zur 
Erfenntnis und zum bußfertigen Bekenntnis feiner Verſchuldungen 
führen, ihm die alten Sündenwege verfeiden und es treiben werde, 
in feiner Noth feinen Gott zu fuchen. Namentlich befchreiben Micha 
(7, 7ff.) und in weiterer Ausführung feiner Ideen Deutero-Jefaja 
näher, wie ba8 in die Gewalt der Heiden gegebene Gottesvolk das 
Gericht als ein wohlverdientes bußfertig und willig trägt, dabei aber 
auch unerfchütserlich fefthält an dem Glauben und der Hoffnung, 
daß der treue Bundesgott es von feinem Falle wieder aufrichten 
und gegenüber dem Hohn und Spott über fein Vertrauen’ auf den 
Gott feines Heiles glänzend rechtfertigen werde. — Daneben aber 
macht ſich auch die Erfenntnis geltend, daß der Zweck des Gerichts, 
die bußfertige Scham über die bisherigen Untrenen und die gründe 
liche Belehrung doch erft durch die Herrliche Erweifung der die 
Sünden vergebenden, erlöfenden Gnade Gottes in vollem 
Maße werde erreicht werden. So fchon bei Hofen (2, 16f.; 3,5; 
5,15 bis 6, 3; 14, 2. 9), und namentlich bei Ezechiel (20, 33 ff.; 
16, 63; 36, 31f.), der es ſchon erfahren hatte, wie wenig Is⸗ 
raels Widerfpenftigkeit durch die Noth des Gerichtes gebrochen 
worden war, und es darum wiederholt betont, daß Gott die Gna- 
denthat der Erlöfung allein um der Ehre feines heiligen Namens 
und um feiner Treue willen trog Israels Unwürdigkeit vollführe; 
und bei Deutero- Jefaja, der die Erlöfungsthat in dasſelbe Licht 
ftelft und überall die volle Erfenntnis des lebendigen Gottes und 
alleinigen Heilandes als Zweck und Frucht derfelben darftelit. — 
Infolge davon bezeugen denn auch beide Propheten, daß erft die 
unbußfertige Verſtockung gegen die Gnadenthat der Erlöfung, die 
Verfhmähung der meffianifhen Heilsgnade Gottes 
dag mit dem Erlöfungswerke verbundene entfcheidende Vernicdh- 
tungsgeridt nad ſich ziehe (Ez. 20, 38. Jeſ. 48, 22; 
50, 11; 57, 20f.; 65, 11ff.; 66, 24). — In manden 
Weißagungen erſcheint die Belehrung aud) als erfte Frucht der 
Geiftesausgießung. So z. B. in Sad. 12, 10ff. Diefe 
merfwürdige Weißagung beftimmt zugleich den Hauptgegenftand der 
bußfertigen Trauer Israels näher: feine Verſchuldung culminirt 


262 Riehm 


in der Ermordung eines Propheten, und fo äußert ſich feine Buß 
fertigfeit vor alfem in der allgemeinen Klage über den, melden fie 
durchbohrt Haben. Zwar kann die geſchichtliche Auslegung in diefem 
" Propheten nicht den Meffias erkennen, fondern hat den Mord als 
zur Zeit jener Weißagung ſchon erfolgt anzuſehen; aber doch fiegt 
hier, wenn auch nicht. öhne typiſche Umhülfumg, eine beſtinimte Er⸗ 
kenntnis darüber vor, daß Israel, indent es des meffianifchen Heifes 
theilhaftig wird, feine bis auf's äußerfte bethätigte Tod» 
feindfhaft gegen einem zur Bezeugung der Wahrheit gefandten 
Knecht Gottes zu betranern Haben werde. Auch diefe Erfennt- 
nis finden wir wieder in der Weißagung Deutero-Jefaja’s, fofern 
hier wenigftens das Leiden des echtes Gottes auch als durch die 
Feindſchaft der abgefallenen Israeliten verurfacht dargeſtellt ift, 
und (in Rap. 53) die bußfertigen und begnadigten Isrãeliten ber 
kennen, daß fie den Knecht Gottes in feiner Leidensgeftalt verkannt 
und. gering geachtet‘ und für einen von Gott Geftraften gehalten, 
nun aber- erfannt hätten, daß er, der Schuldloſe, ihre eigene Schuld 
und Strafe getragen habe. — — Endlich hat die Prophetie and 
vorausverfündigt, dag dem zum Gericht über fein Wolf und zur 
Erlöfung feiner Srommen fommenden. Gotte eingroßer Pro- 
phet als Wegbereiter unmittelbar: vorausgehen und 
durch fein gottesmächtiges Wort das Volk zur Belehrung rufen 
werde (Mal. 3, 1. 23f.). — 

Auf Israels Belehrung und Erlbſung folgt der Eingang der 
Heiden in das Reich Gottes. Auch er ift nad der gefamten 
altteftamentlichen Weißagung vorbereitet, bedingt -umd. begleitet von 
der rihterlihen Offenbarung der heiligen Majeſtät Jehova's, 
welche die entfchiedenen Feinde feines Reiches vernichtet, und die 
verfchont bleibenden mit Furcht und Zittern vor ihm erfüllt, und 
ihnen die Augen öffnet über ihrer Götzen Nichtigkeit und Jehova's 
alleinige Gottheit; und zwar? bricht das ſolche Wirkung übende 
Gericht zuerft über die Weltmacht herein, in deren Gewalt das 
Gottesvolf gegeben war. Andererſeits iſt e8 die mit dieſem Gericht 
verbundene Erlöfung Israels und das ihm geſchenkte meſſia— 
nifche Heil, was in dem Heiden das Verlangen wedt, auch dem 
Gotte anzugehören, welchen jie dadurch als den affeinigen Helfer 





Zur Eharakteriftit der mefftanifchen Weißagung zc. 2363 


und Heiland kennen lernen. In einzelnen Weißagungen (5. B. 
Sach. 9, 10. Ze: 11, 10) ift auch der Perfon und dem ſegens ⸗ 
reihen Regiment des gottegmächtigen meffianifhen Könige 
die Anziehungskraft zugefchrieben, welche die Völker beſtimmt, ſich 
ihm, al dem Repräſentanten Gottes auf Erden, freiwillig zu 
unterwerfen und feine königlichen Entſcheidungen einzuholen. In 
anderen ift angekündigt, wie Gott felbft ihnen jeinen Willen 
fund thun und durch feine fchiedsrichterliche Thätigkeit fein Friedens» 
reich unter ihnen aufrichten (ef. 2, 3f.), wie er die Hilfe der 
Unwiſſenheit und Verblendung von ihnen hinwegnehmen (Jeſ. 25, 7) 
und ihre durch die Götzennamen verunreinigten Pippen in reine 
ummandeln werde, jo daß fie feinen Namen anrufen und ihm ein« 
müthig dienen (Zeph. 3, 9). — Aber aud) das fündigt die alt» 
teftamentliche Weißagung Mar und beftimmt an, daß das Volk 
Gottes das Organ fein werde, durch welches die wahre Erkenntnis 
and Verehrung Gottes zu den Völkern gebracht und der Heiler 
tathſchluß des . göttlichen Erbarmens über die Heiden ausgeführt‘ 
werden fol. Schon bei Jeremia finden fich die Anfänge diefer: 
Erkenntnis (vgl. Ser. 12, 16; 30, 10), und Deutero» Zefaja 
ſchildert ausführlich und wiederholt, wie der Knecht Gottes, zum 
Nichte der Heiden gemacht, feinen prophetiſchen Zeugenberuf, den. 
Gott ſchon bei der Erwählung Israels im Ange Hatte, in imermüd- 
licher leidenswilliger Ausdauer und in Treue bi zum Tode an 
den Völfern erfüllt, bis der beſchworene Rathſchluß Yehova’s, daß 
ihm alle Kniee ſich beugen und ihn alle Zungen zuſchwören jollen, 
ausgeführt .und Gottes Heil bis zu den Enden der Erde gefommen. 
fein wird. — Die Prophetie hat abex, eine zu flare Erkenntnis 
von. der Macht der- in der Welt Herrfchenden Sünde und Gott 
entfrembung, und von der Tiefe des Gegenfages zwifchen deu Heide 
niſchen Weltreihen und dem Gottesreihe, als daß fie eine fried⸗ 
lihe Entwidelung zu diefem Ziele, ohne Kampf und weitere Ge— 
tihte, in Ausficht nehmen könnte. Sie kündigt darum wiederholt 
einen det VBollendungszeit ‘unmittelbar vorausgehenden legten Kampf 
der heidniſchen Weltmacht gegen das Gottesreih an, der mit dem 
volfftändigen Siege des letzteren und dem Vernichtungsgericht für 
die Angreifer endet. So ſchon bei Joel (4, 9ff.), bei Micha 


264 Riehm 


(4, 11ff.; 5, 4f.) und bei dem vorexiliſchen Sacharja (12, 1ff.; 
14, 3ff. 12ff.). Auch Jeremia weißagt, daß auf das erfte Gericht 
über die Israel feindfeligen, abgöttifchen Völker nach ihrer Begna⸗ 
digung und Wiederherftellung, und nachdem ihnen die Erkenntnis 
des wahren Gottes dargeboten und die Thüre zu feinem Reiche 
aufgethan worden fei, noch ein zweites Gericht über die in Wider: 
fpenftigkeit verharrenden ergehen und fie vertilgen werde (Jer. 12, 17). 
Auch für die Heiden fteht alfo das Vernichtungsgericht nur bevor, 
fofern fie trotz Jehova's Gerichts: und Gnadenthaten in das Reid 
Gottes nicht eingehen wollen, fondern in ihrer Feindſchaft gegen 
Gott und fein Reich unbußferfig verharren. Am merkwürdigſten 
geftaftet fich jene Anfündigung bei Ezechiel: nach dem erften Israel 
gegen die umwohnenden Völker fihernden Gerichte (28, 24 ff.) wird 
das Reich Gottes in vollendeter Geftalt für Jsrael auf dem Boden 
des heiligen Landes aufgerichtet, und das Volk Gottes genießt Lange 
Zeit fiherer Ruhe und tiefen Friedens (38, 8. 11f.). Erſt am 
Ende der Tage fcharen ſich die fernften Völfer, die Jehova's Macht 
noch nicht kennen gelernt haben, um Gog, den König von Magog, 
zum legten Angriff auf das Gottesreich; über fie und ihre Länder 
ergeht dann Gottes letztes Gericht, in welchem er ſich vor den 
Augen aller Völfer als der Heilige erweift, damit alle ihn erfennen 
und das Volt Gottes für ewig gegen alle Angriffe und alle Schmach 
ſichergeſtellt bleibe (Ez. 38 u. 39). Aber auch Deutero - Jefaja 
ich dem Gericht über die haldäifche Weltmacht und nachdem 
ft Gottes feinen prophetifchen Zeugenberuf zu erfüllen be- 
hat, noch einen legten Angriff der heidmiſchen Völker auf 
tesftadt und ein letztes großes Gericht über fie in Ausfiht, 
deſſen dann aud die entfernteften Völker Jehova, defien 
feit ipnen durch Entrommene verfündigt wird, hufdigen werben 
6, 18 ff.). 
fenflornartige Wachstum der Gemeinde des Neuen Yundes 
: Unterfehied zwifchen der anfänglichen Niedrigfeitegeftalt der 
en Kirche und der fehlieglichen Herrlichfeitgeftalt der trium⸗ 
n ftellt zwar die aftteftamentliche Weißagung ebenfowenig 
8 Licht, als fie von einem zweifachen Kommen des Meſſias 
Knechtögeftalt und in der Herrlichkeit weiß. Vielmehr ver⸗ 


Zur Eharakterifit der meffianifchen Weihagung zc. 265 


Müpft fie gewöhnlich die Aufrichtung des Reiches Gottes in feiner 
Vollendungsgeftalt unmittelbar mit der Erlöjungsthat Gottes, welche 
die Zeit des Heiles herbeiführt. Aber das Grundgefeg, welches 
den Entwickelungsgang des Reiches Chrifti beftimmt, iſt in Deur 
tero-Jefaja’8 Weißagung trogdem klar ausgeſprochen. Gottes Wege 
find andere als die der Menfchen; fein Werk fommt in ganz ame 
derer Weife zur Ausführung als menſchliche Werke. Sein Volk, 
das er al8 feinen Knecht zur Ausführung feiner Heildabfichten be» 
rufen hat, erreicht nichts durch äußere Macht, durch geräuſchvolle, 
gewaltſame, in die Augen fallende Wirkjamfeit. Die von ihm 
ftammende Kraft muß ſich bemähren, indem fein Volk im fdein- 
baren Unterfiegen die äußere Macht der Welt überwindet. Nur 
durch demüthige, felbftverleugnende, feidenswillige Hingabe an Gott 
und den von ihm übertragenen Heils- und Liebesberuf und durch 
die unfichtbare Macht Gottes und feiner Wahrheit trägt es den 
Sieg davon; nur auf dem Wege der Erniedrigung und des Leidens 
wird es der ihm beftimmten Herrlichkeit theilhaftig. 

Schließlich ſei noch einmal daran erinnert, daß auch ſchon die 
altteftamentliche Weißagung als Abſchluß der gefamten Heilsgeſchichte 
die Auferftehung der Todten mit einem über fie ergehenden letzten 
Gerichte (namentfih im Bude Daniel) und die Erneuerung und 
Verklärung des Himmels und der Erde anfündigt. 

In allem dieſem erkennen wir die Elemente der neuteſtament ⸗ 
lichen Erkenntnis über die Bediugungen des Heilsempfanges und 
über den Entwickelungsgang der Geſchichte des Gottesreiches, na⸗ 
mentlich auch die Grundlinien der neuteſtamentlichen Eschatologie; 
aber auch hier macht ſich der bruchſtückartige Charakter und die 
typiſche Verhülung der prophetiſchen Erkenutniſſe vielfältig geltend. 
Auf allen Punkten zeigt ſich alfo, daß die mejfianifche Weißagung 
des Alten Bundes noch feine volle Erkenntnis des im Neuen Bunde 
zur Ausführung kommenden Heilsrathfchluffes darbietet, daß viel» 
mehr erft feine Ausführung felbft auch feine volle Offenbarung ift. 


Die thatfähfiche Ausfügrung des Heilsrathſchluſſes Gottes in 
Chriſto und durch Chriftum geht nad dem Bisherigen noch weit 


266 Riem 


über den Inhalt der meſſianiſchen Weißagung hinaus; fie ift ein 
noch herrlichere Dffenbarung der ewigen Liebe Gottes und biettt 
noch größeres Heil dar, al die Weißagung in Ausficht ftellte; 
aber darum ift fie nicht weniger deren Erfüllung. Auch die rüd- 
haltsloſe Anerkennung des bruchftüdartigen Charakters der prophe⸗ 
tiſchen Erfenntniffe, vermöge deffen die Ausführung des Heilsrathes 
Gottes auf verſchiedene Heilsmittlerifche Subjecte vertheilt erſcheint, 
ift in feiner Weife eine Löfung des Bandes, welches die alttejte- 
mentlihe Weißagung und die neuteſtamentliche Erfüllung verknüpft. 
Denn aud) diejenigen mejfianifchen Weißagungen, welche nad} ihrem 
geſchichtlichen Sinne nicht von der Perſon des Meſſias handeln, 
fondern von ber jichtbaren Erſcheinung Jehova's zum Endgericht 
und zur Erlöfung, ober von der Gottesgemeinde des Alten Buubdes, 
oder von dem meffianifcen Hohepriefter, und überhaupt das Ganze 
der meffianifhen Weißagung hat feine gottgewollte und 
von Öott geordnete offenbarungsgeſchichtliche Abzie— 
lung auf Ehriftum. "Der vor Grundfegung der Welt gefaßte 
Rathſchluß Gottes, daß Chriſtus die centrale Stellung des alleinigen 
Mittlers alles Heiles in dem Neiche Gottes und in der Menfchpeit 
einnehmen jollte, ſchloß auch ſchon in fi, daß alle von verjdie- 
denen Ausgangspunften ausgehenden Weißagungen von vornherein 
auf ihn abzielen, wie die Lichtftrahlen im Brennpunkte, in ihm 
zufammenlaufen und in ihm und durch ihm ihre einheitliche Er⸗ 
füllung finden ſollten (vgl. 2Ror. 1, 20) ®). 

Schon vor der Erſcheinung Eprifti war aud ein über den ge: 
ſchichtlichen Sinn hinausgehendes, dieſe offenbarungseſchichtlice 
Abzielung erkennendes Verftändnis der Weißagungen wenigſtens in 


a) Bgl. Berthean a. a. D., 1859, ©. 320: „So lanfen gar viele in dem 
A. T. in bunter Verſchlingung ſich hindurchziehende Fäden der Weißagung 
zuſammen in dem Miittler des N. T.'s.“ Oehler, Art. „Meſſias“, 
©. 417: „Es gehört zum Charakter der Prophetie, in ihren Anſchauungen 
disjecta membra zu bieten, bie erft durch bie erfüßlende Geifsgefchchte 
harmoniſch geeinigt werden. Für alle weſenilichen Beftimmungen ber nen | 
teftamentlichen Chriſtologie liegen die VBorausfegungen im A. T., aber das 
fie organiſch zufammenfafiende und abſchliehende Offenbarungswort ift erft 
mit der vollendeten Offenbarungsthatſache gegeben.” 








Zur Charakterifti der meſſiauiſchen Weißagung ꝛtc. 267 


finen Anfängen vorhanden. Der Abjtand zwiſchen dem Inhalt 
der meſſigniſchen Weißagung und der neuteftamentlihen Erfüllung 
iſt wenigftens einigermaßen überbrücdt durd die Entwicelung der 
teligiöfen Erkenntnis des Judentums in der nadjfanonijchen Zeit. 
Bir fönnen uns hier nicht darauf einlaffen, einen befonderen Nach- 
weiß hiefür zu liefern. Neben den bekannten Vorbeteituugen und 
Anbahnungen der neuteftamentlichen Erkenutnis des dreieinigen Gottes 
und des Sohnes inöbefondere, wie fie in der alerandrinifch Hüdischen 
Logoslehre, den paläftinenfischen Theologumenen von der xp2Y und 
dem now und der Vorjtellung von der hypoſtaſirten Weisheit 
enthalten find, fei nur in chriftologifcher Beziehung die ſchon im 
Bude Henoch (48, 3. 6) bezeugte Idee einer vorweltlihen Prä- 
eriftenz des Meifias beſonders hervorgehoben, der ſich auch die im 
Targum Jonathans vorkommende Vorſtellung annähert, der Meſſias 
ſei ſchon vorhanden und werde, ſobald Israel ſich bekehre, aus der 
Verborgenheit hervortreten ); und hinſichtlich der in den offenen 
Himmel hineinreichenden Chriſtenhoffnung ſei auf die Unfterblich- 
feitslchre des jpäteren Judentums (vgl. z. B. Tob. 3, 6. Weish. 
3 u. 5), namentlich die ebenfalls im Targum Jouathans wieder 
holt vorfommenden Vorftellungen des ewigen Lebens und des zweiten 
Todes, den die der Geenna überantworteten Verdammten fterben 
müffen ®), hingewieſen. — Hier aber kommt es uns vorzugsweife 
darauf an, daß ſchon die ältefte jüdiſche Schriftauslegung viele 
Stellen, in welchen nad ihrem gefchichtlichen Sinne nicht vom 
Meſſias die Rede ift, auf“ denſelben bezogen und die Erfüllung 
alter Heilöverheißungen an feine Erſcheinung geknüpft hat e). Im 


3) Jonath. Mid. 4, 8: „Und du, Meſſias Israels, der verborgen ift 
wegen der Sünden der Gemeinde Zions, an did) wird das Könige 
tum fommen“ u. f. w. 

b) Bol. 3. 8. Ionath. Jeſ. 4, 8. — Jeſ. 22, 14; 65, 6, 15. — Hof. 14,10, 
ef. 26, 15. 19 u. a. Stellen. 

©) Wie mande Palmen, namentlich Sönigspfalmen, durch ihren gottesbienft- 

lichen Gebrauch) in der altteftamentfichen Gemeinde auf Grund ihres ur- 
fprüngfichen, zeſchichtlichen Sinnes nod) einen zweiten höheren meffianifchen 
Sinn gewonnen haben, weift Herm. Schultz in feiner Abhandlung 
„Weber doppelten Schriftſinn“ im diefer Zeitſchrift (ahrg. 1866, Heft I) 
nad). 


268 Riehm 


Targum Jonathans, das — abgefehen von fpäteren Zufägen — 
jedenfall® nod vor Yerufalems Zerftörung geſchrieben ift, und auf 
in die vorchriftliche Zeit zurüctreichender überlieferungsmäßiger Schrift: 
ausfegung beruht, find befanntlich überaus viele Weißagungen, dar- 
unter auch die meiften, auf welche fi) die neuteftamentlichen Schrift: 
ſteller berufen, meffianifch gedeutet. Beſonders gilt dies auch von 
Deutero-Fefaja’8 Weißagungen über den Knecht Gottes. Der Ge 
danke af einen leidenden und jterbenden Meffins wird freilich ge 
fliffentlich ausgefchloffen, indem in Jeſ. 53 alles, was vom Leiden 
des Knechtes Gottes gefagt ift, durch Umdeutung befeitigt wird *). 
Immer aber ruht diefe Auffaffung der Weißagung, ebenfo wie bie 
Bezeichnung des fünftigen Aeon (Myı pbn = nz ahiyn) ale 
die Zeit des Meſſias (Jonath. 1Kön. 4, 33) auf der Voraus: 
fegung: man habe den Meffins überhaupt als den Vermittler des 
dem Gottesvolfe beftimmten Heiles, namentlih auch der Sünden 
vergebung (vgl. Jonath. Jeſ. 53, 4), anzujehen. — Es kann 
darum auch nicht auffallen, wenn auf Grund folchen über den ge 
ſchichtlichen Sinn ‚der Weißagungen Hinausgehenden, ihre offen 
barungsgeſchichtliche Abzielung erfaffenden Schriftverftändniffes 30 
hariae’ die Weißagung von dem Kommen des Herrn’ zu feinem 
Volke (Luk. 1, 76) und Symeon die auf den Knecht Gottes br- 
züglichen Verheißungen (Luk. 2, 31f.) als in dem Meffias ſich 
erfüllend anfehen. — 
Jedoch waren die immer nur vorbereitende Anfänge der Er⸗ 
tenntnis. daß alle Verheißungen Gottes in der Perſon des einen 
ı Heilsmittlers Ya und Amen werden follten (2 Kor. 
n voller Klarheit quillt fie erft aus dem meſſianiſchen 
tfein Jeſu Chrifti hervor. Er deutet überhaupt das 
iche Schriftwort fo, daß er als Sohn, der mit dem 
ven Abfichten des Vaters vollfommen vertraut ift, die 
esgedankrn aus der zeitlichen und volfstümfichen Um— 
wsftellt; und fo verfährt er denn namentlich auf mit 


. 58, 12 bfieb der Sat ſtehen: „weil er fein Leben dem Tode 
ben Hat“, den aber der Baraphraft ſchwerlich von einem wirklichen 
des Todes verftanden wiſſen will. 





Zur Eharakteriftit der meſſianiſchen Weißagung zc. 269 


dem Worte der Weißagung. Er verfteht -und deutet es in dem 
Bewuftfein, vor Grundlegung der Welt zum einigen Mittler des 
Heiles beftellt und nun gekommen zu fein, um den ganzen Heild« 
tathſchluß des Vaters‘ über die Menfchheit zur Ausführung zu 
bringen. In diefem Bewußtfein bezieht er alles, was die Weißagung 
von heilsmittleriſcher und die Vollendung des Gottesreiches herbei⸗ 
führender Berufsthätigfeit und Berufserfahrung, als Prädicat ver- 
ſchiedener Subjecte, anfündigt, auf ſich felbft. — Durch befräftie 
gende Entgegennahme des Bekenntniſſes, daß er der Ehrift fei 
(Math. 16, 16f.) und der Anrede „Sohn Davids“, durch feine 
Selbftbezeichnungen als „der Menſchenſohn“ und „der Sohn Gottes“ 
(wiewol der Inhalt diefer Namen fih auf ihren meſſianiſchen Sinn 
nicht befchränft), durch fein befhworenes Bekenntnis vor dem hohen 
Rathe (Matth. 26, 63f.) und durch feinen feierlichen meſſiauiſchen 
Einzug in Jeruſalem, gemäß dem Wortlaute der Weißagung Sad. 
9, 9, erflärt er vor allem die Weipagungen von dem kommenden 
Meſſias als in feiner Perfon und feiner Wirkjamteit als König 
des Himmelreiches theils erfüllt, theils in Erfüllung gehend. Dabei 
iſt freilich da® aus den Tiefen feines Selbftbewußtfeins hervor» 
tretende Bild des meſſianiſchen Königes noch ein anderes als das 
der Propheten ; beide Bilder unterſcheiden ſich ebenfo, wie fi) die 
noch altteftamentfich gefärbte Vorftellung des äußeren Gottesftantes 
von der Idee des meuteftamentlihen Himmelreiches unterfcheidet, 
find aber andererfeits auch in gleicher Weife wie diefe mit einander 
innerlich verwandt. Der mefjianijche König des Reiches Gottes, 
durch welchen Gottes königliches Regiment und jeine richterliche 
und heilſchaffende Wirkfamkeit vermittelt wird, hat im Sinne Chriſti 
dorerft nur eine unfichtbare Geiftesmacht, namentlich begründet in 
der geiftigen Macht der Wahrheit, melde zu bezeugen und zu be» 
währen er in die Welt gekommen iſt; feine Herrlichkeit, vorerft 
vorzugsweiſe eine ethiſche, ift noch verborgen, nur für das Auge 
des Glaubens erkennbar; fein Reich, das nicht von dieſer Welt ift, 
wird zunüchſt inwendig in den Herzen aufgerichtet; fein Weg zur 
Verherrlichung und allgemeinen Anerkennung führt- durch die tiefſte 
Erniedrigung in feinem Todesleiden hindurch; und auch nachdem 
ihm alle Gewalt gegeben ift im Himmel und auf Erden, ift fein 
Theol. Stud. Jahrg. 1869, 18 


270 Kichm 
Eönigliches Regiment, dich welches er feine Gemeinde auf dems 
felben Wege, den er gegangen ift, der Vollendung entgegenführt, 
vorerft nur für den die Welt des Unfichtbaren ſchauenden Glauben 
Affenbar, bis er am Ende der Tage in voller Offenbarung feiner 
föniglichen Herrlichkeit wiederfommen wird zum Gericht über feine 
Feinde und zur Aufrichtung feines Reiches in feiner Vollendungs⸗ 
geftalt. — Man kann jagen, daß der Unterfchied dieſes Bildes 
des meffianifchen Königes und dem von den Propheten gezeichneten, 
hauptfächlich in der einheitlichen organischen Zufammenfaffung der 
Meffiasidee und der Idee des Knechtes Gottes, die in Chrifti Selbft- 
bewußtſein fich vollzogen Hatte, begründet ift, und daß erft in den 
Ankündigungen der Wiederkunft Chrifti in feiner Herrlichkeit die Züge 
des prophetifchen Meffiasbildes in vollem Glanze hervortreten. 
Auch was vom Knechte Gottes, d. i. der Gottesgemeinde de 
Alten Bundes, geweißagt ift, bezieht nämlich Ehriftus in gleicher 
Weife anf fi. Seine Erffärung über die Stelle Jeſ. 61, If. in 
der Synagoge zu Nazaret: „Heute iſt diefe Schrift erfüllet vor 
euren Ohren“ (Luk. 4, 21) fegt dies fon voraus; und von dem 
Worte Ye. 53, 12 fagt er ausdrücklich, daß es an ihm erfüllt 
werben müfje (Luk. 22, 37). Aber auch bei den allgemeiner ge 
haltenen Verweiſungen auf die altteftamentliche Weißagung von 
feinem Leiden und Sterben und der darauf folgenden Verherrlichung 
(Mark. 9, 12. Matth. 26, 54. Luk. 24, 2öff. A4ff.) hat - er 
neben Pf. 22 ohne Zweifel vorzugsweife die Weißagung vom Knechtt 
Gottes Jeſ. 53 im Sinne. Er ift fi bewußt, der aus. Israel 
hervorgegangene und ihm angehörige perfünliche Heilamittler zu fein, 
in welchem die Gottesgemeinde des Alten Bundes den ihr über 
tragenen prophetifchen und priefterlichen Beruf erfüllt, und an 
melchem harum auc alle Gottesgedanken von dein ftellvertretenden 


Kuechtes Gottes und deſſen Frucht und Lohn ihre wollfte | 


hung finden mußten. Auf ihn, der der Mittelpunkt der 
veinde des Alten Bundes, ihr von Gott verordnetes Haupt 
nittleriſcher Vertreter, ber Träger ihres prophetiſchen und 
en Berufes für die Menfchheit ift, hat die Weißagung 
hte Gottes ihre gottgemollte offenbarungsgefchichtliche Abr 
50 wird alfo in der Erfüllung die ideale Collectivperſon 


Zur Eharakteriftif ber meſſianiſchen Weißagung 1c. 271 


zur Einzelperſon, an der ſich nun mit gottgeordneter Nothivendigkeit 
afüllen muß, was von jener geweißagt iſt. Demgemäß finden denn 
auch die Apoftel mit gutem Grunde alle Weißagungen von der 
prophetifchen Berufsthätigkeit (Matth. 12, 17ff.) und von dem 
ftellvertretenden Tobesleiden (Apg. 8, 32ff. 1 Petr. 2, 22ff.) des 
Kuechtes Gottes in Chrifto erfüllt. — 

Aber auch die Weißagung von der fichtbaren Erfcheinung er 
hova’8 in dem Engel des Bundes zum Gericht und zur Erlöfung 
betrachtet Chriftus als in feiner Perfon erfüllt. Es erhellt dies 
unzweidentig aus feiner ausbrüdlihen Erflärung, daß fein eigener 
Vorläufer, Johannes der Täufer, der Elias fei, welder nad) der 
Beißagung dem kommenden Jehova den Weg bereiten folite (Matth. 
11, 10—14; 17, 10.) ). Es ift nur eine weitere Anwendung 
und Durchführung von Chriſti eigener Auffaſſung der Weißagungen, 
wenn im Lichte der Thatſache, daß die höchſte Aeußerung der Feind⸗ 
fhaft gegen Gottes Wahrheit, welche das befehrte IJsrael bußfertig 
zu betrauern hat, in der Kreuzigung des Mefftas, der zugleich der 
- größte der gottgefandten Propheten ift, befteht, auch die Weißagung 
Sad. 12, 10ff., unter Abftreifung der typifhen Umhülfung, auf 
Chriſtum bezogen wird (vgl. Joh. 19, 37. Apok. 1, 7); und wenn 
wir fagen, daß er nicht nur der meſſianiſche König, fondern auch 
der meffianifche Hohepriefter ift, den Sacharia's Weißagung neben 
jenen geftellt Hatte. Auch alte neuteftamentlichen Berufungen auf 
die in Ehrifto erfolgte Erfüllung ſolcher Schriftworte, in denen wir 
nur wegen ihres typiſchen Gehaltes Weigagungen erfennen können, 
find in gleicher Weife eine weitere Durdführung des von Chriſtus 
felbft dargebotenen Verftänduifjes der Prophelie. Auch fie fußen 
auf“ der Gewißheit, daß nad) Gottes ewigem Rathe Ehriftus der 
Vollführer des ganzen Heilsrathjchluffes Gottes ift, und daB darum 
auch der Weißagungsgehalt aller der Schriftworte, welche Gottes 
ewige Heilögedanfen in Anwendung auf beftimmte gefchichtlihe oder 





a) Diefer wichtige Zug in dem Zeugniffe des fgnoptifchen Chriſtus über fid) 
ſelbſt, der nicht weniger als die vielbefprochene Stelle Matth. 11, 27 mit - 
dem Selbſtzeugnis des johanneiſchen Chriſtus ſich berüßet, iR noch nicht 
gebürend beachtet worden. 

18* 


273 Richm 


ſpecifiſch altteftamentliche Verhäftniffe, alfo in tppifcher Umhüllung, 
aussprechen, ihre gottgewollte offenbarungsgefchichtliche Abzielung auf 
Chriſtum Haben; eine Abzielung, welche den Apojteln ſelbſt freilich 
häufig erft durch die Erfüllung klar geworden ift, wie mandmal 
auch ausdrücklich bemerkt wird (4. B. Joh. 20, 9; 2, 22), und 
welche fie meift, unter Beiſeitelaſſung des geſchichtlichen Sinnes, 
ausſchließlich in's Auge faſſen*); weshalb es auch guten Grund 


8) Eine nähere Erörterung der neuteftamentlichen Citate altteftamentlicher 
Weißagungen liegt außerhalb des Bereichs unferer Aufgabe; zu dem Obigen 
fügen wir Hier nur nod) in Kürze einige allgemeine Bemerkungen hinzu. 
Die neuteſtamentlichen Schriftfteller (und auch Ehriftus felbft) betrachten 
das altteſtamentliche Schriftwort durchaus nur im Inteveffe der einfachen, 
unmittelbar für das Leben aus Gott und in Gott bedeutſamen Heils. und 
Wahrheitserfenntnis. Es kommt ihnen darum gar nicht in den Sinn, zu 
fragen, wie die Propheten felbft ihre ‚Weißagungen verftanden Haben, und 
wie fie von den Zeitgenoffen derſelben verftanden werben mußten. Nur 
darauf kommt es ihnen an, mas der Geift Gottes darin ihnen felht, 
ihren Zeitgenoffen und für alle Zeiten bezeugt, alfo auf ben ewigen gött- 
lichen Gehalt des aftteftamentlichen Schriftwortes; und fie betrachten das‘ 
ſelbe daher durchaus in dem Lichte, in welches es durch die nenteftament- 
ige, in Ehrifto gegebene Erkenntnis geftellt iſt. So ift namentlich ihr 
Verſtändnis der Weißagung durchaus durch die Erfüllung bedingt und 
beſtimmt. Dabei ift ihre Auslegung feineswegs eine willkürliche. Nur 
fporadifch kommen einzelne Deutuugen und Schriftbeweiſe vor, denen wir 
Gürtigkeit und Beweiskraft ganz abfpredhen müffen; und es find dies ge- 
rade die Fälle, in welchen nenteftamentfiche Schriftſteller mit den Mitteln 
der bei ihren jüdifchen Zeitgenofjen herrſchenden hermeneutiſchen Methode, 
namentlich der Allegorit des Alexaudrinismus, einen mehr gefehrten, ſchul- 
mäßigen Schriftbeweis zu führen unternehmen (Cal. 3, 16; 4, 2iff, 
auch einzelnes in Hebr. 7). In der Megel dagegen befteht ihr hermenene 
tifches Verfahren nicht in dem Citat fremden Eintragungen mittelft der 
Allegorik, fondern in einer tieffinnigen, im Geifte Gottes vollzogenen Heraus: 
ſtellung des innerften Kernes, des idealen, ewigen Gehalte, ber wirklich 
in zeitgeſchichtlicher Umhüllung in dem Schriftworte enthalten ift. Wol 
finden fie in dem Schriftwort einen Sinn, der weit über das hinausgeht, 
mas die fireng geſchichtliche ErHlärung darin finden kann, und betrachten 
biefen Sinn als den wahren, vom Geifte Gottes beabfichtigten; aber dieſet 
Sinn iſt nicht toißfücdich eingetcagen; er fteht in innerem Zuſammenhang 
mit dem geſchichtlichen Sinne; und mit innerer Nothwendigkeit und nad 
einer objectiven Gejegmäßigteit, deren die Apoſtel fich freilich gewohulich 





Zur Charalteriſtik der meſſianiſchen Weißagung ze 278 


und Recht hat, daß fie in der Berufung auf ſolche Stellen ges 
wohnlich nicht die menfchlichen Schriftfteller nennen, als die, welche 


nicht Mar bewußt waren, mußten fie im Lichte des Neuen Bundes die 
Schriftworte in jenem höheren Sinne verftchen. In zweierlei haben näm- 
lich ihre Deutungen ihren objectiven Grund und ihr Recht. Auf der einen 

. Geite iſt es ber ideale Gehalt, welcher, in altteftamentliche und jeitgeſchicht 
liche Formen gefaßt oder auf beſtimmte Verhältniffe angewendet, in dem 
Schriftworten wirtlich vorhanden ift, und auf der anderen Seite die die 
Heilsgefchichte beherrſchende und geftaltende göttliche Teleologie, vermöge 
welder dem ganzen Alten Bunde der Charakter des Vorbildlichen für dem 
Neuen Bund eigen ift, indem alle Gottesgebanfen im Alten Bunde erſt 
in vorläufiger unvollfommener Weiſe, in Ehrifto aber in weſenhafter Weiſe 
zur Verwirklichung kommen, was den inneren Zufammenhang zwiſchen 
dem geſchichtlichen Sinn der altteftamentlichen Schriftwworte und der vom 
Standpunkt der Erfüllung aus gegebenen neuteſtamentlichen Deutung ber 
gründet. Es iſt dies weſentlich erft durch das Ehriftentum in’s Dafein 
gerufene Interpretationsverfahren im Unterichied von dem allegoriſchen das 
topologifche. Während die geſchichtliche Auslegung ermittelt, welchen Sinn 
das Schriftwort für den Schriftfteller mud feine Zeitgenoffen Hatte, weiſt 
dieſe typologiſche Auslegung ®die Bedeutung auf, melde es im Lichte der 
ganzen in Ehrifto zu ihrem Ziele kommenden Heilsgefchichte gewinnt; fie 
ermittelt, worauf dasſelbe nach Gottes verborgenem, aber als bie Zeit 
erfüllet war, offenbar gewordenem Rathſchluſſe zuletzt Hinzielte; und fie hat 
immer deu geſchichtlichen Sinn, mag es dem Ausleger Mar beroußt jein 
oder nicht, Zur Unterlage, fofern fie nicht an Aeußerliches und Zufälliges 
an dem Schriftworte annüpft (mie die Allegorif), fondern aus dem Ein- 
blick in feinen innerften Kern erwächſt. — Im ganzen und großen be» 
trachtet, ift alle neuteftamentliche Hermeueutit eine foldje gefunde, objectiv 
berechtigte, typologiſche Auslegung. Die nenteftamentlichen Scheiftfteller 
waren mit der altteftamentlicen Delonontie nod; aus unmittelbarer An- 
ſchauung und Erfahrung vertraut; fie waren in dem innerften Heiligtum 
des Alten Bundes heimiſch; darum hatten fie auch einen fiheren und Haren 
Blick für die den Kern der altteftamentlichen Schriftworte bildenden ewigen 
Gottesgedaufen. Und fodanı war aud; ihr Schriftgebrauch noch ein ein- 
faer, von exegetiſcher Kunft abjeheuder; fie beſchränken ſich in der Regel 
darauf, einzelne Stellen als Schriftbeweife zu verwenden, und zwar Stelle, 
deren eroiger MWahrheitegehaft fich ihrem chriſtlichen Bewußtſein ſelbſt ber 
zeugte, und in denen ihnen ganz ungeſucht weißagende Zeugniffe von dem 
neuteftamentlichen Heile vor Augen traten. So konnten fie nicht leicht 
dazu kommen, in ganz willfirlicher Weiſe beliebige Schriftworte auf Chriſtum 
und fein Reich zu beziehen. Vgl. ausführliceres in Tholuds Schrift: 
„Das A. T. im N. T.“ 


274 — Riehm 


das betreffende Wort geredet haben, ſondern Citationsformeln ge⸗ 
brauchen, wie „es ſteht geſchrieben, die Schrift ſpricht, Gott hat 
geſprochen, der heilige Geift bezeugt u. ſ. w.“; denn der Sinn, 
in welchem fie ſolche Schriftworte auffaſſen, ift eben nicht der ger 
ſchichtliche, ſondern entfpricht der von Gott oder dem Geifte Gottes 
beabfichtigten offenbarungsgeſchichtlichen Abzielung des darin be- 
ichloffenen Weißagungsgehaltes auf Chriftum. 

Es möge hier noch in der Kürze ein Bedenken berührt werben, 
welches dadurch erregt werden könnte, daß nach dem Bisherigen 
die einheitlihe und organische Zufammenfaffung der in der mej- 
fianifhen Weißagung des Alten Bundes dargebotenen brudjitüd- 
artigen Erkenntniſſe erft durch die Erfüllung in Ghrifto gegeben 
war. Dan könnte fagen: es hätte dann der Zweck der Weißagung 
an Jeſu Zeitgenoffen nur fehr unvollfommen erreicht werden können; 
und es fei namentlich das Aergernis an Eprifti Knechtsgeſtalt und 
an feinem Kreuzestode fehr entſchuldbar, wenn wirklich die alttefta- 
mentlic;e Weißagung einen’ leidenden und fterbenden Meſſias nicht 
fennen und das prophetifche Meſſiasbild jo wenig zu dem Bilde 
des Menſchenſohnes pajjen follte. Diefem Bedenken gegenüber ſei 
zunächſt noch einmal daran erinnert, daß zur Zeit Chriſti doch die 
Erkenntnis wenigftens in ihren Anfängen ſchon vorhanden war, daß 
and die Weißagung von dem Knechte Gottes auf den einen meſ⸗ 
ſianiſchen Heilsmittler hinziele. Beſonders aber ift dagegen- Fol 
gendes geltend zu machen: Die Erkenntnis und Anerkennung Jeſu 
als des Chrift konnte und follte nicht durch die Wahrnehmung eined 
außerlichen Zufammentreffens von Weißagung und Erfüllung be 
gründet werden; fie mußte an jittliche Bedingungen und Vor⸗ 
ausfegungen geknüpft fein. Nicht der bruchſtückartige Charakter der 
meſſianiſchen Weißagung und die Einfeitigfeit des prophetiſchen 
Meffiasbildes, jondern das Fehlen diefer fittlichen Vorausfegungen, 
befonders die fleifchlihe, am Irdiſchen und Aeußerlichen hängende 
Gefinnung und die Selbſtgerechtigkeit, liegen die Juden und ihre 
Oberen in dem Menfchenfohne den verheißenen Meifias nicht er⸗ 
fennen, und machten ihnen feine Knechtsgeſtalt und fein Todesleiden 
zum Auftoß und Aergeruis. Wo dagegen jene fittlichen Voraus 
fegungen vorhanden waren, da fonnte auch die Weißagung trotz 





Zur Charakteriſtik der meffinnifchen Weißagung zc. 278 


ihres bruchftäcartigen Charakters ihren Zwed erfüllen. Wer dur 
die Weißagung von dem durch das Todesleiden zur Herrlichkeit 
eingehenden Knechte Gottes in Demuth fi) darüber belehren ließ, 
wie und wodurch die Gemeinde Gottes ihren Beruf, Gottes Heils⸗ 
tath zur-Ansführung zu bringen, erfüllen und auf welchem Wege 
fie zum Sieg und zu der ihr beftummten Herrlichkeit gelangen folle, 
der war auch ſchon darauf vorbereitet, daß ihm in Jeſu der ver⸗ 
heißene Meſſias vorerft nicht in der Konigsherrlichkeit des prophe⸗ 
tiſchen Mejfiasbildes, ſondern in der Unfcheinbarfeit und Niedrigkeit 
des Knechtes Gottes vor Augen trat; und fo ift denn auch diefe 
Knechtögeftalt und das Todesleiden Chriſti für die, welche in den 
rechten Gefinnungen auf das Reich Gottes und auf Jsraels Er- 
(fung warteten, fein Hindernis geweſen umd geblieben, in ihm den 
verheigenen Heiland zu erkennen, indem gerade das Wort der Weißa- 
gung ihnen das rechte Licht darüber gab, und den Anftoß, den auch 
fie an dem Kreuzestode genommen hatten, zu befeitigen behilflich 
war. - 

Es ift ja auch der Charakter der meffianifchen Weißagung über» 
haupt nicht dazu angethan, daß die Erkenntnis ihrer Erfüllung in 
Shrifto durch die Wahrnehmung einer äußerlichen, mit fleifchlichen 
Augen zu fehenden Uebereinjtimmung entftehen konnte. Denn fie 
ift, wie wir gejehen Haben, ihrem Weſen nach nicht, wie der ältere 
Supranaturaliemus wähnte, Präbiction ber einzelnen concreten Bors 
gänge der nenteftamentlichen Erfüllungsgejchichte, fondern Verkün— 
digung der ewigen Heilögedanfen Gottes, die im Neuen Bunde zur 
Ausführung kommen follten, und zwar großentheils in typiſcher 
Umülfung. Ihr ideeller Gehalt ift alfo das Band, welches 
Weihagung und Erfüllung verknüpft; und nur wer im Gtande 
war, in einem nicht an ber Oberfläe und an dem Buchſtaben 
haftenden, fondern in die Tiefe gehenden Verftändnis des Schrift« 
wortes — ein Verftänbnis, welches ja immer ein ethifch bebingtes 
iſt — diefen ideellen Gehalt, die göttlichen Heilsgedanken als das 
Weſentliche zu erfaffen, fonnte auch erfennen, daß und wie die 
Weißagung in Chrifto und dur ihn ſich erfülle. — — Es muß 
jedoch Hier noch befonders hervorgehoben werden, daß doc auch 
hinſichtlich der, coucreten, geſchichtlichen Ausführung der göttlichen 


276 Niehm 


Heilsgedanken und in Bezug auf manche Einzelnheiten derfelben da 
und dort ein auffälliges Zufammentreffen von Weißagung und Er⸗ 
füllung ftattfand; nicht als ob da, wo dies der Fall ift, der Cha— 
ralter der meffianifchen Weißagung ein anderer, weniger pfychologiih 
vermittelter und gefchichtlic bedingter wäre, indem der Geift den 
Propheten ausnahmsweife auch aus der neuteſtamentlichen Erfüllung 
geſchichte einzelne gefchichtliche Thatfachen in concreter Anſchaulichkeit 
vor Augen geftellt hätte, wie dies fonft nur bei Ereigniffen, die 
noch innerhalb der Grenzen ihres zeitgefchichtlichen Horizontes Lagen, 
vorfommt *); fondern auch ſolches fpecielle Zufammentreffen hat 
feinen tieferen, ideellen Grund; und zwar befonders darin, daß der- 
felbe Grundfag des göttlichen Welt: und Reichsregiments, welcher 
in der Gefchichte Israels zur Zeit der Entftehung der Weißagung 
ſich Tundgidt und darum auch, in des Propheten Bewußtfein be⸗ 
ſonders hervortretend, den Juhalt jeiner Weißagung gejtaltet und 
ihm fein befonderes Gepräge gibt, ebenfo auch den Verlauf und 
die Geftaltung der neuteftamentlichen Erfüllungsgefchichte beftimmt. 
Daß aber das fo entftandene Zufammentreffen von Weißagung und 
Erfüllung manchmal ein ganz fpecielles, auch auf einzelne Außer: 
liche Umftände ſich erftredtendes ift, das wird ein lebendiger Gotted- 
glaube nicht anders anfehen können, denn als von Gott beabfichtigt, 
als mit aufgenommen in den Plan, nad welchem Gott die Heil 
offenbarung und die Heilsgefchichte mit einander verknüpft und in 
Wechfelbeziehung geſetzt hat. Es follen Fingerzeige fein, die auf 
den tieferen und wefentlicheren Zufammenhang zwifchen Weißagung 
und Erfüllung hinweifen, äußerliche Anhaftspunfte, die dem noch 
ſchwachen BVerftändniffe zu Hülfe kommen und auf die Erfüllung 
der Weißagung aufmerffam machen follen, um tieferes Eindringen 
in die Grfenntnis jenes Zufammenhanges anzuregen. — Diefen 

ja auch Chriftus offenbar im Auge, als er feinen dem 

er Weißagung Sad. 9, 9 entjprechenden meffianifchen 

Yerufalem veranftaltete. Sonft fei beifpielsweife hin- 

f Micha's Weißagung (5, 1), daß der Meffias aus 

jervorgehen werde, bei welcher es dem Propheten ber 


19. 1865, ©. 488 ff. 





Zur Charafteriftil der meſſianiſchen Weifagung “e. 277 


ſonders darauf anfommt, daß das Königtum des davidiſchen Haufes, 
nachdem es durch Gottes Gericht auf's tieffte gefunfen ift, in dem 
mejfianifhen Könige, als einem zweiten David, aus feiner tiefen 
Erniedrigung und Verborgenheit zur höchften Macht und Herrlichleit 
emporfteigen und fo auch zum zweitenmale von dem Eleinen un» 
ſcheinbaren Bethlehem ausgehen joll; eine Weißagung, die durd) die 
Geburt Chriſti in Bethlehem, wenn anders der Bericht darüber 
ein gefchichtlicher ift, nicht nur nach ihrem ideellen Gehalte, fondern 
auch nach ihrem Wortlaute erfüllt worden ift. — Don ber Bifto- 
tiſchen Kritik ganz unanfehtbar, ift aber das auffallende Zuſam⸗ 
mentreffen der neuteftamentlichen Erfüllungsgefchichte mit der Wei⸗ 
hagung Gef. 8, 23, nach welcher den Bewohnern der Stammgebiete 
Schulon und Naphthali, der Gegend am See Genezareth und am 
Jordan zuerft das Ficht des meſſianiſchen Heiles aufgehen follte 
(gl. Matth. 4, 13ff.)*). — Eine gleich auffallende Uebereins 
ftimmung, felbft in Einzefnheiten, findet übrigens auch auf manden 
Punkten zwifchen der neuteftamentlichen Erfüllungsgeſchichte und 
altteftamentlichen Schriftworten ftatt, die nur vermöge ihrer ty— 
piſchen Bedeutung ala Weißagungen auf Chriftum anzufehen find ®); 
das merfwürdigfte Beiſpiel davon ift der zweiundzwanzigite Pjalm, 
aus welchem das Bild des von feinen triumphirenden Feinden ums 
gebenen, gefreuzigten Chriftus für jedes chriftliche Auge unverfenn- 
bar hervortritt (vgl. Matth. 27, 46. oh. 19, 24. Matth. 27, 43). 
Auch die Uebereinftimmung des Bildes, welches die Weißagung von 
dem Knechte Gottes gezeichnet Hat, mit dem Bilde Chriſti erftredt 
ſich auf mande ganz fpecielle Züge (Jeſ. 42, 2f.; 50, 5ff.; 
53, 2ff.). — Es entfpricht alfo dem thatſächlich beftehenden Ber- 
hältniffe von Weißagung und Erfüllung, wenn die neuteftament- 
lichen Schriftfteller auch in vielen Einzelnheiten der evaugefifchen 
Geſchichte die Erfüllung altteftamentlicher Weißagungen fanden, wies 
wol fie allerdings in der Plerophorie der Ueberzengung, daß das 
ganze A. T. von Ehrifto weißage, ein ſolches Zufammentreffen von 
Weißagung und Erfüllung in weiterem Umfange wahrzunehmen 


a) Bol. darüber Hengftenberg, Ehriftofogie IL, 88f. 
b) Bgl. Oehler, Art. „Weißagung“, S. 656. 


278 Rie hm 


glaubten, als es von einer richtigen, geſchichtlichen Auslegung der 
altteſtamentlichen Schriftworte anerfannt werden kann. — Etwas 
anderer Art ift diejenige Webereinftimmung der concreten geſchicht⸗ 
lichen Ausführung der Heilsgedanken Gottes mit dem Inhalte der 
Weißagung, welche eine notwendige Folge des ziwifchen dem Alten 
und dem Neuen Bund beftehenden organiſch- gefchichtlichen Zufams 
menhanges ift; dahin rechnen wir beſonders die israelitiſche un 
davidifche Abkunft Chrifti; da das heilige Land der Bereich feiner 
Wirkſamkeit und die heilige Stadt der Hauptſchauplatz der bie 
Heilsvollendung Herbeiführenden Thatſachen war, und daß eine Aus 
wahl aus Israel den Grundftod der chriftlichen Kirche bildete. 
Durch Chriſtum erfüllt ſich die meffianifche Weißagung des Alten 
Bundes aud) an feiner Gemeinde und an feinem Reid; 
und zwar nicht bloß in dem, was fie über die Heilsgüter, bie dem 
Volke Gottes zutheil werden follten und überhaupt über den Voll 
endungszuftand des Volkes umd Reiches - Gottes angekündigt hat, 
fondern auch in dem, was fie von der Beftimmung und dem Be 
ruf des Volfes Gottes und deffen erfolgreicher Ausrichtung jagt. 
Die Weißagung vom Knechte Gottes nämlich hat in der prophe 
tifchen Wirkfamteit, in dem Leiden und Sterben und in der Vers 
‚herrlihuug Chrifti felbft noc) keineswegs nach ihrem ganzen In⸗ 
Halte ihre Erfüllung gefunden. Da fie ihrem geſchichtlichen Sinne 
nad) nicht von dem einen perjönlichen Heilsmittler, fondern von 
der Gottesgemeinde des Alten Bundes handelt, fo geht ihre offen 
barungsgejchichtliche Abzielung auch nicht ausſchließlich auf Chriſtum, 
fondern aud) auf feine Kirche; und die in ihr enthaltenen ewigen 
Gottesgedanken müffen fi, wie an Chrifto, fo aud) an ihr erfüllen. 
Es ift ihr darin, als dem menfchlichen Organe, deffen ſich Chriſtus 
bei der Ausführung des Gnadenrathfchluffes Gottes über die Menjd- 
heit bedient, ihre Beitimmung und ihr Beruf, das Heil Gottes 
bis zu den Enden der Erde zu bringen, vorgehalten, wie denn auch 
Paulus und Barnabas (nad) Act. 13, 46f.) in Zei. 49, 6 den 
ihnen geltenden Auftrag finden, das Heil in Chriſto dem Heiden 
zu verfündigen, eine Dentung der Weißagung im Lichte des Neuen 
Bundes, die ganz ebemfo berechtigt ift wie die meſſianiſche. Es 
ift ihr darin- vor Augen gejtefit, wie ſie des Herru Werk and 





tZur Charatterifil der meffanifgen Weifagung ıc. am 


richten Hat: nicht durch Anwendung von äußerlicher Macht, nicht in 
geräufehvolfer, gewaltfamer, Auffehen erregender Wirffamteit, ſon ⸗ 
dern indem fich die aus Gott jtammende Kraft gegen die Macht 
der Welt im äußerlichen Unterfiegen bewährt, in ausdauernder Ges 
duld und felbftverleugnender, alles opfernder Hingabe an den Herrn 
und den von ihm erhaltenen Beruf im Dienfte der Liebe und der 
Wahrheit. Es ift darin auch ihr Gang‘ durch Leiden und Kampf 
zum Sieg und zur Verherrlichung fypifch- prophetiſch gefchildert, und 
ſelbſt was von der ftellvertretenden und heilsvermitteluden Bedeu⸗ 
tung des Leidens des Knechtes Gottes gejagt ift, findet, obſchon 
es nad) jeinem Vollfinn nur in Chriſto fih erfüllte, doch im ge« 
wiſſem Maße feine Anwendung auch auf der Ehriften Xeiden um 
der Öerechtigteit und des Evangeliums willen (vgl. Kol. 1, 24. 
&. 3, 13). — 

Da die meffianifche Weißagung auf das Ende der Wege Gottes, 
auf die Bollendungsgeftalt feines Reiches auf Erden Hinzielt, jo hat 
das neuteftamentfiche Bottesvolf ihre volle Erfüllung durch Chriſtum 
noch zu erwarten. Chriſtus ſelbſt ſoll als der mefjianifche König 
in feiner Herrlichkeit erft noch offenbar werden; feine Gemeinde 
fol erſt noch in vollem- Maße das werden, was das Wort der 
Veißagung von dem Vollendungszuftand des Woltes Gottes fagt; 
und fein Reich foll erft noch über die ganze Erde und über alle 
Volter fich ausdehnen. Der ganze geſchichtliche Entwickelungsgang 
der Kirche Jeſu Chriſti bie zu ihrer Vollendung ift eine fortgehende, 
aumähli immer vollftändiger werdende Erfüllung der alttejtament« 
lichen Weißagung; ja gerade das, was biefe von Anfang an ganz 
dorzugsweiſe hervorhebt und gewöhnlich gleich an die meifianische 
Grlöfungsthat Jehova's anfnüpft: die Anfrichtung des Reiches Gottes 
auf Erden in feiner auch äußerlich in vollem Maße ſich darſtellen⸗ 
den Herrlichleitsgeftalt, bildet in der meuteftamentlichen Erfüllungss 
gihihte erft den Abſchluß. Man fann in diefer Beziehung jagen, 
daß die Erfüllungsgeſchichte im wefentlichen den entgegengefegten 
Weg einfchlägt von dem, welden die Entwickelung der meifianifchen 
Beißogung durchlaufen hat. Während diefe im allgemeinen von 
der Vorjtellung der äußeren Herrlichkeit des vollendeten Gottes- 
teiches zu der tigferen Erfenntniß feines inneren Wejens und Cha- 


280 Riehm 


ralters und der Vorbedingungen feiner Aufrichtung fortſchreitet, 
wird in jener zuerſt das Reich Gottes inwendig in den Herzen ber 
gründet; dann folgt fein innerliches Wachstum und erft am Ente 
gelangt die innerliche Herrlichkeit der Kirche Gottes auch zu Außer: 
licher ſichtbarer Darftellung *). — Aber auch die Weißagungen 
von den legten Kämpfen der Weltreiche gegen das Gottesreich und 
von Gottes legten Gerichten über feine Feinde find als auf das 
letzte Entwidelungsftadium der Geſchichte zielende von der neutefta- 
mentlichen Weißagung wieder aufgenommen. Von eschatologiſchen 
Antündigungen, wie die von der Auferftehung der Todten und dem 
neuen Himmel und der neuen Erde u. j. w., verfteht ſich dies von 
ſelbſt. So hat alſo aud die chriftlihe Gemeinde die volle Er 
füllung der Weißagung des Alten Bundes noch zu erwarten. Man 
muß ſich aber, wie wir gefehen haben, wol hüten, alle noch uner- 
füllt gebliebenen Weißagungszüge, aud diejenigen, welche in der 
neuteftamentlicyen Weißagung nicht wieder aufgenommen werben, 
als ſolche zu betrachten, deren Erfüllung noch bevorftehe. — Ebenfo 
ift aber audy als vor einem Irrwege davor zu warnen, daß man 
in dem prophetijchen Gottesworte Auffchlüffe über das Einzelne dei 
Entwicelungsganges der Kirche in beftimmten Vorausverkündigungen 
ſucht. Solche gibt weder die alt-, noch die neuteitamentliche Pro- 
phetie; vielmehr jtellt jie den Entwidelungsgang des Reiches Gotteö, 
foweit er über dem Abſchluß der Periode, welcher die Weißagung 
angehört, hinausliegt, nur dadurch in's Licht, daß fie jeine Grund 
gefege und fein Ziel Mar macht. Soll fie nicht zum Irrlicht 
werden, ſoll fie ſich bewähren als ein feites prophetiiches Wort, 
seen achten haben als auf ein Licht, das da fcheint an 

Ort (2 Petri 1, 19), fo muß man fie vedt ge 

jo gebrauchen, wie die Propheten jelbft die Weißa⸗ 

Zorgänger gebraucht haben. Wir haben gejehen, wit 

haben, indem jie nämlich darin feine einzelnen Auf- 

sie Ereigniffe ihrer Zeit und der nächſten Zukunft 

die Grundgedanken, die Grundgeſetze des göttlichen 

und die Grundzüge feines Reichsplans daraus ent- 





elen, Abhandl., S. 790. 


Zur Charakteriftit der meſfiauiſchen Weißagung ꝛc. 281 


nehmen und auf die Verhäftniffe ihrer eigenen Zeit anwenden; da- 
durch wurden fie über diefe orientirt. Wenn wir nad) diefem Vor» 
bild verfahren, dann feiftet uns das prophetifhe Gotteswort den 
Dienft, den es uͤns leiften foll; dann haben wir an ihm „ein feftes 
Maß für die Beurtheilung“ der Zuftände, Beftrebungen und Be 
wegungen unferer Zeit *), und find nicht in Gefahr; von Zeitjtrd« 
mungen fortgeriffen zu werden und uns faljchen Hoffnungen oder 
umgegründeten Befürchtungen Hinzugeben. Wir lernen dann mehr 
und mehr unfere Zeitgefchichte in bem höheren Lichte betrachten, in 
welchem fie auch als ein Stüd des Weges ſich dartellt, der zu 
dem Endziel der Wege Gottes führt. — Was für einzelne Ent- 
widelungsperioden des Neiches Gottes mach Gottes verborgenen 
Ratte noch kommen follen — was fo viele Ausleger der Apola- 
(gpfe zu willen vorgeben —, das fönnen wir nicht wiffen und 
brauchen wir nicht zu wiſſen. Es genügt vollfommen, wenn wir 
mr den Bid in Wacfamkeit und Bereitſchaft und in der Freu- 
digkeit der Hoffnung auf das Endziel der Wege Gottes gerichtet 
halten und unfere Zeitgefhichte als ein Stüd des Weges dahin 
erfennen. Mehr haben aud die Propheten felbft zu ihrer Zeit 
nicht gewußt. 


Im Rücklick auf unfere ganze Ausführung dürfte ſich wol die 
Ueberzeugung ergeben, daß man bei ftrenger Durchführung der ger 
ſchichtlichen Auslegung der aftteftamentlihen Weißagungen in der 
That nichts verliert, und daß namentlich der Glaube daran, daß 
das Heil in Chrifto eine Reihe von Jahrhunderten hindurch durch 
das prophetifche Gotteswort vorausverfündigt und alle Gottesver⸗ 
heißgungen in Chrifto Ja und Amen find, unerfcüttert bleibt. Wir 
tonnten afferdings den Propheten fein jo großes Maß von Er- 
lenntnis des Heifsrathfchluffes Gottes zuſchreiben, und nicht fo viele 
einelne, beſtimmte Weißagungen auf Chriftum anerkennen, als dies 
ienigen zu thun pflegen, welche die Weißagung nod vom einfeitig 
ſupranaturaliſtiſchen Standpunkt aus betrachten, oder wenigftens 





%) Bol. Bertheau (1859), ©. 331. 


22 B Richm 


noch unter den Nachwirkungen folder Betrachtungsweiſe ftehen. 
Aber die gottgeordnete offenbarungsgejchichtliche Abzielung der ges 
famten Weißagung auf Chriftum Hat ſich aud uns bewährt. — 
Bringt denn aber unfer etwas umſtändliches, von einer genauen 
Feſtſtellung des geſchichtlichen Sinnes der Weißagungen ausgehendes 
Verfahren auch einen poſitiven, und mehr als bloß theoretiſchen 
Gewinn? Kommen nicht diejenigen auf viel kürzerem Wege zu 
demfelben Ziele, welde mit Hengftenberg und Keil*) jagen: 
die Frage, was ſich die aftteftamentlichen Propheten bei ihrem 
Forſchen über die vom Geift Chrifti ihnen eingegebenen Weißagungen 
gedacht haben, fei won feiner befonderen Bedeutung; wir Hätten nur 
im Light der neuteftamentlihen Erfüllung zuzufehen, was der Geift 
Ehrifti in bdenfelben uns verfündigt und geoffenbart Habe? Und 
ann man ſich dafür nicht auf das Vorbild Eprifti und der Apoftel 
berufen, die ja aud nicht nach dem gefchichtlichen Sinne altteftas 
mentlicher Schriftworte fragen, fondern nur auf das fehen, mas 
das A. T., im Lichte des Neuen Bundes betrachtet, ſagt? Wir 
antworten zunächft: unfer Verhältnis zu dem A. T. ift eim etwas 
anderes als das Ehrifti und der Apoftel, fofern wir nicht, wie fie, 
“mit der altteftamentlichen Defonomie aus_unmittelbarer Anfchauung 
und Erfahrung vertraut find, und namentlich uns verbfendeter Selbjt- 
überhebung ſchuldig machen würden, wenn wir uns den gleichen 
Tiefblick zutrauen wollten, mit welchem der Herr felbft die ewigen 
Gottesgedaufen in den alttejtamentlihen Schriftworten Mar und 
ſicher zu erfaffen und Herauszuftellen wußte. Zwar fommt es auch 
und beim praftifchen Gebraudhe des N. T.'s vor allem auf das 
an, was das Wort der Weißagung uns fagt, und wir haben es 
darum im Lichte des Neuen Buudes zu verftehen und auszulegen; 
aber dies können wir nicht far und fiher thun, wenn wir nicht 
zuvor feinen geſchichtlichen Sinn ermittelt haben. Sonft geräth die 
Auslegung auf Irrwege. Die Gefdichte der alttejtamentlichen Ere ⸗ 
gefe in der hriftlichen Kirche zeugt ja laut genug davon, wie fange 
infolge der Vernachläſſigung des geſchichtlichen Sinnes der Weißa ⸗ 





a) Hengftenberg, Chriſtol. II, 2. S. 204. Keil, Comm. zu Ezechiel, 
©. 521. Unm. _ 


Zur Charakteriftit der meffianifchen Weißagung ıc. 288 


gungen die echte typologifche Auslegung ausgeartet ift in unfichere 
und willkurliche, allegorifirende und dogmatifirende Herurenentif, bie 
überall, auch am unrechten Orte, Beziehungen auf Chriſtum und 
meuteftamentliche Grfenntniffe einträgt, und darüber oft genug die 
in dem Schriftworte wirflid) enthaltenen Gottesgedanfen überficht 
und die im ihm liegende Kraft vergeudet *). Eine ausreichende 
Sicherung gegen die Gefahr, in die Fehler diefer Hermeneutik zu 
verfallen, Liegt nur in dem Haren Einblick in den gejchichtlichen 
Charakter der Weißagung und das Verhältnis ihres gefchichtlichen 
Einnes zu der neuteftamentlichen Erfüllung. Ebenſo kann nur 
diefer Einblid vor jener judaifirenden Ueberſchätzung der in der 
Weißagung enthaltenen ſpecifiſch altteftamentlichen Anfchauungsformen 
bewahren, die praftifch keineswegs unbedenklich ift, und namentlich 
für die Miffion unter Israel üble Früchte trägt, aber — wie 
Sertenbildungen unferer Tage lehren — auch fonft zu ſeltſamen 
Berirrungen führen Tann. 

Bir glauben aber auch getroft fagen zu dürfen, dag unfer mit 
der Anerkennung des geſchichtlichen Sinnes. der meſſianiſchen Weißa⸗ 
gungen vollen Exnft machendes Verfahren den Gewinn bringt, daß 
die in ihmen enthaltene, auf Ehriftum und fein Reich vorbereitende 
Sottesoffenbarung ſowol in ihrer gefchichtlichen Realität als in ihrem 
wahren Charakter und ihrer wunderbaren, der Erziehungsweisheit 
Gottes würdigen Herrlichkeit voltftändiger erfannt wird. Für den⸗ 
ienigen, welcher, unbefümmert um den geſchichtlichen Sinn, die Er- 
keuntniffe, welche erft mit der neuteftamentlichen Erfüllung aufleuch⸗ 
teten, in die Weißagungen einträgt, erſchließen diefelben weder ihren 
vollen Lebensgehalt, noch begleitet ihn das Gefühl, feiten Hiftorifchen 
Boden unter den Füßen zu haben; ja er verzichtet von vornherein 
auf eine Hare, gefchichtlich begründete Erkenntnis der wunderbaren 
Veranftaltungen, durch welde Gottes Erziehungsweisheit Jsrael 
für den Neuen Bund erzogen hat. Je mehr wir dagegen die ein» 
elnen Weißagungen in ihrem organifch- genetifchen Zufammenhange 





) Bgt. meinen Vortrag „über die befonbere Bebeutung bes 9. Ts für bie 
tefigiöfe Erkenntnis und das veligiöfe Leben der chriſtlichen Gemeinde“ 
(Halle 1864), ©. 28 ff. 





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N 


284 Riehm, Zur Charakteriftit der meſſianiſchen Weißagung ıc. 


mit dem religiöfen Leben des altteftamentlichen Bundesvolles und 
in ihrer Bezogenheit auf bie concreten geſchichtlichen Verhältniſſe 
ihrer Entſtehungszeit verftehen ferner, umſomehr machen jie auch 
den Eindrud der frischen kräftigen Lebensfülle, welche der geſchicht⸗ 
lichen Wirklichkeit eigen ift; und wenn wir dann fehen, wie dieje 
einzelnen Weißagungen, von verfchiedenen Ausgangspunften aus- 
gehend, jede nur einzelne Momente des Heilsrathes Gottes brud)- 
ftücartig kundmachend, und alle mehr oder weniger in den Schranfen 
altteftamentlicher Erkenntnis ſich Haltend, dod in Chriſto ihre ein- 
heitliche und alle bisherige Vorftellung überfteigende Erfüllung finden, 
dann tritt uns das Walten des Geiftes der Offenbarung in den 
Propheten und,das auf Chriftum vorbereitende Erziehungswert Je 
hova's in greifbarer Hiftoricher Realität vor Augen, und wir ge: 
winnen aud, wenn mir uns anderd noch verftehen, „auf die Freude 
an den grünen Keimgedanfen und an der urfprünglichen Ideenfülle 
der heiligen Schrift in ihrem Frühlingsſchmucke“ »), einen tiefere 
Einblid in die anbetungswürdige Herrlichkeit dieſes Erziehungswertes. 
Denn nicht der hat von einer Landſchaft im Frühlingsſchmuck deu 
tiefften Eindrud der in der Natur ſich offenbarenden Herrlichkeit 
Gottes, welcher fie erſt zu jehen befommt, wenn ſchon alles grün 
ift, fondern wer auch das Keimen und Sproffen und allmähliche 
Aufblühen hat verfolgen können; und fo gewinnt auch nicht der den 
tiefften Einblick in die Herrlichkeit der göttlichen Offenbarung, welder 
in der heiligen Schrift die Heilswahrheit überall in ihrer ausgebil- 
beten ueuteſtamentlichen Geftalt zu finden meint, jondern wer aud) 
ein offenes Auge Hat für ihr allmähliches Aufleuchten in dem Geijte 
der Gottesmänner des Alten Bundes. 


a) Worte Lücke's in feinem Vorwort zur 2. Mu von de Wette’8 Comment. 
zur Offenb. Joh., S. XIU. 








Kenne, Der Epheſerbrief. 285 


2. 


- Der Epheferbriei 
ein Sendfhreiben des Paulus an bie Heidengriften 
der fieben(?) leinafiatifhen Gemeinden, welde mit 
Ephefus eine engere Verbindung bildeten. 
Bon 


D. Xbolf Kine, 
Rector In Stade (Provinz Hannover). 





Es ift alte Tradition der Kirche, daß der fragliche Brief an die 
Ephefer gerichtet ift, und dieſe Tradition ift umfoweniger gering 
anzufchlagen, da fie fi bis auf Ignatius von Antiochien, alfo bis 
in den Anfang des zweiten Jahrhunderts, verfolgen läßt. Diefer 
fgreibt ad Eph. 12, indem er fich felbft befcheiden neben die 
hohe Ehre der ephefijchen Gemeinde, als Gründung des Apoftel 
Paulus, ftelit: ZavAov Gvundoraı Tod Nyımousvov.., ös Er 
rdon EnıovoAf urynyovsdsı Öncv &v Xgıora ’Inoov. 
Es ift dies die fogenannte fürzere Recenſion, welhe Petermann 
in feiner fritifhen Ausgabe vom Jahre 1849 in den Terxt auf 
genommen Hat, während er die fogenannte längere (ds navrors 
& cal; dencsoıw aurod uynuovede jur) nur ale Variante 
in den umfangreichen fritifchen Noten erwähnt, ohne ihr Gewicht 
beizufegen. Zu den Eritifchen Gründen des Vorzugs kommt der 
Umftand, daß die Lesart des Textes ein neues wichtiges Moment 
für die Ehre der Gemeinde hinzufügt, um welche es dem Ignatius 
an der betreffenden Stelle zu thun ift, während die Variante für 
den Zufammenhang gänzlich nichtefagend ift und jedenfall® den Ver- 
faffer mit der Gemeinde zu Ephejus und allen Ehrijten gleich ehren 
würde. Unter diefen"Umftänden glaube id) mich auf die Resart 
des Terxtes bei Petermann allein ftügen zu dürfen. Die Erklärung 
der bedeutenden Worte Ev mdon EioroAg) ift num aber eine ftrei- 
tige. Meyer (Comment, ©. 5ff.) leugnet jede Beyygnahne der 

Theol. Stud. Jahrg. 1869. 19 


, 


286 Kiene 


Stelle auf unferen Epheferbrief und nennt die Erklärung „im 
ganzen Briefe“ ſprachlich falſch, obgleich fie nod von Harleß 
verteidigt, von Guericke befolgt und von Dreffel- wiederholt fe. 
Das ift richtig, weil der Artikel nicht fehlen durfte und im Zur 
fammenhange nicht einmal Raum finden würde, da feine beftimmte 
Beziehung auf den Brief vorliegt, auf welche der Artikel hinweiſen 
Eönnte. Aber ebenfo falſch iſt es, wenn Meyer behauptet, &v reden 
enioroã heiße „in jedem Briefe“. Sprachlich freilich kann 
es fo heißen; aber die Sache ift nicht wahr, weil Paulus nicht 
in jedem Briefe der Ephefer gedenkt. Die Umdeutung aber von 
Öucv auf pauliniſche Ehriften überhaupt ift unmöglich und bei 
Meyer befremblih. Muß nun diefe Erflärung abgewieſen werden, 
fo bfeibt ſprachlich nur eine mögliche Erflärung übrig, welche zu 
gleich auf das trefflichite in den Zufammenhang paßt: &v den 
⸗mioroa; bedeutet; mit einem ganzen Briefe oder durch 
einen ganzen Brief, da die einfache Ueberfegung „in einem ganzen 
Briefe“ nur dann zuläßig fein würde, wenn er ganz vom ihnen 
handelte; ein folder Brief des Paulus .eriftirt aber nicht. Jgnatius 
feiert an unferer Stelle die Ehre der ephefifchen Gemeinde und 
benugt dazu zwei Momente: 1) Ihr feid Miteingemeihte des Paulus, 
des Geheiligten, und diefes find die Chriſten zu Ephefus, weil 
Paulus die Gemeinde gegründet und lange perfönfic unter ihnen 
gewirkt hat; und 2) er ift eurer eingeben? (memor est) mit einem 
ganzen Briefe, d. h. fein Andenken und feine Theilnahme für euch 
ift fo febendig geweſen, daß er fie in einem ganz an euch gerichteten 
Briefe bethätigt hat. Es ift kaum nöthig, ſprachlich diefe meine 
Erklärung zw rechtfertigen. Daß urnwovedsr zivös ebenfogut 
memor esse al8 memorare bedeutet, lehrt ein Bli in den The- 
saurus Henr. Stephani, umb der angenommene Gebrauch von 
⸗v — Meyer nennt ihn „inftrumental“ — fteht nicht allein für 
das N. T. feft, fondern ift auch claffisch (vgl. Krüger, Griech. 
Schulgr., Präp. &, Art. 6 und die dort angeführten Stellen). 
Bei Sachen bezeichnet &v mit feinem Cafus das, wodurd eine 
Wirkung, hier das „Eingebenkfein“ jich bethätigt oder hervorgebracht 
wird. Der bejondere Brief, mit weldem Paulus fein Gedächtnis 
für die Ephefer bezeugte, Tann nur unfer Brief an die Ephefer 





Der Epheferhrief. 287 


fein. Somit haben wir den Ignatlus ebenfowohl als Zeugen für 
ben Baulus als Verfaſſer desfelben, wie für die Tradition und 
den Glauben, daß er an die Ephefer gerichtet fei*). 

Diefe letztere Annahme in der Kirche hat den Widerfpruc des 
Häretifers Marcion hervorgerufen, der den Brief Zwar als pau⸗ 
liniſch annahm, aber den Beweis zu führen fuchte, dag er an die 
Laodicener, gefehrieben fei — quasi et in isto (titulo epistolae) 
diligentissimus explorator, fügt Tertullian (c. Marc. 5, 17) 
Hinzu. Wir dürfen aus diefen Worten ficher ſchließen, daß bie 
Gründe des Marcion auf den Tertullian einen ſolchen Eindruck 
machten, aljo auf Angabe von Thatſachen oder ihm felbft Scheinbar 
guten Gründen beruhten. Aber felbft wenn das der Fall war, 
wurden diefe durch feine häretiſchen Anfichten amd Aenderungen in 
den heiligen Büchern discrebitirt und die kirchliche Weberlieferung 
nur umfomehr befeftigt, obgleich. der Häretifer in diefer Sache feine 
dogmatifchen Gründe für feine Anficht haben konnte. 

Die kirchliche Weberlieferung ift dann auch unangefochten geblieben 
bis Zum Jahre 1650, in welchem Uscerus feine Annales mundi 
herausgab. Diefer begründet ad ann. 64 p. Chr. die Meinung 
aus der Beſchaffenheit des Briefes, daß er ein Umlaufſchreiben an 
mehrere Gemeinden Afiens fei, und diefe Meinung ift dann die 
herrfchende geworden und geblieben, bis ſich in neuerer Zeit wieder 
mehrere Gelehrte der kirchlichen Weberlieferung zugewandt haben. 
Dareben hat eine dritte Anficht eine geringere Anzahl von Ver— 
tretern gefunden, welche die Meinung des Marcion annimmt und 
den Brief allein an die Laodicener gerichtet hält. Für die Iegtere 
Anfiht Haben fi in neuerer. Zeit erklärt: Holzhanfen (Brief 
an die Ephefer, 1833) und Räbiger (Christologia Paul. [1852], 
p. 48). Auch Baur (Apoft. Paulus, ©. 457) ift dazu geneigt. 
Die Vertreter der altfirchlichen Weberlieferung in diefem Jahr— 
hundert find: Wiefeler (Chronol. des apoft. Zeitalters, S. 448f.), 
Nendeder (Lehrb. der hiſt.-krit. Einl. i. d. N.T.) — doch nimmt 
dieſer, ahnlich wie Lunemann (De epist. etc. authentia, pri- 


3) Es mag jebod) gleich Hier bemerft werben, daß bie Stelle des Ignatius 
die Annahme mehrerer Empfänger nicht ausſchließt. 
" 19% 





288 Kiene 


mis lectoribus ete., Gott. 1842), eine befondere ephefinifche Ge⸗ 
meinde an, ber Paulus nicht perfönlich befannt war —, Meyer 
(Einl. 3. Comm.), Rinf (Sendfgreiben der Korinther, ©. 31ff. 
und in den Stud. u. Mrit. 1849, ©. 948ff.), Wurm (in der 
Tub. Zeitſchr. 1833, I, 94Ff.), Wiggers (in den Stud. u. Rrit. 
1841, ©. 212ff.). Wenn legterer indes die Beſchränkung Hinzu 
fügt, daß Paulus in der einen Gemeinde die ganze afiatifche Ehriften- 
heit anrede, welde Ephefus zum Ausgang und Mittelpunkt Hatte, 
fo hebt er damit feine Meinung wieder auf, oder behauptet etwas 
unmögliches. B 

Unter diefen Umftänden erfcheint aud zur Zeit die Meinung, 
welche in unferem Briefe ein Umlaufſchreiben an mehrere afiatifce 
Gemeinden ficht, als die überwiegende. Da ich diefelbe durch den 
ftriften Beweis ftügen zu fönnen glaube, daß der Apoftel nur 
Heidendriften als Lefer vorausfegt und überhaupt zu gemauerer 
Begründung und Feftftellung diefer Frage beizutragen Hoffe, fo halte 
ich eine erneuerte Aufnahme berfelben zeitgemäß, wenn ich aud 
manches ſchon fonft Gefagte wiederholen muß. Freilich ift die 
Meinung, daß der Apoftel nur an Heidenchriften ſchreibt, nicht nen, 
fie ift von Neander und von Guericke (Gefamtgefcichte des 
N. T.’8 [1854], ©. 342) ausgeſprochen, und auch de Wette fagt 
in feiner Einleitung basfelbe; aber eine Beweisführung ift mir nicht 
befannt (vgl. Dan. Schulz, Stud. u. Krit. 1829, ©. 617). 

So gewiß die firchliche Ueberlieferung Epheſus als Beftimmange- 
ort unferes Briefes kennt und ſchon Ignatius, wie ich oben nach⸗ 
gewiefen Habe, diefe Meinung bezeugt, fo ficher Täßt fich der Beweis 
führen, daß Eph. 1, 1 der Zufag Ev 'Eyso® in der Anrede ur- 
ſprünglich fehlte und erft fpäter in faft alfe Handfehriften einge 
drungen ift. Er fehlt in dem beiden einzigen Oodic., welde in 
das vierte Jahrhundert zurickreichen; der Cod. Sinaiticus hat ifn 
nit, der Cod. Vaticanus hat ihn erft von zweiter Hand. Außer 
dem ift er Cod. 67 von fpäterer Hand geftrichen. Dieje Hand- 
ſchriftlichen Zeugniſſe würden für fi alfein, der allgemeinen Ueber 
einjtimmung der übrigen Codic. gegenüber, von feinem entjdeiden- 
den Gewicht fein; aber es kommen gewichtigere Zeugniffe der Kirchen: 
väter Hinzu, 





Der Epheferbrief. 289 


Baſilius der Große (contr. Eunom. 2, 19. Opp. ed. Garn. 
1, 363 ed. nov.) ſchreibt: zols Zyeoloıs Eniorsllov ds yur- 
sing jvansvor Tb övsı di’ Enıyvooews, Övras aurodg idin- 
lövzus dvönaoev elnav: „rols dylois zols ovow xal nı- 
ol; Ev Xgiorg Imooü“. Odrm yag xal ol rrg6 juöv nage- 
deddxacı, al Tusts Ev Tols nakaıoig Tüv dvrygayav ei- 
ejzauev. Offenbar führt Baſilius Hier die Worte des Paulus 
an, und das odrw an der Spige des letzten Satzes kann nur 
heißen: fo, wie ic die Worte angeführt habe, ohne den Zufag von 
& Eysop. Er kannte aljo in den neuen Handfhriften den Zu- 
ſatz, aber fand ihn theils in den alten, welche er einfah, nicht, 
teils führten die Väter vor feiner Zeit od rrg0 us» die Stelle 
ohne ihn an. Sie kannten diefen alfo nicht und in ihnen haben 
mir doch gewiß auch die apoftolifhen Väter zu verftehen. Dieſes 
Zeugnis und die Uebereinftimmung der beiden einzigen Handſchriften 
aus dem vierten Jahrhundert wiegt für die diplomatiſche Kritif 
ſchwerer als alle fpäter entftandenen Codices. Indeß wir find 
durch weitere Zeugen Hier in der günftigen Lage, den Thatbejtand 
nicht nur noch fejter zu begründen, fondern auch die Entftehung 
und die Zeit derfelben noch näher nachzuweiſen. Weil es aber für 
den Gang der Unterfuchung wichtig ift, müffen wir zuvor die Er» 
Härung der pauliniſchen Stelle beim Baſilius noch in's Auge faffen 
und was er zur Begründung derfelben nothwendig erachtet. 
„Wahrhaft Seiende nennt Paulus hier die Epheſer“, ſagt 
Baſilius, „weil fie wirklich mit dem Seienden (mit Gott) durch 
Erlenntnis (und. Glauben) geeinigt find.“ Die Zufäge in den 
Kammern find aus dem Zufammenhange der Stelle ergänzt. - Eo- 
dem loco p. 360 weift: der Verfaffer auf eine andere Stelle des⸗ 
felben Apoftels Hin (1Kor. 1, 28), wo bdiefer die Heiden (vd 
89vm) un övra nennt wegen des Mangels der Erkenntnis Gottes; 
nei yag, fo fährt er dam fort, dv zei dAjtera xal Lu) 6 
Iso, ol 76 FEB zo Övu un Nvausvar xara env nlocıw, 
1) dd avumagkig vod weidous olxsiwdsrres dia zus rregl 
ı@ eldole nAdvis, eixozws, oluaı, did zn orsgsow zus 
almdeias, zai ıjv and vis lwis allorgluow, u övres 
mgosnyogevdncav. Die Anſicht des Bafilius ift aljo: In Gott 


2 alene 


ift wahrhaftes Sein und Wahrheit und Leben. Wer mit Gott 
durch Erkenntnis, und Glauben geeinigt ift, der hat Theil an diefem 
Sein und ift ein Seiender; wer aber von Gott getrennt und ihm 
entfrembet ift, der hat nicht Theil an diefem Sein, ift ein Nicht 
feiender. Und dafür citirt er den Paulus als Beweis. Damit 
aber unfere Stelle Eph. 1, 1 in ſolchem Sinne verftanden werden 
fönne, hält er den Beweis, daß der Zufak &v Eysow nad vol; 
odow ein fpäterer Cindringling ift, für notwendig, und führt 
diefen Beweis, wie ihn ein heutiger Kritifer auch führen würde. 
Ja, wenn id mich nicht täufche, können wir aus feinen Worten 
die Entftehung feiner Erklärung und den Gang feiner Unterfuchung 
muthmaßen.’ In feinem Handeremplar des N. T.'s [a8 er: zok 
vo & Eysoo. Dann fand er bei feinen Studien, daß die 
Aelteren die Stelle ohne &v 'Eysoo anführten. Nun trat die 
Trage an ihn heran, die Worte ohne den Zufag zu erflären. In 
der hier gegebenen Erklärung fand er eine Beſtätigung für feine 
theologifchen Speculationen, aber er beruhigte ſich nicht bei der 
Ueberlieferung der Aelteren, fondern jah die alten Handfchriften des 
Briefes felbft ein, ſoviel er Gelegenheit hatte, und überzeugte ſich 
fo von der Richtigkeit der Ueberlieferung. Wir nehmen hier zu: 
nächſt Act von dem, was Bafilius für die Möglichkeit feiner Er⸗ 
Härung nothwendig erachtet, um fpäter ‚darauf zurüdzugreifen. 
Wenn ich aber von der Entftehuig feiner Erklärung oben geſprochen 
habe, jo ift da8 gefchehen, weil fie bis jet bei ihm zu er ſt nach⸗ 
gewiefen ift. Nur nach Vermuthung haben andere fie auf den 
Drigenes zurücgeführt. 

°  Bafilins kannte die Lesart unferes heutigen Textes. Tertullian 
fannte fie, reichlich anderthalb Jahrhunderte früher, noch nicht. Er 
ſchreibt e. Marc. 5, 11: „Praetereo hic et de alia epistola, 
quam nos ad Ephesios praescriptam habemus, hae- 
retici vero ad Laodicenos“ und 5, 17: „Ecclesiae quidem 
veritate epistolam istam ad Ephesios habemus emissam, 
non ad Laodicenos, sed Marcion ei titulum aliquando in- 
terpolare gestit, quasi et in isto diligentissimus explorator; 
nihil autem de titulis interest, cum ad omnes apostolus 
seripserit, dum ad quosdam“. Es ift augenjcheinfich, daß Ter⸗ 





Der Ephefecbrirf. 29 


tullian Hier nur bon einer Fälſchung der Ueberfchrift des Briefes 
redet, nicht von einer Fälſchung des Textes, und diefe wurde noth- 
wendig, wem dv Eysoo ſchon im der Anrede im Texte ftand, 
und eine folhe mußte Tertullian rügen, wenn er aud nur eine 
Sunde davon hatte, daß irgend eine Handigrift den Zufa habe. 
Diefe Schlußfolgerung erfeunt auch Meyer an und bekämpft bie 
von Harleß und Wiggers dagegen erhobenen Zweifel, als ſchiebe 
man den fritifchen Standpunkt unferer Zeit dem ZTertullian unter, 
dem die auctoritas ecclesiae allein gelte. Wichtiger wäre der 
Einwand bei Anger (Laodicenerbrief, ©. 97; aud Beiträge zur 
hiſt.-trit. Einl. in das A. u. N. T. I), dag Tertullion titulus 
"wie praeseribere nidt bloß von der Ueberſchrift gebrauche, wie 
beim Briefe an die Hebräer und wiederholt beim Evangelium Lukas, 
denen ein Anfangsgruß fehlt, fondern auch von dem Anfangsgruße 
ſelbſt, uud daß es daher Hier zweifelhaft bleibe, ob Tertulfian an 
unferer Stelle titulus vorn ber Aufjchrift oder von dem Gruße 
gebraude. ALS Beweis dafür führt er adv. Marc. 5, 5 au: 
„Praestructio superioris epistolae (des Galaterbriefes) ita 
duxit, ut de titulo ejus non retractaverim, certus et alibi 
retractari eum posse, communem scilicet et eundem in epi- 
stolis omnibus, quod non utique salutem praescribit eis, 
quibus seribit, sed gratiam et pacem.“ Ich gebe zu, daß 
titulus hier den Gruß bezeichnet, aber immer fteht die Stelle allein 
gegen mehrere. Indes ift das nicht die Hauptſache, das Haupt 
gegenargumment liegt in praescribere. Das Wort kann hier nicht 
ante scribere bedeuten, denn gratia et pax folgt bei Paulus 
regelmäßig den Empfängern des Briefes, es muß daher in diefer 
Berbindung in der Bedeutung „heißen“, „entbieten“, Lateinisch „,di- 
cere‘ genommen werden. Diefe Bedeutung ift aber unmöglich in 
der oben angeführten Stelle: „quam (epistolam) nos ad Ephe- 
sos praescriptam habemus‘. Alfo iſt hier von .dem, was dem 
Briefe vorgeſchrieben ift, von der Auffchrift die Rede. Ich muß 
daher bei meiner obigen Schlußfolgerung, da in den citirten Stellen 
nur von der Ueberſchrift die Rede ift und titulus’in feiner gewöhns 
lichen Bedeutung verftanden werden muß, folglich Tertullian den 
Zuſatz Ev Eysop (3. 1) nicht kannte, beharren. Auch wollen 


292 Kiene 


wir und erinnern, daß Tertullian zu den ob g0 Sjucv des Ba 
ſilius gehört. 

Hieronymus (ad Eph. 1, 1) erkennt den Zufag nicht an, lieft 
den Text ohne denfelben. Er fagt: „Quidam curiosius, quam 
necesse est, putant ex eo, quod Moysi dietum sit: haec 
dices filiis Israel: ‚qui est misit me‘, etiam eos, qui Ephesi 
sunt sancti et fideles, essentiae vocabulo nuncupatos; ut, 
quomodo a sancto sancti, a justo justi, a sapiente sapientes: 
ita ab eo ‚qui est‘, hi ‚qui sunt‘ appellentur. Alii vero 

- simplieiter non ad eos, qui sint, sel qui Ephesi sancti et 
fideles sint, scriptam arbitrantur.“ Es handelt ſich hier um 
eine zwiefache Erklärung des Textes. Die erjte ift diefelbe, melde 
wir oben als die des Baſilius betrachtet haben umd welche der 
gelehrtefte Theologe feiner Zeit ficher kannte. Daß er, auch wenn 
er fie vom. Bafilius entlehnte, deſſen &v xai dAnssım xai Lan 
6 Heög in feinem hier wefentlichen Beſtandtheile auf die Funde 
mentafftelfe im A. T. zurücführte, hat nichts auffäliges. Da er 
aber mehrere Vertreter der Anficht kennt, fo mag immerhin aud 
Origines unter biefen angenommen werden. Aber die Erklärung 
ift feine allegorifche, fondern eine wörtliche und auf Speculation 
ſich ftügende, welche das Fehlen des Zufages Ev Eysoo zur Vor 
ausfegung hat, wie wir das oben auch als Anficht des Baſilius 
fennen gelernt Haben. Diefe ſcheint mir der Forderung des natür- 
lichen Denkens auch fo entfprechend, daß ich es für unmöglich Halten 
möchte, daß ein klarer Kopf die Worte zols oda Ev Eysow 
anders ala: „die in Ephefus wohnen“ verftehen konnte. Warum 
ift es denn niemals irgend jemand eingefallen, Röm. 1, 7: as 
oda &v Pciun, oder 1Ror. 1, 2: zfj ExxAnoig vol Heod ıj 
ovon' ev Koglv3o, ober biefelben Worte 2Kor. 1, 1, oder Phil. 
1,1: zols ovow &v Dilinnoig in folder Weife zu erklären, 
welche fich doch fonft ebenfo natürlich zu einer gleichen Erflärung 
boten? Die Antwort ergibt fi) ganz natürlich: weil nur Eph. 1,1 
die Ortsbeftimmung fehlte. Aus demfelben Grunde fteht auch Hie 
ronhmus eier ziofefahen Erklärung gegenüber, denn auch bie 
zweite gibt er ald Erklärung: „alii simpliciter ... arbitrantur“, 
umd was die Vertreter diefer zweiten Erklärung glauben iſt: 





Der Epheferbrief. 293 


„non ad eos, qui sint, sed qui Ephesi sancti et fideles 
sint scriptam (sc. esse)“. Was ift dann nun hier Erklärung, 
mem nicht das Wort Ephesi? Dieſe Erflärung bot aber die 
Ueberjcprift des Briefes und die allgemeine Tradition der Kirche, 
daß der Brief an die Ephefer gefchrieben fei. Diefer Erklärung 
fünmte Hieronymus zu und faßt alfo zois 0904 = qui adsunt 
oder, wie Bengel ad locum jagt: „qui praesto sunt“ (mit 
Rüdficht auf feine Anficht Über den Brief erklärt Bengel daneben : 
„sanctis et fidelibus, qui sunt in omnibus üs locis, quo Ty- 
chieus cum hac epistola venit“). Der Ort wo? ergab ſich 
aus der angenommenen Beftimmung des Briefes und diefen hatte 
{don die Versio antiqua: sanctis, qui sunt Ephesi, in den 
Tert der Ueberfegung aufgenommen. Hieronymus behielt die Aufs 
nahme bei und fügte nur omnibus vor sanctis hinzu. Auch diefes 
rec. ift, wie wir gleich fehen werden, durch Erklärung in den 
Text gefommen, jegt aber durch die Kritit wieder befeitigt. Der 
Cod. Sinait. Hat es nicht. Der hier entwidelten Auffaſſuug ent» 
ſprechend erfennt Ballarjins (ed. Veron. 1737 ad locum), 
dog Hieronymus „Ephesi“ im Tert nicht anerkennt. Böttger 
(Beiträge 3) und Andere find der Anficht beigetreten. Meyer und 
Anger bejtreiten fie (vgl. bef. Anger a. a. D., ©. 92. 93), doch 
beachte man bei der Argumentation des Iegteren, daß in der Ans 
gabe der erften Erflärung die Worte des Hieronymus „qui Ephesi 
sunt sancti et fideles“, ein integrirender Theil diefer referirten 
Erklärung find, wie auch die oben angeführte Erflärung des Ba- 
ſilius beweift, welcher der nachweisbare Urheber derfelben ift. 

So wäre denn das Refultat der kritiſchen Erörterung: 1) beitim- 
mendes Zeugnis des Bafilius (F 379), daß die theologifchen Väter 
vor feiner Zeit Eph. 1, 1 ohne Ortsangabe anführten und die 
alten Handfhriften, weiche er einfah, derfelben entbehrten, 2) Be- 
ftätigung dieſes Zeugniffes durch Tertulfian (} 220), der die Orts- 
angabe an diefer Stelle nicht kanute; 3)- Eindringen des Zufages &v 
Eysay im vierten Yahrhundert, da Bafilius fie in neueren Hand- 
fhriften fand, indes erft fporadifch, da die beiden einzigen Handfchriften 
aus dem vierten Jarhundert, welche wir noch befigen, denfelben nicht 
haben und Hieronymns (+ 420) denjelben nicht anerkannte. ” 


294 Kiene 


Intereſſant ift es mun, daß die zweite Erklärung bei Hierony 
fowie ihre Anwendung in der Versio antiqua und von Hier 
mus felbft in der Versio mutata, uns den Weg zeigen, auf wei 
ber Zuſat in die Haudſchriften eingedrungen iſt. Man er! 
rois od —= toi cicovoi, ergänzte den Ort aus ber 
zweifelten Ueberlieferung und notirte. vielleicht die Erkfärung 
0904 oder am Rande mit dem Zuſatz &v Zysoo, eine Ertfä 
welche ein fpäterer Abfchreiber in den Kert aufnahm. Im Be 
der" oceidentafijchen Kirche mußte die Versio antiqua und 
Dieronymus verbefjerte Vulgata den Glauben an die Echthei 
Zufages verſtärken, die Anfechtung der kirchlichen Tradition 
Seiten der Häretiter diefelbe Wirkung im ganzen Gebiete der $ 
üben, ohne daß die geringfte Abficht einer Fälſchung des 7 
vorlag. Wir können damit das Eindringen der Variante : 
jei dyloss vergleichen, welche Hieronymus anerfannte, da er, 
»ben ſchon bemerkt wurde, omnibus vor sanctis in die V 
antiqua einfügte. Auch dieſe Variante iſt wol unzweifelhaft 
siner Erflärung von rodc 0dos ohne Ortsangabe entſtanden 
sielleicht der Bejiger einer Handfchrift am Rande notirte, der 
ft die natürfichfte Erklärung von vos oda, fobald es mit 
iyloıg verbunden wird. 

Wir wenden uns jegt zur Erflärung der als urkundlich 
veglaubigt erfannten Lesart der Anrede: Tolc dyloıs Tois o 
«al nuorois &v Xgiörg Inood. Alle Hier möglichen Erkläru 
jaben ihre Anhänger und Vertreter gefunden. Da die Lite 
ei Anger (a. a. O., ©. 98ff.) recht vollftändig gegeben 
o wird: man mir wol eine rein fachliche Behandlung verze 
veil diefe ihre großen Vorzüge an Klarheit und Berftändli 
eſitzt. 

Zuerſt faſſen wir die moglichen Erklärungen in's Auge, 
iach ovorv feine Lücke ſtatuirt wird. Man kann hier entr 
sols ovou mit dem Vorhergehenden, mit cyioec verbinden, 
nit dem folgenden xad muorois. 

1) ols odorw mit cycoic verbunden: 

a. ben Heifigen, welde wahrhaft ſind in Gott | 
Erkenntnis und Glauben; 


Der Epheferbrief. 295 


b. den Heiligen, welche es in ber That find; 

c. den Heiligen, welche an dem Empfangsorte gegenwärtig 
find — ndgovos; 

d. den Heiligen, welche es gibt, d. h. allen Heiligen. 

Die erite Erklärung hat in den legten Jahrhunderten keine Ver⸗ 
reter gefunden und fommt wol faum weiter in Betracht. Die 
weite trägt einen Unterfchied von Namendriften und wirklichen 
Chriſten ein, welcher den apoftolifhen Schriften und wol der apo- 
ſtoliſchen Zeit überhaupt fremd ift; die dritte ift ſprachlich unzuläßig, 
in der Sache felbftverftändlid ; oder: was konnte den Apoftel bes 
ſtimmen, die zufällig Abweſenden auszuſchließen? und die vierte, 
welche ſprachlich die zunächftliegende wäre, würde den Brief nicht 
nut zu einem Umlauffchreiben für beftimmte Gemeinden machen, 
fondern zu einem Univerfalbrief, eine Anficht, welche, fo viel ich 
weiß, bis jegt von niemandem vertreten ift. Sie wird unmöglich, 
falls ſich wirklich der Nachweis liefern läßt, daß der Brief nur 
an Heidenchriften gerichtet ift. 

2) rot odow mit xad nıGrois verbunden: 

a. den Heiligen und wirklich Gläubigen; 
b. den Heiligen und wirklich Getreuen. 

Die Umfchreibung: den Heiligen, die auch, dieſem Namen ent 
ſprechend, orod find, bietet keine andere Erklärung, der Unters 
ſchied liegt nur in der verfchiedenen Bedeutung von zuaros. Hätte 
Banlus einfach gefehrieben: rois dyioıs xal rı0Tois, jo würde 
man über die Bedenken wider diefe Erklärungen leicht hinwegkommen, 
denn es ift nur natürlich, denfelben Gedanken in zwei verwandten 
Begriffen völliger und fräftiger auszudrücken; aber der Sag: „den 
Heiligen, welche auch gläubig find“, ſetzt Heilige voraus, welche 
nit gläubig find, und erft der Glaube macht den &ysos, es gibt 
feine Heilige ohne Glauben. So kommt man auf den Unterfchied 
eines wirklichen Glaubens; aber nur ein folder macht den &ysos. 
Bill man ſich aber dadurch Helfen, daß man fagt, ſchon eine erſte, 
noch nicht befeftigte und vertiefte glänbige Erregung, welde mit 
wirklicher Herzenswahrheit im Glauben das Evangelium angenom- 
men hat, genügt für den &ysos als foldyen, der die objective Heils- 
grade empfangen Hat, wiozög bezeichnet Bier den vertieften und 


296 Kiene 


befeftigten,; den Menſchen auch innerlich ernewernden Glaube: 
hebt ſich das Bedenken, daß der Apoftel gerade das red 
bebürftigfte Arbeitsgebiet“ feiner apoſtoliſchen Wirkſamkeit von 
felben hier ausjchließe, und das in einem Briefe, welcher fü 
paränetifchen Theil einen ungewöhnlich großen Umfang verw 
der alfo gerade für Neulinge im Glauben, welche der Heil 
durch denfelben noch beſonders bedürftig find, vorzugsweiſe geſch 
ja fein fcheint. Daher hat man ſich denn zu helfen geſucht 
die Annahme der minder nahe liegenden Bedeutung: welche 
ren find. Indes die eben ausgejprocenen Bedenken treffen 
Aushilfe nicht minder. 

Endlich muß ich noch des Verfuches erwähnen, durch Bez 
ver Worte &v Xsara I7005 auch ſchon mit Tols oda A 
m Schaffen, fo daß der Sinn wäre: den Heiligen, welche in € 
Jeſu find und an ihn glauben. Abgefehen von der Härte 
Eonftruction erheben ſich aber gegen dieſe Erflärung diefelber 
yenfen, wie gegen die beiden ſchon befämpften. Der &ysos iſt 
n Chriſto und uur- deshalb &ysos. Sobald wir aber Unter 
„des in Chriſto Sein“ ftatuiren, find wir wieder bei den 
chon gemadjten Unterjchieden im Glauben. 

Der Gewaltact,:zols oda zugleich mit &v Eyscp auszun 
ft, weil er jeglicher fritifhen Stüge entbehrt, einfach zu 
veifen. - 

So wären wir deun zu der zweiten Annahme, einer Lücke 
rodc 0d0W, zurüdgebrängt. Hier Haben nun diejenigen Gele 
velche in dem Briefe ein Umlauffchreiben fahen, die Lücke ge 
velche der Apojtel felbft gelafien habe, damit fie entweder 
Borfefer in jeder Gemeinde mit dem betreffenden Namen aus; 
verde, oder in dem in jeder Gemeinde zurückzulaſſenden Exen 
yon Tychicus ausgefüllt werde. Nebenmodificationen diefer 
tahme treten daneben hervor, brauchen aber nicht weiter er! 
m werden. Vorausgeſetzt num, der Apoftel wollte ein Sendfch 
ın mehrere Gemeinden erlafjen und Tychicus follte es überbr 
o war es das Natürliche, daß Panlus ein Exemplar dictirt 
m gewohnter Weife durch feine Handfehrift bezeugte. Der | 
ıringer gieng dann von einer Gemeinde zur’ andern unter den 


Der Epheferbrief. 297 


herbeſtimmten Gemeinden, denn dieſe Beftimmung lag beim Apoftel, 
und jede Gemeinde nahm fich felbft eine Abſchrift. Erſt die letzte 
Gemeinde konnte den Originalbrief behalten, denn einer jeden mußte 
er Zuvor durch die Handfehrift des Paulus beglaubigt werden, ehe 
fie fi) eine Abfchrift nahm. Die Annahme aber,‘ daß ein Brief, 
für viefe oder mehrere Gemeinden zugleich beftimmt, in jeder der⸗ 
felben al8 an fie allein gerichtet im erften Verſe vorgelefen oder 
handſchriftlich zurickgelaffen wurde, ift jo unglaublich, daß nur eine 
Gemöhnung an diefe Borftellung fie annehmbar machen ann. Iſt 
das denn etwas anderes, als eine Ummwahrheit in jedes Exemplar 
hineintragen, wenn auch in einer unmefentfichen Aeußerlichteit? Denn 
unzweifelhaft erfcheint doch der Brief durch diefe Namenseintragung 
als an die einzelne Gemeinde gerichtet. Und dazu follte ein Paulus 
felbft die Veranlaſſung bieten? Es ift darum felbftverftändlich und 
unjerer Erwartung nur entfprechend, daß der Apoftel in den übrie 
gen Briefen, welche er nicht für eine Gemeinde allein beftimmt 
hat, ander& verfahren und in der Zufchrift beftimmt hat, an wen 
fie gerichtet waren. Diefe Beftimmung ift ausgefallen in der Lücke 
und fann nur aus dem Inhalte des Briefes vielleicht ergänzt werden. 
Den nächften Anhaltspunkt dafür bietet die Thatſache, daß unter 
den Empfängern dieſes Briefes nur Heidenchriften vorausgeſetzt 
und Judenchriſten ausgefchloffen werden, und zu dem Nachweiſe 
diefes Umftandes wende ich mich jegt. 

1) Es gibt eine Reihe von Stellen, wo uͤuedc nothwendig nur 
Heidenchriſten bezeichnet; 2) vmeis Tann an allen Stellen des 
Briefes fo. gefaßt werden; 3) 7jpeds wechſelt mit Öpeis und tritt 
in Gegenfag dazu, jo daß es Juden- umd Heidenchriſten zuſammen⸗ 
faßt, mit Rüdficht auf den Schreiber und die Empfänger des Briefes, 
md beide ben Heidenchriften unter Öpeis gegenüber ftellt; 4) yusic 
tritt in der Bedeutung Judenchriſten den Heidenchriften unter Ömeig 
gegenüber, infofern Paulus fi mit feinen Landsleuten zufammens 
faßt und mit ihnen ſich den Angeredeten als Heidenchriſten gegen 
überſtellt. Den zweiten dieſer Säge kann id) hier nicht nachweiſen, 
ohne einen vollftändigen und, was ſchlimmer wäre, einfeitigen Com⸗ 
mentar zu fehreiben, habe aber den ganzen Brief von dieſem Ge- 
fihtepunfte aus durchgelefen. Hier muß ich den Gegenbeweis er- 


298 Kiene 


warten. Die übrigen Hoffe id; beweijen zu können, indes 
überflüffig nnd theifweife unthunlich oder unzweckmüßig, bi 
Beweisführung die Säte auseinanderzuhalten. Gelingt di 
weisführung, fo fteht auch feft, daß der Apoftel feinen Bri 
an Heidenchriſten gerichtet hat und diefes in der Anrede fagen ı 
term unter den Empfängern des Briefes bie aus Juden 
Heidenchriſten gemifchte Gemeinde zu Epheſus auch nur ein 
mehreren war. Die Beweisführung verlangt aber mehrfa 
Einfügung der einzelnen Abſchnitte in die allgemeine Gedand 
midelung, und dazu bebarf ich der Dispofition des Briefes 
ich fie mir bei meinem Studium bes Briefes entworfen habe 
fomehr, da ich mich nicht in der Lage fehe, auf eine vorhand 
verweiſen. 


Dispofition des Briefes an die Epheſer 


I. Lehttheil. Kap. 1—3. 

1) Die überfhwengliche Herrlichkeit Gottes in feinem G 
werke. In Gebetsform. 1, 1—21: (Nah V. 21 
Punkt zu fegen:) Anrede und Gnadengruß. V. 1 
a. Inhalt und Offenbarung diefer Gnade; oder: 

Lob- und Danfgebet zu Gott, dem Bater ı 
Heren Jeſu Chrifti, um feiner großen Gnade 
die er Juden und Heiden in Chriſto zu 
Herrlichkeit gegeben hat. 3—14. 

b. Bon der Erfenntnis diefer Gnade; oder: 

Tägliches Gebet des Apoftels um die wachjen 
fenntnis biefer Gnade und der Herricaft t 
hoheten Ehriftus von Seiten der Empfänger 
Briefes (Heiden). 16—21. 

2) Der Segen der allgemeinen Herrfchaft des erhöheten € 
(königliche Amt) für die Gemeinde, feinen’ Leib, 
Erlöfung der Heilsfähigen Heiden und Juden. 1, : 
2, 22. 

a. Die Beſchaffenheit (Wefen) diefes Segens fü 
Heiden und Juden. — 2, 10. 


Der Epheferbrie. 299 


b. Stellung ber Heiden zum Gottesreiche des Alten Bundes 
und Veränderung biefer Stellung zum Reiche Ehrifti 
in Ehrifte. — 18. 

c. Zeige Stellung der Heidendhriften in der Gemeinde 

- Eprifti. 19-22. 

3) Pauli Berufung und Miffion als Apoftel der Heiden. 
Kap. 3. — 

a. Miſſton als Heidenapoſtel. 3, 1—13. 
b. Apoſtoliſches Gebet für die Heiden. 14—19. 

Schlußgebet von I.: Gott fei die Ehre in der Gemeinde in 
Ewigkeit. 20. 21. 

U. Paränetiſcher Theil: Ermahnung, der Berufung würdig zu 
wandeln in dem einen @eifte. Kap. 4 bie 6, 20. 
Ankündigung des zweiten Haupttheils. 4, 13. 

1) Der eine Geift und Herr und Vater alfer (6), und bie 
manigfaltige Gnadengabe Ehrifti in feinem Reiche, zur 
Beſſerung der Heiligen in dem einen Leibe Ehrifti, deſſen 
Hanpt Chriftus ift. 4-16. 

2) Der wahrhafte Wandel in Chrifto und im @eifte, nad 
feinen Wefenszügen, im Gegenfage zu dem fleifchlichen 
Wandel der Heiden. 17—32. 

3) Der Wandel als die lieben Kinder Gottes und die Kinder 
des Lichts in der Nachahmung und in der Furcht Gottes. 
5, 1—21. 

4) Der riftliche Wandel in verfchiebenen ebensverhttniffen 
(Haustafel). 5, 22 bis 6, 9. (Die Angabe der Unter» 
abtheilungen ift Hier unweſentlich.) 

5) Die geiftliche Waffenräftung wider die Anläufe des Teufels: 
Wahrheit, Gerechtigkeit, Evangelium des Friedens, Glaube, 
das Heil, Wort Gottes (Geift), Gebet. 6, 10—20. 

Schluß und Onadengruß. 6, 2124. 


1) Eph. 4, 17 werben die Empfänger bes Briefes (Umic) den 
übrigen Heiden (10 Aoına 297) gegenüber geſtellt. Die Worte 
lauten: zoözo odv Adyw zal uagrigonms Ev xvglp, umzerı 
inäg regınaseiv zudüs zul sd Aoınd EIvm neginarei xch 


800 " Kiene 


Diefes kann nur fo verftanden werden, daß Paulus hier die 
gerebeten als befehrte (&ysos) Heiden ihrer nationalen Abftamı 
nach den übrigen Heiden als folden, welche, noch unbekehrt 
ihrem alten Sündenmwandel fortfebten, gegenüberftellt. Das 
konn er nicht, wenn er am die ganze Gemeinde zu Ephefus fd 
welche notorifh aus Juden und Heidenchriften beftand. Die 
nahme, daß Heidenchriſten den überwiegenden Theil der Gem 
bifdeten und der Apoftel von dem überwiegenden Beftandtheil 
Namen gebe, bietet feine Aushilfe. Es ift befannt, wie ſchw 
auch den befehrten Juden wurde, von dem Grundprincipe des 
lus, von der gleichen Stellung der Juden und Heiden im 
des erhöheten Ehriftus, wie es beſonders in diefem Briefe entı 
wird, und von ber chriftlichen Freiheit von dem Gefege des 
Bundes in Chriſto, fih zu überzeugen, wie gerade diefer $ 
wider feine alten und neuen Glaubensgenoſſen fein ganzes 
ausfüllte. Wie konnte er alſo einen Theil der Gemeinde, t 
der Borftellung des auserwählten Volkes Gottes aufgewachſen 
und an welde der Ruf des Gefandten Gottes nach der alten 
Heißung zunächft ergangen war, von dem jedenfalls das He 
tommen war, einfach ignoriren? Mußte das nicht die re 
Eiferfucht wachrufen? Wie vorfichtig pflegt der Apoftel | 
ſolche Erregung zu vermeiden! Die Stelle zwingt uns al 
der Annahme, daß der Brief nur an Heidenchriſten gericht 
Alle Beweiskraft der Stelle fällt indes, wenn Aosmra dur: 
Kritik entfernt werden muß. Die wichtigen Auctoritäten bei M 
(Rrit. Comm. ad 1.), welche Aoıa nicht Haben, werden dure 
Cod. Sin. noch verftärft. Buttmann (ed. ad fidem Vat 
Berol. 1862) und Lachmann Haben es nicht in den Tex 
genommen, Muralto (ed. 1848) lieft e8 in Klammern. ©: 
bad und Rückert haben ſich dagegen ausgeſprochen. Im ü 
wird es von den Herausgebern und Commentatoren, ſovi 
weiß, feſtgehalten; wie ich glaube mit Recht. Das Eindi 
eines Zufages muß die Kritik erflären können, das Ausfallen 
Wortes kann zufällig gefchehen. War aber auch nur in einer 
ſchrift jolches der Fall, fo mußte der allgemeine Glaube | 
Kirche, daß der Brief am die Ephefer gerichtet fei, diefe 


Der Epheerbrief. 801 


begünftigen. Wie aber Konnte jemand bei diefer Vorausſetzung auf 
bie Beifügung des Wortes kommen, weldes fo deutlich die Em—⸗ 
pfänger des Briefes alle zu Heiden ihrer nationalen Abftammung 
nach machte? Die‘ Eonfequenz des Gegenjages liegt fo offen auf 
der Hand, daß die „unkritiſche Richtung der Zeit“ Hier feine Aus- 
hüffe bietet, am wenigften für die -erften fünf Jahrhunderte der 
Kirche, welchen die kritiſche Richtung gar nicht fehlte. 

Einen ſehr eigentümlichen Weg der Erklärung ſchlägt Stier 
(Brief am die Ephejer. Berlin 1859) zur Stelle ein. Er lieft 
und erflärt „wie die übrigen Heiden“ und fährt ©. 267 fort: 

„Dies dürfen wir aber nicht fo verftehen, als ob der Apoftel wirk- 
lich nur zu Heidenchriſten rede, denn dieſe Annahme widerfpricht 
der innerften Bedeutung des ganzen Briefe. Nach dem Kap. 2 
Vorhergegangenen ift diefer Unterſchied gefallen, und feit Rap. 4, 1 
ift jedes Ihr das gemeinfame der einen gleichen Gemeinde. In⸗ 
ſofern Israels Vorzug jet aufgehoben ift, tritt es unter alle 
‚Völler‘ oder Heiden zurüd. Ganz genau zu faflen, im neuen 
geiftfichen Sprachgebrauch der Gemeinde (der mit Kap. 4 einge 
treten) find, wie die Chriften das rechte Israel, fo die natürs 
lichen Menſchen die eigentlichen Heiden. So ift Hier die ganze 
Rede (8. 17—19) zwar in allen ihren Ansbrüden von dem heid- 
niſchen Wandel als Ausprägung des natürlichen Verderbens her- 
genommen, nennt aber damit dies Verderben überhaupt auch bei 
Juden, fogar jet fogenannten Ehriften. — — —“ 

„An die Juden» und Heidenchriften zufammen kann der Apoftel 
in der neuen Sprache des Geiftes mit vollem Rechte ſchreiben: 
‚Wenn ihr nod in Sünden wandeltet, fo wäret ihr noch, was ihr 
beide waret, Heiden.““ Nein, das waren fie nicht, fondern die einen 
waren Juden und die anderen waren Heiden vor ihrer Belehrung. 
Und welches ift num diefe neue‘ Sprache des Geiftes, welche feit 
4, 1 beginnt? War fie für den Paulus noch nicht in der Welt, 
als er den Brief zu dictiren begann? Betrachtete er fich zuvor 
noch nicht als den berufenen Apoftel der Heiden? War ihm früher 
in Chriſto der Unterſchied zwiſchen Heiden und Juden noch nicht 
aufgehoben? Und der Wandel in Sünden ift dem Paulus in diefer 

Theol. Stud. Jahrg. 1869. 20 


Kiene 


Sprache des Geiftes auf einmal das Kriterium des & 
er Glaube an Chriſtus? 
h Stiers Erklärung find nun die übrigen Heiden 
hen Menſchen unter Juden und Heiden und Chriften“ 
die eigentlichen Heiden“ ; der Apoftel nimmt nur die 
von dem heidnifchen Wandel (V. 17—19), nennt 
t dies Verderben überhaupt auch bei Juden und fogena 
n; d. h. die übrigen Heiden finden ſich auch bei { 
oßen Namendriften. Damit trägt Stier eine jegt geli 
vahre Anſchauung im die apoftofiihe Zeit, wo fie 
noch nachzuweiſen ift. Aber welches find denn nun 
Erffärung die Heiden, welche der Apoftel mit duds a 
ın übrigen Heiden gegenüberftellt in diefer neuen ©} 
eiftes? Dafür würden wir aud in unferer modernen 
1g feine Antwort finden. Ober folfen wir unter den mit 
deten jene „eigentlichen Heiden“ verftehen, wer bleibt 
€ „übrigen Heiden“ an unferer Stelle übrig? Kurz 
ung ift fachlich, ſprachlich und nach jeder gefunden Me 
ıterpretation gleich unmöglid. Wer cd Aoına 89 
: Stelle lieſt, muß auch anerkennen, daß unter dc 
e Heiden verftanden werden können, welde den unget 
bergeftellt werben. 
Hiermit vergleiche man zunädft 2, 11: 410 wrmmove 
078 Öneis ca EIm Ev aagxi, ol Asyöusvor dxgoßı 
ms Asyousıng rregiroujs &v Gmpxi Xeıgomonjror, 
rouvrov yagıv &yu Madkos 6 deamos vod Xgı 
onde Öuov zav &dvar. 
* wenden uns nun zu der Betrachtung der Hauptbeweisi 
er Neihenfolge des Briefes. 
1, 13 bezeichnet za uweis „Heiden“, im Gegenfat 
. Todg neminıxörag &v ro Xeiorh — Yuden 7 
d juor V. 14 Zuden- und Heidendriften zufammenfaßt 
upt das „wir“ in dem ganzen übrigen Abſchnitt (V. 3— 
Abſchnitt ift 1, a unferer Dispofition. Der Gedanfeı 
Abſchnitts ift: 
lusſpruch des Lobes und Dantes fir die in Ehrifto 


Der” Eyheſerbrief. 808 


pfangene Gnade der Rechtfertigung nach dem ewigen Rathſchluß. 
3.4 " 

b. Der ewige Rathſchluß diefer Gnade, eingeführt mit den Worten 
à dyanım mgooploas juäc ze. 58. 

e. Die Offenbarung diefer Gnade, eingeführt mit: dv man 
voplg zul Yeoviaeı yvugloas jpniv. — 10. 

d. Stand oder Verhältnis der Juden und der Helden zu dem 
göttlichen Heilsrathſchluß. 11—14. 

Die entſcheidenden Stellen fallen unter d, und da ich mic, hier 
gendthigt fehe, einen im wejentlichen eigenen Weg der Erklärung 
zu gehen, fo laſſe ich meine Erklärung folgen. Ich bemerke zu⸗ 
nädft, da die Vulgata richtig ®. 11 mit dv @ xal dxime- 
Innev und ®. 18 &v & xal Öneis ui. in Eorrefpondenz gefegt 
hat. Deutlicher noch träte die ſprachliche Beziehung hervor, wenn 
B. 11 nad) xel „ipeis“ gefchrieben wäre und vielleicht fand es 
Hieronymus in libris. Doc kann es auch abſichtlich vom Apoftel 
ansgelafjen fein, da es bier — Juden fein foll, während «6 
bisher ſtets Juden- und Heidenhriften zufammenfaßt. Ich erkläre: 
In demfelben (Ehrifto), in welchem einerfeits wir (= Juden) 
zum Loſe Gottes geworden find (d. i. zum auserwählten Wolfe 
Gottes), vorherbejtimmt (rrg00g40.9evres) nach dem Vorſatze des, 
der alles wirfet nach dem Rathſchluſſe feines Willens, auf daß wir 
feien zum Lobe feiner Herrlichkeit, wir, die wir zuvor gehofft Haben 
(= vor feinem Erfcheinen im Fleiſche) auf den Gefalbten (— den 
Meſſias — ev Xgrorö); V. 13: in welchem andererfeits 
ihr (= Heiden) erfoft wurdet (ergänze &xAngessmrs aus V. 11), 
nachdem ihr das Wort der Wahrheit, das Evangelium eurer Selig. 
feit gehört Habt; in welchem ihr auch durch den Glauben mit dem 
verheißenen heiligen Geifte verfiegelt (S beglaubigt) wurdet; V. 14: 
welcher das Angeld ift unferes (dev Juden und Heiden) Erbes, 
zum Roslaufe feines Eigentums (feiner Erwerbung, zjs mregımom- 
eg; Meyer bemerkt richtig, daß auizod auch hierzu gehört), zum 
Ruhme feiner Herrlichkeit.” So viel über den Wortfinn. 

Zur Sade 2. 11. 12. Im Ehrifto, d. h. im Hinblid auf 
den im Fleiſche dereinft erfcheinenden Gottesfohn, wurden die Juden 
zum Volle Gottes ermählt, und aud) diefes nad dem vorausbeftim« 

20* 


Kiene 


eigen Rathſchluß Gottes. Letzterer Zuſatz fteht Hier ri 
den= und’ Heidendhriften durch den Glauben, nad 
sbeftimmung der ewigen Heilserwählung Got 
ichen Gnade theilhaftig geworden find, ift ſchon ®. : 
ad brauchte für diefe alfo nicht wiederholt zu werben; 
Juden zum erwählten Volke Gottes durch gleichen 9 
ftimmt waren, ergibt ſich daraus nicht noth wendig 
rum war es zu bemerfen. 
ı den heiligen Geift der Verheißung (d. h. wie ihn Chr 
igen verheißen hat), dadurch, daß fie ihn empfangen, we 
em, wenn fie geglaubt haben, verfiegelt, mit dem Zeug 
ils Auserwählte verfehen, und diefer heilige Geift ift 
ür Juden nicht weniger als für Heiden, adbapav 
nlas; daher erfcheint Hier (®. 14) wieder 7umv, | 
gosver V. 11 im Alten Bunde gibt ihnen diefes ( 
de in Chrifto noch nicht. 

übrigens gar nicht nöthig, daß meine Fefer diefer me 
g in jeder Beziehung zuftimmen, damit der Beweis ftrin 
3. 11 u. 12 handelt von der Erwählung der Juden 
me an bem Heilsrathſchluſſe Gottes, das beweifen 
näs ... vods nemAnıxdras &v ıö Xgiorg; di 
3. 13 mit x@i Önsis noch eine zweite Claſſe folder 9 
ı Gottes Hinzugefügt, welche den Juden gegenüber nur 
in Tonnten. War aber der Brief nicht ausſchließlich 
iften beftimmt, fo mußte Paulus ſchreiben: &v & xai 
l.; war diefes aber der Fall, fo wird der Ausdrud rid 
1 xal Önd&s xuA. werden die Heiden den Juden 
arses V. 3 gegenibergeftelt, vgl. B. 5. Die © 
r 2, a meiner Dispofition. Der Angabe des Gedan 
m ich Hier eine Vorbemerkung vorausſchicken. 1, 19- 
ih, um auf Nr. 2 der Dispofition vorzubereiten 
führen, fchon. ausführlichere Behandlung des Gleichber 
ben dem anderweitigen- Inhalt des Gebets (1, b), 
x nicht zu dem Folgenden. Erft der Punkt nah V. 
ebankengang und Conftruction des Folgenden ar ı 
tebenbei ein wahres Sagmonftrum, in deſſen Berftä 


Der Epheferbrief. 305 


nis einzubringen ih mit Hülfe der Interpreten vergeblich verfucht 
habe. 

Für die Conftruction iſt zu beachten, daß B. 22 xal navıe 
und 2, 1 xaf Uns Correlate find und beide Objecte von Urse- 
tafsv Uno vous nödes avrod (B. 22), welches Prädicat nach 
al önäs (2, 1)-im Gedanken zu wieberhofen ift. 

Gedanfengang von 2, a. 1, 22 bis 2, 10. 

a. ®. 22 conftatirt, daß Gott Chriſtus zum Herrſcher über 
alles gefet Hat zum beften der Kirche (regnum potentiae), V. 23 
exponirt, wie Chriftus diefe Herrſchaft in der Gemeinde (Kirche) 
übt (regnum gratiae). 

b. Darfegung des verlorenen Zuſtandes der unſeligkeit bei Heiden 
und Juden, bevor ſie Mitglieder ſeiner Gemeinde waren und ſo 
in fein Gnadenreich eintraten. V. 1—3. 

c. Göttliche Einſetzung des Reiches Chriſti zur Erlöfung aus 
diefem Zuftande (®. 4—7), und zwar 1) die Motive Gottes zu 
diefer Onadenthat: Liebe und Erbarmen (B. 4); 2) Art der Aus» 
führung (®. 5. 6); 3) Ziel derfelben: bie ewige Herrlichkeit in 
Ehrifto (B. 7) (regnum gloriae), ” 

d. Nachdrückliche Hervorhebung, daß wir aus Gnaden felig ger 
worden find durch den Glauben, nicht infolge unferer Werke, auf 
daß wir Hinterher, als neue Schöpfung Gottes in Chrifto in der 
Wiedergeburt, in den guten Werten wandeln, welche er zuvor be⸗ 
reitet hat oder: für welche er uns zuvor bereitet hat. 

Wir faffen jegt die Hauptmomente des Beweiſes zufammen. 
Theile alles hat Gott unter feine (des erhöheten Chriftus) Füße 
geftellt (Zufammenfaffung des ſchon zuvor Gefagten) V. 22, theils 
euch (= Heiden, vgl. cum omnia — tum vos), die ihr todt waret 
durch die Uebertretungen und die Sünden, in denen ihr einft wan⸗ 
deftet cc. — —, als des Geiftes, der jegt in den Söhnen des 
Ungehorfams wirkſam ift; V. 3: unter welden (Söhnen des Un— 
gehorfams gegen den Willen Gottes) auch wir (Juden) alle (auch 
bie jegt oder ſchon während des irdiſchen Wandels des Heilandes 
gläubigen) einft wandelten in den Lüften, die Willensacte unferes 
Fleiſches und unferer Gedanken (3. B. der jüdifchen Sagungen) 
volibringend, und von Natur Kinder des Zorns waren, wie auch 


Kiene 


e Heiden). Es kommt nun hier darauf an, entwe 
‚ daß V. 3 © ol xai jusis navees.... ., 
ol, die Juden gemeint find; dann folgt von ſelbſt, 
l Heiden fein müfjen. Und umgekehrt: fteht feit, 
en von Nation bezeichnet, jo muß zei mei die Jı 
Beide Vorderfäge erfcheinen mir num freilich jel 
‚ wenngleich die Commentatoren das Gegentheil dart! 
eide, Heiden wie Juden, muß die Nothwendigfeit 
Einfegung des Reiches Chrifti zur Erlöfung aus bie 
!) erwiefen werden; ®. 1. 2 ermeift fie für die Hei 
die Juden, deun der Apoftel ift Jude von Geburt 
jusdc. Dazu geht Paulus mit B.1 al Önds zu 
über, daß die Heiden im Reiche Chrijti gleiche Stell 
uden haben. Redete der Apoftel wicht zu Heidenchri 
würde er gejagt haben: xal navıa Unsraker ı 
ıs. auroũ (B. 22) xal za Ev övıa xrA., um 
ırheit feinen Gedankengang zu entwideln. 
ade bemerke ih, daß die Juden mit vollem Re 
: Kinder des Zorns“ genannt werden. Kinder des or 
oelche unter dem Zorne Gottes ftehen. Das waren 
ch Naturbefchaffenheit, d. h. durch die Erbfünde, we 
mdigfeit die Thatfünde und damit den Tod nach ſich 
ren die Juden mit der Geburt oder geborene Ki 
Was Meyer dagegen fagt, ſcheint mir auf jophiftifd 
altigen Unterfcheidungen zu beruhen. Auch handelt Rön 
geborenen Ehriften. Für das Sprachliche bemerke 
dveorgagymusv ud zei ne» find grammatifche 
ralfel- und Hauptfäge, und Gedanken, von denen 
nothwendige Folge des erften beiordnet. Der Particiy 
vres malt den erfteren Hauptfag weiter aus. Ent 
ungewöhnliche rhetoriſche Wortftellung von gr 
n logifh und grammatifh zufammengehörigen 1 
:hetorifchen Hervorhebung der fo getrennten Worte. 2 
ologiſche Auffaffung ſolcher, in den klaſſiſchen Sprad 
im Lateiniſchen, nicht feltener Wortftellung, und d 
im N. T. die richtige fein. 


Der Epheferbrief. 807 


5) 2, 11—13 vgl. 14f. 17. Diefe Eitate umfaffen faft den 
ganzen Abſchnitt 2, b unferer Dispofition. Erft die fcharfe Aufe 
fafung der Begriffe „Ihr“ und „Wir“ in dieſem Briefe bringt 
hier Sicherheit und Klarheit in die Erflärung, und ich werde diefe 
daher hier in den Vordergrund treten laſſen. Die Schlußfolge 
gibt ſich daraus von felbit. 

Gedanfengang von 2, b = Rap. 2, 11—18. b 

a. Alte Stellung der Heiden (uueis) ohne Chriſtus: 
Sie lebten in fleiſchlicher Gefinnung, wurden Borhaut von ber 
fogenannten Beſchneidung, die nur am Fleiſche mit Händen gemacht 
war, genannt, waren gejchieden von dem Gottesſtaat Israels und 
Fremdlinge der Verheigungsbindniffe, ohne Hoffnang und one Gott 
in der Welt. ©. 11. 12. 

b. Jegige Stellung derfelben in Ehrifto Jeſu: Sie. 
find, einft fern von alfen jenen Gütern, jegt ihnen nahe geworden 
in dem Blute Eprifti, d. h. durch die Theilnahme an den Gnaden- 
gütern dieſes Blutes. V. 13. 

e. Nachweis, wie diefe Veränderung vor fich gegangen ift. 14—18. 
Anfang und Ende jtellt das allgemeine factifhe Verhältnis auf, in 
der Mitte werden die einzelnen Acte feiner Herbeiführung aufgezählt. 
(Das Weitere muß der Einzelerflärung überlafjen bleiben.) 

Zur Erflärung des Einzelnen: 

8. 11—13 beachte man, daß rose (B. 11) und [dv] Tö xcio 
Auelvp ywois Xguozod (B. 12) den Gegenfag bilden zn vurs 
& Xgiorö Inood (B. 13). Die beſſer beglaubigte Vorftellung 
von word vor Öneis (B. 11) wird auch durd die Wortftellung 
8.13: vovi dd... Umeis empfohlen. Das Stehen oder Fallen 
der Bräpofition &» vor 16 xp ift eine rein Fritifche Frage und 
für die Interpretation indifferent. "Sr B. 12 nimmt das erfte 
dr V. 11 wieder auf. 

[V. 11:1 Darum gedentet, daß einft ihr, Heiden in fleifchlicher 
Sefinnung, die ihr Vorhaut genannt werdet von der fogenannten 
Beihneidung, welche mit Händen am Fleiſche gefchieht (natürlich 
im Gegenfage zu der wahren Beſchneidung des Herzens, deren 
Mitglieder alfo die Heiden nicht fo oder nicht in joldem Sinne 
nennen); IV. 12:) daß ihr, in jener Zeit ohne Chriſtus, geſchieden 


808 Kiene 


waret von dem Gottesftaat (moAszeias) Israels, und fremd den 
Verheigungsbndniffen (Gottes), ohne Hoffnung (auf diefe Ber- 
heißungen, wie fie dem Bundesvolke geworden waren) und ohne 
Gott in der (Gott entfremdeten) Welt. IB. 13:1 Jetzt aber in 
Ehrifto Jeſu wurdet ihr, die ihr einft weit (vom allen diefen Gütern) 
waret, (ihren) nahe in dem Blute Chriſti (deffen Gnadenwirkung 
auch ihr erlangt Habt durch den Glauben. Der Bereich „ev ıö 
dınarı“ ift hier, wie öfter, zugleich das reale Mittel). 

Da B. 13 die gegenfägliche Stellung ſchon vollitändig gibt (b), 
und in demjelben die Worte ol more Övıe; maxgav die früheren 
Entbehrungen der Heiden wieder aufnehmen, fo halte ich die in der 
Ueberfegung beigefügte Erklärung für notwendig und contertmäßig. 


Die Heiden in Chrifto find alfo erftens nicht mehr Ay & | 


0agxi. Meyers Erklärung des Ausdrucks „unbeſchnittene“ ift an 
fich gezwungen und bedeutung8los; dann ferner aber auch unpafiend, 
da dieſes gar fein Mangel für fie ift, und im Chriſto nicht auf 
gehoben wird. Zweitens find fie nicht miehr ausgefchloffen von 


dem alten Bundesſtaat Israel, da an deſſen Stelle das wahre 


Israel in dem himmlischen Reiche Chrifti getreten ift. Drittens 
find fie nicht mehr fremd den Verheißungen, fo daß fie feine Hoff: 
nung auf biefelben Hätten. Zu ar) govres bemerkte ich, daß in 
der fpäteren Gräcität bei Plutarch und Lucian per) für 0 in jedem 
abhängigen Sage gebraucht wird... In diefem weiteren Gebrauche 
haben wir hier zu ftatt ovx zu erflären, da die Hoffnung Folge 
ift aus der Teilnahme an den Verheigungen. Biertens endlih 
find fie nicht mehr &9s0r, d. h. fubjectiv „ohne Gotteserkenntnis“. 
Auch objectiv waren fie es früher, weil Gott zur Zeit des Alten 
Bundes die Heiden ihre eigenen Wege gehen Tieß. Allen dieſen 
Gütern alſo find’ die Heiden in Chrifto durch Chriſti Blut im 
Glauben nahe, d. i. ihrer theilhaftig geworden. 

ad c. 14—18. Es folgt hier der Nachweis diefer veränderten 
Stellung in Chrifto, logiſch richtig mit yag angelnüpft: V. 14. 
denn er felbft (Chriſtus) iſt unfer (der Juden- und Heiden 
chriſten) Friede (mit Gott). — Im dieſem einen Sage ift ſchon 
der ganze Beweis enthalten, denn wer Sriede mit Gott hat, der 
iſt auch erlöft und das Mittleramt an ihm vollzogen, er bedarf 


Der Epheferbrirf. 309 


nichts weiter. Daher fagte ich oben, daß der Anfang das all» 
gemeine factifche Verhältnis ausfprict. Dasfelbe thut am Schluffe 
8.18. — Die Rede fehreitet nun zu den einzelnen Momenten 
fort: der beides (Heidentum und Judentum) vereinigt und 
dieZwifhenwand des Zaunes (welche den fündigen Menfchen 
von Gott trennte), die Feindſchaft (zwiſchen Gott und Menſch) 
aufgelöft Hat, dadurch, daß er durch fein eigenes Fleiſch 
(a8 er für den Sünder in den Tod gegeben Hat) [B. 15:) das 
Gefeg der Gebote in Befehlen (das offenbarte Bundesgefeg 
und angeborene Sittengefeg) aufhob (demm gerade dieſes Geſetz 
mit feinem Fluche trennte ebenfo das Bundesvolf von den Heiden, 
wie es beiden — Röm. 2, 14. 15 — den Srieden nahm und 
die Feindſchaft Gottes brachte), damit er beide (Juden und 
Heiden) in fi zu einem neuen Menfhen gründe, Frie— 
den ſchaffend (mit Gott in der neuen xwloıs), [B.16:] und 
beide in einem Leibe ganz mit Gott verfühne durd 
das Kreuz, dadurch, daß er die Feindſchaft (Gottes wider 
den Sünder) in fich (d. i. in feinem in den Tod gegebenen Leibe) 
tödtete. (Der Ausdrud drroxzelvas ift gewählt, weil er ſich 
tödtete — in den Tod gab, und damit zugleich die Feindſchaft 
Gottes. Man überſehe nicht, wie diefer Tegte Participialfag am 
Schluſſe nachdrücklich wiederholt, was gleich initio B.14: „Aucas.. 
mv EyIgav““ Thefis ift, fo daß der Abfchluß des Gedanfens zum 
Eingang zurückkehrt.) 

[8. 17:] „Und gefommen (zu euch im heiligen Geifte) hat 
er euch (Heiden) den Frieden im Evangelium verkün— 
digt (durch den Mund feiner Apoftel), die ihr weit waret, 
und den Nahen (S den Juden); [®. 18:7 denn durd ihn 
haben wir beide (Juden und Heiden) in demfelben heiligen 
Seifte die Hinführung zum Vater.“ 

Die hier gegebene Gedanfenentwidelung und Erklärung, befonders 
von 14—18, fteht in feharfem Gegenfage zu Meyers Auffaffung 
und ift, foweit ich habe prüfen können, von niemandem jo durch. 
geführt, wenngleich Hoffmann und Andere in einzelnen Punkten fie 
berügren. Ich füge daher noch einige Worte zur Polemik und 
Begründung. hinzu. 


810 Kiene 


Meyer fieht in den Berfen 14—18 die Beweisführung, daß 
Chriſtus die Feindfchaft zwifchen ’Heiden und Juden aufgehoben 
hat, und erklärt, nicht ohne Gewaltjamfeit, alles dahin. Aber in 
der veränderten Stellung der Heiden ift die Verfühnung mit Gott, 
nicht die Verföhnung mit den Juden, die Hauptfahe und daher 
primo loco zu beweifen. Zweiten® jind, ſchon nad) der Auf: 
faffung des A. T.'s, die Heiden nur als Feinde Gottes, weil und 
foweit jie Feinde Gottes find, zugleich Feinde des Bundesvolkes; 
ohne das ift die Feindfchaft des Bundesvolkes wider die Heiden 
ohne befonderen Grund durchaus unberechtigt. Der Beweis, 
dag auch die Heiden Frieden mit Gott durch Chriftum finden und 
haben, hebt alfo die Berechtigung der Feindſchaft Israels auf. 
Bon Seiten der Heiden findet aber eine Feindſchaft wider die Juden | 
an fi, ohme befondere vorausgegangene Urſache, gar nicht ftatt. 
Der Beweis alfo, daß in Ehrifto die Heiden aufhören Feinde Gottes | 
zu fein, fchließt die Feindfchaft von jelbft aus. Jenes alſo mußte | 
Paulns principaliter beweifen, dann folgte das andere von felbit, | 
und fo verfährt er nad) der obigen Erklärung. Dieſes Sachverhält 
mis zwifchen den beiden Gedanken wird auch beftimmt ausgeſprochen | 
V. 14, wenn wir das roıjoas und Avoas verbindende xai = 
„und zwar“ faſſen. Drittens: Zur Erffärung von V. 17 über- 
gehend fagt Meyer: „Nachdem Chriftus den Frieden geftiftet hat, 
ift er aud) gefommen umd hat ihn auch verfündigt.“ Welden 
Frieden hat denn nun Ehrijtus im heiligen Geiſte durd die 
Prediger des. Evangeliums verfündigt, den Frieden mit Gott, ae 
den zwifchen Heiden ımd Juden? Wenn das Erftere, fo muß er | 
auch denjelben Frieden geftiftet Haben, und von der Stiftung dieſes 
Friedens in dem Vorigen die Rede fein. Alfo nur nad) der oben 
gegebenen Erflärung ſchließen ſich V. 17 u. 18 richtig am die vor: | 
ausgegangene Beweisführung ar. 

Ferner: B. 14 habe id) ro us00T01xov TOO peayod yuoa;, 
emv 2y9oav und &v Ti gagxi adrod.. „ xuragyjaec conjtruitt, 
und nur jo fommt nicht nur ein erträgliher, fondern ſelbſt ein 
guter Sat heraus, während jede andere verſuchte Conjtruction, ſei 
es nm, daß man &v 77 omgxi adrod mit Aloas verbindet, oder 
mv EyIgav von xaragyoas abhängig macht, eine zerhackte und 
wahrhaft barbarifche Wortftellung ergibt. 





Der Epheferbrief. su 


Die Zwifhenwäand des Zaunes. Iſt die Feindfchaft, 
welche Chriftus durch fein Blut gelöft hat, die Feindfchaft Gottes, 
welche den unverfühnten Sünder trifft, fo fann aud „die Zwiſchen⸗ 
wand des Zaunes“ nichts anderes fein, als die ungefühnte Sünden» 
jchuld, und diefe Scheidewand machte das geoffenbarte Geſetz mit 
feinem Fluche für die Juden nur ſchärfer. Sprachlich bemerfe 
ih noch, daß fowol die nachdruckvolle Nachſtellung von mr ZxHgav, 
wie die räftige-Vorftellung von &v c7j omgxi auron eine Schön- 
heit des Ausdruds find. Trennung zufammengehöriger Theile durch 
jwifgengeftellte Worte Heben und marfiren die getrennten. 

Wenn ich in der bis Hierher geführten Erklärung uur beiläufig 
habe Hervortreten lafien, daß vusis nothwendig Heiden von Ab— 
ſtammung find und diejen in zweis (B. 14. 18), Heiden» und 
Judenchriſten gemeinfam gegenübertreten, jo werde ich fchließlich 
8. 17 die Erklärung der Worte dulv rolis maxgav xal Tois 
&yyös von dem Gefichtspunfte aus behandeln, daß ich nachweiſe, 
wie erft die ſichere Erkenntnis, daB vpeis ſtets — Heiden von 
Geburt, alſo aud der Brief nur an Heidenchriften gerichtet fein 
fan, hier eine gewiffe und mögliche Erffärung darbietet. Im all 
gemeinen verfteht man nun unter Tois uexgav die Heiden und 
unter zoös &yyds die Juden und faßt beides als Appofition zu 
vpiv. Das ift aber aus verſchiedenen Gründen nicht möglich. Wir 
geben zu, daß vor dem Weiche des erhöheten Chriftus die Juden 
dem Gnadengütern feines Werkes näher ftanden als die Heiden, 
doch Hörte der Unterſchied für die &ysos auf. Nach der Zufchrift 
des Briefes (1, 1) ift diefer aber an &’ysor gerichtet, dieſe fünnen 
doch alfo nicht geradezu ansgefchlofjen gedacht werden, wie fie müffen, 
mern die Juden noch als die Nahen, die Heiden noch als die Fernen 
bezeichnet werden follen. Wiefeler (Ehronolog. der apojt. Zeit) 
will unter Tols naxgav die Heidenchriften und unter rois Eyyds 
die Judenchriſten verftanden wifjen. Aber ſchon V. 18 reicht völlig 
aus um zu beweifen, daß die Heiden aus Wernfeienden zu Naher 
feienden im Blute Chrifti, alfo durch ihren Glauben an ihn, ge» 
vorden find. Folglich erweift fich diefe Erklärung als unmöglich. 
Jet wollen wir von der Vorausjegung ausgehen, daß Paulus 
nur an Heidenchriften ſchreibt, alfo Önev die angeredeten Heiden- 


312 Kiene | 


Hriften find. Dazu ift nur voög paxgav als Appofition zu fallen 
und die Bezeichnung auf den Zeitpunkt des Verbums eueyysAioaro 
zu befehränfen und von der erften Verkundigung des Evangeliums , 
an die Heiden zu verftehen, fo daß es gleich ift vois ore naxgav, 
denn durch den Glauben wurden fie Naheftehende. Kal vols Eyyis 
tritt dann als bloß ergänzender Zufag Hinzu, weil die Predigt auf 
an die Juden ergieng. Bolglich wird die Erklärung diefer Stelle 
nur unter der Vorausjegung möglich, dag Paulus feinen Brief nur 
an Heidenchriſten gerichtet Hat. Hieraus erflärt ſich auch, warum 
Tols waxgeiv vorangeftellt ift, da doch naturgemäß die Naheftchen- 
den den Fernftehenden vorangehen. 

6) 2, 19—22 — 2, c umferer Dispofition. Das Reich Sri | 
war an die Stelle des alten Bundesreiches getreten, welches die 
Heiden als Feinde Gottes ausſchloß und ftellte Juden und Heiden 
ſich gleich, gab im Gnadenreiche in Chriſto beiden gleihmäßig Frieden 
und Zugang zu Gott durch die Predigt des Evangeliums. An | 
Schluffe diejer Ausführung Hebt nun der Apoftel zuſammenfaſſend 
(8. 19—22) den gnadenreichen Zuftand hervor, in welden die 
früheren Heiden als Chriften getreten find. Das gefchieht nun | 
einmal im Rüdblid auf den Eingang (8. 11), um dem Grund | 
zur Dankbarkeit für diefen Wechſel zu betonen, und zweitens ale 
Uebergang zum folgenden dritten Kapitel, welches von Pauli Miffion 
als Heidenapoftel Handelt, die in.diefer veränderten Stellung ihren 
Grund hatte. - 

Daß die Hier in der zweiten Perfon angeredeten Empfänger des 
Briefes nur als frühere Heiden gedacht werden, ift augenſcheinlich, 
indes will ich die beiden fchlagendften Momente herausheben. „So 
feid ihr alfo num nicht mehr Fremdlinge und Beiwohner, fondern 
feid Mitbürger der Heiligen und Hausgenoffen Gottes.“ So be 
ginnt V. 19 und erinnert; daß die Empfänger des Briefes früher 
Fremdlinge und Beimohner waren. Das war aber die Stellung 
der Heiden zum Gottesreiche des Alten Bundes, nicht die der Juden, 
welche darin allein Heilige und Hausgenoſſen Gottes waren. Eben 
deshalb find die Heiden in Chrifto jegt auuroAias (8. 19) mit 
Ruckſicht auf die woAires des alten Bundesreihed. - 

Zweitens. ®. 21 ift der Artikel j nah mäce mit 2. T. 





Der Epheferbrief. 318 


aus kritiſchen Gründen zu tilgen (cf. Meyer, Comm. crit.). 
Der Cod. Sinait. hat den Artikel nicht. Es correjpondiren nun 
in 8.21. 22 &v 6 näo« oixodonn (21) und ev @ xal ust 
(22). Erfteres kann nur heißen „jeder Bau“. As Einheit ergibt 
ſich am natürlichften der einzelne &ysog oder Ehrift, benn ein jeder 
Einzelne fol ein Tempel Gottes werden. Der Begriff „jeder Ein» 
xlne“ fällt dem Sinne nad) wieder mit der Gefamtheit zufammen. 
& kann alfo diefem die Theilgefamtheit Öueis = Heidendjriften 
ebenfogut nebengeordnet werden, al8 dem ganzen Bau (= n&ca 
7 olxodonm). Sch erkläre alſo: 

8.21: „In weldem (Chriftus) jeder Bau (jeder Einzelne) 
vohlgefügt wachſe zu einem heiligen Tempel in dem 
Herrn.“ (D. 5. jeder wächſt in Chriſto, und das Ziel ift, ein hei⸗ 
figer Tempel Gottes in Chriſto zu ſein. Daß auch eine einzelne 
Geeinde in ſolcher Weiſe als Organismus bezeichnet wird, möchte 
id) bezweifeln ). Vom Ganzen, als dem Leibe Chriſti, iſt die Be— 
xichnung wieder richtig. Dahin gehört 2 Kor. 6, 16, wenn juetc.. 
Zsuev gelefen wird.) 

3.22: „In welchem auch ihr (SHeidenchriſten) miterbauet werdet 
m einer Wohnung Gottes im heiligen Geifte.“ (OD. h. ein jeder 
m einer befonderen Wohnung. gl. für diefen Sprachgebrauch 
or. 5, 1: 7 Eniysios jucv olxia und 2: 10 olxntijetoy 
inöv co EE oVgavon, wo in beiden Fällen ein jeder eine beſon⸗ 
dere Wohnung hat und anziehen wird, und 1Kor. 6, 19. Ebenfo 


3) Die Sache ift nicht felbftverftändfich, denn olxodop faßt das Exbaute zur 
Einheit zufammen, und ber Einzelne Menſch und alle Gläubigen als Leib 
Chriſti find eine ſolche in viel prägnanterem Sinne als eine Gemeinde. 
1Ror. 3, 9: Heod yag donev auvegyol' Ieod yeuipyıov, Pod olzodo- 
vi Sore Liefert, fo viel ich fehe, einen Beweis dafür nicht. Das wir in 
toper if nad) dem Zufammenhange = id, Paulus, und alle die mit mir 
pflanzen und begießen. Der Gejamtheit ber Pflanzer tritt logiſch richtig 
nur die Gefamtheit der Gepflanzten gegenüber, alſo ift das ihr in Zare 
= ide Korinther, und alle, bie wie ihr gepflanzt find. odxodogn ift alſo 
hier dee ganze Bau, der Artikel fehlt, weil Gott auch anderes gebaut hat. 
So auch Bengel: odxodoun summa sequentium. Cbenfo Tann 
1or. 8, 16. 17 vaog erfläct werben, ober nad dem Sprachgebrauch 
2Rır. 5, 1.2. . 


814 Kiene 


glaube ih 1Kor. 3, 16f. erklären zu müſſen und 2Kor. 6, 16, 
wenn ousdc Lore gelefen wird. 
7) 3, 1. 2 vgl. 6ff. Ich fchreibe Hier nur die beiden Verſe 
aus; 1: Tovrov xapıv Eya Hadiog ö deomios Tod Xgıoroi 
Imopd Undg Unav züv Edväv: 2: eiye Nxovgare Tv olxo- 
voniav rg xagırog Tod Yeod zig dodslong nos eis Unis 
und frage, ob hier irgend ein Unterfchied angenommen werben fann 
zwiſchen duo» züv &Ivov (B. 1) und vnäs (B. 2), zumal da 
Paulus hier ganz unzweifelhaft von feiner Miſſion als Heidenapoftel 
redet (vgl. 6ff.). Folglich denkt fic der Apojtel unter den Ems 
pfängern feines Briefes auch hier nur Heidenchriſten, die ſich bei 
Betrachtung diefer Miffion ganz natürlich zu der Vorftellung der 
Heiden im alfgemeinen als Object feiner Wirkſamkeit erweitert, 
auch abgejehen davon, ob fie durch diefelbe bereits erworben jind *). 
Wie fi Hier aus einer Reihe von einzelnen Stellen das Re 


ſultat ergeben hat, daß der Apoftel diefen Brief nur an Heiden: 


chriſten richtet, fo ftimmt der Inhalt des dogmatifchen Lehrtheils 
ganz zu diefem Refultat. Daß wir dasfelbe nicht mit gleicher Aus- 
dehnung von dem paränetifihen oder ethichen Theile ausſagen können, 
liegt in der Natur der Sache, die fittlihen Ermahnungen müſſen 
für Juden und Heiden weſentlich diejelben fein, nur im der Bel 
handlung kann ſich der Unterfchied der vorausgeſetzten Lefer fund 
thun. Ich bitte nun meine Lefer, ſich meine oben gegebene Die- 
pofition wieder zu vergegenwärtigen. Schon die Gebetsform des 
eriten Theiles beweift, daß der Apoftel diefen Abjchnitt als Ein 
Teitung zu feinem Hauptlehrjtüd betrachtet hat, denn dieſe Form! 
verlangt die einfache Ausſprache der Thatſachen und ſchließt die 
eigentfiche Argumentation aus. Diefer Theil tritt daher zu der, 
vorliegenden Trage in ein gleiches Verhäftnis, wie ber paränetiüche 
Haupttheil. Daß aber der zweite Hauptabſchnitt von I. ganz für 
die Heiden berechnet ift, bedarf faum einer weiteren Begründun— 

Der Beweis, daß die Stellung der Heiden zu dem allgemein 


a) Auf die allgemeine und abweichende Art des Guadengrußes 6, 28. 2 
Habe ich Hier abfichtlic fein Gewicht gelegt, weil fie minder entjcheider 
iſt. Die Abweichung erklärt ſich aus der Natur eines Collectiofhreiben 


Der Epheferbrief. 815 


Reihe des erhöheten Chriſtus diefelbe geworden fei, wie die ber 
Juden zu demfelben und daß in demfelben die bevorrechtete Stellung 
der Juden, als des Volkes Gottes im Alten Bunde, ihr Ende 
erreicht habe, war nur für die Heiden von fegengreichen, Folgen 
begleitet und daher „nur für diefe von hervorragender Wichtigkeit. 
Bolte aber der Apoftel auch die Judenchriſten zu folcher Aner⸗ 
fennung durch feine Ausführung beftimmen, Hatte er gerade dieſen 
Zweck vor Augen, fo mußte feine Ausführung aud in diefes Ziel 
auslaufen, er würde dann unter 2, c mit der Aufforderung an 
die Judenchriſten fchließen, daß fie diefe Gleichſtellung ihrer Heid» 
niſchen Brüder in Chrifto anerkennen follten. Statt deſſen faßt 
er aber am Schluffe feiner Ausführung (2, c) den Segen diefer 
veränderten Stellung für die Heiden in den Verjen 2, 19—22 
ufammen, wendet ſich alfo an die Heiden und nicht an die Juden. 
Aus der Ausdehnung des Neiches Chrifti auf alle Völker folgt die 
Heidenmiffion des Apoftel Paulus als natürliche Confequenz, und 
diefe göttliche Miſſion ift wieder nur für die Heiden von jegens- 
reihen Folgen, alfo auch für diefe allein von hervorragendem In— 
tereffe. 

Bir wenden uns jegt zur Betrachtung der übrigen Beftandtheile 
des Briefes. Steht einmal feit, daß der Apoftel nur an Heiden- 
riften fchrieb, fo gilt das tägliche Gebet des Apoftels um die 
wachſende Erfenntnis in dem göttlichen Heilsrathichluß (I, 1, b) 
allein den Heiden, denn an die Empfänger des Briefes wendet er 
fh 8. 13 mit der Anrede. Und felbft wenn wir die Entſcheidung 
über diefe Frage noch dahingeftelit Lafjen wollen, ift gewiß die zweite 
Hälfte diefes Gebete (V. 19—21), um die wachjende Erkenntnis 
der Herrfchaft des erhöheten Chriftus, in folder Ausführlichkeit mit 
beſonderer Beziehung auf den folgenden Hauptlehrtheil Hinzugefügt. 
Schließlich weife ih noch in der Ausführung des ganzen Gebets 
. 1) auf die wiederholte Hervorhebung der Ewigkeit des gött- 
fen Gnadenrathihlufigs in Chrifto Hin, die ſich aus der Boraus- 
itgung heidniſcher Xefer am natürlichiten erflärt. Die Heiden kannten 
von Haus aus feine ewigen, fondern nur gewordene Götter, wäh- 
tend die Vorftellung des ewigen Gottes den Juden geläufig war. 
Jenen mußte daher auch die Vorftellung eines ewigen göttlichen 


316 , Kiene 


Heilsrathfchluffes eine viel fehwierigere fein und verlangte daher für 
jene eine viel nachdrücklichere Hervorhebung. 

Schon ein Ueberblid der Dispofition des zweiten, paränetiſchen 
Haupttheils belehrt und, daß der zweite Abjchnitt (4, 17—32) 
ganz mit Rüdficht auf heidniſche Leſer geſchrieben ift. Denn wäh 
rend der erfte dem chriftlihen Wandel aus dem Geſichtspunkte der 
neuen empfangenen Lebenskraft der Gläubigen zu ihrer Beſſerung 
betrachtet, der dritte aus dem veränderten Standpunkte der Gläu⸗ 
bigen zu Gott als Kinder Gottes, der vierte nad) äußeren Lebens⸗ 
verhältniffen, ftelit der zweite den währhaften Wandel in Chriſto 
und im Geiſte dem fleiſchlichen Wandel der Heiden gegenüber. 
Diefer Abſchnitt ift alfo ganz für Heidenchriften gefchrieben, nur 
mit Rücficht auf ſolche Leſer berechtigt und ganz logiſch correct 
dem erften Theil als Contraſt gegenübergeftellt. Dagegen faſſen 
die übrigen Theile Gefichtspunfte in's Auge, die aus dem Wefen 
der chriftlichen Ethik gefchöpft und darum allen Lefern gegenüber 
berechtigt jind. Alſo zeigt auch hier die Behandlung des Inhalis 
befondere Rückſicht auf Heidnifche Lefer. Wir können daher dem 
Ausfprud von David Schulz (Stud. u. Krit. 1829, S. 617) 
nur beiftimmen, daß man fic nad) dem Inhalte des Briefes ge | 
neigt fühle, ein Sendfhreiben von fo alfgemeiner Beziehung auf 
die Heidenchriften überhaupt ,,rgos EAAnvas“ zu überfchreiben *). ı 

Hat Paulus diefen Brief nur an Heidendriften gerichtet, jo 
mußte er es in der Zufehrift auch ausfprechen. Er that dies, wenn | 
er (1, 1) ſchrieb: Tols dyloıs vois ovow ZIveoıv xai mr 
orois &v Xe. T. und fo glaube ih, muſſen wir die oben nad 
gewiefene Lücke ergänzen, umfomehr, da es an ſich undenkbar ſcheint, 
daß ein nur an Heidenchriften gerichtetes Schreiben auf eine ber 
ftimmte Gemeinde beſchränkt war, alfo auch eine ſolche in der Zu: 
ſchrift nicht nennen durfte. Wie aber konnte diefer Zufag in allen 
Handſchriften ausfallen? Es ift ein Tehrfa der Kritit, dag nad | 





a) Am liebſten ſchliehße ich mich dem Ausſpruch Neanders (Gef. d. apoſt 
Zeit, ©. 408) an: „Einen ſolchen Brief, wie der Eyheſerbrief ift, fonnte | 
nur der Heidenapoftel an bie Heiden ſchreiben, und dieſes unnachahmliche 
Gepräge besfelben macht das Siegel feiner Echtheit.” 


Der Epheferbrief. 897 


einem voraufgehenden Worte mit gleicher Schlußfilbe das nach⸗ 
folgende Leicht ausfällt und oft ausgefalfen ift, weil der Abfchreiber 
von dem erften gleich auf das folgende mit den Augen überfpringt. 
Das gefchieht um fo leichter, wenn die Buchftabenzüge beider Worte 
überfaupt verwandt find. Nehmen wir nun an, da der Abſchreiber 
des von Tychicus nach Ephefus überbrachten Briefes, welcher ihn 
für die dortige Gemeinde abjchrieb, den Schreibfehler begieng, und 
fo in diefem Exemplar die kritifch beglaubigte Lesart vorlag, fo ift 
bei der überwiegenden Wichtigkeit der ephefinifchen Gemeinde in 
Aſien und bei dem Glauben der Kirche, daß der Brief an diefe 
Gemeinde gerichtet fei, natürlich und erklärlich, daß dieſes Exemplar 
bie Grundlage für alfe uns überlieferten Handfchriften wurde, ja 
die Entſtehung diefer Firchlichen Ueberlieferung und die Ueberlieferung 
der Lesart des Exemplare zu Epheſus ift ganz berfelbe Proceß. 
Beide erflären ſich in gleicher Weife. Und felbft eine abſichtliche 
Ausloffung des Wortes in dem Exemplare für die Gemeinde zu 
Ephefns, falls ein Judenchriſt der Abjchreiber des Briefes war, 
würde für mich nichts auffallendes haben. Der jüdifche National- 
fiolz, felbft wenn er dem Paulus feine Heidenmiffion verzieh und 
ihm perfönfich Hoch hielt, mochte fich doc durch den Umftand, daß 
Paulus den Heidenchriften allein, auch in der eigenen Gemeinde zu 
Epheſus, ein Sendfchreiben gewidmet Hatte, verlegt fühlen und das 
fine ſchmerzliche Wort tilgen. So viel zur Begründung meiner 
Vermuthung. 

Die Zuſchrift würde den Brief als Sendſchreiben ar alle Heiden⸗ 
öriften erfcheinen laffen, und ein ſolches ift er feinem Inhalte nad 
fenbar. Werner ift der Brief der einzige des Paulus, der gar 
feine perfönfichen Bemerkungen und Beziehungen, feine Grüße, feine 
auf befondere lokale Verhältniſſe und Irrtümer bezügliche Ermah- 
mungen und Belehrungen enthält. Und dennoch Haben wir feine 
gegründete Veranlaſſung, Epheſus aus der Zahl der Gemeinden, 
denen Paulus das Schreiben zufenden Tieß, auszufchließen *); eine 


a) Ein foldjer Grund Täge vor, wenn aus Eph. 3,2 u. 4, 21 wirklich folgte, 
daß Paulus den Empfängern perfönfich unbekannt geweſen wäre, wie 
Anger (&. 45f.) mit Berüdfichtigung der Literatur nachzuweiſen fucht, 


ol. Stud. Jahrg. 1869. a 


818 Kiene 


Gemeinde, welche Paulus gegründet und in welcher er langere Zeit 
gelebt und gelehrt hatte. Nur eine allgemeinere Beftimmung des 
Briefes für mehrere Gemeinden Tonnten einen Mann wie Paulus, 


denn die Ausrede, daß er nur bie fpäter befehrten unbelaunten Heiden in 
der Gemeinde meine, während die Zuſchrift die ganze Gemeinde nennt, und 
Auferdem noch andere, gewiffermaßen unter ber Kirchenhoheit von Ephefus 
fehende, ihm perfönfich unbelannte Gemeinden, ift Hinfällig, weil die Zu 
ſchrift nicht im Widerſpruch fliehen kaun mit ben vorausgeſetzten Leſern 
Aber die Stellen beweiſen durchaus nicht, daß ber Schreiber des Brirfe 
den Empfängern perfönlic; unbelaunt fein müffe. 3, 2 iautet: etye neoi- 
care ıiv olxovonlay tig yapıros Tod ob zig doelang na ck 
dnäs. — Die Schlußfolgerung, welde man macht, iſt diefe: Die von 
Gott dem Paulus gegebene Gnade ift feine Mifflen als Heidenapoftl. 
Bon diefer Miffion aber muß er bemen, zu welchen er redet, zuerſt Lunde 
geben, fie müffen alfo davon gehört Haben, wenn er ihnen perfönlid dr 
kannt fein fol, wenn er bei ihnen thätig gervefen if. — Aber biefe Schluh⸗ 
folgerung beweift zu viel, denn fie beweiſt auch, daß der Apoftel an feine 
Leſer das zweite Kapitel nicht zuvor gerichtet Haben kann, denn Hatten fit 
dieſes gehört oder geleſen, fo Hatten fie ja gerade vom der göttllfen Def 
nomie gehört, aus weldjer feine Mifflen als Heidenapoftel nur bie natir| 
liche Confequenz war. Die Stelle ift vielmehr in ihrein Zuſanmenhaucz 
folgendermaßen zu erklären: 

B. 1. „Deshalb [weil bie Stellung ber Heiden zum Reiche des | 
hößeten Ehriftus feine andere ift, als bie der Juden und fie in gleide 
Weiſe dazu durch daB Evangelium berufen find = Kap. 2] bin ich Bor 
lus der Gefeffelte EHrifti [meil diefer die Urſache feiner Gefanger 
ſchaft iR] für ench Heiden.“ Diefe letzten Worte haben dem Rachbrut,| 
denn für bie Heiden trägt er die Feſſeln, bie Miſſion ale Heidenapoftl 
hat fie ihm bereitet. Für bie Heiden iſt er ferner der Gefeffelte zur" 
&foxiv als Heidenapoftel. Mit's Feoimos beginnt das Präbicat, mobi 
eig zu ergänzen iſt. V. 2—12 folgt nun ber eigentfidhe Abſchnitt vor | 
feiner Heibenmiffion, während V. 13 abſchließend anf bie Gefangenfchaft ir 
dieſer Miffion zurüdtehrt. V. 1 u. 18 bilden alſo Einfeitung und Shluf 
und dürfen nicht zum Hauptgebanten gemacht werden. Die Gefangenjärit 
© zur der gegenwärtige Zufland, in welcher fein Amt ihn gebracht fat. | 

„Wenn anders ihr die [göttliche] Oefonomir der Gnade 
Sotıes, welde mir am euch gegeben if, verfianden habt“ 
(irodoure). So Heißt dxovew oft, und dieſe Bebeutumg gibt fir du 
richtigſten Sinn. Dein wenn die Empfänger des Briefes die Miffion det | 
"Apoftels richtig ver ſte he n, fo erfennen fie Auch in, feiner "Gefangenfgaft 
einen integrirenden Theil dieſer feiner Miſſton, und wir wie Gott jelht 


Der Cꝛbeſðᷣrief. Be 


der ſich mit fo guohen Heszensinnigkeit und Liche ap Ggmeinden 
und Perfonen. anſchloß (ogl. heipnderg hie Korintherbriefe), ber 
flunmen, won felhen perfönlichen Voziehungen gänzlich ahzuſehen 


fe —* Hat. Dagegen gibt das bloße Hören von dieſer Miſſion noch 

bie gejscherie Erkeuntnis nit. Mon bem gegeumärligen Ghlpfkein 

bes. sösttärhen Foplonaprie feineß Atet — denn ag np hiefer en 

derſelben Tan Bier Die Mede fein — föritet up ber Apoſtel (®. 8ff 

zur hiſtoxiſchen Darlegung dieſer Orlonomie fort, bis er zu bemfelben 
Sghluhſtein (8. 18) zurudkehrt. 

4,21 wird aus den Worten eye adrew (Xgiorde) ıuoıisare geidloffen, 
def Hier Parlus feine Ungewißheit über die Art uud Weiſe dep Äußeren 
Uaterrigaia deiryg deſer gunlppicit Anger a. 4 O., S. 51), Die wenig 

Begrlndgt die Shtubfotge if, wird I am befen aus einer Erklärung 
An Zuſammenhange ergeben. Die Stelle fällt unter IT, 2 meiner Die- 
pofition: „Der — Waudel in Chriſto und im Gehe, nad) feinen 
Befensgügen, im Gegenjatge zu dem fleiſchlichen Wandel der Heiden." 17-82; 

Gedantengang bes Abſchnittse 

@ Der alit Wandel in der Nichigkeun des Sies (voös), fein Meilen 
ar feine Rehapsängerpug. 17-19. 

A. Dee angıe Manpel in Eprifto Mad feine negative (= Ahlegung bee 
alten Menſchen) und pofittoe (= Exneyerung und Aulegung des neuen 
Menfihen) Lehensäufierung. 20-24. Das genügt Hier für den Bufam- 


menhang. 
Bu Sutlärung vor b- 

88 if peimäßig, Aier yon Aer Eanfttuclion pes Acc. c. inf. Hae- 
‚Nasa Öpäs (B. 22) auszugehen. Es Hegt eine "dreifache Anknüpfung 
bei den Erklären vor: 1) an Adyw G. 17) bei Bengel; dieſe kann als 
ſedwidrig unbenditet Bleiben;' 2) an-&dıdigtnre dfo gemägnfich) pp hh. au 
oiBae dr a Tigsoü (legen). Mei dan beihau Tehten Conſtcachzomn 
i ⸗⸗⸗ ole gherunſis und gleig aufälfig, ja hei, Der ‚gefteren von Heiden 
wird Die Zufügung matürlicher wegen bes trennenden Zwiſchengliebes. Für 
den Gebanfen aber ift es richtiger, daß bie Weſensbeſtimmungen des Lebens 
Wu ı@geißo ınam Aauptiape ‚ahhfängig -rahhchhen, Ae zon ham, Besgleiche, 
Eadih vawinde iq.a.uᷣ dacac a dea ᷣoraonge Satan, Ezrift · 
dem. A, .2. 868) amit .begm vfnlasahenB- 22. Al disfe Wephiybung 
richt / anch der fehlende Arulel hei. Aiseie 

OSvwns mag dautet ‚bie Krigrung: Nhr abge hahet tzicht ho [jn ganz 
wderr Weilgl heim gefeunt, wenn guders ih ‚ihm ‚Hernommen habt 
!bmab as habt le dochl und ‚ie In «gefshtst sieh, agleiggwie ‚es Mohrheit 
Bilder Weisheit gemäß in]: ;heß.äke in Zeſen ih, ıhen ‚Gatknepichen, 
vor Augen und im Herzen und. fo jdn ‚ne: Sega] Mleget nach 

1 


320 eiene 


Wenn ich für dieſe Anſicht von weiterer Begründung und Angabe 
der Literatur gänzlich abſtehe, fo geſchieht es, weil. jede beſſert Ein- 
Teitung in das N. T. hier Aushülfe bietet und ich mich in dieſem 
Punkte nur als Referent der auch von mir als wahr erlannten 
Anſicht betrachte. 

Seinem Inhalte nach iſt alſo das Schreiben .an "alle Heiden» 
chriſten gerichtet und durfte deshalb auch in der Zufchrift demgemäß 
bezeichnet werden; aber der That nach konnte Paulus den Webers 
bringer Tychicus nur an beftimmte Gemeinden mit demfelben fchiden, 
Auf folche beftimmten Gemeinden weiſen num auch Eph. 6, 21.22 
und 1, 15 Hin, denn nur über beftimmte Gemeinden konnte Paulus 
nad 1, 15 Bericht erhalten Haben, und auch nur ſolchen die nö 
heren Aufſchluſſe über feine perfönlichen Angelegenheiten verſprechen, 
denn ein ſolches Verſprechen fegt natürlich ſtets ein erwartetes In- 
tereffe für diefelben voraus. Wir betrachten die Stellen näher, 
da es bie beiden einzigen find, die ein perfünfiches Verhältnis 
zwifchen dem Verfaffer und den Empfängern des Briefes andenten, 
und ihre Erflärung beftritten ift. Eph. 6, 21, 22 leiten den Schluß 
des Briefe ein und lauten: Tre da eldire zul Uneis za zur | 
du, Ti 96000, rävra Üuiv yvoglceı Töxıxog, 6 dyanıas 
adeAyös xal ni0ros didzovog Ev xuglo, Öv Ememipa zugos 
Ünäs eis adro roiro, va yvüre rd negl jucv xal mraga- 
xaldon rag xugdlas ünwv. Es handelt fi hier um die Er 
tlarung der Worte x oͤuetc, welche andere, die ſchon wiſſen, 
vorausfegt. Harleß (Einf. zum Commentar) verfteht darunter 
die Koloffer, am welche der Apoftel zuvor gefchrieben Habe, mit 
Bezugnahme auf Kol. 4, 7, welhem Wiefeler und Meyer 


dem früheren Wandel [mie diefer ihn forbert] ben alten Menſchen, der um 
kommt [dem etvigen Verderben entgegenfchreitet] nach ben Lüften ber Läu- 
ſchung [der für Wahrheit gehaltenen Lüge]; daß ihr dagegen erneuert werdet 
für den Geift eures Sinnes [vods vgl. 1Ror. 14, 14 d. 1. eures ethiſchen 
Dentens) und anziehet den neuen Menſchen, der nad) Gott geſchaffen if 
in Gerechtigkeit und Heifigkeit der Wahrheit.” — Kurz, es läßt fid aus 
dem Briefe fo wenig bie perfönliche Bekanntſchaft als die Unbelanutſchaft 
mit den Empfängern beiveifen, und das If ein Rarfer Veweis Dafür, da 
der Brief ein Collectivſchreiben it. _ 


Der Epheferbrief. 821 


gefolgt find. Es ergibt fi) denn daraus der Beweis, bag ber 
Kolofferbrief vor dem Epheferbrief gefchrieben fer. Die Vertreter 
diefer Anficht Halten alfo für möglich, daß Paulus in Erinnerung 
daran, daß er den Koloffern zuvor gefchrieben: „Alle meine Au—⸗ 
gelegenheiten wird euch Tychicus fund thun, dem ich zu biefem 
Ziele an euch geſchickt'habe“, jegt hier am Schluffe eines nachher 
an andere gefchriebenen Briefes ſchreibe: „Damit aber auch ihr 
wiſſet lwie die Koloffer, an die ich ſchon gefchrieben habe] u. f. w.“ 
Wie fange Zeit wollen wir denn dem Paulus zum Dictiren ber 
beiden Briefe geftatten? Geſchah es an einem Tage ober gar in 
einer Seffion mit wechſelnden Schreibern? Mir ſcheint es mehr 
als unwahrscheinlich, daß der Epheferbrief allein an einem Tage 
detirt wurde. Ich Tann nicht leugnen, daß diefe Erklärung mir 
eine pſychologiſche Unmöglichkeit für den Paulus einzuſchließen ſcheint. 
Und geſetzt, er hätte fo dictiren Tönnen, mußte er, beim Durchleſen 
des Gefchriebenen nicht einfehen, daß für die Lefer die Bezugnahme _ 
auf einen anderen, nicht an fie gefchriebenen Brief, und obenein in 
einer ſolchen Aeußerlichkeit, gänzlidy unverftändlih war? Die 
weite und nächſtliegende Erflärung ift: „Damit auch ihr [wie 
mdere- e8 tun] um meine Angelegenheiten wifjet.“ Dann bat 
vanlus freilich die Partikel „auch“, wie «8 oft im lebendigen Ger 
danlenaustauſch gefchieht,. gebraucht, wo fie überflüffig war und 
wegen Selbftverftändlichkeit richtiger fehlte. Wer da nicht zulaffen 
will, dem ‘bleibt eine dritte Erklärung aus ber Beziehung auf 
1,15 über. Dort fagt Paulus: Aıa roüro xdyd, dxovoag 
mv 209° Unäs nlorıv Ev 5 xvol® ’In0od xal zıv dykrııv 
mv els näveas wong dylovs, od Tradonar söxagiorüv öndg 
uucv xra. Hieraus geht hervor, daß Paulus einen Bericht gehört 
hatte über die Gemeinden, an welde er feinen Brief richtet (ob 
er bei. ihnen perſönlich befannt war ober nicht, bleibt ſich dabei 
völlig gleich), und daß er alfo auch wol gerade durch biefen Be— 
ticht zum Schreiben veranlaft worden ift. Da Tychieus der Ueber- 
bringer des Briefes an die Empfänger ift, jo war er natürlich 
auch der Ueberbringer der Nachrichten über die Gemeinden. Daß 
vaulus alfo gerade an der Stelle, wo er den Tychicus als Ueber⸗ 
bringer von Nachrichten über ſich anmeldet, auch der Nachrichten 


222 j Biete 


Aber bie Gtmeltiden gedankt, welche dieſer überbracht hat, iſt pfycho⸗ 
lotiſch durchaus · gerechtfertigt, fo daß 6, 21 wer Hurde ſich dillirt 
durch die Ergänzung: „mie ih über enre Angelogenheiten Kuude 
erhaltet Habe“. Unger (a. a. O.) ieift die Beziehung gurüd, 
weil die beiden Stellen zu weit von einander getrennt Feier; aber 
Einleitung und Schluß eines Briefes ober riner Abhandlung ftehen 
Ganz naturlich in eugerer Beziehung und mohnten vft auf rinander 
Rückſicht. Die Beyngnahme wlre ale nicht befremdlich, ſelbſt 


wenn der oben angefuhrte pfchologiſche Gratid der Gedankeaverbin⸗ 
buitg nicht vorläge. Reuß (Geſch. der Heil. Schrift N. TR) mim | 


Hefe Erllarung ih und auch ich muß mich dafür verthäheißen. 
Aeber beſtineme Gemeinden hatte alſo Paulas gerade einen Be⸗ 
ritht erhallen, und fir dieſe beſtimmten Gemeinden ſchreibt vr den 
Brief, aber fb, daß er ſich nur am bie Heldenchriſten in ihnen 
wendet. Wellhes didfe beſtimmten Gemeinden find, darüber befugt 
der Brief ſelbſt nichts. Wir muſſen uns alſo, um dies zu er 
imitkeln, 'ndch anderen Zeugniſſen umſehen. Solche finden ſich mun 
für Epheſus uund Phobien. Zugleich fleht idurch den Brief am die 
Noͤloſſer feft, duß Koloſſti micht unter dieſen war. Fur Epheſus 
jeugt die kirchliche Tradition, welche ſich bis auf Ignatius „urüd⸗ 
> führen fügt, ud wir Haben feinen Grund, dieſe ‚Gemeinde als 
Mitbeſtimniungsott eines Collectivſchreibens amazufchfisgen, yumml 
wenn die Beſthrankung der ·Beſtimmung für ‚die Heidenchriften in 
"Ser Zuſchrlft urisgeſprochen "war, während die Weſchaffenheit ide 
Btriefes die Ammahme micht geſtattet, daß :der «Brief am bie dem 
Appftel petſönlich fo nahe stehende Gemeinde allein gerichtet war 
Fur die "Gemeinde zur -Laodicen haben wir das Zeugnis des Hüre- 
rikers Markion, der dei ferner Behauptung, der Brief ſei nicht an 
die! Epheſer, ſondern an dieLaodicener gerichtet, wicht durch dag: 
inatiſche Gtunde beſtimmt ſein konute. Dazu kommt, daß die Be 
tbeisgrunde des Marcion, welchen Tertullian mit der Ahrchorität. der 
tchlichen Ueberlieferung bekämpft,  aufı'diefon den Eindruck machten, 
als Wolle der 'Häketifer auch in ber Herſtellung Aber · Ueberſchuft 
‘als ein ſehr forgialtiger - Umterfucher /erfcheinen ;{&f."cuntr. Marc. 
5, 17). Va "Feine ‚Gründe ' für "die Baddieener ‚als Beſtimmungs ⸗ 





"ort des Briefes henuſſen 08 boch ·wol sgtivefen: fein, Wwelche demTere | 


Der Cyheſerbrief. 228 


tullian eine weitere Nachfrage über die Sache in Epheſus felbft 
wunſchenswerth erfcheinen Tießen, denn gerade über diefen Punkt 
Inte er dort am Leichteften Aufichluß erwarten (cf. De praescrib. 
haer. 36: „Si potes in Africam tendere, habes Ephesum ete.““), 
aämlidh) um dort das Urkundliche über Paulus zu erfahren, wie in 
jetem apoftofifchen Orte thunlich fei, wo ein eigener Brief des 
Moftels vorgelefen werde *). Wir dürfen alfo wol mit Recht ver- 
muthen, daß er .thatfächliche Angaben für feine Behauptung vor» 
brachte. Die ſchlagendſte wäre, wenn er felbft in Laodicen das 
Originalſchreiben, mit der Handichrift des Paulus beglaubigt, ge⸗ 
fehen zu haben vorgab. Und diefes Factum wäre durchaus nicht 
unglaublich, wenn Epheſus die erfte, Laodicea die Ießte der Ge 
meinden war, an welche Tychicus den Brief überbringen follte. 
Schhftperftändlih (vgl. oben, S. 297) konnte erſt die letzte Ger 
meinde den Originalbrief behalten, während die früheren fich felbft 
Abhſchrift nahmen, weil jede der beglaubigenden Handſchrift des 
Apoſtels zuvor bedurfte. 

Zu diefer Vorausfegung ftimmt nun vortrefflich, was wir Kol. 
4, 16 lefen: Kai drav dvayvacdij rag’ üniv 7 Enuorvoln, 
nomjoare iva xal Ev di) Aavdırdav Exximolg dvayvacdl, 
zul ınv dx Aaodızelas va xal Önsis avayvüre d). Feſt fteht 
bier, daß 7 ZrsoroAr; der vorliegende Brief an die Koloſſer if, 
von dem fie bewirken follen, daß er auch in ber Gemeinde der 
Laodicener vorgelefen werde. Das thun fie durch Ertheifung einer 
Abſchrift oder dadurch, daß fie die Laodicener Abſchrift nehmen 
laſſen. Sie follen nun zweitens bewirken, daf auch fie felbft den 
Brief aus Laodicen in ihrer Gemeinde (diefer Zufag ergibt 
fi aus den vorhergehenden Worten von felbft) vorlefen. Zwei» 


a) beider Habe ich mir wicht mehr über die Stelle notirt und bin zur Zeit 
nicht in der Lage, abermals nachzuſchlagen. 

b) Anger (a. a. DO.) nimmt von der Behandfung dieſer Stelle den Ausgang 
feiner Unterſuchung. Dort findet man die Berüdfichtigung aller möglichen 
Erklärungen und die Berüdfihtigung: der Literatur, wofle ich auf Anger 
verweife. Seine Schrift vorzugsiweife gefattet mir bie faft rein fachliche 
Behandlung meiner ganzen Aufgabe, welche ihre eigentümlichen Vorzüge 
bietet, fobald dem Verfaſſer die andermeitigen Anfichten nicht unbelannt find. 


824 Kiene 


tens darf ich als natürlich und anerkannt betrachten, daß auch 
diefer zweite Brief ans Laodicen ein Brief des Paulus ift. Der 
Brief eines anderen Verfaſſers mußte genauer bezeichnet werden. 
Auch Konnte der Brief nicht fpeciell an die Raodicener gerichtet fein, 
fonft war die felbfterftändliche Ausbrudsform wmv eds vos 
Acodızsis. Aber ber beftimmte Artikel. =7v dx Aaodızelas 
ſetzt ferner einen den Koloffern befannten Brief voraus, von dem 
fie nicht erft durch diefen Brief und diefe Worte Kunde erhielten, 
das fordert unbedingt der Gebrauch des beftimmten Artikels. Darum 
ann es fein Brief fein, welchen Thchicus, gerade von Laodicea 
nach Kolofjä auf diefer Reife kommend, dort überreicht hatte, denn 
von einem ſolchen brachte ja diefer Brief und Tychicus bie erfte 
Nachricht. Nach allem diefem ift die wortgenaue und natürliche 
Erklärung: facite ut epistolam, quam ex Laodicenis habetis, 
vos quoque in ecelesia recitetis. Diefe Erffärung muß id für 
die ſprachlich correcte erklären, obgleich mir niemand, der fo erffärt, | 
befannt ift, und alfgemein an einen Brief gedacht wird, den ſich 
die Kolofjer erft von Laodicea verſchaffen ſollen. Indes hat diee 
Differenz der Erklärung nur für das Zeitverhäftnis beider Briefe 
zu einander Wichtigkeit, nicht für die Feſtſtellung der Frage, weldes 
der Brief des Apoftels fei, den die Koloſſer aus Laodicea bereits 
Haben oder ſich noch verfchaffen follen. Bringen wir num den In: 
Halt diefer Stelle in Verbindung mit den früher gewonnenen Res 
fultaten, fo einigt fi damit nur die Annahme, daß der Brief aus 
Laodicea unfer Epheferbrief ift. Der Umftand, daß er zuerft nad ı 
Epheſus überbracht wurde, in Verbindung mit der Wichtigkeit diefer 
apoftolifchen Gemeinde, wurde natürliche Veranlaffung der kirchlichen 
Tradition über feine Beftimmung; bon dort brachte ihn Tychicus 
zu dem übrigen Gemeinden und ſchließlich nach Laodicea, wo ber 
Originalbrief zurüicblieb. Kolofjä konnte nicht zu diefen Gemeinden 
gehören, weil der Brief fonft auch dorthin von Tychicus überbradt 
wäre. Die Gemeinde ftand alfo bis dahin wol nicht in perfün« 
licher Beziehung zum Apoftel Paulus, noch konnte fie zu denen 
gehören, über welche Tychicus demfelben Bericht erftattet und da⸗ 
durch den Epheferbrief veranfaßt Hatte. Aber Epaphras, ein eifriger 
Ehrift und Lehrer zu Koloffä, vielleiht Begründer der Gemeinde, 











Der Epheferörie. 95 


mußte durch feine perſönliche Beziehung zur Gemeinde in Laodicea 
(fol. 4, 13) fofort Keuntnis von dem Briefe erlangen und in 
ihm ein wichtiges Mittel zur Bekümpfung der Irrlehren in feiner 
Gemeinde erkennen *). Konnte er num durch feinen Einfluß alfein 
gegen die Irrlehrer nicht erlangen, daß der Brief zum Gegenftand 
der Borlefung in der Gemeinde gemacht wurde, fo erflärt ſich 
daraus feine Reiſe zum Paulus nach Rom, vielleicht mit dem zu- 
rücllehrenden Tychicus. Sein Bericht und feine Tütchtigkeit erwirkte 
dann den Brief des Paulus an die Koloſſer und die 4, 16 enthal« 
tene Ermahnung, welche durch den befonderen Brief und die Auctori» 
tät bes Heidenapoftels, der hiermit die Gemeinde in den Kreis feiner 
perfönlichen Wirkfamfeit zog, großen Nahdrud erhalten mußte. 
Gegen die hier verſuchte Combination erhebt fih nun die faft 
allgemein angenommene Gfeichzeitigfeit der Abfaffung beider Briefe ®). 
Grund für diefe Anficht ift die Verwandtſchaft beider Briefe nad 
Inhalt und Ausbrud, welche felbft zu vielen Parallelftellen beider 
Briefe führt. Indes findet fi auch große Verſchiedenheit beider 
Briefe, und Gewohnheit des Lehrens führt Teicht zu feften Lehr 
formen, befonders mo es fi um Furze Zufammenfaffung handelt. 
Daher läßt ſich ein faft gleichlantender Ausdruck, z. B. in der 
Aufftellung fittliher Normen, wie in der Haustafel, auch als 
mögfic anerkennen, wenn die Briefe nur in demfelben Halbjahr 
geſchrieben find. Die Unterfuhung über diefe Frage muß ich hier 
aus fubjectiven und objectiven Gründen zurüdtweifen; aus fubjer- 
tiven, weil meine eigenen Vorarbeiten dafür noch nicht abgefchloffen 
find, aus objectiven, weil diefe Unterfuchung beffer eine felbftändige 
Abhandlung ausmacht. Nur darf man bei diefer fehwierigften alfer 
Fragen nicht von der Vorausfegung ausgehen, als ob hier Diffe- 
renzen und Gleichheiten an fi fchon etwas bemiefen. Derfelbe 
Mann kann beim Angriff eines neuen Lehrobjects, wie das regnum 
Christi im Epheſerbriefe, fich mit der neuen Gedankenentwickelung 
auch neuer Worte. bedienen zu derjelben Zeit, und in ganz verjchier 


8) Bol. Neander, Geſch. der apoſt. Zeit, ©. 895 ff. 

b) Nur Böttger (Beitr. III, ©. 51) nimmt an, daß ber fogenannte Ephefer- 
brief ſchon auf einer früheren Reife zu Laodicen zurüdgelaffen fei, als bei 
Ueberbringung des Kolofferhriefes. 


226 Kent 


dener Zeit gleiche Wendungen für biefelben Gedanken gehranden. 
Die conereten Fälle find zu erwägen. So 3. B. konnte die für 
zere Haustafel im Kolofjerbriefe (3, 18—22), trog ihrer aus 
führliheren Parallelen im Epheferbriefe, Jahre fpäter geſchrieben 
fein, wenngleih Paulus feinen Epheferbrief nie wieder vor Augen 
gehabt, und mit noch wenigeren Abweichungen der Reihenfolge und 
de8 Ausdruchks. Die berührten Lebensverhältnife find zw wichtig, 
um nicht häufige Ermahnungen der Art nöthig zu machen, und hier 
find gerade ftereotype Mahnungsformen wirkſam und eindrudsvoll; 
darum find fie eine Kunft und ein Vorzug des Lehrenden. Mir 
ſcheint, fo viel ich bis jegt erfenne, die Verwandtfchaft beider Briefe 
nicht auszuſchließen, daß der Koloſſerbrief ein Vierteljahr, ſelbſt 
ein Halbjahr fpäter gefchrieben wurde, und diefe Zeit reichte zu 
‚einer zweiten Reife des Tychicus zwifchen Rom und Kleinaſien aus. 
Beide Reifen konnten recht gut in denfelben Sommer fallen. Das 
empfiehlt. jogar die oben borausgeſetzte Situation. 

Gegen die gleichzeitige Weberfendung beider Briefe. fpricht aber 
nicht allein Kol. 4, 16, fondern aud) die Unwghrſcheinlichkeit der 
Sache an ſich. Wenn der Kofofferbrief wirklich eine. jo große 
Aehnlichkeit des Inhaltes ‚befigt, wie man doch behauptet, wenn 
manche. Gelehrte ſogar den Epejerbrief nur als eine erweiterte und 
verwäfferte Nachbildung des erfteren gehalten haben, ja wenn die 
Achnlichkeit beider Briefe auch nur fo groß ift, um ſolche Meinungen 
hei Scharffinnigen Männern möglih zu machen; welden Grund 
Konnte dann der Apoftel haben, die Gemeinde zu Kolofjä von dem 
Colfectiofchreiben auszufchließen, während das nahegelegene Laodicea 
bei wahrſcheinlich gleichen inneren Verhältniſſen eingefchlofjen war? 
Man antworte nicht: weil die Kolofjer einen befonderen Brief ers 


hielten. Wir wiffen ja eben nicht, ob das gleichzeitig der Fall war | 


‚oder nicht; wir fragen alfo wieder, warum ſchrieb deun Paulus 
‚einen befonderen Brief an die Kolofjer, in dem er doch nur wer 
ſentlich dasjelbe fagt? Das bleibt doch immer auffallend, während 
ſelbſt die ihm fo nahe ftehende epheſiniſche Gemeinde Keinen befon- 


deren Brief erhielt. Und mehr als das, warum -follten gerade die 
Koloffer fi den Brief von Laodicea holen, während Tychicus den 


übrigen Gemeinden den Brief überbrachte uud fie Ahichriften nehmen 


Der Eohefecbrie, 897 


leß. Gelbft wenn bie Moloffer noch einen befonberen Brief außer- 
dem empfingen, blieb dennoch die gleiche Behandlung mit den übrigen 
Gemeinden in Betreff des auch für fie beftinsmten Collectivſchreibeus 
36 Natürliche. Die Sache felbft, wie der ſprachliche Ausdrud 
Rol, 4, 16, fordern alſo gleichmäßig die Ueberſendung des Koloſſer⸗ 
bricfes auf einer anderen zeiten Meife des Tychicus. 

Epheſus war die erſte, Saodicen die legte der Gemeinden, an 
welche Tychicus das Sendfchreiben des Heidenapofteld an die Heiden 
iberbtachte. Das erinnert und an die fieben Gemeinden der 
Offenbarung des Johannes, nom ‚denen ebenfalls Epheſus als die 
erſte, Randicea als letzte erfcheint. Grund der Zufammenftellung 
biefee Gemeinden sin der Apolalypſe ift offenbar ein unter ihnen 
beftchender engerer Berband mit der apoftöfifchen Gemeinde zu 
Epheſus, die durch den Aufenthalt des Johannes zu Ephefus ein 
aur :größenss Gewicht unter den enger ‚mit ihr verbundenen Ger 
meinden erlangen mußte. Ein engerer Gemeindeverband. mit Ephe- 
ſus war ſicherlich auch der "Grund, weshalb Paulus ‚über diefelben 
durch Tychicus seinen gemeinfamen ‚Bericht erhielt und ein gemein 
ſames Sthretben an fie wihtete, worin der Heidenapoftel fein Ber- 
mähtnis .an bie Heiden niedergelegt Hat. Die Vermuthung Tiegt 
alſo nahe, ‘daß ſchon zur Zeit, «al Paulus jeinen Brief ſchrich, 
wa dieſelben "Gemeinden im "folder Verbindung mit Epheſus 
fanden, und dag an diefe jenes Schreiben überbracht worden ift. 

Wir Haben ‚im -Eingange dieſer Abhandlung im Ignatius von 

Arntiochien (ad 'Ephes. 12) ‘den äfteften Zeugen für einen Brief 
des Baulus. an die Ephefer erkannt. Pie verhält fi nun ‚diefe 
Krleuntais zu ‚maferem Schlußreſultat? Tritt jene Stelle des 
gnatius deuiſelben "hiadernd und befehränfend entgegen? Oder 
erhält fie ſelbſt größeres Licht dadurch, daß fie vielleicht als 
Deſtatigung dienen Ton? Ich halte das Letztere für richtig und 
tomme daher noch "einmal auf die ‚Stelle guräd. ’Zawlov ovn- 
— Tod Nyiaausvov ....ds Ev mdon Emuorolf um 
ımovadies Haste leſen wir „hort, und ‚haben oben dafür die Er⸗ 
flärung gefunden: „welcher mit ‚einem ganzen-®riefe enrer- eingebent 
ft. Auch für diefen Ausdruck wäre der correctere „mit einem 
äigenen (HE) Briefe“, falls Ignatius fo ſchreiben konnte, er 


828 Kiene, Der Epfeferbrief. 


durfte es aber nicht, wenn er wußte, daß der Brief nicht an die 
Ephefer allein gerichtet, fondern ein Collectivſchreiben war. Diefer 
Umftand würde den fonft befremdfichen Ausdruck motiviren. reis 
lich darf man auf ein rein ftififtifches Moment Leine wiſſenſchaft⸗ 
liche Deduction bauen, doch mag es immer als mitwirkender Factor 
gelten. Dem fei aber wie ihm wolle, die Worte des Ignatius 
bleiben richtig, aud wenn der Thatbeftand war, wie es fich hir 
ergeben Bat. 


Raqhſchrift. 

Obgleich der Ort der Abfaffung nicht in den Umfang dieſer Abhandlung gr 
hört, fo wirft doch die Tradition, baf der Brief in Rom gejdjeieben fei, it 
Licht auch auf einzelne Punkte diefer jurld, wie fie von ihr aus Licht empfängt; 
ich füge daher noch eine kurze, dahin ſchlagende Bemerkung bei. 

Athanaſius (Opp. III, p. 194 ed. Bened.) fagt: Tadıny Enoröllsı ano 
Pouns, oöne udv adrovs dmgexeis, dxolaug dR udvor mag) aurar (sc. tür 
Epeoia). Daraus folgt zweierlei: erftens, daß Athanafins die Abrefie bi 
Briefes gegen den Einwand zu rechtfertigen fucht, er fei, nad; feiner Beldaflen- 
Seit, an ihm perfönfich unbefannte Empfänger gerichtet. Ein folder Einwand 
kann aber nur von Marcion und den Marcioniten erhoben fein, welche allen 
den Brief als an bie Laodicener gerichtet überfieferten und bamit ber Tradition, 
der Kirche entgegentvaten. Vergleichen wir nun bie oben beſprochenen Stellen 
des Teriullian gegen den Marcion, fo Tonnen wir wol mit Recht ſchliehen, deh 
fich Bier einer der von Marcion fir feine Anficht erhobenen Grunde erlennen 
Le Athanaſius fühlte noch das Bedürfnis, gegen folde Grünbe die Urder- 
Tieferung ber Kicche zu verteidigen; Theodoret hatte es im fünften Jahrhundert 
nicht mehe, denn er fagt (praef. ad Eph. und zu 1, 16) nad; Ermähnung 
der Anfiht Einiger, daß Panfus den Brief an die Eoheer gefchrieben Gakt, 
the er fie geſehen Hätte: dAA’ 7 70» Anonrolzeiv noafewr Ioropla raurur 
Awäs ouderegov diddaxeı. Zu den erwähnten Vertretern biefer Anficht gefürt 
aud) Euthalius bei Zaccagıi in Collect. mon. vet. eccl., p. 524. Diefe Ar 
ſicht führte danm zur Annahme einer dritten oder vielmehe erften römifhen 
Baer be des Paulus, welde ſonſt unbezengt ift und gegen bie Gefdjchte 
d t. 

Zweitens mußte dem Athanaſius eine Ueberlieferung vorliegen, daß der 
Spheferbrief aus der römifhen Gefangenfchaft des Apoftels herrithrte, deua 
ex hatte feinen Grund, die Teste bezeugie Gefangenſchaft des Paulus zu ver 
mutben, da ihm daran Tiegen mußte, ben Brief fo früh als möglich anı- 
fegen. Eine ſolche Ueberfieferung des Ortes der Abfaffung darf aber nicht gering 
angeſchlagen werden. Daß die Reſultate unſerer Unterſuchung fich mel damit 
einigen, brauche ich nicht weiter nachzuweiſen. 





Gednuten und Bemerkungen. 


1. 


Pſychologiſch⸗ woraliſche Bentertuigen 
mit Bezug auf die Geſchichte und Lehre vom Sundeufalle. 
Von 


D. x. Sad. 





Dan Hat von berſchiedenen Selten gefhgt, die bibliſche Geſchichte 
vom Sundeufaͤlle wiederhole ſich ih einem jeden Menſchen, und da⸗ 
durch werde die Wahrheit derſelben beftätigt. Sinnlichteit unb 
Hoffart, die lehtere als Hodmithiges Wiſſenwollen, ſeien fa noch 
iminer die beiden Hauptreize zum Sundigen; und wenn ſchokaſtiſche 
Theologen darüber geſtritten Haben, ob die Sunde Adams guln 
oder superbia geweſen ſei: fo Haben doch auch die, weiche das 
Eine oder das Andere behanpteten, anerkennen müffen, daß die eine 
Sünde ſich Häufig mit Ser anderen verbinde. Aus Beobachtungen 
diefer Art ‚dlten kann nun zwar "bie Wahrheit der bibliſchen Er⸗ 
jahlurig nicht erwieſen, noch die Entftehung der Sande der erſten 
Menſche achend Begriffen Merdeh, da das im uns, hren Nach⸗ 
Yominen, Vorgehende inſofern immer ein anderes iſt, als wir mit 
eiiein Hange zum Uittedit, das Sünde ift, ſchon heboten werden, 
alfo jede Hok außen kommende Verſuchnntg zur Luſt / dder zur Hoffakt 
iminer anknupft an die innere Meigung, was bei Autfeten erften 
Eltern nicht der Fall war, noch fein konnte, werm man nicht /ben 
Schöpfer zuin Urheber der Sunbe indie tbill, was mach gefucden 





832 , Sad 


theiſtiſchen Begriffen abfolut abgewehrt werden muß. Deſſen⸗ 
ungeachtet wird wol fein fchärfer Denfender die Analogie des in 
der Seele des erwachſenen Menfchen, wie in der des Kindes, fih 
Ereignenden mit dem in Betreff der erften Sünde Weberlieferten 
für unbedeutend, d. 5. unwichtig für das Verftändnis des dritten 
Kapitels der Genefis, erachten. Und wenn es ſich zeigen follte, 
daß die pfychologifche Beobachtung über ben Reiz zur Webertretung 
des göttlichen Gebots und Rechts noch weiter fortgejegt, fchärfer 
gefaßt oder tiefer erkannt werden könnte: fo würde auch die An- 
nahme nicht zu Kühn fein, dag das Verftändnis ber biblifchen Er⸗ 
zahlung erweitert und das Vertrauen auf deren Wahrheit dadurch 
in einem gewiſſen Grabe geftärkt werden Könnte, 

Die folgenden Bemerkungen wollen ein Verfuch fein, bie Elemente 
des fündlihen Neizes, wie fie fich fortwährend in der Seele jedes 
Sündigenden finden, ganz abgefehen von der Größe oder Gering 
fügigfeit des Aeußerlichwerdens der Sünde, mehr einheitlich aufzu⸗ 
faſſen, als meines Wiſſens bisher gefchehen ift. 

1) Daß die Sünde nichts anderes fei als unordentliche Sinn 
lichkeit, die das Uebergewicht über die Vernunft gewonnen Hat, muß 
ſchon nach jeder ‚gründlicheren Erfahrung geleugnet werden. Nicht 
bloß in Erwachſenen findet fich jede ſinnliche Uebertretung mehr 
ober minder gepaart mit Selbfterhöhung, Stolz und Haß, fondern 
ſchon bei Kindern ift der finnliche Eigenwille wenigftens mit einem 
Minimum jener unfinnlichen Regungen gegen das Gefeg und die 
Idee des Guten verbunden; Cigenfinn und Trog Tatitiren auch 
da ſchon unter dem ſinnlichen Gelüften, wie denn aud oft dieſes 
ſich geringer zeigt, als der Trieb, das Verbotene zu thun, bloß 
weil es verboten ift. Woher num kommt diefer Zufag von Stolz 
und Selbfterhöhung zur finnlihen Sünde, da diefe, die unordents 
liche Sinnlichkeit einmal vorausgejegt, für fich ſchon dahin zu führen 
ſcheint, das Böfe zu thun, und da fie an fich nicht Selbfterhöhung, 
fondern nur in’8 Gewiffen fallende Selbfterniedrigung zu fein ſcheint? 
Daher kommt er, fagen wir, weil in jeder Sinnlichkeitsfünde wer 
ſentlich und urfpränglid ein Nez zum Wiffen, zum Erfahren 
wollen, zum Erproben Tiegt, wie es fi denn wol verhafte mit 
dem ſinnlichen Mebertveten des fittfichen Gebots, was denn eigentlich 


Plychologiſch · moraliſche Bemerkungen. 838 


dabei Herausfommen werbe, und ob es denn wahr fei, bag üble 
Folgen für. Seele und Leben davon zu erwarten feien. Diefer 
Reiz des Wiffenwollens ift immer ein Wiffenwollen um das Gute 
und Böfe, unter der vorausgeſetzten Möglichkeit, das verbotene 
finnfihe Böfe fei im Grunde fein Böfes, fondern ebenfalls ein 
Gutes, nur eime andere Art des Guten, als melde das Geſetz 
gebietet. Hierin liegt dann auch die Vorausfegung, das gebotene 
Gute fei vielleicht ſelbſt eine Art des Böfen, oder mit anderen 
Vorten: Gutes und Böfes im Bereiche finnlicher Handlungen fei 
gar nicht weſentlich verſchieden, wenigften® fei es des Verſuchs werth, 
durch ‚Erfahrung das verbotene Sinnliche kennen zu fernen, ob es 
vielleicht nicht böfe fei, und alfo mit Unrecht verboten. Dieſer 
Reiz des Wiffenwolfens, der fich bis in die feheinbar kleinſten, wie 
die größten finnlichen Uebertretungen verfolgen läßt, ift num am ſich 
ſchon wefentlih Hochmuth, Selbfterhöhung, Seldfterhebung über 
das von Gott, oder doch von einem über uns ftehenden Weſen, 
uns gegebene, in unferem Gewiſſen ſich anfündigende Gefeg, ein 
Streben, unabhängig zu fein durch Wiffen, Erfahren und Erkennen. 
Je unerfahrener über Gott und das Gute, je ummwiffender und 
findifcher der finnlich jündigende Menſch ift: defto geringer ift die 
Sünde im Nachgeben gegen dieſen Wiffensreiz; je entwickelter das 
Denken, Erfahren und Urtheilen eines Menſchen im ganzen ift: 
defto größer ift feine finnliche Sünde; aber in beiden Fällen ift fie 
weſentlich zugleich Stolz und Unabhängigfeitsftreben. Die Sinn- 
lichkeitsſünde des gereiften Menſchen ift gewöhnlich auch fichtbar 
Trog und Stolz; der böfe Wifjensreiz des Kindes in feiner finn- 
lichen Uebertretung ift mehr Neugier, Kechheit, zugleich Regung der 
Denktraft, immer aber auch Selbfterhöhung. Eine ſinnliche Sünde 
ohne Wiffensreiz von Seiten eines nicht irrfinnigen Menfchen läßt 
ſich gar nicht denfen. 

2) Forſchen wir nun auf der anderen Seite nad) dem Weſen 
der oft ſcheinbar ganz ifolirt erfeheinenden Sünden der Selbfterhöhung 
und Selbftüberhedung, fo find fie nicht nur, was jeder zugeben 
wird, an und für fid ein vermefjenes Denten des Subjects über 
ſich felbft und die Dinge, ein hochmüthiges Selbftbewußtjein und 
infofern die Befriedigung eines unreinen Wiffenstriebes (denn auch 

Theol. Stud. Jahrg. 1869. 22 


Sad 


äußerliche Gewalthandlung kann ohne eine foldhe innere Selhft- 
hung ſich nicht vollziehen), fondern fie find auch, und darauf 
mt e8 hier an, immer weſentlich und urfprüngfich fündige Sinn- 
at und Genußfudt. Denn von jedem Denken über fih 
t und die Welt, welches der Menſch außerhalb des Lebens 
Bott, fih losmachend von der ftärfer oder ſchwächer ſich ihm 
ndigenden fittfichen Notwendigkeit, Gott und fein Geſetz zu⸗ 
h und zu oberft zu denfen, vollzieht, verfpricht ſich der Menſch 
Selbftgefühl, einen Selbftgenuß, der, wie abftract auch diefes 
ten und Sichdenfen auch fei, immer weſentlich ein finnfiger 
weil die geiftige Kraft des Menſchen, fein ganzes Denken, ge 
en wird von feiner feelifch - leiblichen Individualität, von dieſer 
chloſſen ift. Da num die felbftifche, unordentliche Weberfpannung 
ıd einer. Seite des menſchlichen Selbftgefühl® auch die andere 
rankhafte Aufregung mit hineinzieht, ja ſchon ausgeht von der 
erbten Wurzel, dem alterirten Centrum des menjchlichen Wefens: 
ft das falfche Denken des Hochmüthigen immer zugleich finnlihe 
in ihm, fei fie feiner oder gröber. Hieraus erklärt ſich, daß 
ſeits ein ftolzes Denken von fich felbft ftets mit Eitelkeit ver- 
ven ift, die, wie fein fie fei, doch ein finnliches Wohlgefallen 
yem Nichtigen der Eriftenz ift, andererfeits, daß Menfchen von 
er, aber mit Selbftüberhebung geübter Denffraft oftmals fogar 
ı Zrog aud auf ihre phufifche Kraft zeigen, und micht ſelten 
zu finnfihen Ausfchweifungen geneigt find, wie die Lebende 
ichte fo vieler genialen Menjchen im Fünftlerifchen Gebiet und 
inem politijchen Nevolutiongzeitalter und dies vor Augen ftellt. 
t eg nicht auch im geſelligen Reben, fofern es von religiöfer 
lichkeit nicht getragen wird, in weltlich-geiſtreichen Kreifen eine 
ige Schwelgerei, in der das finnlich- fündige Element, wie ver: 
rt oder verhüfft, gehegt wird? Die Sinnlickeitsfünde ift alſo 
blog verbunden mit der Sünde des hodmüthigen Denkens, 
zen fie ift immer weſentlich mit in diefer. Dies gilt ſowol 
abftracten Denken, wenn es vermefjen ift, als von dem em 
hen und praftifchen Urtheilen, wenn die Gegenftände desfelben 
reine Selbftlofigfeit, mit mehr oder minder willkürlich « fub- 
‚en Vorausfegungen, mit Vorurtheil oder täuſchender Einbil- 


Vſychologiſch - moraliſche Bemerkungen. 88 


igekraft in's Auge gefaßt werden. Hieraus folgt zugleich, da 
8 vermeffene Wiffenwollen, wie es an ſich unrecht und fündi, 
weil e8 eine Losreißung von dem Leben und Denken in Got 
dem Guten feines Geſetzes ift, eine Richtung auf ein folde 
ſſen um das Böfe in fich fchließt, wobei diefes mehr oder minde 
dem Guten gleichgeftellt, indem die Vorftellung gehegt wird 
fei eigentlich nicht böfe oder doch nicht ſchlechthin böfe, fonderı 
etwa weniger gut als das entgegengejegte Gute; dieſes fei aljı 
gewiſſem Maße aud das Böfe, weil ebenfo, wie diefes, Uebe 
Folge Habend. Hierans erklärt fi, daß die vermefjenften uni 
figiöfeften Geftalten des Wiffenwollens, der abfolute Pantheis 
8 und der ſyſtematiſch-conſequente Materialiemus, den Sag bei 
htunterfchiebenfeins des Guten und Böfen in fic fließen. 

3) Die pſychologiſche Betrachtung der Sünde, wie fie noch täglid 
menfchlichen Seelen ſich ereignet, gibt alfo, von beiden Seiten 
‚ der Sinnlichkeit und des Hochmuths, dasfelbe Reſultat, näm 
daß Sinnlichkeit und Selbfterhöhung nicht zufällig oder fucceffir 
mit einander verbinden, fondern daß fie urſprünglich und we: 
ih eins feien, eine Sünde, ein Unrecht, ein Gottwidriges 
hes nur, je nach der individuellen Anlage der einzelnen Menfchen 
auch nach den ihnen von außen entgegentretenden Verfuchungen 
dem einen mehr als finnliche Herabwürdigung, bei dem anderer 
r al8 vermefjene Selbfterhöhung Hervortritt. Was ift nun das 
heitliche von beiden, und wie tft e8 zu bezeichnen? Es ift dis 
he Vorftellung, der unwahre Gedanke, das ungöttliche Sich 
twollen vermittelft eines Wahns: dies ift die gemeinſchaftlich 
rzel jedes Heraustretens aus dem der menfchlichen Seele inner 
und äußerlich zum Bewußtfein gefommenen göttlichen Willen 
ein folches Vorftellen, diefes verfehrte Denken, dieje ungöttlich 
lensbewegung (denn jedes Denken participirt auch an einer ſolchen 
m auch nur als Gewährenlaffen einer Einwirkung auf unferı 
Sinne) in den Menſchen komme und gelommen fei: dies wirt 
niemal® aus einer empirifch zu beobachtenden Einwirkung dei 
enwelt auf feine Seele erklären lafjen. Denn die materiell 
jenwelt veicht feine Verſuchung zu fündigen Gedanken dar, went 
t der Zunder dazu fehon in der Seele ift. Die Verführung 

22* 


Sad 


Menſchen durch den anderen fett ſchon das Böfe in der 
hlichen Gattung voraus, jchiebt alſo die Frage nur weiter 
8. Weil alfo das Behaftetjein mit dem faljchen Vorſtellen, 
er Unwahrheit, mit Lüge und Sünde im weiteften Sinne des 
28, wenn auch nur als Unvermeiblichkeit eines Minimum, in 
Menschen dur Abftammung von Vater und Mutter vor- 
ven wird: fo weifen die Thatfachen nicht bloß den theologifchen, 
m auch den philoſophiſchen Denker mit Nothwendigkeit auf die 
Sünde der Menfchen, d. h. auf die Sünde der erften Menfchen, 

Da wir aber um diefe nicht nur nicht durch Beobachtung 
wiffen können, fondern aud der Fall megen” ber nothwendig 
aſtens von Theologen und Theiften) anzunehmenden Unſchuld 
tften Menfchen ein anderer ift, als bei den mit fündiger 
äche. geborenen Menjchen: fo kann es bei dem Zurückgehen 
ie bibliſche Weberlieferung vom Sündenfalle nur darauf an- 
en: 1) inwiefern die darin enthaltenen Züge von dem Ver— 
der erften Menfchen eine Analogie darbieten mit dem noch 
n dem fündigenden Menfchen fich Ereignenden; und 2) wenn 
Analogie anerkannt werden muß: in welchem Maße dadurd 
ußer der Gleichheit mit den Verfuchungen, die und begegnen, 
Berichtete dadurch an Glaubwürdigkeit gewinne oder verliere. 


eſe Fragen kürzlich in's Auge zu faffen, mit genauer Ans 
ung an das bisher Erfannte, verfuchen wir in Folgenden: 

Der Zuftand der erften Menfchen kann nur gedacht werden 
ne vollfommene Unſchuld innerhalb. des ihrer Natur mit- 
nen Bewußtſeins von Gott als dem guten Schöpfer und 
ihrer und der fie umgebenden Natur: Unfchuld, welcher das 
ätfein einwohnte, duch fortwährendes Leben und Bleiben in 
and feinem Willen, fowol zum fortfcreitenden Wiffen um 
ils zum wachſenden Genuffe alles Erfreuenden gelangen zu 
und zu follen. Gemäß diefem Zuftande gab es für die 
Menfchen eine befriedigende Einheit ihres Wiffens um Gott, 
dft uud die Natur, und ihrer Freude an Gott, ſich felbit 
er Natur. Es gab feinen Gegenfag »zwijchen Natürlichem 


Vſychologiſch · moraliſche Bemerkungen.“ 337 


Uebernatürlichem für fie, weil bie Natur in allem ihnen Gottes 
te und Weisheit abjpiegelte. Es gab ein Wiffen um das fittlich 
te nur als um ihr perfönlices Bleiben in Gottes Willen; es 
ein Wiffen um das Böfe nur als um die von Gott gewolfte 
rante ihres Thuns; und diefe Schranke, durch ein Verbot bes 
net, konnte ihnen nur als Gutes erfeheinen, weil fie von dem 
jöpfer alles fie umgebenden Guten kam. Diefe Schrante zu 
fen, war nicht etwas Böfes, es war vielmehr eine Uebung ihres 
ibens in Gott mit Denken, Fühlen und Wollen. Der Zuftand 
erften Menfchen wird demnach in zwiefacher Weife unrichtig 
inet: einmal, wenn er vorgeftellt wird als vollfommene Weis- 
und Gerechtigkeit, wie wir fie bei Chriftus, ihn bloß als Menſch 
achtet, finden, oder wie wir fie und denken fünnen in einem 
ch die Gnade ganz von der Sünde gereinigten und fittlich voll 
ten Menſchen. Ein folder Zuftand würde mit der Abficht der 
lichen Liebe, den Menjchen durch Selbftthätigfeit zur vollen Gott« 
fichkeit zu leiten, im Widerfpruch ftehen; auch wäre ein Abfall 
einem ſolchen Zuftande nicht denkbar. Aber aud die abfolute 
ichſtellung der erften Menfchen mit den Kindern, wenn wir uns 
biefen die Erbfünde hinwegdenken, kann nicht der richtige Be— 
f von jenen fein, da fie ein Wiffen um das Sein, Herrchen 
Lieben Gottes nicht durch Reflexion, fondern durch unmittel- 
8 Leben, in fi trugen, und zugleich da8 Vermögen eines Herr 
18 über die Natur, unter Gott, und die fie dazu befähigende 
fit in die Dinge befagen, wovon auch bei den unfchuldigften 
dern nichts gefunden wird und michts fein kann. Die erften 
nſchen mußten genug, um gut und in Gottes Gemeinfchaft han- 
zu Können, und fie wußten nur jo um das Böfe, daß es fei 
Möglichkeit eines Thuns, durch das fie aufhören würden, im 
t zu fein, worin doc ihre Freude beftand. 

Bie gefchah es nun, daß diefes Menſchenpaar aus diefem Zu- 
de heraustreten Konnte und Heraustrat? Die Bibel jagt: Es 
hah durch die Verfuchung des böfen Feindes, welcher zu einem 
efachen, ichlechthin in Eins Verbundenem, ſie veizte: dem Ans 
hmen des finnlichen Genuffes, der ihnen verboten worden 
‚ und der Gelangung zu einem gottgleichen Wiffen (Gen. 3, 


38 Sad 


. 6°). Nur beides, als aus der einen verbotenen Handlung 
ervorgehend, Konnte einen Reiz für die erften Menſchen bilden. 
licht der finnliche Genuß für fi, denn in der Fülle des ihnen 
am Genufje Gewährten und in der Uebereinftimmung mit dem 
Billen Gottes zu Genießenden konnte ein einzelner nicht anders 
zen, als eben durch das Nichtwiſſen, warum er verboten fei, 
fo durd die Erwartung eines fie unabhängig machenden Wiffens. 
tin bloßes vermeffenes Verlangen, mehr zu wiffen, als fie in fort 
hreitendem Wandeln mit Gott erfahren und erkennen würden, für 
& konnte nicht in ihre Seele tommen, da ihr Wiſſen um Gott 
nd die Dinge als in ihm feiende im befriedigendften Verhältniſſe 
nd Gleichgewichte mit dem Umfange ihrer Empfindung und Ge 
ußfähigkeit ftand, das Mehrwiſſen alfo nur dann einen Reiz für 
e haben konnte, wenn es ihnen als Erweiterung eines bisher uns 
eannten ſinnlichen Genuffes erſchien. So entwidelte ſich 
ermittelft der an fie herautretenden Verſuchung auf eine geheimnis- 
oll das Innerſte der beiden Seiten ihres Weſens, der denkenden 
nd ber finnlichen, aufregende, zauberifche Weife, der möglich ftärkite, 
ı der einzig mögliche Reiz, der auf ihre Seele geübt werden konnte, 
nd dieſem Reize ungezwungen folgend fielen fie, die Sünde war 
eſchehen und hinterließ unvertilgbare Spuren in ihrer Natur. 
Diefe Berfuhung, wie fie nur von_außen an fie kommen fonnte, 
var nur möglich in der Geftalt der Lüge, denn bevor nicht das 
mittelbare, in ihrem Gejamtzuftande gegründete Vertrauen auf 
ie Güte und Wahrheit Gottes erfchüttert war, Konnte es für fie 


a) Die Ueberfegung von V. 6 bei Luther: „Und das Weib ſchauete an, daß 
von dem Baume gut zu effen wäre, und lieblich anzufehen, daß es ein 
luſtiger Baum wäre, weil er klug machte”, ebenjo bei Meyer und 
Stier, ift wol entſchieden vorzuziehen dev de Wette’fchen: „Und das 
Weib fah, daß der Baum gut zu effen, und daß er eine Luft für die Augen 
und der Baum lieblih anzufhauen war”: theile deshalb, weil 
dag zweite und dritte Glied des als Wahrnehmung des Weibes Bezeih- 
neten völlig tautologiſch wäre, theils weil das Hifil vor >2 im mehreren 
Stellen als cauſativ in der Bedeutung „klug machen“ ſteht. Auch ber Zu⸗ 
ſammenhang mit V. 5 und felbft V. 11, der Frage, wodurch Adam er- 
tannt habe, daß er madt fei, führt entſchieden auf die Bedeutung „Aug 
maden“. 


Pſychologiſch - moralifche Bemerkungen. 839 


weder einen Neiz der Luft noch des Mehrwiſſens geben. Erſt als 
ihnen vorgefpiegelt wurde, das Wort des Verbots, welches an fie 
ergangen war, fei nicht gut, weil das Wort der VBorausfegung des 
Uebels, das auf die Uebertretung folgen werde, nicht wahr fei, alfo 
daß Gott nicht gut und nicht wahr fei, — erft da war es möglich, 
daß der zwiefache und doch einige Reiz, durch Wiſſen und Erproben 
des Berbotenen’ eine bisher umbefannte finnfiche Luft zu genießen, 
und der, durch eben dieſe Luft ein Biffen zu gewinnen, das fie 
hinfort von der einfchränfenden Unterfcheidung zwifchen gut und 
böfe befreien und fo fie von Gott unabhängig machen werde, fie 
fündigen machte. Alſo Lüge, welde die Wahrheit ihres in Gott 
gegründeten Gedankenlebens vernichtete, Mistrauen, welches das 
findliche Vertrauen tödtete, Unglaube, welcher die innere Kraft ihres 
Berharrens in Gott wegnahm, war bie Wurzel der erften Sünde. 
Died nun trifft auf das merkwürdigſte mit dem zufammen, was 
wvir auf pfychologifch-empirifhen Wege als die fortwährende Ur- 
ſache alfer menfchlicen Sünde gefunden haben, nämlich daß ein 
falſcher Gedanke, eine nichtige Borftellung einer jeden entweder 
finnfichen oder Selbfterhöhungs - Sünde zum Grunde liegt, immer 
beides erzeugt, und immer wefentlich Unglaube an Gott und Mis- 
trauen gegen fein Wort ift. Abfolut ift die Gfeichheit zwifchen der 
in der bibfifchen Weberlieferung enthaltenen Entftehung der Sünde 
md der der einzelnen Sünden der nachfolgenden Geſchlechter aller- 
dings nicht, denn in jener ift die Verſuchung eine bloß von außen 
" tommende, in dieſer ift fie zwar aud) durch Aeußeres, Angeſchautes, 
Gehörtes, Vorgefpiegeltes bedingt, aber immer zugleich an ſchon 
innerlich vorhandenes Umwahres und Unreines anfnäpfend, wie oft 
auch das eine vor dem anderen den Verfprung habe. Aber dieſe 
Ungleichheit, wie fie notwendig in dem von und anzuerkeunenden 
Unſchuldsſtande unferer erften Eltern gegründet ift, wird übermogen 
durch die Gleichheit der wefentlichen Elemente der Sünde auf beiden 
Gebieten, und gerade durch das von uus nachgewiejene Zuſammen⸗ 
und Einsfein bes Wiffens- und des Yufttriebes, während diefe Gleich⸗ 
keit nicht gehörig eingefehen werden kann, wenn mar in Bezug auf 
das eine oder andere Gebiet entweder bloß Sinnlichkeit oder bloß 
Hohmuth als das Weſen der Sünde betrachtet. 





’ Sad 


2) Wir feugnen damit feineswegs, daß auch unter Anerkent 
fer Analogie die Entftehüng der erften Sünde für uns 
zreifliches enthalte, aber nur fo, wie es Unbegreifliches, begri 
Ht völlig zu Erfaffendes in dem religiös-moralifchen Ge 
erhaupt gibt, was dennoch verſtändlich, aljo nicht abfolut 
preiflid, ift, und wie es noch ftets in jeder größeren oder Heir 
inde, die in der Welt begangen wird, Unbegreifliches gibt, fo 
: mehr ober minder gegen fich felbjt aufrichtige Menſch oftı 
) gebrungen fühlt, zu fich felbft zu fagen: Es ift mir unbeg 
), wie ich dieſes Unrecht, diefe Verfehlung, diefe Sünde 
jehen können. Im diefer Beziehung hat auch der nie zu 
fende Daub geurtheilt, das Böfe ſei unbegreiflih, es fe 
under, aber eben ein böfes Wunder °). Bei diefer Lage 
inge möchten wir wol umfomeniger Urſache Haben, durch 
ufagen mehr äußerlih Seltſame -und Unbegreiflie in 
liſchen Erzählung, das Reben der Schlange und das Orga: 
jelben im Dienfte des Vaters der Lüge, uns ein Mist 
sen die Wahrheit und Thatjächlichkeit der bibliſchen Ueberliefe 
flößen zu laſſen. Beides, die Gleichheit und die Unglei 
t dem, was wir in uns und unter uns täglich erleben, i 
lagend und fo verftändlich, daß das Einzelne dabei billig auf 
uht. Uns wenigftens erfcheint es als unmöglich, dasjenige 
en Mythus anzufehen, worin (mie doch in jedem Mythus) 
e in Geſchichte eingehüllte Idee vorgetragen wird, fondern et 
8 da8 Gegentheil aller dee ift, das Böfe, welches immer 
stum ift, al8 zuerft in die Welt gefommen berichtet wird. U 
18 hat der Verfaſſer dieſes Auffages jich nicht zum Zwecke 
ft, als Krititer und Exeget über das dritte Kapitel der Ge 
ſprechen. 


Wir gehen nunmehr zu einigen praktiſch-moraliſchen Folgeru 
3 den von uns aufgeftellten Sägen über. 
1) Wem e8 Ernft ift mit. feiner fittlichen Bewahrung und‘ 





ı Bol. Daubs Iudas Iſcharioch, Heft: II (1818), ©. 99- 


Pſychologiſch - moralifhe Bemerkungen. 341 


ng, namentlich wenn er-ſich unter den Einfluß der Gnade dee 
geliums ftelft: der halte fern von jedem an fich rechtmäßigen 
ichen Genuffe, wie er aufgenommen werden kann in das fittlich: 
iöfe Leben der Beſonnenheit und der Liebe (der hriftlihen Er: 
ung defjen, was den Alten 0090000vn war), ein abftractes 
ectiren darüber, ob und inwiefern diefer Genuß gut ſei oder 
‚ein Wiffen« und Begreifenwollen ſowol des barin liegenden 
u, als des daran fich möglicherweife nüpfenden Böſen: eine 
tung, bei welcher man das Gute desjelben unnatürlich zu po 
ren, oder den möglichen Misbrauch durch Vorftellen und Denken 
1 fogar herbeizuführen in Gefahr ift. Er genieße kindlich 
jar, einfach und frößfih, und gerade deshalb mäßig, nichte 
idartiges, Bornehmes, geiftreich Idealiſirendes Hineinmifchend. 
ſolches Begreifenwollen des Genuffes der Natur, der Speijı 
de8 Trankes, bes leiblichen Wohlgefühls, ift ftets ein mehr 
minder krankhaftes und eitles Wiffenwollen des Exhpirifchen 
inem Zufammenhange mit dem Geiftigen, und ift nicht nun 
tisch, fondern hochmüthig und ein feinerer Selbftgenuß durd 
ein, durch Heraustreten aus dankbarer Hinnahme aus bei 
) Gottes. Hierhin gehört das ganze Gebiet einer fi vom 
den Leben ablöfenden eitlen, leeren, fpigfindigen Grübelei und 
zion, welches jo erfältend auf das Gefühl, fo ſchwächend auf 
n und Handeln wirft und verwandt ift mit dem, was ein 
r Dichter „des Gedankens Bläffe“ nennt. Aber auch bie 
ier, welche fi an die Anregungen des Umgangs und Ge 
58 im gemeinen eben anfnüpft, gehört hierher, denn warum 
man zu irgend einer natürlichen Anfhauung nun noch etwat 
icherweife dahinter Liegendes wiffen wollen? Auch die aber: 
ifche und faljch=theofophifche Grübelei hat Hier ihre Wurzel. 
nd, der überall nachdenfen und begreifen will, wo er nur zu 
, zu hören, zu empfinden und feine gefunden Sinne zu ge 
hen angewiefen ift, ber auf ein einzelnes Ding pfeudo > philo: 
rend hinſtarrt, es ifolirend, ift auf dem Wege, den Verſtand 
rlieren, wovon dann der Anfang im Wiſſensdunkel lag. 

Bei dem Beftreben, Wiffen zu erlangen, fei e8 in der Be: 
fung der Dinge des gemeinen Lebens, fei es in wiffenfchaft- 


Sad 


er Behandlung empirifcher Gebiete.oder allgemeiner Ideen, 
a fich, das Denken in folche Nebenwege gerathen zu laffen 
hen ſich ein egoiftifcher Selbſtgenuß oder” finnfiche Luft aı 
ıgen einmifcht. Deshalb ift eine Mare, reinlich = objective 
uung alfer natürlichen Verhältniffe jo wichtig, ohne ba 
t dazu gehöriger Nebengedanfe, wie lodend er fei, den 
alſche. Hierhin gehört jede ſelbſtiſch unterhaltene Vorausſt 
Unterfuhung wiffenfchaftliher Fragen, die fogleich zum 
jeil wird, jede Vorausentſcheidung des Ergebnifjes, ja fchor 
fehen auf ben Erfolg, den eine Unterfuhung, eine ge 
weit in bem Kreiſe der Beurtheilenden haben werde. Auc 
iffentliches, beſonders ein felbftgefälliges Zurücjehen au 
brachte Arbeit kann unferen Geift in eine eitle, alfo auch i— 
liche Luft hineinziehen, entgegen jenem ſchönen, wahrhaft 
en,’ freilich nicht leicht zu befolgenden Orundfage eines der 
töfifchen Janſeniſten: „Wenn man etwas gethan hat, 
1 e& in Gott vergefjen.“ Noch gefährlicher ift die Steig 
Seelen- und Geiftesträfte, deren man zu einer ſchriftſteller 
eit bedarf, durch den Genuß geiftiger Getränfe, wodurc 
eit ſchon in ungefunder Weife beginnt. Es foll natürlich | 
t behauptet werden, daß ein die geiftige Anſtrengung naturg 
eitendes ſeeliſch⸗ finnfiches Selbftgefühl Sünde fei; vielme 
zriger Unterordnung ift ein ſolches gut, ein Geſchenk der 
m Güte, 
») Poeſie und Kunft bezweden an ſich weder Wiffen noch 
ın Genuß, regen aber Gedanken und Urtheile, Empfind: 
finnliche Wahrnehmungen an, wie denn alle Kunſt au 
Heinung des Geiftigen in ſinnlicher Geftalt beruft. Wer 
e reinen Sinn für das Schöne ſich mit Poefie und Kun] 
‚ jei e8 producirend oder betrachtend, der ift auch der» dop 
ſuchuug ausgefetst, teils die Idee eines Runftwerfes mi 
sten Gedanken erfafjen, theils die Form desfelben mit fü 
Häntertem Gefühl genießen zu wollen. Hierauf beruht 
fall und der Misbrauch der Kunft, welcher dann wieder 
irrungen eitler Grübelei und verfeinerter Genußſucht Vor 
et. 3. 3. der Roman ift ein poetiſches Werk, foll es 


Biychologiich- moralifche Bemerkungen. 


enn er num fo geſchrieben wird, daß die menſchlich 
der als berufen zu einer ſtolzen Selbftgenügfamtei 
ngigfeit von Gott, oder al berechtigt zum vorherrſ 
ngenuß erfcheint: dann wirft er zerftörend für das 
r Seele. 

4) Da das pädagogifche Gebiet in weiterem Su 
oralifchen gehört: fo laſſen wir Hier einige Beme 
Belämpfung der Genußfucht und der Selbſterhöhun 
rd die Erziehung folgen. Jedes Vergnügen, jeder 
(her der Jugend zu gewähren ift, werde recht fern 
ler Reflexion und Klügelei, er bleibe unbefaugen, fi 
dfich, in welcher Beziehung die gymuaftifche Uebun 
aft von großem Werthe-ift, vorausgejegt, daß Wag 
tentation ausgefchloffen fei. Sodann kommt es 
defung der geiftigen Kräfte der Jugend, der Aut 
tftandes darauf an, daß jie nicht durch den Neiz | 
nungen unb verheißener Genüffe dazu angefpornt 
pt durch die Ertheilung eitlen Lobes des Talents 
ge desfelben, fondern bfoß durch Anerkennung der fi 
) Anftrengung, die fi darin bewährt hat, vorı 
Geift nicht überfpannt werde, nicht eine unglüdt 
kiudlichen oder jugendlichen Geift in Gebiete einfi 
t fein eigentliche® Vermögen täufchen. Das Wi 
Jugend niemals als höchſte Beftimmurg ober alı 
Seele, fondern einerfeits ſtets in Bezug auf den Hi 
id der Erkenntnis, den zu Liebenden Gott, andererf 
timmung mit kräftig handelndem Leben, und dat 
ſenſchaftliche Bemühen fei felbft ein ſolches. D 
h jo wichtig, daß bei Einführung der männliche 
Welt der altklaffifchen Literatur weder die Auton 
mfchöngeit der Alten ihr als das Höchſte vor $ 
de, denn jene würde in diefer Weife ihren Dünk 
lichkeit in Verſuchung bringen. Gewiß kann di 
weg nur vermieden werden, wenn das teligiöfe 
ofute fittliche Werth des echten Glaubens und | 


Sad, Pfſychologiſch - moraliſche Bemerkungen. 


18, die gründliche Erkenntnis Gottes und Jeſu Chriſti, dur 
en Religionsunterricht gefördert wird, welcher nicht mur nel 
verem Unterricht als ein einzelner vorkommt, ſondern, ind 
zum religiöfen Zufammenfeben der Schule wird‘, alle and 
lehrung durchdringt und dem Sinne für Wiſſenſchaft, Literat 
> Vaterland erft die rechte Weihe gibt. 


Necenfionen. 


„Google ö 


1. 


Dorner, Gefchichte ber proteſtantiſchen Theologie 
befonder8 in Deutfchlaud, nach ihrer principiellen Ber 
wegung und im Zufammenhange mit dem religiöfen, ſitt⸗ 
lichen und intelfectuellen Leben betrachtet. (Auf Beran- 
laſſung und mit Unterftügung Sr. Majeftät des "Königs 
von Baiern Maximilian II. herausgegeben durch die hifto- 
tische Commiffion bei der Königl. Academie der Wiffen- 
ſchaften.) Münden 1867. 


Eine Ehre für die proteftantifche Theologie ift diefes Werk von 
nem katholiſchen Beurtheiler genannt worden; wie viel weniger 
tf ein proteftantifcher Theologe fich diefem Urtheil entziehen. Daß 
iv e8 in dieſem Werfe mit einem Theologen zu thun haben, ber 
mes Gegenftandes Meifter ift, follten auch diejenigen nicht ver⸗ 
nern, welche ſich zu ſtarkem Widerfpruche gegen dasſelbe genöthigt 
pen. Auch wir werben uns nicht unbedingt einverftanden erflären 
nen, immer aber nur fo, daß da8 eben ausgefprocene Gejamt- 
theil über dieſes vorzügliche Werk ungeſchmälert bleibt. 

Die Oelonomie ift diefe: Erftes Buch: Die Urzeit des Pro- 
tantismus. Erfter Hauptabfehnitt: Die Vorbereitung des 
angelifchen Princips in negativer und pofitiver Beziehung. Zweiter 
auptabfhnitt: Die Reformation in ihrer anfänglichen Einheit 
d principiellen Grundlage 1517— 1525. Dritter Haupt: 





Dorner 


ſchnitt: Die Ansgeftaltung des doppelten evangeliſchen Lech 
iffe bis zum fymbolifchen Abſchluß, 1530—1580 und 161 
veites Buch: Das Sonderleben der beiden evangeliſchen Cr 
‚onen und bie Wiederauflöfung des reformatoriſchen Princi— 
1 fiebzehnten Jahrhundert an bis zum Anfang des neunzehnt 
ittes Buch: Das neunzehnte Jahrhundert oder die Reger 
on der evangelifchen Theologie. 
Dancer möchte meinen, daß nach fo vielen gründlichen Fe 
ngen über das Reformationszeitalter, in&befondere die Lei 
jers, der Verfaffer feine Aufgabe hätte bejchränfen, von d 
chnitt über die Urzeit des Proteftantismus hätte abftrahiren ı 
eih mit dem dritten Hauptabſchnitt hätte beginnen fünn 
!in auf das Princip der proteftantifchen Kirche kam es bei ei 
widelungsgefchichte derfelben an, umd wie verfchieden dieſes 
t wird, ift befannt. Mit jenem philofophifchen Blicke, welt 
dem Fortgange und dem Ende einer Entwicelungsreihe | 
ang derfelben tiefer zu verftehen ſucht, hat der Verfaffer d 
rmatoriſchen Princip feine ganze Aufmerkſamkeit zugewendet ı 
durch das Refultat diefer Forfchung in den Stand geſetzt wort 
verschiedenen Epochen der firdlichen Entwidelung als Entwi 
zoſtufen des Princips darzuthun. In feinen Unterfuchun 
e das Princip der Reformation gibt er uns nichts neues, | 
ı die von ihm in feiner Abhandlung „über das innere V 
nis der Principien des Proteftantismus* zuerft begründete ı 
»em großentHeils anerkannte Anficht über das formale und ı 
ale Princip in feiner einheitlichen Wechfelbeziehung. Gehen 
ı Gange der Gefchichte nach, jo ift es die vom heiligen Ge 
der Schrift bezeugte Rechtfertigung des Sünder8 vor Gott di 
Glauben an Chriftum gewefen, durch welche Luther in fein 
zen gewiß geworden, daß die Schrift Gottes Wort fei. 
das formale Princip in ihm das materiale Princip erzer 
e dur das materiale Princip feine göttliche Beftätigung 
en. Die Rechtfertigung durch den Glauben an die Gnade Go 
Chriſto und der Glaube an die Göttlichkeit des Zeugniffes | 
e Schrift von diefer Heilsthatfahe — beides in Wechfelbezieh 
ſich einander vorausjegend, ift der einheitliche Grundgedai 


Geſchichte ber proteftantifchen Theologie. 3 


8 welchem die Reformation hervorgegangen. „Man darf als bie 
rungene Gemeinüberzeugung ber neueren Theologie bezeichnen, daß 
beiden Seiten des proteftantifchen Principe als unterſchiedene 
ichmäßig anzuerkennen find, und weder in der Art der alten 
tthodoxie mit Berufung auf das an bie Heilige Schrift gefettete 
timonium spiritus sancti für die Inſpiration ihrer göttlichen 
rm, noch in der Urt de fogenannten biblijchen Supranaturalis- 
18 unter Berufung auf rationale oder hiſtoriſche Demonftration, 
heilige Schrift zum alleinigen Princip des Proteftantismus dürfe 
nacht werden wollen. Ferner daß einerfeits bie heilige Schrift 
ch fich felbft auf die gläubige Perſönlichleit Hinweift, deren Er⸗ 
jung fie dienen will, und die allein, find die übrigen Erforder⸗ 
je vorhanden, der Arbeit der Auslegung und der kritifchen Unter» 
jung des wahrhaft Kanoniſchen und Normativen gewachſen ift, 
) daß umgefehrt der evangelifche Glaube der Heiligen Schrift 
arf, ſowol zu feiner Entſtehung, als zu feinem Beſtehen und 
Herten Wachstum an Kraft und Erkenntnis, wie überhaupt für 
hiſtoriſch gefhärftes, der Gefahr des Subjectiviemus und der 
bildung entrüdtes, vielmehr fubjectiv- objectives Bewußtſein.“ 
: weitere Entwidelung und Rechtfertigung dieſer Säge geben die 
chnitte von S. 220—251. Bon dieſer Auffaffung des refor- 
orifchen Standpunftes aus gewinnt der Verfaſſer das Verftänd- 
der Epochen der Gefchichte des Proteftantismus. Sie zerfällt 
1) in die Periode der einfeitigen Objectivität, die Herrſchaft 
einfeitigen Schriftprineips ; 2) in die der einfeitigen Subjectivie 
von 1700—1800, die Herrſchaft des einfeitigen Subjectiviemus, 
welche auch die Philofophie der Subjectivität (Kant, Fichte, 
obi) mit einbegriffen wird; 3) das neunzehnte Jahrhundert oder 
Regeneration der evangelifhen Theologie durch erneuten Zur 
menfchlug des formalen und materiolen Principe. 
je größer die Bedeutung diefer Beftimmung des Principe für: 
gefamte Werk, deſto mehr wird fi von verfehiebenen Seiten 
der Widerfprud dagegen erheben, wie es auch bereits ge» 
jen iſt. 
Fin fpeculativer Nationalismus, welchem das Mistrauen eines 
utirenden Gonfejfionalismus leicht das Ohr leihen wird, wird 
heol. Stud. Jahrg. 1889. 23 


Dorner 


e in theologifc) = pofitive Formulirung verhüllte Geſchicht 
itts des menjchlichen Geiſtes zur Autonomie finde 
Schritt zu diefem Ziele thut derfelbe durch die Refo 
em er auf Grund des durch die Schrift in ihm e 
tes der Kindſchaft ftatt der Kirche die Schrift zu feine 
Principe erhebt. Durch die erjtarrte Objectivität d 
Scholaſtik wird im fiebenzehnten Jahrhundert dieſes Jo 
utorität bis zu dem Grade reftringirt, daß diefelbe de 
ng ftrebenden Geifte nicht weniger unerträglich geworde 
das Joch der Kirche, weshalb ſchon der Pietism 
lockern ſtrebt, bis im achtzehnten Jahrhundert die Au 
heteronomifche Feſſel völlig löſt und der Geift in fein 
ing ſich fein Object felbft jet (vgl. Baurs Dogme 
fl], 8 113). — Wiewol der philofophifche Standpun 
ı der Verfaffer hergefommen, der auch Hier, wie fi 
fich nicht ganz verbirgt, folder Verdächtigung Anh 
— die ganze bisherige literarische Thätigkeit Dorn 
sliegendes Werk zeigt, wie unbegründet dieſelbe wä 
in demfelben der Ausgangspunft der Entwicelung t 
: — vielmehr ift e8 ja eine praftifche Erfahrunget 
hen des Reformators —, noch verläuft der Entwie 
an einem inteffectwellen Faden, noch auch ift das Zi 
die Entwidelung. hinftrebt, ein intelfectuafiftifcher Star 
über der Entwidelung waltende Macht ift aud ni 
it explicirende Idee, nicht bloß eine Kette wirkend 
ndern eine nad) Zweden wirfende und. ſchon am Anfa 
fegende Borfehung. Mehrfah und unmisverftän 
fd) dieſes bei dem Verfaſſer aus (vgl. ©. 199. 37 


ift vom Standpunkte der Dogmatik des ſiebenzehut 
8 oder auc des Supranaturalismus wenigftens b 
n Verfaſſer und in dem Verfaffer der „Unionstheologi 
den, den feiner Kindſchaft gewiß gewordenen Glaub 
orität des Schriftprineips unabhängig gemacht zu hab 
ıffag „Die Rechtfertigung als Princip der lutheriſch 
Krchz. 1867, Nr. 66). „Nach der Unionsanjdaun 


Geſchichte der pröteſtantiſchen Theologie. 


halt fi det rechtfertigende Glaube nicht in dem Tormalprit 
m der alleinigen Geltimg der heiligen Schrift, fondern er 

h don demſelben und erhebt ſich über die Schrift. Nach 

nionsanfchauung Hat auf der Höhe jener Glaubensgewißheit 
ort Gottes nur foweit eine Bebentung, wie der Glaube dasſ 
h aneignet umd zum Eigentum menſchlicher Ueberzeugung gem 
t; nach der Iutherifchen Lehte bleibt das Wort Gottes 

en Stufen des Glaubenslebens über dem Gläubigen ftehen 

fällt ihn aus diefer göttlichen Ueberordnung mit Kraft aus 
öhe* (a. a. O., ©. 816). Aber mehrfache Ausſpruche des ı 
genden Werkes fprechen das directe Gegenteil aus. Allerdi 
et es ©. 248: „Der Glaube ſchließt fih mit der Schrift 
t dem zufammen, was ihn als Wahrheit conftitnirt, und ı 
n fraft eigener Erkenntnis und Erfahrung Norm nnd Ant 
m gefunden Wachstum wird“. Darauf folgen aber die Wo 
Die Mittel, die der Erzeugung des Glaubens ı 
ent haben, Wort und Sacrament, werben nicht n 
g, nachdem er erzeugt iſt. Was geboren ift, basn 
hen, der Glaube im Kampf mit dem alten Menfchen, 

achstum gefchieht durch Nahrung; der Glaube bedarf derfel 
ittel, bie ihn in's Dafein riefen“. Mit anfheinend jchärfi 
affen wird dem Dorner'ſchen Glaubensprincip von bemjen 
tholifchen Polemiker zugefegt, welcher fich ſelbſt charakteri 
em er das Dorner’fche Werk unter den Gefichtspunkt einer | 
ſchen „Tendenzſchrift für die Schleiermacher'ſche Unionstheo 
lt (9. Hagemann im Bonner Literaturblatt). Seine 

ffewaffen entlehnt er aus der Strauß’fhen Dogmatit. ‘ 
desſtoß führe die bekannten Strauß’fhen Worte: „Woran ı 
d das Zeugnis der Schrift als wahr erfannt? daran, daf 
von dem untrügfichen Gotte eingegebenes ift; und die gött 
ıgebung der Schrift woran? an dem inneren Zeugnis 

ligen Geiftes, ber, wenn er die Schrift lieft, fein eig 
re in ihr wieder erfennt. Gut, aber daß dieſes Zeugnis in 
ctlich vom Heiligen Geift und nicht von umferm eigenen, 

einem böfen und täufchenden außer uns herrühre, was 
8 hievon überzengen? —“ Indem der Kritifer diefe Sonde 

23* 


Dorner 


er'ſchen Princip einfegt, fährt er fort, daß freilich Dorn 
diefem göttlich menfclichen Zeugniffe nur eine relativ 
tändigkeit zufchreibe, daß er es am die Heilige Schrift bind 
dadurch aber die Sache nur fchlimmer made, indem er de 
ben fchon vor feiner Berührung mit der Heiligen Schrift ein 
ımten Inhalt gibt, das Bewußtſein der Rechtfertigung v 
durch den Glauben. „Er fondert etwas aus“, heißt es, „d 
vor und unabhängig von der heiligen Schrift Gegenftand d 
m Erfahrung geworden ijt. Wie fann man aber glaube 
einem folchen Princip der inneren Erfahrung der Einbildu 
Bodenfofigkeit der Sekten den Weg verlegt zu haben, nachde 
ihnen zuvor die Thüre geöffnet Hat? Auf demfelben Wer 
Dorner zu feiner Rechtfertigung, kann aud der Mormone 
et zu allen feinen inneren Offenbarungen gelangen, und Dorn 
in Recht, dem Geifte, der weht, wo er will, eine Grenze 
“. Schon „vor feiner Berührung mit der heiligen Scht 
dorner dem Glauben den beftimmten Inhalt der Rechtfertigu 
Bott geben?“ — Woher hat der Kritiker diefes genomm. 
inige Seiten vorher felbjt die Dorner'ſche Anficht fo refer 
48): „Doch fahren wir fort in der Entwidelung der Pri 
lehre Dorners. Das erfte, was fomit hervorgerufen, fei ! 
be an Ehriftum, als den Erföfer (oder die Erfahrung ! 
fertigung vor Gott im Glauben an ihn), deffen Entftehut 
eifige Schrift als Gnadenmittel und hiſtoriſche Urkunde v 
to mittelbar oder unmittelbar diene, der aber aud), wenn 
jttfiche Gewißheit von dem in Ehrifto zu findenden Heile 
en, nicht anders könne, als auch den Schriften der Gefandt 
HK in freier Unterwerfung eine normative Aut 
t zuzuſchreiben“. Anfang und Ende der Heilsentwideln 
ıh Dorner Erzeugnis des in der Schrift bezeugten göttlich 
tes, aber nicht fo ift die Sache darzuftellen, wie es bei Stra 
ht, daß auf der einen Seite die Schrift als Buch, abgeſeh 
hrem Inhalte, und auf der anderen Seite das Zeugnis d 
:8 im Herzen, wiederum abgefehen von feinem Inhal 
von dem beftimmten Proceß, in welchem es ſich vollzieht, q 
würde, fondern wie Klaiber in dem trefflichen Auffag üb 


Geſchichte der proteflautifchen Theologie. 388 


as testimonium spiritus s. (it den Jahrbb. f. d. Theol. 1857, 
5. 12) fagt, auf der einen Seite das Buch mit feinem beftimm- 
em Inhalt gefeßt wird, und auf der anderen Geite ein beftimmter 
ıbjectiver Proceß, durch melden hindurch der Heilige Geift dem 
Subject über jenen Inhalt Zeugnis gibt. Diejer Proceß aber ift 
18 fubjective Rebendigwerden jenes Inhaltes, welches gefchieht durch 
ie Wirkſamkeit des heiligen Geiites, fo daß eben darin jener Ju— 
alt ſich ſelbſt auf ſchlechthinige Weiſe bezeugt. Daher der Sag: 
Der Geift zeugt für die Schrift“, immer den anderen zu feinem 
orrelat Hat: „Der Inhalt der Schrift zeugt für jich felbft, eben 
dem er fich im Menfchen erzeugt.“ Und ſchon Nitzſch gegen 
)elbrüd (S. 66): „Daß das Wort Gottes ſich denen, melde 
berhaupt fittlich und geiftig fo geartet find, daß fie es empfangen 
innen, in dem Grade fich felbft beweift, in welchem fie durch das« 
(be gezeugt, d. h. überhaupt auf eine höhere Lebensftufe erhoben 
erden, dieſes ift muftreitig der letzte Grund, auf welchen ſich der 
roteftantismus im Streite nach jeder Seite hin zurückzieht.“ 
Unfererfeits haben wir nun folgendes Bedenken gegen die Dor- 
sche Beftimmung des Princips auszufprechen. Eine Gefchichte 
te proteftantifchen Theologie foll uns gegeben werden — hat 
ne jolche nicht ebenfojehr das reformirte, wie das Lutherifche Princip 
' berüdfichtigen und, wenn möglich, ihre beiderfeitige Einheit nach- 
mweifen? In der paufinifchen Faffung Luthers „der Glaube an 
e durch bie Rechtfertigung erlangte Kindfchaft“ kennen jedoch 
wingli und Calvin das Glaubensprincip nicht. Bei Zwingli hat 
nad) Angabe des Verfafjers zum materialen Inhalt „bie Ehre 
ottes“; bei Calvin „Gottes Eigenſchaften und Verheißungen“. 
zäre micht alfo Hiernadh der Ausdrud für das gemeinfame 
formatoriſche Princip diefer: „der durch das Zeugnis des Geiftes 
jeugte Glaube an die Göttlichteit des Heilsinhaltes der Heiligen 
Hrift"? In dem mehr oder weniger tiefen Verftändniffe dieſes 
eilsinhaltes aber liegt dann eine Abſtufung des reformatoriſchen 
efenntnifjes. 

Tiefer» und weitergreifend ift folgendes Bedenken, welches wir 
ht verhehlen dürfen. Wir haben diefer Geſchichte der Theologie 
jeugt, daß der Entwidelungsproceß nicht an einem intellectuellen 





k Dorner 


den verlaufe, und daß auch das Ziel, auf welches die Eutwid 
ig hinſtrebt, nicht auf einen intellectwaliftiihen Standpunkt Hi 
ife. Daß das letztere nicht der Fall fei, glauben wir aufrech 
Iten zu Können, Nicht fo das erftere. Wiewol wir den Be 
fer von der Hegel'ſchen dialektiſchen Geſchichtsconſtruction u 
n Intellectualismus dieſes Syftemes freifprechen, dennoch müſſ 
r bier befennen, daß er fi, wie es uns erjcheint, noch ni 
ig von bemfelben freigemadt. Hierin hat namentlich jene b 
liche Stelfung den Grund, melde ber Philoſophie im then 
hen Proceſſe angewiefen wird. Schon auf den erften Blid wi 
ı 2efer befremden, im dritten Abfchnitte der zweiten Abtheilu 
philofophifchen Syfteme von Wolff, Kant, Fichte, Jacobi d 
ymatifchen Entwidelungsprocefje der Theologie qls herechti— 
lieder eingefügt zu fehen. Die fürdernden Einflüffe derfelben ı 
Ausbildung der Theologie find felbftuerftändfich, wie bei gl 
irefigen, zuzugeben. Aber nothwendige Entwidelungsglie 
d doc ſolche Syſteme nicht, von demen der Verfaſſer felbft fa 
z fie „fremd, ja feindlich gegen das Chriftentum gejtgnder 
der — es müßte denn micht bloß die Endlichkeit mit ih 
hranken, fondern, wie es freilich die Speculation thut, die Sün 
lb ſt als nothwendiges Entwidelungsglied der Geſchichte hetrad 
rden. Vergleiche S. 767, wo der Berfaffer jagt: „Die Phi 
hie ließ ſich zwar in dem betrachteten Zeitabfchnitte meift fre 
er gar feindlich gegen das Chriftentum an, gleihmol” fteht i 
beit in höherem Dienfte und bifbet einen wegelmäßig fü 
veitenden Proceß, der nicht bloß Verluft, fondern auch Gew 
rx.“ Das Kant'ſche Syftem, welchem, wie es S. 743 he 
ie Religion nur ein Mittel der Moral, defjen es nicht bedür 
ißte, denn ber Vernunft an fi) fommt Autongmie, wie 4 
rkie zu“, welches „einen Gott hat, der möglicherweiſe fein 
n nur als Regulatio der Vernunft hat, von deſſen objectiv 
ein wir nichts wiſſen“ — diefes Syſtem wäre ein regelmäßi 
fied im Proceß der »theofogijchen Entwickelung? Ruht di 
Hägung antihriftliher Erſcheinungen auf einer anderen Bal 
3 die Hegel’fche Dogmengefchichte? Das Heterogene in der Iden 
irung des theofogifchen und des philoſophiſchen Principe ſche 


Geſchichte der proteftantifchen Theologie. 3655 


h auch dem Berfaffer nicht verborgen zu haben, denn an meh— 
ven Stellen wird nur von einem prototypifhen Verhältniſſe 
t theologifchen Principienentwidelung und der philofephiichen ger 
rohen. „Und doch“, heißt es ©. 742, „war in dem Kant'ſchen 
yſteme ein Kern, der ihm eine innere Wahlvermandtichaft mit 
m reformatorifchen zuweiſt. Das ift einerfeits das Heiße und 
innfiche Verlangen nach Gewißheit über die höchſten Angelegen- 
ten des menfchlichen Rebens und audererſeits die ethiſche Richtung 
nes Syſtemes, die einer noch zu wenig burchgearbeiteten Seite 
3 proteftantifchen Principes Raum jchaffen und dadurch eine Re⸗ 
eration der Theologie Mräftig anbahnen follte. Er tehrte die 
ite hervor, bie von ber alten Theologie zu ihrem Schaden vers 
mt war: das Gemiffen und das perfönfiche Bemußtfein von 
inneren Güte des Guten. War das micht der Richtung der 
formation auf das Heil und der perfönlichen Aneignung bes 
ils befreundet?“ Sollte jedoch diefe Frage nit vielmehr eine 
age fein, die der Verfaſſer nicht ſowol feinen Lefern, ale fi 
oft worgelegt Hat? Nein! nicht als geradlinige, mit dialektiſcher 
thwendigkeit verlaufende Fortentwickelung des theologifchen Prin- 
ienftreites Können wir jene bloß aus dem intellectuollen Factor 
vorgegangenen rationaliftiihen Syſteme anjehen, fondern nur 
 Entwidelung des autonomifhen Bernunftinterefjes. 
, für die Mistrauifchen, zu welchen wir indes nicht gehören, 
t der Verfaffer zu einem noch fchlimmeren Verdachte Veran⸗ 
fung, wenn es in dem Abfchnitte über die articuli puri et 
xti (S. 536) Heißt, daß in der Vernunft, „infofern fie Autheil 
der göttlichen Wahrheit hat, eine Art Offenbarung, daher ein 
fnüpfungspuntt für die chriftlihe Dffenbarung und Theologie 
werfennen fei.“ Und ©. 242: „Auch ift das nicht zu vergeffen, 
das Glaubeneprincip für die religiöfe Gewißheit die Harmenie 
erſten und der zweiten Schöpfung beftätigt, ja für das Recht 
erſten einfteht und dadurd die Einheit des Menſchen 
b des Ehriften verbürgt.“ "Sollte indes etwas anderes 
mit ausgejprochen fein, als die reine Vernunftmäßigkeit der 
ilsoffenbaruug in Wort und That? 

Eine Geſchichte der Theologie nad) der gangen Breite des Ma⸗ 


Dorner - 


diefe Gefchichte der proteftantifchen Theologie nicht. Es 
defhichte der theologifhen Wiſſenſchaften, wi 
Stäudlin’fhe, fondern, wie das Titelblatt es ausfagt 
chte ber proteftantifchen Theologie nad ihrer prin: 
ı Bewegung, daher aud ihr Charakter mehr ein dog 
als ein Hiftorifcher. Freilich kann dabei von ber Geſchicht 
en Disciplinen nicht ganz abgefehen werden, umſoweniger 
diefen bie theologiſche Zeitrichtung abzufpiegeln pfleg 
die exegetifche Unfruchtbarkeit der Tutherifchen Kirche m 
natiſchen Standpunkte zufammenhängt, fo die exegetifd 
it der Neformirten mit dem ihrigen; der Ausfall d 
dichte und Moral in der orthobox »Iutherifchen SPeric 
roductivität der Neformirten im Gebiet der Moral, d 
ıe Sruchtbarkeit der englifhen Theologie — fie häng 
Ugemeinen Charakter ber betreffenden Theologie zufamme 
ſchichte der einzelnen Disciplinen eine mehr als flüchti 
nfeit zu widmen, hat ſich jedod der Verfaffer durch d 
ines Werkes gehindert gefehen. Auch find die Nachwei 
Schickſal der einzelnen Disciplinen nur wie zufällig ı 
Drten eingeftreut. Cine Anzahl Hauptwerke der hollä 
eologie. find der Holländifchen Univerfitätsftatiftit ang 
Rotizen über die Tutherifchen Dogmatiker des fiebenzehnt 
rt8 finden fih am Schluffe der lutheriſchen Univerfität 
e Aiterariſchen Leiftungen des Bietismus und der Lebe 
gie finden fih am Schluffe der betreffenden Erſch 
ſ. w. Hielt es der Herr Verfaſſer für Pflicht, i 
der einzelnen Disciplinen nicht zu übergehen, wäre ni 
des Abfchnittes, nachdem der allgemeine Charakter d 
jeichnet worden, der paffende Ort dafür gewefen ? 
venfchaftlichkeit des genannten katholiſchen Recenſenten h 
jer auch darüber zur Rechenſchaft gezogen, daß er 
zen die von König Mar und ber Alademie der Wiſſe 
n geftellte Aufgabe einer Gefchichte des deutfhen Pı 
8 auch die Gefchichte des ausländifchen mit herbeigezog 
Als ob nicht in vielen Fällen mit und aus den Zweig 
recht erfannt würde; als ob nicht die Wurzeln der vefo 


Geſchichte der proteſtantiſchen Theologie. 357 


mirten Theologie von Anfang an größtentheil® außerhalb Deutfch- 
fonds zu fuchen wären. Bei dem Ineinanderſchlagen jedoch von 
Burzeln und Zweigen bes Ausfandes und des Inlandes mußte ſich 
allerdings dem Hiftorifer die Frage vorlegen, in welchem Maße die 
auslandiſche Geſchichte des Proteftantismus einzufchliegen fei. Da 
die reformirte Theologie, bie deutfche, wie die ausländische, denfelben 
Entwidelungsgang durchläuft und zwar raſcher und weniger ftufen- 
mäßig, als die Lutherifche, fo dürfte es der Ueberfichtlichkeit förber: 
licher gewejen jein, die in der zweiten Abtheilung behandelte Ge⸗ 
ſchichte des Verlaufes der Tutherifchen Theologie voranzuſchicken 
und darauf die in der erften Abtheilung dargeftellte Gefchichte der 
reformirten ſowol des Inlandes als des Auslandes folgen zu 
laſſen. \ 

In dem zweiten Buche, welches das Sonderleben beider 
Sonfeffionen behandelt, hat der Verfaſſer den großen Abfchnitt 
vom fiebenzehnten Jahrhundert bis zum neunzehnten zuſammengefaßt. 
Bir würden es zur Einfiht in den Fortſchritt des Proceffes für 
athfamer gehalten haben, die chronologiſchen Abtheilungen von 
1600—1650, von 1650—1750, und von da an bis auf die Er» 
ienerung der Theologie feit den Zreiheitöfriegen zu machen. „Die 
Ippojition gegen die altkirchliche Orthodoxie“, welche der Verfaſſer 
uf die Periode der einfeitigen Objectivität folgen läßt, beginnt in 
er That ſchon mit dem weftphäfifchen Frieden, von wo an ſich eine 
oft allgemeine Bewegung der Geifter fundgibt und der bisher in 
er Objectivität erftarrte theologifche und religiöfe Geiſt fich zu 
öfen beginnt — ſich zu löſen beginnt in gutem und im ſchlimmen 
Sinne. In die Periode von 1650—1750 fällt die Entwidelung 
es Pietismus uud die auf ihn folgende Webergangstheologie, von 
750 an entwickelt fi die Aufklärung und der ältere Rationafis- 
nus bis zum Befreiungskriege Hin, welcher eine zeugungsfräftigere 
Nacht auf die Zeit ausgeübt Hat, als die theilmeije von feinem 
influß berührten Spfteme ber phifofophifchen Schule. 

Mit Recht bezeichnet der Verfaſſer den Charakter der conferva- 
ven Periode als den des „einfeitigen Objectivismus“ und injofern 
er bogmatifchen Gefeglichkeit; „beide“, fagt er S. 428, „die Ber 
mtniffe und bie heilige Schrift, die aus einem anderen Geifte, 


Dorner 


‚m geſetzlichen geboren, treiben vorwärts won diefer enangelife 
ten, aber, principiell genommen, wieder fathofifivenden, bi 
irkung aus der Zeit des herrſchenden Katholicismus verra 
n Art, die nur eine ſchwächliche, widerſpruchsvotle Rivallirch 
der römifchen aufzuftellen vermochte“. Merkwürdig ift di 
heit der Entwidelungsftufen in beiden Kirchen, auf weld 
von dem Verfaſſer ftatt hier erjt fpäter aufmerkſam gemad 
Auf die reformatorifche Periode praktiſcher Frommigkeit folg 
Anfange des fiebenzehnten Jahrhunderts an, in ber Theolog 
Kirchen eine Periode der Scholaſtik; von der Mitte des fieber 
ı Jahrhunderts .an der Biblicismus und Pietismus; gege 
des achtzehnten Jahrhunderts ein fupranaturaliftifcher Mod 
ms, und gegen Ende desſelben die Aufflärung und der Re 
emus. Dabei die Verſchiedenheit, daß der reformirten The 
in der Schweiz, wie in Frankreich und in den Niederlanden - 
die Blüthezeit ihrer Scholaftit unter Voëtius nicht ausgenen 
— der bibfifch- praftifche Charakter eigentümlich bleibt, wät 
er in der Lutherifchen faft gänzlich zurücktritt. Damit ve 
t in mehreren Abteilungen der reformirten Kirche eine rati 
Tendenz, welche, wie 5. B. Semlers Geftändniffe zeigen, au 
ie Iutherifche Theologie nicht ohne Einfluß bleibt. — 9 
eformirten Abjchnitte hätte wol dem Arminianismus ciı 
mdere Stellung angewiefen werden folfen, den der Verfafl 
n Uebergange zum Socinianismus vorführt, während do 
viefer, fondern der Arminianismus der Vorläufer des neuer 
maturalismus und durch feine mit dem Bewußtſein ihr 
tung geübte, „grammatifch=hiftorifche Juterpretation“ ve 
lichem Cinfluffe aud noch auf die Theologie der Gegeuwa— 
n ift. Die ftreng literale mterpretation findet fich in d 
irten Theologie überhaupt nur in den Kreifen der Anhäng 
onsensus Helveticus, bejjen Herrſchaft jedoch, wie auch de 
fer bemerkt, ſich nur Kurze Zeit behauptet und nur in enge 

Eben diefe Erfcheinung ift es jedoch, in welcher auf refoi 
Seite, mas wol Hätte hervorgehoben werden follen, bie Au 
der Einheit des veformatorifchen Princips ſich auf's deu 
darſtellt. 


Geſchichte der proleſtautiſchen Theologie. 358 


Dit befonderer Vorliebe, Sachkenntuis und Ausführlichkeit bes 
ftigt ſich der Verfaſſer mit der Theologie des englifchen Zweiges 
tefgrmirten Kirche; obwol, was erft fpäter berührt wird, ven 
ang an darauf hätte aufmerffam gemadt werden fellen, daß, 
achtet ihrer Kiterarifchen Fruchtbarkeit am Ende des fiebenzehuten 
am Anfange des achtzehnten Jahrhunderts, ihr doch jene or⸗ 
[he Entwickelung, wie die Lutherifche Theologie Deutſchlande 
gehabt, abgeht, ihre Probucte find mehr die Frucht von außen 
hener Anſtöße. So erklärt fih denn auch, daß in ber enge 
n Theologie nicht jener Uebergang in eine Periode der Auf 
ng und bed Nationalismus eintritt. Gleichzeitig mit der aufs 
den Theologie in Deutſchland verftärft fich vielmehr wieder der 
ve Glgube in ber spisfopalen Kirche, und mit Recht findet ber 
offer den Grund Hiervon in hen erwedenden Einflüſſen bes 
hodismus, bei welchem er Tänger verweilt, obwol er felbft er« 
‚ daß derfelbe vermöge feiner überwiegend praftifhen Richtung 
ttelbgr für die Regeneration der Theologie nieht thätig geweſen. 
theologiſche Wiſſeuſchaft der Kirche“, fo ſchließt der Berfaffer 
ı Abschnitt ab, „bleibt in den traditionellen Wegen ihrer alten 
onceg ſtehen“. Wäre hier nicht kurz auf jene neueften, eine 
Periode anfündigenden, thenlogijchen Bewegungen Hinzumeifen 
en, welche im Weberblict der engliſchen Theologie des neun⸗ 
en Zahrhunderts von dem Verfaſſer berührt werben ? 
m zeiten Abſchnitt, in der Geſchichte ber lutheriſchen Theo» 
‚zeigt ſich die Auflöfung der beiden Seiten des proteftantifchen 
ips noch evidenter. Im Lampf mit der römiſchen Kirche und 
den Enthuſiaften ſei, wie der Verfaſſer ſagt, das formale 
ftprincip mit Entſchiedenheit dem materialen übergeordnet und 
enes das tegtimonium gpiritas sancti geltend gemacht worden, 
8 vielmehr dem materiafen Principe der Rechtfertigung ger 
Für. dieje Yeberordnung gibt nun alferdinge einen unzweifel⸗ 
Beweis der Dyt, welcher feitdem dem locus de scriptura 
der Spige der Glaubeuslehre angeiviefen wird — auch der 
nann'ſche Streit. Mg die eigentliche Urfache diefer Bevor⸗ 
g des formalen Princips dürfte indes weniger das polemiſche 
efje gegen Rom und bie Euthufinften anzufegen fein, als has 


Dorner 


ten des lebendigen Glaubens. Feftgehaften wurde ‚die Ueber 
g der Rechtfertigung ftets, wenn auch nur aus traditionelle 
auch Täßt fich das nicht wohl behaupten, daß das testi 
m spiritus sancti mehr auf die Schrift bezogen worde 
Zu beachten“, fagt der Verfaffer ©. 540, „ift, daß mede 
ılov, no bei Quenftedt, felbft nit bei Holla 
Jeugnis des Heiligen Geiites die Gotteskindſchaf 
genen Berfon oder die Gewißheit von der Ned 
jung zum eigentlihen Inhaltgegeben ift.“ Alle 
vies fäßt diefe Behauptung nicht als richtig erfcheinen, da 
en alten Dogmatifern der heilige Geift nicht ſowol für da 
le der Schrift zeugt, fondern für ihren Inhalt, und als Zeuge 
: Gottestindfhaft fehen ihn alle dieſe Dogmatifer an. Yu 
ei Quenftedt (III, 569) heißt es, daß der Glaube au d 
rtigung fi nicht auf den logiſchen aus der Schrift ge 
Schluß gründe: omnes credentes justificari, ego suı 
18, ergo ete., fondern auf das reale Zeugnis im Inner 
ubjectd. Zu der Ausdehnung des Geifteszeugnifjes auf d 
heilige Schrift Hielt man ſich durch Hebr. 4, 12. 1%l 
für berechtigt, wie auch eine ſolche Berechtigung unter un 
ı Abrede geftellt wird. Erſt bei den fpäteften Wittenberger 
ernsdorf, verwandelt ſich das Zeugnis des heiligen Geiſte 
: Rechtfertigung in das Zeugnis der infpirirten Schrift. 

) der Geſchichte der reformatorifchen Principien in der li 
en Theologie wird die Gefchichte einer Anzahl einzelner Lehre 
er Periode behandelt. Anftatt hierauf einen eigenen Abſchni 
08 kirchliche Leben folgen zu Laffen, werden dem Artifel übe 
irche einige Blicke auf die kirchlichen und praktifch - religiöfe 
de angeſchloſſen. Dabei die hronologifche Ungenauigfeit, da 
mehrere Namen und Facta berührt werden, melde erft i 
genden Abſchnitt: „Die beginnende Oppofttion gegen d 
liche Orthodoxie“ gehören. ALS Factoren dieſer Oppofitio 
nun angeführt: von außen die zugefpittere jefuitifche Pi 
von innen bie proteftantifche Myſtik, Calixt und Spener 
m trefflichen turzen Abſchnitte über die Myſtik wäre d 
ung des vor⸗ und nachſpener'ſchen Myſticismus Nicht bio 


Geſchichte der proteftantifchen Theologie. 361 


ſchenswerth, fondern notwendig geweſen, ba der letztere in 
tfacher Hinficht einen verfchiedenen Charakter Hat und von viel 
er greifendem Umfange ift. In der Geſchichte des Pietismus 
) mit Recht die Bedeutung und der Werth der Wiürtemberger 
le, namentlich auch des tieffinnigen Detinger, hervorgehoben. 
Rückblick diefes zweiten Buches weift darauf Hin, warum weder 
intelfectuelle Factor Calixts, noch der praftifche des Spener'ſchen 
ismus, noch der Gefühlsfactor der Brübergemeinde zu einer 
itbaren Bereinigung der zwei Seiten des proteftantijchen Prine 
hingeführt habe — „weil dieſe drei Factoren, ftatt vereint, 
iſolirt gewirft Haben“. Wir können das Princip der Calix⸗ 
hen Theologie nicht als ein foldhes anfehen, aus dem eine 
nale intellectuelle Zortbildung der Xheologie hätte entftchen 
en, auch dem Princip der Brüdergemeinde feine felbjtändige 
{ung neben Spener zuweifen. Was nad) dem Herrn Verfafier 
Zeit poftulirte, war — die Philoſophie, oder, wie er fi 
udrücken liebt, „die Erkenntnis der allgemeinen Ge— 
: der erften Schöpfung“. 
er dritte Abfchnitt: „Die fiegende Subjectivität im achtzehnten 
hundert“. Nachdem auf treffende Weiſe die Mattherzigfeit der 
rgangstheologie eines Mosheim, Pfaff, Michaelis u. ſ. w. cha⸗ 
rifirt worden, heißt es, daß diefe ohnmächtigen Streiter mit 
chenen Waffen die auffeimende Aufklärung nicht zurüdzuhalten 
ocht. Als Repräfentanten diefer Aufllärung werden Thomafius, 
el und Edelmann beſprochen. Was man hier, wo die Aufe 
ng zuerſt auftritt, wefentlich vermiffen wird, ift die Erörterung 
Begriff und Wefen der Aufklärung — zumal du diefe drei 
äfentanten biefelbe gar nicht Hinlänglich harakterifiren, fondern 
ner fpäteren Stelle die eigentliche Gefchichte der Aufklärung 
Hätte Hier nicht nothwendig die ganze Phyfiognomie des 
eiftes gegeben werden müffen, wie fich derfelbe in diefer Pe— 
der beginnenden Aufklärung durch den Einfluß der englifchen 
tur und der Wolff'ſchen Philoſophie gebildet hatte? Auch 
zu wünfchen, daß die termini Neologie, Aufflärung und 
nalismus nicht promiscue gebraucht wären, da ſich wenig» 
zwifchen Nationalismus und Aufklärung eine begriffliche Grenz 


Dorner . 


de nameifen läßt. Für die theologifche Aufklärung, wie 
a Thomafius es ausfpricht, war die Bibel nody Autorität und 
deren richtige Auslegung gefordert, von dem Nationalismus 
de dagegen die Schrift dem gejunden Menſchenverſtande unter: 
dnet. — Wieder begegnet uns hier eine Aeußerung, im welcher 
die gerügte Verwechſelung des philofophifchen und des religlöfen 
ereſſes finden. Von der auch die Fundamentallehren abſchwächen— 
Uebergangstheologie heißt es ©. 676: „Das Gewand derſelber 
gefalliger, in dem fie einhergieng, aber fie gieng nicht au 
Wurzel ber Uebel zurüd, die der Heilung bedurften. Den 
that, leine apologetifche Wendungen abgerechnet, nichts dafür 
Offenbarung und das vernünftige Weſen des Menſchen zı 
ern, in dieſem das Bedürfnis und Verlangen nach jener, in dr 
enbarung aber da6 ben Geift befruchtende, erhebende, kurz de 
Vernunft freundliche Weſen Hervorzufchren“. War & 
dieſer intellectuelle Fehler, worin der Grundmangel jener Ueber 
zotheologie lag, oder lag er nicht vielmehr darin, daß es biefen 
chlecht an ber Tiefe des religiöfen Lebens, an Buße und Glanbe 
te? Spricht die nicht and der Verfaſſer ſelbſt in der Schil 
ng des Geifte® ber Aufllärung, der verweltfichten und eudäme 
ſchen Gefinnung aus, weldhe er ©. 713 gibt? 

50 geht nun die Geſchichte der Theologie auf die philoſophiſche 
teme über und behandeit das Wolfffhe Syftem. Dor 
‚wartet genug jchließt ſich an diefes Kapitel über den Wolffianis 
eine Gefchichte der Aufffärungstheologie, namentlich der kritiſch 
veifchen don Ernefti und Semler — gewiß an biefer Stell 
t motivirt. Zwar heißt es in ber Ueberfchrift des erften Ra 
8: „Die Leibnitz⸗Wolff'ſche Philoſophie und ber erfte Eini 
ıg8verfudh der Theologie und Philoſophie in der 
lff ſchen intellectualen Supranaturefismus und Rationalismus. 
ı einem Wolff’fchen theologiſchen Nationalismus finde 
indes nur werige Spuren, und die angeführten Aufklärer un 
tonafiften auf Wolff zurkdzuführen, daran denkt der Verfaſſe 
t nicht. 

18 folgt ein zweites Kapitel: „Rexetion des formlofen, aber le 
Nigen Geiftes gegen die entleerende Aufklärung und eine tobt 


Geſchichte der protelautfen Theologie. 36! 


hodogie“. Kaum wird man ahnen, was unter dieſem form 
n, aber febendigen Geifte gemeint fi — nämlid die ſchön 
eratur der Periode! Das Kapitel handelt von Klopſtod 
mann, Claudius, Leffing, Herder, — man wird fragen, warn 
t auch von Goethe? (Schillers gefcieht bei Kant Ermähnung. 
viß ift mun diefe Piteraturperiode auch für die Theologie vo 
immendem Ginfluß geweſen, weshalb aber auch, ehe von be: 
einen Häuptern derfelben die Rede, ihr Charakter im all 
neinen hätte gezeichnet werben follen. Welcher Reichtum an 
nder und großartiger been, die von der Theologie zum Thei 
) jeßt nicht hinlänglich verwertet find, liegt namentlich in Leſſing 
au theologifcher Standpunkt von dem Herrn Verfaſſer in vor 
licher Weife dargelegt wird. -Der dreifachen theologischen Forn 
Subjectivität: Calixt, Spener, die Brüdergemeinde, werden in 
en Kapitel diefes Abſchnitts die philofophifchen Repräfentante: 
Subjectivität gegenübergeftellt (S. 767): „Was zuerft in dei 
Geftalten des zweiten Abſchnitts noch in pofitiv chriftliche 
m aufgetreten war, in der proteftantifchen Myſtik, in Galig 
in Spener mit der Brüdergemeinde, das trat jegt in gleiche 
jenfolge in philofophifcher Borm und in bewußtem Fortfchrit 
indem den BVorläufern der neueren Zeit (von Klopſtock, Ha 
n bis Herder), diefem lebensſchwangeren modernen Correlat de 
ı Moftik, die Wiſſenſchaft, jet in Form der Philofophie, fid 
rüberftellt, zuerft in intellectualiftifcher Form bei Leibnig uni 
ff, dann aber die Seldftgewißheit des Geiftes in praftifcher 
her Form gefucht wird von Kant und Fichte, dem philoſophiſchen 
elat der Spener'ſchen Bewegung, endlich von Jacobi im re 
fen Gefühl“. Was diefe Trilogie betrifft, fo können wir ih 
höhere Begründung zufchreiben, als die in der bekannten Vor 
des Heren Verfaffers für Trilogieen. Bon dem angeblich proto: 
hen Verhältniffe des reformatorifchen Princips zum Kant'ſcher 
em war bereits oben die Rede. Es tritt nun mit Kant bei 
ite Einigungsverfud der Philoſophie mit der Theo: 
e ein. Dem Kantianismus werden die theologifchen Erfcei: 
en des neueren Supranaturalismus und Rationalismus unter: 
net und ber Iegtere in den Kantiſch-moraliſchen und in 


Dorner 


Jacobi⸗ Fries ſchen, äſt hetiſchen eingetheilt, welchem na— 
itlich Haſe und de Wette zugezählt werden, desgleichen die rüd, 
igen Schüler Schleiermachers, denen die Mehrzagl der Mit 
eiter der proteftantifchen Kirchenzeitung und viele Artikel de 
yenkel’fchen Zeitfchrift Zugetheilt werden. Gewiß jedoch Täßt nu 

abgegrenzte Anzahl der neueren Supranaturaliften und Ratio 
iften fi der Kategorie des Kantianismus unterorbnen. Sf 
t der Rationalismus vulgaris — man vergleiche nur Henfe 
gicheider, Bretſchneider — vielmehr die Fortbildung der Auf 
ungstheologie, mit Elementen des Wolffianismus, Kantianismu 
ı von Jacobi verfegt? Je größer der Umfang, in welchem de 
itianismus mehr al irgend ein anderes philojophifches Syſten 
ienem Zeitraum die Herrſchaft erlangte, defto mehr fordert di 
ıge eine Beantwortung, wie dies bei einem Syſtem zu erklären fe 
ches mehr, als jedes andere die Theologie, ja die Religion von fir 
zufchließen feheint. Irren wir nicht, fo liegt der Grund einerfeit 
der moralifchen Energie diefe® Syſtems in einer an religiöfe 

moralifchen Impulſen fo armen Zeit, andererfeits in der Mie 
ung der praktifchen Kant'ſchen Boftulate, als wären es theoretiſche 
zu diefer Misdentung ift von Kant felbjt an einigen Stelle 
anlaffung gegeben worden. „Dagegen der Vernunftglaube 
ßt e8 in der Abhandlung: „Was heißt ſich im Denken orientiren‘ 
cte Hartenftein I, 130), „der auf dem Bedürfnis ihres Gi 
iches in praftifcher Abficht beruht, ein Poſtulat der (theore 
en) Vernunft heißen könnte — nicht als ob es eine Einfid 
e, welche alter logifchen Forderung zur Gewißheit Genüge thät 
vern weil dies Fürmahrhalten (wenn nur im Menfchen alle 
aliſch⸗gut geftimmt ift) dem Grade nach feinem Gewiſſe 
ſteht, ob es gleich der Art nad) davon völlig unterfchieden ift‘ 
erftärt fich die theoretifche Beruhigung, welche diefes Syſten 
ı frommen Theologen über die höchſten Wahrheiten geben fonnt 
ſpricht fi) Johann Friedrich Platt aus in einem Briefe übe 
its und Fichte's Neligionstheorie Magazin für chriſtl. Dogma 
und Moral, Stüd V, ©. 174): „Der moralifhe Glaube a 

Dafein Gottes, der Glaube an eine moralifche Welteinrichtun— 

3 heiligen Geſetzgebers, Scöpfers und Regenten der Welt wurd 


Gefsichte der protefantifchen Theologie 365 


durch Kants unfterbliche Schriften zu einem fo lebendigen Bewußt⸗ 
fein in mir hervorgerufen, er Bat mein Junerſtes jo mächtig er- 
griffen, daß ich im ihm eine Stüge meiner ebelften Wunſche und 
Hoffnungen gefunden zu haben glaubte.“ 

„Die Regeneration der Wolff'ſchen Theologie“ bildet den Inhalt 
des dritten „Buches. Was wird man nad) der Anlage des ganzen 
Werkes in demfelben erwarten? Den Zufammenfchluß ber „beiden 
Seiten des proteftantifchen Principes“, die bereicherte Einigung „der 
materialen und formalen Seite, bie ethifch-religidfe und die in- 
tellectuelle Durchdringung des Objects und Subjects. Und was 
wird hierzu gehören? Wird es nicht eine Glaubensbelebung fein, 
wie fie von Spener angeftrebt worden, doch freier und reicher, frei 
von der einfeitigen Beſchränkung auf die praftifche Frömmigkeit, 
mit energifcher Bethätigung auch des intellectuellen Factor? Wer 
nun hierin die Regeneration der Theologie findet, muß der nicht 
erftaunt fein, an unferem Orte die Fortbildung des reformatorifchen 
vrincips in folgenden philoſophiſchen Sägen nachgewiefen zu fehen? 
(S. 777:) „Indem diefe Männer (Scelling, Hegel, Schleier- 
macher) das gleiche Recht der Objectivität und der Subjectivität 
für die wahre Wiſſenſchaft anerkennen, nicht minder die Nothwen⸗ 
digfeit, beide unauflöslich und innerlih zufammenzufchließen, fo 
müffen fie alfe ein letztes Princip fuchen, in welchem beides geeint 
und geborgen jei. Diefes este Princip ift ihnen das Abfolute, 
welches weder bloß Subftanz, fpinoziftifches ftarres objectives Sein, 
noch andererfeits nur Urfubject oder ftarr in ſich abgeſchloſſene 
Urmonas. Die Borausfegung der Möglichkeit alles 
Ertennens ift ihnen vielmehr die urfprünglihe Zu— 
fammengehörigkeit und Einheit des Subjects und 
Dbjects." „Dem Geifte wird die Wahrheit und die Gewißheit 
von ihr vermittelt, indem fie ihn gegenwärtig erfüllt und zum Or- 
gane gewinnt, dem fie fich felber bezeugt. Vor allem ift damit 
geſagt, daß es nur Gott ift, durch den wir Gott zu er- 
tennen vermögen.“ Hierauf heißt es: „Es leudtet ein, 
wie verwandt diefe Grundgedanken der neueren Philo— 
ſophie dem fchöpferifhen Principe der Reformation 
find, und wie fie auf reformatorifchem Boden ihre eigentliche 

Theol. Stud. Jahrg. 1869. 24 B 


” 


6 \ Dorner 


seimath haben. Aber dazu Tommt, daß zu den objectiven 
iffen von Gott, der Dreieinigleit u. ſ. w., welche die Reform 
i ihrem anthropologiſchen Ausgangspunkt unbewegt gelafjen 
elche die Folgezeit verfümmert oder geleugnet Hatte, nun die 
endung geichieht und jo das Werk der Reformation 
rtzuſetzen ftrebt.“ (S. 778.) Wie dies gemeint fei, daß die 
ıgegebenen Gedanken dem Princip der Reformation verwandt 
id daß die objectiven Begriffe von Bott, Dreieinigkeit u. 
rade in der Schelling'ſchen und Hegel’fchen Philoſophie ſich 
ben follen, dies befennen wir nicht einzufehen. Sei «8 aud), 
e Speculation der genannten beiden Syfteme auf die Lehre 
r Dreinigfeit ein neues Licht geworfen hätte — weit über Aug 
id Athanaſius Hinaus; Haben diefelben auch auf das refor 
veifche Princip ein neues Licht geworfen? Doc wir w 
18 in unferen Anforderungen, zu denen wir allerdings nad 
agegebenen Neußerungen nicht unberechtigt waren, befchränfen mi 
ı 8 gleich darauf heißt, daß diefe Syſteme auf ihren erften S 
ch gar nicht das Chriftentum in feinem Mittelpunfte - erfi 
elmehr nur „gewiffe Vorbedingungen feiner Erkenntnis darre 
mentlich in Beziehung auf das Wefen Gottes und des Menſe 
iteht es num fo, könnte dann ander® als im mittelbarften € 
m einem Einfluß diefer Syfteme auf das Verſtändnis des ı 
atorifchen Principe die Rede fein? . 

Ueber das Hegel'ſche Syſtem wird ein kurzes fchneidendes U 
hin ausgefprochen, daß es nichts als ein „ſchattenhaftes Log 
Siffen, ein Wiffen der Idee des Wiſſens fei, die ale ſolche 
ft noch zu verwirffichen bliebe durch die Fülle gehaltvoller 
nernder Realität“. Sofort wird auf die linke Geite desſe 
f Strauß, übergegangen. Mit jener Meifterjchaft, mit w 
orner es verfteht, in wenigen ſcharfen Federſtrichen ein Sy 
es zu charakteriſiren oder zu kritiſiren, wird den ſtolzen 
rüchen von Strauß durch den Nachweis begegnet, daß die Si 
nes Lebens Jeſu Lediglich eine doppelte Borausfegung 
ie dogmatifche und eine kritifche. 

Den Fortfgritt in der Idee des Abjoluten Hatte der Ber; 
ı die Trilogie gefaßt: die phyſiſche Faſſung des Abſolute 


Geſchichte der proteftantifchen Theologie. 367 


helling, die logiſche bei Hegel, die ethifche bei Schleiermacher. 
o wird nun von Hegel zu Schleiermacher übergegangen, und hier 
t vermögen wir „bie beginnende Regeneration“ der Theologie und 
1 Fortfehritt im der Einigung der beiden Principien anzuerkennen. 
ı Einftimmung mit dem Herrn Verfaffer erfennen wir dieſes: 
tens in der durch die Schleiermacher'ſche Faſſung der Religion 
alle Zeit zu Bewußtſein gebrachten Unterſcheidung von Religion 
d Theologie, Glaube und Dogma, Kirche und theologiſcher Schule; 
eitens darin, daß infolge jener Einficht in das Weſen der Re⸗ 
ion die herrfchenden Gegenfäge von Nationalismus und Supra 
uralismus auf inmere, d. h. auf principielle Weife überwunden 
rden; drittens in der von feinem Standpunkte aus fich ergeben- 
freieren Stellung zur profanen Wiffenfchaft, namentlich der 
itif; vierten® in dem vertieften Bewußtſein des allerdings fon 
Humius, Hülfemann und Joh. Meisner erörterten Unterſchiedes 
ı Bundamentalem und Nictfundamentalem, auf welchem das 
ht der Union der beiden evangelifchen Kirchen begründet ift. 
Auf diefes Tegtere Verdienſt Schleiermachers wird ein vorzüg⸗ 
es Gewicht gelegt, ein fo großes, daß die Union — gleichjam 
die ſchönſte Frucht der vorangegangenen auflöfenden Periode — 
ch am Anfange bdiefes dritten Buches befproden wird. : Weiter- 
wird die Geſchichte derfelben fortgeführt mit Schilderung der 
den Gegnern der Union nenerwachten confeffionelfen Gegenfäge 
Zerſetzungen. Bon biefen Erſcheinungen wird dann auf das 
eberaufleben eines noch intenfiveren Rationalismus als der ver: 
gene übergeleitet auf die negative Theologie in ihrer neueften 
ifalen Phafe, der Tübinger kritiſchen Schule und des Lebens 
u von Strauß und Renan. Diefe Eirchenfeindlichen Erſcheinungen 
ubt nämlich, der Verfaſſer als Folge der durch die confeffionellen 
eren eingetretenen „Störungen der ftetigen Entwickelung der evan- 
jchen Kirche auf dem Boden des neugewonnenen evangeliſchen 
zubensgrundes“ anfehen zu müſſen (S. 826). Hier ift nun 
Punkt, wo bie fonft über Parteileidenfhaft erhabene Haltung 
Hiftoriters in etwas getrübt wird. Die tübingifche Tendenz- 
it, ift fie nicht fehon vorhanden geweſen, che noch von diefen 
feffionellen Gegenſätzen die Rede war? und das zugefpigte Anti» 
24* 


Dorner 


ftentum von Strauß und Renan, hat e8 nicht aus einem 
even Boden feine Nahrung gezogen, als aus dem der conf 
iftifchen Streitigkeiten der Kirche? Mag immerhin der fin 
ft des Denkers auf feiner Studirftube aus dem vorangegan 
ftem die deufnotäwendigen Folgen entwideln; doch ift ei 
ben des Zeitgeiftes, von welchem die treibenden Impulſe 
m. Und fo ift es aud der Boden eines neuen Zeitgeifte 
en, aus welchem bie feit einem Decennium wuchernde Sao 
ifafen Unglaubens aufgewachſen ift und — anfgewachjen 
7 wenn fein Luthertum und Confeffionalismus die nad) 
faffer zur Union hinftrebende evangelifche Kirche in ihrer 
felung geftört hätte. Es ift der pofitifche Fortſchritt der 2 
Selbſtherrſchaft und der Fortſchritt der exacten Wifjenfd 
ft ihren induftriellen Erfolgen, welcher die dem Ueberfinn 
wandten Kräfte faft gänzlich abforbirt und den Intereſſe 
lichen Welt zugewendet hat. Die Eulturintereffen find es, ı 
mwärtig den Geift abforbiren: wo früher von dem Widerfj 
Ehriftentums mit der Vernunft die Rede war, ift jek 
Widerſpruche desfelben mit der fortjchreitenden Cultu 
e; an die Stelle fpiritnafiftifcher Speculation ift der R 
3 und Materialiemus getreten. Wenn bei der Baur’fchen ‘ 
e und bei dem erften Strauß’fchen Leben Jeſu noch ih 
ng aus der früheren fpirituafiftiihen Periode erkennbar i 
es ber Geift des radifalen Naturalismus, welcher aus dem 

in Jeſu von Strauß fpridt. Gern möchten wir die Be 
rung des Herrn Verfaffers gegen diefen radikalſten Stand 
im Auszuge vorführen, wäre nicht diefelbe in ihrer Ze 
yindig und gedrängt, daß fie einen Auszug faum zuläßt. 

gen wir ung daher, da8 gewonnene Refultat mitzutheilen (©. € 
ie nenefte Phaſe dürfte aber auch die legte der Krifis 
im fie ift erft im weſentlichen zur alten, erften Form, de 
gmentiften zurückgekehrt, welche jedem ſittlichen, religiöſen 
wifchen Tact widerfteht, fo ift fie eben damit gerichtet um 
n Lauf vollendet. Von dem Fragmentiften hatte fie an 
noch verfchieden zu halten gefucht, indem Jeſus mit den Ap 
von der Zeit der Evangelientradition entfernt und daran 


Geſchichte der proteftantifchen Theologie. 369 


ıldig wollte gedacht werden. Aber daß die Apoftel bei dem Wich⸗ 
ten, was die Myftit der tendenziöfen oder, abfichtsfofen Dichtung 
legt, müffen befeitigt gedacht werden, indem die Tradition nimmer 
hätte werden können um das Ende des Jahrhunderts, wenn die 
oftel eine emtgegengefegte vertreten hätten; ja daß die höchſten 
Sagen der evangelifchen Geſchichte über Jeſus auf jeine Selbft- 
fagen zurücführen, das wird von dem fhlichten hiſtoriſchen Sinn 
ner allgemeiner zugeftanden werden. Ya das ift, wie gezeigt, 
lweiſe ſchon jegt von Strauß, noch mehr von Renan zugeftanden. 
mit aber ift die Scheidewand, durch welche die moderne negative 
tif von dem Fragmentiften getrennt ift, ſchon bedeutend niedriger 
vorden, der Unterjchied befteht nur noch darin, daß fie eine Dofis 
pwärmerei der angeblichen unmahren Selbftüberhebung Chriſti 
nifcht, alſo etwas von Selbſttäuſchung bei ihm annimmt. Aber 
h diefer Unterfchied wird nicht Lange vorhalten, theils wegen der 
en Geiftesffarheit, der Leidenfchaftlofen Ruhe und Nüchternheit, 
das Bild Jeſu zeigt, theils weil die Behauptung, als der 
ndfofe der ganzen Gattung gegenüberzuftehen, wenn er dennoch) 
nder war, nicht anders als wider befferes Wiffen und Gewiſſen 
geſprochen, alfo aus Lüge geboren fein könnte, die aud andere 
täufchen feinen Auftand nahm, und ihre Zwede, die dann auch 
t rein und ohne Egoismus würden gedacht werden können, zu 
ichen. Und damit ijt im wefentlichen der Rückfall zum Frag- 
tiften vollbracht, fo daß bie Forderung unerbittlich ift, rüchwärts 
biefen, oder vorwärts zu gehen.“ 

Beim Schluffe des Werkes wird der Rückblick gethan auf die 
ge, auf welche der Ausgangspunkt desfelben leitet. Es foll die 
iode der Gegenwart ala eine Periode der „beginnenden Regene- 
on“ dargethan werden einmal durch die Erneuerung der Einheit 
Principien der Reformation, dann dur den Gewinn in der 
aſſung und Feſtſtellung dieſer Einheit. Dies Tegtere geſchieht 
n bier durch einen gejchichtfichen Ueberblit der neueren Forte 
itte im jeder der einzelnen Discipfinen mit iterarifhen Nach— 
ungen. 

Bol ift num von gegnerifcher Seite diefer Abſchluß des ganzen 
ernehmens jo dargeftellt worden, als fei e8 dem Herrn Ver— 


Dorner 


r nur darauf angelommen, bie Periode der Union und 
rmittelungstheologie“ als die letzte Phafe der proteftanti 
ologie und das regnum gloriae derfelber zu ermweifen. 
That wird auch einer folchen gehäffigen Deutung dadurch 
änglich vorgebeugt, daß nicht von einer Regeneration, for 
einer beginnenden Aegeneration geſprochen wird. 
ı uns von dem Standpunkte der Gegenwart aus die hie 
ne Faffung der beiden Principien im wejentlihen als die 
erfcheinen, fie wird gewiß nicht die letzte fein und ebenſon 
verfuchte Bereinigung derſelben. Ya, ift eine neue wicht | 
Anzuge, in der von beiden Principien nur als von über 
n Standpunften die Rede fein wird? — Dagegen wäı 
fachgemäßer und für den vertretenen Standpunkt gewiß 6 
er Schluß gewefen, hätte der Verfaffer, wie er es ja mitt 
ıte, den confeffionelfen Gegnern den Nachweis geliefert, daß 
Theologie, im Widerſpruch mit der ſpröde abfehnenden ( 
1, welche fie zu der fogenannten „Unionstheologie“ einneh 
mehr und mehr im Uebergange in die Geleife derſelber 
en ift, Dem Stabilitätsprincip der alten Tutherifchen Theo 
nüber hat auch die erneuerte confeffionelle Theologie — w 
h auf confeffionellem Grunde — den wiſſenſchaftlichen 
tt für fih in Anfpruc genommen. Und von den Anfic 
he der Verfaffer im dem Abfchnitt über die einzelnen Discip 
Fortſchritte der vegenerirten Theologie aufgeführt hat, wie 
he auch von den neueren lutheriſchen Exegeten, Hiftorikern 
jmatifern als berechtigte Fortfehritte anerkannt werben. 
de Gegenfag gegen die Union, worauf ftügt er fi im l 
ınde? nad der jüngften Aeußerung hierüber: „anf das | 
e Recht einer Lutherifchen Individualität“ ®), die freilich, 
meinen follte, von dem wiſſenſchaftlichen Theologen, . 
Individualität durch den Proceß des geſchichtlichen Fortjch 





„Wir wiffen und wolfen nur ein foldes Luthertum, welches die gef 
Yiche Geftaft if, in weldjer wir das Chriftentum felbft gefunden haben 
zu befigen uns bewußt find“. — „Niemand vermag die Spureu 
ans feinem Geifte zu tilgen, welche die Geſchichte in demfelben zurückge 
hat.“ (Ev.-luther. Kicchenzeitung, Nr. 1.) 


Geſchichte der peoteftantifchen Theologie. 371 


als zeitliche Schranke erwiefen Hat, auch als ſolche anerkannt 
en müßte. 
iermit würde nun der. Herr Verfaffer feine umfangreiche Arbeit 
ı abfchfießen Können. Doch verheißt ihr Titel eine Geſchichte 
roteftantifchen Theologie befonders in Deutſchland; und 
it er ſich aufgefordert gefühlt, zulegt noch einen Ueberblic ber 
mirten Theologie bes Auslandes hinzuzufügen. Auch Hier hätte 
x Beftätigung feiner eigenen Reſultate darauf Hinweifen können, 
n diefen Kirchen fo verfchiedener Nationalitäten — zu benen 
die lutheriſchen fcandinavifchen Länder hätten Hinzugefügt werden 
n — bie theologische Entwidelung auf die gleichen Ergebniſſe 
rt hat, zu einer gläubigen Theologie des Fortſchrittes. Die 
ſſende Gefchrfamteit und das Talent, einen reichen Stoff in 
ngter und dabei doch Marer Ueberficht zufammenzufaffen, be 
t fi) auch in diefem letzten Abfchnitte. Namentlich für bie 
iche Weberficht der neneften theologischen Bewegungen Englands 
nan Urfache, bem Herrn Berfaffer dankbar zu fein. 
ge der verehrte Theologe, in deffen Werke der Gewinn eines 
n theologifchen Lebens niedergelegt ift, unbeirrt durch die An 
von den entgegengejegten Seiten, ſich überzeugt haften, daß 
wiß nicht bloß für den Augenblid gearbeitet hat. 

Tholud. 


2. 


Gebet des Heren, erklärt von Adolj Herm. Heiur. 
amphanfen, Profeffor der evaugeliſchen Theologie zu 
oun. Elberfeld 1866. Verlag von R. L. Friderichs. 
I u. 126 SS. 8°. 





er Aufforderung der verehrlichen Redaction, obengenanntes Wert 
fer Zeitjchrift zur Anzeige zu bringen, hat der Unterzeichnete 
o bereitwilfiger entſprochen, als er ſich mit den bier vorge: 
ren Anfichten, mit den Grundfägen, von denen der Herr Ver- 


Kamphauſen 


ausgeht, wie mit feinen Reſultaten faft durchgehends 
ſter Uebereinftimmung weiß. Das Gefchäft des Kritifers ı 
elt ſich in vorliegendem Zalle in das bei weitem angenehn 
mit Weberzeugung zuftimmenden Referenten. Wirklich di 
manches neuere theologische Büchlein von fo mäßigem Umf 
ſolchen Reichtum an feinen Beobachtungen und treffen 
: ftreng wiſſenſchaftlichen, als praftiihen Bemerkungen | 
1, wie das vorliegende, das, aus einem Vortrag an einer ı 
n Poftoralconferenz erwachſen, einen höchſt dankenswer 
:ag zu befjerem Verftändnis eines der michtigften Abſch 
zanzen Bibel — des Gebetes des Herrn — liefert. 5 
an der Forfehung des Herrn Profeffor Kamphaufen ganz be 
anerkennend hervorheben müſſen, ift nicht nur die Ruhe, 
nheit und Gründfichkeit derfelben, fondern noch mehr die dı 
hervortretende Beſcheidenheit, wie fie zumal dem Theol 
namentlich einem jolchen Gegenftande gegenüber fo wohl anf 
das unverfennbare warme religiöfe Intereſſe am der Heil 
e, die Bier behandelt wird. Man leſe 3. B. ©. 145 
ßbemerkung: „Vielleicht erwedt meine Sprache aud | 
jem den Schein der Unbeſcheidenheit und zu feiten Zuver 
Richtigkeit der eigenen Anſicht; aber ich bitte den Leſer, 
ils Schein anzufehen, als eine Form der Darftellung, di 
veftändigen Verffaufulirungen mit ‚das möchte‘, ‚dürfte fo | 
mw. allerdings vorziehe. Obwol ich meine Anficht ftets | 
ſprochen habe und für jegt nichts beſſeres als den vorliege 
gen Verſuch zur Erklärung des Gebets des Herrn bieten f 
fe ich doch durchaus nicht, dag ich manchen Fehler bega 
und Hoffe, mir für weiteres, tieferes Eindringen in den 
Gegenftand ftets frifche Lermluft zu beivahren.“ Beabfic 
Herr Verfaffer auch nicht eine vollftändige Auslegum; 
(©. 3), fo Hofft er doch „einen Beitrag zur Erklärung 
. zu geben, der einige der praftifchen und gelehrten Erörte 
welche hier zur Sprache kommen, dem endlichen Abſch 
zu bringen fucht“. Zu dem Zwecke hat er denn durd 
Vorgänger von der patriftifchen bis auf unfere Zeit gemwil 
benntzt, und mit einer gewiffen Befriedigung, die man ei 
mirten, wie der Unterzeichnete ift, zu gute halten möge, | 


Das Gebet des Herrn. 378 


ich bemerkt, wie viel und oft namentlich Calvin, diefer größte Ereget 
unter den Reformatoren, und der treffliche Heidelberger Katechismus 
benugt worden find. Doch wir wollen, fomeit thunlich, über das 
Einzelne veferiren. 

Der Berfaffer fhict in einem erften Abfenitte voran: „Vor⸗ 
bemerfungen, ober gefchichtliche Unterfuchungen über die Bedeutung 
ber beiden verſchiedenen Geftalten des Herrngebets“ (&. 1—21). 
Bir find mit ihm völlig einverftanden, wenn er feine Anficht dahin 
ausſpricht, daß fowol die angegebene Veranlaffung als die Tert- 
geftalt des U.-V. bei Lukas (11, 1ff.) die urfprünglicen und 
hiſtoriſch richtigen find, wogegen das erfte Evangelium, deffen Ab⸗ 
foffung der Berfaffer nicht dem Apoftel Matthäus zufchreibt, eine 
erweiterte Geftalt des Gebete bietet und dasſelbe nad) feiner, die 
Reden des Herrn in größeren Gruppen zufammenftellenden, Manier 
an einer Stelle eingereiht Hat, wo es feinen Zwecken entſprechend 
war. Es haben übrigens offenbar beide Evangeliften aus 
einer und derfelben griehifhen Quellenfchrift dies 
Gebet entnommen, was einzig ſchon das Vorkommen des drra& 
leyduevov „Ersodosog“ in beiden Terten zur Genitge beweift, 
mozu der Berfaffer noch auf anderweitige Spuren in den beider« 
feitigen Texten anfmerffam macht (S. 10f.). Die kürzere Faſſung 
bei Lulas ift wol die urfprüngfich allein vom Herrn geſprochene 
Geftalt des Gebetes; dennod find die Zufäge bei Matthäus nicht 
als „rein willkürlich“ anzufehen, fie können, zumal fie durchgängig 
den urſprünglichen Sinn Chrifti nicht entftellen, fondern nur bes 
ftimmter und deutlicher ausbrüden — weshalb diefe weitläufigere 
Seftalt des U.-V. im privaten und befonders im öffentlichen Ge- 
brauch der Chriſtenheit ftets den Vorzug vor der knappen behaupten 
wird —, gar wohl aus der mündlichen Weberfieferung als Herrn- 
worte vom Evangeliften vorgefunden und aufgenommen worden 
fin (S. 14f.). Der Umftand, daß ſich die Erweiterung, nicht 
aber die Weglaffung von Bitten, wenn ſolche wirflid von Anfang 
einen integrirenden Beftandtheil des Gebets ausgemacht hätten, ger 
nügend erklären läßt, entjcheidet, wie uns bebünft, ftringent für die 
Urſprunglichteit der fürzeren Faſſung, die bei Lukas unbejtritten 
lritiſch der allein berechtigte Text ift. 

Nach einigen Bemerkungen über die richtige, fich fozufagen von 


Kamphauſen 


ergebende und doch auch ſchon verkannte Eintheilung des U. 
17ff.) folgt im zweiten Abſchnitt die Unterſuchung der „ 
des Herengebets und der „ätiologifhen Doxologie“. 
e — um ſogleich mit diefer zu beginnen — nichts weiter 
iturgiſche Schlußformel ſei, welche erft ziemlich fpät in 
unferes Matthäus eindrang, hat der Berfaffer (S. 36 ff. 
einftimmung mit faft allen Tertkritikern und Auslegern « 
überzeugend dargethan; mit echt erffätt er (S. 41): „ı 
» ein Ergebnis der neuteftamentlichen Textkritik feftiteht, fi 
e Unechtheit unferer Doxologie“, und fehließt feine dah 
erung mit den fo beherzigenswerthen Worten (S. 42): „ 
gegenſtändlich betrachtet, darf ich ohne alle Berfönf 
: Bengel, Olshauſen, Tholuck, Bleek und die zahllofen 
n, bie hier der Wahrheit die Ehre gaben, haben damit ı 
migteit bewiefen, als bie neneften Verteidiger des Irrtu 
tige aber fo offenbar fpätere Zufäge, wie fie in Matth. 6 
Joh. 5, 7 vorliegen, nicht nur aus dem griechifchen, fon 
wenn man überhaupt berichtigen will, aus dein -deutjchen T 
Befthalten des Irrtums kann auf die Dauer nur Unf 
:n.” Oder hat etwa unfer deutfches Volk nicht auch ein 
Berliches, heiliges Recht daran, daß ihm feine Theologer 
endlich in ihrer wahren Geftalt geben und nicht ent 
nancherlei menschlichen Zufägen? Mit vollem Recht 5 
3 B. Bunfen im „Bibelwerk“, deſſen N. T. ſoeber 
bequemen Separatdrud erfcheint (1868), als aud) die „S 
ſetzung des zweiten Theiles der heiligen Schrift, genannt N. 
uerdings in zweiter Auflage in Elberfeld (in Commiffion 
angemwiejche, 120) herausgegeben worden ift, jene beiden Zu 
„ während legtere im Texte des Lukas die erft aus Matt! 
erte Form, mit alleiniger Ausnahme der zweiten Hälfte 
Bitte und der Doxologie beibehalten hat. — Die Anrı 
ich richtigen kritiſchen Grundfägen bei Lukas einfad, „, rar 
und fo dem aramäifchen xy entſpricht (S. 28 ff.), wird 
ff. ganz vortrefflich erläutert. Wenn im U. T. der 8 
von Gott gebraucht ift, fo herrſcht dabei die theokratiſche 
ıale Bezichung vor, wenn auch die Idee, dag Gott als Schi 
Irhalter auch der übrigen Völker Vater fei, dort nicht 


Das Gebet des Heren. 378 


foffen ift, fondern in einigen Stellen unverkennbar (Ey. 4, 22) 
gftens ankliugt. Dennoch „hat erit Chriſtus für feine Jünger 
individuellen Vaternamen Gottes eingeführt und zu einem feften 
g gemadt“ (S. 25). Nach riftlicher Idee ift Gott der 
r jedeö einzelnen Gläubigen, nicht bloß einer ganzen Gemein: 
t, eines Volles u. dgl.; der einzelne Chrift weiß ſich in Chrifto, 
wahren Sohne Gottes, gleichſam adoptirt (vgl. Heidelberger 
ch. Sr. 33). Was weiter S. 31f. über die alte Streitfrage, 
„Unfer Vater“ oder „Vater Unfer“ zu beten jei, jowie über 
Zufag „im Himmel“ und nicht „in den Himmelu “ beigebracht 
indem die Mehrzahl, ebenfo ungriechiſch (daher bei Johaunes 
orfommend) als undeutſch, einfach ein Hebraismus iſt, her⸗ 
end von der Form des Wortes oyay, die urfprünglic auch 
eine wirkliche Vielheit ausdrücken wollte, wie erft Spätere 
erftändlich folgerten, da möge man bei unferm Verfaffer jelbit 
eſen. 
ad) einigen feinen Bemerkungen über die, zwar von jeher er⸗ 
te, aber nicht immer richtig und ſcharf genug aufgefaßte Zwei⸗ 
ing der Bitten des U.-V., deren Summe ber Verfaffer ©. 65 
ie Worte zufammenfaßt: „Wir theilen das U.-V. in zwei 
fe, deren erjter die Sorge um die großen Jntereſſen Gottes 
Segenftande hat, wie der zweite die Sorge um unfer indivie 
es Bedürfnis, wenngleich Gottes Ehre und unfer Heil ja an- 
ſeits immer innig zufammen zu denken find“, — folgt die Er- 
ng der erften Bitte. Wortrefflih wird da zunädhft der Siun 
„Heiligen“, in biblifcher Gräcität &yızLew, erläutert durch Zu⸗ 
ehen auf das alttejtamentliche wap und x»ypn und namentlic) 
Dauptftelfe Jeſ. 29, 23, wonach es im allgemeinen bedeutet: 
es Weſen und Eigenfhaften (denn das ift unter „dem Namen“ 
8 gemeint, eigentlich: Gottes Wefen, wie er ſich geoffenbart 
wie Menſchen ihn erkenuen und daher auch benennen) die ger 
de Anerkennung zollen, ihm als den „Heiligen“ anerkennen 
auch durch entſprechendes Handeln jeitens der Gemeinde that- 
ch als ſolchen erweiſen, negativ durch Vermeiden alles dejjen, 
jenem feinem heiligen Wejen zuwider wäre, alles Unreinen 
l., pofitiv duch Wandel im Lichte feines Gefeges, dadurch, 
wir — mit dem Heidelberger zu reden — „unjer ganzes Leben, 


; Kamphauſen 


danken, Wort und Werke dahin richten, daß ſein Name 
ertwillen wicht geläſtert, ſondern geehret und geprieſen wer 
ber den bibliſchen Begriff von wirıp vgl. man noch Lutz, 
sgmatif, ©. 89f. Es bezeichnet Gott als den Auguftus, 
1zigen und Unvergleihlichen, von allem Anderen, Gewöhnli 
efchiebenen, und damit verbindet fi fofort, wie der Verfe 
ſtig nachweift, die Idee auch der fittlichen Reinheit, welche 
tſche Wort „Heilig“ faft ausfchließlih, zumal im gemöhnli 
wachgebrauche, ausdrüdt, während die entjprechenden biblif 
sdrücke eben viel umfafjender find und viel tiefer gehen. 
nn der erften Bitte, die ein „Gebetswunfch* ift, wird von Ca 
3 und gut in die Worte zufammengefaßt: „Summa hujus 
ionis est, ut Dei gloria in mundo reluceat, et qualis 
ebretur inter homines‘“ (©. 53). 

Die zweite und dritte Bitte werden zufammengefaßt, da 
: in der That nichts anderes iſt als eine, nicht zum urjpri 
en Gebet gehörende, ob aud auf guter Ueberlieferung beruhe 
tige Erläuterung der vorhergehenden Bitte, was ©. 63ff. 
ührt wird; das „Reich Gottes“, welcher Begriff nad dem © 
A. und des N. T.'s vom Berfaffer vortrefflich entwicelt 
.56ff.), „tommt“ eben da und ift da vealifirt, wo Gottes X 
hieht; in vollkommner Weife ift diefes bereits der Fall „im f 
[*, ſoll aber mehr und mehr aud „auf Erden“ eintreten. 
anfch geht alſo vornehmlich auf die einftige Vollendung fi 
iches, da Gott wird alles in allem fein, auf die Realifi 
Neichsidee in ihrer ganzen Fülle, und nur fecundär reiht 
Gedanfe an Ausbreitung des Reiches und fpeciell der d 
en Kirche in immer weiteren Kreifen auf Erden an. Die $ 
‚ möchten wir faft fagen, mehr einen eschatologifchen, als ı 
ſſions - Grundton, obwol fegterer nicht ausgefchloffen ift. 
Gewiß mit Recht bezieht der Verfaffer die vierte Bitte, 
cher er ebenfalls den Text bei Lukas als den urfprüngl 
zjenigen bei Matthäus vorzieht, auf die Gewährung der ird 
lichen Nothdurft und nicht irgendwie, weder ausſchließlich, 
b und halb, auf das „geiftliche“ Brot, wie ältere und | 
h neuere Ausleger den ſchlichten Wortfinn haben verdrehen wo 
ı8 Gebet wendet fich eben, nachdem wir erſt um das ge 


Das Gebet des Herrn. 8 


en, was Gottes ift, in den folgenden Bitten zu dem, was unf 
und da das leibliche Leben die Grundlage für unfer geiftlich 
m bildet, fo bitten wir zuerft um alles dasjenige, was zur E 
ung des leiblichen Lebens dient (S. 76 Anm.). Der Züng 
iftt „denkt“ — wie v. Hofmann, Schriftbeweis II, 2. ©.35 
Aufl.), angeführt von unferm Verfaffer S. 20 Anm., ſchön 5 
ft — „zuerft an das, was Gottes ift, und dann erft an fi 
da8 Seine. Er erfennt feine Bedürftigkeit, und daß er fi 
t felber helfen fann, und er vertraut, daß Gott ihm helfen w 
tann (man vgl. die Anredeeund dazu die Erklärung des Heide 
er Kateh., Fr. 120f. — Ref.). Für fein leibliches Leb— 
hrt er nicht mehr, als daß er jederzeit des Lebens Nothdur 
.“ Sowol das PVertrauen auf den himmlischen Vater, d 
re Bedürfniffe beffer als wir felber Tennt, dem wir daher d 
'immung darüber, was denn alles zu diefer Nothdurft gehbi 
rauensvolf überlafjen, als auch die vechte hriftlihe Genügfan 
fprehen ſich in diefer Brotbitte aus (S. 84f.). Befonden 
tig war aber in berfelben immer noch die Etymologie und B 
ung des ausſchließlich in ihr vorfommenden Wortes naovouo 
r Erffärer hat, jo halten wir dafür, geleitet von der Abhani 
Leo Meyers (in Adalb. Kuhns Zeitſchr. für vergleichen 
achforſchung VII, 401 ff. [1858]), die Streitfrage nun w 
immer entfchieden und auf's Meine gebradt. Jenes Adject 
ſich nicht von Erusvar oder von 7) Errodc« sc. jusgm a 
— unbegreiflicherweife — noch Bunfen überfegt: „unfer mor 
des Brot gib und Heute“, mwoburd überdies ein fonderbarı 
erſpruch entfteht, noch aud vom Subſtantiv odot«, fonder 
Participio des Verbi &meivas, gerade wie megiovaros ve 
eivon, und ber Wortfinn ift demnach eigentlich „Ldazu] gehörig‘ 
lals: angemefjen, erforderlih, ausreichend, nothdürfti 
* treffend vergleicht der Verfaſſer die Stelle Prov. 30, 8, a 
vol angefpielt ift und deren pm om, eben durch dmiovouc 
ergegeben zu fein fcheint. Schwierig ift e8, im Deutfchen ei 
8 und ganz entfpredhendes Wort zu finden, wenn man nid 
von Luther in_jener altteftamentlichen Stelle gebrauchte, al 
he „beſchieden“ beibehalten will (— da8 von Gott uns bi 
iene, mäßige, zu unferer Nothdurft ausreichende Brot). Aı 


Ramphanfen 


mol gibt es die oben angeführte Elberfelder Ueberſetz 
nöthige Brot“. ö 
Auslegung der fünften Bitte bildet bekanntlich der Zu 
: auch wir vergeben allen unjern Schuldnern“, wie der 
gliche, bei Matthäus durch @s richtig gebeutete, Text la 
yogmatifche Schwierigkeit, — doch nur fcheinbar, wenn 
genug in bie Tiefe hriftlic » religiöfer Piychologie geht. O 
war enthält derfelbe eine Begründung der Bitte um 
9 der eigenen Schuld von Seiten Gottes durch Hinwei 
as eigene Verhalten. Aber de&halb ift doch von keinerlei 
und Werfgerechtigfeit da die Nede. Geradezu ein Gel 
eine Ermahnmg enthalten die Worte ebenfowenig, wie 
t hat deuten wollen, wiewol nicht zu leugnen ift, daß — 
Verfaffer mehr, als gefchehen ift, Hätte hervorheben kö 
tollen — im Grunde jede diefer Bitten implicite dem 
v auch die Pflicht des entfprechenden Verhaltens feine 
egt. Inſofern kann man mit ©. 113 fagen: „.. u 
ihnfichkeit wird Hier erwähnt, weil fie das dem erflehten 
Verhalten nothwendig entfprechende menfchliche Verhalten 
et. ... Der Herr legt uns die Berufung auf u 
: verföhnfiche Stimmung darum in den Mund, daß er 
eine weitere Bürgichaft für die Erhörung des Gebetes 
So erklärt 3. B. Luther im größeren Katechismus, 
> ber Heibelberger, Fr. 126 vgl. 1 Joh. 3, 14. Wir mil 
etwas weiter gehen und fagen: was hier als Beding 
tlangung eigener Sündenvergebung auögefproen wird, if 
ıde ganz das Gleiche, was fonft mit Buße und Glaı 
ihriftum als den Bedingungen der Vergebung geſetzt 
beidemal das Gefühl der Hülfsbedurftigkeit vor Gott, 
omol in Buße und Glauben, als in der Bereitwilligkeit, 
Mitmenfcen zu vergeben, kundgibt; letzteres thut nien 
icht erft felbft durch den Heiligen Geift zur Erkenutnis | 
ve und dadurch zum Suchen des Erlöfers geführt worder 
Lug, Bibl. Dogmatit, S. 168f. 
ol mit Recht bezeichnet der Verfaffer die fogenannte fic 
als eine richtige Erffärung der urfprünglichen fechften: 
Matthaus, wie ſchon Tertullian jene Worte eine clar 


Das Gebet des Herrn. 879 


rpretans nennt, die allerdings, einmal vorhanden, als ein faft 
tbehrlicher Zufag erjcheint, teinenfalls aber als eine eigene Bitte 
chtet werden kann. Vortrefflich macht der Verfaſſer S. 120f. 
ierkſam auf den Unterſchied von dverdm ano und dverdar 
jenes; außer im U.-V., noch viermal im N. T. vorkommend, 
ıtet „bewahren vor“ [einer erft noch drohenden Gefahr], diefes 
en aus...“ [mern man fich wirklich bereit in der Noth u. ſ. w. 
det]. Dazu paßt denn Hier auch das Zeitwort elapsgew in 
igentlichen Bitte, deren Sinn vom Berfaffer im allgemeinen 
und gut erörtert wird, wie er auch den bekanntlich mehrbeutigen 
drud zreigronos genau und ſcharf erflärt (©. 128 ff.). Der- 
bezeichnet nämlich gewöhnlich in paffivem Sinne den Zuftand 
Prüfung oder Verfuhung und hat im Sprachgebrauch eine üble 
mbedeutung erlangt, obgleich) die Ableitung nur auf durchdringen» 
Erforſchen führt, und z. B. 1 Petr. 4, 12 da8 Wort den guten 
= doxsmmola befigt. Luther hat an zehn Stellen „Un 
ing“ (d. h. feindliche Bekämpfung) geſetzt, an den übrigen nem 
len des N. T.'s, wo es noch vorkommt, dagegen „Verfuchung“. 
Grund unterſcheidet der Verfaffer zwei Bälle, je nad dem 
en Verhalten des Menſchen zu den äußeren Umftänden, d. h. 
der kommt es nicht zur Side — dann pflegt man dieſe Ver- 
ng bloß als „Prüfung“ zu bezeichnen, oder aber der Menſch 
fiegt der Verfuhung, wenn es auf die Sal. 1, 13—15 ber 
bene Weife zugeht. Wenn nun aber der Verfaffer unfere Bitte 
ſchließlich als eine Bitte um Verſchonung mit Verfuchungen 
öfem Ausgange auffafjen will, jo Können wir und diefe 
jränkung doch nicht gefallen Lafjen. Was der Verfaſſer ©. 132f. 
jegründung feiner Anficht anführt, eine Bitte um Verſchonung 
„Prüfungen“ (im guten Sinne) wäre zwiefach thöricht, theils 
ihre Erfüllung eine reine Unmöglichfeit wäre, theild weil man 
dadurch allen Fortferitt, allen Segen ber Trübfal und des 
pfes verbitten würde, trifft nicht zum Ziele; dies würde nur 
eingewendet werden Fönnen, wollte man rreig@onos ebenſo 
tig nur von ſolchen „Prüfungen“ (im guten Sinne) verftehen. 
glauben dagegen, dies Wort hier in feiner allgemeinen 
umfaffenden Bedeutung nehmen zu follen: man weiß ja 
feinem einzigen wesgaouos zum voraus, welchen Ausgang er 


Kamphanfen, Das Gebet des Herrn. 


‚em Betenden haben werde, einen ſiegreichen, ober umgel 
auch Berfuchungen gelegentlich heilſam und daher nothwendi 
och kann und wird feiner, der geſunde Frömmigkeit Hat, aı 
hen, als daß fie nicht über ihn kommen, dag er mögl 
jolchen verfehont bleiben möchte, denn jede Verſuchung 
zſtens auf einige Zeit, bis der Sieg entſchieden ift, den Fr 
Seele mit Gott, ſtellt ihm gleichſam in Frage; fie fegt 
fen, „fo Tange fie da ift“, in eine gewiffe Unruhe, ir 
ematifches Schwanken; es muß ſich da jeweilen erft ze 
mit einem Menfchen innerlich eigentlich ift, ob er ſittlich 
feft ift, oder nicht. Und eben im Gefühl meiner Ohnn 
m Schwachheit, der Leichtigkeit des Unterllegens im d 
ichen Streit, bitte ich den Vater, mich nicht in ſolche Lage 
n, fo gut ich ihn um Bewahrung vor phyſiſchem Uebel, K 
u. dgl. flehen darf, wenngleich auch ſolche Trübfal für 
ım werden fann, ja joll. Erſt wenn wir von allem 2 
:t fein werben, hat die Verſuchung gar keine Macht mehr 
und findet feinen Plag mehr, — und auch in diefer Bezie 
tert der Zufag bei Matthäus unfere Bitte durdaus ri 
übrigens unter dem drrd Tod morngod weder das „U 
‚ wie alfe Leibliche Nothdurft, vielmehr zur vierten 
2), noch „der Böje“ (trotz Krummacher in den 9 
„u. Krit. 1860, I) gemeint jein fünne, hat der Ver 
36f. gut nachgewieſen; gegen letztere Auffafjung ſpricht 
der Gebrauch von edoysgeiw eis im erſten Gliede 
och wir breden hier billig das Referat über die vortre| 
ift ab; fie ift eine koſtliche Gabe und werth, in den Hi 
jeden Geiftlichen zu fein und wieder und wieder ftudi 
en, denn wer hätte je die unendliche Fülle des Herrng 
lernt? Dem Herrn Verfaffer aber gebürt billig der au 
Dauk für feine fchägenswerthe Anleitung zum Gindr 
tiefere Verftändnis diefes herrlichen Gebetes. 


Bern. D. Rüetfdi, Pfarre 


—— 


Srogramm 
ver . 
ager Gefelligeft zur Verteidigung der äriftigen Religion 


für das Jahr 1868. 





irectoren der Haager Geſellſchaft zur Verteidigung 
Hriftlihen Religion haben in ihrer Herbftverfammlung, 
21. September u. f., ihr Urtheil ausgefprochen über neun bei 
ı eingelaufene Abhandlungen. Zuerft fprachen fie ihre Anficht 
über vier Antworten auf die Frage: 

Wie hat man, dem Geifte und den Principien des 
iftentum® gemäß, über den Krieg zu urtheilen? 
(He Verſuche find früher und fpäter vorgenommen 
den, um dem Kriegfüßren Einhalt zu tun? Was 
fi hierin bei dem Fortſchritt der gefellfhaft- 
en Entwidelung und unter dem Einfluffe religiöjer 
fittliger Bildung für die Zukunft erwarten?“ 
ie Directoren verlangen eine gründliche Behandlung des Ge- 
andes, verbunden mit einer Maren und gefälligen Darftellung, 
Gebitdete jeglichen Standes anziehend. 

lit Bezug auf den Verfaffer einer hochdeutſchen Abhandlung, 
dem Wahliprug: Si vis pacem para bellum, urtheilten 
daß derfelbe, bei überreicher von ihm befundeter Bücherfenntnis 
Schriften der Antogoniften des Krieges meiftentheils unberüd- 
Heol. Stud. Jahrg. 1869. 23 


. 





882 Programm 


ſichtigt gefaffen, den jüdiſchen und chriſtlichen Standpunft mitein- 
ander verwirrt, ſich felber principiell widerfprochen und eine Arbeit 
geliefert Habe, die ſchon ihrer Außerft- mangelhaften Form wegen 
für die Geſellſchaft unbrauchbar fei. 

Diefer ftand eine franzöfifche Abhandlung gegenüber, mit dem 
Motto: guerre & la guerre, bie durch die Anmuth ihres 
Stils und die Wärme, mit welcher der Derfaffer feine Weber 
zeugung vertritt, fehr anziehend befunden wurde; jedoch mangelten 
Beweiſe gründfiher Studien, wie fie, der Gegenftand erfordert, 
allzuſehr, als daß diefelbe' zub Waltbnung hätte vorgemerkt werden 
tönnen. . 

Auch dem Verfaffer einer niederländifchen Abhandlung, mit dem 
Wahtfpruch· Zahig zijn de vrele'stikten, mußten Di 
reetoren den auögefegten Ehrenpreis verweigern, wie ſehr fie auch 
feine ungemein reiche Beleſenheit und vielumfaſſenden Kenntniſſe zu 
Toben hatten; denn feine Arbeit, abgefehen von unnöthiger Breite 
und von anderen Mängeln, genügte keineswegs dem von ihnen ausge 
ſprochenen Wunſche einer „grlindlichen Behandlung des Gegenftandet 
verbunden mit einer Maren und gefälligen Darftellung*. 

Dagegen fanden fie in der hochdentſchen Abhandlung, mit dem 
Wahlſpruch: Der Friede iſt ein großes und ſchweres 
Wert, ihre Frage in der Meife beantwortet, daß fü fie die Freude 
hatten, dem Verfaſſer den ausgeſetzten Ehrenpreis unbedenklich zu⸗ 
weisen zu Können. Bei Gröffnung des Billets ergab fich als Ver 
faffer derſelben Dr. Heinrich Wisfemann, Lehrer am Gymna- 
fium zu Hersfeld in der preußifhen Provinz Kur— 
heffen, dem früher, ſchon einmal die Befrönung zutheil geworden 
war für feine Abhandlung über bie Sclaverei. 


Nun fhritten die Directoren zur. Beurtheifung einer hochdeutſchen 
Arbeit, mit dem Motto: Ne quis vos seducat ullo modo, 
als Antwort auf die Frage: „Eine gedrängte Geſchichte des 
Bufsyismus in England, mit Nachweis der Urfaden, 
woraus dieje Erfheinung zu erklären, und was man 
zu urtheilen hat über feine bedentligen Folgen und 
vermuthliche Zutunft 





der Haager Gefellfchaft 3. Verteid. d. hriftl. Religion. 883 


Aber ‚diefe Abhandlung, wiewol alienthalben eine umfangreiche 
Belefenheit des Verfaſſers befundend und einige Beweiſe unpar- 
teiifcher Forſchung enthaltend, litt allzufehr an dem Mangel äußerſt 
ungefälfiger Form, welcher bei ber Arbeit desfelben Verfafjers, mit 
dem Motto: Si vis pacem para bellum, Bervorgehoben 

worden ift, fowie an den Mängeln fehlender Pragmatit und par⸗ 
teiiſher Vorliebe für den Pufeyismus, fo daß fie den Leſern ber 
Werle der Geſellſchaft nicht dienlich fein könnte. , 


Darnach kamen die Directoren zu einer ebenfalls hochdeutſchen 
Abhandlung, mit dem Wahlſpruch: V arg aurös ori ra 
Eoya, über die Frage: 

„Da fich bei dem heutigen Streite über die Wunder, welche von 
Reſus und den Apoſteln zufolge des N. T.'s verrichtet worden find, 
eine manigfaltige Meinungsverfchiedenheit offenbart, ſowol üher 
dasjenige, was die Verfaffer jener Schriften fi, bei ihrer Dar- 
ftellung, unter Wunder vorgeftellt Haben, als über den relativen 
Berth, den man jener Darftelfung zuguerfennen hat, fo wünfcht die 
Geſellſchaft: ‚Eine Abhandlung über den Inhalt und den 
Werth des Wunderbegriffes, jo wie diefer bei den 
Berfaffern des N. Ts angetroffen wird.‘ 

Es urtheilten die Directoren, daß diefe Abhandlung nicht die 
mindeften Anfprüce auf Bekrönung haben fünne, weil fie, anftatt 
über den Wunderbegriff der Verfaſſer des N. T.'s zu handeln, wie 
es die Frage verlangte, eine Theorie über die nenteftamentlichen 
Wunder aufftellt, die durchaus unhaltbar ift. 


Hiernach ſprachen die Directoren ihr Urtheil aus über eine eben- 
falls Hochdeutfche Abhandlung, mit dem Motto: MHAEN ATAN, 
die Frage betreffend: 

„Dat man hinreihenden Grund, um-an der Hand 
einer nicht bloß grammatikaliſchen, fondern aud hi— 
ſtoriſch-kritiſchen Exegefe der Schriften des N. Ts, 
Jeſus und den Apofteln eine derartige Glaubens- und 
Sittenlehre zuzuſchreiben, daß aus diejer die Über» 
triebene Askeſe der chriſtlichen Rirge herzufeiten 
wäre?“ 

25 





884 . Programm 


Aber ein ähnliches Misverftändnis, wie es bei der: vorhergehen- 
den Abhandlung bemerkt wurde, hatte aud für dieſe die Aus: 
ſchließung von der Bekrönung zur Folge, da der Verfaſſer in feiner 
Weiſe eine Askeſe nach proteftantifchen Principien vorgetragen hatte, 
während von der Geſellſchaft eine Verteidigung des urfprünglicen 
Chriftentums verlangt worden war, und zwar gegen die Anſchul⸗ 
digung, als Hätte dieſes die Uebertreibung der Askeſe in der chriſt⸗ 
tchen Kirche verſchuldet. 


Endlich ſprachen die Directoren ihr Urtheil aus über zwei nieder⸗ 
landiſche Abhandlungen, auf die Frage: 

„Da Etliche in neuerer Zeit, auf Grund einer großen Anzahl 
Stellen in den Evangelien, der Meinung find, daß Jeſus feine 
perfönfiche Zukunft angekündigt hat, uhd Hieraus nachtheilige Fol 
gerungen gezogen werden in Bezug auf die Reinheit feiner ben 
über das Wefen und die Entwickelung des Reiches Gottes, fo ver- 
langt die Gejelljhaft: ‚Eine genaue Erflärung und Hifte 
rifhefritifhe Betradtung der Stellen des N. ZT 
worin Jeſus von feiner Zukunft ſpricht, damit fi dar- 
aus ergebe, ob und inwiefern bie eschatofogifchen Vorſtellungen ber 
erften chriſtlichen Kirche, Einfluß gehabt haben auf die Darftellung 
(Redaction) der Worte des Herrn, in Bezug: auf diefen Gegen 
ftand.‘ * 

Auf die Antwort mit dem Mötto: Origenes in Matth. 
XXIV, 30, mußten die Directoren dasfelbe anwenden, was man 
in dem Programm vom Jahre 1866 Tieft, mit Bezug auf die 
Abhandlung mit dem Wahliprud: Eic xgiue Eyw xrA., nämlich, 
bag fie „zu viel willkürliche Schrifterflärung und falſche Schluß 
folgerung enthalte, um ber Geſellſchaft dienen ‚zu fünnen“. Aber 
diefe Abhandlung konnte auch ſchon darum keinen Anfprucd auf 
Betrönung machen, weil die Geſellſchaft nicht bloß eine genaue Er- 
Härung, fondern auch eine hiftorifch -Fritifche Betrachtung der Stellen 
des N. T.'s, welche auf die Zukunft Jeſu Bezug haben, verlangt 
hatte, und diefe Betrachtung Bier gänzlich fehlte. 

Günftiger war das Urtheil der Directoren über die andere Ab 
Handlung, mit dem Motto: Odx 7Ade diaxovnFjvar, aA dia- 





ber Haager Geſellſchaft z. Verteid. d. qhüiti. Religion. 386 


xovjoes. Gegen vieles darin Befindliche hatten Directoren zwar 
gar zu wichtige Bedenken, beſonders exegetifcher und kritiſcher Art, 
um den Berfaffer mit dem ausgefegten Ehrenpreife von vierhundert 
Gulden befrönen und die Arbeit in die Werke der Gefeltfchaft aufe 
nehmen zu können; aber fie ſchien ihnen doch in der Beantwortung 
eines jeden einzelnen Theiles der Frage fo viele Belege von Fleiß, 
Kenntniſſen und Scharffinn darzubieten, daß fie beſchloſſen, dem 
Verfoffer, wenn er feinen Namen- befannt machen wollte, eine 
füberne Denkmünze nebft Hundertundfünfzig Gulden zuzumeifen, ins 
dem fie ſich bereit erflärten, ihm ihre Anmerkungen zu feiner Arbeit 
mitzuteilen, wenn er wünfchen follte, diefe fennen zu lernen. Bor 
dem Abdruck diefes Programms Hat fi als Verfaſſer bekannt 
gemacht, Herr J. Auappert, Prediger bei der reformirs 
ten Gemeinde zu Leiden. 


* 

Von neuem ſchreibt die Geſellſchaft die nachfolgenden vier 
Fragen aus: 

L „Da ſich bei dem heutigen Streite über die Wunder, welche 
von Jeſus und den Apofteln zufolge des N. T.'s verrichtet worden 
find, eine manigfaltige Meinungsverfciedenheit offenbart, ſowol 
über dasjenige, was die Verfaffer jener Schriften fi, bei ihrer 
Darftellung, unter Wunder vorgeftellt Haben, als über den rela= 
tiven Werth, den man jener Vorftellung zuzuerfennen hat, fo ftelit 
die Geſellſchaft die nun fo redigirte Frage: ‚Welhen Begriff 
haben fi die VBerfaffer des N. T.'s vom Wunder ge- 
maht? Welcher Werth ift durch fie dem Wunder zu— 
erfannt worden? Welche Bedeutung hat ihre Anficht 
über das Wunder noch für unfere Zeit?‘* 

OT. „Eine gedrängte Geſchichte des Pufeyismus 
in England, mit Nachweis der Urſache, woraus dieſe 
Erjheinung zu erklären, und was man zu urtheilen 
hat über feine bedeuflihen Folgen und vermuthliche 
Zutunft.“ 

- IU. „Hat man hinreidenden Grund, um an der 
Haud einer niht bloß grammatifalifhen, fondern: 





886 J Programm 


auch hiſtoriſch-kritiſchen Exegeſe der Schriften des 
N. T.'s, Jeſus und den Apoſteln eine derariſige Glau— 
bens- und Sittenlehre zuzuſchreiben, daß aus dieſer 
die übertriebene Askeſe in der chriſtlichen Kirche her- 
zuleiten wäre?“ 


IV. „Eine Abhandlung über die Trennung von Kirche 
und Staat.“ 

Die Geſellſchaft verlangt, daß dabei mit Sonderung gende 
werde auf das Princip und auf deffen Anwendung, infonderheit für 
bie Niederlande. 


Auch werben die zwei folgenden neuen Fragen ansgefchrieben: 


J. „®ie hat man aus Biftorifhem Geſichtspunkte 
zu urtheilen über den Sag: ‚Reine Kirde ohne Eon- 
feffion‘? Und welde Folgerungen dat man aus biefer 
hiftorifhen Betrahtung herzuleiten, mit Bezug auf 
die Weife, in welder diefer Sag unter den Brote 
ftanten feftgehalten werden muß?“ - 


II. Weil bei den Heutigen Vorfämpfern der Humanität ver 
ſchiedene, felbft einander widerftreitende Begriffe über diefelbe an- 
getroffen werden, fo frägt die Geſellſchaft: „Wie haben mir 
die Humanität in Bezug auf ihr Wefen zu befrad- 
ten? Welche verfhiedenen Wirkungen find von ber 
felben zu erwarten, je nachdem ſie mit Religion und 
Epriftentum verbunden ift oder nit?“ 


Den Antworten auf dieſe ſechs Fragen wird vor dem 15. 
December, 1869 von der Gejellfchaft entgegengefehen. Was 
fpäter eingefandt wird, muß pflichtgemäg bei Seite gelegt werden. 

Für die genügende Beantwortung feber obgenannten Preisfrage 
wird die Summe von vierhundert Gulden ausgefegt, melde 
von den Berfaffern in baarem Gelde entgegengenommen werben 
kann, wenn fie es nicht vorziehen, bie goldene Denfmünze der Ge 
ſellſchaft von zweihundertundfünfzig Gulden an Werth, 
nebft Hundertundfünfzig Gulden in baarem Gelde, ober 








“+ bei Haager Geſellſchaft 3. Berteid. d. chriſtl. Keligion 887 


die filberne Denkmünze nebft dreihundertfünfundadhtzig 
Gulden in baarem Gelde zu erhalten. 5 “ 


Bor dem 15. December diefes Jahres wird ben Antworten 
entgegengefehen auf die Fragen über die Todesftrafe; den Duar 
lismus und Monismuß; eine Apologie des Chriſten- 
tums; die Ideen Jeſu über Gott; die Weltfhöpfung; 

‚ und eine Gefhichte der religidfen Bewegungen in Klein- 
afien während der zwei erften Jahrhunderte bes 
Ehriftentumg. Ueber die Todesftrafe ift bereits eine hoch-⸗ 
deutſche Abhandlung eingelaufen, mit dem Motto: Der Tod ift 
der Sünde Sold u. f. w. Diefe Abhandlungen follen in der 
aunächftfolgenden Herbftverfammlung durch die Directoren beurtheilt 
werden. 


Säriftfteller, die fi um den Preis bewerben, werben barauf 
zu achten haben, daß fie die Abhandlungen nicht mit ihrem Namen, 
fondern mit einer beliebigen Devife unterzeichnen. Ein befonderes, 
Namen und Wohnort enthaltendes und gut verfiegeltes Billet 
habe fodann dieſelbe Devife auf der Adreſſe. 

Die Abhandlungen müffen in holländiſcher, lateiniſcher, franzö« 
ſiſcher oder deutſcher Sprache abgefaßt, und bie- in deutſcher Sprache 
mit lateiniſchen Buchſtaben gefchrieben fein, widrigenfall® fie bei 
Seite gelegt werden. 

Ueberdies wird den Verfaffern auf's neue in Erinnerung gebracht, 
daß die Directoren großen Werth darauf legen, daß die ihnen zu⸗ 
gefandten Abhandlungen fi durh Gedrängtheit empfehlen. 

Auch ergibt es fich jährlich, wie ſehr die Verfaffer fich felber 
ſchaden, wenn fie in ihren Antworten auf die Fragen der Gefell- 
ihaft die äußere Form vernadhläßigen. Directoren machen darum 
auch jet wiederum ihren feſten Entſchluß befannt, daß fie Abhand- 
lungen, deren Schrift nad) ihrem einftimmigen Urtheile undeutlich 
ift, der Beurteilung nicht unterziehen werden. 

Die Abhandlungen müffen mit einer bei der Geſellſchaft un 
befannten Hand gefehrieben fein und portofrei beforgt werden 
an den Mitdirector und Secretär der Gefellichaft, W. 4. van 
Öengel, Theol. Doct. u. Prof. 38 Beiden. 


388 Programm d. Haager Gefellich. 3. Berteid. d. chriſtl. Religion. 


’ 
- Ferner fei aufs neue zur Warnung daran erinnert, daß die 
Verfaffer durch Einlieferung ihrer Abhandlungen fich verpflichten, 
von einer gefrönten und in bie Werke der Gefellfchaft aufgenom- 
menen Abhandlung feine neue ober verbefferte Ausgabe zu veran⸗ 
ftaften, ohne dazu die Bewilligung der Directoren erhalten zu 
haben. 

Auch werde im Auge behalten, daß bie eingereichte Handſchrift 
einer abgewiefenen Abhandlung Eigentum ber Gefellihaft bieibt, 
es fei denn, daß dieſe fie aus freiem Willen cedire. 


verthett Bucdrndirei in Gothe. 











Theologiſche 


Studien und Kritiken. 


Fine Zeitſchrift 
für 
dns gefamte Gebiet der Theologie, . 


begründet von 
D. 6. Ullmanu und D. $. W. C. Umbreit 


und in Verbindung mit 
D. 3. Müller, D. W. Benfhlag, D. 3. Köflin 
herausgegeben 


D. C. B. Hundeshagen m D. E. Riehm. 





1869. 


Zweiundvierzigller Jahrgang 
Zweiter Band. 





Gotha, 
bei Sriedrid Andreas Perthes. 
1869. 





CTheologiſche 


Studien und Kritiken. 


Fine Zeitſchrift 
für 


das gefamte Gebiet der Theologie, 


begründet von 






B. C. Ullmann uns D. F. W. 6. NUmbreit 
und in Verbindung mit 
D. 3. Müller, D. W. Beyfhlag, D. 3. Röflin 
herausgegeben 
D. C. 8. Hundetheyn uw D. €. Riehm. 





Dahrgang 1869, driktes Heft. 





Gotha, 
bei Friedrich Andreas Perthes. 
1869. 


Abhandlungen. 


1. 


D. Rihard Rothe 
| Bon 
Aruſl Adelis, Paſtor in Haftedt bei Bremen. 





In den legten Jahrzehnten hat wol kaum der Tod eines Mannes 
eine fo allgemeine und bewegte Theilnahme in allen Kreifen der 
theologiſchen und kirchlichen Gegenwart hervorgerufen, wie ber am 
20. Auguft 1867 erfolgte Heimgang bes unvergeßlichen D. Richard 
Rothe. Hier braucht man nach feiner Seite hin zur Trauerflage 
u ermahnen: „Wiffet ihr nicht, daß auf dieſen Tag ein Fürft und 
Großer gefallen ift in Israel?“ — fie wiffen es Alle, und die 
zahlreichen Nekrologe *) in unferen kirchlichen Zeitfchriften geben ein 
vielftimmiges und einmüthiges Zeugnis davon, daß in Rothe einer 
dr begabteften Forſcher, der vielfeitigften und tiefften Gelehrten, 
der frömmften Theologen un entriffen fei. Solche Art der Ein 
müthigfeit, ob auch im befchränfterem Umfange, ift allerdings nichts 


a) Unter den Nachrufen, welche dem feligen Rothe gewidmet find, zeichnet ſich 
aufer dem Aufſatz bes D. Fr. Nippold („Ric Rothe; Rücdblick auf 
fein 2gben, Denken, Wirken und Scheiben“ in Gelzers Monatsblättern 
für inmere Zeitgefdichte 1868, Januarheft, ©. 24ff.) in befonderer Weiſe 
der des Stabtpfarrers Hönig zu Heidelberg aus (Süddeutſches evangeliſch- 
proteftant. Wochenblatt 1867, Nr. 40). Die Darftellung ift formell wahr- 
haft Tünftlerifh, anſchaulich und lichtvoll, materiell im allgemeinen richtig, 
wenn auch nicht ohne einfeitige Schönfärberei. Einige pofitive Irrtümer 
werben wir weiter unten zur Sprache bringen. 


396 Adelis 


Seltenes bei dem Hinfcheiden hervorragender Häupter der Wiſſen⸗ 
ſchaft und des kirchlichen Lebens, oder auch einflußreicher Vorkämpfer 
befonderer Richtungen und Zeitbeftrebungen, obgleich da der vers 
ſchiedene Standpunkt, von dem aus die Beurtheilung gejchieht, zu 
gar fehr verfchtedener Schägung der Größe und des Werthes der 
Heimgegangenen veranlaßt. Aber etwas fehr Seltenes ift es, daß 
in allen Lagern der theologifhen und kirchlichen Richtungen, troh 
der großen Spannung derfelben in unferen Tagen, Solche fich finden, 
die dem Betrauerten in inniger und herzlicher Liebe, ungeachtet aller 
früheren oder fpäteren Diffonanzen, ſich verbunden fühlen, und 
deren Wehmuth übertönt wird von dem Dante zu Gott für den 
Segen und Gewinn, der ihnen in dem Entfchlafenen gefchenkt ward. 
Schon bie Rückſicht auf den Leferfreis unferer Zeitfchrift, welcher 
zahlreiche Freunde und in weiterem Sinne des Wortes fo zu nen 
nende Schüler Rothe's in feiner Mitte Hat, mehr noch die in jeder 
Beziehung eigentümfiche und hervorragende Stelle, die Richard Rothe 
in ber evangelifchen Theologie einnahm, würde den Theol. Studien 
und Kritifen eine reiche Veranlaffung bieten, bes Heimgegangenen 
in ihren Blättern ausführlid; zu gedenken. Die nahen Berhäftniffe 
jedoch, in welden ber felige Rothe zu der Redaction dieſer Zeite 
ſchrift ftand, deren Leitung in den Jahren 1861—1864 mit dem 
ihm nahe befreundeten Ullmann er ſich unterzogen hatte, fobann bie 
Mitarbeit an den Studien und Kritifen, die ihm die bekannten, fait 
berühmt gewordenen Auffäge über den Begriff der Dogmatik, über 
die Offenbarung und über die Heilige Schrift fin den Jahrgängen 
1859 u. 1860 *)) verdanken, dies alles macht die bloße Beran- 
laſſung zu einer unumgänglichen Pflicht der Pietat. Um diejer 
ſchönen Pflicht nachzuklommen, Hat die Redaction diefer Zeitfchrift 
dem Verfaffer den Antrag geftellt, eine Charakteriftit des hohen 
Lehrers, feiner Berfönlichkeit, wie feiner theologifchen und kirchlichen 
Stellung, zu Kiefern; diefen Antrag glaubte ich nicht ablehnen zu 
dürfen, obgleich) ih unter allen vielleicht dazu notwendigen Erfor- 
derniffen nur von einem mit aller Beftimmtheit weiß, dag es mir 


a) Später find diefe drei Abhandlungen beſonders Herausgegeben in der Schrift: 
„Zur Dogmatit“. Gotha 1869. 2. Aufl. 1869. 





D. Richard Rothe. 397 


nicht fehlen wird, nämlich das helle und ſcharfe Auge, welches man 
zum rechten Sehen und Beuctheilen bedarf, — wenn es nämlich 
wahr ift, daß ullein die Liebe fehend ift und wahr, daß nur fie 
das Auge ſcharf und helle macht *); denn eine Liebe und Verehrung 
zu dem feligen Lehrer, wie ich fie inniger und frömmer faum zu 
einem anderen Sterblichen gehegt, ift trog aller theoretifhen und 
proftifchen Differenzen nie in mir erfaltet. 


I Rothe's Febensgang. 


Erhebend ift es und anziehend, den Führungen Gottes und Seinen 
Beranftaltungen nachzugehen, woburd Er mit weifer Hand bie Les 
bensſchickſale der Seinen leitet, die eigenen Wege ihnen verlegt oder 
zu ihrem Heil fie wendet und die Wege Seines Rathes mit ihnen 
betritt, damit in der Entwickelung und Beeinfluffung der urfprüng« 
lichen individuellen Anlage fie zu dem bereitet werden, was fie fein 
foffen, damit fie fr die Aufgaben in dem Baue feines Reiches 
zugerichtet werden, für welche Er fie gefegt hat. Nur auf dem 
Bege, den er eben geführt worden ift, konnte auch Richard Rothe 
u jener Originalität feines geiftigen Wefens gelangen, zu dem aus 
fh felbft herausgewachſenen Deufer werden, der auf dem Boden 
der tiefften refigiöfen Erfahrungsthatfache fein theologiſches Syſtem 
fich auferbaut, zu jener vielfeitigen und reichen Individualität, wie 
er und in feinem gereiften Mannesalter vor Augen fteht?). Bis 


a) „Die Liebe ift blind, — daB ift die gemeine Mebe, deren Stempel nicht 
gu verfennen ift; aber ift fie wicht im Gegenteil allein ſehend ? allein wahr ?* 
Aus Schleiermachers Leben. In Briefen. 2. Aufl. I, 324. 

b) Der nachfolgende biographiſche Abrif iſt aus den Darftellungen Schentels 
geſchöpft, die er auf Grund eigenhändiger Aufzeichnungen Rothe's in den 
Anffägen: „Zur Erinnerung an D. Richard Rothe” (Allgem. kirchl. Zeit- 
ſchrift 1867, Heft 9 u. folg.) und in „R. Rothe, Ein kurzgefaßtes Lebens- 
Bild“ (M. Rothe’s nachgelaffene Predigten [1868] I, XI-LVI) veräffent- 


8 Adelis 


in fein zwanzigftes Lebensjahr fehen wir Rothe einfam und ftil 
für ſich feinen Weg gehen, bis zu dem Zeitpunkt, wo fein inneres 
Leben eine gewiſſe Eonfiftenz und ein beftimmtes Gepräge gewonnen 
hatte und durch äußere Einflüffe wol entwickelt und umgeftalte, 
aber in feiner ſpecifiſchen Eigentümlichkeit nicht mehr verwiſcht 
werden Tonnte. Am 28. Januar 1799 zu Pofen in dem Haufe 
einer biederen Beamtenfamilie geboren, wächſt Rothe auf, das ein- 
zige Kind feiner Eltern, alſo ohne Umgang mit Geſchwiſtern, durd | 
Kranklichkeit bis zum achten Lebensjahre auch am Verkehr mit 
Spielgenoffen verhindert, in großer Zurüdgezogenheit. Die Der 
bindungen mit anderen gleidhalterigen Kindern, die fich jet etwa 
anfnüpfen wollen, werden zerriffen durch Ueberfiedelung der Eltem 
(1809) nad) Stettin; und als er faum an diefem neuen Wohnort 
ſich Heimifch fühlt, wird der Vater (1811). nach Breslau verfekt. 
Hier erlebte Rothe 1813 den in der Befreiung Deutfchlands an 
brechenden nationalen Frühling feines Volkes; aber die weltgeſchicht 
lichen Bewegungen, bie vorzugsweife in Breslau ihren Heerd Hatten, 
fie waren wiederum ungünftig für gefellige Verbindungen mit feinen 
Schulgenofjen, während fie mächtige Eindrüde hinterlaſſen mußten 
auf das für alles Große und Erhabene fo empfängliche Gemüth 
des heranwachſenden Knaben... Im Jahre 1817 bezieht Rothe dir 
Univerfität Heidelberg trog aller Warnungen „vor diefer Brutftätte \ 
finfteren Myſticismus“. Die vaterländifhen Beſtrebungen ul 
Gefinnungen, die dort in der Burfchenfchaft gepflegt wurden, zogm 
ihn in diefen Kreis Hinein; das conventionelle Studentenleben aber 
bleibt ihm fremd *); er fühlt fich wohl auf jenen herrlichen abge 
Tegenen Spaziergängen in den Bergen und in den Seitenthälern, 
und mit dem erften und einzigen Freunde, den er dort gefunden, 





fit hat. D. Schenfel wilrde fih ein weſentliches Berbienft und den Dant 
Bieler erwerben, wenn er jene Aufzeichnungen von Rothe's Hand opat 
alle „Bearbeitung“ im bejonderer Brodhüre herauszugeben fi veranlaft 
finden wollte. “ 

a) Gleichwol war „das Prinzen“ (mie feine Commilitonen Rothe nannten), 
das im Collegium und überall äuferft „patent“, ſtets im Arad mit dem 
Eyfinder auf dem Haupte, erſchien, bei allen Gtudiengenoffen gar wohl. 
gelitten. - 


D. Ricaxd Rothe. so 


Fri Lrauß aus Augsburg, glaubt er allein in der Welt zu ſtehen 
mit feinen Gedanken,. feinen Anfchauungen, feinem Chriftentum. 
Erft ald er 1819 nach Berlin überfiedelt, findet er in der um 
Neonder ſich fammelnden Heineren Schaar von Studiengenofjen, 
findet er vor allem in dem enggefchloffenen Kreife des ehrmürbigen 
Barons v. Kottwig eine Gemeinſchaft, und zwar — bie erfte 
in feinem eben, der er fich innerlich anfchliegen fanı — eine auf 
lauteren Grundlagen ſich erbauende hriftliche Gemeinfchaft. 

In tiefer Einfamfeit hatte Gott ihn bis dahin wandeln laffen; 
duch die Wüfte Hatte er ihm geführt, aber freundlich Kat er mit 
ihm geredet von früher Jugend an. Rothe wächſt in rationaliftifcher 
Umgebung auf, doch fühlt er mächtig ſich Hingezogen zum Myſterium 
der chriſtlichen Religion, das feiner Iebhaften und reichen Phantafie 
eine Welt. der Herrlichften Wunder erfehließt; und ob auch die Kirche 
mit ihren trodenen Gottesdienften ihn mehr abftößt, dagegen das 
Theater den Bedürfniffen feiner Phantafie anſprechendere Nahrung 
gewährt, fo ift doch der Beruf, den er ohne alle äußere Anregung 
ſchon im vierten Lebensjahre in ſich verfpürt, ein Prediger zu 
werden, ein bleibend wirkender. Je mehr und mehr erfchließt ſich 
ihm die Herrlichkeit der Bibel, und den zwöffjährigen Knaben fehen 
wir das Buch der Bücher mit Heiliger Begeifterung nähren, die 
auch nicht die fonft fo tief auf ihn einwirkende Lectüre der Roman⸗ 
“ifer Irgendwie zu dämpfen vermag. In der Einſamkeit feines 
Lbensweges, bei dem ausgefprocenen Hange, ſich nad innen Hin 
a befchäftigen, kann der überaus heiligende, Einfluß der Bibel nicht 
fehlen; obgleich der Nationalismus feiner Umgebung und feines 
Confirmandenunterrichts ohne alle religidfen Eindrüde auf ihn bleibt, 
wird das Gebet für Rothe der füßefte Genuß, das Gebet an den 
Heiland, von dem er trog aller Belümmerniffe, als fege er da⸗ 
durch Gott ſelbſt zurück, nicht laſſen kann; und eine emtfchiedene 
Erwecung feines Herzens legt ihm mit tiefer Scham über feinen 
fittlihen Zuftand die Nothwendigkeit der Wiedergeburt nahe. Die 
Bibel bfeibt ihm auch in Heidelberg die Hauptfächliche, faft einzige 
Nahrungsquelle feines inneren Lebens; aber obgleich das Ueber» 
natürfihe darin ihm ſelbſtverſtändlich, das Wunder nicht im ger 
tingften anftößig ift, obgleich die Nothwendigkeit, die eigene Ver⸗ 


400 Aqhelis 


nunft zu reinigen durch die göttliche Vernunft, ihm je mehr und | 


mehr einleuchtet, der Glaube ihm der einzige Schlüffel zur höchſten 


Erfenntnis, und Ehriftus der eigentliche Gegenftand des Glaubens 
bleibt, obgleich die Kirchliche Lehre ihm das feftgefchloffene Gang 
der Wahrheit, alle Kritik in feinen Augen unberechtigt, und die Bibel 
ihm unangetaftet und unantaftbar ift in ihrer übernatärlichen Schön- 
heit, fo trägt er fich doch mit dem Tebendigen Gefühl, die letzten 
Grundbegriffe und Grundanfchauungen weder in der Bibel, noh 
in der Kirchenfehre erfaßt zu haben, und felbft die Specnlationen 
eines Daub feinen ihm die Räthſel nur zu umgehen, nicht aber 
zu löſen. Im der legten Zeit feines Aufenthaltes im Seidelberg 
ift es vornehmlich der ehrwürdige Abegg, in Berlin Neander mit 
feiner in Liebe überftrömenden Fülle des edelften und lauterſten 
geiftigen Lebens und feiner urfprünglichen chriſtlichen Frömmigkeit, 
die von überwiegendem Einfluß auf ihn find, während Schleier 
madjer, noch mehr Marheineke, ihm jegt noch fern bfeiben. 

Es ift augenfcheinfih, daß, follte der Uebergang Rothe's ans 
der Vereinfamung feines individuellen Lebens in die Bewegtheit 
größerer Gemeinfchaft ohne die heftigften Erſchütterungen und Um 
mwälzungen feiner Eigentümlichfeit bewerfftelligt werben, nach feinen 
bisherigen Entwidelungsgange nur eine pietiftifche Gemeinschaft, 
wie die des Kottwitz'ſchen Kreifes, ihm zuträglih fein konnte; und 
es bedarf nur der Hinweifung auf die gütige Führung” des Her, 
daß es gerade ein fo reiner Kreis des pietiftifchen Chriftentumt 
war, der Rothe in ſich aufnahm. Rothe wurde felbft Pietift, zu 
erft noch in fehr gemäßigter Weife, bis 1821 im Seminar zu 
Wittenberg, wohin Rothe 1820 auf Zureben Neanders fich gewandt 
hatte, das bis dahin fehr einträchtige Zuſammenleben der Cardi⸗ 
daten durch den Eintritt Rudolf Stier und den Einfluß von Emil 
Rrummadjer in große Gährung kam. Wie Rothe ftets im feinem 
Leben ftärferen Einflüffen nie auf die Dauer Widerftand zu leiften 
vermochte, wie eine gewiſſe Unfelbftändigfeit nach außen Hin, eine 
Hingebende, „weiblich organifirte Natur“ , wie Nippold es nennt, 
ihm alfezeit eigen blieb, fo gab er fih auch jegt dem kurz zuvor 
befehrten geiftesmächtigen Stier faft völlig Hin und ließ fich unter 
feiner Anleitung von Zingendorf überwältigen. Er wurde ein Pietif, 





D. Richard Rothe. 401 


„ein aufrichtiger, aber fein glücklicher Pietift, ein Pietift Gewiſſens 
halber, aber ohne wahre Freudigkeit“, wie er felbft jagt; feine In- 
bivibnalität war zu ſehr ausgebildet, als daß er troß aller An⸗ 
ftrengung etwas aus fih machen fonnte, und wenn auch diefe 
Jahre ihn in fein inneres Leben mehr Hineinführten, wenn er auch 
bei der Entdeckung vieler bis dahin ihm verborgen gebliebener Schäden 
jeineg Herzens eine innigere und perjönlichere Stellung zu Gott 
und zu Ehrifto gewann, fo mußte er doch deffen gemahr werden, 
daß der Pietismus in feiner ausgeprägteften Geftalt, wenn er auch 
unter Gottes Leitung ein gefegneter Uebergang für Rothe und viels 
fit der einzig mögliche Uebergang war, nicht die Form des 
Chriftentums fei, welche feiner Individualität gemäß und genehm 
wor. Zwar zunächft mußte er in diefem Stadium feiner Entwicke⸗ 
lung verharren; nachdem er fid im December 1821 mit der Schwä- 
gerin Heubners, Luife v. Brück, verlobt und gegen feine ur— 
fprängliche Neigung durch Ueberredung Heubners im Auftrage des 
Minifters v. Altenftein zum Einſchlagen der academifchen Laufe 
bahn fich entfchloffen Hatte, wurde er in Breslau während ber 
Vorbereitung auf feine Habilitationsſchrift Vertreter eines krauk 
gewordenen Predigers; die Bekanntſchaft mit dem edlen Julius 
Müller, mit Steffens und Scheibel, der Umgang in dem Haufe 
des frommen Grafen v. d. Gröben, fowie der Erfolg feiner Pre- 
digerwirffamfeit wurde ihm nad) vielen Seiten Hin fehr frucht- 
hringend ; aber rechte Freudigkeit fonnte ihm das alles nicht ver» 
leihen, und alles friſche Streben, namentlich für wiffenfchaftliche 
Arbeiten, war in ihm wie ausgeftorben. Aber Gott Hatte in Seiner 
Treue ihm ſchon die Wege gebahnt, auf denen fein eigentümliches 
inneres Leben zur friſcheſten und freudigften Ausgeftaltung kommen 
follte: Rothe wurde zum preußifchen Gefandtfchaftsprediger in Rom 
ernannt an Schmieders Stelle. Gegen Ende des Jahres 1823 
wird er zum zweitenmal eraminiet, dann orbinirt, am 10. November 
feiert er feine Hochzeit und zieht mit feiner jungen Frau, über 
Berlin und Breslau feinen Weg nehmend, am 14. Januar 1824 
in die Weltftadt an der Ziber ein. ine neue Lebensepoche be- 
giant für ihn; wie Luther einft nach Rom geführt wurde, damit 
an der Quelle des Katholicismus fic der völlige Bruch mit Rom 


402 Agelie 


vorbereitete, jo entfteht Hier im ſchärfſten Gegenfag zum Katholi- 
cismus in Rothe die religiös-fittliche Anſchauung vom Chriften- 
tum, der er fpäter im feiner theologijchen Ethik einen fo claſfiſchen 
Ausdrud zu geben berufen war; der gefchloffenen Einheit der tür 
mifchen Kirche gegenüber wird er, zugleich durch treue Seelſorge 
an feiner meift aus jungen Sünftlern beftehenden Gemeinde, inne, 
daß der Proteftantismus nicht in der Form des zu individuellen 
und fo wenig kirchenbildneriſchen Pietismus eine Macht Habe; wäh 
rend Rom ihm zuerft fein weiteres JIutereſſe Hatte, als daß erfte 
befte Dorf, während felbft die Kunftfchäge des Vaticans und das 
Coloſſeum in zuerft faft fühl Liegen, eröffnet feine Künftlergemeinde 
mit ihren Intereſſen ihm nach und nach die Weihe und Gröfe-dr 
Kunft, und der Umgang mit dem vielfeitigen Bunfen, mit v. Reden 
und Reinhold begünſtigt die freie Entfaltung feiner geiftig felb- 
ftändigen, mit den edlen Samenförnern Iebendigen und ftrengen 
Ehrijtentums, die er in den pietiftifchen Kreiſen empfangen hatt, 
befruchteten Individualität. Sein Glaube an Ehriftum als feinen 
Heiland Hebt freudig jeine Schwingen, der Gebetstrieb erwacht mit 





neuer Stärke, fein inneres Leben kommt in gleichmäßigen, harme | 


nifgen Verlauf, und eine neue, eigentümliche Theologie fängt an, 
in ihm fih zu regen. Vier Jahre Lang durfte Rothe in Rom 
bleiben, da folgt er, wieder mit innerem Wiberftreben , dem Ruß 
zur vierten Profeffur am Wittenberger Seminar; um Michaelu 
1828 tritt er fein neues Amt an, nachdem er in einer genußreichen 
Reife nach Neapel, Herculanım und Pompeji, Päftum u. a. D. 
und auf langſamer Heimreife nad) Norden zu dem italienifchen 
Boden Lebewohl gejagt hatte. 

Die Aufgaben, welde in Wittenberg feiner warteten, namentlich 
das Colleg über die Gefchichte des Chriftentums im Unterſchich 
von der bloßen Geſchichte der chriftlichen Kirche, nöthigen ihn zu fünfe 
bis fechsjähriger ftrenger kirchenhiſtoriſcher Arbeit, während fein 
perfönfich nahen Beziehungen zu den Seminariften, bie aus den 
verfchiedenften theologiſchen Schulen Deutfchlands lamen, ihn zur 
Belanntfhaft mit den Hauptvertretern der damaligen theologiſchen 
Richtungen führte. Die Yulivevolution erwedit in Rothe ben po⸗ 
litiſchen Sinn, welder bis dahin gänzlich gefchlummert hatte; 





D. Richard Rothe. 408 


die Wechſelwirkung zwiſchen dem politiſchen und moraliſchen Zu- 
ſtande des Volkes geht ihm auf, es Flären ſich feine Ueberzeugungen 
über das Verhältnis von Staat und Kirche, und das Chriftentum 
in ſeiner univerfale menschlichen Bedeutung legt ſich ihm dar. Die 
eregetifchen, dogmatifchen und ethifchen Befprehungen mit den Ses 
minariften treiben ihn zur Durcharbeitung feiner individuellen Ges 
danfen, zu ihrer Klarftellung und Abgrenzung nach allen Seiten 
bin umd bringen ihn aus innerer Nöthigung in gereiftem Mannes- 
after, in feinem neunundbreißigften Lebensjahre, zu fchriftftellerifchen 
Arbeiten. Dem erften „Verſuch“, einer Abhandlung über Röm. 
5, 12—21, folgt bald ein größeres Werk: „Die Anfänge der 
chriſtlichen Kirche und ihrer Verfaffung“, ein Buch, weldes ihm 
1837 den Ruf der badifchen Regierung zur ordentlichen Profeſſur 
und zur Einrichtung eines theologiſchen Seminars in Heidelberg 
einträgt; biefen Ruf nimmt er an trotz der Anftrengungen feines 
Protectors, des Minifters v. Altenftein, der, um Rothe für Preußen 
zu erhaften, ihm gleichzeitig eine ordentliche Profefjur in Greifswald 
und in Halle a / S. anbietet. Schon fein erftes Colleg in Heidel- 
berg: „Die theologiſche Ethik“, legte ihm die Aufgabe nahe, auf 
neuem, jpeculativem und felbftändigem Wege diefe Disciplin zu bes 
handeln, und 1842 machte fih Rothe, kaum genefen von fchwerer 
Krankheit, mit aller Freudigleit und Kraft daran, fein letztes und 
fin Hauptwerk: „Die theologifche Ethik“ zu verfafien, von der 
1845 die beiden eriten, 1848 der dritte Band erſchien. — Still 
und friedevoll verfloß bis dahin fein Äußeres Leben; feiner „mön- 
ciſchen Zurückgezogenheit“, wie er felbft es nennt, konnte er ſich 
ungeftört überlaffen, und feine Abneigung gegen öffentliches Wirken 
wurde genährt durch die von ihm mit Abfchen und Mistrauen bee 
obachteten Verſuche, die das Lichtfreundtum und die Demagogie, 
die Reaction und Reftauration im kirchlichen und politifchen Leben 
unternahm, um die vorhandenen Buftände zu beffern, obgleich er 
Muth genug befaß, im Sommer 1848 das Prorectorat der Unie 
derfität zu übernehmen. Gleichwol müſſen die Stürme ber Zeit, 
die vorzugsweiſe ja in Baden brauften, ihm fein liebes Heidelberg 
verleidet haben; vielleicht wurde auch das Doppelamt an der Uni 
derfität und am Seminar ihm zu beſchwerlich: kurz, er Lüfte die 


404 Agelis | 
freundſchaftlichen Bande, die ihn an feine Eollegen feffelten, und 
nahm nod in demfelben Jahre (1848) eine Berufung nad) Bon 
an. Ueber die hier zugebrachten fünf Jahre Tiegen nicht viele Nach 
richten vor; Rothe betrachtete fie als „eine Epifode, die für mid 
aud nicht ohne Frucht gemwefen ift, mich aber Hauptfächlich darüber 
belehrt Hat, was meines Berufes nicht ift“. Der Iegte Sat kam 
dem nicht räthjelhaft erfcheinen, der von der innigen Verbindung 
der rheinifchen Univerfität mit dem lebendig pulfirenden praftiid: 
tirchlichen Leben der rheinifch = weftfälifchen Kirche und von der ent: 
ſchiedeuen Abneigung Rothe's gegen bie „dicke Luft“ der Paftoral- 
conferenzen und Synoden Kenntnis hat; nicht nur die Meberfiedelung 
feines Freundes und Eolfegen Dorner nach Göttingen, fondern aud 
die Sorge vor dem Amte eines Eonfiftorialrath8 in Coblenz, da 
ihm zugedacht war, ließ ihn dem 1853 an ihn ergangenen Ruf 
nad Heidelberg mit Freuden folgen, nachdem er im Jahre zuvor 
die Berufung zum Präfaten in Karlsruhe, „um fich felbft niht 
zu traveftiven“, abgelehnt hatte. Die legten vierzehn. Jahre ſeinci 
Lebens brachte der heimgegangene Rothe in Heidelberg zu, fehti 
Jahre in einfieblerifcher Abgefchiedenheit feinem Berufe und fein. 
Studien lebend, während der legten acht Jahre aber je mehr m 
mehr hineingezogen in kirchlichen Parteihader und jene verkehrtm | 
modernen Beftrebungen auf kirchlichem Gebiete, die — wir werde | 
in einem befonderen Abfchnitte davon reden — im Proteftante | 
verein ihre organifche Zufammenfaffung gefunden haben. Wie dift 
legten acht Jahre Alle, die in Rothe den theologifchen Forſcher, da 
innig frommen Chriften, von früher her verehrten und Tiebten, mit : 
tiefem Weh erfüllen mußten, indem er dort die Lehre von Bom 
her fo ganz vergeffen zu Haben ſchien und zum vorgehaltenen her 
ligen Schild für eine theilweife ſehr unheilige Sache ſich misbrauden 
ließ, fo gedenken doch alle feine Freunde mit bewundernder Freut 
an bie Probe der tragenden chriftlichen Liebe und der reinen, felbft 
loſen Geduld, der Hingebenden Pflege und der überaus großen Lang: 
muth und Freundlichkeit, wie deren fonft wol nur das Mutterher; 
in feiner Trene an dem kranken Kinde fähig ift, welche er in br 
Behandlung feiner an ſchwerer Gemüthsttanfgeit lange Jahre ir 
denden Gattin (fie ftarb im Sommer bes Jahres 1861) zu Chem 








D. Richard Rothe. 


feines Herrn, der ihn Hat ftart gemacht, fo ſchön und 
fand. — Das ift in furzem der Weg, den Gott unjer 
grgangenen geführt hat, und auf dem er das geworden 
er war. Und was ift er geworden? Welches ift die reil 
des inneren Lebens, wie fie uns in dem religiös = fittfichen ( 
Rothe's aus den legten Jahren vor Augen fteht? Dahir 
wir uns jet mit unferer Schilberung und werden dab 
verweilen. 


IL %#othr’s religiös ſittlicher Charakter. 


Die richtige Darftellung einer fo reichen und vielfeiti, 
ſonlichleit, wie die Rothe's war, Hat gewiß ihre großen € 
keiten; umd doch fühft man wieder diefe Schwierigkeiten in 
Beife gehoben in der durchgeführten ſchönen Einheit die 
tafters, bei dem in allen angefchlagenen Saiten mittönender 
ton feines Wefens, der die verfchiedenften Stimmen feines 
und Wollens, feines Empfindens und Urtheilens harmor 
bindet. D. Zittel Hat gewiß das Richtige getroffen, wen 
der Leicheurede bei Rothe's Beftattung (über oh. 21, 
als den einen Mittelpunkt feines Weſens die Liebe zı 
deilande nennt. „Diefer Dann Hatte ein feines Ohr | 
dtage: Haft du mich lieb? er überhörte fie nie uud r 
58 er aus tieffter Seele fein Ja darauf fagen konnte 
Ehriftus, unfer Herr und Heiland, erfüllte feine Seele gı 
jede andere Liebe — fein Gemüth war unendlich reich an 
wurde in diefe Liebe zu feinem Heilande aufgenommen u 
geläutert und geheiligt.” Was Rothe als nmothwendiges ( 
nis jedes wahrhaftigen Chriftenlebens Hingeftellt:. „Das' & 
Eprifto muß in dem Bewußtſein des Chriften das Al 
äinnehmen und von da aus fein Licht in alle Kammern fi 
wendigen Menſchen ausftrahlen, fo daß er in diefem Lid 
ſieht und alles thut, in ihm alles lebt, was er überhaup 
anders Tann es zu nichts Ganzem kommen in unferm per 

eol. Gtub. Jahrg. 1869. 27 


406 Adelis 


Epriftentum“ *) — eine unmisverftändfiche Veranſchaulichung und 
Erklärung bdeffen, was Rothe damit meint, ftand in ihm ſelbſt vor 
Aller Augen da. Es ift ein ſchönes Zeugnis ebenfojehr der law 
teren Demut, wie tiefer Selbſterkenutnis und genauer Geht: 
Harakteriftit, wenn Rothe „an fid) nur einen Meuſchen finden fan, 
der faft weiter gar nichts Hat und ift, als daß er durd Gottes 
‚Gnade (er weiß felbft nicht, wie) ein Auge und ein Herz befikt, 
mit dem er feinen Heiland und im deffen Angeſicht und Herzen 
feinen Gott fehen und ergreifen kaun, damit aber fich zu feinem 
beugungsvollen Entzüden mitten iu einer Welt findet, aus der ihm, 
den gelfenden Schrei der Sünde und des Jammers weit übertönend 
and dur alle feine Diffonanzen hindurch, ein taufendftimmiger 
Chor von demüthig jubelnden Stimmen zum Preife der Ehre un 
Herrlichkeit ihres Schopfers und ihres Heilandes in immer wieder 
neuen Weifen von Tage zu Tage immer mächtiger entgegenfchaltt‘ '). 
Schon diefe Worte geben uns eine nähere Bezeichnung der Lie 
zu Chrifto, die in Rothe’ Herzen lebte; fern von allem fenfun 
liſtiſchen Wefen war jie eine durch uud dur ethifche Liebe, dir 
den geliebten Gegenftand zu ergreifen und feftzuhalten, fich ihm zu 
verbinden wußte unauflöslich zur Lebensgemeinjchaft mit dem le⸗ 
bendigen Chriftus, zum Durchdrungenfein von Ehrifti Geift mi 
Gnade, zum Sein und Weben mit ihm und in ihm auf dem Grund 
des lebendigen Glaubens. Das war eben der vorherrjgek 
Eindrud, den die für Alle Tiebenswürdige Perſönlichkeit Rott 
denen, welche Geiftliches geiftlich zu richten verftehen, hinterließ, ih 
möchte fagen: der wunderbare Zauber feines Weſens, daß man | 
mit einem Marne zu thun Hatte, in welchem Chriftus in einem 
jeltenen Maße Geftalt gewonnen Hatte; daher die geheimnisvolle | 
Macht, welde auf die Herzen feiner Schüler und feiner näheren 
Bekannten jene unwiderſtehliche Anziehungstraft ausübte, daß man 
von ihm nicht faffen konnte und ihn Lieben mußte, daß man il 
feiner Nähe bei aller Ueberlegenheit feines Geiftes und feines Willens 
ſich nie gedrückt und gehemmt, ſondern befreit und wohl fühlte, 





a) Allgem. licchl. Zeitſchr. 1864, ©. 380. 
h) Ebendaf. 1862, ©. 1217. 


D. Richard Rothe. 407 - 


deß ein Hauch Heiligen Lebens von ihm ausging, der Heiligend und 
frietebringend auf feine Umgebung wirkte. Und nicht in flüchtigen 
Momenten nur oder in Befonders ernften Stunden, fondern forte 
während und bei alfen Gelegenheiten, mochte man ihn auf dem Ka⸗ 
theder feine Wiffenfchaft doeiren oder in der Kirche ihn der andäch- 
tigen Gemeinde das Wort des Lebens verfündigen hören, mochte 
man mit ihm bei fröhlichen Mahfe vereinigt fein oder feinen Rath 
md feine Hulfe bei- Gewiffensbedenken oder in ben dunfelen Zeiten 
des religiöfen Zweifels ſich erbitten, — Rothe war immer derfelbe 
in Scherz und Ernft, in Trauer und Freude; die Rebensgemeinfchaft 
mit feinem Heilaude that überall fegnend fi Fund, fie war zu 
Anem integrivenden und alles durchdringenden Momente feines ins 
neren Lebens geworden. Niemals wieder ift mir das „Betet ohne 
Unterlaß“ im, perfönlicher Erſcheinung fo vor die Augen getreten, 
bie bei Rothe, ja ich darf fagen, erft durch ihn ift mir das Ver— 
fändmis jenes apoſtoliſchen Wortes und damit auch des Myſteriums 
08 „Lebens in dem Herrn“ aufgefchloffen; und ohne alle förmliche 
Sravität, ohme alle ſteife Feierlichkeit trat dies Heiligtum des ins 
en Lebens bei ihm hervor, in frifcher Urfprünglichfeit vielmehr 
ſprudelnd aus lebendigem Quell, gepaart mit einer überaus liebens⸗ 
brdigen Freundlichkeit und Gefältigfeit, mit der zarten und reinen 
Anmuth einer durchaus kindlichen Unbefangenheit und einer heiligen 
Rıivetät, 

Den Schülern und Zuhörern Rothe's find unvergeßlich jene 
Etunden, im denen der geliebte Lehrer den Heiligen Mittelpunkt feines 
Mens, „feinen Herrn Chriſtus“, zum befonderen- Gegenftande feiner 
Rebe hatte, das verffärte Angeſicht, die Leife tremulirende Stimme 
Rothe's — als gezieme es ſich nicht, von ſolchem Gegenftande laut 
m reden —, die unwillkürliche Empfindung eines heiligen Wehens, 
das den Saal durchzog. Wir fönnen es uns nicht verſagen, eines 
der ſchönſten Worte Rothe's über den Herrn Chriftus, das uns 
tiven freien Einblick in fein Inneres geftattet, anzuführen ; es findet 
fi} in der Vorrede, mit weldjer er 1845 den erften Band feiner 
Tpeologifchen Ethik bei dem wiffenfchaftlicyen Publikum einführte. 
„Von alien. Misverftändniffen“, ſchreibt er, „denen mein Buch 
unbermeidlich - wird’ außgefegt fein, beunruhigt mich nur eins ernſt⸗ 

- 27* 


408 Aqelis 


lich; denn die übrigen Können in ihren Folgen nur meine eigene 
Perſon treffen, in Anfehung welcher ich nicht ſonderlich empfindlich 
bin. Wol aber würde ich wunſchen müffen, feine Feder angejegt 
zu Haben zu diefer Schrift, wenn man verfennen follte, daß das 
fie befeelende Princip der unbedingte Glaube an Ehriftum als den 
wirklichen und alleinigen 'Erlöfer ift und die Liebe zu Ihm. Das 
Bundament alles meines Denkens, das darf ich ehrlich verſichern, 
ift der einfache Chriftenglaube, wie er (nicht etwa irgend ein Dogma 
und irgend eine Theologie) feit achtzehn SFahrhunderten die Welt 
überwunden Hat, er ift mir das letzte Gewiſſe, wogegen ich jex 
andere angebliche Erkenntnis, die ihm widerftritte, unbedenklich un 
mit Freuden bereit bin, in die Schanze zu ſchlagen. Ich wei 
feinen anderen feften Punkt, in den ich, wie für mein ganzes menſch 
liches Sein überhaupt, fo auch insbefondere für mein Denken, den 
Anker auswerfen könnte, außer ber gefchichtlichen Erſcheinung, welche 
der heilige Name Jeſus Chriſtus bezeichnet. Sie ift mir das un 
antaftbare Allereiligfte der Menfchheit, das Höchfte, was je in ein 
menſchliches Bewußtjein gekommen ift, und ein Sonnenaufgang I | 
der Gefchichte, von dem aus allein fich Licht verbreitet über den 
Gefamtkreis der Objecte, die in unfer Auge fallen. Mit dieſen 
einen, ſchlechthin unerfindbaren Datum, deffen Kunde unmittelbet 
aud von feiner Realität zeugt, wie das Licht von fich felbft, un 
in dem unüberfehliche Confequenzen befchloffen Liegen, fteht und fält 
für mid) in letzter Beziehung jede Gewißgeit des geiftigen und ve | 
Halb ewigen Adels des menfchlichen Gejchöpfes.“ 

Mit diefer Liebe zu feinem Herrn Chriſtus verband fih bei 
Rothe — wie e8 ja nicht anders fein kann überall, wo jene Lauter 
und lebendig ift — eine große Selbftlofigfeit und Demut. „Dit 
vechte Liebe zu dem Herrn“, fagt Zittel, „Hat feine Raſt, noch Ruf, 
fie muß unabläjfig wirken für das Reich Gottes, nur für diefes, 
nicht für den eigenen Vortheil oder die eigene Ehre; alle Selhft- 
ſucht geht unter in der Liebe zu dem Heilande; nirgends Hat Rothe 
etwas für fich jelbft, für feinen Ruhm oder Einfluß oder Bor 
teil gefucht, immer nur das Reich feines Herrn, das Wahre und 
Gute. Wenn er redete oder auch ſchrieb, in der Kirdje oder wo 
fonft, was Hat ihm dann fo die Herzen gewonnen? Das war &, 





D. Richard Rothe. 400 


daß man dabei fühlte, wie dieſer Mann nicht redet, um von ſich 
reden zu machen, daß er nicht fich Hervorthut, um zu gefallen, um 
zu glänzen und gelobt zu werden, fondern allein um zu überzeugen, 
um zu gewinnen, nicht für fich zu gewinnen, fondern für die Wahr⸗ 
keit". Schon der Gedanke, einen Kreis von bleibenden Schülern 
am fih zu fammeln und der Stifter einer nad ihm benannten 
Säule zu werden, konnte Rothe geradezu ängftlih machen; und 
nicht einem, fondern vielen feiner Zuhörer, die mit hingebender 
Begeifterung zu feinen Füßen gefeffen, hat er beim Abfchied die 
aufrichtige Bitte ausgefprochen: „Stoßen Sie mich docd nach beften 
Kräften von ſich ab“ *). Obgleich Rothe als wiſſenſchaftlicher 
Theologe große Verehrung genoß, obgleich fein Name mit Hod- 
achtung von Freunden und Gegnern als einer der erften und gläns 
zendften Namen der Theologie genannt wurde, blieb er doch fo fehr 
fern von aller Eitelleit der Gelehrten, daß feine eigene Meinung 
von feiner Leiftungsfähigfeit in gar großem Gegenfage ftand zu 
der Stellung, welche die Vertreter der Wiffenfchaft ihm willig ein 
räumten. „Das fann ich ja vorausſehen“, jchrieb Rothe im No» 
vember 1847 im Vorwort zu Auberlens Buch: „Die Theofophie 
dr. Ehrift. Oetinger“, „daß, wenn mir überhaupt ein befcheidener 
Blog in dem großen Haufe der Theologie zugemiefen werden follte, 
ih in das Kämmerden der Theofophen zu ſtehen fommen werde 
in die Nähe Oetingers. Ich gehöre. auch wirklich nirgends fonft 
fin und wünfche mir feine beffere Stelle. Mir ſoll innig wohl 
fin zu den Füßen des Tieben Mannes; er aber wird mic wol 
auch nicht von fi weiſen; find doch die eigentlichen oxdvdale 
feiner Lehre auch die der meinigen.“ Und wie Tiebfich hat Rothe 
Achnliches wiederholt in der Vorrede zur zweiten Auflage feiner 
Theologiſchen Ethik (I, ıxff.): „Ich weiß aber, daß ich im Chor 
der heutigen Theologie die Stimme, die mein Gott mir anerſchaffen 


8) Es hängt dies gewiß mit dem Bewußtſein Rothe's um die fpecififche Eigen- 
tümfichteit feiner individuellen Aufgaben in der Arbeit der Theologie zu- 
fammen; Schüler im engften Sinne des Wortes Tonnte er nur fehr 
wenige finden. Jene Abwehr entiprang daher zugleich aus der Sorge 
um die wiſſenſchaftliche Selbftändigkeit und die fubjective Wahrhaftigkeit 
feiner jungen Freunde. 


410 Adelis 


hat, ganz allein finge, und zwar deshalb ganz allein, weil fie eine 
fehr untergeordnete ift. Ich weiß auch, daß fie zwar, für fi ger 
fungen, fih gar rauh anhört, nictsdeftoweniger aber doch mit: 
erfordert wird zum harmonifhen Zufammenklang des Ganzen. 
Küme «6 auf meine Wahl an, fo wide ich freilich viel Lieber einen 
anderen Ton fingen; da ſich nun "aber fein Anderer. findet, der ihn 
an meiner Statt übernimmt, und ich an meinen Theile für keinen 
Anderen zu brauchen bin: fo Halte ich es für meine Schuldigkeit, 
meine eigene Stimme, fo wenig fie mir auch behagt, mit allem 
Fleiß in ihrer Art zu der für fie erreichbaren Stärke und Reinheit 
auszubilden, ftatt mich mit dem Verſuche abzuquäfen, eine ander | 
Stimme, die höher im Preife ſteht und mir felbft beffer gefallen 
will, durch die Fiftel nachzuapmen. Weiß ich doch, daß id im 
Chore fiuge, das genügt mir. Verdiene ich denn Zabel dafür, 
dag ich mich einer Arbeit im Haushalte unſerer Theologie ohne 
Scham unterziehe, die allen Anderen zu niedrig dünkt oder zu 
mühſam? Mic jelbft iſt's fo ganz nach Wunfch. Sch mache meine 
Sache ftill für mic) Hin, ohne einen Anderen nad meinem Sinn 
zu meiftern, laſſe mich aber gern von Jedem meiftern, mit bem 
einzigen Vorbehalte, daß man mich machen laſſe, was ich kann, 
und mir nichts zumuthe, was Über mein Vermögen hinausliegt .... 
Mein Ehrgeiz geht darauf, zur Aufhellung der großen Problem 
des menfehlichen Denkens den, freilich verſchwindend Heinen, Bei 
trag zu geben, deu gerade ich etwa zu geben im Stande bin, 
und um feinen Schritt weiter hinaus.“ Wie ſehr es Rothe ein 
völliger und beiliger Eruft war, ſich gern meiftern zu laſſen, davon 
könnten piele Beiſpiele aufgeführt werden; «8 genüge, an bie der 
möütige Netractation feiner iu der erften Ausgabe der Ethik ger 
gebenen Lehre von der Schöpfung (2, Ausg., $ 40, Aum. 1) zu 
erinnern: „In der erften Ausgabe biefes Buches ift mir die Br 
Handlung des in diefem Paragraph entwidelten Punktes durchaus 
verunglückt. Wie fie dort vorliegt, mußte ich im einer Weile 
verjtanden werden, bie zwar ein völliges Misverftändnis meiner 
wirklichen Meinung war, aber ein meinerfeits völlig verſchul⸗ 
detes.“ Nicht fo fehr die Thatfache, daß Rothe fig) „meiftern“ laßt 
und erfannte Falſa retractirt, fondern die Art und Weiſe, wie et 


D. Richard Rothe. J 411 


es thut, die Offenheit und Geradheit, welche gar den Verſuch nicht 
macht, den Misgriff zu entſchuldigen oder in ein günſtigeres Licht 
zu ſtellen, ift ſo nachahmenswerth. Wie Rothe fich nicht fcheute, 
öffentlich mit folhen demütigenden Geftändniffen hervorzutreten, 
fo legte ſich derfelbe Eharakterzug in allem feinem Thun und Ur- 
theilen vor Aller Augen dar; er wollte niemals irgend etwas aus 
fich machen laſſen, begehrte nicht nad) Lob und nach Ehre. Dant- 
bar war er vielmehr dafür, daß er überhaupt beachtet wurde, daß 
man ihm ein Plägchen in der Wiffenfchaft nicht verfagte, dankbar 
war er gegen eben, der mit ihm zufammenfam, nicht etwa nur 
für ſchon gefeiftete Dienfte, fondern wir möchten fagen im Voraus 
für alles, womit man nach Rothe's Vorausfegung in Wort oder 
That gewiß noch dienen werde. Die Selbitlofigkeit, wo fie fo er- 
wärmt und geheiligt ift durch ihr pofitives Correlat, nämlich die 
Liebe zu Jeſu und in Seiner Liebe die Liebe zu den Menfchen, muß 
umpiberftehlich die Herzen Anderer gewinnen und Gegenliebe er⸗ 
zeugen, — und das hat Rothe reichlich erfahren; wir glauben nicht, 
daß e8 einen Lehrer auf den Hochſchulen Deutſchlands gibt, ber 
in gleicher Weife, wie Rothe, von feinen Zuhörern geliebt und 
auf den Händen getragen wurde. Und den Studenten ſchloſſen fich 
des Seligen Collegen in allen Facuftäten, diefen gern die Bürger 
Heidelbergs an, die dem harmlofen, freundlichen, hochberühmten und 
doch fo beſcheidenen Profeffor mit großer Ehrerbietung begegneten 
und ihr Tiebevolles Wohlwollen in vielen Heinen Zügen dem zu 
erfennen gaben, der Jedem mit Tiebevollem Wohlwollen entgegenfam. 

Während Rothe mit ftrenger Selbftkritit feine Leiftungen und 
ſich felbft beurtheilte und fid) niemals genug thun konnte, war er 
bon einer folchen Milde und Lindigkeit des Urtheils über Andere, 
wie fie fi, verbunden mit fo fpecieller Motivivung des Urtheils, 
wol nur felten finden mag. Nicht nur, daß Rothe von jedem 
Menfchen die befte Meinung Hatte und alles Gute ihm zutraute 
und auch in Fällen ſchwerer Täuſchung noch bis zuletzt von diefer 
guten Meinung zu retten fuchte, was zu retten war, er hatte auch 
im wahren Sinne des Wortes eine wirkliche Virtuofität darin, die 
er geradezu mit Liebesleidenfchaft ausübte, auf Anderer Eigentüm- 
lichkeiten, auf ihre individuellen Bildungen einzugehen, ſich ganz und 


49 Achelis 


gar in ihre Lage, ihren Seelenzuſtand, ihren Charakter hineinzu⸗ 
verfegen und von dort aus ihr Reden und Thun zu beurteilen. 
Borzugsweife in den ſtürmiſchen Bewegungen der letzten Jahre, in 
die er fich Hineinverwidelt fah, hat Rothe diefe Virtuofität gegen 
Freund und Gegner oft glänzend bewährt, bei literariſchen Erſchei⸗ 
nungen ſowol, als bei öffentlichen Handlungen, mochte er fie, ob» 
jectio genommen, auch durchaus verwerfen und als ganz verfehlt 
bezeichnen (wie 3. B. das Charakterbild' Jeſu von Schenkel), fo 
wußte er doch der Sachlage ſolche Seiten abzugewinnen, welche die 
betreffenden Perfonen fubjectiv rechtfertigten oder fie wenigftens in 
einem möglichft günftigen Lichte erfcheinen Liegen *); die Sache und 
die Perfonen wußte Rothe auf das genauefte zu unterfcheiben, mit 
pinchofogifcher Feinheit konnte er die Perfonen verftehen, in fie 
eingehen, um in günftiger Beleuchtung fie anzufchauen, wenn es 
ihm auch, wie das bei anderen Gelegenheiten fi wol bemerkbar 
madjte, weniger gelingen wollte, aus feinem eigenen feftpefugten 
Gedankenſyſteme Heraus den Gedanken Anderer eine objective Wür⸗ 
digung zutheil werden zu Laffen. 

„Ueberall wußte er die Menfchen in Liebe zu tragen“, fagt Zittel 
mit Recht, „weil er in Allen etwas Gutes fand. Seine Seel 
wußte nichts von Haß; ale ich ihm nad) Erteilung des Abend- 
mahls fagte: er fterbe in Frieden mit Gott, fegte er freudig Hinzu: 
‚und in Frieden mit den Menfchen; es ift eine große Gnade von 
Gott, daß Er mich fo geführt Hat, dag nie eine Bitterkeit gegen 
jemand in mir hat wurzeln fönnen‘.“ Die vielgerühmte Menfchen- 
liebe Rothe's, die in dem Grwähnten ſich ein fo ſchönes Zeugnis 


a) Bol. n. a. namentlich die Art und Weife, wie Rothe in den „Anfängen 
dee chriſtlichen Kirche und ihrer Verfaffung“ (S. 820ff. Anm. 14) die 
Polemik Baurs gegen die Evang. 8.3. und ihren Herausgeber befpricht. — 
Ohne die im Zert gegebene Darftellung irgendwie zu corrigiren, darf « 
doch nicht unerwähnt bfeiben, wie jene weiche, weiblich organifirte Natur 
Rothe’s, ſowie feine tiefe Scheu davor, in ber Welt außer ihm die Sünde 
als Sünde anzuerkennen und Heiligen Ernſtes zu ſtrafen, die Uebung 
der obengenannten Tugend einerjeits erleichterte, andererſeits fie aber and 
nicht felten 6i8 zu dem Punkte führte, wo die Tugend aufhört umb die 
Scwachheit beginnt. 








D. Richard Rothe. 418 


gibt, wir fehen es, fie war rechter Art, durch und durch ethifch 
beftimmt, hervorgegangen aus der Liebe zum Heren und in folder 
Geſtaltung nur möglich bei einer aufrichtigen Demut, die es in 
der Schule Jeſu gelernt hat, Andere höher zu achten, als ſich ſelbſt. 
Und eben dies Hatte Rothe gelernt; ven ſich felbft und auch von 
feiner eigenen perfünlichen Srömmigeit hielt er fehr gering; befannt 
find ja die köftlichen, einem gewöhnlichen Chriſtenmenſchen freilich 
al fiebenswürdige Selbfttäufhung erfcheinenden Worte, die er in 
der Allgem. kirchl. Zeitichrift (1864, ©. 380) geſchrieben: „Ih 
werde mich in feinen Streit über die perſönlichen Motive der ci» 
tirten Individuen einlafjen, fondern diefe bem Herzenskundiger bes 
fehlen und höchſtens noch das Geſtändnis hinzufügen, daß ih für 
meine Berfon es pſychologiſch nit zu Stande bringe, 
irgend jemanden für einen ſchlechteren Ehriften zu 
halten, ala mid ſelbſt“ *); und wie Lieblich tönen diefelben 


a) Die Erinnerung an ben Apoftel Paulus und feinen Ausſpruch 1Xim. 1,15 
u. a. St. liegt ſehr nahe; jedoch ift die Parallele deshalb nicht ganz zu- 
treffend, weil der Apoftel (B. 13. 14) an fein beftimmtes Verhalten gegen 
die Hriftliche Gemeinde und ihr Haupt vor feiner Belehrung denkt. — 
Sehr genam dagegen entfpricht dem Worte Rothe’ das fchöne Bekenntnis 
des fo reich gefegneten Miffionars Mhenius in Tinneweli: „Ad, wenn 
wir uns ſelbſt anfähen, wie Gott uns anfieht, wir konnten doch von keinem 
Menfchen fo ſchlecht denfen, als von uns ſelbſt“ (Bafeler Miſſions - Ma- 
gazin 1868, Juliheft, S. 277 Anm.). Die echte Chriſtlichteit diefer Worte 
Kann nicht bermeifelt werden, wen bamit der Zuftand des Herzens, ab» 
gefehen von der dem Chriſten zutheil gewordenen Erldſung und Rei- 
nigung, gemeint ift, weil jeder Eprift fein eigenes Herz und das Wider 
fireben feines Herzens gegen die ziehende Gnade des Heren am genaueften 
tennt; ebenfo behalten jene Ausſprüche in dem alle ihre volle Geltung, 
wenn der Sinn berfelben biefer iſt: „Trotz aller Barmherzigkeit, die mir 
widerfahren ift, fehlt mic noch fo ſehr viel; wenn Allen dasfelbe der Herr 
gethan hätte, was er au mir gethan, fe würden Alle viel weiter in der 
Heifigung gelommen fein, als ih“ — obgleich in beiden Fällen die fub- 
jective Wahrheit diefer Worte nicht damit zugleich bie objective Wahr- 
heit derſelben fein Tann. Sollen dagegen jene Ausſpruche ben Sinn haben: 
„So vote ih thatſächlich bin, nicht nur von Natur und abgejehen von 
der Gnade, fondern in dem Zuftande, in welden der Herr mich verſetzt 
Hat, Halte ich mid; für ſchlechter, als alle anderen Menſchen“ — jo invol- 
viren fie eine verhängnisvolle Selbſttäuſchung, die nur zur Unter« 


44 Achelis 


Gedanken von dem Sterbelager des ſeligen Mannes Her in der hinter⸗ 
laſſenen ſchriftlichen Bitte an ſeine Freunde: fie möchten um fein 
vermeintlichen Ruhmes willen doc ja fein Wörtlein fallen laſſen, 
dad feinen Gegnern wehethun könnte, von denen er allezeit 
aufrichtig höher gehalten habe, als von ſich ſelbſt“ ). 
Daher fam denn auch das tieflebendige Bedürfnis nach chriſtlicher 


Geiftesgemeinfchaft, das. Bedürfnis, von anderen Ehriften, aften | 
und jungen, zu lernen und das an ihnen hervorzufuchen, worin 


fie ihm nach feiner Meinung ein Vorbild fein konnten, ein «Be: 
dürfnie, das, wenn es fich äußerte, freilich Viele in die beſchämendſte 
Verlegenheit zu fegen nur allzu geeignet war; daher vor allem das 
lebhafte Bedürfnis nach Gebetsgemeinſchaft, welches ihn ſelbſt bei 
jungen Studenten beim Abſchiede zu der Bitte drängen fonute: 
„Beten Sie fir mid!“ 

Freilich, das mußte Rothe, und bei feiner aufrichtigen Selbft- 
erfenntni® mußte er es auch wiffen, daß ihm in feinem perfönfichen 
Ehriftentum viel gegeben war; aber weil es ihm gegeben war, 
darum rühmte er die Gnade des Herrn und fie allein, die et 
ihm gegeben Hatte, und die eben deshalb fo herrlich erglänzte vor 
feiner Seele, weil er fie als reine, unverdiente Gnade preijen 
Konnte. „Ich Halte es allerdinga*, fehrieb er 1864, „für ein 
Föftlih Ding, wenn man freudig an einen Gott "glaubt, der 
Wunder thut®), und an einen Heiland, der nicht bloß den Tod 





Tafjung der pflihtmäßigen Prüfung ber Geifter führen 
tann. . 

@) Schenkel berichtet (Rothe's nachgelaffene Predigten I, 41), daß Rothe 
bei den Angriffen der fogenannten Proteftpartei in Baden „fich am meiften 
dadurch betroffen gefühlt habe, daß er ben wiſſenſchaftlichen und moraliſchen 
Standpunkt dev angreifenden Partei ſich bisher nicht fo niedrig vorgeſtell 
habe, wie er ihm jegt mit einemmale erſchienen fei”. Die Authenticität 
diefer Worte vorausgeſetzt, ift es ſchwer verſtändlich, wie Schenkel aus einem 
offenbar in Erregtheit hervorgeſtohenen Worte Rothes im Angefict 
der Bitte des Sterbenden Capital zu machen ſich bewogen finden 
taun. Sollte es überdies Herrn D. Scheukel ganz unbelaunt gebfieben 
fein, daß im Unmuth KRotge gelegentlich auch wol einmal vom „Gefindel 
des Proteftantenvereins“ u. ſ. w. reden kounit ? 

b) Der eutſchiedene und furchtloſe Glaube Rothe's an Wunder iſt befannt; 


D. Richard Rothe. 415 


überwunden hat, fondern dadurch, daß er ſich den vorerwählten 
Zeugen mit finnenfälliger Evidenz als den vom Tobe Aufr 
erftandenen erwiefen, aud Leben und unvergänglices Weſen 
ans Licht gebracht Hat für alle Geſchlechter der Menden, und 
der forthin in Ewigkeit herrſchet als der, dem alle Gewalt gegeben 
ift im Himmel md auf Erden. Köftlich und ſelig iſt's freilich, 
wenn man jo glauben kann; aber wenn man's kann, fo ift’s 
Gnade, und auf Gnade pocht man nicht.“ 

So war Rothe's religiös -fittliher Charakter; fo Hat er ihn bis 
in deu Tod bewährt. Sein Herr Chriſtus, der das Lehen feines 
Lebens gewefen, iſt feine Liebe und fein Reben bis zum leiten Athem⸗ 
zuge geblieben. Der ſchon Sterbende ließ feinen leibtragenden " 
Freunden fagen: er fterbe im Namen Jeſu, und er glaube auch, 
es einigermaßen zu verſtehen, was es heiße, im Namen Jeſu zu 
fterben. — Während wir über den Verluſt des Theologen, des 

in feiner Theologifchen Ethik, wie in feiner Schrift: „Zur Dogmatik“ hat 
ex ihm wiffenfchaftfich begründet. Es Kat uns ſehr befremdet, nad) foldhen 
Vegründungen, wie Rothe fie gegeben, felbft aus der Feder eines 9. I. 
Holymann (Bunfens Bibelwerk, II. Abtheilung: Bibelurkunden, 4. Theil: 
Die Bücher des Neuen Bundes, S. 98) auf bie Frage: „Was ift Wunder ?* 
die Antwort zu empfangen: „Wunder im eigentlichen Sinne find angeb- 
liche Thatſachen, beruhend auf ber Annahme von Wirkungen, welche den 
Naturgefegen widerſprechen“. Geradezu ärgerlich (auch deshalb, weil fie 
unmittelbar Rothe treffen) find aber bevartige Behauptungen, wie fie bald 
hernach folgen: „Die vermeintliche wiſſenſchaftliche Berteidigung folder 
Wunder aber, welche die Theologen zu allen Zeiten mehr oder weniger 
roh verfucht und, fo oft fie fonuten, zum Glaubensartifel und zur Ber 
dingung der Theilbaftigleit an der Kirche gemacht Haben, beruht, damit 
wir es frei herausjagen, auf einer nicht allein geiftlofen, fondern geradezu 
irreligiöfen Anfiht von der Natur. Denn wahrlich, twir fönnen vom 
Standpunkt der Religion des Geiftes bie Anficht ebenfowenig religiös ale 
geiftreich nennen, weldye die Natur als etwas Todtes Hinftellt, ſtatt das 
‚göttliche Leben in ihr gerade in ben ihr einwohnenden Geſetzen zu erkennen, 
welche nichts, als die in fie gelegten Gedanken der ewigen Vernunft und 
dag uuberoufte Leben des ewigen Geiftes find. Ein Aufheben dieſer Ger 
fetge ift ein Leugnen ihrer göttlichen Natur, alfo Gottes; mur daß Wenige 
wiffen, was fie mit jenen unbejonnenen Worten fagen“. — Auf weſſen 
Seite die Unbefonnenheit liegt, if für den Freund der Theologie Rothe's 
nicht fer zu ermitteln. 


416 Adelis 


Chriften, des Lehrers, des Freundes trauern, hat er felbft dem 
Sterben ſchon lange mit Freuden entgegengefhaut; „id vertraue, 
daß ich jet heimfehren darf“, fprad er in feinen letzten Stunden 


aus. Er Hat fehon lange gemeint, auf diefer Welt ‚nicht mehr vi | 


zu thun zu haben, er werde allmählich Maculatur, er werde ab» 
gängig. Während wir in ihm eine Chriftengeftalt erbliden, an 
der der Herr zum Preiſe Seiner Gnadenmacht und Seiner Geiftet- 
macht Großes gethan, hat er felbft das Bewußtſein — und barin 
fühle er fih durchaus jugendlich —, nur ganz im Anfange feiner 
Hriftlihen Entwidelung zu ftehen. Während er meint, die Jugend 
und das fommende Geſchlecht werde ſich in ihn nicht mehr finden 
tönnen, und fein Name werde bald vergeffen fein, fehen wir gem 
in jenen Diftihen eine freundliche Weißagung : 
„Unverftanden bleibft Du, o Hertlicher, diefem Geſchlechte; 
Aber dem kommenden bift beides Du, Vater und Freund. 
Tiefe des freien Gedanlens und Frömmigkeit lieben einander ; 
Wahrlich, in ſchönerem Bund fah ich fie nie, als bei Dir!" 
Mit wenigen Strigen nur Haben wir die religidß-fittliche Eigen- 
tumlichtkeit Rothe's zu zeichnen verſucht; aber fo wenige ihrer auf 
fein mögen, und fo vereinzelt fie aud entworfen find, fie find ebenjo 
nothwendig, wie, fo hoffen wir, genügend, um die Bedeutung Rothe 
als Prediger und Theologen und vor allem auch, feine kirchliche 
Stellung richtig zu würdigen. 


II. Rothe als Prediger und wiffenfhaftliher Theologe. 


Das läßt ſich bei einiger Bekanntſchaft mit der Perfon Rothe 
von vornherein vermuthen, daß der fo Lebendige Glaube und die 


tiefe Frömmigkeit feines Lebens ihn in vorzüglichem Maße zur 
Predigt des Wortes tüchtig machen mußte. Pectus est, quod 
disertum facit — und fein pectus, das feinen Heiland gefunden 
hatte und felig e8 wußte, was ihm im Jeſu gegeben war, legte 
Rothe in feinen Predigten dar. Den Beſuchern Heidelbergs in 


D. Richard Rothe. 47 


den Ieten anderthalb Jahrzehnten ift es befannt, daß Rothe nur 
felten, nur auf ausdrücklichen Wunſch der Prediger oder der Ge⸗ 
meinde, die Kanzel beftieg; wie ein Lauffeuer verbreitete ſich wäh. 
tend der Wochentage vorher die Kunde durch die Stadt, und die 
dihtgefüllte, geräumige Univerfitätsfirche, die feierliche, Lautlofe Stille 
während feiner Rede bezeugte die Andacht der Hörer, wie die Ber 
fiebtheit des Predigenden. Was war es denn, was die Herzen fo 
bewegte und in Spannung hielt, wenn er ſprach? War es etwa 
das klangvolle Organ oder der Schwung der Rede, was Aller Herzen 
auf ihn zog und hinriß? Das war es nicht; die Stimme war 
ein hoher Discant, ſchöne Phrafen, rhetorifhe Kraft und Kunft 
waren nirgends zu fpliren; alles wurde in fehr einfachem, allgemein 
berftändfichem Sagbau vorgetragen, und eine gewiſſe Beweglichkeit 
des Heinen Redners konnte der hohen Stimme keine befonders feſ⸗ 
felnde Macht verleihen. Oder war es die Tiefe der Gedanken, 
das neue überrafchende Licht, das feine Rede über dunklere Gebiete 
der riftlichen Lehre warf? O nein, ben Profeſſor merfte man 
aus feinem Worte heraus; Rothe dachte viel zu hoch von dem 
ewangelifchen Predigtamte, viel zu hoch von dem einfachen Glauben 
der Chriftengemeinde, den er ja von Herzen theilte, ale daß er für 
den chriſtlichen Glaubensinhalt feine eigenen Gedanken geben und 
fo ſich felbft predigen wollte. Die gewöhnlichſten Gegenftände bif- 
deten das Thema feiner Predigt, wie „der Glaube an den leben⸗ 
digen Chriſtus“, oder „da8 Trachten nach dem Reiche Gottes“ und 
dergleichen; und was er fagte, wußte jeder fchriftgläubige Chriſt, 
und mancher gläubige Prediger hätte es allenfalls auch fagen können. 
Aber in der Art und Weife, wie er es fagte, darin lag die wun- 
derbare Gemalt feiner Predigt, dadurch wurden die einfachſten und 
gebräuchlichften Schriftgedanten in ihrer unermeßlichen Bedeutung 
vor das Gemiffen gerückt. Was man hundertmal gehört Hatte, 
ohne viel dabei zu denfen, durch Rothe’ Predigt fam man zum 
geiftfichen Verftändnis und Ternte fih gründlich ſchämen jeder leeren 
Vhraſe in Heiligen Dingen. Was es denn eigentlich Heißt, einen 
Heiland zu Haben, was es Heißt, mit Gott verföhnt zu fein, 
was es heißt, an den lebendigen Chriftus zu glauben u. ſ. w., 
das trat fo mächtig, fo beſchamend und befeligend vor unfere Seele, 


418 achelis 


daß manches Geldbnis der Treue zu ef während feiner Predigt 
aus bewegtem Herzen gen Himmel ftieg. 

Mit diefen Eindrücken ftehen wir nicht allein; alle empfängfichen 
Gemüther Haben Achnliches empfunden und erfahren mährend der 
ganzen Zeit feiner amtlichen und auferamtlichen Prebigerwirkfamteit. 
Nippold*) erzäfft und, wie ein hochbegabter Anhänger Stahls 
nad; einer heftigen principiellen Debatte mit Rothe, im weder 
Rothe ihn schließlich davon überführte, daß er bei feiner Anfchauung 
im ſechzehnten Jahrhundert nothwendig zu den Gegnern Luthers 
gehört Hätte, Hernach im Laufe des Geſprächs bemerkte, mit folder 
Glaubenswärme habe er nie predigen hören, wie von einem Na— 
mensgenoffen Rothe's in Rom; die Berwunderung war nicht gering, 
als er die Spentität des vömifchen Predigers mit fermem heutigen 
Gegner erfuhr. Durch die Heransgabe der nachgelaſſenen Predigten 
von Rothe durch Schentel®), vom denen der erfte Band (1868) 
bie in Rom während der Jahre 1824—1828 gehaltenen umfaßt, 
find wir in den Stand gefegt, die Nichtigkeit jenes Urtheils zu 
bezeugen. In der That eine innige Glaubenswärme, ein heiliges 
Drängen, die erfannte Wahrheit als die Wahrheit, welche allein 
objective Güttigfeit hat, den Hörern an's Herz zu legen und ihrer 
vernünftigen Erkenntnis zu vermitteln, tritt erquickend und erhebend 


a) Gelzer, Monatsblätter für innere Zeitgeſchichte 1868, Jannarheft, ©. 37. 

b) Zur Vetrübnis und Eutrüftung aller Freunde Rothe's Hat D. Schenlel 
die Heransgabe dieſer Predigten zu einem literariſchen Skandal beuutı 
In der Voreede (S. VI m. VI) heißt es namlich: „Die worgenom- 
menen Aenderungen beſchräuken fi auf folgende Punkte: I) auf 
wirffiche Schreib- und Spradjfehler 2c., 2) auf Fremdwörter 2c., 8) auf 
folge Auslegungen von Schriftftellen oder auf folde Br 
hauptungen, von denen ich zuverſichtlich wußte, daf Rothe 
feine Meinung darüber nit nur längft geändert hatte, 
fondern es jehr bedauert haben würde, wenn fie unter der 
Autorität feines Namen je veröffentligt worden wären. 
Die Fülle waren bie feltenften, und ich bin dabei jedesmal mit der größten 
Schonung zu Werke gegangen.“ Natürlich find dieſe Fälle nicht weiter 
bemerllich gemacht; die Belege, daß Rothe hie und da feine Meinuug ge 
ändert habe, fehfen aljo gänzlich, und die Correcturen von Scheukels Hard 
find nicht etwa anmerfingsreife beigefügt, fondern dev Tegt’felbft if duch 
fie für alle Zeiten corrumpirt und verfälſcht. 








D. Richard Rothe. 419 


überall au8 diefen Predigten hervor. Wir Haben oben darauf Bin- 
gewviefen, wie in den Anfenthalt Rothe's zu Rom eine entfchiedene 
Entwickelungsperiode feines" inneren Lebens fällt; auch in dieſen 
Predigten ift ſolche Entwickelungsperiode zu bemerken; die während 
der erfteren Zeit gehaltenen ftehen denen aus den Jahren 1826—1828 
an Schwung der Sprache, am lebendiger Fülle der Gedanfen, an 
innerer Freudigkeit uud Beweglichkeit bei weiten nad), während das 
fefte, offene Bekenntnis zu Chriſto und dem Heile in Ihm auf jeder 
Seite feine Stelle hat und nirgends zurüctritt *). Namentlich im 
der Behandlung der evangelifchen Perikopen, in der Zeichnung 
des Heren Jeſu felbft in diefem und jenem individuellen alle, in 
dem Nachweiſe der Identität der Gefinnung und des Verhaltens 
Yefu während der Tage Seines Fleiſches und zu allen Zeiten nad 
Seiner Anferftehung bewährt der jugendliche Prediger ſchon eine wahre 
Meiſterſchaft; aber auch die Neigung Rothe's, der wir aus den 
legten Jahren feines Lebens fo vortreffliche Zeugniffe zu verdanken 
haben, fehlt Hier fchon nicht, nämlich den Ehriften als den Kindern 
ihrer Zeit die Aufgaben ihrer Zeit und die Nothiwendigkeit, im 
beften Sinne des Wortes „moderne Menſchen“ zu fein, ohne den 
alten ewigen Glaubensgrund irgendwie zu verlaffen oder zu ver⸗ 
leugnen, klar darzulegen; die dreiundvierzigfte Predigt über das 
apoſtoliſche Wort: „Schicket euch in die Zeit“, iſt hiervon ein 
ſchoues Beifpiel. 

Nur wenige feiner Predigten hat Rothe ſelbſt durch den Drud 
veröffentlicht ; und auch feine Übrigen fehriftftelerifchen Erzeugniffe 
find der Zahl nach verhältnismäßig fehr gering. Seine Warnung ®), 
„lid recht forgfam zu hüten, jemals den ſchlechten Zeitgeift mit den 
eigenen Waffen desjelben, die Unarten desjelben durch eigenes Ein- 
gehen auf-fie bekämpfen zu müſſen, alfo z. B. bie Vielfchreiberei 
einer Zeit durch eigenes Vielfchreiben, ſtatt durch das gerade Gegen- 
theil“, Hat er felbft in erfter Linie beherzigt und bethätigt. Die 


a) Eine Vergleichung der beidey Predigten über Joh. 2, I—11, von denen 
die erfle am 18. Januar 1824, die zweite am 14. Januar 1826 gehalten 
ift, macht die in die Zwiſchenzeit fallende Entwidelung Rothe's fehr augen- 
ſceinlich. 

b) Theoi. Ethit I, $ 1026, ©. 437. 


420 Aderis 


Werke jedoch, die wir von Rothe befigen, find im jeder Bezichung 
hervorragende Leiſtungen, welche altfeitige Berückſichtigung, ob and 
nicht Billigung, fi) von ihrem erften Erſcheinen an durch ihren 
Gehalt erzwungen haben. Nachdem im Jahre 1836 der „Neu 


Verſuch einer Auslegung der paufinifchen Stelle Röm. 5, 12—21° | 


— ein Meifterwerk in exegetifcher Afribie — als eine Art von Bor: 
laufer vorausgegangen war, führte Rothe im Jahre 1837 mit dem 
erften Bande der „Anfänge der hriftlichen Kirche und ihrer Der- 
faſſung“ (der zweite Band iſt, obgleich im Manufeript vollendet, 
nie in die Deffentlichkeit getreten) ſich unter die theologifchen Schrift: 
ſteller "ein; die Idee der Kirche (fiche unten) wird nad) der bejon- 
deren Auffaffung, welder Rothe im weſentlichen bis au fein End 
trem geblieben ift, als Einleitung zu dem Werke entwickelt, und an 
ihr erlebte Rothe zuerſt das tragiſche Geſchick, das ihn bis zulekt 
ohne Unterbrechen verfolgt hat, daß Viele, von denen Rothe fih 
principiell geſchieden wußte, ihm zujauchzten, dagegen Manche unter 
denen, mit welchen er im Geift und in Gefinnung einig war, ihn 
auf das heftigfte befänpften *). Die gediegene Darftellung der 
apoftolifchen Gemeindeverhäftniffe, die echt wiſſenſchaftliche, prin 
cipielle Behandlung des Gegenftandes, auch die exegetifchen Ber 
gründungen feiner Anſichten, unter denen namentlich die über Ad. 
- 14, 23 hervorzuheben ift, welcher die tüchtigften neueren Epegeten, 
wie Meyer und Baumgarten, ihre volle Zuftimmung ſcheulten, 
fihern dem Werke einen bleibenden Werth. Won gleich Hervor- 
ragender Bedeutung ift die Heine Differtation: „De disciplinae 
arcani, quae dicitur, in ecclesia christiana origine‘ (Heidel- 
berg 1841). Aus den Vorlefungen über Kirchengeſchichte, welde 





Rothe ohne Unterbrechung neben, feinen vier Hauptcollegien (Sy | 
optifche Erklärung der drei erſten Evangelien, Leben Jeſu, Dog | 
matik, Ethit) hielt, hat er nichts. veröffentlicht; ber Werth diejer 


Vorleſungen beftand vor allem in dem geiftvollen Pragmatismus, 
in welchem Rothe die Erſcheinungen ber Kirchengefdichte aus den 
obwaltenden Zeitverhältniffen und dem innerlich nothwendigen Gange 





3) Bol. Erdmann, Grundriß der Geſchichte der Philoſophie IL, $:339, 2; 
8 340, 1, ©. 674fj. 


D. Richard Rothe. 421 


des Reiches Gottes auf Erden darzuſtellen wußte; eine claſſiſche 
Probe dieſes Pragmatismus liegt in der Rede zur dreihundert⸗ 
führigen Todesfeier Philipp Melanchthons (1860) vor. In jeder 
Beziehung das Hauptwerk Rothe'tz ift feine Theologiſche Ethik 
(3 Bände 1846—1848; 2. Aufl., Bd. Im. II, 1867), und 
fie Haben wir faft ausſchließlich in's Auge zu faffen, wenn wir 
zur Darftellung der theologifchen Bedeutung Rothe's nun über⸗ 
gehen. 

In feiner Theologie war Rothe fo entfchieden wie möglich Su- 
pranaturalift); ſchon die Ausfprüde, die oben über „feinen 
Herrn Chriſtus“ angeführt find, fein perfünliches lebendiges Ver⸗ 
haltnis zu dem Herrir laffen einen anderen Standpunkt als nicht ® 
denkbar erſcheinen; demgemäß befennt Rothe auch, daß ein wirt 
liches Verftändnis der Perſon und der Geſchichte Jeſu, und zwar 
gerade ein wahrhaft Hiftorijches, nur von ſupranaturaliſtiſchem 
Standpunkte aus möglich fei, — die autijupranaturaliftifhen Ber 
handlungen dieſes Gegenftandes find ihm famt und fonders nur 
immer wieder neue Inductionsbeweiſe für diefe feine Anſicht ®). 
Aber diefer fein Supranaturalismus war wieder, wie alles bei 
Rothe, ein durchaus eigentümlicher und perfönlicher, er ging fo 
ſehr aus feiner Perfönlichkeit und deren Gebildetfein hervor, jo fehr 


8) „Soweit ih mich jelbft kennen gelernt, habe ich nie ein antiſupranatura - 
Hiftifches Aederchen in mir entdedt, fo wenig als ein pautheiftiiches, und 
nie habe id} auch nur die leiſeſte Verſuchuug zum Autifupranaturalismus 
in mir verfpfrt, fo wenig wie zum Pantheismus; ja, wie oft habe ich 
gewunſcht, es möchten mir alle Verſuchungen fo fern gebfieben fein, wie 
dieſel Ich weiß nicht, wie das Lommt; aber es ift fo, und ich felbft habe 
es mir nicht gegeben“ (Allgem. kirchl. Zeitſcht. 1864, &.585). Bgl. auch 
„Zur Dogmatit”, 2. Aufl., S. 82: „Ich will nur in aller Einfalt mit 
dem Geftändnis meiner Blödfichtigteit Herausrüden, ich will es nur ehrlich, 
beidhten, daß ich bis auf dieje Stunde niemals mir habe deutlich machen 
tönnen, woran ſich mein Denken doc ftoßen könnte in dem Gedanken 
der Wunder. Es mag dies daher rühren, daß ich nun einmal von Haufe 
aus eine fo durchaus theiftifhe Ratur bin, die nie auch nur die leifefte 
Neigung und Anfechtung weder 'pantheiftiicyer noch theiſtiſcher Art in ſich 
veripfirt hat.” 

b) Algen. lirchl. Zeitſchrift 1864, ©. 386. 

Theol. Stud. Jahrg. 1869. 28 


4 


423 aqhelis 


aus feinem perſönlichen Lebensverhältnis zum Herrn Chriſtus, daß 
er dadurch fein beſtimmtes, individuelles Gepräge empfing. 

Brei, wie der Glaube felbft, und felbftgewiß, wie diefer, kannte 
Rothe Feine nur äußere Autorität; den Dogmen der Kirche ftand 
er mit inniger Pietät, aber zugleich mit vollfter Freiheit gegenüber, 
in manden dem fogenannten modernen Bewußtjein oft am meiften 
anftögigen Tehrfägen (3. B. in der Lehre von der heilsgeſchicht⸗ 
lichen Notäwendigfeit der Wunder, aud der fogenannten Natur- 
wunder, in der Lehre von der Perfünlichleit des Teufels und von 
dem Reiche der böfen Geifter zc.) fih nahe mit ihnen berührend, 
in anderen, feheinbar fehr wenig verfänglichen von ihnen am- wei- 

” teften abweichend. Wie er frei war von der Autorität der fird- 
lichen Dogmatik, ebenfo frei war er auch auf der anderen Seite 
von der theologifchen oder religidjen Meinung der Gegenwart. Er 
machte feine Sache eben ftill vor ſich hin mit Luft und Eifer, ohne 
fich durch die verwunderungsvollen Mienen der Leute um ihn Her 
ftören zu Taffen, und die Reſultate feiner Forſchung waren eben 
folde, die ohne alle und jede andere Äußere Beeinfluffung, als 
die, welche zu feiner Charakterentwidelung und zur Bildung feiner 
Perſon mitgewirkt, fi mit Nothwendigfeit ergaben. Aber eben 
darum fönnen wir ung nicht begnügen, das Verhältnis Rothe's zu 
diefer oder jener andern Erſcheinung der Theologie nur anzudeuten, 
wir mäüffen vielmehr das Syſtem Rothe's felbit anfhauen. Und 
das Syſtem Rothe's, — nun, es ift ein Syſtem im ftrengften 
Sinne des Wortes, ein einheitliches Ganzes, ein lebensvoller Bau, 
von einem einheitlichen Fundamente getragen, aus einer Wurzel 
hervorgewachfen, eine Pflanze, deren einzelne Schößlinge kraft in-] 
nerer Nothiwendigfeit Hervorgetrieben jind und die, von dem Ganzen 
abgelöjt, in ihrem wahren Wefen und ihrer wirklichen Beſchaffen⸗ 
heit unverjtanden bleiben müſſen. Aber von welder Art ift fein 
Syſtem? Rothe Hat für fich jelbit öfter feinen anderen Namen 
beauſprucht, als den eines Theofophen*); er ftellt fi mit einem 


2) Bol. die im Ganzen fehr gelungene Darftellung des Rothe ſchen Syftems 
bei U. Müde, Die Dogmatik des neunzehnten Jahrhuuderts (1867), 
©. 156f. Freilich gegen die Behauptung, „daß er mit Weiße das Be- 


D. Rigard Rothe. “us 


Jacob Böhme in diefelbe Reihe und begehrt, zu ben Füßen Oetingers 
u figen; nber was diefe Theofophen vor ihm erftrebt, was fie mit 
ifren tiefen Geiſtesbliken, aber unzulänglichen und aus fremden 
Gebieten entlehnten Mitteln geahnt und gefchaut, was fie in ab» 
gebrochenen und vereinzelten Sägen barzuftellen fi bemüht, — 
Rothe Hat die Theoſophie zuerft auf die Stufe der Wifjenfhaft 
erhoben, indem er mit ber ftrengften wiſſeuſchaftlichen Methode bie 
theofogifche Speculation begründet Hat und darin genrbeitet, wie 
feiner vor ihm und feiner feiner Zeitgenofien. Dur feine Me 
thode der theologiſchen Speculation hat Rothe der Theologie große 
Dienfte geleiftet; er Hat fie von allem materiellen Einfluß zeit» 
genöfftscher Philoſophie principiell befreit, er Kat fie als Wiſſen⸗ 
ſchaft, im ftrengften Sinne, emancipirt und auf ihre eigenen Züge 
geftellt. Man Hat, um Rothe zu ehren, ihn den größeften fpecu« 
firenden Theologen feit Schleiermadjer genannt; wohl, wir accep« 
tiren die dankbar, müffen aber gleichwol in Abrede ftellen, daß 
felbft ein Schleiermader, was die Reinlifeit und Schärfe der 
fpeeufatinen Methode als folder angeht, mit Rothe verglichen, ja 
daß bei Schleiermacher überhaupt van Speculation in jenem durd)- 
greifenden Sinne, wie bei Rothe, geredet werden könne *). 
Schleiermacher läßt von bem qriſtlich-frommen Gefühl fic bie 
Säge des chriſtlichen Glaubens dictixen, um mit feiner Dialektit 
fie au ſeciren und zu begründen, bei Rothe find die Säge bes chrift- 
lichen Glaubens felbft die Ergebnifie der „feinften Dialektik“, der 
„eindringendften Logik“, aus einem gegebenen Punkte in ihrer 
ganzen Fülle mit Naturnothwendigkeit hervorgegangen. Der leben⸗ 
dige Chriſt und der Denker waren in Rothe fo fehr eins, dag er 
beennt, fein „armes Bischen perſönlicher chriftlicher Brönmigkeit“ 
fei in Wahrheit gar nichts anderes, als jene lichte Anſchauung und 
jene hellen, ſcharfen, durchfchneidenden Begriffe von den göttlichen 





ſtreben heile, den ungezügelten Naturalismus der neu · Imhelingtihen Theo- 
fopfie durch den idealiſtiſchen Theisinus ber nachhegel'ſchen Specnlation 
an temperiven”, würde Mothe deu entjchiedenſten Proteft exheben. Bol. 
Xheol. Eihit, 2. Ausg, ©. XVII u. beſ. ©. X. 
8) Ueber dns Werhältwis Schleiermachers zur theolog. Speculation vgl. Rothe 
ſelbſt, Theol. Eihit, 2. Aucc, $ 14, Anm. ©. 60; $ 15, An. ©. 68. 
29° 


424 Achelis 


und geſchopflichen Dingen, wie fie aus Gottes Gnade in ihm fe 
bendigfte Ueberzeugung und die Seele feines Lebens geworden feien. 
Der gegebene gewifje Punkt, welcher ben Ausgang aller theologifchen 
Speculation bildet, muß aber, wenn aus ihm ſolches hervorwachſen 
fol, ein überaus inhaltreicher und entwicelungsfägiger fein, und 
da& ift er aud in der That. Der Ausgangspunkt Nothefcer 
Speculation ijt die Gemeinſchaft des Kriftlihen Individuums mit 
Gott, die lebendige, völlige Gemeinſchaft mit Ihm, wie ſie nur durch 
Ehriftum ermöglicht ift, es ift die in einer ſolchen Gewißheit voll: 
zogene Gemeinfchaft, daß mit derfelben Schärfe, wie Eartefius fein 
Cogito, ergo sum als einigen Ausgangspunft aller. philofophifcen, 
fo Rothe fein Cogito, ergo Deus est als einigen Ausgangspunkt 
alter theologiſchen Speculation Hinftellt. Hierin liegt der ſchon be- 
rührte principielfe Unterfchied aller philofophifchen und theologiſchen 
Speculation; jene geht vom Selbftbewußtfein, der Selbftgemißgeit, 
als der letzten unumftößlichen und einzigen Gewißheit aus, dieſe 
von dem Gottesbemußtfein, der Gottesgewißheit, als der letzten un- 
umſtößlichen und einzigen Gewißheit. Daher auch die Forderung 
der chriſtlichen Fröommigkeit als conditio sine qua non 





des theologiſchen Speculirens, die Behauptung, daB nur das fromme, } 


das chriftfich-fromme, das thatſächlich mit Gott in CHrifto geeinigte 
“Subject ein fpeculirendes fein könne, weil nur dies jenen-Anfangs- 
punft der Speculation zu finden weiß und haben fann *). In die 
in der Perfönlichfeit vollzogene Gemeinfhaft mit Gott, wodurch 
das Selbftbewußtfein zugleich Gotteöbewußtfein ift, fegt die Dia⸗ 
Lettif ihren Hebel ein; das abfolute Sein Gottes wird in meitere 


a) In dieſem Doppelten, der ſtrengen bialektifchen Methode einerjeits und der ', 


Forderung der hriftlichen Frömmigleit der Speculirenden andererfeits, Tiegt 
allein das Schugmittel gegen die unfeugbaren Gefahren ber theologiſchen 
Speculation, die fie if den Händen jedes Unberufenen hat. Ob ein per 
eulativer Theologe dieſe beiden Bedingungen erfült Habe, läßt fich ans 
feinem Syſteme, hiufichtlich der erften Bedingung-formaler Weiſe, näm- 
lid) aus der Folgerichtigfeit der Cohlüffe aus den Prämiffen, binfichtlic 
der zweiten Bedingung materialer Weife,. nämlich aus ben Refultaten 
feines Denkprocefjes felbft, prüfen, welche fich,. wenn die zweite Bediugung 
erfüllt ift, mit den Ausfagen des chriſtlichen Selbftbewußtfeine, resp. mit 
denen der heiligen Schrift (fiehe weiter unten), deden. milffen, 





D. Richard Rothe. 425 


Begriffe differenziert, und aus biefen ergeben fich mittelft einfachfter 
Logit neue Begriffe, die in immer erneuter Differenzirung immer 
neue Begriffe aus ſich felbft Herausgebären, zuerft in feinen Linien 
artigen Umeijfen, dann in fefterer Geftaltung, alle vermöge rein 
mathematiſcher logischer Berechnung, kraft innerer Vernunftnothwen⸗ 
digfeit *). Und welch eine Großartigfeit des Gebanfenbaues wird 
auf ſolchem Wege vor unferen Augen errichtet; wir fehen Gott, 
den Ewigen, Unendlichen, Herrlichen, logifh werden, vom abjo- 
Iuten Sein bis zur concreten abjoluten Perſon mit der ganzen 
unbegrenzten Fülle des Lebens, mit „dem ganzen Ueberſchwenglichen 
des für unfer Denken ſchlechthin Unerreihbaren“ in Ihm, — ober 
nein, nicht Gott, es ift nur der Gedanke von Gott, den wir 
werden, den wir in feiner Majeftät vor unferen Augen fich ent 
falten fehen, einen Gedanken, weicher ſchließlich doch nur der „aller« 
einfachſten Kindervorftellung“ von Ihm das Siegel der Wiſſenſchaft 
von feiner Wahrheit aufprägt. Bon der abfoluten Perfon Gottes 


a) Die Kritit der Principien der Speculation Rothe's überlaffen wir billig 
den Refigionsphifofophen. Gleichwol konnen wir einige Bebenfen gegen diefe 
Vrincipien nicht verfchteigen, die fi) uns aus Widerfprüchen, in die Rothe 
ſelbſt Hie und da gerathen ift, ergeben Haben. Es ift gewiß der Nerv der 
fpeculativen Principien Rothe's der Sag: „Nur das chriſtlich fromme 
Subject kann theologifch fpecuficen. Warum? Weil nur e8 jenes Ur- 
datum Hat (vermöge der in ihm vollgogenen Gemeinfchaft mit Gott), in 
das die Diafektif einfebgt; alles Weitere der Entwidehung, fobald nur jenes 
Urdatum vorhanden ift, if} reine Thätigleit der Logik und Dialektik.” Nun 
aber jagt Rothe ſelbſt Theol. Ethik, 2. Ausg., $ 26 Aum. 8), daf ſchon 
Philo diefes Urdatum gehabt Habe; — Tag es denn, fragen wir, ledig- 
lich an der mangelhaften Dialektit des Philo, daß er micht diefelbe theo- 
Togifche Ethik herausfpecnlirt hat, wie Rothe? — Ober, ift nad) Rothe 
(Teol. Ethif, 2. Ausg, $ 11) das evangelifh-fromme Bewußt- 
feim der Ausgangspunkt, und gibt es demnach, jenachdem das chriftlich- 
fromme Bewußtſein fpecifiich mobificet ift, auch weſentlich verjchiedene 
fpeculative Theologieen ($ 8), fo ift doch die fpeculative Theologie, reſp. 
die theofogifche Ethil, eben wicht Erzeugnis der reinen Dialektik vom Ur- 
datum aus, ſondern wiffenfhaftliche Entfaltung des eine große Fülle con- 
ereten Stoffes in fid enthaltenden frommen Bewußtſeins (ähnlich wie bei 
Schleiermacher). — Wir begegnen uns hier nahe mit Pfleiderer in 
feiner Recenfion von Rothe's Eihif, 2. Aufl, Bd. I u. II (Stud. n. Krit. 
1868, Heft IV, ©. 767 ff). 


426 \ Acelis 


aus ergieit ſich mun der Strom der Dialektit in ein reicheres Bette; 
die ganze Fülle des unendlich manigfaltigen geſchöpflichen Seins, 
nicht allein des gegenwärtigen Aeon, auch der vergangenen uran⸗ 
fänglihen Aeonen, entfpringt, wirb vor unferen Bliden; wir find 
Zuſchauer geworden des göttlichen Schaffens, diefes Werkes der 
abfoluten Freiheit, die als folhe die abfolute Notwendigkeit ift; 
der ganze Kosmos entfteht, bis mit dem Menfchen, der Krone der 
Schöpfung, die ethifhe Arbeit beginnt, die durch eine lange Stufen 
folge und Entwidelung in dem vollendeten Reiche Gottes am vor⸗ 
läufigen Ende alter menſchlichen Dinge in der unausfprechlichen 
Herrlichkeit der zufünftigen Welt zur feligen Ruhe gekommen ift. 
Und diefe zufünftige Welt des reinen Geiftes, fie hat aus biefer 
irdischen geſchöpflichen Welt durd die fittliche Menfchenarbeit an 
ir und in ihr nach Gottes Heiligem Willen ſich entfaltet, fie if ; 
das Refultat der fittlichen Bewegung der Menfchheit, die in Chriſto, 
dem Erlöfer, die Achſe ihres Umlaufs, das Princip, den bleibenden 
Mittelpunkt, die treibende Kraft, das erhabene Haupt auf ewig ge 
funden, welches alfe Dinge im Himmel und auf Erden in fich felbft 
in eins zufammenfaßt. Die Geſchichte der chriſtlichen Menſchheit 
iſt die Gefchichte der Actualiſirung der Erlöfung in Chrifto ge 
worden, noth wendig in ihren Umriffen, in der Folge ihrer Knoten⸗ 
pünkte, weil gelenkt und begeiftet von der abjoluten Freiheit und 
Vernunft, trog alfer Willfür der fündigen und unfreien Welt *); 
in ber volfendeten, Geift gewordenen Menſchheit Hat ber abfofute 
Geiſt, d. i. Gott, der das Princip alles Werdens ift, fein anderes 





a) Mio wicht if nach Rothe, wie Hönig fehreibt, alles geſchichtlich Gewor⸗ 
dene ein nothwendig Gewordenes, ebenſowenig wie alles gefehichtlich Wer ⸗ 
dende (in der Zukuuft) ein nothwendig Werbendes, alſo Weredjenbares, it; 

. bie Willkür, dieſes ſchlechthin Unberechenbare nud ſchlechthin Nichtnothwen 
dige, hat in dem Werben alles Geichichtfichen eine hervorragende Stelle; 
aber ber Tebendige, abfolut freie und abfolut vernünftige Gott hat über 
alles die Herrſchaft in Händen, und es ift ein Act Seiner ewigen Weisheit, 
Liebe und Macht, da Er die Refultate der willfüclichen Bewegung der 
Menſchen zu dem göttlich nothwendigen Lauf der Dinge zu benutzen und 
zu vegieren weiß. — Bol. die Haren Auseinanderfegungen Rothe's felbt 
über diefen Pankt in ber Theol. Exhit (2. Ausg.) I, $ 54; vgl. auf 
„Zur Dogmatit“ (2. Aufl), ©. 91. 


— — — — — — — 


D. Hicherd Rothe. 427 


Ich gefunden, das von Ewigkeit fein ewiger Gedanke gefegt, und 
in der vergöttlichten, zum „Bilde, das Gott gleich fei”, gewordenen 
Menſchheit wohnt er in Seiner Fülle Teibhaftig, — die Erde ift 
zum Himmel geworben. 

Berweilen wir einen Augenblid vor diefem fpeculativen Gedanken⸗ 
foftem. Wer müßte nicht, nachdem er Rothe's Ethik durchſtudirt, 
die Großartigfeit der Anlage, die gewaltige Kühnheit der Gedanken 
bewundern, die in das ſchlechthin Höchſte einzubringen, es zu ana» 
Igfiren (den Gedanken Gottes zu anatomifiren) ſich nicht ſcheut 
und von ihm aus durch einfachen Denkproce die ganze Welt von 
Anfang bis zu Ende conftruirt. Doch nicht Alle haben diefe Ber 
wunderung getheilt; bei Vielen ift an ihre Stelle ein Erjchreden 
getreten, und vielleicht Hat nur ber reine, lediglich an der Wahrheit 
und Marheit Intereſſe nehmende und der tiefreligiöfe Sinn, der 
das Werk durchweht, fie zurücdgehalten, den Vorwurf der An« 
maßung und des Hochmuths in noch fchärferer Betonung aus- 
zuſprechen, als es geſchehen ift*). Wir wollen fie nicht darum 
felten; wer von der überſchwenglichen Größe feines Gottes und 
der verfchwindenden Nichtigkeit des eigenen Ich und deffen Ver- 
mogens etwas weiß, der kommt bei fo fühnem Verſuch eines armen 
Sterblichen gar leicht auf foldhe Gedanken. Aber um jo nöthiger 
iſt es, daran zu erinnern, wie Rothe ſelbſt zu feinem Syſteme ge- 
fanden und es angefehen Hat. Da findet man freilich nichts von 
Anmaßung, wol aber jene chriftliche Befcheidenheit und Demut, 
bie, wie wir zuvor gerühmt, ein wefentliches Moment feines ins 
neren Lebens und feines Wirkens geworden war. „ch verlange“, 
ſchreibt Rothe’), „niemandem gegenüber Recht zu Haben und das 
letzte Wort zu behalten; nur das verlange ich, daß mir das Recht 
nicht beftritten werde, für meine Perfon bei feinem anderen Denken 
Befriedigung zu finden, als bei einem Denken aus einem Stüd 
und Guß, weldes der Natur der Sache nach nur ein ftreng fpe- 
culatives fein Fan. "Ich weiß fogar pofitio, daß ich Unrecht Habe, 


8) Bol. die Bemerkungen Rothe's, Theol. Ethik @. Ausg.) I, $ 4, Ann. 8, 
©. 275. 
b) Theol. Ethit (2. Ausg) I, S. XI. 


428 Agelie 


weil ich ja auch im glüclichften Falle doc immer nur einen Tropfen 
aus dem Meere geichöpft haben kann. Wenn alfo etwa ein Leer — 
nad) der Zuverficht urtheilend, mit der die Entdecker der philo⸗ 
ſophiſchen Syſteme ihr Werk zu betrachten pflegen, — mid, fragen 
würde, ob ich denn felbft wirklich volle Befriedigung fir mein 
Denten finde in meinen Sägen, fo könnte ich nur lächeln. Wehe 
mir, wenn mir Gott und die" Welt nicht überfchwenglich größer 
blieben, als mein Begriff von ihnen! Ja wol! nur eine hödft 
relative Befriedigung finde ich felbft in der hier dargelegten Lehre; 
aber doch eine fpecififche, doch eine Art von Befriedigung, wie in 
feinem anderen Syfteme, und diejes Syſtem Haftet doc me 
nigften® in meinem Bewußtfein, wohin ich es mit feinem fonft Habe 
bringen fünnen.“ Und in ganz ähnlicher Weife fpricht ſich Rothe 
in der Vorrede zur zweiten Ausgabe (S. VIII) aus: „Befcheiden: 
heit geziemt dem Speculirenden freilich, weil er ſich an eine nicht 
leichte Kunſt gewagt hat, und es wird dringend gerathen fein, daß 
er ſich nicht etwa felbft zum Meifter Tosfpreche, fondern feine Arbeit 
für das nehme, was fie ift, für Schüferarbeit, und fie folglich mit 
gründlichen Mistrauen anfehe. Daß es mir an dieſem Mistrauen 
wicht gebricht, darauf gebe ich dem Xefer mein Wort. Ich unter 
ſcheide ſehr wohl zwiſchen der Speculation und meiner Specu⸗ 
lation, und es fällt mir nicht im Traume ein, meinen Gedanken 
reine Objectivität zuzutrauen. Gerade weil ich ungefähr zu ver⸗ 
ftehen glaube, was diefe ift, weiß ich nur zu wohl, wie fehr mein 
Denken individuell gefärbt ift, und jchlage die fubjective Befrie⸗ 
digung, die es mir etwa gewährt, nicht eben hoch an. Die Br 
ſchränktheit kommt freilich Häufig genug vor, daß der Urheber eines 
Gedankengauges, der ihm individuell genug thut, als ſelbſtverſtänd⸗ 
lich annimmt, er müſſe auch objectiv befriedigend fein; aber vor 
ihr weiß ich mich zuverfichtlic frei.“ Alſo nur das foll das 
Syſtem Nothe’s fein: eine Darlegung der objectiven ewigen Wahr⸗ 
beit, foweit der Einzelne fie aufzufaffen und unter den Befchrän- 
kungen feiner Individualität fie rein und klar darzuftellen vermag. 
Zn dem Ringen des menſchlichen Geiftes in der Wiffenfchaft, im 
befonderen in der Theologie, nicht nur die höchſten Probleme des 
Denkens zu Löfen, fondern die geoffenbarte Wahrheit in ihrer Ganz 








D. Richard Rothe. 429 


keit und Tiefe aufzufaffen, will Rothe nur ein Mitkämpfer fein, 
der in der Reihe mit allen Uebrigen ficht *); aber freilich fann er 
zu diefem Ringlampf nur die Waffen gebrauchen, die er zu führen 
verfteht, nur die Gaben verwenden, die fein Gott ihm anerſchaffen 
hat; und fo fucht er auf feine Weife — und das ift die reine 
Speculation — diefelbe Aufgabe zu löfen, welche Andere auf ans 
dere Weife zu Töfen fuchen. Und mie jeder foftematifche Theologe, 
der einen Fortſchritt der Wiſſenſchaft anerkennt, auch anerfennen 
wird, daß er die Wahrheit nicht auf den, fchlechthin gültigen, 
wiſſenſchaftlichen Ausdrud gebracht, fondern nur einen Bauſtein 
berbeigetragen hat zu dem Werke, defien Vollendung noch in weiter 
Zulunft Liegt, fo tritt auch Rothe mit derfelben Anerkennung freudig 
hervor und zwar mit einer ſolchen Entjchiedenheit, die alle Ueber⸗ 
bebung von vornherein ausſchließt. Nur die Methode des For⸗ 
ſchens unterfcheidet Rothe von allen übrigen Theologen der Gegen» 
wart; während bei diefen die [naturwiſſenſchaftliche] Inductions⸗ 
methode vorherrfcht, die vom Einzelnen zum Alfgemeinen auffteigt, 
das fie durch Abftraction gewinnt, hat Rothe die Jutuitionsmethode 
mit großer Schärfe und Wiffenfchaftlichkeit geltend gemacht. 

Aber allerdings, ein Einwurf liegt der Forſchungsmethode Rothe's 
gegenüber fehr nahe, und oft fehon ift er ausgeſprochen; er betrifft 
die Stellung des Rothe'ſchen Syſtems zur Heiligen Schrift. Da 
ſcheinen die Theologen, welche der Inductionsmethode anhangen, 
entſchieden im Vortheil zu fein; ihre dogmatiſchen Gedanken wachen 
aus der Heiligen Schrift hervor, fie find, falls nicht fremdartige 
Einftüffe. ſich geltend gemacht, biblifche Theologie im Gewande fyfter 
matifcher Wiſſenſchaft, in möglihftem Anſchluß an die kirchlichen 
Symbole, verbrämt mit etwas Speculation und Weflerion und 
Dogmengeſchichte; der in den Symbolen niedergelegte Lehrinhalt der 
jeiligen Schrift wird dem denkenden hriftlichen Bewußtſein durch 
hre Aufftellungen vermittelt. Dagegen ſcheint Rothe's Syftem mie 
von aller Autorität, fo auch von der der heiligen Schrift Tosgelöft, 
s ſcheint ohne andere pofitive Grundlage, als der innerlichen des 
tommen Subjects, in der Luft zu ſchweben und weder eine Be⸗ 


2) Bgl. zu dem Mlen Theol. Ethik (2. Aueg.), $ 11 Anm, 


480 Achelis 


zugnahme auf die heilige Schrift zu geſtatten, noch der heiligen 
Schrift die Bedeutung eines Correctivs einzuräumen. Allein vers 
geflen wir nicht, daß Rothe mit aller möglihen Schärfe nur dem 
Hriftlig-frommen Individuum bie Vorbedingung alles theo— 
logiſchen Specufirens zugefteht, und daß die hriftliche Frömmigkeit 
des Individuums ausdrücklich nur auf em Boden und unter dem 
entfcheidenben Einfluß der heiligen Schrift felbft Hat erwachſen 
önmen *). Obgleich ferner ®) während der Arbeit des Speculirens 
durchaus fein Seitenbli weder nach den Refultaten fonftigen Dentens, 
noch nad) den Ausfagen der heiligen Schrift ftatthaft ift, damit 
das reinfiche Geſchäft nicht geftört werde, fo ift doch entſchieden, 
nachdem das fpeculative Ganze vollendet ift, die Heilige Schrift als | 
alfeiniger Maßſtab für die Nichtigkeit oder Unrihtigkeit der fpecw | 
lativen Denkergebniſſe anzulegen, und diefe find nad) jener mit aller | 
Genauigkeit und Schärfe zu prüfen. „Auch mir ift aud für 
mein Denken die heilige Schrift eine unverbrüdlige 
Norm“, fchreibt Rothe, und in den Vorlefungen über Ethik unter: 
ließ er es nicht, jedesmal feine Schüler deffen zu verfichern, c 
würde fofort fein ganzes Denfgebäude über den Haufen werfen und 
darüber als über etwas durhaus Misrathenes rückſichtslos den 
Stab brechen, wenn mit der heiligen Schrift eine Webereinftimmung | 





8) Wie fehr dies bei Rothe ſelbſt der Fall war, wird uns von Schentel 
(Agem. firhf. Zeitfhr. 1867, ©. 583) erzäflt: „Auf dem Gymnafium 
in Breslau, wohin er als zwölfjähriger Knabe kam, machte er zuerſt einen 
ernftlichen Anfang, ſich mit der Bibel zu beihäftigen. Er erhielt von 
ihr gleich einen außerordentlichen Eindrud. Cr fühlte fofort, wie ſehr fh 
dieſes Buch von allen anderen, die ihm bisher zu Gefihte gelominen, 
unterſchied, und warb von ber Sehnfucht ergriffen, hinter das in ihr ver 

borgene Myſterium zu koumen.“ &. 535: „In den letzten Jahren feinet 
Gymnaſialeurſus Hatte ex ſich immer tiefer in bie Bibel Hinefigelefen, md | 
fein Sinn für die einzigartige Weihe, die auf ihr ruhte, für die Aberirdiſche 
Luft, die in ihr wehte, und den überfinnlichen Duft, der über fie an 
gegoffen ift, Hatte fih infolge feiner romantifchen Stimmung (2) immer 
mehr erſchloſſen. Ex erzählt uns, wie das Uebernatürliche der Wunder, 
das in ihe auftritt, ihm damals nicht den Ieifeften Zweifel gewect, mb 
wie er aud am ihren geheimnisvollen Lehren nicht den geringften Anftoh 
genommen.“ 


b) Bol. Theol. Echit (2. Ausg), $ 10. 


D. Richard Rothe. . 481 


fih nicht Har erweifen ließe. Die normative Autorität ber heiligen 
Schrift fordert Rothe alſo unbedingt für fein Syſtem, ja, fein 
Syſtem will der Heiligen Schrift, will dem Verftändnis der götts 
lichen Offenbarung, deren authentifche Urkunde die heilige Schrift 
ihm iſt, nur dienen; und e& will das nicht nur, es hat demfelben 
gedient in amegiebiger Weiſe. Schon die alten Theoſophen, befon« 
ders Detinger (vgl. Rothe's Vorrede zu Auberlens citirtem Buche), 
haben ein feines Gefühl dafür gehabt, dag die allen Ausſagen der 
Vibel zũ Grande liegenden ausgefprochenen, wie unansgefprochenen 
dundamentalbegriffe und Fundamentalgnfhauungen auf dem Wege 
der Induction nimmermehr gefunden werden lönnen; beinahe 
trifft man fie und kaun fic präcifiren, aber auch mır beinahe, ein 
inommenfurabfer Reſt bleibt übrig; „der Schmelz“, wie Rothe 
im nennt, der unausſprechlich zart und duftig über der heifigen 
Schrift webt, er kommt nicht zu feinem Rechte. Darum gilt es, 
einen andern Weg einzufchlagen, und zwar denfelben Weg, auf dem 
die Apoftel und Propheten zu diefen Grundbegriffen gefommen find, 
und das ift für uns der Weg der Intuition. Es gilt, kraft des 
in Chriſto dem Glaubenden gegebenen heiligen Geiftes fid zu ver⸗ 
fenten in Gott, den Punkt des Ineinanderſeins des Menſchen und 
Gottes zu firiren und von Gott aus diefelben Gedanfen mit ber 
in Gottes Geift gehelfigten Vernunft nachzudenken, die Gott kraft 
Seiner Vernunft zuvor gedacht und im Offenbarungsgefdhichte und 
Dffenbarungswort dem Menfchen hat nahe gebracht. Weil die Offen« 
barungsgedanken Gottes vernünftig find, aus der abfoluten Vernunft 
hervorgegangen, daher nicht willkürlich, fondern nothwendig, weil 
frei, und weil die göttliche Bernunft und die menſchliche Vernunft 
Äh zu einander verhalten wie das volltommene Sein zum unvoll« 
ommenen Werden, weil endlich die Vernunft des erlöften und ges 
filigten Menſchen gereinigt und weſentlich erneuert ift nad 
Bottes Aehnlichteit, darum müffen auf dem angezeigten Wege bie 
söttfihen Offenbarungsgedanten in urfprünglicher Lebendigkeit nach» 
‚dacht umd wiedergemonnen werden können. Was den Apofteln 
nd Propheten als fpecififchen Organen der Offenbarung Gottes 
vurch Inſpiration zuteil ward, dasjelbe wird nod einmal hier 
um mit Gott geeinigten Subjecte durch einfache Denfarbeit zu⸗ 


482 J Achelie 


theil®), und ber Werth der Ergebniſſe dieſer Denkarbeit beſteht 
darin, dag die Grundbegriffe göttlicher Offenbarung, die Schrift: 
gedanken und Schriftbegriffe mit dem unzerftörten, zarten Schmel; 
Tebendiger Urfprünglichleit gewonnen, und der genau paſſende Schluſſel 
zum Verſtändnis der Heiligen Schrift, foweit fich derfelbe jegt her⸗ 
ftelfen läßt, gefunden worden ift. Rothe hat mim diefen Weg ein 
sefchlagen; und wer, wenn anders er mit der Theologifchen Ethil 
vertrant ift, möchte leugnen, daß uns hier manche biblischen Br- 
griffe in einer Schärfe, Sauberkeit und Klarheit dargeboten werden, 
wie fie die Inductionsmethode herzuftellen nicht vermag, daß von 
diefen reinfichen Begriffen aus die Offenbarungsgefchichte und die 
Dffenbarungsgedanfen eine neue und zwar das Verftändnis fehr 
fördernde Beleuchtung empfangen? — — 

Es ift nicht von ungefähr gefchehen, daß Rothe fein KHauptwerl, 
in welchem er die Reſultate feiner tiefen Speculation niedergelegt, 
die Theologiſche Ethik genannt Hat; denn die Ethit ift die 
Krone feines foftematifchen Gebäudes, dem die ganze Fülle der 
gemeinhin fogenannten dogmatifchen Säge, die aus feiner Speu 
lation geboren werden, zu dienen hat; und fie ift darum die Kron 
feines Syftems, weil der Gegenftand ihrer Darlegung die Kron 
und das Ziel aller Gnadengedanfen Gottes ift mit uuferem Or 
ſchlecht 9. Jeder wahre, in der Offenbarung Gottes begründet 





2) Bol. Theol. Ethit (2. Ausg.) II, $$ 267 n. 268, ©. 179 ff. 

b) „Man meint freilich leicht, id} hätte etwas von der Art geben molla, 
was man eine regelrechte, Chriſtliche Ethik‘ nennt. Damit verfteht mar 
mid; aber falſch. Zu dem, mas in diefem Buche fteht, bin ich nicht ie 
gefommen, daß id) mich mitbewerben wollte bei der Löhung bes Aufgak, 
die jene theologijche Discipfin ſich ftellt; ſondern feinen Inhalt bildet dr 
wiſſenſchaftliche Inbegriff der eigentümlichen Gedanken von Gott und der 
Belt, die mir in meinem Geifte, völlig unabhängig von dem Abſchen ai 
irgend eine befondere officielle Disciplin, wie aus meinem eigenften per‘ 
föntichen wiffenfhaftlichen Bedürfniffe und Triebe Heraus, hervorgewachen 
find. Daß mir daraus gerade eine Ethik entflanden ift, das iſt mir völie 
abſichtslos geſchehen; es kommt lediglich daher, daß ſich mir als ber it 
ganze Kosmologie (im weiteſten Sinne des Worts) beherrſchende Bart 
ganz ungefucht gerade der des Moraliſchen ergeben Hat. Diefe „thenlogiiht 
Ethik· will alſo nichts mehr und nichts weniger, als in mögfichf [harte 





D. Richard Rothe. 488 


rein dogmatifche Sat hat eine ethifche Bedeutung, in die er aus⸗ 
fäuft, und um deren wilfen er da ift, und bie gefamte Offenbarung 
Gottes, im befonderen das Chriftentum, „und zwar das uralte 
Chriſtentum in feiner ftreng verftandenen Uebernatürlichkeit, ift 
etwas Mehreres, ala blo ße Religion, und wäre e8 auch immerhin 
die vollfommene und die abfolute, es ift ein ganzes, volles, 
neues menfchliches Leben und Dafein, eine ganz neue Gefchichte 
unferes Geſchlechts, ja, eine ganz neue Periode der Schöpfung dieſes 
irdiſchen Welttreiſes, und der Exköfer ift kein Kleriler oder Pfarrer, 
jondern ein hohepriefterlicher König“. Die fittlihe Neugeftaltung 
der Menfchheit, der neue Himmel und die.neue Erde, in welcher 
Gerechtigkeit wohnt, und die Gott nur durch die fittliche Erneuerung 
und die fittliche Arbeit der erneuerten Menfchheit zu Stande bringen 
fann und will, fie ift das Ziel der gefchehenen Erlöſung, darauf 
läuft die Wirkſamkeit des Erlbſers felbft in der chriſtlichen Menſch— 
heit hinaus. Der Gang der hriftlichen Weltgefchichte ift der Fort⸗ 
ſchritt zu diefer von Gott gewollten Vollendung, und jeder neue 
Schritt der wahren chriftlich-fittlihen Euftur ift ein Schritt vor 
warts auf der Bahn zur Vollendung hin. 

Daher die tiefrefigidje Begeiſterung, mit welcher Rothe an den 
Eufturbeftrebungen der Gegenwart theitnahm, daher das begeifterte 
Ttachten, den Zeitgenoffen die Hohe Bedeutſamkeit diefer Euftur- 
beftrebungen Mar zu machen; daher aber auch, oder wenigftens in 
nächſtem Zuſammenhange damit, die vielfach angefeindete Theorie, 
daß die Kirche als die lediglich religidfe Gemeinfchaft dem Staate 
als der alles umfaffenden fittlichen Gemeinfhaft zu dienen, ihm 
die Mittel zur möglichen Grreihung feines Zweckes darzureichen 
habe. Auf. das Sittliche Legt Rothe überall den größeften Nach- 
druck; aber ebenfo nachdrücklich dringt er darauf — und dies wird 
neuerdings bei. der Beurtheilung Rothe's nur allzuſehr vergejfen —, 
daß chriſtliche Sittlichfeit nur möglich fei anf der Grundlage des 


und reinlichen Strichen die individuelle Geftalt verzeichnen, zu welcher die 
wiſſenſchaftlichen Gedauken ihres Verfaſſers im Laufe eines langen Lebens — 
Wie er überzeugt, umter göttliche Führung — fid) ausgebildet Haben,” 
Reel. Ethit 2. Ausg, ©. VI) 


484 Agelis 


Religiöfen, dag nur die hriftlihe, die evangeliſche Frommigleit die 
Seele der Hriftlihen Sittfichleit fein könne, wie das Ynbividuum 
aur dann, wenn es im chriftlichen Glauben der Erlöſung in Eprifte 
theilhaftig geworden, ein fittlid) normales Individuum, ein ganzer, 
neüer Menſch werden kann, fo ift aud alle fittliche Arbeit der 
chriſtlichen Menſchheit nur daun echt und wahr, wenn im ihr der 
Herr Ehriftus felbft das Correctiv aller Arbeit, wenn Er felbft dr 
Sauerteig aller Eultur wird. Aber dahin muß auch die Frömmig 
keit wirken; alle Frömmigkeit, welche nicht die Kraft zu neuer fit: 
licher Geftaltung des Individuums und die Kraft zur Heiligen 
alfer fittlichen Arbeit in fi hat, ift falſch, fie ift „die blühende 
Farbe des Lebens auf dem Antlig des todten Leichnams.“ Sonmit 
hat das Religiöje den Beweis feiner Wahrheit und feine Wirkung 
in dem Sittlichen; je Träftiger und gefunder das refigiöfe Leben 
ift, umfomehr hat es fich im Bereiche des Sittlichen zu bewähren 
und in normale Sittlichkeit (dad Ineinanderſein des Neligiöfen un 
Sittlihen) aufzugehen. Wie es ſich bei dem religiöfen Individum 
verhäft, fo auch bei der lediglich religiöfen Gemeinſchaft, der Kirde: 
indem fie an ihrer Selbjterbauung arbeitet, arbeitet fie zugleich u 
ihrer Selbftauflöfung (als Kirche), fie muß in den Staat über 
gehen; ift aber die ExxAnata zur Baosdel® geworden, dan ift di | 
Baoılsia vod Heod in ihrer Vollendung da, das religiöfe Les 
iſt vollendet und damit „zur ſtillen Vorausſetzung“ des Sittlihn 
‚geworben. > 

An dem Begriff der Kirche, wie Rothe ihn (zuerft 1837 a 
den „Anfängen der chriftlihen Kirche und ihrer Verfaſſun' 
[S. 1—138], fodann in. ber „Theol. Ethik“, vgl. 2. Ausgak 
88 292 u. 293; $ 405415. Bd. III, $ 1176 ff.) aufgeht 
hat, konnen wir nicht ohne nähere Beleuchtung vorübergehen. Rothe 
ſelbſt rühmt feinem Begriffe von der Kirche „völlige Klarheit ud 
Deutlickeit“ nad) ($ 293 Anm.), und gewiß, wir erfennen will! 
und freudig die Mlarheit des Begriffes an, der bie Kirche dt 
die rein, lediglich, ausſchließend refigiöfe Gemeinſchaft definirt, in 
Unterfchied von den verfchiedenen fittlihen Gemeinſchaften, deren Zu 
tolität nach Rothe der Staat ijt; allein umfomehr müſſen wir 
den Sat Rothe's beanftanden, ber nach feiner Anſicht ſich ammittl 





D. Richard Rothe. 1 


bar aus feinem: Begriffe von der Kirche ergeben foll, der jedoch, 
wie wir behaupten zu dürfen glauben, nur duch Bernachläffigung 
eines wefentfichen Momentes in dem Begriff der Frommigkeit und 
daher auch der Gemeinſchaft der Frömmigkeit als ſolcher (der Kirche) 
fid ihm ergeben tonnte, den Sag: daß, aud die” normale Ent- 
widelung der Menfchheit vorausgeſetzt, die Kirche es nie zu einer 
volljtändigen Realiſirung ihres Begriffes bringen fünne, indem 
für eine ausfchließend und abftract (?) refigiöfe Gemeinfchaft 
die Bedingungen der Eriftenz fehlen; mit jedem Schritt zur Reali» 
firung ihres Begriffes trete fie mit diefem ihrem Begriffe felbft in 
Widerſpruch, und, je weiter die moralifhe Entwidelung normal 
voranſchreite, umfomehr trete die Kirche zuruck, der Staat in den 
Vordergrund, bis die Kirche endlich ſchlechthin wegfalle, und der 
Staat die Baoıdele Tod Isod geworden fei*). Liegt doch nad 


a) Treffend Hat Stahl (im Anhang IL feiner proteftant. Kirchenderfaffung 
[1840]; vgl. den gediegenen Wuffag: „Mücblid auf bie Aufgabe einer 
Berfaffungsgeftaktung der evangelifchen Kirche in Deutſchlaud unter befon- 
derer Berüdfichtigung der Mitarbeit der Wiſſenſchaft“ [Neue evangeliſcht 
Kichenzeitung 1863, ©. 118ff. 185 ff. ) die Grenzen zwifchen Kirche und 
Staat bezeichnet, die in der Theorie Rothe's, hauptſächlich durch feinen zu 
weiten Begriff des Staates, verrüdt worden find. „Daß der Staat“, 
ſchreibt er, „eine Vethätigung ber fittlichen Gefinnung der menſchlichen 
Gemeinſchaft, uud zwar zunäcft nur ihrer fittlichen, nicht abfolnt noth- 
wendig auch ihrer veligiöfen, Geſinnung if, das ift richtig. Allein un« 
richtig iſt es, daß der Staat die Totalität der fittlicen Zwece des 
menſchlichen Geſchlechts begreife, daß das Sittliche ſich völlig im 
ihm verwirkliche, wie hier behauptet wird. Er ift nur eine der Aeuße · 
rungen des GSittlichen, nämlich; die Bethätigung desielben in einer bleiben, 
den Imftitution, melde die fttlichen Gefee nicht bloß durch den Willen - 
der Menſcheu nad) der Natur des Eittlichen, fondern zugleich durch bie 
mechaniſche Macht der Einrichtung erhält, er iſt nur die Mauifeflation des 
Sittlichen in der äußeren Ordnung (dev rechtlichen Sphäre) des menfch- 
lichen Gemeinleben®. Dagegen bie eigentliche und höchfte Sphäre des Gitt- 
lichen befteht in dem freien perſönlichen Wollen und Yanbeln-bes Menſchen, 
ſowohl einzeln, als in der Gemeinſchaft, und auf biefe erſtrect ſich der 
Staat gerade nicht. Während bie Kirche das Religiöfe in feiner Bollän- 
digfeit erſchöpft, ſowohl das Glaubensleben der Gemeinſchaft, wie des Ein- 
zelnen, während fe eben beshalb auch das veligiöfe Leben des Einzelnen 
bis in's Iunerfte zum Gegeuftand ihrer Sorge (Seelforge) macht, fo iſt 


436 Achelie 


Rothe in dem Begriffe des Religiöſen als ſolchen das ganze 
Gebiet des Sittlichen keimartig beſchloſſen — wovon auf dem Gr 
biete der Theorie feine eigene Theologiſche Ethik, deren Gebäude 
ſich ihm von rein religiöfen Principien ans mit innerer Nothwens 
digfeit ergebeir hat, ein glänzendes Beiſpiel ift —, und jede Abs 
ftraction vom Sittlichen innerhalb des Religiöfen muß daher eine 
Verfälſchung des Religiöfen felbft nach fich ziehen; das Religidſe 
hört eben auf, religiös zu fein, die Lediglich vefigiöfe Gemeinfchaft 
hört auf, Kirche zu fein, fobald ihr das Prädicat, der fruchtbare 
Mutterſchoß aller normalen Sittlickeit zu fein, genommen wir. 
Rothe felbft ſchreibt (Theol. Ethit, 2. Ausg., $ 292; II, 241): 
„Diefe in allem Einzelnen ſich felbit wefentlich gleiche Frömmigkeit 
befaßt aber auch implicite alle wejentlichen befonderen Seiten dus 
menschlichen Seins vollftändig in fih, — es find in ihr die da& 
felbe conftituirenden Elemente ihrer ganzen Fülle nach alle in einem 
gefegt, und fie ift fo der am ſich vollgehaftige, nur noch nicht er 
ſchloſſene Kern des weſentlichen Gefamtfeins jedes Einzelnen. 
Indem Alle in ihrer Frömmigkeit einander gleich und mit einander 
eins find, find fie alfo Alle in dem innerften Lebenskern 
ihres menſchlichen Wefens einander gleich und mit einander 
‚eins, Und fo ift denn in ber That vermöge der Frömmig 
teit für die moralifche Gemeinfchaft überhaupt und für alle be 
fonderen Sphären derjelben, der in ihnen natürlich amgelegten 
Scheidung ungeachtet, nach einer Seite hin, aber gerade nad) der- 
jenigen Hin, welche wejentlich die alle übrigen implicite mit in 
ſich befafjende Grundfeite des geſamten menſchlichen Wejens 
überhaupt iſt, die abſolute Gemeinſchaftlichkeit unmittelbar 


dagegen die Sittlichteit des Einzelnen und ſelbſt die gemeinſame Gittlichtet, 
ſoweit fie nicht in flehenden Formen und Einrichtungen ſich verlörpet 
ganz und gar aufer der Sphäre des Staates. Cine folde Nebeneinander 
ſtellung, daf der Staat in derjelben Meile das Bereich des Sittlichen um 
faffe, wie die Kirche das des Religiöfen, ift alfo offenbar falſch und kam 
nur zu Irrtümern führen. Im Gegentheif, die Kirche umfaßt das eigent- 
lid Sittlidje, das, wie Rothe felbft behauptet, vom Religiöfen nicht gr 
fdjieden werben lanu, während der Staat biefem eigentlich; Sittlichen durchaut 
ferne bleibt.“ 





D. Richard Rothe. 487 


gegeben.“ Wir fügen die Worte Hinzu, mit denen Rothe den ge» 
nannten $ 292 (S. 244 u. 245) fließt: „Die unmittelbare 
Einheit Aller in der Srömmigfeit rein als folcher ift demnach, 
don Anfang an das jede abfolute Scheidung negirende und 
ausfchliegende Princip, das Princip der abfoluten Einheit felbft, 
md diejenige weſentliche Beftimmtheit der menfchlichen Gemeinfchaft, 
welche ihre Allgemeinheit conftituirt; fie bleibt aber auch, und 
war eben dieferhalb, bis zur Vollendung der moralifchen Gemein- 
ſchaft und der Menfchheit felbft die allgemeine Grundlage, welche 
die die Abftufungen begründenden Unterſchiede als der zufammen- 
haltende gemeinfchaftliche mütterliche Boden trägt. So weiſet ſich 
denn die religiöfe Seite an dem Moralifchen, und zwar fie eben 
als ſolche, als der letzte Anker der’ moralifchen Gemeinfchaft 
überhaupt aus, al das eigentliche, das legte Bundament, auf dem 
fie ruht, und von dem fie unerſchütterlich ficher getragen wird.“ 
Fragen wir auf Grund dieſer Säge Rothe's, wodurch fich nad) 
ihm die lediglich religiöfe Gemeinschaft (die Kirche) von den fitte 
lichen Gemeinſchaften unterfcheide, fo zeigt fih ein doppelter Unter 
ſchied. Einmal unterſcheidet ſich die lediglich tefigiöfe Gemeinschaft 
dadurch von den fittlichen Gemeinfchaften, daß jene in ihrem Wefen 
einheitlich und allgemein, diefe dagegen bis zur Vollendung hin nicht 
einheitlich und nicht allgemein, fondern in fich gefchieden und nur 
in befonderen (particulären) Kreifen volfziehbar find. Zum andern 
aber unterſcheidet fich die Lediglich religiöfe Gemeinſchaft dadurch 
von den fittlichen Gemeinſchaften, daß jene das Princip (Urfprung 
ſowol, als Nerv) diefer, diefe die Realiſirung des in jener ſchon 
Geſetzten find; fie verhalten ſich alfo zu einander, wie etwa die 
Burzel fih zum Baum verhält. Wird biefer zweite Unterſchied 
feftgehalten, und wird ferner in Betracht genommen, daß in allen 
Stadien der fittlichen Entwidelung das religiöfe Leben biefer un« 
abläffig normirende Kräfte zuzuführen hat, fo wird ſich daraus 
ergeben, daß, um in dem Bilde zu bleiben, je mehr der Baum 
wãchſt und ſich ausbreitet, um fo tiefer auch feine Wurzel ſich in 
die Erbe fenfen muß, oder, ohne Bild geredet, da, wie das In— 
dividuum, je weiter der Kreis feines fittlihen Handelns ſich aus- 
breitet, um fo energiſcher die rein vefigiöfe Baſis feſthalten muß, 
Theol. Stud. Jahrg. 1869. . 2 


488 Agelis 


wenn nicht fein Handeln religiös und chriftlich entſeelt werben fol, 
fo aud die Kirche als die lediglich veligidfe Gemeinſchaft um fo 
energiſcher ſich zufammenfaffen muß, je mächtiger der Fortſchritt 
der fittlihen Eultur innerhalb des Ehriftentums wird, wenn anders 
diefe nicht ausarten und entchriftlicht werden ſoll. Allein gerade 
den oben genannten zweiten Unterſchied läßt Rothe, ſobald er von 
der Nothwendigkeit der allmählichen Auflöfung der Kirche und im 
Zufammenhange damit von der merklichen Annäherung bes Staates 
an ben Zuftand der Buoslsi« vod Heod tedet“), ganz außer Be- 
tracht. So ſchreibt Rothe (Theol. Ethit, 8 293, ©. 248): „Im 
diefem Begriff der Kirche Liegt es aber auch ſchon mit, daß fie mit 
der Vollendung der moralifden Entwickelung der Menfchheit — — 
da mit ihr die religiös =fittlihe Gemeinſchaft fih factiſch zu 
abfoluter Allgemeinheit vollzogen, alfo ſich zu einer ſchlecht⸗ 
Hin Alle ganz umfafjenden Verbindung ausgedehnt hat, — volle 
ftändig hinwegfüllt, indem ſich nämlich dann die Sphäre der ve 
ligios⸗ſitt lichen Gemeinſchaft (der Complex der befonderen reis 
giös-fittlihen Gemeinſchaftskreiſe) aud ihrem (extenfiven und 
Antenfiven) Umfange nad mit der Sphäre der rein refiglöfen 


a) Hterüber vgl. die Entgegmung Stable a. a. O., ©. 186: „Allerbings 
iR in gewiffer Dinſicht ein Fortfäjritt merklich; gewiſſe nene Grundſche 
ber Humanität und in Folge deſſen nen entflandene Zunctionen find ein Cr 
zeugnis chriſtlichen Geiſtes und chriſtlicher Gefittung, 3. B. die Armen 
pflege; allein durch den Staat verforgt find fie etwas ganz anderes, alt 
im Schoß der Kirche. Wer möchte 3.8. fagen, daß die pofizeifiche Armen | 
pflege ein Erſatz fei für die brüderliche Handreichung in der Kirche? Das 
iſ alfo night ein Eintritt in die Stelle der Kirche, fondern ein” felbftänbiger 
Fortſchritt in chriſtlichen Principien. Die Approrimation aber, welde 
anferbem noch zu bemerken wäre, ift nichts anderes, als theils der Ein 
tritt in einige Functionen, melde die Kirche im Mittelalter gegen ihm 
Natur verjorgte (4. B. Gerichtsbarkeit, manche Ziveige polizeificher Für- 
forge), theils ungebürliches Uebergreifen des Staates in das Gebiet der 
Kiche und Unterdrücung ihrer Selbſtändigkeit, bie auch als ſolche m 
pfunden wird. Das ift aber feine Beftätigung ber Theorie und Fein Pfand, 
daß es and) fo fortgehen werde. In gleicher Weiſe hätte auch jemand zur 
Zeit Innocenz I. behaupten Können, da ber Staat aufhören, die Kirche 
allein übrig Bleiben müffe, und hätte ſich gleichfalls auf die merkfiche A | 
progimation berufen Fönnen.” \ 


D. Kia Rothe. 439 


Gmwenfhaft ſch lechthin deckt. Die Unterſchiedenheit bei- 
der Bemeinſchaften iſt ja aber lediglich in der Nidt- 
congryenz ihres Umfanges begründet. Su bdemielben 
Verhältnis mithin, in welchem die (normale) moraliſche Entwicke⸗ 
lung vorſchreitet, alfo die moraliſche Gemeinschaft ſich ihrer Voll⸗ 
endung näßert, tritt bie Unterfchiedenheit beider Gemeinſchaften zu—⸗ 
tie, mit amberen Worten: in demſelben Verhältnis tritt die Kirche, 
be ausſchliekend religiöfe Gemeinschaft, immer mehr zurück 
gegen die veligiäß - fittliche Gemeinſchaft. Dem Begriff der Kirche 
zufolge äft das Handeln, defjen Gemeinſchaft fie vollzieht, das rein 
und ausſchlie ßend religiöfe. Das kirchl iche Handeln Ift ſeinem 
Degeiff gemäß wicht ein religiös⸗ſit tliche s, fondern ein reli⸗ 
gidfes moraliſches Handeln mit völliger Abftraction von 
dem Sittlichen.“ Die innige Zuſammengehorigkeit des rein 
Keligiüſen und des Sittlichen und ihrer Gemeinſchaften, die Rothe 
fonft fo meiftergaft gu begrunden verſtehht, vird Bier, wie uns ſcheint 
auf Veranlaſſung ber frambartigen Einfläffe Hegel’icher Philoſophie, 
in maftatthafter Weile pernachlaßigt, und diefe Veruachläßigung ift 
der Grund des Lehrſatzes non der allmahlichen Auflbſung der Kirche 
und ihres Ueberganges in ben Staat, ein Lehrfag, der, mie wir 
fpäter zeigen werben, nicht durchaus irrelevant war für Moihe a 
Stellung gegenüber den modernen Zeitfragen. 

Allein fo ſehr wir auch in biefem Punkte Rothe nicht beizupflichten 
Vermögen, fo kam bad), dns Ganze ſeines Kirchenbegriffes angeſehen, 
Anmfelken unmöglich der Vorwurf gemacht merben, ex trete ber 
Ehve des Herrn oder dem Meiche Gottes zu nahe, oder er ftelle 
die Bedeutung des Religiöfen in den Schatten gegen bie Bebeutung 
des Sittlichen; dem Reiche Gottes will er vielmehr allein dienen, 
die Würde ‚des Meligiöfen vielmehr hoch auf dem Leuchter ftellen, 
indem er es als bleibendes Princip ber Erneuerung der Menfchheit, 
ihrer Vergöttlichung darlegt. Man mag der Theorie Rothe's beis 
fimmen oder sicht, wer möchte ihr die hohe Bebeutung, die pro- 
phetifch mahnende Bedeutung gerade für die Kirche der Gegenwart 
elbſt abſprechen, daß das in ihr gepflegte religiöfe Leben ein ge⸗ 
undes, ſittlich volihattiges Leben fei? er möchte Rothe auch in 
m mit Grund widerſprechen, mas er im Zuſammenhang mit 

x oo. 29 


40 Achelie 


feinem Kirchenbegriff ausführt, daß, das Ziel der erlbſenden Wirl⸗ 
famteit des Herrn in der normalen fittlichen Vollendung der Menſch-⸗ 
heit zugegeben, die achtzehnhundertjährige Wirkfamkeit des Heilandes 
nicht nur auf dem Gebiete des rein Religiöfen, fondern nicht wer 
niger auf dem Gebiete des Sittlichen zu ſuchen fei, daß das Epriften- 
tum während ber Zeit feines Beftehens einer Eultur zum Daſein 
verholfen hat, die das Gepräge des Chriftentums an ſich trägt, 
einer Cultur, bie nur durch das Chriftentum möglich ift? Ber 
ftimmte nicht gern damit überein, daß der Herr Chriſtus nicht nur 
über bie, welche ausbrüdlich fic zu Ihm in Glauben und Liebe be 
tennen, Herrſchaft übe, fondern daß Seine Herrſchaft auch über die 
in der Epriftenheit — ihnen felbft vieleicht ganz unbewußt — fih 
erftredle, welche nicht zu Seinen Gläubigen ſich zählen? Der Ber: 
gleich felbft der höchſten Bluteperioden claffifcher Eultur mit der im 
Ehriftentum und durch da Ehriftentum hervorgebrachten lehrt doch 
augenſcheinlich, daß das Ehriftentum eine Entfeffelung aller menid 
lichen Kräfte, ihre freie Bewegung und Ausbildung in der „Arbeit“ 
im weiteften Sinne des Wortes bewirkt und dadurch ein ſittliches 
(sensu medio) Gapital geſchaffen hat, wie es extenſiv und intenfin 
das Altertum nicht gefannt. Und nicht nur das, auch die chrifte 
lichen Ideen ſelbſt, die chriftlidh «fittlihen Begriffe find eine Madt 
geworben, der ſich niemand in der Chriftenheit entziehen Tann, dit 
geradezu zur geiftigen Atmofphäre gehören, in welche jeber in dr 
Chriftenheit Hineingeboren wird. Bon diefen Erwägungen aus fan 
man den Qulturbeftrebungen der Gegenwart fein freudiges Intereſſt 
nicht verfagen; find fie doch Mächte auf Erden, welche bem Reiche 
Gottes jet ſchon unbewußt dienen müfen und — wir hoffen # 
ja gern — zum großen Theil bemußter Weiſe ihm dienen werden, 
wenn der Herr Chriftus „mit überführender Mlarheit“ ſich der Welt 
wird zu erfennen geben. Gewiß, die „Welt“, wie fie Heutzutage 
inmitten des Chriftentumes ift, fie ift nicht mehr diefelbe „Welt, 
wie fie zu den Zeiten der Apoftel war; ein „unbewußtes Cpriften 
tum“, gewiffe ſittliche Anſchauungen und Kräfte find vorhanden, 
chriſtlich beftimmt, die ſich nicht verdrängen laſſen. Aber freilich, 
voreilig würde es fein, wenn daraus optimiftifcher Weiſe auf eine 
entfprechende Ausbreitung und Machtentfaltung des Reiches Gotis 


| | 





D, Richard Rothe. 41 


in dem von Gott gewollten Sinne gefchloffen werben follte; neben 
dem Reiche des Lichtes und mit ihm entwidelt fi, mögen nun 
Viele oder Wenige daran Antheil haben, das Reich der Finfternis, 
md die Macht diefes Reiches iſt eben darum fo groß und wird 
nod größer werben, weil fie von dem pofitiven Chriftentume ihre 
Waffen entlehnt und mit den Wirkungen des Chriſtentums zu gott« 
widrigen Sweden arbeitet. Ebenfo dürfen wir es ja nicht aus den 
Augen laffen, daß jene genannten Hriftlic » fittlichen Mächte in dem⸗ 
felben Maße, wie fie zur Alle umgebenden geiftigen Atmofphäre 
gehören, Naturmäcte, conventionelle Mächte geworden find, 
durch welche höchſtens die gratia praeveniens wirfen kann; aber 
diefe Gnade felbft, welche das Reich Gottes in Chrifto gegründet 
hat und erbaut und einft vollenden wird, fie ift nimmermehr eine 
Naturmacht, auch nad Rothe nicht *). Soll die perfünliche Selbſt⸗ 


a) „Innerhalb der chriſtlichen Welt gibt es kein Element des moraliſchen 
ober geiftigen ebene, welches micht weſentlich mit ein Erzeugnis bes 
Ehriftentums wäre, das nun einmal unleugbar das Grundprincip der 
seihihtlihen Entwidelung unferer ganzen chriſtlichen Zeit if. Ge— 
rade in umferen Tagen kann gar nicht genugfam baran erinnert werben, 
daß das thatfädhlich Chriſtüche und zwar daB weſentlich und fpeci- 
fiſch Ehriftfiche in allen Lebensgebieten weit über dem engen Bezirk des- 
jenigen hinausreicht, woran ausbräcfich bie officielle Etifette „ehtiffich“ 
angebracht ift, oder was doch wenigſtens bem jetzigen Geflecht als chriſt 
lich bewußt if. Das Chriſtliche ſteckt demjenigen Theil der Menſchheit, 
den wir bie Ehriftenheit nennen, ſchon im Blute, — fo wenig auf 
darum irgend einem Individuum derſelben die Wieder- 
geburt erfpart wird“ (Theolog. Ethik [2. Ausg] I, $ 14 Aum., 
©. 59. 60; vgl. $ 87, Anm. 6, ©. 880 ff.). Es iſt offenbar Rothe in 
einen Widerſpruch mit fich felbft geraten, wenn er ar ber letzteitirten 
Stelle neben der fehr Tichtigen Behauptung, „daß eine über ſich ſelbſt voll⸗ 
kommen ar bewußte Movalität nicht denkbar fei, die nicht zugleich ber 
mußte Frömmigkeit wäre; daß das Moraliſche und überhaupt die Melt 
und alles, was im ihr if, ohne die Idee Gottes nicht wahrhaft ver- 
fanden und begriffen werben könne; daß bie richtige Idee des 
Menfchen (und der Menſchenwürde, des moraliſch Guten) nicht gegeben 
fein könne, wenn die richtige Idee Gottes oder gar bie Idee Gottes über- 
Haupt fehle" — doch den Sahz gelten laſſen will, „daß der Einzelne, oßne 
fich für feine Perfon im VBefige der richtigen Idee Gottes, ja wol fogar 
Überhaupt der Idee Gottes zu befinden, die vichtdge Idet des Menſchen 


42 Adelis 


entſcheidung des Individumnns fir das Reich Gottes, alfo die re 
figiös-fittliche Baſis des Chriſtentums, nicht aufgehoben werden, 
fo ift doch ein Poſtalat, daß Jeder, auch die Träger der fogenanttse 
ten modernen Eultur, fo lange noch nicht anf dem Boden des por 
fitiven, perfönlichen Chriftentums ftehen, als diefer Act der Selbſt⸗ 
entſcheidung in Buße und Glauben in ihnen nicht ftattgefunden hat, 
daß alfo jene fittlihen Mächte ihnen äußerlich geblieben find, an 
denen 3. B. Juden und Mubammebaner, die innerkalb der Ehriften- 
heit wohnen, gerade fo wohl partieipiren, wie jene, daß fie wenigftens 
nicht kraft perfönlicher Aneignung ihr Eigentum geworben find auf 
Grund des perſönlich Religiöfen. So arbeitet die moderne Cultur, 
um dieſen Ausdrud zu gebrauchen, mit Ideen und Kräften, die fie 
dem pofitiven biblischen Chriftentum entlehnt und auf ihren Boden 
verpflanzt Hat; dieſen Ideen Hat fie ihre Erfolge zu verdanken, | 
obgleich ihre bewußten oder unbewußten Ziele ganz andere fein 
tünnen, al die des geoffenbarten Chriftentums; und daß fie oft 
genug wirklich andere find, das tritt an der dann unvermeidlichen 


in ſich tragen und unter ihrer Wirkſamleit fichen Tonne, wenn nämlich 
in dem Ganzen bes Gemeinlebens, welchem er angehört, die 
richtige Gottesidee vorhanden ſei and beſtimmend walte.“ Dagegen fpriät 

ſchon das allgemeine pſychologiſche Geſetz, daß fein Gedanke in einen 
Menſchen Iebensträftig werben und überhaupt von ihm verſtanden werden 
Tann, wenn er ihn micht ſelbſt erzeugt; wild würde e8 nicht dem Begriffe 
des Moraliſchen, wie Mothe jelbft ihn entwidelt Bat, wiberfpreden, 
wenn die Idee des Moralifch- Guten und der Menfchenwärde vein vom aufen 
her an den Menſchen kommen und von ihm als Lebensprincip aufgenom- 
men werben könnte, ohne im ihm felbft und durch ihn ſelbſt entfanden zu 
fein? Die Idee der Menſchenwürde u. ſ. w. in einem Judividuum, melden 
die Bedingung ihrer felbfländigen Erzeugung (die richtige Idee Gottet) 
fehlt, wird im befien Falle nım annähernd richtig fein Tonnen. Bol. 
Nothe ſelbſt $ 124, ©. 475ff.: „Die beiden wefentlichen Seiten der 
Moralität, die Sittlichteit und die Frömmigkeit, fordern einander gegen 
feitig. Die Frömmigkeit fordert zu ihrer Wahrheit und Wirklichkeit 
(Reellität), zu ihrer Concretheit, die Sittlichteit als ihre Exfätlung 
als daB conerete Element, in welchem der Gedanke ber Gemeinſchaft mit 
Gott fi Dafein gibt, — die Gittlichfeit fordert zu ihrer Bollkom- 
menheit die Frömmigkeit, als in deren Licht alleim fie ihre Idee in ihrer 
gamen Klarheit und Tiefe verfichen kann.“ 





D. Richard Rothe. 448 


und nicht abzuleugnenden Läbirung jener Ideen — man benfe an 
bie Idee der Liebe, welcher der Nerv der Heiligkeit genommen, an 
bie Idee der Sünde, die zur „menjchlihen Schwäche“ oder gar 
zum „Sammer der Vergänglichkeit“ abgeftumpft, an den Begriff 
der Schuld, ber ganz verſchwunden ift — in fo vielen‘ Producten 
der modernen Literatur nur allzufehr hervor. 

Mit dieſen Sägen würde Rothe jelbft völlig übereinftimmen, 
and) in feinen letzten Jahren *); und dennoch find namentlich feit 
einem Luftrum die Wege, die Verbindungen und Beftrebungen Rothe's 
fo ganz andere geweſen, als nicht nur jeine früheren Freunde und 
treuen Schüler dem größeren Theile nad) erwartet Haben, fondern 
als fie auch den obigen Darlegungen zufolge zu erwarten waren. 
Indem wir hiemit die kirchliche Stellung Rothe's berühren, 
die er in der legten Zeit feines Lebens eingenommen Bat, find wir 
von dem Wunfche erfüllt, daß Rothe doch nad und nah, wenn 
fich die Wogen des kirchlichen Kampfes mehr gelegt Haben, mit bem 
gleichen Maße möchte gemefjen werden, womit er felbft in nie ere 
müdender und nie erbitterter Liebe feine Freunde, wie feine Gegner 
zu meffen pflegte, daß nämlich bei aller Misbilfigung der objectiven 
Stellung und Handlungsweiſe des‘ Individuums doch die fubjective 
Stellung desfelben verftanden und, foweit e6 die Wahrhaftigkeit 
geftattet, entſchuldigt werde. 


a) Bgl. Algen. kirchl. Zeitfehrift 1862, S. 50: „Daß etwas Derartiges“ 
(die Ausbildung eines antichriftifchen Reiches) „an einem aus ihrem Or- 
ganismus fich ausſcheidenden Theile der Menſchheit flatthaben tverde, 
wird vom ber anderen Seite” (im Zufammenhange fo viel, wie von Rothe 
ſelbſt) „bereitwillig anerfannt, ja ausdrudlich behauptet“. S. 59. 60: 
„Je beſſer ich den Schein von der Wahrheit unterſcheiden Ierne, deſto we- 
niger kann ich den Unterfchieb, micht etwa zwiſchen dem Ehriftfichen und 
dem Undpriftlichen (dtefer ift mir in ſtetem Wachstum begriffen), 
ſondern zwiſchen den fogenannten Gläubigen und den fogenannten Ungläu- 
bigen, auf der moraliſchen Wage gewogen, eben groß finden u. ſ. w.“ 


444 -Adelis 


IV. Rotht's kirchlicht Stellung. 


Die kirchliche Bewegung der neueren Zeit, welde in dem Pros 
teftantenvereine ihren Zufammenfchluß und da8 Organ ihrer Wirk- 
ſamkeit gefunden hat — das ſoll von vornherein conftatirt werden —, 
ift keineswegs nur fünftlich gemacht; es find fehr reale Bedürfuiſſe 
des kirchlichen Lebens und fehr dringende, eine pofitive und befrie- 
digende Antwort erheifchende Fragen, die der Bewegung zu Grunde 
liegen. Wir brauchen nur auf die Frage nad) der Stellung hin- 
zuweiſen, welche das fittlihe Culturleben (in der Wiffenfchaft, dem 
Handel, der Induſtrie u. ſ. mw.) in dem Reiche Gottes und welden 
Werth es für die Vollendung diejes Reiches Habe. Wir mollen 
nur die Frage nad) den Grenzen ber Lehrfreiheit in ber evangelifc- 
proteftantifchen Kirche berühren, einerfeits den Symbolen, anderer: 
ſeits dem Nationalismus gegenüber, und auf das Bedürfnis einer 


dem heutigen Entwicelungsftadium des evangelifchen Chriſtentums 
und der evangelifchen Kirche in umferem Volle entfpredenden Ber- : 


faſſung der Kirche in ihren einzelnen Territorien und in dem Ge 
famtumfange unferes Volles aufmerffam maden. Diefe Fragen 
* Tiegen ohne Zweifel vor und fordern gebieterifch ihre Beantwortung; 
daher wäre es im höchſten Grade zu wünſchen, daß Alle, denen 
das Reich Gottes und unfer Volk am Herzen liegt, einmüthig daran 
arbeiteten, die richtige Antwort zu finden, nicht aber die Dringlid- 
feit jener Fragen leugneten oder den Verſuch machten, fie todt- 
zuſchweigen. Der politifch- nationale Gedanke Deutſchlands drohte 
in den Händen feiner falfchen Freunde zu verfümmern und zu ent: 
arten, bis der große preußiſche Staatsmann fic feiner bemächtigte, 
um ihn dev raſchen Verwirklichung entgegenzuführen; follten nicht 
ähnliche Verhältniſſe vielleicht auch bei den kirchlichen Gedanken, 
die unfere Zeit bewegen, ftattfinden fünnen? Dürfen wir auf einen 
Reformator der Kirche warten? Bis dahin hat der Proteftanten- 
verein jene Fragen in Befchlag genommen, der „Zeitgeift“ im Sinne 
Rothe'ſcher Terminologie, diefer „dämonifche Affe“ des „Geiſtes 
der Zeit“ Hat ſich ihrer bemächtigt und gibt aller Orten durd 
jenen Verein eine Antwort auf jene Fragen, aber durchgängig in 


D. Richard Rothe. 45 


einer folchen Weife, daß fie dem rand⸗ und bandfofen Individualis⸗ 
mus unbefehränften Spielraum verleiht und das chriſtliche Leben 
unferes Volles in religiöfer Hinficht nicht zu fördern, wol aber zu 
entleeren und damit das Ehriftentum in Deutfchland zu unterminiven 
geeignet ift. Im Proteftantenverein hat jene Richtung fih auf 
gemacht, welche die Kirche als Mittel zur Erledigung von Pro- 
blemen, zur Loſung von Freiheitöfragen, als einen Sprechſaal für 
alle möglichen pofitiven und negativen Näfonnements anfieht, und 
dem Magenden Vorwurf gibt der Broteftantenverein immer von neuem 
Begründung, daß „dem philofophifchen Spiritualismus, obwol einer 
nur reproductiven Epigonengeneration, der bloßen Theorieenfucht, 
vollends der Gewoöhnung, jede Frage nur als Freiheitöfrage zu bes 
handeln, auf kirchlichem Boden zu großem Schaden für die realen 
teligiöfen Intereſſen zur Zeit noch ein weiter Spielraum offen 
fteht“ =). Freiheit, Freiheit! ift in allen Sundgebungen des Vereins 
das dritte Wort, nur zu oft in einem Sinne, der an die befannte 
Definition des Wandsbecker Boten ®) erinnert, und die Warnung 
Schleiermachers findet feine Empfänglichkeit: „Iſt die chriſtliche 
Lehre nichts als ein Aggregat individueller Anſichten, und iſt keine 
andere Einheit darin, als die fubjective des Einzelnen, fo ift damit 
eo ipso die Auflöfung der Kirche gefegt, nicht weniger aber 
die Vernichtung der hriftlihen Lehre ſelbſt.“ 

Seitdem Rothe fi dem Proteftantenvereine angefchloffen und 
deſſen Tendenzen zu den feinigen gemacht hat, hat er ſich redlich 
Mühe gegeben, feine Stellung zu dem Vereine vor fich felbft und 
dor Anderen zu rechtfertigen; in der Rede zu Eiſenach und in ben 
Arfägen „zur Debatte des Proteftantenvereind“ in der Allgem. 
lirchl. Zeitfehrift Tiegen die Verſuche vor, den Proteftantenverein 
als eine gefchichtlich nothwendige Erfcheinung zu begreifen, die einen 
großen,» weitumfaffenden Beruf habe, die Gegner des Vereins aber 
als ſolche Hinzuftellen, welche ihre Zeit nicht verftehen und durch 


3) Hundeshagen, Beiträge zur Kirchenverfaffungegeſchichte und Kirchen - 
politik, ©. VII. ” 

b) Äsmus omnis sus secum portans ober Sämtliche Werke des Wandg- 
beder Boten, VI. Theil, ©. 50, Zeile 19 u. 20, 


446 Adelis 


ihre Gefinnungen und Beftrebungen die Entwidelung der Kirche 
und deo Culturlebens zurüdichrauben wollen. Aber mit welchen 
Mitteln wird diefer Beweis geliefert? Wir wifjen uns aud von 
dem leifeften Zweifel an der fubjectiven Wahrhaftigkeit Rothe's 
vollſtändig frei, allein e8 bedarf kaum der Hinweifung, daß die 
überaus meifterhafte Klarheit und Präcifion, das Operiren mit 
ganz abgerundeten und reinfichen Begriffen, was fonft überall Rothe 
als Mufter erfcheinen läßt, gerade in diefen Anffägen und Reben 
f&gmerzlih vermißt wird. Ueber die ganz vage Bezeichnung: mo⸗ 
dernes Eufturleben, fittlihe Cultur u. f. w. kommt Rothe nicht 
hinaus; faft durchgängig wird mit einem Begriff der Kirche opr- 
tirt, welcher in dem Syſteme Rothe's keine Stelle Hat, und die gr 
ſchichtlichen Thatſachen, welche er zu Prämiſſen feines Beweisſchluſſes 
verwenden will, empfangen in feiner Darftellung eine fo fremd 
artige Beleuhtung, daß man wol die Kunft der Dialektik, nicht 
aber die nüchterne Treue geſchichtlichen Berichtes zu bewundern ver⸗ 
anlaßt wird. In anderer Beziehung wollen wir den Werth dieſer 
Auffäge und Reden nicht in Abrede ftellen; mande eindringlice 
Wahrheit wird darin ausgefprocden, überall macht das kindlich 
feomme Gemüth Rothe's und das Herz voll Heiliger Liebe zu feinem 
Heren und zu feinen Brüdern fih geltend, der hohe Werth mo 
derner Gewiffenhaftigfeit und Moralität überhaupt wird überzeugend 
dargelegt, und die Siebe, bie alles glaubt und alles Hofft und gem 
das Beſte ſtets voransfegt, reicht den dem firdlichen Leben Ent 
frembdeten, foweit e8 irgend möglich ift, die Hand zur Verfühnung 
hin. Außer den genannten Auffägen und Reden Haben wir hier 
vor allem das fchöne Denkmal im Auge, das Rothe dem inmifen 
gr. v. Hardenberg (Novalis) in der Allgem. kirchlichen Zeitſchrift 
(1862,.Heft 10) gefegt hat. Mit großer Gewandtheit, mit fein 
finnigem Verftändnis und Urtheil fchilbert ihm Rothe im “feinem 
Leben und Dichten; er weifet auf die hervorragenden Anknüpfungs 
punkte Hin zwifcen ihm und dem modernen Geift der Zeit und 
fucht in ihm überhaupt dem eigentlich mobernen religiöfen Dihter 
darzuftellen, der den Gebildeten unferer Tage in ihrer Sprache die 
Geheimniffe des Himmelreichs verkündete. Ja freilich, wenn Nor 
valis’ Harfenklänge: „Wenn ich ihn nur Habe“ und „Was wär 








D. Richard Rothe. 447 


ich ohne dich geweſen?“ u. ſ. w. die Kerzen unſerer ber Kirche 
entftemdeten Gebildeten bewegten, wie herrlich wär's! Allein wir 
möhten fer befürchten, daß das Wort Nippolds, das er bei 
anderer Gelegenheit gefchrieben Hat *), auch auf Novalis nur zu 
fer Anwendung findet: „Es iſt bereit6 Heute eine ſchwer über 
ſchaubare Fülle wirklich gediegener Leiftungen zu verzeichnen, welche 
in diehterifcher Einffeidung die Wahrheiten der Religion in die Kreife 
tragen möchten, welde für Talar und Barett nicht mehr zugäng- 
lich find. Ob freilich diefe wohlgemeinten Verſuche wirklich außer» 
halb der von vornherein gleichgeftimmten Kreife viele Verbreitung 
finden, läßt ſich wenigftens nicht mit großer Zuverſicht conftatiren.“ 
Aber conftatiren Läßt ſich, fügen wir Hinzu, daß die der driftlichen 
Kirche entfremdete fogenannte moderne Bildung das Anerbieten des 
Proteftantenvereins Hbeshaupt, ſich mit dem GChriftentum und der 
Kirche zu verfühnen, ganz anders aufgenommen Hat, al& die Sprecher 
und Führer jenes Vereins gedacht. Iſt es nicht mehr als inter» 
effant, zu erfahren, welchen Wiederhall der Tendenzruf des Protes 
ftantenvereins im allgemetnen, die Eifenacher Rede Rothe's im ber 
fonderen bei den Vertretern die ſer fogenannten modernen Bildung 
gefunden, was fie zu der von Rothe aufgeftellten Grundbedingung 
alles Friedensfchluffes gejagt, nämlich daß fie ſich der Zucht des 
Geiftes Chriſti unterwerfe und fich ein Herz faſſe zu der von ihr 
verfaffenen Kirche? Die Antwort ift die moderne Bildung nicht 
ſchuldig geblieben; fie liegt vor in der Broſchüre: „Die moderne 
Bildung und die hriftlihe Kirche, ein Sendfchreiben an den Geh. 
Kirhenrath D. Rothe in Heidelberg von Hermann Tegow· (Ham- 
burg 1865) und in dem Schriftchen: „Der Proteftantenverein und 
die moderne Eultur; Erwägungen eines der Kirche Entfremdeten“ 
(Mannheim 1866). Alſo aus dem Norden, wie aus dem Süden 
unferes Vaterlandes erfolgen die Antworten; beide ans der Weber 
von Männern, denen das Zeugnis nicht vorenthalten werden darf, 
daß fie anf dem Boden der modernen Eultur in der That fichen 
und daß fie nicht mit Teeren Worten ihre Sache führen. Beide 
haben auch den großen Vorzug, daß fie auf den legten Grund der 


a) Monatebfätter für innere Beitgeichichte 1868, Aprifkeft, S. 245. 


448 Achelis 


vorhandenen Gegenfäge hinweiſen, auf den doppelten Gegenſatz gegen 
den hriftliden Theismus, nämlich einerfeits den Pantheis- 
mus, ber in feinen Confequenzen zum reinen Atheismus wird, — 
und dieſen vertritt der norbbeutfche Tegow — und den Deismus, 
den der Anonymus aus dem Süden verteidigt. Und auch der Bor- 
zug fehlt nicht bei beiden, daß fie jeden Compromiß aus tiefem 
Herzen verabſcheuen und nach ganzer Klarheit ftreben. Tegows 
Schrift ift gegen die Thefen und Ausführungen derfelben in der 
Rede Rothe’ zu Eiſenach gerichtet umd von einer ätzenden, far- 
kaſtiſchen Schärfe durchzogen. Eine Verſöhnung der Kirche und der 
modernen Bildung könne nur der verlangen, welcher die eine oder 
die andere in ihrem Weſen verfenne; entſchieden bezweifele er, daß 
Rothe wife, was das Charafteriftifche des modernen Cufturlebens 
fei; höhnend wird die Unterwerfung unter die erziehende Einwirkung 
des Geiftes Chriſti zurückgewieſen. Den fünf Thefen Rothe’s, die 
ja bekannt find und die wir deshalb Hier übergehen, ftellt Tegon 
ebenfo viele Gegentheſen gegenüber, die dann unter fortwährend 
beißender Kritik der Ausführungen Rothe's durch die ganze Schrift 
hin näher erörtert werden. Um die Denkart zu Eennzeichnen, be 
grügen wir und mit dem Abdrud der Gegenthefen Tegows: 

I. Benn-aud) die gegenwärtig weiterbreitete Unkirchlichteit nicht 
von vornherein zu dem Schluß berechtigt, daß die Chriſtlichkeit un 
ferer Zeitgenoffen geringer fei als bie der Chriftenheit früherer 
Jahrhunderte, fo fteht doch feft, daß die Heutige Unkirchlichkeit vieler 
im chriſtlichen Glauben-Erzogenen nicht auf der Anſicht beruht, 
als. repräfentire die herrſchende Kirche nicht in würdiger Weiſe das 
Ehriftentum, fondern auf der Thatjache, daß die von der modernen 
Bildung Ergriffenen von den Grundlehren des Chriftentums ab⸗ 
gefallen find. " 

IH. Da die Kirche nichts taugt, fobald fie nicht die moraliſche 
Macht befigt, die Herzen ihrer Angehörigen ſich zu gewinnen und 
feſtzuhalten, bie chriſtliche Kirche aber thatſächlich diefe Macht nicht 
ausübt, folgt daraus, daß diefelbe der Aufgabe, die fie fich geftellt 
hat, nicht gemachfen ift. 

II. Die Gefichte ehrt uns, daß die Kirche von vornherein 
beim Auftauchen der modernen Weltanschauung den tiefen Gegenfah 





D. Richard Rothe. 449 


erlannte, in welchen dieſelbe zu ihren Principien trat. Wir theilen 
diefe Auffaffung vollklommen und halten eine Verfühnung der mo- 
dernen Bildung mit dem Chriftentum nit nur, fondern mit der 
Religion Überhaupt, für unmöglich. Es kommt darauf an, fih 
entweder für die Wiffenfchaft, welche im Erkennen das Heil der 
Denfchheit erblickt, oder für die Religion, welche uns auf den 
Glauben weift, zu entfcheiden. 

IV. 1) Im gegenwärtigen Moment find die Bedingungen auge 
teihend vorhanden, um fol’ eine Entfcheibung zu treffen. Wir 
gehen dabei von folgenden Erwägungen aus: 

weil a. der Glaube an einen von der Welt verfchiedenen, alle 

gütigen und allfiebenden Gott nicht minder dem Nefultat 
unferes Denkens, als den Erfahrungen, die wir unmittel- 
bar durch unfere Sinne machen, widerfpricht, 

weil b. biefer Glaube weder die‘ Erfcheinungen diefer Welt er 

Hären Tann, noch, wie eine fünftaufendfährige Gefchichte 

beweift, den Sieg ber Tugend zu bewirken vermocht Hat, 
entſcheiden wir ung für die Wiſſenſchaft, die da lehrt, daß die Welt und 
ihre Gefege ewig find, und auf der Erkenntnis und Erfüllung derfelben, 
das ift auf ber Wahrheit und Tugend, das Glück Aller beruht. 

2) Die Entftehung der Religionen überhaupt, wie des Chriſten⸗ 
tung im befonderen, ift aus der Einwirkung der Natur auf den 
menſchlichen Geift zu erflären. Won einer göttlichen Offenbarung 
lann feine Rede fein. 

3) Das Chriftentum ift nicht bie Mutter der gegenwärtigen 
turopaiſchen Givilifation, fondern diefelbe ift im Gegentheil heid- 
niſchen Urfprungs. 

4) Es bedarf der Religion für den Menfchen nicht, weder um 
ihm eine menfchenwürbige Lebensanfchauung zu erjchließen, noch um 
ihn zur Bildung eines fittlichen Gemeinwefens zu veranlaffen. 

V. Da der Proteftantenverein eine Vereinigung derjenigen fein 
fol, welche die Männer der modernen Bildung mit der hriftlichen 
Kirche ausföhnen wollen, ſolch' eine VBerföhnung aber unmöglich ift, 
liegt die Gefahr nahe, daß durch feine Bemühungen einzig die Herr 
ſchaft der Phrafe erweitert wird. Darum ift den Beftrebungen 
des Broteftantenvereins mit Entſchiedenheit entgegenzutreten. 


«0 Kris 


Gemäßigter und ruhiger verführt der ſüddeutſche Ungenannte 
auch er kritiſirt die Theſen Rothe's, ebenfo bie von Schwarz über 
die Grenzen der evangeliſchen Lehrfreiheit, die von v. Holtzendorff 
über bie Civilehe; er begrüßt den Proteftantenverein als ben erftm 
großen Schritt auf ber Bahn wahrer Religiofität und kirchlichet 
Freiheit; aber nur der erfte Schritt fei gefchehen, manche andere 
müffen ihm folgen, um zu ber Höhe der Religion der Zukunft, 
welche er, ber Bertreter ber modernen Cultur, und feine Genajlm 
mit ihm, die wie er ber Kirche entfremdet find, bereits erklommen 
Haben, zu gelangen. „Die freifinnige Hestige Theelogie blickt noch 
viel zu ſehr nach der Orthodorie; fie hat nicht ben Muth, ent 
ſchieden mit ihr zu breden und fi von gewiſſen mythifchen Po- 
tenzen loszumachen.“ Das einzige Belenntnis nad Dogma, wohin 
man gelangen müffe, fei dies: „Es ift ein Gott; aber er ift un 
erfaßlich und unerforihlih.“ Zu dieſem Gott betet man ohne 
Worte, nur durch Gefühle; vom Gott redet man .am ibeften, wenn 
man ſchweigt. In der Kirche der Zukunft, die dies Bekenntnis 
Hat, Haben Alte Raum ; „laßt die Mäterialiften immerhin ben Stoff 
‚anbeten, aud er iſt ein Unerfaßliches, Unerforfchliches, das foger 
viel mehr die religioſe Verehrung rechtfertigt, als ein perſbnlicher 
Gott, der mur ein Spottlied anf ben ewigen ift, weil.er nüchts if, 
als wir felbft“. Man muſſe zu der Erlenutnis endlich kommen 
und ſich nicht ſcheuen, fie offen zu verfünden, daß es ein Unfim 
fei, davon zu reden, daß wir „in Gott leben“ follen, haß „Liebe m 
Gott“ uns erfüllen folle, daß „wir die göttliche Gnade in nus ſollen 
ſtart werden laſſen“, oder „gottfelig* fein, oder „Wuße thin“, ober 
„glauben“, daß uns „Prüfungen“ geſchickt werben, und was der 
gleichen inhaltsloſe Phrafen mehr fein. Die Thealogie müffe um⸗ 
lehren, d. h. aufhören zu fein, oder doch ſich darauf befchränken, 
auf Grundlage wiſſenſchaftlicher Piychologie Seeljorge zu üben; 
alle ihre Disciplinen werden vertheift: die bibliſche Krilik müſſe 
fie der Geſchichtswiſſenſchaft, die Exegefe der Phllologie, die Moral 
der Philofophie Aberlaffen, denn es fei ein Wahn, daß das Re 
Tigiöfe, befonders das Eheiftlich - Religidfe, mit dem Sittlichen irgend 
welchen Zufammenhang habe, und „bie Religion ift niemals die Ur- 
face, immer nur bie Wirkung der jebesmaligen Euftur*. Dat 


— U — — — 


D. Aiqard Rothe. si 


find die Antworten, weldje die moderne Culturentwidelung, bie hen» 
tige Bildung im Gegenfag zu der chriſtlichen Kirche durch ihre Ver⸗ 
treter dem Proteftantenverein gegeben hat. Und wie hat ber Ber- 
ein fih zu diefen Antworten verhalten? Er Hat ſich gar nicht 
dazu verhalten; das Seudſchreiben Tegows ift von Rothe nicht 
beantwortet worden *), und die Schrift des Ungenannten ift todt- 
gefhtsiegen worden im Proteftantenverein. Weshalb? Weil das 
bereingelte Stimmen find, die feinen Rüdhalt haben in den Kreifen 
unferer Gebilbeten? Wollte Gott, daß es jo wäre! Aber es ift 
nit jo; nicht ein leeres Vorgeben ift es, daß Tegow Rothe gegen« 
über geltend macht (S. 15): „Heute find Hunderttaufende von der 
äriftlichen Lirche abgefalten, weil fie die Miſſion des Epriftentums 
für erfüllt halten, — weil fie nicht mehr in Glauben und Hoffen, 
fondern im Wiffen und Erkennen das Heil der Welt ſuchen“, und 
(&. 19): „Sie“ (Rothe wird angerebet) „werden ſich mit dem 
Gedanken tröften, daß id in meiner Gottlofigfeit mit nur wenigen 
Anderen ein vereinzeltes Phänomen bilde. Ihnen biefen Troft zu 
achmen, Ihnen den tiefen principiellen Widerſpruch zwifchen dem 
rligiöfen Glauben und der modernen Bildung zu entwideln, tft 
ber Zweck dieſes Schriftchens.“ Wir fürdten jehr, die Männer 
des Proteftantenvereins Fönnen oder wollen ben tiefen Zwie⸗ 
ſpalt, den ungehenren Gegenfag zwiſchen Glauben und Unglauben, 
der unfer Volt durchzieht und vor dem alle anderen Gegenjäge 
von Eonfeffion und Union, kritiſcher und antikritiſcher Richtung wie 
nichts verſchwinden, nicht fehen; fie geben es in der Stille freilich 
auf, um mit Lipfius zu reben ®): „an den ‚Ungläubigen‘ geiftliche 
Ruren zu verüben“, aber meinen deſto mehr, „allen Gebildeten, 
denen es Ernft um eine veligiöfe Anſchauung des Lebens ift, gu 
einer ſolchen mit den wifjenjchaftlichen Blldungsmitteln unferer Zeit 
und in dem freieren, allem äußeren Autoritätsmefen entwachfenen 





a) Berückſichtigt iſt dies Seudſchreiben unferes Wiſſeus zuerft in dem 
neueſten Buch Schenkels: „Der deutſche Proteflantenverein und feine 
Bedeutung in ber Gegenwart“ (1868), ©. baff 

b) Im der Recenfion von 9. Späth: „Gott und Welt; Grundzüge einer 
die Gegenfäße der Neuzeit in ſich verarbeitenden theififcjen Weltanfeaung.” 
Proteſtanliſche Kirchenzeitung 1868, Nr. 15, 


452 Adelis 


Geiſte unferer Zeit zu verhelfen“ , ohne darnach zu fragen, ob « 
dazu des Proteftantenvereins bebürfe, ob nicht Lange ſchon vor 
bemfelben und in reichem Maße neben ihm dasfelbe — die an 
geführten Worte in gutem Sinne gedeutet — verfucht und volle 
führt werde, und ob den Gebildeten, denen e8 ein wahrhaftiger 
Ernft ift um ihr Ehriftentum, mit ſolchen Mitteln, wie der Ver⸗ 
ein fie bietet, geholfen werden könne. Man überfieht es fo gern, 
daß den Reben des Proteftanteirvereins in dem Falle, aber auf 
nur in ihm, ein taufendftimmiges Bravo folgt, wenn fie den kirch⸗ 
lichen Glauben angreifen, ihn lächerlich zu machen ober als unfitt: 
lich hinzuftellen fuchen und feine Vertreter verbächtigen, daß aber 
die Theilnahme fi faft auf Null rebueirt, fobald der Verein gr 
mäßigter auftritt und irgend etwas Poſitives, fei *8 auch in nod 
fo geringen Dofen, darzubieten ſich anuſchickt. Beweis davon if 
der jüngfte Proteftantentag (in Bremen), bei deſſen Verhandlungen, 
namentlich am zweiten Tage, an welchem über die Autorität der 
heiligen Schrift referirt und bebattirt wurde, das Publikum ein 
änßerft geringe Theilnahme bewies; rechnet man die zweihundert 
fremden Gäfte, die Hauptführer des Bremer Vereins, die relatin 
große Zahl weugieriger Gegner des Vereins ab, fo mögen cm 
dreißig Perfonen übrig geblieben fein, bie mit Sympathie den Aut 
laſſungen Hanne’s und feiner Nachredner folgten. „Werdet dd 
einmal vet nüchtern“, möchten wir den Männern des Bereit 
zurufen; „erfennet die Schäden unferes Volkes, ſucht nicht die Ir 
bendige Quelle durch felbftgegrabene Lücherichte Eijternen zu erſchen 
und habt für unfer Volk ein Herzl“ — Statt in da 
großen Gegenfag zwifchen Glauben und Unglauben einzutreten, ftatt 
ihn anzuerfennen und gegen den Unglauben die Waffen bes Geiftet 
zu fchwingen, Hat der Proteftantenverein Gegenfäge erfunden, 
die wol bienden, aber weſenlos find. Es foll Friede gefchloffer 
erden zwiſchen der driftlichen Kirche und der modernen Cultıt, 
fo Tautet fein Programm, allein das Bedürfnis eines ſolchen Fri 
densfchluffes Hat er nicht nachgewieſen. Iſt denn ein Streit, eine 
Feindſchaft vorhanden zwifchen ber Kirche und dem modernen Eul 
turleben als ſolchem? Nimmt denn bie Kirche — ganz verein 
gelte orthodoriſtiſche Deisgeftaltungen etwa ausgenommen — an dt 





D. Hiderd Rothe. abs 


Culturentwiclelung, an den Fortſchritten der Induſtrie, dem inter» 
nationalen Verkehr des Handels, dem wahren Fortſchritt der Wiffen- 
ſchaft (die Naturwiſſenſchaft keineswegs ausgefchloffen), der ſchönen 
&iteratur u. ſ. w., foweit das überall ihre Sache fein fann, nicht 
mit Freuden Antheil? Stehen denn nicht vielfach gerade folde 
Männer an der Spige biefer Eufturbeftrebungen, die ein warmes 
Herz für den Herrn Chriftus haben und ſich mit Naddrud zu 
den Gläubigen zählen? Freut ſich die Kirche nicht über jedes 
Erzeugnis der Literatur, in welchem ein gefunder fittlicher, mit den 
unvergänglichen Normen bes Chriftentums nicht zerfallener Sinn 
fih geltend macht, und ift fie mit etwas anderem verfeindet, als 
mit dem chriftusfeindlichen Sinn, wie und wo er fich fundgibt, mit 
dem Gögencultus des Genius und ber Emancipation des Fleiſches, 
mit der Verachtung der Bibel und der materialiftifchen, aller hö— 
heren Ideen und Triebe entleerten Gefinnung, die in einem Theile 
ber Riteratur das Wort führt, welde an den Hauptftätten mo— 
derner Eultur zum Theil ihren Si hat und ihre Nahrung aus 
der Eufturentwidelung faugt? 

Doc genug von diefen unerquicklichen Dingen; ehren wir zu 
Rothe und feiner Stellung zu jener modernen kirchlichen Richtung 
jurück. Das wird Jedem, der den feligen Rothe nur einigermaßen 
lannte, fofort einleuchtend fein, daß er fi in folder Umgebung, 
wie der Proteftantenverein fie bot, unmöglich wohl und heimiſch 
fühlen konnte. Schon fein deeidirter Supranaturafismus mußte 
iin daran hindern; während er in der Vorrede feines Buches „Zur 
Dogmatik“ erflärt: „Ich bin der Ueberzeugung, daß das denkende 
Bewußtfein der Zeitgenofjen erſt dann vermögen wird, fih gründ- 
lich über das Chriftentum zu orientiren und mit wirklicher Freu⸗ 
digkeit in dasfelbe wieder einzuleben, wenn e8 fi zu dem Ge— 
danken des Uebernatürlichen und des Wunders von neuem ein 
Herz gefaßt haben wird“, tritt ja faſt in allen Kundgebungen des 
Vereins die antifupranaturaliftifche Tendenz in der Bekämpfung des 
Wunderglaubens (vgl. den programmartigen erften Artikel bes Nord- 
deutfchen Proteftantenblattes und fümtliche andere Auffäge darin, 
mit Ausnahme der aus Baumgartens Feder) und in der Propa- 
ganda des neueren Nationalismus unverkennbar hervor. Zwar 

Theol. Stud. Jahrg. 1869, 0 


[73 . Meise 


Zittel leugnet diefe Propaganda (im feiner Flugfchrift gegen Hofl- 
mann in Berfin); allein mit weldem Rechte, das zu entjſcheiden 
mag Jedem überlaſſen bleiben, der von ben im Dienfte des Pro 
teftantenvereind gehaltenen Vorträgen — zumäcdit habe ich hierbei 
Bremen im Auge — Kenntnis nimmt oder u. a. die Behandlung 
erwägt, welche fi) Baumgarten nach feinem Bortrage in Neufatt 
mußte gefallen laſſci. Und nit nur ber herrſcheude Antifupre- 
naturalismas, nein, das ganze Treiben de Bereins, vom dem mir 
mm fo lange ſchon Zeuge fein mußten, fein oft fo rohes, allen Adels 
und aller Weihe des Religiöfen fo fpottendes Agitiren — gegenäher 
dem feinbefaiteten Gemith umd zarten Weſen Rothe's —, fin 
willtürliches und unbedenkliches Verleugnen aller Liberalen Prix 
cipien, etwa umter ber Formel: „Das Boft ift noch nicht reif dazı“, 
febald die Obmacht feines modernen Rationalieuns dadurch in 
Gefahr geräth (vgl. „D. Schwalb und das bremiſche Kinchenregiment“, 
Bremen 1868) — gegenüber ber Gewiſſenhaftigkeit nud Treu 
Rothe's, feiner Unbeftechlichleit, die niemals ſich an augenbfickliche 
Vortheile ober Nachtheile kehrte, feines fröhlichen Glaubens an die 
Siegesfraft deffen, was er vertrat —, wie konnte unter jolden 
Verhaltniſſen der Proteſtautenverein Rothe's geiftige Heimat fein? 
Andererſeits ift aber auch das unzweifelgaft gewiß, daß Mothe treh 
aller Mesaltiancen, die er einzugehen fich gendthigt fühlte, in m 
Verhäktnis feines Herzens zu dem Herrn Ehriftus, in ber Schägum 
der Kriftlihen Srömmigkeit, in feinen perſönlichen religibſen Ueber 
zeugungen ganz derjelbe geblieben ift. „Wenn es ſich um bie Gr 
meinſchaft der chriftlichen Frömmigkeit rein als folder han⸗ 
delt“, fehreibt er *), „fo kann ich mich perſönlich nur mit den Su— 
pranaturaliften innerlich verftändigen, und in diefer Hinficht ftehl 
mir diefer als folder am nächften, felbft wenn er etwa ein dei: 
dirter Weberlieferungemam wäre. Und auf der anderen Seite wert 
ih mich alfezeit von denen wiſſenſchaftlich geſchieden wiflen, 
welche die hriftlichen Ideen fefthalten unter Verneinmg der drift: 


lichen Offenbarungsthatfachen, weil es mir feinen Augenblid zweifel- | 


haft ift, daß ohne die Menlität diefer jene nicht in der Welt fein 


a) Algem. kirchl. Zeitſchrift 1864, S. 520, 


x 





D. Richerd Both. er" 


würden, fo wenig als fie vor denfelben und mabhängig von ihmen 
jemals dageweſen find, umgenchtet ich übrigens bie factifche Herr⸗ 
ſchaft diefer chriftlichen Ideen an und für fid gewiß nicht unter- 
fhäge. Aber jo nahe ich mic dem Supranaturaliften fühle und 
fo fern dem 2ntifupranaturaliften, was bie eine @eite meiner 
Weltanſchauung angeht: fo beftimmt fich bo, mit wem ich auf 
frendige Weile kirchlich unmittelbar zufammen handeln 
lann, für mich wicht nach dem Supranaturalismus oder dem Anti- 
ſupranaturaliamus meiner Kixchengensfien, fondern lediglich dar⸗ 
ah, wie jie die gegenwärtige praftifhe Aufgabe des 
Epriften anfehen*). Und da kann es bei ber jeigen Con⸗ 
ftelfation nicht fehlen, daß ich mich in diefem hier entſcheidenden 
Bunkte in der Regel mit meinen Mitſuprauaturaliften in einem 
tiefen Disfenfus finden werde und dagegen mit den Antifupranatus 
raliſten im Cinverftänduie. Wenn jener Miberftreit mid) ſchmerzt, 
fo freue ich mich dieſes Eimverftäubnifjes nicht minder aufrichtig.“ 
Um die erhebenden Zeuguiffe von dem Gterbebette Mothe's, fie 
Haben auch die am tiefften verftimmten Gemüther feiner früheren 
Freunde mit frohloclender Wehmut Trfilit und bie Einheit mit dem 
Heimgegangenen in den heiligften Lebensbeziehungen auf’8 neue be- 
feſtigt. Es darf Hier auch wol darauf aufmerkfam gemacht werben, 
wie ber reine, vertrauensvolle Sinn Rothe’s, der in feinem ganzen 
Reben und Wirken ihn auszeichnete, feine ideale Anſchauung, auf 
ſchöne Weife überalf auch in den kirchlichen Kämpfen hervorgetreten 
iſt; wir Haben bier befonders jene berühmt gewordene Stelle in der 
ſchon mehrfach angeführten Rede Rothe's: „Durch welche Mittel 
lonnen die der Kirche entfremdeten Glieder ihr wiedergewonnen wer⸗ 
den?“ af dem erften deutfchen Proteftantentage zu Eifenad) (1865) 
im Auge, in welcher er ein ehrliches und Mares Eingehen der Kirche 
auf das moderne Culturleben in Friede und Freundſchaft fordert, 
eine aufrichtige Anerkennung, dag man als aufrichtiger Chrift ein 
moderner Menſch fein künne und als moderner Menſch ein auf- 
richtiger Chriſt, und dann fortfährt: „Eine Befchränfung ift je— 


a) Inwieweit biefer Grundfag richtig fei und mit dem eigenen Ausführungen 
Rothe's in feiner Theol. Ethik ſtimme, darüber fiehe nuten. 
30* 


456 Agetis 


doch Hier unumgänglih. Die Kirche kann nämlich das moderne 
Culturleben allerdings nur unter dem ausdrücklichen Vorbehalte an⸗ 
erlennen, daß dasfelbe fich der Zucht des Herrn Ehriftus und Seins 
Geiſtes unterwerfe und ihr felbft Recht und Pflicht einräume, dieſe 
Zucht an ifrem Theile mit am ihm auszuüben. Denn über das 
viele Unchriſtliche, womit es offenkundig, zum Theil in fehreiender 
Weiſe, befleckt ift, kann und darf fie ſich freilich nicht verbienden, 
auch nicht daraufpin, weil fie an genug früheren Erfcheinungen des 
Ehriftentums die gleichen Flecken beobachtet und zum Theil noch 
ſchwärzere.“ Stärfer kann es doc nicht betont werden, daß ber 
Triebe zwiſchen dem Chriftentum und der modernen Cultur keines⸗ 
wege auf Koften jenes folle gefchloffen werden, daß nicht das 
Ehriftentum durch die moderne Gultur, fondern diefe durch das 
Ehriftentum müffe geregelt und corrigirt werden, — eine Anfchauung 
und Bedingung, welcher jeder Chriſt von Herzen ja zuftimmen wird, 
welche aber im Proteftantenvereife, trog aller angeblichen Begeifter 
rung für Rothe's Rede, allfeitige Billigung faum finden möchte *); 
Hat doch diefelbe Anſchauung, als fie von anderer Seite, von einer 
pommerſchen Paftoralconferenz ” ausgefprochen wurde, Heftige Bes 
tämpfung in dem Heidelberger Organ des Proteftantenvereins her- 
vorgerufen b). \ 

Man hat die von Rothe eingenommene Stellung zu den fird- 


a) In feiner jüngften Schrift: „Der deutſche Proteftantenverein ꝛc.“, für 
deren Inhalt ber Berfaffer jedoch allein die Berantwortlichkeit übernimmt, 
erzählt uns Schenkel (S. 40), daß der durdjichlagende Gedanke bes Rothe'- 
ſchen Vorirages im Eiſenach dieſer fei: „die Eenenerung des Ehriftentums 
müffe aus dem weltlichen Eufturleben hervorwachſen“, — mährend in 
Wahrheit ber Vortrag Rothe's ein feierlicher Proteft gegen dieſen Sat 
genannt werben Tann. 

b) Es ift uns, unter der Borausfegung der Liebe zur Wahrheit und Gereh- 
"tigkeit, nicht verſtändlich, wie bie Neue evangeliſche Kicchenzeitung (1867, 
Nr. 45, ©. 708) ſchreiben Tann: „Sieht man die Theſen im Zuſammen ⸗ 
hange und unter dem Lichte ber von Rothe zur Erläuterung gehaltenen 
Rede an, fo ergibt fich freifich unſchwer, dafs die Freundſchaft zwiſchen Kirche 
und Eultueleben fo zu verftchen ift, daß die erftere alles fallen läßt, mas 
dem zweiten nicht genehm ift, und fo ſchließlich am allerbeften thäte, fih 
ſelbſt aufzuheben.“ 





D. Richard Rothe. . 457 


fihen Bewegungen unferer Zeit eine für ihn nothwendige, aus dem 
Spfteme feiner Theologie und feines Lebens ſich ergebende genannt ; 
in mander Beziehung geben wir das allerdings zu. Die For—⸗ 
derung der freien Bewegung theologiſcher Wiffenfhaft, 3. 2. 
in der Darftellung des geſchichtlichen Chriftusbildes, würde Rothe 
zu allen Zeiten erhoben Haben, er konnte nicht anders; fo fehr er 
und wir mit ihm die neueren Charafterbilder und Darftellungen 
des Lebens Jeſu als durchaus verfehlt betrachten müffen, fo wenig 
der „rationaliſtiſche“ und „antifupranaturaliftife“ Standpunft, von 
dem aus fie gefchrieben find, im Stande fein wird, das Bild des 
Herrn geſchichtlich treu zu zeichnen, fo mug man doc dieſe 
Richtung in freier Bewegung fich ausarbeiten Laffen, bis fie durch 
Erkenntnis der Vergeblichleit aller ihrer Arbeit für den vorgefegten 
Zwed fi zu einem anderen Ausgangspunkte der Betrachtung und 
Forſchung erhebt. Durch zwangsweiſes Einfchreiten und regiment ⸗ 
fies Unterdrüden wird in der That auch wenig genützt, die ſub⸗ 
jective Wahrhaftigkeit der Forſcher würde darunter Schaden leiden; 
Wd das Vertrauen andererfeits darf doch nicht wanken, daß viele 
in folder Richtung Arbeitende bei aller Influenzirung durch kirch⸗ 
liche Agitationen u. ſ. w. wirffich ein Intereſſe haben an ber 
Wahrheit und der gefchichtlich treuen Darftellung des Herrn, dag 
auch ihnen die Wahrheit mächtiger ſich erweifen wird, als der Irr⸗ 
tum, wenn fie aufrichtig nach Erkenntnis der Wahrheit trachten. 
Alferdings reden wir hier nur von der theologifchen Wiffenfhaft, 
nit von der evangelifchen Kirche. Die Grenzen ber Lehrfreiheit 
auf der Kanzel müfjen der Natur der Sache nach enger fein, als 
der auf dem Katheder, obgleich es auch in der tHeologifchen Wiſſen⸗ 
[haft beftimmte Lehrgrenzen gibt, über welche hinaus es ge⸗ 
wiſſenlos fein würde, das Amt eines Lehrers der evangeliſchen 
Theologie zu beffeiden. Der antifupranaturaliftifche Standpuntt — 
und hier find wir uns des Disſenſus mit Rothe deutlich bewußt — 
fann im kirchlichen Amte nur bis zu einem gemiffen Grade ge⸗ 
duldet, nimmermehr als berechtigt anerkannt werden. Zu 
allen Zeiten würde Rothe der dogmatiftifchen Richtung unter unferen 
Kirchenmännern feinen Widerfpruch entgegengeftellt und auf den 
febendigen Glauben an den lebendigen Herrn Chriſtus gedrungen 


458 B Agelie 


haben, auf die veligiöfe Betonung dieſes Glaubens gegenüber ber 
Betonung theologiſcher Schulformeln; zu allen Zeiten witrde Rothe 
in entſchiedene Oppofition getreten fein gegen „das Thun und Lafien 
(nit der, fondern) einer Kirche, die in der Aufſtellung ımb der 
Annahme dogmatifcher Lehrfäge, in den cultifchen Acten, im a% 
ketiſchen Handlungen, in pietiftifhen Uebungen die eigentlide 
Sache Chrifti erbliden“ wollte; zu allen Zeiten wiürbe Rothe in 
der Geltendmachung der religiös -fittlichen Aufgabe des Chriſten⸗ 
tums, melde in der Erneuerung der Menſchheit und in der Um 
geftaltung der „Welt“ in das Meich Gottes befteht, ſich gleich ge 
blieben fein. So ift Rothe gewiß in allem wahrhaft Wefentlichen 
alfezeit derfelbe geweien, und feine Entwidelung, die zwifchen der 
erften lirchengeſchichtlichen Arbeit (1837) und der zweiten Auflage 
feiner Theologifchen Ethik Tiegt, ift eine Entwidelung auf gerad- 
Tiniger Bahn ohne principielle Schwankung und Aenderung, — 
wenn aud nicht ohne Aenderung überhaupt. Es mag 
immerhin zuzugeben fein, daß für eine geiftige und refigiös-fittlihe 
Organifation, wie die unferes Rothe, die Verſuchung ſehr nahe fg 
einer Bewegung, wie ber des Proteftantenvereines in Verbindung 
mit der „neuen Aera“ in Baden, ſich anzufchließen, weil fie den 
ſittlichen Charakter des Chriftentums, freilich vecht einfeitig und 
auf SKoften des religiöfen, vor allem betont; wir wollen auch aus - 
drücklich e8 zugeben, daß die oben nachgewwiefenen Mängel feines 
Kirchenbegriffes oder vielmehr die daraus ſich durch einfeitige Fol⸗ 
gerungen ergebenden Anſchauungen über das Verhältnis der Kirche 
zum Staate und deren beiberfeitige Entwicelung ihn dieſe Ver 
ſuchung doppelt ſchwer empfinden ließ, obgleich berjelbe Kirchen-⸗ 
begriff ihn im Anfang der Agendenftreitigkeiten, dieſes Vorſpiels 
der neuen Aera in Baden, entjchieden mit feinen Sympathien auf 
bie Seite des Kirchenregimentes treten ließ; war doch felbft die in 
der Generalfgnode von 1855, deren Mitglied Rothe war, in 
“ihren Grundlagen aufgeftellte Agende und anderes, mas jene Syn 
ode ſchuf, und mas Rothe wenige Jahre fpäter, einer unter den 
Erften, mit zerftören half, Rothe's beflifjener Mitwirkung zu ver- 
danken. Dennoch aber, daß Rothe bei dem mit feiner individuellen 
Chriſtlichteit fo disharmoniſchen Geifte, der im Proteftantennereint 


D. ichard Rote. 4. 


bervortrat, mit den führern der Majorität im badiſchen Kirchen⸗ 
freite gemeisfchaftliche Sache machte, des fonnte nur durch eine 
Aenderung des Urteils und der Anfichten geſchehen, bie zwar 
leineswegs eine Aenderung des Princips felbft ift, wol aber 
eine Aenderung in der Anmendung des Principe. Und folde 
Amderung llegt bis zum offenen Widerſpruch des früher und des 
fpäter von Rothe Veröffentlihten allerdings vor *). Auch Hier ift 
es der Kirchenbegriff Rothe's, den wir zunäcft in Auſpruch 
zu nehmen Haben, der Begriff ſelbſt, nicht die Folgerungen 
daraus hinſichtlich des Verhältniffe der Kirche zum Staat; mit 
feinem eigenen Begriff der Kirche ift Rothe in feiner kirchlichen 
Thätigfeit der letzten Jahre in Wiberfpruch getreten. Die Kirche 
ft nach Rothe die lediglich religtöfe Gemeinſchaft, — was folgt 
daraus als Norm für alles Handeln innerhalb der Kirche? Offen 
bar doch dieſes, daß der ausſchließlich veligiöfen Gemeinſchaft auch 
ihe ſtreng religiöfer Charalter zu bewahren, nicht aber, daß dies 
ebenselement der Kirche zu gefährden fei. Mochte es ihn betrüben, 
daß viele Kirchenmänner den ethifchen Charakter des Evangeliums 
und die Enkturbeftrebungen unferer Zeit nicht zu würdigen miffen, 
mochte er nach diefer zweiten Seite feines Weſens von aller kirch⸗ 
lihen Thätigfeit fih fern Halten und für Staat, Wiſſenſchaft und 
anderes im die Schranken treten, — wie durfte er aber dieſe Kämpfe 
in die Kirche Hineimverlegen und für einen kirchlichen Verein 
wirken, der vielleicht mit feinen ſittlichen Intereſſen ibereinftimmte, 
aber die religiöfe Grundlage der Kirche unterwühlte? Wie er 
fh perfönlich von diefen Männern gefchieden fühlte, fo hätte er 
fich auch in kirchl icher Gemeinschaft von ihnen fondern müſſen, 
wenn er fie im übrigen auch, fei es auf dem Katheder, oder auf 
der Tribline, als Verteidiger von ihm verwandten been begrüßte. — 


8) Karl Hafe nennt es „eine unerwartete, wol nicht ganz widerſpruchsloſe 
Bendung feines Geiftes, welche Rothe zu dem mädjtigen Sprecher des 
Proteftantenvereines gemacht hat“ (Protefiant. 8.-3. 1867, Nr. 42). — 
ErMärkich ift daher die Thatfache, daf die meiften von denen, welche in 
den badiſchen Bewegungen zum entfdhiedenen Kampf gegen Rothe fich ger 
drangt fähften, einſt feine begeifterten Jünger geweſen fin. 


40 Agelis 


Aehnliches ergibt fih, wenn wir bie theoretifhen Ausführungen 
Rothe's in der Pflichtenfehre mit feiner praftifchen Stellung ver- 
gleichen. In dem dritten Bande der Theologifhen Ethik (1. Ausg., 
8 1026 u. $ 1163) redet Rothe über „die Maffen“, wie fie von 
dem trüben und miögeftalteten Zerrbilde, dem gefpenftifchen, ja zum 
Theil dämonif—en Affen und Doppelgänger des wahren inneren 
Geiftes der Geſchichte, d. h. vom Zeitgeift, erfüllt und regiert 
werden. „Die Maſſe Hält ſich jelbft für mundig, aber an der all- 
gemeinen Befeelung derer durch die fittliche dee, die ſich als mün- 
dig betrachten, fehlt noch unendlich viel. Durch diefen Umftand 
kommt aber etwas Gefpannte® und Gefährlihes in ben Charakter 
unferer Zeit. Der Zeitgeift hat fo in ihr eine furchtbare Macht 
erhalten gegenüber dem Geifte der Zeit, und auf allen Seiten droht 
die rohe Gewalt hervorzubrechen, um den bisher aufgeführten Bau 
der fittlichen Welt vandaliſch zu zerftören umd alle eigentliche Ent: 
widelung des fittlihen Leben der Menſchheit zu verfchütten. 
Um defto dringendere Pflicht iſt es für die wirklich Mündigen, fih 
felbftändig zu Halten und zu erhalten den Mafjen gegenüber und 
ſich jedem Gedanken daran zu verfchliegen, ihnen zu ſchmeicheln und 
um ihre. Gunft zu buhlen, eine Gunft, die ihnen felbft nur ver- 
derblih werden fünnte. Denn fie würden ſich arg getäufcht finden, 
wenn fie fih einbilden wollten, daß fie die Maffen auf die Dauer 
ihren eigenen, vielfeicht ganz wohllautenden, Zwecken gemäß würde 
lenken können; ftatt deffen würden fie vielmehr von diefen dahin 
mit fortgeriffen werden, wohin fie felbft nicht wollen. Für ſolche 
Kreife, welhe ihren wahren Sinn nit faffen können, 
folfen fie fi wol hüten, Apoftel, wenn auch immerhin objectiv 
betrachtet, der Wahrheit zu werden. Beſonnen von allem ſich zu 
enthalten, was die Mafjen blind aufregen und die ohnehin ſchon fo 
unverhältnismäßige, wahrhaft fieberhafte Aufregung der Gemüther 
nod) vermehren müßte, fol ihnen eine heilige Gewiffensfache fein.“ 
Wir fügen die Worte Hinzu, die Rothe in demfelben Werke (Bb. II, 
$ 1179, ©. 1041) niedergelegt Hat: „Wenn aber heutige Tages 
die Majorität derjenigen, die ſich zu unferer Kirche zählen, über 
den Glauben, die Lehre und den Gottesbienft derfelben, überhaupt 
über ihr ganzes Thun und Laſſen zu decretiren befommt, fo wird 





D. Richard Rothe 41 


die nach ihrem Sinne eingerichtete Kirche, wenn fie überhaupt nur 
eine folche zu Stande bringt, wol wenig mehr von einer chriſt⸗ 
lihen Kirche an fi haben.“ So ſchrieb Rothe 1848, vielleicht 
unter dem frifchen Eindrude der revolutionären Bewegungen jener 
Zeit; aber man mag- die Erregtheit, die fich unwillkürlich in jenen 
Worten ausfpricht, noch fo Hoch anfchlagen, das ift doch offenbar, 
daß fie der Stellung, welche Rothe neuerdings den Maſſen gegen- 
über eingenommen hat, und den Worten, welde er 1862 in der 
Algen. kirchlichen Zeitſchrift (S. 34ff., befonders S. 44 ff.) aus⸗ 
geſprochen hat, in feiner Weife fi anpafjen wollen. Ober ver» 
gleicht man die Worte (XTheol. Ethit IT, 8 936): „Befonders 
wichtig ift es in diefer Beziehung, uns von allen falfhen Bünd- 
niffen frei zu halten, von jeder Allianz mit Solchen, die zwar 
praktiſch dasfelbe wollen, wie wir, aber in einem verſchie⸗ 
denen Sinne, aus anderen Beftimmungsgründen und in anderer 
Gefinnung”, mit dem in der Allgem. kirchlichen Zeitfehrift (1864, 
©. 522) Gefagten, „daß ſich die Frage, mit wen er auf freudige 
Weiſe kirchlich zuſammen handeln könne, Lediglich darnach be 
ſtimme, wie fie die gegenwärtige praktiſche Aufgabe des 
Chriſten anſehen“, ſo iſt doch wiederum nicht zu leugnen, daß 
ein Widerſpruch auch hier vorliege. Dieſe Nachweiſungen mögen 
genügen; denn gerade die beiden zuletzt berührten Vexhältniſſe, das 
zu den Maffen und ihren Bewegungen und das zu den falfchen 
Bünbniffen, fommen vorzugsweife in Betracht, wenn es fih um 
bie Stellung eines Individuums zu den gegenwärtigen kirchlichen 
Zeitfragen handelt. 

Wie aber haben wir diefe Erfeheinung des Widerfpruche, in ben 
der fpätere Rothe zu dem früheren, der Kirchliche Theoretiler zu 
dem kirchlichen Praktiker trat, zu erflären? Das fteht uns von 
vornherein feft und wird auch Allen, die Rothe kannten, unzmeifel- 
haft gewiß fein, daß jeder Verſuch, die aufgezeigte Wandelung des 
Urtheils und der Stellung Rothe's aus niedrigen, Beroftratifchen 
Beweggründen, wozu wir ausdrüclich die Sucht nad) Popularität 
rechnen, zu erflären, der Reinheit feines Charakters gegenüber als 
durchaus verfehlt angefehen werdei muß. Wol aber glauben wir 
einen Fingerzeig zur Löfung des Näthfels in den Bemerkungen 


402 Aqelie 


Schenkels *) erblicken zu müffen, mit welchen er bie Darftellung 
von Rothe's Leben begfeitet. „Ich will es nicht Temgnen“, fügt 
er, „baß die innige collegialiſche und freundſchaftliche Verbindung, 
in der Rothe ſeit dreigehn Jahren mit mir ftand,..... jenes 
Bedürfnis“ (feinen geläuterten Ueberzeugungen im öffentlichen Leben 
Folge zu geben) „in ihm noch beſonders angeregt hat und für ihn 
ein verftärkter Beweggrund geworden ift, gegen feine urfpräng 
Lie und eigentliche Neigung aus der einfamen Kaufe des 
Gelehrten und Forſchers herauszutreten und an den Kämpfen und 
Arbeiten ber Parteien als ein rüftiger Mitſtreiter theilzunehmen.‘ 
Wäre der Impuls in Rothe felbft, in die kirchliche Arbeit und den 
kirchlichen Kampf einzutreten, mächtig genug gewefen, um ihn jelb- 
ftändig und unabhängig feine Wege wandeln zu laſſen, fo 
würde Rothe der Ehorführer einer befonderen Partei geworden fein; 
ans den Kreifen feiner Schiller und Freunde hätten ſich viele um 
ihn gefhart, um in reinem und edlem Kampfe mit ihm gegen alle 
Unwahrheit und alle Ungerechtigkeit für die Principien zu fteeiten, 
welche Rothe in individueller Weife vertrat. Ober, ba ihm mm 
einmal zur Parteibildung und Parteiführung die Neigung fehlt 
und die Selbftändigkeit, vor allem auch der agitatorifche Sin, 
der kaum fehlen darf, fo wäre zu erwarten geweſen, daß er die 
Lehre von Bonn her treu bewahrt, alſo vom prattiſch-kirchlicha 
Treiben fich fern gehalten und der „dicken Luft“ der Paſtordh 
conferenzen und Synoben, vor ber er fo große Furcht empfand, 
nicht die Luft der Proteftantenvereine und Durlacher Verſammlunge 
vorgezogen hätte. Wir denken uns mit Freuden Hinein, wie Pot 
dann in feiner mönchiſchen Zurücgezogenheit beiden Parteien, unter 
denen er ja Schüler und Freunde zählte, mit gutem Rathe un 
heifiger Mahnung gedient, wie. er dann eine veredelnde und die 
Leidenſchaft dämpfende, die Unlauterkeit zuricthaltende Macht in der 
badiſchen Kirche und durch fie in viel weiteren Kreiſen geworden 
wäre. Aber fa kam es leider nicht; auch zu ſolchem Widerſtande 
gegen feine drängenden Collegen und jüngeren Freunde war er zu 
ſchwach, er gab nach, ließ ſich von Schenkel überreden, machte mit 


a) Allgem. kirchl. Zeitſchrift 1867, ©. 531. 





D. Riharb Bote. 468 


ipm gemeinfpaftfiche Sache und gab ihm und ber Partei bie ſehr 
erwũunſchte Möglichfeit in die Hand, ir Treiben ftets mit feinem 
Namen zu decken und mit ihm zu thin, was fie wollten, wie ung 
davon Schenkel noch nad) dem Tode Rothe's in dem Grundſatz, 
bem er bei der Herausgabe von Rothe's Predigten folgte, einen 
Beneiß geliefert Hat. Wir Haben uns allerdings die Sache nicht 
fo vorzuftellen, als ob Rothe in fortwährendem inneren Wider⸗ 
fireben den Parteigetrieben gefolgt fei umd jelbft im Maren Bes 
wußtſein das Widerfpruchsvolle und Unangemeffene feiner Stellung 
gefühlt habe; nein, wie es ihm vermöge feiner Dialetit nur zu - 
bald gelang, den Proteftantenverein als eine geſchichtlich nothwen ⸗ 
dige und reformatorifche Erſcheinung fich darzulegen, fo fehlte es 
auch nicht an Täuſchungen anderer Art, welche ihm fein Verfahren 
als ethiſch correct erſcheinen ließen. Vergeſſen wir doch nicht, daß 
In dem badiſchen Kirchenſtreit und in der Sache des Proteftanten- 
dereins Rothe zum erftenmale in praftifche Kämpfe hineingezogen 
hurde; er, der freie und ſcharfe Beobachter menſchlicher Geſchichte 
im Großen und Ganzen, wie im Einzelnen, der bisher aus der Ferne 
uf das Gewühl Herniedergefchaut Hatte, er ſah ſich jegt concreten 
Menfhengeftalten gegenüber, mit denen er handeln follte; er ſah 
krvorragende Männer, von denen er „aufrihtig höher hielt, als 
von fich ſelbſt“, entichieden Partei nehmen für den „fogenannten 
üͤberalismus; follte er nun einer mächtigen Bewegung der Geifter 
agegentreten, bei deren jedem einzelnen es ihm „pſychologiſch 
möglich war, ihn für einen ſchlechteren Chriften zu halten, 
18 ſich ſelbſt?“ Das vermochte er nicht, er vermochte es nicht, 
won wir fo fagen dürfen, aus zu weit geiriebener Demut; aber 
teilich, die Demut hört auf, chriſtliche Demut zu fein, und wird zu 
iner nicht fein follenden, verhängnisvollen Schwachheit, wenn man 
ater dem Schilde jener pſychologiſchen Unmöglichkeit ſich der pflicht⸗ 
üßigen Prüfung der Geifter entzieht, wenn man nicht mehr unter« 
heidet zwifchen dem, was der Menfch aus ſich felbft und durch 
ch felbft ift, und dem, was Gottes Gnade umd Heiliger Geiſt in 
m gewirkt hat, wenn demgemäß auch nicht umterfchieden wird 
vifhen glaubenden und nicht glaubenden Chriſten, zwifchen wieder» 
‚borenen und nicht wiebergeborenen Menfchen, und dann ohne wei- 


464 b Adelis 


teres bei jedem dvIgwros Yuxıxös das vorausgeſetzt wird, was 
borangzufegen nur bei einem &v9gwrrog nveruarixög ftatthaft 
iſt. Aber au) folche Bereinerleiung hat wieder einen tieferen Grund; 
fie würde nicht möglich fein, wenn Mar und fcharf die Lehre der 
Schrift von dem natürlichen Menfchen, die Lehre von ber 
Sünde vor allem, im praftifchen Verkehre als maßgebend felte 
gehalten wäre, — und wir fürchten nicht zu irren, wenn wir auf 
hier einen Mangel bei Rothe finden. So tief und wahr aud die 
wiſſenſchaftliche Erkenntnis und die eigene individuelle Erfahrung 
von der Sunde bei Rothe fein mochte, davon Hatte er doch ente 
weder feine Erfahrung bei fich felbft, ober er behandelte diefe Er- 
fahrung als rein individuelle, welch' eine Wahrheit in dem apofte 
liſchen Worte Liegt, daß, die da fleiſchlich find, die find fleiſchlich 
gefinnet, die fleiſchliche Gefinnung aber ift eine (keineswegs nur 
unbewußte) Feindſchaft wider Gott; und daher brachte Rote 
auch diefen Factor niemals mit in Rechnung. Ihm war die Sünde, 
wie er fie bei fich felbft borzugsweife beobachtet Hatte, eine dem 
Menfchen feindfelige Macht, gegen die er tapfer ringt, die ihn im 
unerlöften Zuftande allerdings gefangen hält, die er aber in Kroft 
der geſchichtlichen Wirkungen des Erlbſers überwinden kann und p 
überwinden weiß. Dean braucht ja nur Rothe's Urtheil über Dt 
große Menge der Heutigen Chriften*) zu leſen, — warlid, 4 
tommt uns vor, als ob wir in der Mitte von .Tedigfich falfchlefe 
Nathanaelsfeelen uns befünden, und als ob die Jacobi'ſchen Nar 
turen: „Dit dem Verftande ein Heide, mit dem Herzen ein Chrift, | 
ganz gewöhnliche Erfcheinungen unter unferen Gebildeten wären. 
Das relative Recht der inftinctiven Züge in den Waffen, auf welche 
Nothe fo viel gibt, wollen wir warlic nicht gering achten; wir 
conftatiren gern mit ihm den Zufammenhang des Zeitgeiftet 
mit dem Geifte der Zeit; aber wir dürfen es doch nicht um 
bemerkt laffen, was Rothe nicht bemerkt, daß ſelbſt nach bem, wat 
er davon anführt, diefe Züge rein negativer Art find. Es ft 
ohne allen Zweifel chriſtlich correct, daß Rothe, wie er gern immer 
bei ſich felbft die Schuld fuchte in allen Differenzen mit Anderen, 


a) Allgem. kirchl. Zeitſcht. 1864, ©. 618 ff. 


D. Richard Rothe. 465 


fo auch ftets bereit war, die Schuld von ber Entkirchlichung ber 
Mafen bei denen zu fuchen, mit welden er ſich eines Herzens 
und eines Sinnes wußte, und darauf vertraute, daß fie des Wortes 
tingebenf wären: „Der Gerechte ſchlage mich freundlich und ftrafe 
mid, das ift Balfam auf mein Haupt, nicht weigern foll ſich deß 
mein Haupt.“ Wir wollen demnach es auch gern zugeben, daß 
vielen unter den modern Gebildeten es fehwer fällt, vielleicht un⸗ 
möglich ift, die ftreng orthobore Lehre von der Trinität, den zwei 
Naturen in Ehriftus, der Inſpiration der Heiligen Schrift, ale 
Bahrheit anzunehmen ; aber daß jene um diefer Lehren willen 
fih von der Kirche fern haften und ſich felbft ale Nichtehriften ber 
urteilen, wer Tann das zugeben? Wenn fie fi) aber wirklich 
deshalb fern Hielten, witrde es nicht ein Zeichen großer religiöfer 
Bedürfnislofigkeit fein? Aber wir möchten fragen: wie viele unter 
den Genannten kennen denn jene Lehren fo genau, wie viele haben 
fih eingehend damit befchäftigt? Und find e8 nur diefe ortho— 
bogen Lehren, die vorzugsweiſe öffentlich bekämpft werden? 
Bir erinnern am die Reden, die in Sachen des neuen hannover» 
ſchen Katechismus gehalten wurden, an die Artifel über religiöfe 
Gegenftande in den meiften unſerer politischen Tageblätter, um es 
far zu ftellen, daß es nicht orthoboge oder orthodoriſtiſche Spitz⸗ 
Indigkeiten, daß es vielmehr die einfachſten Fundamentalartikel des 
Sriftlichen Glaubens, Fundamentallehren der Heiligen Schrift find, 
Ne zurücgewiefen werben. Und angenommen auch, es wären jene 
ren, an denen unfere modernen gebildeten Unkirchlichen fich ftießen, 
o fragen wir bilfig, wo werden denn jene Lehren fo dogmatiſch, 
vn orthodoren Schulformeln gemäß, ohne religiöfe Lebenswärme 
predigt? Wo wird das Theilhaben au Ehriftus abhängig gemacht 
von der buchſtäblichen Uebereinftimmung mit jenen Schulformen, 
md die fides qua creditur verſchwiegen, damit allein die fides 
use creditur zu Worte fomme? Und angenommen, es gejchähe 
ies an vielen Orten, ja durdweg bei allen orthodogen Geiftlichen, 
o fehlt es doch warlich nicht an Predigern ganz anderer Richtung; 
verden diefe denn von jenen Gebildeten aufgefucht? Woher mag 
8 doch kommen, daß faft überall die Kirchen gerade der fogenannten 
teigeiftigen Prediger die leerften vor allen find? Woher kommt 


46 Kgells 


es, daß auch bei Werfen, bie in das Gebiet der chrifilichen Sit: 
lichleit fallen, — und das foll ja der von der Kirche entfrembetn 
modern Gebildeien Stärke fein — ihre Betheiligung namentlich 
da, mo Opfer an Geld zu bringen find; ganz unverhältnismäßig 
ſchwach ift? Alle diefe Fragen kamen Rothe nicht; bie relatie 
Berehtigung der genannten Einwürfe gegen die „Kirche“ wog ki 
ihm fo jehr vor, daß er im feiner allzu großem Gerechtigkeit, in 
feiner Schen, dem Gegner Unrecht zu thun ober fein Recht zu 
verfeinern, fich lieber auf feine Seite ftellte und ähm zu vertr 
digen unternahm. — — 





Wir Hätten von Herzen gewünfcht, dem letzten Theil unferd 
Auffages einen anderen Zuhalt geben zu können, als wir geben 
mußten. Wollten wir jedoch hier abbrechen, fo wärde unfere Arbeit 
mit einer Diffonanz fließen, und ber Schein entftehen, als ob ir 
font fo harmoniſche Verlauf des reichen Lebens unferes Rothe auf | 
mit einer Diffonanz geſchloſſen Hätte. So war es nicht; nach im 
bewegten Tagen des Firchlichen Streites ift ihm vor feinem Scheide 
eine kurze Ruhe, ob auch die ſchmerzensreiche Ruhe des Kranter 
lagers, geworden, und von dem Sterbebette des Eutſchlafenen kr 
find felige Harmonieen aus bem Chore ber Vollendeten herübe 
getönt, die das liebe Bild des Geligen in dem verffärenden Glanz | 
der Ueberwinder vor unſerem geiftigen Auge enthüllten. Was wir 
über Rothe's kirchliche Stellung geredet Haben, das mußten wir, 
reden um der Wahrheit willen, um des Herrn willen, der der, 
jenigen Seiner nicht werth Hält, der felbft Bater oder Mutter mehr 
liebet, denn Ihu. Wir find der Hoffnung, daß, ſobald das Gr: 
woge kirchlicher Parteiung fich mehr gelegt haben wird, die Urthell 
über Rothe auch von Seiten derer, die mit ihm im Glauben un 
in der Liebe zum Iebenbigen Herrn Chriftus verbunden find, anders 
ausfallen werden, als es biß jet, wenigftens zum Theil, geſchehen 
iſt; und es würde uns eine veiche Freude fein, wenn es und ge 
lungen fein follte, in dem Vorſtehenden einige Fingerzeige zur gt 
echten Beurtheilung des Seligen gegeben zu haben. 





D. Wa Rothe. 7 


Nun iſt Rothe dem Erdenftreite und dem gebenden und nehmen- 
den Urtheife der Menfchen, aller Schwachheit und allem Irrtum 
der fündigen Welt entnommen, feine Hoffnung ift erfüllt, er hat 
heimlehron dürfen zu feinem Heren. Bei allem tiefen Schmerze, 
den das Scheiben eines ſolchen Theologen, eines fo geliebten Lehrers 
und Freundes erwedt, bei allem Gefühl für die Größe des Ver⸗ 
luſtes, der uns getroffen hat, — die Liebe, welche nicht das Ihrige 
fuht, muß fich doch in Rothe's Seele freuen, daß er nun in das 
höhere Leben der oberen Welt durch Jeſu Gnade Hat eingehen 
dürfen, wo er mit noch „beugungsvollerem Eutzüden“ als hienieden 
des Reiches Gottes Herrlichkeit wird ſchauen und erfaffen und vor 
dem Menfchenfohme ambetend frohloden: „Mein Herr und mein 
Gott!" Was Gott in Rothe der Theologie geſchenkt, die Refultate 
feiner wiſſenſchaftlichen Forſchung, wie der geheiligte Sim, in 
welchem er arbeitete und wirkte, fie werben nicht ohne bleibende 
Segensfrucht fein; die Schüler und Freunde Rothe's aber mögen 
ein zwiefaches Theil des Geiſtes ererben (2Kön. 2, 9), der in 
ihm war, und in der Liebe Chriſti, welche in dem feligen Lehrer 
lchte, bie großen Principien und Ziele feiner Wiffenfchaft und feines 
%bens treu bewahren, damit auch durch ihre Arbeit das Reid, Gottes 
fomme, wonach der himmliſche Sinn des Seligen ſich fehmte. 

Ein langes Leben, groß durch ftille Thaten, 
Ein reines Leben, wahr zum Licht gemenbet, 

Ein fruchtbar Leben, welches täglich fpenbet 
Im Heinften Thun ber höchften Liebe Saaten: 

Ein foldes ruht; Hin ſank ber müde Spaten, 
Der tief und treu bie Schollen umgemenbet; 
Denn Richard Rothe hat in Gott vollendet 
Die Pilgerfahrt, bie ſtets von Gott berathen. 

Bir hatten ihn. Wohlen, ihn noch zu haben, 
Soll ung der Schmerz mit Freubigleit begaben: 
In unſerm Herzen auferfteh' der Todte! 

Bo Wiſſenſchaft durch Können Kraft belundet, 
Wo Liebe lämpft und Wahrheit nie verwundet, 
Dort lebt und wirkt ein Jünger Chrifti: Rothe. 

(8. Gergen.) 


468 Diedſch 


2. 
Die Lehre von der Juſpiration der Schrift, 
Ein Berfuh von ‘ 
D. X. Dietzſch, Diaconus in Böblingen. 





I. Bibliſch- thtologiſche Entwicktlung. 


Unter den manigfachen Kämpfen der theologiſchen Parteien, unter 
den mancherlei Fragen, welche die Hiftorifche und fyftematifche Theo 
Togie bewegen, ift es eine frage, die in bewußter oder unbewußtet 
Weife den legten Streitpunft bildet, — das iſt die Frage nad) der 
Dignität und Auctorität der heiligen Schrift. Wird fie fi auch 
vor dem Gerichte der Wiffenfchaft als das legitimiren, — was dr 
Glaube durch feine Tebendige, unmittelbare Erfahrung von ihr über 
zeugt ift, als treue Urkunde göttlicher Offenbarung, als untrügliche 
Quelle chriſtlicher Erkenutuis und hriftlichen Lebens? Je ſicheret 
die Einen auf fie bauen, defto unficherer fteht fie den Anderen da. 
Daraus erwächft für jeden die Aufgabe, näher zu forſchen, mas 
ihm die Schrift fein kann und fein will. Nur eine unbefangen 
Prüfung der Schrift felbft bewart ung vor einer falſchen, unwiffer 
ſchaftlichen Sicherheit, wie vor einem Teichtfertigen Kritifiren und 
Negiren. Um zu wiffen, was die Schrift ift, was jie fein fol, 
und wie diefer ihrer Beftimmung gemäß ihr Urfprung zu denken 
ift, — dazu ift nöthig eine unbefangene Betrachtung. der Schrift 
ſelbſt *). Damit find wir auf den analytifchen Weg hingewieſen 
im Gegenfag zu dem fonthetifchen Verfahren, das die frühere Dog 
matif bei biefem Lehrftück eingehalten hat )). — Wenn wir nun 
der dogmatifchen Ausführung über die Infpiration der Schrift eine 


a) Bol. Hofmann, Die heilige Schrift N. T.'s unterſucht I, 45. 
b) Darüber vgl. Tweften, Dogm. I, 402f. Elwert, Tübinger Zeitjcrit 
1831, ©. 35f. . 








Die Lehre von der Infpiration der Schrift. 469 


biblifch » theologifche Entwicelung vorauſchicken, fo geſchieht dies des⸗ 
halb, um für unſere dogmatifchen Ausjagen die rechte Bafis zu 
gewinnen: wir wollen und können von der Schrift dogmatifch nicht 
mehr ausfagen, als fie felbft fagt, aber auch nicht weniger. Und 
da dad Dogma von der Inſpiration weit unmittelbarer als jedes 
andere auf die Schrift ſich bezieht, fo wollen wir und müfjen wir 
zuerft das Zeugnis abhören, das fie felbft von ſich abfegt. 

Diefes Zeugnis der Schrift über ſich felbft ſtellt fi) uns ale 
ein doppeltes dar: es ift ein ummittelbare8 und ein mittelbares. 
Unter bem erfteren verftehen wir alle diejenigen Ausfagen, in welchen 
die Schrift etwas über ihr Wefen, ihren Zwed, ihren Urfprung ung 
an die Hand gibt, unter dem legteren die charakteriftifchen Merk⸗ 
male oder Eigentümlichkeiten derfelben, aus denen ein Schluß auf 
ihre Entſtehung gemacht werden kann. 

Bon felbft ift Mar, daß hier auch das U. T. weſentlich in Be— 
tracht gezogen werden muß, nicht bloß wegen des organischen Zu— 
fammenhanges, in welchem feine Offenbarung mit der neuteftament« 
lichen Heilsoffenbarung fteht, fondern ganz befonders au aus dem 
Grumde, weil die Vorftellung ftricter Inſpiration zuerft auf die 
aftteftamentlihen Schriften angewandt und dann erft fpäter auf die 
neuteftamentlichen Bücher übergetragen wurde *). 

Gehen wir zunächft über zum A. T. Möglichkeit und Noth- 
wendigkeit einer Offenbarung liegt tief begründet in 
der altteftamentlihen Gottesidee. Zwar ftellt fi der 
perſönliche, ſchlechthin freie und abfolut Tebendige Gott im A. T. 
nad) feiner völligen Erhabenheit über die Welt dar, wie dies z. B. 
ſchon aus dem Verbot einer bildlihen Darftellung Gottes erhellt 
(Ex. 20, 4. Deut. 5, 8 vgl. auch Jeſ. 40, 25). Aber eben als 
diefer perfönliche und in ſich lebendige Gott will und kaun er ſich 
mittheilen an die Welt. Beachtenswerth hierfür ift der Jehovah— 
begriff, in welchem beides verbunden ift: ſchlechthinige Lebendig- 


a) So fließt ja aud Philippi (Mirhl. Glaubenslehre I, ©. 217, 2. Aufl.) 
von der Imfpivation des A. T.'s auf die des N. durch einen Schluß a 
minori ad majus — was aber troß der Einheit ber beiden Teftamente 
ein fehr voreifiger Schluß ift. — Siehe hierüber auch Kahnis, Luth. 
Dogm. (1868) III, 159. 


Theol. Stud. Jahrg. 1869, 3 


40 Dieſch 


keit Gottes und Darlegung, Manifeſtation dieſer Lebendigkeit durch 
die Offenbarungsthätigkeit. Jehovah iſt nicht bloß der in ſich de 
bendige, fondern auch der in feinen Aeußerungen ftets mit fih 
Hoentifche. Das ift das nyay yig nis. Die Möglichkeit der 
Offenbarung liegt begründet in Gottes Lebendigkeit, die Wirklichleit 
derfelben in Gottes Heiligkeit *). Wenn die bififchen Schriftſteller 
die heidnifchen Götter nicht bloß todte, fondern auch ſt u m me Götzen 
nennen (Hab. 2, 18: dodhde mibshe vgl. 1Kor. 12, 4: va ch 
duale ca &gyava u. Bf. 115, 4ff.), fo fagen fie damit indiret 
es aus, daß der lebendige Gott allein fich auch offenbaren könn. 
Das Hauptmedium aber, durch welches der geiftig perfönliche Gott 
an den Menfchen fich mittHeilt, ift da® Wort. Durd) das Wort 
iſt feine allgemeine Offenbarung, das Schöpfungswerk, vermittelt 
(Gen. 1, 3. Pf. 33, 6. 9). Noch immerdar wirft fein Wort in 
ber Natur (Pf. 147, 18). Namentlich aber zeigt ſich die Wirkung 
feines Wortes im Neich der Gnade, an und in dem Volke Zara 
(Bf. 147, 19 *)). Wie Gott alle Völker unterweift und die 
Menſchen Erkenntnis lehrt (Pf. 104, 10), fo namentlich Sera 
durch fein Geſetz und Zeugnis (Pf. 104, 12 u. oft). So teilt 
ſich Gott im Worte namentlich auch an ſolche mit, welche dann 
an die anderen die göttlichen Offenbarungen vermitteln ſollen. Co 
redet Gott mit Abraham (Gen. 12, 1f.; 15, 1), gar oft mit 
Mofe (z. B. Ex. 3, 6f.), mit Samuel (1 Sam. 3, 4ff.; 8, 7ff) 
ganz befonders häufig mit den Propheten (Gef. 6, 8f. &. 6, 1; | 
7,15 12, 1 u. a.). Und das auf diefem Wege Mitgetheilte heißt 
Wort oder Zeugnis Gottes °). Zu beachten ift hierbei, daß bier 
jenigen, an welche Gott ſich alfo mittheift, das ihnen Geoffenbarte 
ftreng ſcheiden von ihren eigenen Gedanken; was fie jo überfommen 
haben, das heben fie heraus als Gottesgedanfen (Lev. 24, 11ff. 
vgl. mit Num. 15, 34f.). Dies ift namentlich bei den Propheten 
der Ball; die falſchen Propheten find dyhw wg u. ne mad 


a) Eiche darüber and, Kübel, Das altteflamentl. Geſetz und feine Urkunde | 

(1867), ©. 6. | 
b) 8. 19 enthält offenbar eine Steigerung gegenüber von 8. 18. 
©) Bgl. Rothe, Zur Dogmatif, ©. 158. 





Die Lehre von der Iufpisation der Schrift. 471 


om (Ez. 13, 2. 3), bei ben rechten Propheten aber heißt es, 
wie bei Jeſ. 50, 4: owmmab tey »b ung. Die Mittheilung 
des Offenbarungswortes an bie Propheten wird &. 2, 8; 3, 3 
als Eingebung bezeichnet oder al Legen in ihren Mund 
(Rum. 23, 5. 16. Deut. 18, 18. — ger. 1, 7). Gott redet 
durch feine Propheten als durch feinen Mund (Rum. 12, 2. 
2Sam. 23, 2). Daher ift and) das Geoffenbarte den Propheten 
felbft zumädjft ein Fremdes, über welches fie aud für ſich eines 
göttlichen Aufſchluſſes bedürfen (vgl. Dan. 8, 15ff. Hab. 1.2. — 
1Betr. 1, 10f.). 

Wie durch's Wort, fo gibt fih Gott auch fund durch feine 
Thaten, durch Segens- und Gerichtethaten. Es ift überflüſſig, 
hierfür befondere Stellen aufzuführen, fie finden fich in allen Thellen 
des altteftamentlichen Schriftwertes. Und es ift fehr bezeichnend 
für den Standpunkt des U. T.'s, daß gerade auf diefe Mani 
feftationen bei der göttlichen Offenbarung ein fo großes Gewicht 
gelegt wird. In der patriarchaliſchen Zeit Haben wir als ein Haupt 
mittel ber Offenbarung die Theophauie (wefentlih im Mala); 
und fobald dieſe mehr zurüdteitt, Haben wir als weentliches Offen- 
barımgsmebium das Wunder (von Mofe an). Auf den erften 
Stufen ber Entwickelung ift bie Offenbarung eine mehr durch 
äußere Manifeftation vermittelte; in der Prophetie ift die 
Offenbarung ſchon eine geiftigere geworden; Theophanie und Wunder 
treten zuruck, es bahnt ſich Hier ſchon jene innere Bermälung des 
göttlichen und meuſchlichen Geiſtes an, mie fie als Mittel und 
Product der Geiftesoffenbarung des N. T.’s ſich und darftelit *). 

Haben wir im Bisherigen die göttliche Offenbarung im 4. T. 
nach ihrer Möglichleit, Wirklichteit ud Gejchichtlichteit kurz in's 
Auge gefaßt, fo fragt es ſich nun — und dies tft für unfere Auf⸗ 
gabe das Wigtigfte —: in welchem Verhaltniſſe ſteht das alttefta- 
mentliche Schriftwort zw dieſer Offenbarung Gottes? Was 
Thierſch einmal ®) fagt in Bezug auf die Offenbarung Gottes 
im Chriftentum, daß es ſich nämlich in den erften Anfängen des» 


2) Siege über biefen Pıraft auch Philippi, Kirchl Glaubenblehte I, 28 ff. 
b) Borfefungen über Kath. und Proteſt. I, 70. 
. sr 


472 Dieyih 


felben teineswegs fo angelafjen habe, als follte die Kirche auf eine 
Schrift gegründet werden, oder auch nur fo, als follte die Ab- 
fafjung und Deponirung einer Heiligen Urkunde als weſentliches 
Glied zu ihrer Gründung mithelfen, — das fann auch, und fall 
in erhöhtem Grade, von der nieberern Stufe der altteftamentlichen 
Offenbarung gefagt werden. Nicht nur reichen die Anfänge der- 
felben in eine Zeit zurlid, wo die Kunft des Schreibens noch gar 
nicht einmal vorhanden war, wo auch die göttlichen Offenbarungs 
worte und Offenbarungstgaten nur den Gegenftand mündlicher Ueber: 
fieferung bildeten ; fondern auch in ben Zeiten, welchen die Schrift 
zu Gebote ftand, ruht das religiöje Bewußtſein ganz in dem um 
mittelbar Erlebten oder Erfcauten. So fiegt auch bei der Pro 
phetie der Schwerpunft auf dem Empfangen, Erfahren und Er 
ſchauen der göttlichen Wahrheit, und fofern eine Mittheilung der: 
felben und damit eine Weiterleitung der Dffenbarungen Gottet 
erfolgt, dient hierzu die mündliche VBerfündigung*). Aber 
dag auch die ſchriftliche Fixirung des den Offenbarunge 
organen urfprünglich und unmittelbar Erſchloſſenen oder Mitgetheil- 
ten für den Gang der Offenbarung bedeutfam ift, das beweiſen 
alfe die Stellen, in welden diefen Organen der göttliche Befehl 
gegeben wird, das, was fie vernommen, aufzuzeichnen (Ex. 17,14; 
24, 4; 34, 27. Deut. 31, 19—21. ef. 8, 1; 30, 8ff. Hab. 
2, 2. Jer. 30, 2; 36, 2). Im den Worten naty-y 195 (def. 
30, 8) Tiegt deutlich ausgeſprochen, welche Bedeutung gerade dirfe 
Schriftliche Aufzeichnung für alte folgende Zeit hat, wie wichtig fe 
alfo für den Gejchichtsgang der Offenbarung ift. Ebenſo mE 
Habakut feine Weißagung (2, 4—20) nieberjchreiben, weil fie wer 
fentlich für das kommende Gefchlecht beftimmt ift. Diefe Männe, 
welche Gott zu feinen Zeugen erwählt, fchreiben das im prophe⸗ 
tiſchen Zuftand Erſchaute oder Vernommene in Harem Bewußtſein 
nieder, ebenfo mit deutlicher Kundgebung des ſchriftſtelleriſchen 


a) Siehe Kahnis, Dogm. I, 394. Wenn Philippi (Kirhl, Glaubt 
lehre I, 216 Ann.) für die Schriftinſpiration beiſpielsweiſe 2 Cam 
23, 1. Jeſ. 1,2. Ier. 1, 2. 9 anführt, fo hat er überfehen, daß diee 
zunachſt nur von der mündlichen Verkündigung geredet if. Eich 
and Rothe, Zur Dogm., ©. 170. 





Die Lehre von der Infpiration der Schrift. 478 


Zwecles *). Es tritt auch deutlich in diefen Büchern eine Ver⸗ 
ſchiedenheit in Geift, Kraft, Gedanken und Ausdruck hervor ®), und 
die Anſchauungen diefer Männer ftellen ſich als eine Schranke für 
die Mittheilung des Inhalts der Offenbarung infofern dar, ale 
die Offenbarung an das Erfahrungsgebiet und das Seelenleben der 
einzelnen Propheten ſich anfchliegen muß °). Aber wir müffen un 
befangener Weife auch ſagen, daß derſelbe Offenbarungsgeift, der 
bie göttliche Wahrheit den Propheten lebendig und urſprünglich ver⸗ 
mittefte, auch bei der Verkündigung der ihnen mitgetheilten Wahr: 
heit gewaltet hat, daß fie durch diefen Geift auch befähigt wurden, 
die göttliche Wahrheit richtig zu verfündigen. Und fie felbft machen 
darauf Anfpruch, daß das, was fie vortragen, zunächſt mündlich 
aufprehen, Wort Gottes ift (3. B. Jer. 39, 15ff. &. 12, 
27.28). Hierfür könnten aus allen prophetifhen Büchern Stellen 
angeführt werden. Daß nun aber auch das ſchriftlich firirte Wort 
glei dem mindlichen als Gottes Wort galt, ift daraus erfichtlic, 
daß die fpäteren Propheten frühere benugen, an ihre Weißagungen 
ſich anfchliegen und fie überarbeiten. Bei ber oft wörtlichen Ueber 
einftimmung (3. B. Ser. 51, 58 mit Hab. 2, 13) läßt fi nur 
an eine Benugung [hriftlich vorliegender Weißagungen denken, 
und dieſe Benugung der ſchriftlich firirten Weißagung durd den 
fpäteren Propheten fett doch bei dem letzteren die Anſchauung vor- 
as, daß auch den Schriften der Propheten diefelbe Anctorität 
und Dignität zufommt, auf welde ihre mündliche Verkündi— 
gung Anfprud macht. Dies ergibt ſich auch aus der wichtigen, 
in den neueren Verhandlungen nicht berüdfichtigten Stelle Jeſ. 34,16. 
Der ap Sen kann nicht der Pentateuch ſein ); denn die Stelle 
des Pentateuchs, die man hier angezogen findet, fpricht nicht vom 
Geriht über ein fremdes Bolt und Land, fondern vom Gericht 


2) Eiche Tholuck, Berm. Schriften I, 86 ff. Lahnis, Dogm. I, 302ff. 

b) Bertheau, Die altteftamentliche Weißagung von Israels Reichsherrlich - 
feit in feinem Sand. (Iahıbb. f. deutſche Theologie 1859, ©. 600.) 

0) Schenkel, Dogm. I, 815. 

Ö So Heim und Hoffmann (Die großen Propfeten [1889], ©. 188), 
welche meinen, Jeſaias rolle fagen, was er hier verfündige, fei nichts Neues, 
vielmehr ſchon im Geſetz Mofis geweißagt (Deut. 28, 15ff.). 


474 Diegih 


über Israel, und es fehlt auch jener Weißagung die fpecielle Zär- 
bung, die bei Jeſaias vorliegt). Wir können demnach in dem 
ya pn nur ein Weißagungsbucd; verftehen, in welchem auf 
diefe Weißagung wider Edom fteht. Eben weil das ungehorſame 
Volt das Wort Gottes nicht glauben will, muß dasfelbe in cin 
Bud geſchrieben werden (Jeſ. 30, 8). Mag man num aud de 
Umfang dieſes Weißagungsbuches beftimmen, wie man will ®), jeder 
falls ift es bebeutfam, daß Hier mym mm ganz fo gebraudt if, 
wie fonft pm 197. Das fchriftlih fixirte Propheteuwort macht 
alfo auf diefelbe Dignität Anſpruch wie das mündliche, im Namen 
Gottes vorgetragene Wort der Propheten. Die Stelle weift nads 
drücklich darauf hin, daß dieſes Bud fi dur die Erfüllung, in 
welcher nichts vermißt wird vom Inhalt der Weißagung, legitimiren 
werde: „Denn durch meinen Mund bat er geredet.“ So gilt alſo 
diefe Sammlung von Weißagungen als ein Bud Jehovah's, 
weil es göttlich geoffenbarte Worte Jehovah's enthält und diefe auf 
göttlichen Befehl darinnen niedergelegt find. Weiter freilich liegt 
nichts in der Stelle, namentlich auch das nicht, daß der Prophet 
beim Niederfchreiben jeiner Worte unter einer befonderen Geiſtes⸗ 
wirkung geftanden hätte. Sonft wäre auch undenkbar, daß ein in 
fpirirter Prophet die fehriftliche Fixirung feines prophetiſchen Zug 
niffes einem anderen überliege, wie 3. B. Jeremia dem Barud 
(Jer. 36, 1. 27. 28. 32). Obgleich Zeremia den Befehl zum 
Aufzeichnen erhält (36, 2), überläßt er die Arbeit doch dem Barud, 
und diefer fhreibt van ep, alfo: wie es ihm Yeremia 
dietirte (fiehe 8. 18; Schmieder z. d. St.). Nachdem des 
erfte Buch verbrannt ift, entfteht das zweite auf diefelde Weile 
(8. 32). Daß aber auch diefes Weißagungsbuch als Gottes 
Wort anzufehen ift, fieht man aus der Bemerkung 36, 24 ud 
aus dem über Jojakim verhängten Strafgeriht (V. 29. 30). 
Wir können fomit nach unbefangener Betrachtung der Sache 


8) Siehe namentlich V. 14 u. 15, worauf 8. 16 Hinweift in MR u.|. w 

b) Gerlachs Bibelwerk IV, 1. Schmieder meint, von 28, 1 an gk 
der Inhalt diefes Buches. — Einen weiteren umſamz ſqheiut Lideo 
anzunehmen z. d. St. (S. 756). 





Die Lehre von ber Imfpiration der Schrift. 475 


fagen: Die fhriftliche Firirung des den Propheten zur 
nähft zur mündlihen VBerfündigung geoffenbarten 
Bortes Gottes erfolgt ohne eine befondere Geiftes- 
mittheilung, — aber in bedeutfamer Weife erfheint 
auch das Weigagungsbu als ein Bub Jehovah's, 
als ein Medium, wodurd die göttlihe Offenbarung 
fih gefhichtlih weiter vermittelt. Iſt auch das Schreiben 
der prophetifchen Empfängnis gegenüber ein Secundäres, fo Liegt 
dod in dem göttlich mitgetheilten Befehl zur Aufzeichnung auch die 
Bürgfchaft, daß die prophetiſche Schrift den Offenbarungsinhalt 
treu wiedergibt, daß auch fie nicht minder als die prophetifche Ver⸗ 
fündigung als ein Wort Gottes gelten fann. 

Und was die hiftorifhen Bücher betrifft, fo zeigt fich in 
ifmen alfen deutlich eine ſchriftſtelleriſche Vermittelung (Verarbeitung 
von Quellen u. ſ. w.), es treten fogar in denfelben deutlich Diffe- 
tenzen zu ZTage*), — aber müffen wir nicht auch andere Erfcheis 
nungen conftatiren, worin die befondere Würdigkeit und Heiligkeit 
diefer Bucher Hervortritt? Wir können nicht bloß fagen, fie ftehen 
tein auf dem nationalen Standpunkt und feien aud bloß als Pro- 
ducte des israelitifchen Volfsgeiftes anzufehen ; in Israel, dem Gottes» 
volk, fteht das Nationale in der innigften Verbindung mit dem 
-Religiöfen; e8 ift der theofratifch- prophetifche Geift, der aus diefen 
Büchern uns entgegenweht. Im allen verräth ſich eine Tiefe 
prophetifher Anfhauung, die es verfteht, den Ent- 
widelungsgang des göttlihen Reiches echt theofratifch 
aufzufaffen und dbarzuftellen. Und auf der Folie der Un- 
terſchiede, die unleugbar zmwifchen den einzelnen Büchern jtatthaben, 
hebt ſich diefes Gemeinfame nur um fo bedeutender ab. Und jenes 
bedeutfame y consec., mit dem das eine biefer Bücher ſich an bie 
anderen anreiht, läßt nicht bloß die ideale Einheit der dargeſtellten 
Begebenheiten, fondern auch die Geifteseinheit derer durchblicken, die 


a) Bie 3. 8. felbft Hävernid (Einl. II, 284) gefteht, bie Chronik berichte 
oft ungenau und fei von ihrer levitiſchen Tendenz beftimmt. — Ueber 
diefe Gefchichteblicher fiche Kahınis, Dogm. I, 285. — Schenkel, Dogm. 
1, 353. — Rnobel, Comm. zu Num., Deut, Iof., ©. 499 ff. 


478 Diegig 


fie ſchriftlich fixiren. Wenn in diefen Büchern der prophetifche Geift 
feine Nahrung fand und religiöfes Leben an ihnen fich entzündete, 
fo müfjen wir doch zugeftehen, daß wir an ihnen eine lebenswahre 
und treue Darftellung des Ganges der Offenbarung ſelbſt haben. 
Und wer wollte leugnen, daß dies der Fall ift. Legen nicht die 
Propheten und die Pfalmen dies Zeugnis ab? — Wir finden 
alfo auch Hier feine directe Geifteswirfung, welche die Abfaffung 
diefer Schriften als folche zu ihrem Ziel und Zweck Hätte, — aber 
wir finden bei den Männern, welche die Geſchichte der Offenbarung 
niederfchrieben, eine Erleuchtung durch den göttlichen Geift, vermöge 
welcher fie befähigt wurden, die großen Gotteöthaten vichtig zu ers 
faffen und treu darzuftelfen. 

Die fteht es nun aber mit den poetif—hen Büchern des A. T.'? 
Die Erzeugniffe des frommen Gemüths (ArY), wie der frommen 
Reflexion (byfp) zeigen deutlich das Menſchliche des Urfprungs *), das 
Ringen mit den Näthfeln des Lebens; aber was David in feinem 
legten Wort von ſich fagt (2 Sam. 23, 2: mio By nmm 
rdb-by), das durfen wir wol auf alle heiligen Sänger anwenden. 
Die objective Offenbarung Gottes in der Natur, im Einzelleben, 
wie im Reich Gottes ftellt fich Hier in fubjectiver Meproduction dar, 
und wenn aud) in diefen Schriften von directer Gottesoffenbarung 
nicht geſprochen werden kann, fo dürfen wir darin doch nicht bloße 
Erzeugniffe des fubjectiven Geiſtes ſehen. Der fernere Gang ber 
Dffenbarung, den diefe heiligen Sänger oft in ahnungsvollen Zügen 
vorausfhauen und vorausfagen (vgl. die meffianifchen Palmen), 
der asfetifche Gebrauch, durch welchen fie Heute noch an den Herzen 
ſich kräftig Tegitimiren ®), — dies beweift doch wol, daß auch hier 
Gottes Geift gewaltet und die rechte tiefere Erkenntnis don Natur 
und Menſchenleben, von der eigenen Unwiffenheit (Prov. 30, 2ff) 
wie von der Herrlichkeit der Gottesoffenbarung (Pf. 119; 19, 8f.) 


3) Siehe Kahnis, Dogm. I, 301. Riehm, Ueber den gottmenſchlichen 
Sharakter der Heiligen Schrift (in diefer Zeitſchrift 1859, ©. 316) 
Tholud, Deutſche Zeitſchrift für chriſtliches Leben und chriſtliches Biflen 
1850, ©. 881f. 

b) Siehe, was die Pfalmen betrifft, die ſchöne Ausführung von Müllen 
fiefen, Zeugniſſe von Chriſto; Predigten, dritte Sammlung, S. 18-20. 








Die Lehre von der Inſpiration der Schrift. 477 


gewirkt, Wir erkennen hierin nicht etwa eine Philofophie des jü- 
diſchen Nationafgeiftes ; vielmehr zeigt jenes ftrenge Fußen auf dem 
geoffenbarten Wort (Prov. 30, 5. 6), daß hier der menſchliche 
Geift fi felbft im die Zucht des göttlichen Geiftes gibt. Es ift 
alfo auch Hier der Offenbarungsgeift, der aus diefen Büchern uns 
entgegenweht; und dies bleibt ftehen, auch wenn weber für die ur« 
fprüngliche fchriftftellerifche Eonception, noch für die ſchriftliche Fi— 
tirung eine befondere Geifteswirfung nachzuweiſen ift. 

Erſt das nahlanonifhe Judentum Hat die Vorftellung 
firieter Inſpiration auf die im VBisherigen abgehandelten Bücher 
übertragen. Der Zufammenhang mit den Gottesoffenbarungen 
mar für dieje offenbarungslofe Zeit einzig vermittelt durch die Urs 
funden, die ihr vorlagen. Je mehr es dem Judentum diefer Zeit 
zum Bewußtfein am, daß die Onellen der unmittelbaren lebendigen 
Gottesoffenbarungen nicht mehr floffen, um fo höher mußten in 
feiner Achtung die Bücher fteigen, in welchen man den Zufammen« 
bang mit der abgefchloffenen Offenbarung gemährleiftet fa. Um 
diefes Zufammenhangs völlig fiher zu fein, glaubte man aud) für 
bie ſchriftliche Fixirung der Gottesworte und Gottesthaten diefelbe 
unmittelbare göttliche Wirkung annehmen zu müffen, die beim Ein» 
tritt derfelben in den Geſchichtsgang ftattgefunden. Hatte Gottes 
Geiſt diefe Schriften ſchlechthin aus ſich geboren, fo fchien er auch 
ihlehthin an fie gebunden, und mit derjelben Macht, durch die er 
den unmittelbaren Zeugen göttlicher Offenbarungsthaten oder Worte 
die göttliche Wahrheit rein und Tauter darlegte, follte er in der 
alle menschliche Thätigfeit ausfchliegenden Infpiration für die nad» 
kommenden Gefchlechter geforgt haben. Dazu fam, daß bei ber 
allmählich Heroortretenden Geltendmachung eines äußerlich gejeh- 
lichen Standpunktes *) die Heilighaltung des Geſetzes buch ſtabens 
und Geſetzes buches immer mehr auflam ®). 

Es ift wahr: die Vorftellung, welche diefes nachkanoniſche Juden» 
tum vom Urfprunge der Schrift hat, ift eine verfehrte, den Gang 


a) Siehe Kahnis, Die Lehre vom Heiligen Geift I, BAff. 
b) Cf. Sonntag, Doctrina inspirationis ejusque ratio, historia et usus 
popularis (Heidelberg 1810), p. 36 qq. 





478 Diele 


der „Offenbarung verfennende und dem thatfächlichen Beftand dieſer 
Bücher zuwiderl aufende, — aber bedentfam ift der mächtige Ein- 
druck, der ſich in diefer irrtümlichen Auffafjung ausfpricht, der 
Eindrud einer einzigartigen Erfcheinung, wie fie diefe Schriftwerfe 
darftellen. Wir unterlaffen es, die im ber nachkanoniſchen Zeit 
hervorgetretenen Anſchauungen vom Urfprung der Schrift näher 
auszuführen, da fie bloß Hiftorifchen Werth haben und für die dog 
matiſche Fixirung der Lehre von der Inſpiration nichts an die 
Hand geben. Um fo wichtiger dagegen und bedeutender 
ift die Frage, wie fi die vollendete Gottesoffenba 
rung in Ehrifto zu diefen altteftamentlichen Schriften 
fteltt, und wie fih das N. T. über den. Urfprung der 
altteftamentliden Offenbarungsurfunde ausfpridt. 

Daß unfer Herr in den altteftamentlichen Schriften göttliche 
Dffenbarungen, Worte Gottes findet, das erſt zu bemeifen, dürfte 
überflüffig fein. Seine eigene Perfon, fein heifiger Beruf, fein 
ganzer Lebensgang, namentlich- auch deffen dunfelfte Seite, erjcheint 
ihm als „Erfüllung der Schrift“ (fiehe Luk. 18, 31; 24, 25. 
27. 44. Matth. 26, 24; 5, 17. Joh. 5, 39. 45. 47. Marl, 
9, 12f. Luk. 4, 21). Sehr oft vermeift er auf die heilige Schrift 
und wendet fie für's eigene Leben an*). Daß er auch dem alt 
tejtamentlihen Schriftmwort göttliche Auctorität zuerfennt, geht 
deutlich aus der Stelle Joh. 10, 35 Hervor. Man hat freifid 
zu viel in diefe Stelle Hineingelegt, wenn man fie als eine Br 
weisftelle dafür anfah, daß Jeſus eine wörtliche Eingebung ds 
A. T.'s gelehrt habe’). Dies ift jedenfalls zu raſch gefchloffen. 
Mag der Herr noch fo nachdrucksvoll auf das einzelne Wort 
Heol ſich ſtützen, — es Tann ihm dies ſchon deshalb ein Ayo 
Feod fein, weil Gott die Betreffenden mit demfelben in ihr Amt 
einfegt, nicht aber, weit es ein Wort aus einer göttlich infpirirten 
Dffenbarungsurfunde ift. Jedenfalls aber müfjen wir. unbefangener 


a) Ich erinnere hier beifpielsweife nur an Matth. 4, 4. 7. 10; 26, 46. Bil. 
hierüber Lechler, Das X. T. in ben Neben Jeſu (im diefer Beitfhrift 
1854, &. 787851) und Rothe, Zur Dogm, ©. 174. 

b) So Gauffen. Achnlich aud Philippi, Kirchl. Glaubenslchre I, 216 
Anın.; und Stier, Worte des Worts (Barınen 1858) I, 810, 





Die Lehre von der Juſpiration der Schrift. 49 


Weiſe zugeben, daß der Herr mit- feinem od duvaras Audivas 
Freayy dem altteftamentlichen Schriftwwort deutlich eine göttliche 
Autorität. vindicirt *). 

Ein beſonders großes Gewicht hat man auf andere Stellen ge- 
fegt, aus denen hervorgehen foll, dag Jeſus ſich das A. T. als 
auf dem Wege ftricter Inſpiration entftanden denke. Es wurden 
namentlich die Worte Matth. 15, 3. 4 (vgl. Mast. 7, 8. 9) in 
die erfte Stelle gerüdt ). Wenn der Verfuch gemacht wurde, das 
Gewicht diefer Stelle abzuſchwächen durch die Behauptung, es ſei 
eben hier eine Beſtimmung des Dekalogs angezogen, und dieſer habe 
in ganz befonderem Sinne als Wort Gottes gegolten, fo reicht dies 
nit zu, die Beweiskraft diefer Worte abzuſchwächen. Denn in 
Matth. 15, 4 iſt neben einer defalogifchen Beftimmung als Gottes⸗ 
wort auch ein Sag aufgeführt, der nicht im Dekalog, fondern 
Ex. 21,17 zu finden ift. Zum andern würde eine derartige Unter» 
ſcheidung des Defalogs von dem übrigen Geſetz der Anſchauung 
des Herrn, wie fie fih 3. B. Matth. 5, 17 ausgefproden findet, 
ſchnurſtracks zumiderlaufen. Das Gefeg überhaupt betrachtet hier 
der Herr als Gottes Wort. Sehr lehrreich ift e8 nun aber, die 
beiden Paralfelftellen mit einander zu vergleichen. Wie kommt es, 
daß das, was Mwücns eine (Mark. 7, 10 ſiehe auch Matth. 
19, 7), eine evroAn Heod heißen kann (vgl. V. 9), ober daß 
das gleiche Wort angeführt werden kann als Gottes Wort (Matth. 
15, 4: Heds sine)? Kann der Herr hier nur das geſchrie⸗ 
bene Gefe Gottes vor Augen gehabt haben, fo zeigt ſich doch 
deutlich, wie dieſes ihm Gottes Wort ift, ohne daß wir freilich 


3) Dan hat feinerlei Grund, mit Rothe und Thokud (a. a. O., ©. 344) 
anzunehmen, daß diefer Sa nicht die eigene Auſchauung Chrifti ſelbſt, 
fondern nur eine vom Standpunkt feiner fehriftgelehrten Gegner aus ge- 
madjte argumentatio ad hominem ausſpreche. Wäre dies der Fall, fo 
würde der Here ficher, um bie Inconfequenz diefer Gegner deſto ſchärfer 
bervortveten zu Iaffen, noch bejonders darauf hingewieſen Haben, daß ja 
ihrer eigenen Anſchauung zufolge die Schrift nicht aufgelöft werden könne. 
Wir werden alfo nicht fehlgreifen, wenn wir Hierin die eigene Anſchauung 
Jefu ausgefprochen finden. Kahnis, Luth. Dogm. II, 157. 

b) So meint namentlih Sonntag (a. a. O, &.42): „Summam vim in- 
spirstionis probandae inesse locis Matth. 15, 3. 4. Mark. 7, 8. 9,“ 


480 Diesih 


aus der Stelle eine Auskunft darüber erhalten, wie jenes Yeds 
sine und Movoñc sine ſich mit einander vermitteln. 

Dan könnte verfucht fein, das Licht, das diefe Stelle nicht gibt, 
bei einer anderen zu fuchen, in der ebenfalls vom gefchriebenen Gr- 
feg die Rede ift, nämlich bei Matth. 5, 18. Luk. 16, 17. Hier 
ſcheint Jeſus felbft den kleinſten Bejtandtheilen des Buchſtabens 
der Schrift einen göttlichen Charakter zuzujchreiben. Aber wenn 
wir dies annehmen würden, fo würde mit diefem Ausſpruche die 
Geſchichte der Kirche Jeſu nicht übereinftimmen. Wir verftehen 
daher mit Tholud*) nicht die Fleinften Beftandtheile der Gefeges 
urfunde, fondern des Geſetzes felbft vermöge der metonymia con- 
tinentis pro contento. Es bedeutet alfo der Ausſpruch Chrifti 
nicht® anderes, als daß das Gefeg in all feinen Theilen die Er- 
füllung finden werde. Deutlich Liegt übrigens gerade auch in dem 
für diefen Gedanken gewählten Ausdrud die Anerkennung der götte 
lichen Auctorität der Urkunde des Geſetzes. 

Weiter führt und die Stelle Matth. 19, 5. Hier führt Jeſus 
ein Wort, da8 Gen. 2, 24 von Adam gejprochen ift, als ein von 
Gott geredetes an ®). So fheint Hier die Anfchauung vorzufiegen, 
daß dies Wort Adams, als in die Heilige Schrift auf 
genommen, Gottes Wort ift‘). Liegt nun auch hier fein 
nähere Erörterung über den Urfprung dieſes Wortes Gottes vor, 
fo fett doch der Herr deutlich voraus, daß die altteftamentlic 
Schrift Gottes Wort if. Und daß nad) feiner Anfchauung der 
Geift Gottes die altteftamentlihen Offenbarungsorgane befeelte, in 
ihnen waltete und aus ihnen fpricht, ergibt fi aus der Stelle 
Matth. 22, 43 (vgl. Mark. 12, 36). Man kann immerhin fagen, 
diefer Zuftand prophetifcher Begeiſterung beziehe ſich auf's Reden 
(eine), nicht aufs Schreiben; aber man vergeffe nicht, da doch 

8) a. a. O., ©. 344. 

b) Denn das Subject zu eine ift der B. 4 genannte 6 mowjsas, Gott ber 
Schöpfer. 

€) Das Gleiche ergibt fih, wenn man mit Bleet (Comm. zu den fgnopt. 
Evang. IT, 259) die Worte der Genefis als veflectivende Betrachtung det 
heifigen Schriftflellers faßt. Auch diefe wären dann als Gottes Wort be 
zeichnet, fofern fie Beſtandtheil einer Heiligen Schrift geworden find. 








Die Lehre von der Infpivation der Schrift. 481 


der Herr nach diefer Stelfe das von David im Geift Geſprochene 
als authentisch in dem altteftamentlihen Schriftwort mitgetheilt 
anerkennt. Denn es iſt zunäcft ein Schriftwort, von dem aus 
er argumentirt. 

Aus den Stellen Matth. 22, 29. Mark. 12, 24. Joh. 5, 39 
ift die Behauptung nicht zu erweifen, der Herr habe der afttefta- 
mentlihen Urkunde feinen göttlichen Urfprung vindicirt *). Vielmehr 
darf es als ausgemacht gelten, daß dem Herrn die alttefta- 
mentlihe Schrift Gottes Wort ift, und das Zeugnis 
der altteftamentlihen DOffenbarungsorgane für ihn 
als ein Zeugnis des göttlihen Offenbarungsgeiftes 
gilt. 

Diefelbe Anfhauung, nur noch viel deutlicher ausgejprochen, 
finden wir bei den Apoſteln. Es läßt fich dies entnehmen ſowol 
aus der Art und Weife, wie fie das altteftamentlihe Schriftwort 
anführen und anwenden, als aud aus ihren Tehrhaften Ausjagen 
über die Bücher des U. T.'s. 


a) Rothe (Zur Dogm., ©. 179) ſucht den Sat, der Herr habe die Bor- 
ſtellung feiner Zeitgenofjen von der Infpiration ihrer Bibel nicht getheilt, 
aus den oben angeführten Stellen zu begründen. Jeſus ſpreche wiederholt 
feine Ungufeiebenheit aus mit der unter feinen Zeitgenoffen gangbaven Weile, 
die Heiligen Bücher anzujehen und zu gebrauchen. Er ſage es den Schrift- 
gelehrten in's Geficht, daß fie die Schrift nicht verftchen, und daß es ein 
Bahn fei, wenn fie in ihr als in einem Buche ewiges Leben zu befitgen 
meinen. — Allein, wenn fie auch die Schrift nicht verſtehen, follte damit 
ſchon and) die Art, wie fie den Urfprung derſelben denken, gerichtet fein? 
Die Stelle Joh. 5, 59 ift von Rothe fiherlich irrig aufgefaßt. Jeſus 
will da feine Volksgenoſſen nicht deshalb tadeln, weil fie der Schrift als 
einem Buch zu viel Ehre erweiſen; er tadelt fie vielmehr deshalb, weil fie 
in der Schrift ale folder diefes Leben ſuchen, ohne ſich von ihr zu dem 
leiten zu laffem, von weldem doch diefe Schrift zeugt. Im diefem Tadel 
Hiegt aber gerade die Anerkennung des göttlichen Gehaltes der Schrift. 
Damit ift auch das Weitere befeitigt, was Rothe aus Matth. 22, 29 u. 
Mark. 12, 24 beweifen zu können glaubt. Der Here will Bier nicht fagen, 
daß fie die Schrift nicht verftehen, weil fie die Vorftellung von ihrer Ent 
ſtehung durch Inſpiration haben, fondern er legt ihnen an's Herz, wie an 
dem Nichtverſtehen nur der Umſtaud ſchuld fei, daß fie dem Schriftzeugnis 
nicht willig die Herzen öffnen. Siehe and) Kahnis, Luth. Dogm. I, 652, 


480 Dietlq 


Die Formel 7 yeayıj doyei (Gal. 4, 30. Röm.4, 3; 9, 17) 
wechſelt mit der anderen Formel 6 Heds Asyeı (Act. 13, 34. 35 
vol. auch V. 33; 7, 3. Hebr. 10, 15) oder zo nweöne Asyu 
(Hebr. 3, 7; 9, 8. Act. 1, 16); Matth. 1, 22 erſcheint die pro- 
phetifche Stelle als Wort Gottes, und der Prophet ift nur Organ 
Gottes (dic), vgl. auch Matth. 2, 15. Wie genau Wort Gottes 
und Schrift nad apoſtoliſcher Anſchauung zufammenfallen, ergibt 
ſich ans Gal. 3, 8, wo etwas von der Schrift ausgefagt wird, 
mas ftreng genommen nur von ihrem Urheber prädicirt werben 
kann *). Ganz ähnlich verhält es fi mit Röm. 9, 17. Dat 
felbe ergibt fi) aus der Vergleihung von Gal. 3, 22 und Röm. 
11, 32). So werden im Hebräerbrief Schriftſtellen, in denn 
von Gott in der dritten Perfon geredet ift, eingeführt mit der 
Formel 6 Seo Asyaı (Hebr. 1,6.7; 4, 4. 7; 7, 21; 10, 30). 
Ja 1, 10 wird eine GStelfe aus Pf. 102, 26—28, wo Gott 
vom Pfalmiften angeredet wird, ald von Gott gefprocden be 
zeichnet. — Die altteftamentliche Schrift gilt demnach den Apofteln 
als Gottes Wort. 

Wodurch fie aber Gottes Wort ift, ergibt fi) aus einigen lehr⸗ 
haften Ausfagen der Apoftel, unter denen 2Tim. 3, 16 voranfteht 
als „sedes primaria‘‘ des Beweiſes für die Schriftinfpiration. 
Unter n&oe yoayr) ſcheint wol ohne allen Zweifel die Geſamt⸗ 
heit der altteftamentliden Schriften gemeint *). Di 
Vermögen diefer Schriften, Gottesmenſchen zu zeugen, Tiegt begrün 
det in ihrem eigentümlihen Wefen und Urfprung. Welder Art 

8) Siehe be Wette 3. d. St. (8. Aufl., 1864, ©. 59). Wieſeler z. d. 
St. Bas Hofmann (Schrift N. T.'s u. ſ. w., II. Teil, 1. Abtheil, 
©. 60) gegen Wiefeler bemerkt, entbehrt jeder Begrinbung. 

b) Siehe Kahnis, Luth. Dogm. I, 653; LI, 157. 

©) Gegen Tholud a. a. O., S. 842. Daß es und; neuteſtamentlicher Grü- 
cität heißen kann „die ganze Schrift“, zeigt das Fehlen bes Artikels ki 
nög in Matth. 2, 3. Act. 2, 36. Röm. 11,26. Eph. 2, 21; 3, 15. 

; 1 Betr. 1, 15. Siehe Dofterzee, Comm. 3. d. Paſtoralbriefen in Sange'® 
Bibelwert (1861), &. 109. So auch Wiefinger 3. d. St. Mit zgayı 
und yoapet ofme Artitel wird auch ſonſt die Gefamtheit der Offen: 
barungsfäriften bezelchnet 2 Betr. 1, 20. Röm. 1,2. — yodupare 
ohue Artilel in Joh. 7, 15. 











Die Lehre von der Imfpiration der Schrift. 488 


aber dies Wefen und diefer Urfprung find, liegt in dem Worte 
Yedrvevoros. Man hat feinerlei Necht, dies in activiſchem Sim 
zu verftehen. Auch in der Profangräcität ſteht es in paſſivem 
Sinn“). Demnach Haben wir es zu nehmen — „gottgehaucht“, 
vom göttfichen Geift durchweht. Es Läßt ſich nicht in Abrede ftellen, 
daß hier von einer göttlichen Cauſalität beim Urfprung der Schrift 
die Rede ift; der göttliche Geift der Offenbarung, welcher in den 
altteftamentfichen Offenbarungsorganen redet, maltet auch in ihren 
Schriften. Wenn nun aud) hier keineswegs eine buchftäbliche, mer 
chaniſche Eingebung gelehrt ift, jo "liegt doc jedenfalls fo viel in 
der Stelle, daß das Zeugnis der Heiligen Schriftfteller im gött- 
fihen Geiſt feinen Entftehungs- und Ausgangspunkt hat d). 

Noch deutlicher ift die ausgeſprochen in der Stelle 2 Betr. 1, 
20. 21, wo freilich zunächſt nur von der altteftamentlichen Pro= 
phetie die Mede ift. Daß das ZArAnoev nicht bloß °) vom ger 
ſprochenen, fondern auh von dem in der Schrift firirten 
Weißagungs wort gemeint ift, zeigt Mar das reoymsela yoa- 
PÜS (8.20, vgl. auch Act. 2, 31. Röm. 16, 26; 3, 19. Hebr. 
1,1). Zuerft ift in ®. 20 von dem Urfprung der Weißagung 
gefagt, wie berfelbe nicht zu denken ift. Die Weißagung ift nicht 
Product eigener Ausbeutung (dmrikvaig), d. h. eines auf die ge— 
gebene gefchichtfiche Conſtellation bafirten Schluffes. Zwar find es 
Menſchen geweſen, welche hier redeten, aber nicht im menfchlichen 
Willen oder Belieben (fiehe Joh. 1, 13) Hat ihr Reden feinen 
Urfprung, fondern fie haben geredet Uno nvevuarog dylov 
yegomevoı. Daß in dem Yegöuevos eine Übermältigende 
Gegenwart des Gotteögeiftes Tiege 4), widerlegt ſich ſchon durch das 





2) 3. ®. Plut. de plac. phil. 5, 2 mit öveıgon. 

b) Siehe auch Wiefinger u. Oofterzee 3. d. St. Elwert, Stud. der 
württemb. Geiftfichteit (1831) II, 45. Des Derrnhuter Plitt eangel. 
Glaubenslchre (Gotha 1863) I, 68. — Tholud (a. a. D.,©. 348) ſucht 
vergeblid) das Zeugnis diefer Stelle einzufchräufen. 

©) Gegen Elwert a. a. D., ©. 46. . 

4) So Lic. Schott in feinem Comm, z. d. St. — Ebenſo unrichtig ift 
es, wenn Schott, fichtbarlich beeinflußt von der Anfchauung feines Lehrers 
Hofmann (Weifagung u. Erfüllung I, 56f.), in dem Yegöuevor auch 
einen Einfluß auf das Naturleben ber üyın Ieod Eyggumos findet. 


484 Diesih 


Wort felbft. Im Gegenfag zum gewaltfamen Fortreißen (den«- 
Gew) ift yagsodaı nur das Beeinflußtwerden von einer fremden 
Kraft. Zu gleicher Zeit. erſcheint nad) dem Ausdruck diefe Kreft 
als eine ftetig wirkende. Der in den Propheten waltende Gotte 
geift durchdringt, trägt, hebt und leitet ihre gefamte innere Lebens 
thätigeit; feine Gottesfraft wird auch in ihrem Worte figtbar. 
Ihr fehriftliches Zeugnis *) darf daher von diefem Einfluß des in 
ihnen wirfenden Gotteögeiftes nicht abgelöft werden. Vermöge dieſer 
dauernden Gegenwart des Offenbarungsgeiftes partieipiren aud bie 
Schriften diefer Männer an der Yufpiration. Wie Eräftig eben 
die Wirkfamfeit des göttlichen Geiſtes gedacht ift, beweift die Stellt 
1 Betr. 1, 10—12, wo die Weißagungsreden als etwas von jem 
fubjectiven Geifteserzeugnis der Propheten Unterfchiedenes, dieſen 
ſelbſt Gegenftändfiches dargeftellt find. 

Bon dieſer Anfhauung, wonach in den altteftamentlichen Schriften 
nicht ein menſchlich Zeugnis nur vorliegt, vielmehr ein von dr 
Kraft des göttlichen Geiftes getragenes Bezeugen göttlicher Offer 
barungsworte und Offenbarungsthaten, ift es herzuleiten, wenn die 
Apoftel und der Herr felbft das yeyganzas fo fehr betonen (Rn. 
1, 17; 2, 24; 3, 4. 10 u. öft. Matth. 26, 24. Mark. 9, 13. 
Luk. 18, 31). Was in der altteftamentlihen Schrift ſich finkt, 
das ift aud für die Gläubigen von den Apofteln als ein gättlih 
Wort bezeichnet (Röm. 15,4: sis ırjv juersgav didaozalin 
moosygaym; fiche auch 1 Kor. 9, 9. 10. Röm. 4, 23. 2. 
Dem entfprechend argumentirt 3. B. Paulus aus einem einzelnen 
Buchſtaben des aftteftamentlichen Schriftworts ; fo Gal. 3, 15.16). 

Wir fönnen demnach fagen: Das N. T. bezeichnet das 
a. T. theils direct, theils indirect als authentifges 
Zeugnis göttliher Offenbarung, es weiß ſich dadurh 
trog des Unterfchiedes in innerer organifcher Einheit 
mit demfelben und begründet den Offenbarungé— 
charakter des altteftamentliden Schriftwortes durch 








a) yeapäs nachdrucksvoll hervorgehoben als Fanonifches Produk. . 
b) Diefer Stelle fügt Kahnis (uth. Dogm. II, 156) als chalich bi 
Sut. 20, 87. 


Die Lehre von ber Inſpiration der Schrift. 485 


die Geifteswirfungen, unter welchen die Offenbarungs- 
jeugen ftanbden. 

Bir haben nım aber weiter zu fehreiten zum Hauptpunkt uns 
ferer bibkifchen Unterfuchungen, zur Entfcheidung der Frage: Was 
ſagt das N. X. über feine eigene Entftehung, und was 
läßt fi demgemäß aus feinem eigenen Zeugnis über 
feine Infpiration entnehmen? 

Man begründet die Thatfache der Schriftinfpiration beim N. T., 
imöbefonbere bei den apoftolifchen Büchern, gemöhnfih aus den 
Borten des Herrn in Matth. 10, 19. 20 (vgl. Mark. 13, 11. 
uf. 12, 11. 12; 21, 14. 15); es war dies namentlich für die 
orthodor = lutheriſche Auffaffung ber Schriftinfpiration eine gern bei⸗ 
gezogene Beweisftelle, fofern in ihr eine reine Baffivität des menſch⸗ 
lichen Geiftes gelehrt, und Stoff, wie Form des apoftolifchen Zeuge 
niſſes unter die Eingebung des göttlichen Geiftes geſtellt fchien 
(die befannte suggestio rerum et verborum). Es ift dem Sinn 
der Stelle zuwider, mit Hafe*) zu fagen, der Herr Habe dieſe 
Verheißung feinen Jungern nur für den Fall eines Zeugniffes vor 
der geiftlichen oder bürgerlichen Obrigfeit gegeben, nur da dürfen 
fie ſich auf die in Ausficht geftelfte Geiſteswirkung Rechnung machen. 
Ver fieht nicht ein, daß der dort verheißene Geiftesbefig für ihre 
gefamte apoftolifhe Thätigleit gilt? Mit Recht ſtellt 
daher Lut hardt ) Matth. 10, 19. u. Lut. 12, 11f. mit den 
anderen Stellen zufammen, in welchen den Apofteln für ihren Beruf 
and fpeciell für die Verkündigung und das Zeugnis von Chriſto 
der Geiſt der Wahrheit verheißen ift (Joh. 14, 26; 15, 26f.; 
16, 13). Wir dürfen alfo die erwähnten Stellen ohne alfen 
Zweifel auf das mündlide Zeugnis der Apoftel über- 
haupt anwenden. Bei biefem Zeugnis nun gibt fich der göttliche 
Geift fund als das in ihnen wirffame, fie beftelende Princip, wobei 
übrigens die eigene Activität ebenfowenig ausgeſchloſſen ift, als 
Gal. 2, 20 (im Onadenftand) oder (im Stand der Sünde) Röm. 
7, 17. 20 ©), 


3) Evang. Dogm. (8. Aufl.), ©. 872. 
b).Eompenbium der Dogm. (2. Aufl.), ©. 226. 
e) Siehe auch 2Kor. 3, 5. 
Theol. Stub. Jahrg. 1869, 32 


“ Diebſch 


Ganz im Einklang mit den ſchon abgehandelten Stellen ſiehen 
die anderen, in welchen der Herr von einer ſolchen Geiftesausrüftung 
hei feinen Jungern rebet, dag ihr Wort ober Zeugnis als das 
feinige gelten fönne (fiche Luk. 10, 16. Joh. 17, 18; 18, 2; 
20, 21; 15, 26f.; 14, 26; 16, 12—15). on dem in bı 
Zümgern wirkenden Geift Gottes ift ein Doppeltes gefagt, das Er: 
innern und das Lehren; er führt ifmen alfo die gehörten Wort 
deutlich und richtig vor, ruft ſie ihnen in's Gedächtnis zuräd un 
leitet fie tiefer Hinein in die ihnen gepredigte und von ihnen weiter 
zu prebigende Wahrheit. Steht aber fo ihr mundliches Zeugit 
unter der Wirkung des fie leitenden, in ihnen waltenden Geifte, 
follte das ſchriftliche von folcher Wirkung ausgenommen fein? Nah 
2 Theſſ. 2, 15 ftehen der Adyos und bie EmsoroAr; auf gleichet 
inte, fofern der Adyos auch durch die ErrıozoAn ſich volzicht 
(2THeff. 3, 14). Ebenſo ift nach Gal. 1, 8. 12 fein Unterſchid 
der Dignität zwiſchen mundlich verfündigtem und ſchriftlich firirtm 
Wort *). Dies geht aud hervor aus 1Kor. 15, Uff. 2Tin. 
1, 18f.; 2, 2; 3, 14.190. 1, 1-4. Gomit ift die Bir: 
famfeit des göttlichen Geiftes, weiche den Apofteln für ihren Zeugen 
beruf verheißen ift vom Herrn, auch bei der Abfaffung ihrer Schriften 
anzunehmen. 

Freilih könnte fi) immer noch fragen, ob denn in der De 
der Herr im feinen Abſchiedsreden bei Johannes, auf welche ma 
ſich vorzugsweiſe beruft, gerade feinen Apofteln eine ſpecifiſch 
Geiftesausräftung verheißen habe. Man Hat auch mit Bew 
auf jene Reden bemerkt, der Geift als der Paraffet fei dort allm 
Züngern Jefu verheißen, und der Gegenfag, in welchem fid jene 
Abſchiedsworte bewegen, fei nicht der zwiſchen den Apofteln un 
den übrigen Ehriften, fondern der von Jüngern Jeſu und der Welt’). 
Und es ift wahr, in zahlreichen Stellen des N. T.'s ift den leben⸗ 
digen Chriften aller Zeiten der Beſitz des heiligen Geiftes werheißen 
(. B. 1Ror. 3, 16; 6, 19. Röm. 8, 9. Gal. 3, 2; 4,6. 


3) Siehe auch Philippi, Kirchl. Glaubenslehre I, 217 Anm u. 2891. 
b) So Elwert a. a. O. und Rothe, Zur Dogm., S. 204f. — .Eirk 
in diefer Hinficht Philippi, Kirchl. Glaubensiehre I, 308. 





Die Lehre von der Infpiration der Schrift. 487 


1Theſſ. 4, 9; namentlich auch 1 Joh. 2, 20. 27). Aber man 
darf es nicht wergefien, daß den Apofteln der heilige Geiſt 
nit bloß für ihr Chriſtenlebben überhaupt, ſondern 
für einen bedeutfamen Zeugenberuf geſchenkt wird; 
die Geiftesmittheilung äft bei ihnen in-erfter Linie Amtsbegabung *); 
fie find die „Geiftesbenmten“ unter den Geiſtesmeuſchen. Wie in 
ben Weltverhältnifien eine Ubftufung der Gaben und damit au 
der Berufsftellungen ftattfindet, fo richtet ſich auch im Reihe Gottes 
die-Stelung des Einzelnen nad) dem Maße der Geiſtesmittheilung 
(18or. 12, 4ff. 1 Petr. 4, 10. Eph. 4, I1ff.). Eine beſondere 
Dignität ergab fig für die Apaftel auch noch aus dem perſönlichen 
Verhältnis, in welchem fie zu Jeſu felbft ftanden (Joh. 15, 26f. — 
fiche was in diefer Beziehung Paulus vom fi fagt 1Kor. 9, 1; 
15, 8f. Gal. 1, 16). — Der Herr ſelbſt hat den Jungern = 
ftreitig gerade für ihren apoftolifhen Beruf eine befondere Aus⸗- 
tüftung mit dee Kraft des heifigen Geiſtes verheißen vor dem Ap- 
tritt feines Leidens (Joh. 14, 26; 16, 12f.) und vor*feinem Hin⸗ 
gang zum Bater (Act. 1, 8). Diefe Bergeißung ift erfüllt worden 
am Pfingftfeft (Act. 2). Bon da an beginnen fie ihr Werk, und 
ſowol die Kraft, mit der fie dasfelbe anfangen und ausrichten, wie 
der Erfolg, den ihre Predigt Hat, beweiſen es, daß der Pfingftiegen 
in reihem Maße auf fie herabgejtrömt ift. Vermöge des in ihnen 
waltenden Geiftes betrachten und bezeichnen fie das von ihnen ge⸗ 
predigte Wort ausdrücklich als Gottes Wort d) (1 Theſſ. 2, 13. 
2Ror. 4, 5; 5, 20; 13, 3. Eph. 3, 4. 5. 1 Betr. 1, 25). So 
ſchreibt ſich der Apokalhptiker ausdrücklich Infpiration, zu (Apot. 
1,10; 4, 2; 21, 10). Sind des Apoſtels Vorſchriften zu be⸗ 


a) Mit Recht Hat Hierauf auch D. Voigt Gewicht gelegt in feinem Artikel 
von der göttlichen Offenbarung und Infptration in der Zeitfehrift: „Beweis 
des Glaubens“ (1868), ©. 75. Gr fagt: „Der Zwed der Erleuchtung 
if ein rein perfönlicher, nämlich das erlöfungsbedärftige Subject zur An« 
eignung ber in der objectiven göttlichen Offenbarung dargebotenen Gnade 
Gottes zu befähigen; der Zweck der Infpiration ift ein amtlicher, nämlich 
die Propheten und Apoftel zur getreuen Ueberlieferung der göttlichen Offen- 
barung tüchtig zu machen.“ — ‚Siehe auch Kahnis, Luth. Dogm. II, 160. 

b) Siehe uthardt, Compendium ber Dogım., ©. 225. 

32% 


488 Diesid 


trachten als Chriſti Vorſchriften (1 Kor. 14, 37), fo fan bis 
nur dadurch möglich fein, daß der Geiſt, der, was er lehrt, von 
Ehrifto nimmt (oh. 16, 14), dem Apoftel Paulus voor Koiri 
(1Ror. 2, 16) mittheilt. Und wenn Paulus aud 3. B. Ih. 
7, 10. 12. 25. 2Kor. 11, 17 feine perfönlichen Anfichten vom 
"Wort: des Herrn unterfcheidet, fo macht er doch auch für fie va 
Anfpruch geltend, daß fie aus dem Geift Chriſti hervorgeganu 
find. Wir Haben aber bier eine beadjtenswerthe Unterſcheidun 
zroifchen den Gedanken, welche die Offenbarung durch dem Geil 
Gottes dem Apoftel unmittelbar zuführt, und folchen, die exit durd 
Reflexion auf diefe mitgetheilten Dffenbarungswahrheiten entfikn 
aus einem gotterleuchteten Sinn heraus. 

In der am Pfingftfeft erfolgten Geiftesbegabung Tiegt es br 
gründet, wenn das apoftolifche Zeugnis nad. Inhalt (1 Kor. 2, 10) 
und Form (1 Kor. 2, 13) auf den Geift Gottes zurückgeführt wird‘). 
Den Inhalt der Offenbarung theilt der Geift den Apofteln mit, un 
aud) die Form, in welder fie biefen Inhalt ausfprechen, ift ein 
geiftgewirfte. Was die didaxzoi rrreuuaros Aöyos find, das t- 
gibt fi aus dem Gegenfage, den dıdaxsoi avsgwrtvng vopla 
Aöyor. Die fegteren find Worte, wie fie die menfchliche Nhetorl 
und Dialeftit an die Hand gibt; demnach haben wir unter du 
dudaxrol mreduuros Aöyoı ſolche Worte zu verftehen, die hervor 
ftrömen aus einem vom Geift Gottes erfülten Herzen, ohne di 
eine befondere Arbeit oder ein befonderes Studium erforderlit 
wäre). Und Kling ®) jagt mit Recht: „An eine wirkliche En— 
gebung ift nicht zu denfen, fondern an eine auch die Sprade und 
Darftellung kräftig durdydringende Witkſamkeit des Geiftes, an ein 
einfachen Vortrag, wie er unmittelbar aus dem vom Geift Gott! 





a) Sonntag (a. a. O., ©. 63) nennt diefe Stelle einen celeberrimus I 
eus für das Dogma von der Inſpiration, gefteht dann aber ſelbſt un 
fangen zu, daß fie neutiguam ejusmodi est, ut inspiratio verbalis inde 
prodeat, nisi admodum verba premuntur. 

b) Siehe Tholud a. a. D., ©. 344; Rothe, Zur Dogm., ©. 211. 

© Comm. zu den Korintherbriefen in Lange’s Bibelwert (2. Aufl. 1865, 

©. 45. — Siehe auch Kahnis, Luth. Dogm. IIT, 158. Philippi 

Kiraht. Gfaubenslehre I, 246 Anm, 





Die Lehre vom der Infpivation ber Schrift. 489 


ergriffenen Gemüthe hervorgeht“. Dabei bfeiben alfo beftehen die 

Eigentümlichteiten des Stils der einzelnen Schriftfteller, fogar ein 

gewiffes Ringen mit dem Ausdruck, damit er die Fülle und Tiefe 

der Gedanken faſſe, eine Anfpannung aller geiftigen Kräfte *), felbft 
einzelne Mängel und Unebenheiten der Diction (wie fie die pau- 
liniſchen Briefe vielfach zeigen); — aber an allem fieht man die 
geifterfülfte Form. Ich darf mir Hier wol bie ſchönen Worte 
Rothe's ) zueignen:” „Was den überwältigenden Eindrud macht 
im Verkehr mit der Schrift, ift eben dies, daß hier die hriftliche 
Wahrheit in einer fo urſprünglich naturmahren, lebensfriſch ath⸗ 
menden, ducchfichtig reinen und majeftätifch gebietenden Erſcheimmgs⸗ 
form un entgegentritt, wie in ein überirdiſches Licht getaucht.“ 

In der That alfo ein venerabilis stilus spiritus sancti, nur 
nicht in äußerlich mechanifcher Weife gefaßt! Und es ift an ſich 
Mar, daß in dieſer Hinfiht mundliches und ſchriftliches Zeugnis 
der Apoftel einander gleich ftehen, wenn auch gerade fein unmittel- 
bares Zeugnis des N. T.'s für die Inſpiration der Schrift auf 
zumeifen ift. Ein ſolches Zeugnis des N. T.'s über feine Ent- 
ſtehung dur Infpiration der Schrift fehlt. Zwar werden 
2 Betr. 3, 16 die paufinifchen Briefe deutlich in eine Linie geftellt 
mit den nach 2 Betr. 1, 20 als infpirirt gedachten kanoniſchen 
Schriften des A. T.'s °), aber eine ftricte Infpiration der Schrift 
fann nicht in der Stelle liegen; denn Paulus ſchrieb nad dem 
Verfaffer zara s7v avro dodeloav voylavd). Und 
mit dem Eitat Asyeı yag 7 yeayj in 1Xim. 5, 18 weift das 
N. X. nicht auf ſich felbft zurüd, alfo nicht auf Xuf. 10, 7- 


a) Luthardt, Kompendium der Dogm., S.236, und deſ ſen Apolog. Bor- 
träge, UI. Theil (1867), ©. 144. 

b) Zur Dogm., ©. 165. — Ueber diefe Seite der Schrift fiche auch Bun⸗ 
gener, Rom und die Bibel, deutſch von Junger (1862), ©. 170ff.; 
Kleinert im „Beweis des Glaubens“ (1867), ©. 67; Lange, Dogm. 
I, 539. Köftlin, Der Glaube, ©. 281f. 

c) Dies find offenbar die Aoımar yoapal (gegen Schwegler, Geidichte des 
nadjapoftol. Zeitalters I, 497). 

d) Siehe Kahnis, Luth. Dog. III, 158f., der aud) noch anf das dus- 
vönra Gewicht legt. 


a00 Diedvich 


(Matt. 10, 10), fondern offenbar auf Deut. 25, 4. Wir halten 
dafür, dag das wa) Kärog u. ſ. m. nicht Mehr ein Theil des Ci⸗ 
tates ift. Die Wortinfpiratior im ftrengften Sinn liegt ferner 
met in dem 70 nveöne dnräg Adysı (1 Tim. 4, 1); dem 
oͤreac heißt bier nichts anderes al® „deutlich“ (fiehe den Ge 
brau won Ömros in Her. 5, 57. Plato Symp. 3132. De legg. 
VII, 8508). 

Wir werden demgemäß fagen dürfen: Durch den in ben 
Apofteln waltenden Bottesgeift ift ifrem Zeugnis, dem 
mündlichen und ſchriftlichen, ber Charakter der Gött: 
lichkeit anfgedrüdt nah Form und Inhalt; und eben 
deshalb find ihre Schriften zu betrachten als vollſtän— 
dige und rihtige Zeugniffe der Offenbarung. 

Wir dürfen das Letztere auch von den heiligen Gejchiehsfchreiben 
fagen, felbft dann, wenn ihre Bücher (wie 3. B. Luk.) aus ein 
Zufammenarbeitimg von Quellen entftanden find. Denn Bier hans 
delte es ſich im feiner Weife um eine übernatürliche Mittheilung 
des Inhalts durch eitte mechuniſche Inſpiration; vielmehr erinnert 
der Geift die, welche Augen und Ohrenzeugen waren, an alled, 
was jie gehört und gefehen (Joh. 14, 26), und macht fie dadurd 
tüchtig, treue Zeugen der Offenbarung zu fein; die anderen, bi 
welchen fchriftliche Quellen die Stelle unmittelbarer Erfahrung vers 
treten, befähigt der Geiſt Gottes, dem ihnen vorliegenden Stof 
richtig atifzufaffen und im richtiger Weiſe darzuftellen. Die Ber: 
arbeitung von Quellen, wie fie 3 B. die beiden gefchichtlichen Bücher 
des Apoſtelſchulers Lukas zeigen, ſchließt aljo die in unferem Sinn 
gefaßte Inſpiration des Geſchichtſchreibers nicht aus. 

Wie aber? wird man weiter fagen: find deun auch die uns vor 
liegenden Schriften richtige und vollftändige Zeugniſſe der Offen 
barung, bei denen wir die Anerkennung fordern müſſen, daß fie 
angefehen werden als Erzeugniffe des göttlichen Offenbarungsgeiftes 

ſelbſt? | Enthalten nicht die Geſchichtsbucher manches Ungenaue, 
mauche Differenzen und alſo felbft Unrichtigteiten? Gibt's nicht 
in den Briefen der Apoftel manches, was bloß als individuelle 
Anſchauung des einzelnen Schriftjteller8 oder gar als ein ihm zu: 
zuſchreibender Irrtum betrachtet werden kann? Und wollen über 





Die Lehre von ber Zuſpiration der Schrift. 491 


haupt die Apoftel Jeſu diejenigen infallibein Zeugen der Offen- 
barung fein, zu denen fie die von uns behauptete Geifteswirkung 
doch macht und machen fol? Ueber dieje Punkte müffen wir uns 
nod in der Kürze ausfprechen, damit wir bei der Entwidelung des 
dogmatifchen Refultates nicht mehr Fragen zu erörtern haben, welche 
bei der Betrachtung der Schrift jelbft ihre Antwort finden müffen. 

Um mit dem legtgenannten Punkt zu beginnen, fo hat man aus 
Bort und Geſchichte gegen die Inſpiration der Apoftel und bie 
Richtigkeit ihres Zeugniffes argumentirt, nämlich aus dem Belennt- 
nis des Jakobus (Jak. 3, 2) und aus dem Borfall mit Petrus 
(Sal. 2, 11—18)*). Wir müffen aber zum Verftändnis dieſer 
Stellen e8 beachten, daß au im Leben eines Apoftels ein Unter 
ſchied iſt zwiſchen Erkennen und Thun. Das durch den göttlichen 
Geift dem Apoftel offenbarungsmägig Erſchloſſene und Mitgetheifte 
fteht vor ihm als eine Wahreit, die ihm nun, zu perfönlicher Au« 
eignung dargeboten, eine Wahrheit des perfönlichen Lebens werden 
fol. Es gilt bei den Apofteln, zu ergreifen, wie fie ergriffen find 
(Bhl. 3, 12. 17). Auf dem Wege zur völligen perfönlichen Au— 
ägnung mag manchmal der Wille Hinter der Erkenntnis zurück⸗ 
bleiben (wie zu Lebzeiten Jeſu gar oft ihre Erkenntnis hinter dem 
Villen zurüdhlieb); e8 kommt dadurch zu dem von Jakobus zu⸗ 
geftandenen mraieıw. Und ein Beifpiel. hiervon haben mir bei 
Betro (Gal. 2, 11—14. 18). Es fehlte ihm nicht au der richtigen 
Etkenutnis vom Verhältnis der Juden und Heiden (fiche 3. B. 
At. 11, 1—17), aber, wie bei feiner Verleugnung des Herrn, 
wirft die ſinnliche Furt; diefe macht, daß er jene Erkenntnis im 
Veben verleugnet, weshalb auch Paulus fein Verfahren zu Antiochien 
als Örsdxgsoig bezeichnet. — Diefe beiden Stellen feinen uns 
alfo nicht zu jprechen gegen die Richtigkeit apeftolifcher Erkenntnis 
und apoftolifchen Zeugniffes ®). 

Sprechen aber nicht die Differenzen in den Hiftorifchen Büchern, 





3) So Rothe, Zur Dogm., ©. 294. 

b) Siehe darüber auch Mehring, „Zur Revifion des Infpicationsbegriffe” 
im der Zeitjehe. von Rudelbach und Guerike (1862), Heft I, ©. 2Bf. u. 
Philippi a. a. O. L 211ff. 


492 Diegih 


die Ungenauigfeiten oder gar Unrichtigleiten, die ſich im denſelben 
vorfinden für das, mas man aus ben foeben abgehandelten Stellen 
erweifen wollte und was wir in ihnen nicht finden konnten? Wir 
Teugnen ſolche Differenzen feineswegs und fehen es als ein ver- 
tehrtes Beginnen an, diefelben wegdisputiren zu wollen. Aber wir 
glauben, daß an ihnen die Behauptung der Inſpiration nicht feheitert. 
Diefe Differenzen-finden ſich doch nur in der Außenfeite, treffen 
aber und alteriren den Kern der Heilsgeſchichte Feinesmwege. 
Was maht es aus, ob in Jericho zwei Blinde geheilt worden find 
oder nur einer? Und felbft die Differenzen in den Berichten über 
die Auferftehung find unmefentlih, fofern fie die Thatſache im 
großen Ganzen nicht alteriven, jedenfalls die heilsgeſchichtliche Be: 
deutung bderjelben in feiner Weife beeinträchtigen. Das Gleiche 
gilt in Bezug auf die, zwifchen Synoptifern und Johannes hervor: 
tretende Differenz in Betreff des Todestages Jeſu. Sollte diefe — 
was übrigens noch keineswegs allgemein zugeftanden ift — wirklich 
beftehen, fo bleibt der Heilswerth des Todes Jeſu der gleiche, mag 
der Tob einen Tag früher oder einen Tag fpäter erfolgt fein *). 
Selbft Gedächtnisfehler können wir unbedenklich zugeben, z. B. 
Matth. 27, 9, wo eine Weißagung aus Sad. 11, 12f. dem Ye 
remia® zugefchrieben ift, oder 1Kor. 10, 8 (mag nun ber vom 
Apoftel Hier berührte Vorgang der Num. 16, 35. 49 oder der 
Num. 25, 9 erzählte fein) oder Gal. 3, 17.° Die Möglichkeit 
eines foldhen gibt der Apoftel Paulus felbft zu, wenn er 1Kor. 
1,16 fagt: Aoımov oux olda el zıva Adov EBarrıca. Diele 
Unrichtigkeiten in äußerlichen Dingen ändern daran nichts, daß die 
Schriften der Apoftel vollſtändige Zeugniffe göttliher Offenbarung 
find; man darf die Schrift nicht mit einem falfchen Maßſtab ftrenger, 
juridifeh genauer Urkundlichkeit mefjen. In diefer Hinficht fagt 
Reiff®) richtig: „Der Ausdrud, die Schrift fei Urkunde der 
Offenbarung, fagt zu viel und zu wenig. Zu viel, weil man von 
einer Urkunde dipfomatifche Genauigkeit verlangt, die Schrift aber 
fi) dagegen verwaren muß, mit diefer -Peinlichkeit behandelt zu 
a) Siehe Luthardt, Compendium der Dogm., ©. 226. 
b) „Glaube und Geiffen“, ein Bortrag (Detmold 1868), ©. 10. 





Die Lehre von der Imfpication der Schrift. 493 


werden. Zu wenig, denn bie Heilige Schrift will nicht bloß ein 
taltes urkundliches Referat fein.“ 

In den Briefen der Apoftel finden fi) manche individuelle Ans 
ſchauungen, ſogar Unrichtigfeiten, wie z. B. bie Erwartung ber 
Nähe der Parufie. Aber jene individuellen Anfchauungen ergänzen 
einander, und gerade durch dieſe Manigfaltigkeit der Gaben ftellt 
fih nach 1Ror. 12, 4 die reichgegliederte Einheit göttlicher Offen- 
barung dar. „Es ift“, fagt Semijch*) wahr und ſchön, „bie 
Pathologie des Göttlichen in diefer Welt, daß fein Offenbarwerden 
überall zugleich ein Herabfteigen, ein Sicherniebrigen ift. Es Tiegt 
ſchon in dem natürlichen Gegenfag des Endlichen und Unendlichen, 
daß das Göttliche fih den Einzelnen nie in der Totalität feines 
ebene mittheilt. — — Hierdurch begründet fich nicht bloß die 
Manigfaltigkeit der Auffafjungsweifen und Lebensformen, fondern 
auch die in dieſen zu Tage tretende Trübung. Es thut der Authen- 
ficität ber hriftlichen Heilsoffenbarung feinen Abbruch, daß bereits 
das apoftolifche Ehriftentum fich in einer Mehrheit wefentlich ab- 
geitufter Lehrbegriffe gliederte.“ Gerade in dieſer Manigfaltigfeit 
der Individualitäten explicirt fich die Univerfalität und der Reich 
tum der Offenbarung. Das Individuelle ift darum noch fein 
Falſches oder Unwahres; feine Bedeutung für den Gang der Offen- 
barung wird im dogmatifchen Nefultat näher aufgezeigt werden. 

Die Erwartung der Nähe der Parufte iſt von dem weiteren 
Geſchichtsverlauf der Offenbarung als ein Irrtum gerichtet, aber 
wir gaben zu beachten, daß der Herr felbft eine Mittheilung über 
diefen Punkt bei den an feine Jünger ergehenden Auffchlüffen aus- 
drüdlich ausnimmt (Act. 1, 7) und ausnehmen muß (Mark. 13, 32. 
Matt. 24, 36). Und da der Geift, was er vedct, von Chriſto 
nimmt (oh. 16, 14), jo fan auch fein Zeugnis von den dgxd- 
neve (oh. 16, 13) fich nicht beziehen auf die Nähe oder Ferne 
der Paruſie, und wenn bie Apoſtel hierin geirrt, fo fpricht dies 
nicht gegen die Annahme ber kräftigen Gegenwart des Offenbarungs- 
geiftes in ihnen und in ihrem Zeugnis. 

a) In feinem Artitel „Paulus in Korinth“ (Jahrbb. f. deutfche Theol. 1867, 

Heft II, ©. 1977). 


49 Dierig 


Oder zeigt ſich nicht — worauf man auch ſchon hingewieſen 
hat — in ihrer Auffaffung des altteftamentlichen Schriftwortes 
eine große Unvolftommenheit, die ihre Juſpiration gefährdet? So 
Mar aus der Art und Weife, wie fie das altteſtamentliche Bibel- 
wort anführen und anmenden, bei ihnen die Anfchauung von der 
Inſpiration der Schrift A. T.'s hervortritt, ebenſo ftreitig iſt, was 
aus dieſer ihrer Eitations- und Yuterpretationsweife fir ihre eigene 
Inſpiration folgt. Hier fehen die Einen *) nur die Unvollkommen- 
heit und die Srrtümer rabbiniſcher Auslegung, die Anderen ®). gerade 
die Höhe pueumatiſchen Schriftoerftändnifjes. Es handelt fich hier: 
bei um Stellen, wie Matth. 2, 6 (verglichen mit Mid. 5, 1), 
Matth. 8, 17 (vergl. mit Jeſ. 53, 4), Röm. 4, 16. 18 mb 
Sal. 3, 16 (in ihrem Verhältnis zu Gen. 13, 15), Eph. 4, 8 
(ogl. mit Pf. 68, 19) und um mehrere Stellen des Hebräerbriefes, 
in welchen nach LXX gegen den Sinn des Grundtertes citirt und 
argumentirt fei (alfo 3. B. Hebr. 1, 6; 10, 5; 12, 26f.). & 
ift hier nicht der Ort, näher auf diefe Stellen einzugehen. Man 
darf bei Beurtheilung ſolcher Stellen nicht überfehen, daß wir nicht 
überall ftrenge Auslegung der altteftamentlichen Schriftworte vor 
und haben, fondern mehrfad nur Anwendung berfelben oder Ber 
wendung zur Einkleidung der eigenen Gedanken eines neuteflament- 
lichen Schriftitellere (das Letztere ift z. B. Matth. 2, 6 der Fall) ). 
Bei den oben angeführten Stellen des Hebräerbriefes läßt fit 
meiner Anficht nad) ohne viel Mühe und ohne Verlegung der Wahr: 
heit beweifen, daß in ihnen der tiefere Sinn der angezogenen alt- 
teftamentlichen Stellen nirgends alterirt ift. Eph. 4, 8 erledigt 
fi durch die Annahme, daß in dem dem Apoftel vorliegenden Tert 
apar ftatt orpb ſtand. 


a) So auf Rothe, Zur Dognı., ©. 186 ff. 

b) Bie Stier, Reden der Apoftel (1861), Einf. ©. 7 u. 16. Auberlen, 
Die göttl. Offenbarung I, 215f. Bed, Propädeutik, S. 242. Phi 
Tippi, Kirdhl. Glaubenslehre I, 208 ff. Ereurs gegen Rothe). 

©) Siehe darüber Riggenbad, Lehen Jeſu, S. 215. Daß Ratth. 8, 17 
wicht als eine unrichtige umd der Auffafjung in 1 Pett. 2, 24 wider · 
ſprechende Ecllärung von Jeſ. 53, 4 angeſehen werben kann, darüber gl 
J. B. Jul. Köſtlin, „Die Frage Über das Wunder“ in Jahrbb. fir 
deutfche Theologie 1864, Heft I, ©. 2471. 


Die Lehre von der Zuſpiration der Schrift. u 


Und felbft den Fall gefegt, daß ber Berfaffer des Hebräerhriefee 
in den erwähnten Stellen einer fehlerhaften Weberfegung in falſcher 
Weiſe gefolgt wäre, der Sache nad find feine Ausführungen 
ſets richtig, und hierin erkennen wir deutlich das Walten des Offen» 
barungsgeiftes; die Inſpiration zeigt fi deutlich an dem Was, 
wenn auch nicht an dem Wie. Iſt au die Form des Beweiſes 
nicht richtig, fo findet fi doc in dem Materiellen, welches be 
wiefen werden joll, kein Irrtum. Und gerade aud in der Frei⸗ 
beit dem Buchftaben gegenüber zeigt fich die Freiheit des die Apoftel 
befeelenden @eiftes *). — Ebenfowenig Tann der Charakter der 
Infpiratton beftritten werben aus Bemerkungen, wie die vom Mantel 
zu Troas (2 Tim. 4, 13), oder aus Rathſchlagen, wie der an Tie 
motheus (1 Tim. 5, 23), melde man oft in lächerlicher Weife gegen 
die Infpiration geltend gemacht hat. Deun die Briefe, in melden 
fie ftehen, Haben in ihrer Entftehung etwas Berfönliches und Ges 
legenheitliches, und fo findet fich in denfelben auch manches Berfön- 
fihe (wie 3. B. die beigefegten Grüße) und Gelegenheitliche. Da- 
durch ift aber nicht umgeftoßen, daß die in diefen Briefen vor⸗ 
getragenen Wahrheiten aus dem Geifte Gottes geboren find, welcher 
nad der Verheißung des Herrn auf feinen Apofteln ruht. 

Wir faffen das Ergebnis diefer biblischen Ausführungen, denen 
in einem weiteren Artifel die dogmatifche Erörterung der Schrift: 
infpiration folgen joll, iu Folgendem zufammen: 

1. Die Schriften des 9. und N. T.'s wollen als authentifche 
Zeugniſſe göttlicher Offenbarung gelten, und fie find die durch den 
in den DOffenbarungsorganen waltenden Geift Gottes. 

2. Iſt aud für die Entftehung der Schrift als folder keine 
fpecififche Geiſteswirkung nachzuweiſen, fo eignet ihr doch der 
Charakter der Inſpiration nach Form und Inhalt, fofern fie her- 
rühet von Männern, in welden der Geiſt Gottes wohnte. 

3. Insbeſondere ift bei den Apofteln Jeſu zu beachten, daß die 
Geiftesausrüftung bei ihnen als die ihnen vom Herrn verheißene 


3) Siehe in biefer Hinficht die treffenden Bemerkungen von Landerer, At. 
„Sermeneutit“ in Herzogs Realencytl. V, 798 ff. 


496 " Möpper 
Amtsbegabung anzufehen ift, durch welche ihr Zeugnis als ein voll- 


ftändiges und richtiges Zeugnis der Offenbarung in Chriſto er: 
möglicht und dargeftellt ift. 


3. 


Die Bedeutung und der Zweit des Abſchnitts Kim.5, 124 
erläutert von 


Lic. X. Kloöpper in Königsberg. 





Die Abſicht des Verfaffers der nachfolgenden Studie über de 
genannten hervorragenden Abfchnitt des Briefes Pauli an die Röme 
ift nicht ſowol, einen ausführlichen Commentar desfelben zu geben, 
in welchem alle Einzelnheiten jenes beſprochen würden, als vielmehr 
den leitenden Gedanken der vorliegenden Deduction aufzuzeigen, dit 
Tendenz darzulegen, welche der Apoftel in der hier zwifchen Adan 
und Chriftus gezogenen Parallele verfolgt. Denn obgleich in den 
bisherigen exegetifchen Beſprechungen diefer Stelle nicht gerade ſcheu 
alles Einzelne bereits zu vollfommener Befriedigung aufgehelt fein 
möchte: fo find es doch verhältnismäßig weit weniger biefe oder 
jene grammatitafifchen und lexikaliſchen Schwierigkeiten, bie einer 
neuen Löfung harrten, als vielmehr die mangelnde Klarheit in der 
Beitimmung des Zweckes, den der Apoftel in dem in Rede ſiehen- 
den Paſſus verfolgt, was dem Verfaffer eine von neuem aufzunch 
mende Erörterung desſelben als wünfchenswerth hat erfcheinen Laffen. 
Und dies umfomehr, als gerade Werke, in denen es zur Haup- 
aufgabe gemacht wird, den Gedankengang des KRömerbrieftd 
aufzuzeigen, die Tendenz auszumitteln, von welcher der Apoftel 
der Gemeinde der Welthauptftadt gegenüber in feinem Sendſchreiben 





Die Bedeutung u. d. Ziwedt d. Abſchnitis Röm. 5, 12—21. 497 


an fie geleitet wird, Mar zu legen, die fpecielle Bedeutung unferes 
Abſchnittes ums theils in verfehlter, theils in ungenügender Weiſe 
aufgefaßt und angegeben zu haben feinen. Zur Rechtfertigung des 
chen Angedeuteten und damit zugleich einer neu anzuftellenden kurzen 
Analyfe des beregten Abfchnittes wird ein Hinblick auf einige der 
neneften Angaben über die Bedeutung und den Zwed desfelben ges 
nügen, 

Die allgemeine Borausfegung, von ber bei ber Erffärung von 
Röm. 5, 12—21 ausgegangen wird, pflegt die zu fein, daß wir 
in diefem Paſſus ein ziemlich in ſich abgefchloffenes, für fid be» 
ftehendes, felbftändiges Ganze vor uns haben. So belehrt uns 
Bhilippi*), um ihn zuerft zu citiren, der Apoſtel fei bis dahin, 
wo unfere Stelle beginnt, „zu einem Hauptabſchnitte feiner Ent⸗ 
widelung gelangt, ja er hatte eigentlich da® Grundthema feines 
Briefes in feinen wefentlichen Momenten alffeitig entfaltet. Che 
er num aber eine neue Debuction an die vorige anknüpft, blict er 
nochmal auf den Gefamtinhaft feiner bisherigen Darftellung zurüd 
und faßt diefelbe in Form einer Parallele, die er zwiſchen Adam 
und Chriſtus zieht, abfchließend zufammen .... Doc hat der 
Apoftel ſich nicht direct zum Zwecke geſetzt, biefe neuen und wiche 
tigen Gedanfenmomente* (Philippi Hat als folche namhaft gemacht: 
die Lehre von dem erften Urfprung der Sünde, die felbftändigere 
Hervorhebung der Genugthuung Chrifti, den Zweck des Gefeges, 
die überwiegende Fülle und überfchwängliche Herrlichkeit des Heiles 
in Chrifto) „in nachträgliche Entwidelung ergänzend beizubringen; 
vielmehr hat die Parallele, deren Haupttendenz V. 12. 18. 19 
vorliegt, an fih und unmittelbar nur den Zwed eines vergleichenden 
Rückblickes und zufanmenfaffenden Abjchluffes.“ Man ficht, Phi- 
ippi Täßt den Apoftel in dem betreffenden Abfchnitte einen doppelten 
Zweck verfolgen, wobei der eine, die Beibringung einer Anzahl von 
ıuen „Lehren“, allerdings nur ſecundär ift; als Hauptzweck da⸗ 
jegen erfcheint Mecapitulation des ſchon früher Entwidelten. — 
ein es fragt ſich doch, ob biefer voransgefegte doppelte Zweck 
ei unferer Stelle fi) als haltbar erweift. Denn treten hier wirk⸗ 


a) Eomment. über den Brief an die Römer (3. Aufl.), ©. 197. 





8 2löpper 


lich eine ſolche Anzahl von gewichtigen newen „Lehren“, wie fie der | 
gedachte Exeget aufführt, mit einer gewiſſen Selbftändigkeit im 
Mömerbriefe zum erſtenmale auf, jo begreift man nicht recht, we 
zum der poftel fie fo im Vorbeigehen bei Recapitulation von be⸗ 
reits abgehandelten Materien follte untergebracht haben. Und um» 
gelehrt: Thut Paulus hier nur Rüdblicke anf etwas ſchoun Ab- 
gemachtes, fo dürften die angeblichen neuen „Lehren“ ſchwerlich den 
Auſpruch auf ſolche Schftändigkeit und Bedeutung Haben, wie und 
Philippi glauben machen will. Ya auch, wenn man wur am dem 
Einen fefthält, daß ber Apoftel hier im dieſem Abſchnitte eigentlich 
fachlich nichts Neues gibt, fondern nur Rückblicke anſtellt, fo Hat 
diefe Annahme nad) dem, was uns fonft von feiner Schreibweiſe 
befannt ift, nicht gerade viel ſich Empfehlendes. Diefelbe ift näm- 
lich fonft überall, vor allem im Briefe an die Römer, in einem 
jo ftrengen dialektiſchen und argumentirenden Fortſchritte begriffen, 
daß für folche im rhetoriſchen Intereſſe gefegte Ruhepunkte mit 
‚angeftellter Retroſpective namentlich von folher Ausdehnung, wie 
Hier angenommen wird, ſchwerlich Raum gelafien werden darf. 
Dürfen wir daher wol ſchon aus diefen allgemeinen Gründen einen 
Zweifel an der Richtigkeit der von Philippi aufgezeigten ende 
unſeres Abſchnittes notiren, fo wird, bevor wir jenen durch ſpe⸗ 
ciellere Gründe verftärken, eine vorläufige Berüdfichtigung anderer 
Auctoritäten nur wunſchenswerth erfcheinen können. 

Nah Baur *) erhebt ſich Paulus, nahdem er Röm. 5, 1—11 
im Uebergange zu der Hauptftelle 5, 12—21 die aus der Recht⸗ 
fertigung durch den Glauben fließenden Seguungen in einem all- 
gemeinen Ueberblick in's Auge gefaßt hat, Kap. 5, 12—21 auf den 
höchſten Standpunkt, den der religionsgefhichtlihen Betrachtung, 
um ſowol von biefer Höhe herab den abfoluten Anſpruch des Juden⸗ 
tums zu beleuchten umd zu widerlegen, als auch den Judaiſten einen 
Geſichtspunkt zu eröffnen, von welchem aus ihre altteftamentliche 
Anſchauungsweiſe ſich am leichteften mit ber neuen Vehre würde 
befreunden können, — Man ſieht, bei Baur hat der in Rede 
ftehende Abſchnitt eine größere felbftändigere Bedeutung, als wie 


3) „Paulus“ (2. Aufl), ©. 3761. 





Die Bedeutung u. d. Zwed d. Abſchnitts Röm. 5, 12—21. 499 


ihm Philippi beifegt. Altern die bewußte pofemifche Tendenz gegen 
den Judaismus, die der große Kritiker Hier findet, fcheint denn doch 
offenbar von aufen in den Paſſus Hineingetvagen, wicht aus ihm 
felber entnommen zu fein. Denn der gegen den Yubaismus ger 
richtete polemifche Gedanke: „daß das Geſetz und die ganze auf ihm 
berugende Heilsorbnung nur einer untergeordneten Stufe der reli⸗ 
giöfen Entwicelung angehört, fomit nur eine relative Bedeutung 
hat und fich zu der auf fie folgenden nur negativ verhalten kan“, 
mag immerhin als ein an fich paulinifcher und als eine Eonjer 
quenz aus V. 20 abgeleitet werben. Allein die Bedeutung bed 
vöwog fpielt in unſerem ganzen Abfchnitte in jedem Falle nur eine 
fo nebenfächlie Rolle, daß in deſſen Herabbrüdung zu Gunften 
der Glaubensgerechtigkeit nie und nimmer die Haupttendenz beö- 
felben gefunden werben darf. 

Mangold“) endlich weift die Tendenz bes Abfchnittes in fol- 
gender Weife nach: „Indes, ftatt die Folgen der Rechtfertigung, 
welche der Apoftel als eigrvn zufammengefaßt hat, noch weiter im 
einzelnen auseinanderzufegen, wendet er ſich zunäcit dazu, auf die 
hohe Bedeutung der durch die Rechtfertigung verliehenen Gnade 
Binzumeifen. ! . . An diefem Verhältnis, welches zwifchen Adam 
und Chriſtus ftattfindet, mögen die Lefer die Größe des Heiles 
erfenmen, das die heidenchriftliche Predigt ipnen zu verfünden hat.” — 
Alſo auch nach Mangolds Auffaffung findet in der Argumentation 
des Apoftels fein eigentlicher fachlicher Fortſchritt ftatt; vielmehr 
läßt Paulus 5, 11 den angefangenen Faden der Erörterung fallen 
und macht — man ficht im einzelnen nicht recht, wie und aus 
welchem Grunde, eine rüdläufige Bewegung, „um noch einmal die 
am tiefften gegriffene Rechtfertigung feiner uuiverfatiftifchen Lehr⸗ 
weife auszuſprechen.“ Allein diefe Anficht kann Mangold nur da 
dur) gewinnen, daß er ſich, hierin Baur ähnlich, nur an neben« 
ſachliche Momente hält, namentlich, aber, was hoffentlich unfere 
ganze von ber felnigen durchweg abweichende Auffaffung erweifen 
wird, den eigentlichen Nero der pauliniſchen Argumentation nicht 
erfannt hat. 


a) Der Römerbiie, ©. 116f. 


500 Klöpper 


Dod gehen wir nun dazu über, unfere eigene Anficht darzulegen, 
die um fo ſicherer gegründet fein wird, wenn fie ſowol den org 
nifhen Zufammenhang des betreffenden Abſchnittes mit dem Bor- 
angehenden, als auch den in ihm enthaltenen ftreng Logifdyen Fort: 
ſchritt aufzuzeigen, als auch für das Einzelne eine möglichſt un 
gezivungene, dem Wortlaut entjprechende Deutung nachzuweiſen im 
Stande fein wird. 

Baulus beginnt von Kap. 5, 1 an die feligen Folgen der mittelt 
des Glaubens erlangten Gerechtigkeit den Lefern zum Bewußtfein 
zu bringen. Der erfte und unmittelbarfte Effect der durch göttliche 
Gnade bewirkten Rechtfertigung ift der Friede mit Gott (8. 1). 
Mit ihm ift auf's engfte verbunden die Hoffnung auf einftige Theil: 
nahme an ber Gott eigentümlichen Glorie (dök« zod Jeod 8.2). 
Selbft die Erduldung gegenwärtige, auch für die Gläubigen mit 
ihrem irbifchen Dafein unzertrennlich verfnüpfter Drangfale vermag 
nicht jene Hoffnung auszulöjchen. Im Gegentheil, das Bewußtſein, 

. daß Anfechtungen der Gerechtfertigten nur zu volllommnerer Aus 
bildung ihres inneren Menſchen, zur Kräftigung und Vollendung 
der Hoffnung felbft zu dienen geeignet feien, Läßt jene fich felhit 
ihrer Drangfale rühmen (V. 3 u. 4). Das aber, woran fi dir 
Hoffnung als an etwas, was nicht täufchen kaun, Hält, ift die durh 
den heiligen Geift dem Herzen der Gläubigen zu fubjectiver Erfah 
nis reichlich geſchenkte Liebe Gottes (B. 5). Denn diefe Lid 
Gottes hat fich objectiv bereits in dem von Chriftus zu Gunftn 
von Subjecten, die jener am wenigften werth waren, übernommenen, 
einzig in der Menfchheitsgefchichte daftehenden Opfertobe zu ertemen 
gegeben (B. 6—8). Erfuhren nun ſchon gottloje Sünder einen 
ſolchen Erweis bisher unerhörter, unverdienter Liebe, der ihnen aus 
ftatt des eigentlich nad) Recht ihnen zulommenden göttlichen Zornes 
für da8 dDiesfeitige Leben den Frieden und die Freude der Berföhe 
nung fhenkte: fo dürfen ſich die auf Grund des fühnenden Blutts 
Chriſti bereits Verſöhnten (Gerechtfertigten) mit Zuverſicht deſen 
getröſten, daß ihnen auch in der Zukunft durch Chriſtum Er 
rettung von der großen göttlichen Zornesoffenbarung *) beim End⸗ 


a) Es ift die nämfiche, die Paulus 1 Theſſ. 1, 10 7 deyn  Eezopern nem. 
» 





Die Bedeutung u. d. Ziwed d. Abſchnitis Am. 5,12—21. 501 


gericht und ewiges Heil anf Grund feines ewigen (himmliſch⸗ 
verflärten) Lebens zutheil werden werde (V. 91.10). Dieſe felige 
Ausficht für die Zukunft aber Haben die Gläubigen nicht bloß in 
Form einer matten, unlebendigen, fondern einer freudig ſich Gottes, 
durch den fie ja fr die Gegenwart das fo große Seligfeit mit fich 
führende Gefchent der Verföhnmg (als Angelt) empfangen Haben, 
faut rüßmenden Hoffnung (8. 11). 

Sehen wir nun auf den kurz analyfirten Abfchnitt zurück, fo ift 
es vor allem ein Punkt, um den fich die Argumentation des Apoftels 
dreht, nämlich die Hoffnung der Gfäubigen auf einftige Theilnahme 
an der göttlichen Herrlichkeit. Diefe Hoffuung erfcheint bedroht 
durch Drangfale, denen die Gläubigen keinesmegs für die Dauer 
diefes Aeon enthoben find. Dem vulgären, namentlich auch ji 
diihen Bewußtfein erſcheinen Leiden und Trubſale als göttliche 
Zornesoffenbarungen. So aufgefaßt, können fie leicht auch in den 
Gerechtfertigten den Meingläubigen Gedanken erweden, fie feien, 
wenn auch mittelft des Glaubens der göttlichen Gnade theilhaftig ge- 
worden, doch damit immerhin noch nicht für die Zukunft deſſen 
fiher und gewiß, daß fie aud am großen Gerichtstage dem gött⸗ 
fihen Zorne entrinnen würden. Ein ängftlihes Gemüth konnte ja 
gerade in den zu ertragenden Drangfalen Anticipationen des gött⸗ 
lichen Zornes fehen, der im vollen Maße beim Endgerichte ſich 
manifeftiren und ein dem im (diesfeitigen) Mechtfertigungsacte ab» 
gegebenen göttlichen Urtheilsfpruche entgegengefegte® Votum vers 
hängen werde. Golden Reflerionen eines zaghaften Kleiuglaubens, 
der auch bei den Gerechtfertigten zu Zeiten, namentlich in der Hige 
der Trübfale, die Oberhand gewinnen konnte, tritt der Apoftel mit 
der ganzen Kraft eines ungebrodenen, in fi durdaus ficheren 
Hoffnungsgefühles entgegen. Er weift den Drangfalen, ſoweit fie 
auch die Gläubigen noch treffen, eine ganz entgegengefeßte göttliche 
Abzweckung zu, als wie die ift, welche ihnen von dem Kleiuglauben 
veigemeffen wurde. Damit fällt auch der auf diefe falſche Inter⸗ 


von ber der vom Himmel her erwartete Chriſtus bei feiner Parufie uns 
Erlöfung bringen werde. Bon diefer erhofften Erföfung ift aud bie 
Rede 2 Xheff. 5, 8. 9. 

Theol. Stud. Jahrg. 1869. 88 


503 Klöpper 


pretation des Zwedes der Reiden gegründete, die Hoffnung trübende 
Schluß von der möglichen Verwandlung der gegenwärtigen göttlichen 
Gnade in künftigen Zorn in fi gufammen. An Stelle deſſen lehrt 
der Apoftel die Lefer eine andere Form des Schlicfene. Dirfer 
Analogiefchluß der lebendigen, durch nichts beirrten Hoffuung it 
folgender. Aus dem, was Gott an den Gläubigen bereits gethan 
hat, läßt ſich mit zweifellofer Zuwerficht ermeſſen, was er einfteus 
nod an ihnen tun werde. Erwieſen aber hat er ihmen beritt 
die denkbar größte Liebe. Und zwar abſolut Unwürdige waren ed, 
denen fie zutheil wurde. Durch die Rechtfertigung haben biefelber 
einen (zwar nicht fubjectio fittlichen, aber doch objectin fie Gott 
liebenswurdig macenden) hohen Werth vor Gott erlangt. Sollte 
nun nicht derartig qualificirten Subjecten das in Zukunft iger 
zugedachte göttliche Guadengeſchent um fo ficherer zutheil werden, 
als fie ja in ber Gegenwart ein außer allem Verhältnis zu ihren 
früheren fittlichen Wert ftehendes Gut bereit ſchon erhalten haben 

Iſt diefer Analogiefchluß, wie nicht bezweifelt werben kaun, von 
V. 5—11 durchgeführt, jo fragt fih nun aber weiter, ob er jdn 
mit V. 11 feinen völligen Abſchluß erhalten, oder ob es der Apoftd 
nicht für angemeflen erachtet hat, denfelben im Folgenden noch weitt 
fortzuführen, etwa zu dem Zwecke, um ihm noch eine größere Bin- 
digfeit und Sicherheit zu verleigen und ihn gegen etwaige Ir 
ftanzen unangreifbarer zu machen. In dieſem Falle würde ale 
mit V. 11 nicht ein Abſchuitt ſchliehen, und mit V. 12 ein neu 
beginnen, fordern die angefangene Argumentation würde ohme Unter 
brechung fortgefponnen werden. , Daß dem wirklich fo fei, dafür 
möchten ſchon im Voraus folgende Erwägungen ein günftiges Vor ⸗ 
urtheil zu erweden im Stande fein, das dann freilich weiter unten 
durch die fpecielle Durchſuhrung zu einem ſicheren Reſuliat we 
heben wäre. . 

Zunãchſt liegt auf der Hand, daß, for mell die Sache betrachtet, 
der Apoſtel auch von V. 12—21 die Methode des Geäliehens 
mittelft Analogie beibehält. Und zwar ift es im Grunde genommen 
ein Gedanke, den er auf diefe Weiſe zu immer klarerem Bewußt- 
fein und ſchärferem Ausdrud zu bringen ſich angelegen fein läßt. 
Es ift eine That Gottes in der Vergangenheit mit weitgreifen: 








Die Bedeutung ı. d. Zwed d. Abichuitts Röm. b, 12—21. 503 


deu Folgen, aus ber or eine That desſelben Gottes erſchließt mit 
noch umfafienderen Folgen für die Zukunft. Alſo ganz der 
namlicht Weg des Argumentixens, den er im Vorhergehenden inne 
gehalten Hat. Mber auch inhaltlich die Sache augeſehen, zeigt 
igon ein oberflachlicher Blick auf die Terminologie: &v Lauf Ba- 
alsdcovas (B. 17), eis dixaiwary Lang (B. 18), dixarcı zura- 
siadjaovser (B. 19), iva Baoılevon .. . eis lunv gie- 
rov (8. 21), daß der Apoftel zu Gunften her Lünftigen Selig 
bit, des ebchatologiſchen Heiles, der meſſianiſchen Herr- 
ſchaft der im Glauben Gerechtfertigten etwas zu erſchließen ſich ber 
wüht. Vergleichen wir damit zjs doing ved JEoH (1.2), ow- 
Ymaonsda ano vis ogyis (®. 9), vadyaonede Ey Fi La 
asaod (B. 12), jo fcheint vor der Haud alles dafür zu ſprechen, 
daß es ſich Hier, wie dort ganz um dasfelbe Handeln mörhte, nämlich 
die waufende chriſtliche Hoffuung betreffs der e8chatologiſchen 
Eeligfeit zu beruhigen umd zu kräftigen. Gehen wir daher mit 
dr Borausfegung an die Erklärung der Tendenz von V. 12—21, 
daß der Apoftel den im Vorhergehenden angejponnenen Baden ded 
Bedantens beineswegs habe fallen laffen, fondern ihn nur weiter 
jpinue, um ihn zu einer unzerreißbaren Kette zu formen, an welder 
der Anler der chriſtlichen Hoffuung gehalten wird: fo thun wir 
richte, wozu wir nicht im der aufgewiefenen Sachlage eine nor⸗ 
laufige Berechtigung hätten. 

Daß endlich die mit V. 12 anhebende Gedankenreihe durch dag 
dr Todzo in eine enge Verbindung mit dem Vorangehenden von 
dem Apoftel habe gefegt werden ſollen, möchte. ebeufowenig einem 
Zweifel unterliegen. Nur find wir leider nicht mehr im Stande 
nachzuweiſen, in welcher Weife. Denn dag in V. 12 ein avarı- 
ampdorop vorliegt, darüber ift man heutiges Tages fait allgemein 
einnerftanden. Mau hat fich freilich zugetraut, den vom Appitel 
zunüchſt nicht angefügten Nachſatz aus der weiter folgenden Der 
duction desfelben zu ergänzen. Allein man darf hierbei doch nicht 
vergeffen, daß, wenn dieß auch, was den ſahlichen Gehalt des 
Nachſatzes anlaugt, gelingen mag, man trogdem dach immer im 
Dunkeln bleibt, wie Paulus formell ftiliftifch urſprünglich 
habe fortfahren wallen. Deshalb können wir vor der Hand nur 

. 33* 


504 Klöpper . 


darauf hinweiſen, daß dur das dee zodzo das Folgende mit 
dem Vorangehenden in eine enge logifche Beziehung Habe gejegt 
werben jollen; aber über da6 Wie können wir für den Augenblid 
gar nichts feftftellen und vielleicht erft am Schluſſe der Nachweiſung 
der Tendenz des betreffenden ganzen Abſchnittes felbft eine ungefähre 
Bermuthung auftellen. 

Der Apojtel jagt nun aljo in V. 12: duch einen Menfchen, 
der natürlich Adam ift, fei die Sünde im die Welt (d. 5. in die 
jegt von Meufchen bewohnte tellurifche Welt) eingetreten, und durd 
Vermittelung der Sünde der Tod. Allein uid,t die einzelne Perjon 
des Adam war es, an welcher allein der Tod als eine meue for 


mifche Erfeinung zu Tage trat. Vielmehr bahnte fich derſelbe 


von ihm aus den Weg zu allen Menſchen, Ep & rmavres Änag 
sov. Wie find diefe Worte zu verftchen? Nach der authentiſchen 
Erklärung, die der Apoftel ſelbſt gleich im Folgenden (vgl. das yug 
in 8. 13) darüber gibt, Können gar feine Zweifel über deren Siun 
obwalten. Paulus ſtellt nämlich zunächft V. 13 die Thatſache hin: 
„den bis zum Gefeg war Sünde in der Welt“. Gegen dieſe Br 
hauptung führt er gewiſſermaßen eine Gegeninftanz (de) auf, die 
ſich aus feiner eigenen Theorie herleiten ließ, und welche dahin 
lautet, daß Sünde nicht zugerechnet wird, wo es fein Gejek giit 
(duagria d8 ovx eAkoyeiraı un övcog vonov; vgl. Röm. 4, 
15: 00 ydo ovx Zarı vonog, ovdd magmpauıs). Da es nu 
in der Periode bis zur Gejegesoffenbarung fein Gefeg gab, I 
ſcheint damit die oben geſetzte Thefis wankend zu werden, daß de: 
mals ſchon Sünde in der Welt war. Allein die eingeführte Gegen 
inftanz erhält wiederum an ber offenbar ‚vor Augen liegenden That: 
ſache ein Gegengewicht (dAA V. 14), dag nämlich der Tod von 
Adam bis Mofes ſelbſt über die damaligen Menfchen, die, als ohne 
Gefeg feiend, nicht, wie Adam, Uebertreter desfelben jein fonnten, 
eine ausnahmsloſe Herrſchaft erlangt Habe. Nun kann aber Tod 
ohne Dorangegangene Sünde nicht gedacht werden, — das ift ein 
Ariom, das für den Apoftel ſchlechthin feftfteht. Demzufolge müſſen 
aud in der Periode von Adam bi Moſes die Menfchen trogdem 
Sünder gervefen fein, daß ihrien als nit mit einem Gefege Aus: 
gerüfteten die Sünde nicht zugerechnet werden durfte, Wie iſt dies 





Die Bedentung u. d. Zived d. Abſchnitts Röm. 5, 12— 31. 506 


aber anders denkbar, als fo, daß dieſelben zwar nicht geftorben feien, 
weil fie individuelle Sünde begingen, fubjectiv-bewußte, geſetzes⸗ 
ungehorfame Sünder waren, wol aber ber Tod doc deshalb über 
fie ohne Aüsnahme herrſchte, weil ihnen insgefamt Adams Sünde 
mitfamt feinem durch diefe Herbeigeführten Tod durch ein göttliches 
Strafurtheil (vgl. zaraxgıue V. 16) zugerechnet wurde, oder, wie 
dies der Apoftel felbft ganz unzweideutig ausdrückt, weil fie durch 
des einen Menſchen Sinde in den Stand von Sindern verjegt 
wurden (dumgrodoi xarsoradnoer B. 19) und fomit durch 
des einen Uebertretung ‚ftarben (26 Tod dvös magamıayanı ob 
noAloi ansgavov V. 15). Gerade infofern alfo, ald von Adam 
auf die Gefamtmaffe feiner natürlichen Abkdınmlinge eine fo mäds 
tige, ihr 2008 beftimmende Wirkung ausging, die außer Verhältnis 
zu dem ftand, mas fie felber proprio motu dabei thaten, ift er, 
ein Typus des fünftigen Adam (Chriſtus), von dem ein Gfeiches, 
freilich nach der entgegengefeßten Seite hin, gilt. Es ift aljo Mar, 
der Tod drang deshalb zu allen Menfchen Hindurh, auf Grund 
deffen, im urfahlihen Zufammenhange damit, daß alle 
fündigten. Es fündigten aber alfe, weil Adams Sünde zu ihnen 
hindurchdrang, indem Gott den Fehltritt Adams fo intenfiv ftrafte, 
daß feine Sünde allen feinen Nachtommen zutheil wurde. Die erfte 
Thatſache alfo, auf die der Apoftel hier hinweist, gehört der Vers 
gangenheit an. Sie beftand in einem verhängnisvollen Acte des 
Anfängers der natürlichen Menfchheitsgeneration. Er hat zur Folge 
den Tod der Gefamtheit feiner Nachkommen anf Grund feiner zu 
ihnen bindurchgedrungenen Sünde. 

Mit diefem Factum ftellt num der Apoftel V. 15 ein anderes 
in Parallele. Und zwar feheint er zunächft die Wirkung der That 
Adams unter einen Gefichtspunft zu bringen, unter dem fie von 
dem , was von Chriſto herrührt, abweichend erfcheint. Er jagt 
nämlich: mit dem meganroue verhalte es fich nicht fo, wie mit 
dem x&gsoue. Worin ift num aber die in dem begründenden Sage 
(& yo xeA.) hervorgehobene Differenz zu fuchen? Etwa darin, 
daß anf der einen Seite ein maganrona (Fehltritt), auf der ent⸗ 
gegengefegten eine xa&gıs (eine That hufdreicher Liebe) ſich findet? 
Unmöglich; denn dag die logifhen Subjecte, von denen hier etwas 


806 alspper 


prädicirt wird, verſchieden find, iſt ja ſchon durch deren differente 
Natur ſelber bedingt; nur das Prädicirte ſcheint die Differenz her 
vortreten faffen zu muſſen. Aber auch in dem Ermeglowevoe fan 
die Ungleichartigkeit nicht Tiegen. Denn auf beiden Seiten find ed 
ja od roAlot, denen in reichlihem Maße das Eine oder Andere 
reſpective zum Unheil oder Heil zutheif wird: Und daß die rolle 
im zweiten Gliede numerifch mehrere feien, als im erfteren, ift 
weder durch das roAig u@rlov, das fehr wol nicht die quan: 
titative, fondern bie logiſche Steigerittig ausdrücken kann, ge: 
fordert, noch an ſich denkbar. Denn offeiibar war die Zahl derer, 
denen zur Zeit des Apofteld die Gnade Gottes in Chriſto zuthell 
geworden war, eine unverhäftnismäßig geringere, als die Zahl ders 
jenigen, die auf Anlaß des Fehltrittes Adams bereits geftorbei 
iaren. Somit bleibt nichts übrig, ald bie Differenz darin zu fegen, 
daß die gläubige Logik mit viel größerer Zuverfiht voh der Gnade 
Gottes in Chrifto eine reichliche Einwirfung (e8 bleibt zundchft noch 
unbeſtimmt, worin biefe beftehe) auf eine Vielheit won Individuen 
berzuleiten geneigt fein werde, als wie fie von dem Fehltritte dt 
Einen einen wuheifvollen Einfluß auf eine Vielheit deducirt. 

Iſt der Gedanke in B. 15 noch ein ziemlich allgemein geil: 
tener und deshafb noch wenig durchfichtiger, fo gewinnt er in ®. 16 
ſchon größere Mlarheit. Die Gehenfäge treten hier ſchürfer hervet 
die bisher noch mehr ober weniger verhüffte Differenz wird deut 
lichet formufirt. Der Apoſtel fährt alſo fort: Und nicht verhielt 
es ſich mit dem Gefchent (desgmua — yagıoua ober dapen & 
xdgnı Ti Tod Evög Avdgunov I. X. B. 15) fo, wie es jih 

“ mit dem verhielt, was durch den Einen gefündigt habenden (Adam) 
deſſen Nachkommen zutheil wurde. Dein das Strafurtheil (meldet 
den Adam traf) wurde von Einent Her zum Verdammungsurtheil, 
das Gnadengeſchenk ſchlüg von einer Vielheit von Uebertretungen 
her aus zum Rechtfertigungsurtheil. — Wir fehen alfo, der Unter: 
ſchied befteht einmal darin, daß fid auf der einem Seite ein Ber: 
dammungsurtheil, auf der entgegengefegten ein Begnadigungsurthtil 
findet. Beide Urtheife werden anf Veranlaffung vor vorangegan- 
derer Sünde gefällt. Nun ift es anf der einen Seite die Sunde 
Eines, die ein Urteil empfängt, welches zum Verdammungsuriheil 





Die Bedeutung u. d. Bved d. Abſchuitts Röm. 5, 12—21. 507 


ausſchlagt; auf der anderen Seite eine Vielheit von Uebertretungen, 
die zu einem losſprechenden, verhtfertigenden Urtheil führt. Was 
it hierbei bemerfenswerth, und inwiefern: tritt jegt deutlicher bie 
im vorigen Verſe conftatirte Zuverficht der gläubigen Logik hervor ? 
Juſofern, als hier Gottes Gnade ein weit Ueberſchwänglicheres thut, 
als Gottes Zorn. Daß Gottes Zorn den Fehltritt Eines zu einem 
Berdammungsurtheit für eine Vielheit ausdehnt, iſt allerdings etwas 
Ungewohnliches. Allen es findet Hier doch immer noch eine ger 
wiſſe Broportion zwiſchen menſchlicher und göttliher That jtatt. 
Biel auffallender dagegen ftellt ſich das Verhäftnis auf der ent» 
gegengefeßgten Seite. Strafte Gott fon das regarrona Lines 
Menfchen in fo intenftver Weiſe, welches ungeheure Strafmaß hätte 
man dem bisher geltenden Kanon zufolge in NRüdficht auf die 
vielen hervorgetretenen raganresuura erwarten follen! Allein 
bier tritt das gerade Entgegengeſetzte ein; die vielen Uebertretuugen 
werden gar nicht geftraft, im Gegentheil wird volltommene Indem ⸗ 
hität für fid proclamirt. Ein eclatantes Beifpiel, wie unendlich 
größer die Gnade Gottes und deren Wirkung, als wie es der Effert 
feines Zornes geweſen ift. 

8. 17. Nachdem ſomit Paulus die Ueberſchwenglichteit der 
Gnade Gottes im Verhältnis zu feinem ftrafenden Zorne durch 
etwas, was er bisher‘ bereits gethan hat, in ein helles Licht geſtellt, 
fo Hat er fid damit den Weg gebahnt und die Unterlage bereitet, 
auf der er den Schluß vollziehen kann, auf den er durch alle vor» 
hergehenden Prämiffen Hintendirt. Daß Paulus nämlich von jetzt 
an fir das zufünftige Los der Gläubigen etwas erſchließen 
will, witd deutlich durch die Suturform, die jegt zum erftenmat 
hervortritt (Beoslsdaovas, vgl. B. 19: dixası zuractadjaor- 
vos), ungebeutet. Legen wir uns den Schluß, den der Apoftel hier 
macht, in feine einzelnen Beftandtheife auseinander. 

Wir’ werden zumäcft daran erinnert, worin das zeradxgune, 
von dem Paulus im vorangehenden Verſe fprach, beftanden habe. 
Es war die Herrſchaft des Todes, welde auf Veranlaffung des 
Fehltrittes des Einen für deſſen Ablkömmlinge herbeigeführt wurde. 
Und zwar hebt Paulus noch mit Nachdruck hervor, dag gerade 
durch diefe eine Perſon (dee od Evog) der Tod zu feinem Do- 


508 Klöpper 


minium gelangt fei. Auf der entgegengefegten Seite finden wir 
die Subjeste, denen in Zukunft etwas zutheil werden ſoll, näher 
Garakterifict. Indem fie der Apoftel ale od 7» megioaelav sis 
xaägırog zal zıv dugeav rijs dixawauvng Amußavovres be 
zeichnet, ift Mar, daß er diejenigen im Auge hat, denen nach ®. 16 
aus ihren Uebertretungen das göttliche dexafoue zu Gute kommt, 
die die Rechtfertigungegnade im Glauben als ein Geſchenk hinnehmen. 
Denn nur auf diefe paſſive Hinnahme eines geſchenksweiſe ihnen 
Gebotenen führt ſowol das Anupaverw felbft, als der Hinbli auf 
die Subjecte, denen fie infolge der Hier durchgeführten Parallelifi- 
rung gleichgeftellt werden. Wie bei den Ablömmlingen Adams bie 


auf Mofes am beutlichften Hervortrat, daß fie ur) dumgemearız | 


ini To dnospar tis nagaßdoews Ada waren, fondern 
Sünder dur die ihnen zugerechnete Sünde ihres Stammpatırd: 
fo find auch die unter dem Einflufje Ehrifti Stehenden nicht Ge 
rechte durch eigene (active) Gerechtigkeit, fondern nur durch fremde 
Geredhtigkeit, die fie im Glauben. hinnehmen oder ſich zurechnen 
laſſen. — Was nun endlich das diefen Letzteren für die Zukunft 
in Ausfiht Geftellte anlangt, jo bezeichnet es Paulus als ein ev 
lo Baoslevoew. Diefer Ausdrud kann dem ganzen Zufammen 
hange gemäß und mit Vergleichung von 1Kor. 4, 8*) nur die fünf: 
tige eschatologifch» meſſianiſche Herrſchaft bezeichnen, die den Gläu⸗ 
bigen einftens zutheil werden foll. Und zwar ift e8 auch auf diefn 
Seite eine Perfon, durch deren Vermittelung jene Antheilnahme 
am meffianifcen Reiche erwirkt wird. Dem einen Kepräfentanten 
der Todesherrſchaft tritt der eine Repräfentant ber Lebensherrſchaft 
gegenüber. Wie von jenem das Baoslsverr Tod. Savarov in vr 
Vergangenheit ausging, fo wird durch diefen, der felber die Lam 
(8. 10) und die Baoılsla (1Ror. 15, 25) bereits befigt, das 
Baoıkevew 2v Lo vermittelt werden. 

Der achtzehnte Vers, durch &ge od» angefnüpft, bringt bie bi 


a) Die Korinther gebärdeten ſich in ihrem weisheitstrunkenen ibealiftifch” fiber: 
tiniftifchen Wefen, als wären fie bereit® DMitgfieber des eschatologifch -meif- 
nifchen Reiches. Darum fragt fie der Apoftel: Zwpis Nur EBaadevome: 
und fährt fort: za öpeAdv ye EBamlevaure, Ivo xal iueis div ovı- 
Baoılsdawner. — 





Die Bebentung u. d. Zwed d. Abſchnitis Am. 5, 12—21. 509 


der ſchon genügend vorbereitete Parallele zu weiterem Abſchluß. 
Im erfteren Gliede Haben wir wiederum bie befannten Größen des 
napänrtope des Einen (vgl. B. 15 u. 17), das zum zard- 
za (vgl. B. 16) ausfchlägt. Und zwar find Hier die parti» 
dipirenden Subjecte, die früher als od oAAoi dyarakterifirt wurden, 
als navses KvIgmmos bezeichnet. Nur im zweiten Gliede bes 
gegnen wir einem neuen Begriff. Es wird nämlich dem na 
errrewue des Einen gegenübergeftellt da8 dixaione des Einen, 
welches Hier offenbar im einem verfchiedenen Sinne von dem dı- 
xaloua B. 16 zu verftehen ift. Kann das magansona des 
Einen nur der Fehltritt Adams in der Uebertretung einer beſtimm⸗ 
ten, ihm von Gott geftellten EvroAr fein, fo dem entfprechend das 
dixclouce des Einen nur das dem göttlichen Willen ſchlechthin 
angemeffene Verhalten Ehrifti in feinem ganzen Leben und Sterben . 
als eine Rechtsthat zufammengefaßt. Won diefem wird für, alle 
Menſchen eine dixaluaıs Luis hergeleitet. Diefer Ausdruck ift 
ein präguanter Terminus. Cr Tann mur eine rechtfertigende Thä⸗ 
tigfeit Gottes bezeichnen, die die Zw) für die begnadigten Subjecte 
zum Effect hat. Nun gibt es aber im paulinifchen Lehrbegriffe, 
wie eine doppelte dixalwarg, fo aud- eine doppelte Lay. Eine 
(ideafe) Rechtfertigung im Dieffeits (Mm. 3, 24ff.; 4, 25) und 
ein (reales) dixamsnasoder im Jenſeits, Ev juseg, dre xgı- 
vei 6 Bede Ta xguned av dvdganev Rn. 2, 13 u. 15 
(vgl. VuIrfoscdIa and vis deyis Röm. 5, 9. 1Kor. 4, 5; 
ganz deutlich erſcheint Gal. 5, 5 die dixasoodvn als Gegeuftand 
der Hoffnung®)). Eine (ideale) Tor in diefem (Röm. 6, 4; 
8, 10) und eine (reale) Lo) im künftigen Acon (1 Kor. ‘15, 22. 
Röm. 5, 10). Es fragt fi alfo, an welche dıxaiwass und an 
welche Le Paulus an unferer Stelle gedacht Habe. Dafür, daß 
der Apoftel die dıxelwars Loojs nur im eschatologiſchen Sinne 
verftanden haben Tann, ſpricht einmal ſchon diefe eigentümliche Zu⸗ 
jammenfegung, während er die ideale Rechtfertigung Röm. 4, 25 
einfach dexaloaıs (ohne Lars) nennt. Außerdem ift zu erwägen, 
saß bisher in unferem Briefe eine Gedankenreihe, in welcher bie 


a) Hueig ydo nvsduun &x niereug Enida dixawauvns dnexdeyöusde, 





510 als pper 


Leon als ideale hervorträte, noch nicht vorgekommen iſt. Erſt Kap. 
6 u. 8 tritt dieſer Begriff unter ganz anderen Bedingungen als 
ein neuer auf. Werner legt dies der fhon erwähnte eschatologiſch⸗ 
meſſianiſche Ausdruck dv Toñ Baoılsvsovor des vorigen Berjes 
ungemein nahe. Endlich wird dies außer allen Zweifel gefegt durch 
den folgenden Vers, der, durch ya angemüpft, nur als eine Er- 
lauterung des vorangehenden anzufehen ift. 

In dleſem neunzehnten Verſe nämlich, wo die Worte ausdrüc⸗ 
lich gefegt find (nicht, wie in V. 18, zu ergänzen find, obgleich nichts 
im Wege fteht, dag man auch Hier im zweiten Gfiede ein Verbum 
im Futurum fuppfirt ®)), tritt der Gedanke des Apoftels in gröfter 
Deutlichteit hervor. Der Vergangenheit gehört am die rragazen 
des Einen Menfchen, durch die cine Vielzahl in den Stand von 

. Sündern verfegt worden ift. Für die Zukunft wird erſchloſſen eine 
göttliche Nechtfertigungsthätigfeit, die durch den Gehorſam des Einen 
ermittelt fein wird. Iſt aber hierbei etwa an die fort und fort 
in dieſem Aeon bis zur Parnfie Ehrifti fich vollziehenden Redt- 
fertigungsacte Gottes zu denken? Schon der eigentümliche Aus 
druck Hxascı xarnorasjcoven: ift diefer Auffaſſung nicht giftig. 
Derfelbe erinnert weit eher an daB ragasmjseodu su Prjuau 
vod Xgiorod Röm. 14, 10 (vgl. 2 Kor. 5, 10) und führt je 
mach anf die Rechtfertigung beim mefftanijchen Gericht als auf ir 
gewöhnliche ideale Nerhtfertigung. Aber abgeſehen Hiervon, wir 
es nicht unbegreiflich, wenn Panlus mit jo viel Aufwand von Arıfl 
und Logik etwas den Lefern zu ermeifen fi abgemüht hahen follt, 
was niemanbem von ihnen zu bezweifeln in den Ginm kommen fonnte? 
Denn, da fie felber bereits als Gerechtfertigte im ideafen Gimt 
des Wortes von Paulus angejehen werden (Röm. 5, 1. 9. 11), 


a) Alſo die Worte fo faht: „Demnach num, wie es durch Eines Bergen 
für alle Menfhen zur Verdammnis kam, jo wird es auch durch Gin 
Rechtthat zur Lebensrechtfertigung konnnen.“ Mber nud; weun man im 
zweiten Gliede das Präteritum ($yerero) beibehält, jo kaun dies nur ds 
fogenaunte praeteritum propheticum fein, welches die zukünftige Bad“ 
fung als gewih, ſchon fo gut als geſchehen fegt. Denn man mag dum- 
woıs Zwäs faffen, wie man will, der realen Thatfächlichteit mach war ft 
in keinem Falle Thon allru Denfehen jur geworden. : Man vil. He 
taoe Röm. 8, 30. 


Die Bedeutung u. d. Zwed d. Abſchuitts Röm. 5, 12—21. sit 


mie konnte ſich fit ihm auch nur entfernt das Bedürfnis heraus» 
fiellen, durch einen Langen, durch fo viele Mittelglieder hindurch 
geführten Anafogiefehluß ihnen nahe zu bringen, daß dasfelbe, was 
ihnen beveit® zutheil geworden fei, auch nod im weiteren Verlauf 
einer Vielzahl von Individuen gefhenft werden werde. Dies wäre 
hier etwas fo Zweckloſes und Abwegiges gewefen, dag es unmögs 
lich ftatuirt werben darf, umfoweniger, als eine völlig andere Ten⸗ 
denz fo unmittelbar in die Augen fpringt und das logiſche Verfahren 
des Apoſtels, das nad der gewöhnlihen Auffaffung des ganzen 
Paffus völlig im Sande verläuft, in das hellſte Licht ftelit. Iſt 
nämlich die dexaiwoıs Lois, das Baoılevosıw Ev Lo, das di- 
ralovc zavaosajaeadmı, die Lo) alöviog (B. 21) überall im 
eschatologiſchen Sinne von der realen Nechtfertigung am jngften 
Tage, an die fich das ewige Leben, die Theilnahme an der meffias 
niſchen Herrſchaft Chrifti im künftigen Aeon als unmittelbare Folge 
anfhliegt, zu verftehen, fo gewinnen wir folgenden völfig deutlichen 
Einblit in den fo verwickelt ſcheinenden Analogiefchluß des Apoſtels. 
Vie wir uns aus ber Analyfe van Röm. 5, I—11 überzeugt 
haben, war dem Mpoftel die Aufgabe geftelft, die Leſer der Hoffe 
nung zu vergewiſſetn, daß fie als Gerechtfertigte auch am füngften 
Tage don dem ſich dann offenbarenden Zornesgericht errettet werden 
würden, oder pofitiv ausgedrückt, daß ihnen dann das ewige Leben 
und die Mittheilnahme an ber meſſianiſchen Herrfchaft zufallen werde. 
Zu diefem Zwede Taßt Paulus die Lefer einen Hinblick thun auf 
die bisherige natürliche Mienfchheitsgefäjichte und deren Reſullat. 
Als diefes ſtellt ſich ausnahmsloſe Todesherrſchaft (V. 14. 17) 
dar. Woher ſtammt dieſe? Der Tod iſt immer Frucht der Sünde. 
Der Grund der Todesherrſchaft kann alfo nur die Sündenhersihaft 
fein (21). Woher rührt aber die allgemeine Herrſchaft der Sünde? 
Von einer urfpränglichen verhängnisvollen That des Anfänger. und 
Stammpaters der früheren Menfchheitsgeneration. Adam ließ ſich 
in wagdntune, eine ragaxom, d. h. die bewußte pofitive Ueber⸗ 
tretung eines göttlichen Gebotes, zu Schulden fommen. Fir diefe 
Sünde traf ihn die angedrohte göttliche Strafe in Geftalt des Todes. 
Aber die Strafe reichte weiter, al man nad) gewöhnlicher Schätung 
hätte glauben follen. Sie erhielt durch ein göttliches Berdammungs- 
urtheil eine Ausdehnung über alle Nachkommen Adains, nicht etwa 


512 Köpper 


deshalb, weil dieſe die Urübertretung Adams freiwillig nachahmien 
und fo jeder fir fi den Tod als individuelle Strafe für eine 
fpontan begangene individuelle Ungehorfamsthat acquivirt hätten, 
fondern deshalb, weil Adams Sünde durd eine göttliche Zornes⸗ 
offenbarung über fie kam, deren Einfluß” fie fich nicht ermehrn 
konnten. Sie geriethen alfo unter die Todesherrſchaft, weil ſie 
unter die Gewalt der Sünde kamen. Dies Refultat ergibt ſich am 
deutlichften, wein man die Menfchheit von Adam bis Moſes in 
der gefegfofen Periode in's Auge faßt. Aber auch in ber Zeit, 
wo das Gefe vorhanden war, ift im wejentlichen die Sadılag 
feine andere geworben. Das Geſetz that der allgemeinen Sünden 
und Todesherrſchaft keinen Eintrag, fondern vermehrte nur die 
Uebertretung (V. 20). Gefündigt wurde während diefer Zeit eben 
fowol auf Grund der den damaligen Menfchen zum xaraxgun 
ausfchlagenden Urübertretung Adams, wie it der gejeglofen Periok. 
(Der einzige Unterfehied Tönnte nur darin gefunden werben ®), da 
in ber Zeit, wo das Gefeg zur Geltung gefommen war, dies Sin 
digen zugleich einen mehr jubjectiv-bemwußten Charakter erhalten 
habe, die unter dem moſaiſchen Gefege Stehenden alfo mehr ode 
weniger duagrmoavres waren En To duoisuer zig mage- 
Baoews Ada. Altein dies wäre in dem bier obwaltenden Zu 
fammenhange eine Confequenz, auf die nicht weiter zu reflectirn 
ift.) Worauf e8 dem Apoftel vor allem ankommt, ift die Car 
ftatirung der Thatſache, daß die univerfelle Todesherrfchaft in m 
vorchriſtlichen Periode ihren Grund hat in der Zurechnung der 
Uebertretung Adams und feiner umgertrennlich damit verfnüpften 
Strafe, nämlich des Todes. 

Diefem erften Adam mit feiner Uebertretung- Bad deren für 
deffen Nachkommen durch Gottes ftrafenden Zorn herbeigeführten 
Folge ſtellt nun der Apoftel den Anfänger einer neuen Menjchpeite | 
generation gegenüber. Auch bei dem zweiten Adam, Chriftus, fällt 
feine That ſchwerer in die Wagfchale. Es ift dies feine Rechts⸗ 
erfülung, Gerechtigkeitsthat, fein unbebingter Gehorfam bis zum 


3) Obgleich Paulus in diefem Zuſammenhange hiervon gar nidht redet. Nur 
eine Andeutung hieran fönnte man in dem Ausdrud zo napanruua 


8. 20 finden. 





Die Bedeutung u. d. Zwed d. Abſchnitis Röm. 5, 12-21. 518 


Tode am Kreuze, in welchem er ber. göttlichen Gerechtigkeit volles 
Genüge that. Aber auch hier kommt ganz ähnlich, wie beim erften 
am, Ehrifto nicht allein zu Gute, was jenem nicht allein zum 
Schaden gejhah. Wie Adam nicht bloß für feine Perfon Sünder 
wurde und ftarb, fo erhielt Chriftus nicht bloß für fich felber die 
göttliche Anerkennung feiner in feinem irdiſchen Leben bewiefenen 
Gerechtigkeit und ald Lohn das .ewige Leben und die Herrſchaft 
über alles (vgl. Phil. 2, 9. 10). Vielmehr wurde zunãchſt Chriſti 
Gerechtigkeit die vermittelnde Urſache für alle die, welche durch ben 
Glauben mit ihm in Gemeinfchaft treten, daß auch ihnen Gerechtig ⸗ 
teit verliehen wurde. Und zwar war es bier Gottes Gnade, bie 
gegen alle menfchliche Berechnung den Glaubenden Chriſti auf Erden 
geleiftete Gerechtigkeit zurechnete. Nun aber. find unzertrennliche 
Correlate, wie bei Adams Nachkommen Sünde und Tod, fo bei 
Chriſti Angehörigen Gerechtigkeit und Leben. Nicht bloß bei beiden 
Stammhäuptern felbft zieht die eine Eigenschaft mit gottgeordneter 
Nothwendigfeit die andere nad fid), ſondern aud in ihrer Leber 
tragung auf deren Nachlommen. Wenn aljo Adams auf alle feine 
Nachkommen übertragene (zugerechnete) Sünde mit unabweisbarer 
Gonfequenz ihrer aller Tod herbeiführte, fo kann es gar nicht ans 
ders gefchehen, als daß auch Chrifti den Gläubigen zugerechnete 
Gerechtigteit mit eben derſelben Folgerichtigkeit für fie alle Chriſtt 
teben mach ſich ziehen werde. Oder richtiger ausgedrückt: die chrift- 
lic gläubige Hoffnungslogit, die ſich von Gottes Gnade weit Grö- 
jeres verfprechen darf, als fie durd feinen Zorn ausgeführt ficht, 
getröftet fich mit zweifellofer Zuverficht deſſen, daß Gott, wie er 
bereits im reichlicher Fülle den Gläubigen in der geſchenksweiſen 
Verleihung der Gerechtigkeit Chriſti die ideale Vorbedingung des 
(eschatologifch) ewigen Lebens verliehen habe, nun auch noch das 
Weitere hinzufügen werde, daß ihnen einft allen ohne Ausnahme 
die reale Gerechtigkeit beim Endgericht ale "Beftätigung der bereits 
erlangten idealen und mit berfelben das ewige Leben in der An- 
theilnahme an der göttlichen Glorie und die Mitherrſchaft mit Chriſto 
in defjen Reiche gefchenkt werde. 

Iſt der vorftehende Nachweis der Bedeutung und des Zweckes 
don Röm. 5, 12—21 der richtige, fo liegt auf der Hand, wie 
fern der Apoſtel davon ift, in feinem durch ftrenge Folgerichtigteit 


514 Klöpper, Die Mebeut. ud. Zwechd. Abſchn. Biden. 5, 12-21. 


ber Sebanfen ausgezeichneten Briefe au die Römer an irgend einem 


Punkte, wo fi) neue Ideen nicht gleich zur rechten Zeit einftellen | 


wollen, einen müßigen Moment zu benugen, um bort eine Ablagerung 
von einer Anzahl befannter und unbelanuter „Lehren“ vorzunehmen 
oder religioußgefchichtliche Abftractionen zum Beften zu geben. Bil 
mehr befriedigt Paulus, wie überall, fo aud Hier, ein durchaus 
concretes Bedürfnis praftiicer Frömmigkeit. Au unferer Stelle 
iſt es die in Drangfalen feicht in's Schwanken gerathende Hoffnung 
der Gerechtfertigten, für die er das ewige, felige Leben mit um fü 
größerer Zuverficht erjchließt, als für das Bewußtſein des Apoftele 
der Befig des idealen Gutes eine ſichere Burgſchaft, ein ausreichen 
des Unterpfand für die Erlangung des correlaten realen ift. Dies 
iſt der eigentliche Keru der Beweisführung des Apoftels. Di 
Mittel, mit denen er biefelbe zu Stande bringt, find zum Theil 
aus ber Ruſtkammer der jüdiſchen Theologie entlehnt. Umſowenigtt 
ober hätte man fi bei den endlojen Verhandlungen über unjer 
Stelle an diefe Schalen Halten, ſondern zu dem Hinburchzudringen 
fi bemühen follen, wos, aus der Umhüllung jübijcher Theologu⸗ 
menen herausgelöft, als jubftantiell » hriftlicher Wahrheitsgehalt fh 
Mar herausſtellt *). 


a) Anmerkungsweife mag es uus gefattet fein, eine Hypotheſe darüber au 
zuftellen, wie der Apoftel die B. 12 begonnene Periode möglicherweiſe Ik 
zu Ende führen wollen: Deshalb (d. h. um deswillen, weil wir die Ir 
föhnung empfangen Haben), wie durch einen Menſchen die Sünbe in ht 
Welt Hineingetreten ift, und durch die Sünde der Tod, und fo zu al 
Menfchen der Tod hindurchgedrungen ift, auf Gruud deſſen, daß ale gr 
fündigt haben, — fo auch durch einen Menfchen die Gerechtigfeit in dr 
Welt hineingetreten ift, und durch die Gerechtigfeit das Leber: laſſet uud 
der Hoffnung ung rühmen, daß aud) das eben zu un allen hindurghdringen 
werde, auf Grund deffen, daß wir alle das Gnadengeſchenk der Geretitige 
feit im Glauben hingenommen haben. — Diefe Periode if, wie auf it 





Hand liegt, ein ftliftifcher Monftrum und enthält außerdem den in ver | 


beſprochenen Abſchnitte fid, findenden Analogieihluß des Paulus weder in 
der Bollftändigfeit, nod) in der Klarheit und Schärfe, wie er dort vorfitgt 
Darum ift aber aud) Paulus aus der Eonftruction gefallen, und jede ur 
fuchte Reconftruction der abgebrochenen Periode ein Unternehmen vom mebt 
als zweifelhaften Werthe. 





Gedaufen uud Bemerkungen. 


1. . 


Neber bie Glanbwürbigkeit 
der 
Antwort Juthers: „Wie ich’ ich, ich kann nicht anders, 
Gott helff mir, Amen.* 
Bon 


D. 9. &. $. Burkfardf. 





Die bekannte Antwort Luthers auf dem Reichstage von Worms 
gitt bis zum heutigen Tage als ein völlig zweifellofes Factum. 
Bon Geſchlecht zu Geſchlecht hat fih der Wortlaut jener Antwort 
fortgepflanzt, da6 Kind der Vollksſchule, wie ber geehrte Theolog 
fliegen ihre Schilderung von den Wormfer Vorgängen überein 
ftimmend mit den Worten Luthers: „Hier fteh’ ich, ich kann nicht 
anders, Gott Helfe mir, Amen.“ Auch auf dem Wormfer Dent- 
mal prangen diefe Worte; niemand hat Grund gehabt,.an der 
Wahrhaftigkeit derfelben zu zweifeln. Und fo beburfte es auch für 
uns erft einer befonderen Anregung, ehe wir der obigen Frage 
näher traten. Die Enthüllung jenes Denkmals, vor welcher wir 
d08 Auftreten Luthers quellenmäßig feitzuftellen hatten, gab bie 
Beranlaffung zur nachftehenden Unterfuchung. 

Verfolgt man den Gang der Ereigniffe auf jenem Reichstage 
nad den majjenhaften Erzeugniffen der Literatur, fo kann man 
nothwendiger Weife auf feinen Zweifel ftoßen, daß Luthers Worte 

Theol. Stad. Jahrg. 1889. 2 


518 Burkhardt 


fo geſprochen worden find, wie wir fie bis jet fernen. Dem 
ein Buch), das populäre, wie das gelehrte, folgt dem anderen; eine 
Kritit der Quellen wird ſelbſt da vermißt, wo wir fie mit Recht 
erwarten follten. Die Zweifel famen uns erft durch eine eigen- 
Händige Aufzeichnung Spalatine *), melde das Auftreten Luthers 
betrifft, und in welcher ſich nur findet, daß Luther in ganz einfacher 
Weife feine Rede mit den Worten geſchloſſen Habe: „Gott helfe 
mir, Amen.“ 

Wir würden diefem Zeugniffe fein’ befonderes Gewicht beigelegt 
haben, wenn Spalatins Perſonlichteit nicht ganz vorzügliche Be⸗ 
achtung verdiente. Denn er war der Hiftoriograph bes erneftini« 
ſchen Haufes, er wohnte den Verhandlungen jenes Reichstages bei 
und war tief in die Geheimmiffe jener Tage eingeweiht. Es war 
hochſt überrafchend, fol ein Zeugnis zu fehen, das dem geläufigen 
Darftellungen ſich fchroff gegenüberftellt. 

Aber es liegt in der Natur und Wichtigkeit der zu erdrternden 
Frage, daß wir das Zeugnis jenes Mannes doch mit einem gewiſſen 
Mistrauen betrachteten. In unferer ganzen Unterſuchung haben 
wir gefliffentlich dies Mistrauen aufrecht zu erhalten geſucht und 
unferes Wiffens nichts unterlaffen, was zur Stärkung der Zweifel 
an Spalatins Glaubwürdigkeit Hätte verhelfen Können. Es iſt bie 
nicht geglüct, und wir müffen. daher das Zeugnis Spalatins al 
glaubwürdig aufrecht erhalten und uns gegen die geläufige Anfift 
erflären, daß Luther die Worte; „Sie ftch” in ich kann nicht andere‘ 
gefprochen habe. 

Es war natürlih, daß wir zunächſt einer anderen authentifden 
Relation in einem fremden Archive Habhaft zu werden fuchten. 
Leider find unfere Bemühungen in Siefer Richtung völlig erfolglos 
geweſen. Es gibt, fo weit ſich auch die Nachforſchungen erftredten, 
fein Archiv, weldes über unfere Frage Aufſchluß geben Lönnte. 
Nur das Archiv zu Frankfurt aM. bietet die troftlofe Relation 
des Neichötagsgefandten, „daß man vor großem gebreng und ge 
murmel nit alfe wort, and zu zepten nit den ſynne vnd [ber] 
meynung [nad] verftanden habe“. Und das Vaticaniſche Archid zu 


3) Beimar. Gefemt-Actin, Reldstagsacten u. 1621. 


Ueber die Glaubwürdigkeit der Antwort Luthers. 9 


Rom, welches ums vieleicht hätte belehren können, Hat das Geſuch 
einfach) zu den Acten gelegt und uns, wie manchem deutfchen Forſcher, die 
Frage zu beantworten gelafjen: Non habemus aut non possumus? 

So blieben für uns nım die gleichzeitig gedruckten Quellen von 
1521 und etwa die übrig, welche aus jenen bis zu Luthers Tode 
entftanden find. Die Zufammenftellung bderfelben, das Bemeſſen 
ihres Hiftorifchen Werthes erſchien als eine um fo dringlichere Aufs 
gabe, als wir im Laufe der Unterfuchung zu wiederholten Malen, 
felbft in fonft ganz tlichtigen Arbeiten (3. B. Walg, Der Wormfer 
Reichstag von 1521 in den „Forfchungen zur deutfchen Gefchichte” 
VII, 1) der Meinung begegneten, daß die in Luthers Werten 
(Wittenb. Ausg. II. u. Jenaer Ausg.) ſich findende Relation *) 
einer primären Quelle gleich zu achten fei. Nur weit diefe in Luthers 
Werken fteht, hat man fie als eine von Luther felbft verfagte 
und daher ganz unträgliche Duelle angefehen. Dem ift num aber 
nicht fo. Denn hätte man fi bemüht, an der Hand der Pan- 
zer’ichen Annalen und Wellers ergänzenber Arbeit die gleichzeitig 
1521 gedrudten Quellen ausfindig zu machen, fo würde man eine 
ganze Reihe folcher Drucke gefunden haben, wie wir fie in Beilage 
A mit Angabe des Fundortes verzeichnet haben ®). Unter diefen 
aber findet ſich die Quelle A, und bei ihrer Vergleichung mit Luthers 
Werfen würde man bald inne geworden fein, daß fie nicht allein ſchon 
im Mai 1521 °) erſchienen war, fondern, daß fie auch die Quelle 
ift, anf welcher die geänderte Darftellung in Luthers Werten fußt. 


&) Acta reverendi patris D. M. Lutheri Augustiafi coram s. caesarea 
majestate principibus, electoribus et imperii ordinibus, in comitiis 
Principum Wormatiae. 

b) Nur die bei Panzer aufgezeichnete nieberbeutfche Relation Haben wir auf 
feiner Bibliothe finden Können. Außerdem haben wir einen Originaldrud, 
der in dem 1528 erfchienenen „regifter aller bücher und fihriften D. Mart. 
Suth. A. 70“ unter dem Titel: „antiwort für Kepferlicer M. zu Worme“ 
verzeichnet ift, wicht finden Lönnen. Auf biefen machte uns Ph. Diez in 
Marburg, ber Herausgeber bes trefflichen Wörterbuchs zu Luthers Werten 
aufmerkſam. 

©) Denn Behus greift fie ſchon den 8. Juni 1521 an. Siehe Seidemann, 
„Hieronymus Vehus und Luther auf dem Reichetage zu Worms 1521“ 
im Niedners Zeitſchrift 1851, S. 88. 

34° 


520 Burkhardt 


Für uns ift es zunächſt num Höchft wichtig, daß diefe Quelle A 
von ben Worten: „Hier ftehe ich, ich kann nicht anders“ nichts ber 
richtet. Diefer Zufag ift alfo innerhalb der Jahre 1521 und 1546 
gemacht worden, wo man die Relation unter Benugung des Drucket 
A in Luthers Werke einrücte. 

Wenn num diefe Aenderung als eine wirkliche Verbefferung der 
Quelle A gelten ſoll, „To wird viel darauf ankommen, ob dem 
D. Luther felöft die Auůtorſchaft des Druckes A oder die Urheber⸗ 
ſchaft der Aenderung in feinen Werken zugeſchrieben werden fann. 
Fur beides finden fich feinerlei Beweife. Im Gegentheil ſpricht die 
ganze Faffung beider Schriftſtücke gegen die Autorfchaft Luthers. Es 
müßte auch in ber That mit dem Wefen Luthers eine eigentümliche 
Aenderung vorgegangen fein, wenn er unmittelbar nach dem Wormfer 
Reichstag einer Schrift verdächtig werben könnte, in welcher er von 
ſich als pater reverendissimus ſpricht und in ruhmredneriſcher 
Weife die Vorgänge für ſich ausbeutet *). Das ift nicht Kuthers 
Weiſe, am wenigften in jenen Tagen; es ift ein gewaltiger Schritt, 
vom Glaubensmuth zu einem efelerregenden Selbftlob überzugehen. 
Vergleiche man doch beifpielöweife die einfache Darftellung, die er 
dem Grafen v. Mansfeld von Eiſenach aus zufandte ?)! Der Ra 
tholit Cochlaus freilich ſchlagt für fi Capital aus jener Dar 
ftellung. Er ſchreibt niemandem anders, als Luthern die Abfaffung 
jener Schrift A zu). Er ergögt fi förmlich daran, wie Luther 
Wahres mit Falſchem vermifche und geflifjentlich als Lobredner 
feiner felbft auftrete, die erfte Perfon mit der dritten abwechiele, 
um an ben bedeutängsvollen Stellen recht in den Vordergrund zu 
treten. Wie würde er die Stelle ausgebeutet haben, wenn Luther 
wirklich geſprochen hätte: „Hier ftehe ih!" Gewiß, Wahrſchein⸗ 


&) Respondit D. M. et ipse latine et germanice: quamquam suppliciter, 
tacite ac modeste, non tamen sine Christiana animositate et con- 
stantia — pater elementissimus modestissime respondens. Wie fern 
lag es Luther, ſolcher Umftände zu gebenfen: plerique casulas conscen- 
derunt, studio visendi etc. 

b) Auch 'gerudt; Seidemann, Luthers Briefe VI. Sonſt and im Einzel 
drud. 

«) Cochlaei Commentaria, Fol. 82, 





Ueber bie Glaubrwirbigfeit der Antwort Luthers. 521 


lichleit hat dieſes Wort nicht für fich, denn Cochlaus felbft weiß 
in feinen achtundzwanzig Jahre fpäter edirten Commentarien (mit 
unferer Quelle A übereinftimmend) zu erzählen, daß Luther nur 
die Worte geſprochen Habe: „Gott helfe mir, Amen.“ Iſt aber 
Luther wirklich der Verfaffer des Drudes A, dann, bebünft ung, 
hat das mit friſchem Gedächtnis niebergefchriebene Protokoll gewiß 
mehr Wahrſcheinlichteit fur die Glaubwürdigkeit, als das in feinen 
Werlen, die nach feinem Tode die Prefie verließen. Bon letzteren 
lann zur Zeit niemand behaupten, daß er allein fie rebigirt Hat, 
oder dag Fremder Hände dabei thätig geweien find. 

Für die Abfaffung der Quelle A gibt es unferes Erachtens eine 
fehr einfache Erklärung; namentlich wie der Wechfel der erften und 
der dritten Perſon eingetreten fein kann. Wir felbft haben feiner 
Zeit nachgewieſen, daß Luther eigenhändige Aufzeichnungen über 
fein Verhör gemacht Hat“). Wir geben gern zu, daß er in erfter 
Berfon von fich gefprochen, wie dies ja auch aus der in unferm 
Briefwechfel mitgetheilten Niederfchrift erhellt. Aber nicht zugeben 
tönnen wir, daß die ganze Faſſung der Quelle A fein eigen fei. 
Ihre Darftellung wird fi zufammenfegen aus dem, was Luther 
ſelbſt aufzeichnete, und aus dem Gewande, welches ein Anderer, 
vielleicht Spalatin oder Melanchthon ®), der Quelle gaben. So er» 
Märt ſich altes, auch der lobredneriſche Theil jener Schrift. 

Wenn man aber auch zugeben muß, daß der Drud A bie pri» 
märe Quelle ift, die für viele andere Relationen die Grundlage 
bitbet, fo ift damit nicht ausgefchloffen, daß die anderen in Bei 
lage A aufgeführten Quelfen einer Prüfung unterftellt werben müffen. 
Bir ſchiden nothwendig voraus, dag man hierbei den im Refor⸗ 
mationszeitalter üblichen Nachdruck in Rechnung ftellen muß. Man 
hat genau zu prüfen, inwieweit die fich darbietenden Drucke Origis 
nalvelationen, ober inwieweit fie Nachdrude find. Man würde aljo 


a) Burkhardt, Luthers Briefwechſel (ad a. 1521). 

b) Bielleicht, denn es gibt nirgends einen Anhaltspunkt. Keinesfalls kaun 
doch ein Grund fein, daß Melanchthon in feiner Historia de vita et actis 
rev. D. M. Lutheri (Ausg. v. 1549 u. 1558) die Duelle nach Faffung 
der Lutherwerke aufzuweiſen hat. 


532 Burkhardt 


zu völfig falfchen Schlüffen gelangen, wenn bloß die Zahl, nit 
auch die Qualität der Quellen das Urtheil bedingen follten. Von 
den aufgeführten funfzehn gleichzeitigen Autoren weifen drei den 
Schluß der Antwort Luthers gar nicht nad, elf Autoren fagen, 
daß Luther (mit ganz geringen Abweichungen) die Worte: „Gott 
helfe mir, Amen“ gefprochen habe, während nur ein Autor die 
Antwort Luthers in der befannten Form nachweiſt. Zieht man 
aber den Nachdruck, reſp. die gegenfeitige Benugung der Quellen 
in Rechnung, fo dürfen wir nicht von funfzehn, fondern nur von 
neun felbftändigen Antoren reden *). Nach · dieſer Eintheilung zeigt 
fi, daß zwei den Schlußfag nicht Haben, fechs Schriftfteller: „Gott 
helfe mir, Amen“, und nur ein einziger ben Zuſab: Ich tan 
nicht anderſt, hie ſteh ich“ ®) darbieten. 

Auch diefes numerifche Verhältnis fpricht alfo für die Spal«- 
tinſche Faſſung und ftügt unfere ausgeſprochenen Zweifel. Deſſen 
ungeachtet fteht unferen Anfichten nur die Duelle F gegenüber, 
welche den geläufigen Schlußfag nur mit anderer Wortfolge auf 
weift, und mir fehen daraus, baß ſich unmittelbar nach dem Reihe 
tag wenigften® bei einem Schriftfteller die Meinung feftgefeist hatte, 
der man jetzt im allgemeinen Huldigt. 

Leider wiffen wir nicht, fo wenig, wie für die anderen Quellen, 
wer als Berfaffer des Drudes F gelten kann, und wir müfjen uns 
daher begnügen, aus Inhalt ‚und Form auf die Glaubwirbigfeit 
des Autors zu fehließen. Die Bergleihung des Textes mit Sp 
latins Relation im weimarifchen Archive ergibt das fehr merk 
wurdige Refultet, daß Spalatins Arbeit ganz unzweifelhaft zu 
Grunde lag. Die Gleichheit beider Texte geht bei allen weſent⸗ 
lichen Abweichungen fo weit, daß fogar die Abfäge Spalatins ein 
gehalten worden find, und man nad; einer oberflächlichen Ber 
gleihung leicht geneigt fein Könnte, in Spalatin felbft den Heraus 
geber wiederzufinden. Das ift aber bei den offenbaren Nachlägig 


a) Urfprüngfich find es acht Gruppen, wie aus Beilage B erfichtlich iſt; da 
aber bie vierte Gruppe zwei verſchiedene Autoren nachweiſt, fo mrüffen wir 
acht Gruppen und neun Autoren aufftellen. 

b) Alfo wiederum eine andere Form, als bie Bisher geläufige. 





Ueber die Glaubwurdigleit der Antwort Luthers. 838 


feiten ®) des Drudes F nicht möglich, und wir haben nad) Sage 
der Verhältniſſe allen Grund, zu bezweifeln, daß biefer Verfaſſer 
dem Reichstage felbft beigewohnt hat, fonft würde er mol nicht 
folder thatfächlichen Unrichtigkeiten fich ſchuldig gemacht haben. Ob 
er ſonach, der der einzige Bertreter des üblichen Schlußfages ift, 
vollen Glauben verdient, überlaffen wir gern dem Einzelnen. Jeden⸗ 
falls bleibt zu erwägen, daß er von der Originalrelation Spala» 
tins abgewichen ift, der bis in fpätere Zeiten fich treu blieb und 
au in feinen Annalen ®) wiederholt Hat, dag Luther nur: „Gott 
helfe mir, Amen“ geſprochen Habe. Diefer Anficht tritt aber auch 
in ſehr beftimmter Weife der Verfaſſer des Drudes H bei, ber 
ausdrudlich jagt, daß Luther unmittelbar nad) feinem verweigerten 
Biderrufe die Worte: „Das Helff mir Gott“ ausgerufen habe. 

Nun leugnen wir nicht, daß uns bei allen Zweifeln doch ein 
Moment fehr wichtig gemefen ift. Wenn man die Antworten Luthers 
in der Anlage A überficht, fo findet man hie und da ben fehr 
merkwürdigen Zujag: „Da bin ih“. Wie, wenn biefer Zufag 
nur dem Sinne nad) wiedergegeben wäre und dem für echt gelten- 
den Sage: „Hie fteh ich“ entſprechen follte? Uber woher kommt 
dann die Berechtigung, noch weiter Hinzufügen zu dürfen: „ich 
fann nicht anders“, was von feiner glaubwürdigen Quelle dar⸗ 
geboten wird? 


a) Nur die Hauptfäcficften Abweichungen: 


Spalatin. Duelle F. 
nichts guts darausz erwachien . | Ya dem Wormbs daraus) erwachizen. 
aynigen geperden. 2.02... eggner geberd. 
darauf ich meyn beragtt. ... . . darauff ich meyn bericht. 
auf ben andern artidel . .... . auff den artidell. 
mit beben vbeln ......... mit berden. 
far Irrige vnd entwihte ....... | fr ierige vud vor yrſall. 
von dee ler Chrifi . ..... von der eer Chriſti. 
eyn vuftoffige vnd onpeyffige . . | unfleiffige und vnbyſſige. 
vnhaylſam vnd ferlich iſt . . . vnheylſam und vufridlich iſt. 

u. ſ. w. u. ſ. w. 


b) ed. Cyprian, p. 41. Die Annalen Cypriaus werden ſich in Gotha auf 
der Bibliothet befinden, wohin fie aus dem weimarifhen Archive gelom- 
men find, 


524 Burkhardt 


Die ganze Darftellung wird gezeigt haben, daß berehtigte Zweifel 
obwalten, die der Fachmann wenigftens in Ridficht ziehen wird, 
ehe er ben geläufigen Darftellungen über das Auftreten Luthers 
vollen Glauben fchenken fann. Für uns Tiegt nach Beſchaffenheit 
der Quellen kein Grund vor, diefen Glauben zu theilen. Vielmehr 
haften wir dafür, daß es natürfich war, zur Antwort Luthers Zur 
fäge folher Art zu machen, die zweifelsohne einen ftärferen Effect 
machen, als der einfachere, darum aber nicht minder jchöne Schluß 
feiner Antwort. Wer aber an Gemachtes zu glauben fortfäßrt, 
ſollte fich wenigftens Mar werben, daß es immerhin ein Unterſchied 
bleibt, ob Luther nach den allerdings zweifelhaften Quellen fein 
Ih in den Border» oder Hintergrund geftelft Hat. 

Anfere Abhandlung hat fic die Aufgabe geſtellt, Zweifel anzı- 
regen. Wir find weit davon entfernt, zu glauben, unwiderlegbare 
Beweife für unfere Anfichten erbracht zu Haben. Jedenfalls aber 
haben wir bargethan, daß die Forſchung noch manches zu thun Hat, 
ehe fie über den weltbewegenden Reichstag von Worms in volle 
Marheit kommt. Bei weiterer Forſchung über denfelben würden 
wir 3. B. auch inne werden, daß die Antwort Luthers: „ch will 
eine Antwort geben, bie weder Hörner, noch Zühne hat“ ebenfalls 
ungenau iſt. Denn dieſer Wortlaut ſchreibt fih nur aus feiner 
Iateinifchen Antwort Her, die überfegt allerdings fo lauten kann. 
In deutſcher Sprache, in der Luther bekanntlich aud feine Er- 
Märung abgab, Hat er nad) dem unzweifelhaften Zeugnis Spalatins 
nur gefagt: „So will ich eyn vnſtoſſige und vnpeyſſige antwort 
geben.“ Das allein ift echt lutheriſch. Und das find Fragen, die‘ 
fich uns nicht ansfchlieglih auf dem Wege ardivalifcher Forfchung 
aufbrängen und Löfen lafjen, dazu reichen ſchon die gedrudten 
Werte Luthers Hin, wenn man fich nur die Mühe geben wollte, 
zu fehen und dann prüfend und ohne Vorurtheil an folche Fragen 
heranzutreten. 








Ueber die Slaubwärbigkeit der Antwort Luthers. 


Beilage A. 
1. Sleicheitige Einzelbrude. 


A. Acta | et res gejstae D. 
Martini Lutheri | in Co- 
mitiis Prineipa Vuor | ma- 
cie Anno | MDXXI®). 

B. Antwort D. Martini u] 
vor | 8. M. vnd Fürften 
des Reychs auff anfuchung 
der büder vundter ſeynem 
namen | auszgangen, fo er 
gefordert | auff den Reichstgg 
gen | Worms. | MDXXI®). 

C. Doctor Martini Luthers of» 
fentjfiche verhör zu Worms 
im Reycheſtag, Red vnnd 
widerred, am 17 tag | Apri- 
lis, im jar. 1521. | Befer 
hen. ®) 


D. Ain anzaigung, wie | Doctor 
Martinus Luther zu Wurms 
auff dem Reichstag eingefa- 
ren duch K. May. In 





Gott Helf mir Armen. Amen. 


Hat Martinus ſolchem nad eyn 
gutte eynfeltige woll vernem- 
lich vnnd nicht vnnutz anths 
worth geben, geſagt, Neyn ich 
wils nit thunn. 


Hat nad) den bekannten Worten: 
„onhaylfam vnd ferlich ift“ 
die Einrebe des Officials, ber 
Luther nur entgegnet: „Es 
mögen die Concilien irren, 
vñ haben geirrt, das lygt am 

. tag vñ wils beweifen. Got 
tum mir zu hulf. Amen. 
Da bin id.“ 

Der Official vermaint, es (das 
Eoncil) Het nit geyrt, Luther 
fagt ja, vnd wolt ſollichs 
bewenfen. Mit dem hat ber 


3) 14 Blatt 40 Berl. Bibl. Bgl. Panzer IX, 126. Nr.184. v. b. Hardt 
D, 90. Panzer IL, 26, N. 1188. Im latein. Sprache abgefaßt. 


) 4 Blatt 40 weimariſche Bibliothek. 
*) Titelblatt Luthers Bild mit der lateiniſchen Unterfcheift: 


„Aeterna ipsa 


suse mentis simulachra Lutherus exprimit at voltus cera Lucae 
oceidvos MDXXL“ 6 Blatt 49 Dresbener Bibliothel. Bgl. Banzer, 
Annalen d. deutſch. Eit. II, 25. Ar. 1154; 26, 1159. 1160. Bon nenem 
abgebrudt bei Irmiſcher LXIV, 874. Gonft auch auf der Bibl. zu 


Wolfenbüttel, Th. 181, 2. 


aygner perfon verſhört vn 
mit jm darauff gehandelt. *) 

. Doctor Martini Luthers ofe 
fentliche | verher zu Worms 
im Reichstag | vor Kaif. Ma. 
Red und wider|ved, am 17 tag 
Aprilis, im Tauſent Funff- 
hunbert und ainundzwainſcig · 
ften Jar. ®) 

. Die gang handlung, ſzo mit] 
dem Hochgelertẽ D. Marſtino 
Luther taglichen dieweyl er 
auff dem Keyferlichen| Reychs- 
tag gu Wormbs gelmeft, er» 
gangen ift, auffs | kurgeft 
begriffen. | tem bie geleytez 
brieff D.|M. gegeben Hyr 
iyhnn auch bejgrhffen fegnt. ©) 

. Handlung, fo mit boctor | 
Martin Luther Vff dem 
Kenfzerlihen Reichstag | zu 
Wormo ergangen ift, vom 
anfang zum end | vff das 
türczeft begriffen. An die 
Furſten ond die | Ständ des 
Reichs zu Worms verfamelet 
ein gejmenn zufchribung Doc- 
tor Martin | Luthers. 7). 





Burkhardt 


handel auff daz mal ain nd 
gehabt. 


Es mügen die Eoncilien iren nd | 


haben geirt, dz ligt am tag 
vnd wils beweyſen. Got 
tum mir zu hulff. Amen. 
Da bin id. 


Ich kan nicht anderft, bie ſich 
ich, Gott Helff mir, Amen. 


. 
Gott helff mir, Amen. 


+) 4 Blatt 40 weimarifhe Bibl. Jedenfalls dasjelbe, welches bei Weiler 
(mit Titelholzſchnitt, ©. 211, Nr. 1828) amgefüßet if. uf dem mir 


meriſchen Exemplar fehlt biejes. 


5) 4 Blatt 40 Titelholzſchuitt Luther vor dem Kaiſer u. ſ. w. Weimar. Bil. 

*) 8 Blatt 49 weimarijche Bibliothek, Wolfenbüttel u. im german. Muſenn 
Beller (6.218, Nr. 1846) kennt nur die beiden letzteren Bezugsquellen. 

7) 8 Blatt 40 Münchener Bibl., erfte Seite Titelblatt, zweite Seite Luthers 
Bid. Weller, ©. 218, Nr. 1844. 





Ueber bie Glaubwüurdigleit der Autwort Luthers. 537 


H. Römifcher Rai. Mat. ver- 
hoſrung Rede vñ widerrede 
Doctor Martini Luſthers Au⸗ 
gaſtiner Ordens zu Witten|- 
bergt in gegenwurdt der Chur]. 
fürften Fürften on Stenben] 
bes heyligen Reichs auff | dem 
Reychstag zu | Wurmbs ber 
felgen. MD. 21 | Yare.®) 

1. 3 das Fürhalten fo dur 
Kayſerlich Majelftat unnd des 
haifigen Reihe verfamleten| 
Ehurfürften und ftände. Dem 
hochgelerten DocltoriMartino 
Luther ech durch des Reichs 
Redner | zu Wormbs erzelt. 
Iſt disz fein perfonlich (zum| 
fürgiften) begriffen antwort. 
Vnd nachgonds von wegen 
ainer angal Edelleut. Ein 
lurtze | eroffnete Schrift da» 
bey gefeßt.®) 

K. An anzaigung wie D. | Mar- 
tinus Luther zu Wurms auff| 

dem Reichstag eingefaren 
durch K. M. In aygner per⸗ 
fon verhört vnd mit jm daſ⸗ 
rauff gehandelt.1%) 

lL. Die gang handlung, fo mit| 








... nicht zu widerrufen, vnd 


darauff endtlich beſtehen wölle, 
vnd ſprach darauff die worth: 
Das helff mir Gott. 


got helff mir, Amen. 


Ganz, wie Quelle D: Luther 


ſagt ja. 


Got helff mir, Amen. 


N s Blatt 40 Münchener Bibl., erſte Seite Titel, zweite Seite leer, letztes 
Blatt ganz leer. Panzer I, 26. Nr. 1157. Weller, ©. 216, Nr. 1879. 

) 4 Blatt 49 Zuricher Bibl. ©. 2. 6.7.8 ler. Weller, ©. 211, 
Nr. 1828. Banzer H, 27. Nr. 1168. 

") 4 Blatt 40 Zaricher Bibl, Titel: Luther (Anke: vor Auifer umd Reid). 
Reste Seite leer. Stimmt mit Duelle D, der nur der Titelholzſchnitt 


abgeht, und die andere Lettern Hat. 


B 


528 


dem hochgelerten Doctor Mar» 
tino Luther täglichen, dweil 
er vff dem | Keiferlichen 
Reychstag zu Wurmbs | ge 
weſzt, ergangen ift, vffs | 
fürgeft begriffen. Ein fendt- 
brieff von Dolctor Martino 
Zutter nach feinem abfcheidl 
von Wurmbs an die ftendt 
des heiligen Reichs bafelbft 
verſamſlet von Frydburg gel- 
ſchickt, im XXI jar | gefche- 
hen. 12) 

M. Doctor Martini Luthers of» 
fenlliche Verhör zu Worms 
im Reichstag | Red und Wi- 
derred. Am 17 tag | Apri- 
lis Im jar 1521 | Beſche⸗ 
hen.] Folgt das Bild Luther 
vor Kaiſer u. Neid, wos 
runter fteht: Copia ainer 
Miſſiue. Doctor Martinus 
Luther mach feilnem abſchid 
zu Worms zu rugd an bie 
Ehurfürlften, Fürften on ftend 


des Reichs bafelbft | ver |- 


ſchriben geſamlet Hatt.] ?%) 
N. Romſcher Kcy Maielſtat ver- 
hörung Rede und widerrede 
Doletor Martini Lutiters 
Auguftiner ordens | zu Wit- 





Burkhardt 


Got fum mir zu Hüfff, Am, 
da bin id. 


Und ſprach dar vff dyſe wort: 
Das Hälff mir gott. 


1) 8 Blatt 40 Zuricher Bibl. Weller, ©. 218, Nr. 1845. 
=) 10 Blatt 49 Zauricher Bibl. Titelholzſchnitt. Zweite und Legte Exite Im: 
Auch v. Scheurls Bibliothet in Nürnberg. Panzer IT, 25. Ir. II 


Weller, ©. 216, Nr. 1877. 








Ueber die Glaubwürdigkeit der Antwort Luthers 529 


tenbergk, in gegenwirt ber 
Churfürlſten, Furſten vnd 
Stenden des heyligen Rehchs, 
auff dem Reichstags zu 
Wurmbs beſchahen. Iml jar 
MDXXL?®) 

0. Doctor Martini Luthers ant- 
wort | auf Pfingtag, den 18 
tag Aprilis im 1521 | vor 
Kay. Ma. vn den Ehur- 
furften | Surften und andern 
vil der I ftend des Reychs 
offfenlich beſchethen 14) 

P. Doc. Marti | Lutheri Chri- 
stiana et incösternata Re- 
spölsio Caesaree majesta- 
ti, Prineipibus | et domi- 
nis Wormatie facta | Anno 
MDXXI | Sexto die | Apri- 
lis| An iusta ratilone Mar- 
tinus Lutherus reforma- 
tionis | Tragoediam moue- 
rit, doctum et eruditum 
cujusdam idyllion. 1%) 





Got kum mir zu hulff, Amen. 
Da bin id. 


Gott Helff mir, Amen. 


”) 4 Blatt 40. Links Luther mit einem Bogel auf ber Achiel in Einfaffung, 
rechts im faft gleicher Größe der Kaiſer in Einfaffung; beide Bilder durch 
Randleiſten von rechts und links und unten eingef_hloffen. Zaricher Bibi 


Beller, ©. 216, Rr. 1878. 


“6 Blatt 40 Wolfenb. Bibl. Titel unvollfländig erhalten, weil ausge - 
ſchnitten und aufgeffebt, letztes Blatt Teer. 
”) 6 Blatt 49. Titel mit Randzeihnungen, einen finger breit. Wolfenb. 


Bibi. Theol. 469. 


ss Burkhardi 


Beilage B. 


2. Onellengruppen. 


Nr. 1. Quelle A. Die beſte Quelle in lateiniſcher Sprache. Sie 
iſt nicht identiſch mit den von Waltz (Deutfce Forſchungen 
VII, 1. 34) angeführten acta reverendi patris. 

Gruppe Nr. 2. Quelle C, E, M, bei Verſchiedenheit der Aus- 
ftattung in der Hauptſache gleich. 

Gruppe Nr. 3. Quelle D u. K, bei Verſchiedenheit der Aus- 
ftattung identiſch. 

Gruppe Nr. 4. Quelle F, G u. L. Bis auf unmwefentlihe Aen- 
derungen, Zufäge von Geleitsbriefen ꝛc. und Nachlußigkeiten 
der Quelle F, die anderen Schlußfag: „Hier ftehe ich u. ſ. m.“ 
hat, gleich. 

Gruppe Nr. 5. Quelle H u. N. In ber Hauptſache oleich. Nur 
hat N am Schluß einen Heinen Zufag. _ 

Gruppe Nr. 6. Quelle I u. O. 

Nr. 7. Quelle B. 

Nr. 8. Quelle P. 


8. Quellengruppen⸗ Anfeinanderfoige na ihren Werthverhältniſſen. 


1. Quelle B von umtergeorbnetem Werthe. In fehr freier Weile 
gibt fie die Rede Luthers in deutſcher Sprache wieder. 

2. Duelle I gibt die Rede Luthers in deutſcher Sprache, folgt in 
vielen Beziefungen der beften Quelle, hat aber am Ende den 
unwahrſcheinlichen Paſſus: vnheilſam un unfridlid. 

3. Quellen D u..K ſchildern die Vorgänge von Luthers Verhör 
bis zum Ende des zweiten Verhörs. Ungenau ift Luthers Be ⸗ 
rufung auf Wickleff und Hug. 

4. Quelien C, E u. M, nodneingehender, mit unbedeutender Ein- 
leitung, enthalten die Namen der vorzüglichften Anwefenden, 
Titel der vorgelegten Bücher, eine kurze Relation über das 
erfte, eine eingehendere über das zweite Verhör. Von den 
übrigen Verhandlungen berichten fie nichts. 

5. Quellen H u. N, nicht eingehender, ziemlich gleichen Werthes 


neber die Glaubwürdigkeit der Antwort Luthers. 581 


mit den sub 4, geben einen Turzen Auszug der gehaltenen 
Neben und fagen: „Difz ift des gemeinen mans behalbt vnd 
Einnemendt Bericht, aber unzweiffelichen werbeth gäglichen diße 
handlung in vorftendigerem furnomen mit warhafftiger ordnung 
gebracht werden.“ Der Juhalt führt bis zur vollendeten Ver⸗ 
handlung mit dem Erzbiſchof von Trier. 

6. Quelle F, G, L, die beften deutſchen Quellen. Doch F, 
wie in der Abhandlung eingehender dargeftellt, am Schluß ver« 
ſchieden und durch Nachlaßigkeit ausgezeichnet. Benugt find bie 
Spalatiniſche Relation und die Tateinifhe Quelle A. 

7. Quelle P. Lateiniſche Duelle mit angehängtem Gedicht. 

8. Quelle A. Lateiniſch und am vollftändigften. ” 


682 Graf 
2. 
Zu den evangeliſchen Berichten von der Auferſtehung Ic. 
Die Welfung nah Galiläe, 
en \ 
&. Graf, 


Superiztendent in Etaltau. 





D. David Strauß hat in der Schrift: „Die Halben md 
die Ganzen“ viel Gewicht darauf gelegt, daß die Confuſion in da 
evangelifchen Berichten über die Auferftehung Jeſu für einen Jeden 
dann recht augenfcheinfich werde, wenn man bedenle, daß die Jünger 
in dem Matthäus und Markusevangelium (Matth. 26, 32 u. 
28, 7. 10 u. Mark. 16, 7) die ausdrückliche Weifung nad Ga 
Tilda erhalten, und daß dagegen das Lukasevangelium berichte, 
Zefus Habe nach der Anferftehung den Jungern befohlen, in ge 
rufalem zu bleiben (Luk. 24, 49), während das vierte En 
gelium weder von der einen, noch von der andern Weifung ewei 
fage, ſowie daß die Orte, an denen der Auferftandene feinen Freunde 
erſchienen fein folle, ganz verfchieden angegeben würden. Den 
nad Matthäus und Markus Hätten ihn zuerft in ber Nähe bi 
Grabes die Grauen gefehen, dann nach Markus und Lukas auf km 
Wege nad) Emmaus die zwei Jünger, dann nach Markus, Lutes 
und Johannes in Jeruſalem felbft die verſammelten Sünger, wo 
bei wieder bie Differenz ftattfinde, daß 1) Johannes ergäfle, ki 
dem Eintritt‘ Jeſu in den Kreis der Jünger am Abende des Auf 
erftehungstages fei Thomas nicht zugegen geweſen (obgleich Lutat 
und Markus ausdrüdtic von den „Elfen“ redeten), fondern Jeſut 
fei erft acht Tage fpäter auch von Thomas gefehen worden, wäh 
rend Lukas und Markus von einer zweimdtigen Erſcheinung in 
Herufalem durchaus nichts müßten, und 2) daß Johannes allein 
die Erſcheinung am galiläifchen Meer, und wieder Matthäus allen 
die auf einem Berge in Galilän melde. . 


Die Weiſung uach Galilän. 588 


Es ift wahr, auf den erften Blick könnte man fürchten, daß hier 
ganz unlösbare Widerfprüche vorlägen ; aber bei genauerer Prüfung 
wird ſich doch zeigen, daß alle diefe Widerfprüde nur ſcheinbar 
find, und dag die verfchiedenen Nachrichten der einzelnen Evanger 
Üften in den vollfommenften Einklang mit einander zu bringen find, 
ja daß gerade die Darftellungsweife im vierten Evangelium feinen 
Zweifel an feiner Authentie mehr auflommen läßt, weil diefe jo- 
hanneiſchen Berichte, wie auch fonft gewöhnlich, in mandem Ein- 
zelnen genauer find, als die der Synoptiker, und ſich felbft durch 
ihre innere Wahrheit als echt Hiftorifch documentiren. 

Wenn man nämlich auf die Nachricht der Apoftelgefchichte, daß 
Jeſus nach feiner Auferftehung noch vierzig Tage lang mit den 
Sängern verkehrt Hat, recurriren darf — und daß dieſes unzuläßig 
fi, hat D. Strauß, wie unten erörtert werden foll, durchaus nicht 
bewieſen —, fo muß man hier, ſchon an fi, die Auskunft ganz 
unverfänglich finden, für die ſich von jeher alle unbefangenen Ege- 
geten entfchieden haben, nämlich die folgende: Die Jünger find, 
ehe fie der Weifung Jeſu zufolge nad Galiläa gingen, noch bis 
zu Ende des Feſtes, alſo etwa acht Tage lang, in Jeruſalem ge 
blieben, und es werden mithin alle die Erfceinungen des Auferftan- 
denen, von denen die vier Evangeliften erzäglen, hier wirklich ftatte 
gefunden Haben. Nach dem Aufenthalte in Jeruſalem aber find fie 
nod ungefähr vier Wochen lang mit Jeſu in Galiläa zufammen 
gewefen; und da ift gefchehen, was die Evangelien des Matthäus 
und Johannes, ſowie die Apoftelgefchichte erzählen, bis fich endlich 
kurz vor der Himmelfahrt alle wieder, natürlich einer (allerdings 
nicht befonders erwähnten) Anweifung Jeſu zufolge, in Jeruſalem 
jufammenfanden, wo fie den von Lukas (24, 49) berichteten Befehl, 
nun vorläufig in der Stadt zu bleiben, erhalten haben. 

Zur höchſten Wahrfgeinlicfeit, ja zu völliger Gewißheit wird 
diefe Annahme, erhoben, wenn man Folgendes in Betracht zieht: 

1) Da Zeus feine guten Gründe hatte, fih nad der Aufs 
erftehung nicht mehr öffentlich in Jeruſalem zu zeigen, und da er 
doc mit feinen Jüngern noch immer viel vom Reiche Gottes zu 
reden hatte (Act. 1, 3), fo mußte er allerdings thun, was er ihnen 
ion vor dem Antritt feines Leidens angefündigt hatte (Matth. 


Theol. Stud. Jahrg. 1869, 8 


54 Graf 


98, 83), nö) er mußte Affen bie Weiſung ach Galilia geben. 
Det dort konnte er nngeftörter, als in Feruſalein, mit den Jungem 
zaſammenkommen, zumal da diefe Hier doch was als Gäfte zır 
Verderge, alſo mol auch in verſchiedenen Stadttheilen und wenigftes 
wicht in eluem Hauſe wohnten. Aber ſo erklärlich darum aut 
dle Weiſung nach Galilda fein muß, fo iſt doch 
2) wicht zu verkennen, daß diefelbe wicht fo geureitrt fein Komme, 
als follten fid bie Jünger Mur fofort, und Mol dar no) am 
Anferftehungstage ſelbſt, auf den Weg nach Galilda machen. Denn ⸗ 
abgeſehen don den vielerlei Möglichkeiten, die fich dafur denen 
lleßen, daß die Singer verhindert waren, fo vorzeitig aufzrrdrechen, — 
ſo wäre «8 ja eine Gefegmwidrigkeit geweſen, mitten Im 
Befte eine jo bebeutende Reife anzutreten, wie es nach beit battte 
ligen Verhäftniffen die von Jerufalem nad) Galilaa immtthin wer. 
Das Feſt aber dauerte fieben Tage, und ber Yegte war (m 
nach Joh. 7, 37 auch am Ranbhüttenfefte) gleich dem erſten ir 
Herrlichfte, war alſo ordnungsgemäß noch in Jeruſalem zuzubringen 
Wollte man aber Hierauf etwa einwenden: Jefus konnte ſich un 
die Seinigen doch wol von ber Beobachtung des Geſetzes in dee 
Beziehung ebenfogut dispenfiren, wie er dies Hinfichtlich vielet ar 
deren Dinge (der ‘überftrengen Sabbatsfeiet, des Hündewaſchenn 
dor dem Eſſen u. dgl.) in der That öfters gethat hat: fo ift fern 
zu erinnern, daß es doch it Galilän das größte Auffehen er 
haben würde, wenn die Zünger und übrigen Fremde Jeſu md 
mitten im Feſte, alfo gegen alfe Gewohnheit und Sitte, zur 
gefommen wären, ınıd daß ja, allen fonftigen Anzeichen nach, Seins 
ein ſolches Auffehen gerade vermeiden wollte. Es Tüßt fich dahet 
gat micht anders denken, als daß die Weiſung mad) Galiläa fo ge 
meint und ausgedruckt war, wie hier voreusgefegt wird, nämfid " 
daß die Jünger nad dem Fefte in Galilaa mit ihm yufammen 
tommen follten, daß es aber die Evangeliften bei ihren Berichten 
nicht für möthig gehalten Haben, über etwas, was fich fir jie alt 
ſelbſtverſtaudlich darftellte, noch eine befondere Bemerkung beizufägs- 
Diefe Anfidyt ſucht D. Strauß nun freitich damit abzufchneim, 
daß er bie Bebentung. des Präfens (mgvayeı) in Matth. 28, 7 
und Mark, 16, 7 ſo viel als nur irgend möglich preßt amd all 








Die Beifung noch Galilia [7 


die lutheriſche Ueberfegung: „er wird vor euch Bingehen u. f. w.“ 
für falf erklärt. Er faßt jenes Wort vielmehr in ber Bedeutung: 
mer hat füch bereits dahin auf den Weg gemacht“ und findet hiere 
nach die Erzählungen des Johannes von den fpäteren jeruſalemiſchen 
Erſcheinungen des Auferftandenen ganz unvereinbar mit jener An⸗ 
gabe ber beiben erften Evangeliften. Ja, biefe Auffafjung könnte 
noch dadurch an Scheinbarkeit gewinnen, daß ſowol bei Markus 
wie bei Matthäus neben dem Präfens rgodyeı das Futurum 
oeoos gefprieben fickt. Aber hiergegen braucht bloß ganz ein 
fedh daran erinnert zu werden, daß das Präfens ebenſogut, wie es 
in lebhafter Darftellung als Praesens historicum fehr oft die 
Bedeutung des Präteritum hat, and bie eines Futurums haben 
kann, namentlich wenn, wie in unferem Falle, der Sprechende ober 
der Schreibenbe tiefer erregt ift. Den ſchlagendſten Beweis dafür 
haben wir gleich in ber Auferftehungsgefchichte ſelbſt, nämlich Joh. 
20, 17. Hier fagt der Auferftandene zu Maria Magdalena auch 
im Prüfens: dvapalvw rgös 509 rardga mov xuA., obwol 
nicht daran zu denken ift, daß der Evangelift hiermit bie Himmel- 
fahrt als etwas Gegenwärtiges oder doch augeublicklich Erfolgendes 
habe bezeichnen wollen. Wenn alſo Strauß in unſerer Stelle für 
die hier angenommene Erklärung das in Matth. 26, 82 allerdings 
Kigriebene geadsı für notwendig erklären wollte, fo müßte in 
biefer johanneiſchen auch ftatt dvaßaivo das Futurum dvapßıjao- 
au erwartet werben. Ueberdies aber dürfte ja, wenn eimmal bie 
Bedeutung der Tempora fo zu preffen wäre, wie Strauß will, 
nach feiner Erflärung (Jeſus Habe ſich damals fon auf deu Weg 
gemacht gehabt) nicht das Präfens rgodyes, ſondern der Aoriſt 
agonyeyev gejchrieben ftehen. Dagegen läßt ſich's wiederum recht 
gut erklären, warum Matthäus und Markus in den fraglichen 
Stellen (28, 7 u. 16, 7) troß bes folgenden Öysode nicht (nach 
26, 32) reodssı, fondern rgoayeı gejchrieben haben. In Matth. 
26, 32 nämlich iſt das mgonyeıw eis Tahılaler noch als ein in 
weiterer Zukunft liegendes betrachtet worden — es mußte ja 
erft noch das Leihen uud Sterben, fowie die Anferftehung voraus- 
sehen — daher das Futurum: rrendko. In Matth. 28 und 
Mark. 16 dagegen if jenes rgoayesy als ein ganz nahe bebnr- 
85° 


586 Graf 


ftehendes gedacht, — Neues follte vor demfelben nicht mehr ges 
Schehen — daher da8 Präfens: zrgodysı, während das Futurum 
öyeods etwas erft nach dem mreodyev, alfo fpäter Eintretendes, 
bezeichnen ſoll, fo daß ſich's mit demfelben Hier auf gleiche Weife 
verhält, wie 26, 32 mit dem godto. 

Hiernach Hätten wir uns nur nod mit der Schwierigkeit aus 
einanderzujegen, die Strauß darin finden will, daß Lukas — 
im Widerſpruch mit ben übrigen Evangeliften — erzähle, Jeſus 
habe feinen Jüngern die ansbrüdtiche Weifung gegeben, in Je» 
rufafem zu bleiben, alfo gar nicht nach Galilaa zu gehen. Er 
beruft ſich dafür auf Luk. 24, 49, mo Jeſus unmittelbar vor feiner 
Himmelfahrt gefagt Hat: dpeis dd zudinaze Ev ıjj mode, Es 
od Avdionode düvanıy EE Öryovs. . Denn, fo behauptet er, aus 
dem ganzen Wortlaut des vierunbzwanzigften Kapitels gehe hervor, 
„daß Lukas diefe Weifung und die Himmelfahrt nod 
am Auferftehungstage vor fich gehen laſſe.“ Die Aus 
kunft, dag Jeſus nad der Darftellung der Apoſtelgeſchichte erft 
vierzig Tage fpäter jenen Befehl gegeben Haben könne, fei ganz 
unzuläßig. Man dürfe nämlich den einen Evangeliften nicht aus 
dem andern erklären wollen und ebenfowenig die Meinung einer 
früheren Schrift desfelben Verfaſſers aus der einer fpäteren, weil 
ja der Schriftfteller unterdeffen feine Meinung geändert haben könne. 

Nun liegt es zwar auf der Hand, daß biefes Strauß'ſche Axiom 
auf nichts weniger als auf allgemeine Gültigkeit Anſpruch machen 
kann. Allein wir dürfen es in diefem alle getroft gelten Lafien 
und werben den fcharffinnigen SKritifer doc, gerade mit feinen 
eigenen Waffen, fhlagen können. Wir brauchen ung nämlich blog 
auf das fechszehnte Kapitel des Markus zu berufen, indem wir diefes, 
wie Strauß will, lediglich mit fich jelbft, ohne Beiziehung irgend 
eines Fremden, erffären. Denn wenn Lukas die Weifung, in Je⸗ 
rufalem zu bleiben, und die Himmelfahrt noch auf den Aufer- 
ftehungstag zufammengefegt haben foll, weil er in Kap. 24 einen 
mehrere Tage umfafjenden Zeitunterjchied für die da erzählten 
Ereigniffe allerdings nicht ausdrücklich gemacht Habe, und weil mit 
einer Berufung auf die Apoftefgefchichte eben nichts zu beweifen 
fein ſoll: fo müffen wir betonen, dag aud Markus gerade fo in 








Die Weiſung nach Gafiläe. 887 


Rap. 16 feine heftimmten Hronologtfchen Angaben gemacht Hat, 
aus denen Hervorginge, daß im dieſem einen Kapitel Thatfachen, 
die Auf ganz verfchiedene Tage fielen, zufammengefoßt fein. Es 
beißt da vielmehr, nachdem V. 2 gefagt ift: May owi zjs mäs 
voßßarov und dann B. 9: zewl noden oaßßdrov, B. 12 
bloß ganz unbeftimmt: usr« d2-radsa, hierauf V. 14 nicht viel 
genauer: daregov, und endlich in V. 19 wieder ohne nähere Zeit. 
oder Tagesbeftimmung: nera zo Ankjcas auroic. Folglich müßte 
man nad; der Strauß’ichen Behauptung aud) fagen fönnen: gerade 
wie Lukas, Lege auch Markus die Auferftehung Jeſu, feine ver- 
ſchiedenen Erfcheinungen und feine Himmelfahrt auf einen und ben> 
jelben Tag zufammen, fo daß mithin von einem Aufenthalte in 
Galilän, wie er nach Matthäus und Johannes ftattgefunden Haben 
fol, gar keine Rebe fein ünne. Aber warum hat denn nun Strauß 
nit wirklich fo argumentirt? Offenbar deswegen, weil Mark. 
16, 7 gerieben fteht: rgodyeı dnäs eis ııjv Talılalav, dust 
airov öyeode, xadcds sinsv Öulv. Daraus aber geht doch 
ganz unwiderſprechlich hervor: der Bericht des Markus, wie wir 
ihn ohne alle genauere Unterfcheidung von verſchiedenen Tagen vor 
uns liegen haben, erzählt dennoch Thatſachen, die unmöglich auf 
einen einzigen Tag zufammengefallen fein können, fondern ale 
fummarifcher Bericht faßt er ohne nähere chronologiſche Be⸗ 
ſtimmungen bie Ereigniffe eines Tängeren Zeitraums kurz zuſammen. 
Denn es wäre ja geradezu eine Ungereimtheit von dem Evangeliften 
gewefen, wenn er ®. 19 Hätte angeben wollen, daß die Himmels 
fahrt noch am Auferftehungstage gefchehen fei, während er doch 
8. 7 erwähnt Hätte, daß Jeſus den Jungern die Weiſung nad 
Galilaa, wo fie ihn fehen follten, gegeben habe. Deswegen wird 
man nun aber aud den von Lukas in Kap. 24 gegebenen Bericht 
als einen folden ſummariſchen anerfennen muſſen, und die Erkla- 
tung desfelben in hronologifcher Beziehung aus dem erften Kapitel 
der Apofielgeſchichte ift mithin nicht bioß aufäßig, fondern fogar 
nothivendig. — Indeſſen, jelbft wenn wir die Aufichlüffe in der 
Apoftelgefchichte, die uns alles erklären, nicht hätten, jo könnten wir 
doch wenigftens über den oben erwähnten fummarifchen Charakter des 
vierundzwonzigften Kapitels des Lukas nicht in Zweifel fein, fondern 


528 Graf 


aus biefem apittl felbft Din Vewejs dafür liefern, dag es ein 
zelnt Date aus einem viel Kängeren Zeitabſchnitte, als einem ein 
zigen Tage, zufammengeftelit habe, umd daß es nur eben der Kürze 
halber die genaueren Angaben, an welchem Tage das eine und am 
welchem fpäteren das andere Ereignis ftattgefunden Habe, unterlaffe. 
Man fehe zunachſt ©. 84 an. Hier läßt der Evangeliſt die wer- 
fammelten Jünger denen, welche von Emmaus gefommen waren, 
mit aller Veſtimmtheit fagen, „der Kerr ſei Simoni erfshienen“, 
während er doch in feiner eigenen Erzählung (8. 1-—12) biefer 
Erſcheinung mit keinem Worte Erwähnung gethan hat, felbft de 
nicht, wo er berichtet (8. 12), daß Simon auf die Nachricht der 
Frauen zum Grabe gegangen fei und dasſelbe unterfucht habe. Der 
ſummariſche Charalter unseres Kapitels leuchtet aber auch ebenſo 
deuntlich auß der V. 29 ftehenden Bemerkung ein: „Es will Abend 
werben, und der Tag hat fich geneigt.“ Denn da hierauf Zeus 
init in des Haus gegangen fein und am der Abendimaflgeit theil- 
senommen haben foll, worauf die „Zwei” erſt wieder nach Gera 
falem zu den „fen“ gegangen waren, fo wiirde doch au diefem 
Tage offenbar keine Zeit mehr zu der Himmelfahrt geweſen fein, 
die doch ohne die Angabe, daß fie an eimem anderen Tage gr 
ſchehen fei, gleich darauf berichtet wird. Es wird dies um fe’ 
augenſcheiullcher, als V. 36—43 noch erzählt: ift, wie Jeſus wer 
her jelöft noch bei den Jüngern (atfo ſchon in ſpüter Nacht) ein, 
getreten fei und vor ihnen gegefien habe. Oder follte Strang 
vielleicht meinten, dies paſſe gerade gang vortrefflich; — denn wenn 
Jeſus ſich im Dunkel der Nacht wapermerft won dem Züngern 
weggemacht habe, fo fei bie Entitehang des Hinanelfegntentpihes 
defte leichter u erklliren? — Nach allen Biskerigen Bönnie man 
ſich alfo wol verſucht fühlen, den Borwarf, den Strauß den Hengr 
ſten berg ſchen Erklärumgsverfnchen gemacht hat, auf iße jelbft en 
zuwenden, nämlich daß er, indem er duch eine gang unhalthare 
Erklärung des Lubasberichtes Widerſpruche zu ſchaffen ſacht, bie in 
der That ger wicht vorhanden find, ſich ſelbſt die Windmihta 
aufbant, bit er hernach für erſchredliche Rieſen ausgibt. Zw dem 
fraglichen Falle ift das wahre Sachverhliltnis ganz einfach dieſes: 
Wie Matthäus uud Markus berichten (mas aber Lulas amd Je 





Die Weiſung und Gafilän. 5 


hennes der Kürze halber und als etwas au ſich für die Auferfter 
hungegeſchichte Ummefentliches übergangen Haben), lieg Jeſus am 
Auferftepungstage den Jungern die Weifung nach Galilda geben, 
wo fie ihu — felbftverftändlihd — nad dem Feſte treffen follten; 
alfo war der Herr, nachdem die erften acht Tage noch in Jeru⸗ 
ſalem zugebracht waren, in Galilän einige Wochen bei den Füngern; 
am vierzigften Tage nach der Auferftchung Hatten ſich aber alle 
nach Jeruſalem zurückbegeben, und hier erhielten nun, wie Lukas 
berihtet, die Jünger den Befehl, bis zur Ausgießung des Geiftes 
in der Stadt zu bleihen. 

Laffen ſich mithin bei diefer Auffaffung alle evangeliſchen Ber 
richte zu einem ganz harmonjichen Gefamtbilde vereinigen, fo wird 
fih au aus der Art und Weife, wie das vierte Evangelium feine 
Berichte abgefaßt hat, nämlich ohne daß hier der Weifung nad 
Golifie Erwähnung gethan wird, zeigen laffen, daß eine ſolche 
Darſtellung nicht von einem im zweiten oder dritten Jahrhundert 
ſchreibenden Fulſcher, fondern nur von einem Augen» und Ohren. 
xugen, d. 5. non dem Mpoftel Johannes herrühren kann. 

Es ift zu dem Cube Bier vor allem davon Act zu nehmen, daß 
das vierte Evangelium, wie niemand mehr in Abrede ſtellt, ur⸗ 
fprünglich mit Rap. 20 geſchloſſen, daß es alſo bei feiner erſten 
Erſcheinung bloß davon erzählt Hatte, wie der Auferftandene in 
geruſalem non feinen Freunden, am Auferftehungstage felbft und 
acht Tage darauf, gejehen worden ift. Angenommen nun, das 
Evangelium fei, wie Strauß und Genofjen wollen, erft zu Ende 
des zweiten Jahrhunderts oder noch fpäter verfaßt morden, und 
feine Erzählungen in Rap. 20, wie Jeſus der Maria Magbdaleng, 
dann den verſammelten Jungern und ſchließlich auch dem Thomas 
erſchienen ſei, gehörten in das Reich der bloßen Viſionen und der 
dichtenden Sage: jo müßte man voraußfegen, daß ber font fo um⸗ 
fihtige uud vorſichtige Fälfcher Hier überaus unbefannen zu Werke 
gegangen wäre. Denn wenn es ihm baranf aulam, bie merkwür- 
digen und finueplien Ausſprüche, die jn den drei letzten Schil-⸗ 
derungen des zwangigften Kapitels enthalten find, und von benen 
die anberen Evangelien nichts Haben, an den Mann zu bringen, 
fa Hütte er hen Schaupfag dafür doch ebenfogut nach Galiläa, als 


30 Graf 


nad Serufalem, verlegen fönnen. Nun waren aber doch zu Ende 
des zweiten Jahrhunderts die fynoptifchen Evangelien und die Briefe 
des Apoftels Paulus fehon allgemein in den riftlichen Gemeinden 
befannt; es war alfo aus diefen auch befannt, dag Jeſus nach der 
Auferftehung feinen Züngern die Weifung nad Galilän gegeben 
hatte; ja, da diefe Weifung im Matthäusevangelium zu wieberholten- 
malen erwähnt ift, und ba die von Paulus in dem allgemein als 
echt anerkannten erften Korintherbriefe (15, 6) ermähnte Erfcheinung 
des Auferftandenen vor mehr als fünfjundert Brüdern von jeher 
für identiſch mit der von Matthäus (28, 16—20) erzählten an 
erfannt worden war, fo hätte ein Fälſcher alle Urſache gehabt, als 
Schauplatz ber von ihm erdichteten Erzählungen nicht Jeruſalem, 
fondern Galilän zu wählen. 

Hierzu fommt aber, und dies dürfte von der allerentſcheidendſten 
Bedeutung fein, daß nun in dem (unferem vierten Evangelium fpäter 
angehängten) einundzwanzigften Kapitel Jeſus mit den Juüngern dod 
wirklich in Galiläa ift, aber daß von dem Verfaſſer auch nicht ein 
Wort über den Grund, warum, oder über die Art und Weife, wir 
diefe Veränderung de Schauplages ftattgefunden hat, gefagt ift. 

Denn, den nichtapoftolifchen Urfprung des Evangeliums voraus: 
geiegt, fo find doc Hinfichtlich der Entftehung dieſes legten Ka— 
pitel® nur zwei Fälle möglich: entweder der pſeudonhme Verfaffer 
der erften zwanzig Kapitel hat fpäterhin auch dieſes letzte Kapitel 
angehängt, oder es hat dies in noch fpäterer Zeit ein Anderer ger 
than. In beiden Fällen aber wäre es durchaus nicht denkbar, daß 
fi) der eine oder der andere Verfaſſer Hätte entfchließen können, die 
plögliche Veränderung des Schauplages mit gar nicht® zu motiviren. 

Derjenige nämlich, der die zwanzig erften Kapitel als Pſeudo⸗ 
Johannes verfaßt hätte, mwürbe entweber für feine fpäteren Erdich- 
tungen den nämlichen Schauplag, wie für die früheren, beibehalten 
haben, wenn er fich eben aus diefen ober jenen Gründen nidhte 
darang gemacht hätte, daß er mit feinen Erzählungen im jmans 
zigften Kapitel theilweife von den Angaben der Synoptiker abge- 
wichen war, ja, wenn er vielleicht fogar einen entſcheidenden Grund 
für diefe Abweichung gehabt Hatte; ober, wenn er fpäter doch viel- 
Teicht ‚gefunden hätte, daß dieſe Abweichung gar zu auffallend er« 








Die Beifung nach Galılde. 541 


fheinen und die Glaubwürdigkeit feiner Erzählungen verdächtig 
machen könnte, und wenn er deswegen auf den Gedanken gekommen 
wäre, ben früheren Fehler dadurch fo viel als möglich wieber gut. 
zu machen, daß er noch einige Scenen, die er auf das gaffläifche 
Gebiet verlegte, hinzudichtete, ſo würde er die Wahrſcheinlichtkeit 
derfelben beftimmt dadurch zu erhöhen gefucht Haben, daß er durch 
irgend eine Andeutung den Grund, warum der Schauplat nun ein 
anderer ſei, bemerklich machte. 

Wollte man aber gar annehmen, daß ein Anderer, als der Ver⸗ 
faffer der erften zwanzig Kapitel, das letzte Hinzugefügt habe, fo 
erhebt fich das Bedenken, daß diefer hätte befürchten müffen, fi 
auf der Stelle als Interpolator zu verraten, wenn er feine Er» 
zahlungen nach Galiläa verlege, während doch weder im zwanzigften, 
noch in einem früheren Kapitel auch nur die geringfte Spur davon 
u finden ſei, daß Jeſus nach der Auferftehung noch einige Zeit 
habe in Galilaa zubringen wollen. Ein folder würde alfo erft 
zeht darauf Bedacht genommen haben, den Leſer über biefe Ab⸗ 
weihung zu verftändigen; und die aus dem Matthäns- und Markuss 
evangelium. befannten Ausfprüce Jeſu hätten ja dazu die allers 
bequemfte Handhabe dargeboten. Mithin barf mit guter Zuverficht 
behauptet werden: während wir, was als bereits nachgemwiefen be» 
trachtet werben darf, in jedem Abfchnitt des vierten Evangeliums 
die ficherften und unverfennbarften Merkmale feiner Authentie am 
demjenigen Haben, was da gefchrieben fteht (menn’s oft auch 
ganz gleichgültig ſcheinende SM einigkeiten find), jo muß Bier bie 
Autgentie aus dem, was nicht geſchrieben fteht, erfchloffen 
erden. 

Denn da Johannes, wie jegt gar nicht mehr beftritten werden 
tann, durch fein Evangelium die Berichte der drei ſynoptiſchen Evan- 
gelien theils ergänzen und vervollftändigen, theile berichtigen und 
erffären wollte (was u. a. bei der Erzählung von dem Wandeln 
Jeſu auf dem See ganz unverkennbar ift), und da er eben deswegen 
nichts von demjenigen, was dieſe nach feiner Auffafjung ganz voll⸗ 
ftändig angegeben Hatten, in feinem Evangelium wieder erzählt hat: 
fo konnte er ſich im zwanzigften Kapitel ganz unbedenklich auf die 
Erſcheinungen des Auferftandenen in Serufalem bejchränten, «ohne 


543 Graf, Die Beifung ua Gafilän. 


eines galiläifchen Aufenthaltes uud einer Weiſung nah Galilän 
auch nur Erwähnung zu thun; ja, da er gerade in Vezug auf die 
kerufalemifchen Erfcheinungen die fynoptifchen Berichte — man deuke 
an den Auftritt mit Thomas! — nicht genau genug fand, fo mußte 
ihm daran Fiegen, gerade über dieſe einen vollftändigeren und fpe= 
sielferen Bericht zu geben. Als er fih nun aber in feinem höheren 
Ater — nachdem ſich das Geſchich des Petrus, mit dem er fo 
eng verbunden gewefen war, auf eine für ihm tief erfchütternde 
Weiſe erfüllt hatte — unwiderſtehlich gedrungen fühlte, den befon- 
ders auf jenes Geſchick des Petrus bezüglichen Nachtrag au feinem 
Evangelium zu ſchreiben, den wir im einunbzmanzigften Kapitel 
heben: da war feine Seele, wie fich Teicht denken läßt, viel zu voll 
und zu bewegt von der Erinnerung an jene Scene bei dem Ger 
von Tiherias und an das blutige Ende feines Mitayoftels, als daß 
, eben bei dem ausſchließlichen Inteyeife an der Sache, 
daran gedacht hätte, um der dereinftigen Kritit willen bie Berän- 
derung bes Schaupfages noch beſonders zu motivisen. Er brauchte 
dies aber auch in der That gar nicht zu thun, da er wußte, daß 
die Weifung nad Golilia aus den anberen, älteren Epangelien 
allgemein befannt war; und fo begnügte er ſich mit der ſchlichten 
Ugbergangsformel (21, 1); nera zadıe. 

Iſt aber das letzte Kapitel, wie jedem Unbefangenen bei einem 
tieferen Eingehen auf feinen wunderbar herrlichen Inhalt einleuchten 
muß, gerade als dos Hauptfiegel zu betrachten, durch welches die 
Echtheit des ganzen vierten Evangeliums documentirt wird, jo 
dürfte, recht erwogen, ein gar nicht zu verachtender Beweis für 
diefelbe in dem Umjtande zu finden fein, daß dies Evangelium die 
Weiſung nach Galifäg gar nicht ausdrücklich erwähnt, aber doch 
ans jenem galiläifchen Aufenthafte eine der bedeutenhften Bageben- 
heiten berichtet, und zwar ‚mit der überzeugenden, ja überwältigen- 
den Macht innerer Wahrheit, 





Necenfionen. 


1. 


Conrad von Heresbach nnd der cleviſche Hof ‘zu feiner 
Zeit, nad) neuen Quellen geſchildert. Ein Beitrag zur 
Geſchichte des Reformationszeitalters und feines Huma- 
nismus von A, Wolters, Pfarrer zu Bonn. Elberfeld 
1867. VII n. 276 SE. 8°. 

Reformationsgefchichte der Stadt Wefel bis zur Befeſti⸗ 
gung ihres reformirten Bekenntnifſes durch die Weſeler 
Synode. Bon A. Wolters, Pfarrer zu Bonn. Bonn 
1868. 477 ©©. 8°. 





In dem prächtigen Bucherſaale der Hiefigen Hofbibliothek weilt 
man mit befonderem Vergnügen bei den Miniaturen, die die Ge» 
betbücher einiger Tothringifchen Fürften ſchmucken. Die Geftalten 
der heiligen Geſchichte und Legende, die von fo vielen großen Kirchen- 
bildern uns anſprechen, erfcheinen hier verkleinert im engen Rahmen 
eines Buchftabens, dennoch in gleicher Schönheit, Bedeutſamkeit und 
Anmuth. Man bewundert die fromme Auffafjung, bie Zartheit 
der Ausführung, die Geduld der Künftlerhand. Bon folden Heinen 
Fuhrern geleitet, verfegt man ſich gern wieder in die mohlbelannte 
geweihte Vorzeit. — Die Reformationsgeſchichte der Stadt Weſel 
lann man eine Miniatur des größten Ereigniſſes der deutſchen 
Kirchenhiftorie nennen, Alle Stadien des Geifterfampfes bewegen 
fi auf dem ‚Boden einer Heinen Stadt, im Winkel des cleviſchen 


546 Bolters 


Herzogtums, an uns vorüber. Es gefchieht- in Tebendiger Anfchen- 
lichkeit und urkundlicher Wahrheit. Beides fehlte den früheren 
Darftellungen diefer Ereigniffe. Ein gutes Stück Roman hatte 
ſich in die cleviſche Reformationsgefchichte eingefchlichen. Sie br 
durfte einer gründlichen Reviſion an der Hand der Acten und Ur 
kunden; die peinfichfte Controle mußte Facta und Sictionen fondern. 
Das vorliegende Buch bietet jie dar. Vollſtändig, ein- für allemal, 
bat es die Arbeit gethan. Was fie erheifchte, befitt der Verfafler. 
Er ift vertraut mit den Meinften Einzelheiten der rheinländifhen 
Kirhengefchichte, bis auf die Lebensläufe längft vergefjener Pfarrer. 
Seine umfaßlende Kenunis rat theils auf zahlreichen in Dauid 
land und Holland erfcienenen Werken, theils auf Urkunden, tie 
fie Privilegienbüher, Rathsprotokolle, Briefſchaften bilden. Dir 
Hiftorifche Luft in Ardiven und Bibliotheken atmet er mit Bor 
llebe ein. Beharrlich verfolgt er literariſche Spuren und geht mit 
großer Geduld den Wurzeln det Ereigniſſe nad. Nichte darf Fehlen, 
wodurch das Verſtanduis bes Begenftandrs gemeinen lomue. Sehcu 
für Schritt follen wir in ruhiger Bedächtigkeit den langſamen gl 
der Creigniffe begleiten, auch weniger Bedeutendes um des Zufam- 
menhanges willen nicht überfehen, bie wir bei der Wefeler Spuk 
anfangen. Ihr Gedächtnis möchte daB Buch erneuen, ihre & 
ſchichte und Vorgeſchichte vergegenwärtigen in perpetuam rei me 
moriam! 

Weit werben wir zuridgeführt in bie Bergangenheit der getreu 
Stadt Wefel, die ſteif und feft auf ihrem echte fteht. Mit friihe 
Barden tritt das politifche Leben der Bürger vor und Bin, bie vom 
ihren gnädigen, Tieben Herren, den Herzogen von Cleve, das Pr: 
vilegium erlangt Hatten, daß bie Fürften inmerhatb der Mauer 
Heine biefbende Wohnung nehmen durften. Daneben waltet rk 
und mächtig das katholiſche Kirchentum mit einträglichen Wunder 
bildern und lebensfrohen Heiligendienſten. Cine Fülle forgfälts 
gewählter Züge fprechen feine Blüte und feinen Verfall ans. Bid 
Fache Reibungen zwifchen Rath und Geiſtlichkeit zeigen bie Erihät: 
terung der alten Anctorität. Die Erbitterung des Volles gegen ben 
vertommenen Clerus ſuchte und fand reichliche Nahruug. Par 
fagte: Wäre Abel ein Prieſter zeweſen, fo Hätten A bie Geſchn⸗ 





Conrad v. Heresbach und Refonatisnsgeidichte der Stadt Weſel. BER 


teen ſicher dis Vrubdermotdes ſchuldig gefanden. Den todttranken 
lixchlichen Organismus hofften die Humaniften zu heilen, freilich 
nik ſolche, Die vor dem Sanctiffimmm die ewige Lampe auslöfchten 
und dor Plato's Bilde anzündeten. Doch gab 68 ja auch andere, 
die dein Heiland Kleider auf bei Weg breiteten, über die er feinen 
Einzug Halten follte, Sie waren die Aerzte, von denen der Herzog 
Johann III. von Cleve die Geneſung der Kirche hoffte. Er mehate, 
«6 tomme nur darauf an, die Univerfalmedicin vecht auzuwenden, 
die der große Erasmus bereite. Niemandem tranie er dafür eime 
nladlichere Hand zu, als dem Erzieher feines Sohnes, Conrad von 
Heresbach. Diefer merkwürdige Mann hat die Arbeit feines Lebens 
daran geſetzt, Gheiftentum und Humanismus, Proteſtantismus und 
Katholicismus zu verführen. In Baſel ald Gchülfe des Erasmus 
beſchaftigt, Lehrer des Griechiſchen in Freiburg, Doctor des Civil 
rechta in Ferrara, nachdem er das rigeroje und ſchreckliche Cramen 
beſiauden, Student des Hebräifden in Padua, um mit den Pros 
pheten in ihrer eigenen Sprache zu verkehren, Herausgeber des 
Strabo, Lehrer des Prinzen Wilhelm, war er das theologiſche 
Drakel des Herzogs, ber geiftige Mittelpunkt des Hofes. . Eine 
Kirchenſpaltung widerte ihn nicht weniger an, als der Fortbeſtand 
des Kirchenverderbens. Es galt beidem zu wehren. Er rieth dem 
Vürften zu Reformen, die dem Lande den Gegen der Reformation 
gaben und die Reformation felbft erfparten. Aufrichtig glaubte er 
an diefe Quadratur bes Zirkels, während die Aufklärer und Dir 
plomaten am Hofe bie Vorfchläge belächelten und ale Nothbehelf 
ſorderten, bis der Sturm der evaugeliſchen Bewegung worüber 
fe. Die Theologie des Ya und Nein leitete das Kirchenregiment. 
Donnernde Monitorien des Herzogs geboten dem Rathe in Weſel, 
fih fo zu Halten, dag man's fpüre, die Ketzerei fei abgeſchafft. 
Gleichzeitig klagte eine Kirchenorbnung im Stile Habrians VI. 
über De Kirchenunordmung. Sie gebot die klare Predigt ded Wortes 
Gottes ohne Nenerung und Schelten und die unentgeltliche Speu ⸗ 
dung der Sacramente; ob des Wortes Gottes im Sinne ber 
Auguftana oder des Heiligen Thomas, blieb unentſchieden. Begreife 
lich, daß der fürſtliche Regent der Kirche bald geſtehen mußte: ob⸗ 
wol er befohlen, wie dem Irrtum and des Zwietracht begegnet 


58 Bolters 


werben folle, verliefen die Dinge in noch größerem Unverftand und 
Widerwärtigkeit. Aber die Einficht, er rolle den Stein des Siiy 
phus, kam ihm nicht. In Wefel Hatte man fie, ſobald entjchieben 
Evangeliſche, wie Adolf von Clarenbach und der VBürgermeifter 
von Bert, entichieden Katholifchen, wie dem Pfarrer D. Fürften 
berg, die Spige boten. Der römifche Theolog verhöhnte die dog: 
matifirenden Rathsherren, hielt ihnen Rohigkeiten und Schandtatn 
des enangelifch genannten Gefindels vor, frohlodte bei dem Gebot 
des Herzogs, die Lutryaner zu ftrafen, zu verbrennen, zu lopfen 
und zu erjäufen, und tröftete fi) der Zufage: nie follten im de 
vifchen Sande zwei Kirchen geduldet werden. Der Rath war nidt 
gemeint, die ihm zugemuthete Collegenfchaft mit kirchlichen Schwird⸗ 
lern, Abenteurern und Narren anzuerkennen. Er unterjchied Raud 
und Flamme. Aus der Auguſtana hatte er ſich die großen Gl 
bensfragen beantwortet, zu ihren Ausſprüchen das Amen in feinem 
Herzen gefühlt. Als eine Herzogliche Bifitation das Ja des Worte 
Gottes durch ein Vielleicht verdrängen und die Seligkeitspuntte ale 
wiffenfehaftlihe Probleme behandeln wollte, entrang ihr der Rath 
durch ein muthiges Entweder»ober fo große Conceffionen, daß dr 
Stadt als eine Schülerin der Auguftana gelten konnte. Die Bl 
hochzeit zu Münfter machte fie nicht untren. Unerfüllt blieb dt 
Hoffnung der Katholiken: es möge jegt allen, bie der Lutherarn 
Fahnlein trügen, gezeigt werden, wie man mit Ketzern fertig wern 
In dem Falle des neuen Jeruſalem waren viele münſteriſche Er 
mente Weſels untergegangen, ihren verborgenen Reſten verjagte de 
Rath Rauch und Feuer in der Stadt. Heresbach achtete die Fürftn 
verbunden, ben Sieg über den Radicalismus dadurch zu fein, 
daß fie veralteten Misbräuden, Gaufeleien und Träumereien Dt 
falſchen Priefter mit chriſtlichen, gefeglichen, bürgerlichen Anord- 
mungen entgegenträten. Als fein Zögling ben Thron beftig, br 
nutzte er die Gunft des Herzogs, feinen Einfluß als Geheime: 
rath, die evangeliſche Geſinnung des Kauzlers Dlisleger, um 
raſcheren Schritte vorwärts zu kommen. Unter Iman Ort 
von Seeland und dem Freunde Melanchthons, Buſch, bewegte fh 
das kirchliche Bauen und Zerftören in ſchnellerem Tempo. Di 
Abendmahl verdrängte die Mefje, der deutjche Pfalmengefang DE 





Conrab v. Herebbach u. Reformationegeſchichte der Stadt Weſel. 549 


Horn; auch in die Kfofterfirchen drang der Umfturz, nicht aufe 
gehalten durch einige arme Nonnen, die gern alles treu beim Alten 
erhalten hätten... Es ſchmerzte auch den Herzog, daß man es fo 
über den Haufen werfe; er fanbte Prediger voll Pietät für das 
gute Alte. Aber diefe fanden ſolche Eintracht unter der weiblichen 
Bürgerfchaft, daß fie, am Erfolge verzweifelnd, gern den Ehren- 
wein als Abjchiedstrunf nahmen. Stärker regten ſich die Anhänger 
der alten Kirche, als Carls V. Hand Wefel fühlbar wurde, nach⸗ 
dem er dem Herzog von Cleve Geldern, dem Kurfürften von Coln 
and und Leute genommen hatte. Doc den Evangelifhen fam 
eine erwünfchte Kräftigung durch vertriebene Walonen, die den frans 
‚fifch »reformirten Proteftantismus als heiliges Erbgut mitbrachten 
und 1545 in eigenem, Belenntniffe ausſprachen, für deſſen Verteir 
digung fie kein Martyrium ſcheuten. Das Interim ſchien es zu 
bringen. Doch entzog fi die Stadt den harten Forderungen des 
Raifers durch fügfamen Anfchluß an den Landesherrn. Die her» 
vglichen und kaiſerlichen Tendenzen auf kirchlichem Gebiete gingen 
veit auseinander. Bon Carl mishandelt, dem Kaiferhaufe nahe 
verbunden, Schwager Johann Friedrichs des Bekenners, wollte der 
derzog Wilhelm der großen katholiſchen Reftauration feine Reform⸗ 
äne nicht opfern; fo blieb die Gegenreformation ein ſchwacher 
Berfudh. Einige Pfarrer und Schulmeifter mußten fliehen. Ihren 
atholifchen Nachfolgern fehlte Glaube und Vegeifterung für den 
Iten Glauben. Den Einfluß Plateans konnten fie nicht hemmen. 
Inbefümmert um das Tiebliche Interim, in dem das Wort des 
deren Jeſu gebreht werde, als fei e8 ein Wort des Pfaffen vom 
dahlenberge, lehrte er mach der Anguftana ohne Kirche und ver- 
yaltete die Sacramente ohne Altar. Die Mefje ward in leeren 
dotteshänfern gehalten, falls fie nicht dadurch gehindert wurde, daß 
er Briefter den Kanon aus dem Miffale geriffen fand. Die Stadt 
eß nicht nach, um Erhaltung des ganzen Abendmahls zu bitten, 
fchloffen, fo e8 nicht mit dem Willen des Fürften gehe, möge 
3 ohme ihn gehen; Gottes Ordnungen könne fein Fürft ändern, 
ir fie folle man leiden, was Gott befiebe. Der Augdburger Res 
gionsfriede gab, was man wünfchte, aber den vollen Kirchenfrieden 
it. Auch Wefel ward in den großen Streit der Rutheraner und 
Theol. Stud. Jahrg. 1869. 36 


beo Wolters 


Vhilippiſten gezogen. Eine muthige und kraftvolle Partei erhob die 
Fahne der unveränderten Auguſtana, um durch fie die Lehreinheit 
und bie Lehrreinheit zu retten. Nur zu Luthers Füßen und unter 
Luthers Aegide ſchien ihr die evangelifche Kirche ſicher. Ihr Haupt 
war in Weſel der gelehrte Burgermeiſter van Groen. Dieſen 
Führer führte Heßhuflus, der mit großartigem Heroismus fein 
Alles dem Worte Luthers geopfert hat. Durd feine Verwandten 
beeinflußte er die Landsleute. Die Walonengemzinde weckte fein 
Mistrauen. Sie ward gezwungen, fih in den Burgfrieden dee 
Augsburger Belenntniffes zu begeben, falls fle in Weſels Mauern 
bleiben wollte. Da drohte bie Peſt des Ealvinismus. Trümmer 
der Londoner Fremdengemeinde fchleppten fie ein. Das Weuferfte 
war von Menfchen zu befürchten, deren Pfarrer ein Schiller Gab 
vins, deren Berather, Tröfter, Regent der Reformator von Genf 
war. Der Rath bejorgte, dieſen Märtyrern nicht gewachſen zu 
fein, wenn er fie fi als Gemeinde conftituiren laſſe; die eben 
mit Müpe und Noth in die rechte Bahn gelenkten Walonen follten 
fie nicht anſtecken, verſtärken, zur Oppofition reizen. Daher gebot 
er ben Fremden, ſich zu den ſtädtiſchen Pfarrern zu Kalten, mochten 
fie auch von den dentſchen Predigten kein Wort verftchen. Nur fo 
war eine Eontrole möglich. Die Geiftlihen wurden mit ber Zu 
quifition der im Punkte der Sacramente Verdächtigen beauftragt. 
Unpeilbare hatten binnen drei Tagen die Stadt zu verlaffen. Dre 
Engländer, in der Schule der Leiden geſtählt, waren weniger füg 
fam, wie die Walonen. Sie hatten Verfolgern getrogt, die Gottes 
armes, verjagtes Volt zwingen wollten, vor Hunger feine eigenen 
Finger zu eflen. Die Ordonnanzen des Raths von Weſel fepredten 
. fe nicht. Als fie Belenntuisfreiheit forderten, holt der Rath Mes 
lanchthons Gutachten ein. Er bat für die armen Ehriften um 
Erbarmung, ohne ihre eigentümlichen Lehren zu billigen. Weil bier 
eine Differenz offenkumdig war, verhallte aud die Fürbitte „Fr 
unterfehreibt, im Brote ſei der Leib Chriſti, ober ihr zieht von 
dannen, feine andere Wahl.“ Die Flüchtigen pilgerten nad Sranf- 
fürt. So war die Kranfgeit verſchwundeñ mit den Iafterhaften 
Sacramentsverächtern, die ganze Wagen voll fremder Meinungen 
mitgebracht Hatten. Doch für bie Zukunft mußte man fih wer 





Conrad v. Heresbach u. Reformationegeſchichte der Stadt Weſel. BEL 


ſehen. Sporadiſche Fälle nicht ſtreng lutheriſcher Lehre bezeugten 
die Infection der Luft. Heßhuſius konnte von Luthers Abendmahls - 
lehre ſagen, was Carl V. von der Meſſe: „Wer fie mir nimmt, 
taubt mir mein Herz.“ Das mysterium tremendae majestatis 
fah ex nur im Luthers Dogma bewahrt. Mit ihm furchtete ex die 
ganze reine Lehre, ja den Helden Gottes felbft zu verlieren. We 
fie feft ftand, war das Heiligtum gefihert, wußte man doch, wer 
ganz getvig verdammt fei. Wohin fein Einfluß reichte, trug er die 
Begeifterung für das Intherifche Abendmahl. Seine Baterftadt, 
hoffte er, werde allen Ketzereien entfliehen, wenn fie fich diefes 
Meinod durch ein neues Belenntnis fichere. Er ſah den Wunſch 
erfüllt, als fein Schwager Groen die confessio Wesaliensis durch- 
fegte, ein Palladium des Luthertums. So fehien das dreifache 
Elend feiner Baterftadt erfpart, Lehrirrtum, Glaubenserkrankung, 
Verdammnis. Der Rath unterfchrieb das Bekenntnis für die Bür« 
gerfhaft. Die Walonen wollten die ausſchließliche Lehrregentſchaft 
Luthers nicht anerkennen. Ihre Oppofition ftärkte alle, die fich 
am ſummariſchen Verfahren der Lutheraner jtießen. Vergebens 
eutſchieden Marbach, Mörlin, Chemnitz: bie Confeſſion ſei fo ſchrift⸗ 
gemäß, daß fie ändern ben Abfall von Gottes Wort einfchfiche; 
nahmen bie Fremden fie nicht an, und würde der Unkrautfame 
weiter in der Stabt ausgebreitet, fo möge ber Rath bedenfen, was 
für eine graufame Barmherzigkeit e8 fei, um Fremden zeitliche Ruhe 
zu fchaffen, die eigenen Bürger und Nadjlommen ewigem Berderben 
zu opfern. Calvin hatte gewarnt, durch Annahme der Confeſſion 
Gottes Wahrheit zu verleugnen. Alſo find die Berathenen Calvi- 
niſten, rief Heßhuſius. Ste dulden, hieß ihm Calviniſten und Lu⸗ 
theraner uniren, die doch gefchieben feien, wie Aufgang vom Niebers 
gang. Durch die Macht feiner Perfönlickeit wollte er Luthers 
Sache retten und eilte nach Wefel, um den Ehrjamteiten auf dem 
Rathhaufe die tiefgrünbigen, unbegreiflichen Aftitel deutlich zu machen. - 
Schwerlich fand er gelehrige Schüler. Conciliatoriſch aufzutreten, 
war nicht feine Sache. Als theologifcher Imperator hatte er einen 
böfen Ruf. Man kann denken, wie fehneibend er Halblutheraner 
verdammte, wie er feinem Zorne über Melanchthons Abfall Luft 
machte. Nichts Ing ihm daran, die Pietät gegen Luthers Gehülfen 
86* 


552 ’ Bolters 


zu verhöhnen, die Trauer um des Meifters Tod zu tränten. Da⸗ 
mit ftieß er freilich auch bei feinen Treuen en. Sie vermochten 
«8 nicht, über dem ſchwankenden, irrenden Melanchthon das groß 
Werkzeug Gottes zu vergefjen, über dem Freunde Calvins den 
Autor der Loci. „Er fei mir wie ein Heide und Zölfner“ wolle 
auch Heßhuſius' Schwager nicht fagen.. Zugeftändniffe Hütte der 
Held des Luthertums Laien, Verwandten nie gemacht. Ein Brud 
erfolgte. Die Eonfeffion fiel. Der Eonfeffor erlebte den Schmen, 
den eigenen Schwager mit calvinifchem Gifte befledt zu fehen. 
Daß er in einem Privathaufe feiner Heinen Herde gepredigt, ward 
der Anlaß, ihm die Stadt zu verbieten. Ungebeugt, unerſchüttert, 
blieb er des Glaubens, daß Gottes Wort und Luthers Lehr’ vers 
gehen nun und nimmermehr. An dem Botum von Majoritäten, 
und feien es ganze Ränder, Hing ihm die göttliche Wahrheit nicht. 
Seine Anhänger wurden nicht ohne Gewaltthaten aus Wefel ver- 
trieben. Die Stadt wandte ſich zur Variata. Melanchthon beſtith 
die Kathedra, die er bald Calvin abzutreten Hatte. Als Abe 
Scharen von Nieberländern vertrieb, wies fie Wilhelm von Oranien 
nad Wejel, das feit Jahren allen verjagten frommen, aufrichtigen 
Chriſten ein Ajyl gewähre. Die hier geborgenen Reformirten wollten 
‚bie daheim und draußen zerftreuten Glaubensgenoſſen in einen fird- 
Tichen Organismus zufammenfaffen und ihnen eine Eentralbehörke 
ſchaffen. Sie erftrebten die Selbftregierung ber Cinzelgemeinden 
durch Presbpterien und die bfeibende Zufammenfaffung und Ge 
famtleitung dur; Synoben. Während das Schwert noch über ihren 
Häuptern ſchwebte, Hielten fie am 3. November 1568 die Synode 
von Wefel.* Zweiundſechszig Geiftlihe und Weltliche nahmen daran 
Theil. Grundlinien über Bekenntnis, Verfaſſung, Gottesdienft 
wurden gezogen, damit, wenn es bei günftigerer Zeit zur Berufung 
einer Synode füme, nur noch die weitere Ausführung des Bau 
zu verhandeln fei. Man ging aus von den presbpterialen Ein 
richtungen der ausländischen Kirchen, fiir die Genf Mufter gemorden 
war, daneben berüdfichtigte man die ſpecifiſch niederländifche Form, 
die die waloniſche Gemeinde fich gegeben hatte. Sehr befonnen, 
heilſam, im Nebenfachen Freiheit gewährend find die Rathſchläge. 
Eruft wird auf die unentbehrfiche Kirchenzucht gedrungen, dringend 








Conrad v. Heresbach u. Reformationsgefchichte der Stadt Wefel. 553 


die Firchliche Unterweifung in Bibelftunden empfohlen. Man ift 
überrafcht durch die gewünſchte Herftellung'des Inſtituts der Dia- 
loniſſen. Bon den modernen Requiſiten der Presbyterialverfafjung 
findet ſich nichts. Das Treiben des unverfhämten und unbebadht- 
famen Volkes fol von der Pfarrwahl ausgeſchloſſen bleiben. Er» 
ſchreclen muß der Liberale firchliche Parlamentarismus vor diefer 
Eonftitution. Dennoch geht durd die Verhandlungen der Synode 
eine merkwürdige Klage über die Aelteften. Die Synodalen müffen 
überans ſchmerzliche Erfahrungei® in diefer Richtung gemacht Haben. 
Anmagendes Einmifchen im rein geiftliche Angelegenheiten, herrſch⸗ 
ſüchtiges Meiftern der Pfarrer wird gerügt. Man unternimmt es 
aber nicht, das Inſtitut der Aelteften gründlich umzugeftalten und 
die Heillofe Vermifhung von Pfarramt und Laienthätigfeit unmäg- , 
ich zu machen. Die Spnodalbefchlüffe wurden 1571 von der 
Synode der niederländifchen und oftfriefifchen Firchen angenommen 
und 1574 zu Dortrecht beftätigt und ausgebildet. Die deutſche 
Gemeinde zu Wefel nahm die Ordnungen der Niederländer an. 
Bon da breitet ſich die reformirte Kirche im weſtlichen Deutſchland 
aus, eine Pflanzſchule ernten kirchlichen Sinnes und bibelfefter 
Frömmigkeit. 

Es ift nicht möglich, die zahlreichen, durchweg neuen Details 
hervorzuheben, durch welche das Buch den Kenner der Reforma- 
tionsgefchichte fefjelt, ober die Urkunden zu regiftriven, bie ihm beis 
gegeben find, unter denen das Protofoll des Conventes ben erften 
Pag verdient. Nach dem einzigen in's Gravenhange aufbewahrten 
Manuferipte iſt es abgedrudt und vom Herausgeber mit Ueber 
fegung und Noten begleitet. Diefe zeugen, wie die ganze Arbeit, 
von der Gewiffenhaftigfeit der Forſchung und der Geduld der Liebe, 
von dem hiſtoriſchen Talente und der frommen Begeiſterung, die 
der Autor zu feinem Werke mitgebracht Hat. Völlig find die Er— 
wartungen befriebigt, die der Biograph des Conrad von Heresbach 
rege machen mußte. In der Gejchichte diefes Mannes Liegt der 
Schlüſſel zum Verftändnis der kirchlichen Stellung des clevifchen 
Hofes. Faſt verlofchen war fein Andenken. Wer es erneuen wollte, 
hatte, wie ein Mofailarbeiter, die gegebenen äußeren Umriſſe 
einer Figur mit hundert Heinen Steinen auszufüllen, mit Sicht und 


554 Wolters, Conr. v. Heresbach m. Reformatiousgeſch. b. Stadt Weſel. 


Schatten auszuftatten. Die Fragmente des Materials waren müh- 
fam zu ſuchen. Sie finden fid in Heresbachs Schriften über Land⸗ 
wirthſchaft, Furſtenerziehung, chriſtliche Jurisprudenz, chriftliche 
Staatsverwaltung, in feinen aſketiſchen Werken, im Commentat 
über die Pſalmen. Außerdem find ein Tagebuch, der Bibliothels⸗ 
tatalog, ein Theil ber Correfpondenz, bie Urkunden feiner Stif⸗ 
tungen, die Reſte des Bamillenarchivs vorhanden. Ergänzungen 
dieſes Stoffes waren ſchwer erreichbar. Hunderte von Büchern mußten 
gefragt werden. Die ganze Literatũr über die Zeitgeſchichte bis auf 
die zufegt publicirten Staatspapiere war zu muftern. 

Nur auf biefem weiten, mühevollen Wege ift das Ziel er- 
reiht, den Humaniften, Juriſten, Theologen, Staatsmann, Er- 
ziehet Heresbach barzuftellen ganz nad; dem Leben, im Hausbleide 
und in der Hofrobe, auf feinem Landfige und. im Schloffe der 
Königin von England, unter den Claffitern und den Apofteln. 
Bunt und abwechſelnd, wie fein Leben, ift die Biographie. Viele 
intereffante Perfönfichkeiten treten auf. Neben Erasmus, Garen 
aus, Zafius, Myconius, Melanchthon, Campanus, Hermann von 
Ein, Mafius, Wier erfceinen die fürſtlichen Frauen: Johan 
d’Albret, Sibylle von Sachſen, Maria Eleofore von Brandenburg 
und Anna von England. ingehend werden bie verſchiedenen Ger 
ftaltungen des Humanismus geſchildert, die erasmifchen Kreife, die 
Univerfität Freiburg, die Pädagogik der Heidnifchen und chriſtlichen 
Humariften, die Reformbeftrebungen Hermanns von Cöln, der 
Geldriſche Krieg, die Brautfchau Johann Friedrichs von Sadfen, 
die Reftauration des römiſchen Rechts durch den claſſiſchen Kos⸗ 
mopolitismus, Wiers Kämpfe gegen das Hexenweſen und Alba's 
Bemühungen, Cleve katholiſch zu erhalten. Bei jedem Schritt ſteht 
man in ber Geſchichte der Staaten, Höfe, Städte, der Kunſt und 
Gelehrſamkeit. Freilich find die Bemühungen Heresbachs und feines 
Fürften um bie Herrfchaft des erasmiſchen Katholicismus erfolge 
108 geweſen. Doch daran muß man den Werth des Menſchen 
nicht meffen, fagt Ranke, was er gewirkt hat. Es würde fein Dar 
fein auf die Exde beſchränken, und Jeder, der fich das überlegt, 
müßte verzweifeln. Darauf kommt es an, wie er. in fich ſelber 
war. Heresbach verfühnt uns mit feinen Itrtümern durch die Ge⸗ 





Biper, Einleitung in die morumentale Theslogie uuu 


diegenheit feines Charakters, die Yauterfeit des ſtaatsmänniſchen 
Wirlens, die Liebe zum Evangelium und den frohen Glaubensblic 
dahin, wo ihm werden ſollte, was die Deviſe St. Aldegonde's aus- 
ſpricht: repos ailleurs. 

Bien. D. ®iltene, 


’ 


Einleituiig in die monumentnle Cheologie.e Bon Fer⸗ 
dinaud Piper, Doctor und Profeffor der Theologie an 
ber Univerfität zu Berlin. Gotha, Rud. Beffer. 1867. 
ZXI u. 910 SS. 





Der Herr Verfaſſer dieſes ebenfo inhalt» als umfangreichen Buches 
bat fich Längft nicht bloß auf dem praktiſchen Gebiete der Kirche, 
im Dienfte der chriſtlichen Gemeinde und Familie ein großes Ver ⸗ 
dienft erworben durch feinen ebangeliſchen Kalender, der mit nächſtem 
die Reihe feiner Lebensbilder abfchließt und ſchon jegt durch bie 
weiſe Theilnahme und vermittelnde Kürforge des evangelifchen Ober ⸗ 
lirchenraths für Preußen der Eiſenacher Conferenz behufs einer 
weclmißigen Zurichtung und Verbreitung unter dem Bolte in den 
landesticchlichen Kreifen übergeben worden ift. Schon mit ber 
Herausgabe feines Kalenders verband jedoch der gefehrte Theologe 
regelmäßig archaologiſche Beröffentlihungen, welche ſich in mehr 
oder weniger nahem Zufammenhange mit der Aufgabe des Kalen- 
ders befanden. Daneben erfehien vor achtzehn Jahren feine My⸗ 
tholegie und Symbolik der hriftlichen Kunft von ber Alteften Zeit 
bis in's ſechezehnte Jahrhundert in zwei Abtheilungen Ihres erften 
Bandes. In Herzogs Menlenepllopädie (Bd. XV) ift aber auch 
Gen die monumentale Theologie in ausführlicher Ueberfiht als 


556 " Piper . 
eime Borbereitung bes gediegenen wifjenfchaftlichen Werkes behanelt, 
welches in der vorermähnten Schrift nunmehr vor Augen Liegt. 
Die Einleitung in die monumentale Theologie umfchreibt und 
rechtfertigt für's erfte den Begriff diefer Theologie als eimer ſelb⸗ 
ftändigen theologiſchen Wiſſenſchaft. Sie befhäftigt fich fobann mit 
der Eintheilung des zur monumentalen Theologie gehörigen 
Stoffes. Zufegt entwirft fie eine Geſchichte der bisherigen mo 
mumentalen Studien im Intereſſe der Theologie und Kirche. 
Die monumentafe Theologie ift die Theologie der Monumente. 
Unter Monumenten werben verftanden, im Unterfchiede von dr 
handſchriftlichen, wie der gedrudten Literatur, Infchriften und Kunf- 
denfmäler.- Schon Wald (1770) Hat unter den Quellen dr 
Kirchengefchichte ſchriftliche Aufiäge und Denkmale als die beiden 
Hauptarten unterfchieden und ‚zu den. legteren Bilder, gejchnitten 
Edelſteine, Inſchriften, Münzen, Gebäude.und Geräthe gerechnet 
Auch Planck und Gieſeler haben dem beigepflichtet, aber wenig Gr 
brauch davon gemacht. Indeſſen nennt unfer Verfaffer mit Recht 
den Gefichtöpunft, daß die Dentmale „da8 Andenken wichtiger Prr- 
fonen und merkwürdiger Begebenheiten fortpflanzen“, für un: 
reihend, um die allgemeine Bedentung derfelben erkennen zu laſſen 
Die Kunftdentmäler in der Kirche dienen einerfeits dem Cultus zur 
Ausſchmückung und Pflege, andererfeits erfüllen fie ſchöpferiſch ein 
felbftändige Aufgabe und ftelfen die religiöfen Ideen im ihrer eigen 
tümlichen Ausprägung und verfehleden von dem Charakter der Wiſſen⸗ 
ſchaft dar. Welde Vergleichungen und Gegenfäge treten uns ;.®. 
in der gleichzeitigen bildenden Kunft, voraus der Architektur, und 
in der Scholaftit des Mittelalters entgegen) Dabei wird ferner 
mit anſchaulichen Beifpielen betont, daß die Werke der Kunft nicht, 
wie jene der Wiffenfhaft, nur dem Gelehrten oder vorzugsweiſe dem 
Kunftkenner, fondern der Gemeinde angehören. Weil jene Det 
mäfer unausgeſetzt und Jahrhunderte hindurch auf das criftlihe 
Bolt eingemirft haben, fo läßt ji daran Sinn und Berftändnit, 
Glaube und Sitte der Gemeinde meſſen. Aber auch umgefeirt 
haben bie Gemeinde und ihre Zuftände, ja vornehmlich bie Ent 
widelungen des Dogma’s und Belenntnifjes auf die Kunftoorftel 
lungen beftimmend, fortbildend, umgeftaltend eingewirkt. Es mar 





Einleitung in bie monumentale Theologie. 557 


deshalb: nicht unbegründet, wenn ſchon 1765 der Franzoſe Mery 
mit- einer Théologie des peintres, sculpteurs etc. hervortrat und 
die chriſtlichen Kunftvorftellungen unter Nachweis der damaligen 
Kunftthätigfeit erbrterte. Und wie Otfried Müller von einer ans 
tifen Theologie vedet, die aus den Kunſtwerken allein zu ſchöpfen 
fei, fo hat Roſenkranz eine Theologie der Kunft entworfen, welche, 
der Archäologie oder ber Geſchichte des Cultus eingefügt, den Pro- 
ceß und die Formen, in melden die Kunft den religiöfen Inhalt 
für die Phantafie vorftellt, behandeln follte. Abgeſehen von der 
Gebundenheit diefes Entwurfs in der Conftructionsmeife des He 
gel'ſchen Syſtems, hat Piper mit Grund theils die wiſſenſchaftliche 
Stellung diefes Entwurfs einer Kunfttheologie für ungenügend er« 
Märt, theils deſſen Inhalt und Umfang unvollſtändig erfunden. 
Ueberdem zieht er neben den Kunftdenfmälern aud die Epigraphif, 
die in den älteren Zeiten der hriftlichen Kirche eine vorzugsweiſe 
Ausbeute liefert, im den Bereich der von ihm in Bearbeitung ges 
nommenen Wiſſenſchaft, die er eben deshalb, Denkmäler und In— 
fpriften zufommmgfaffend, als diejenige der monumentalen Theo- 
logie bezeichnet. 

Bei aller Zuftimmung, welche dieſe Behandlung des Gegen- 
ftandes verdient, will e8 mir doch jo vorfommen, als ob, um an 
etwas zuvor Erwähntes nod einmal anzufnüpfen, dem lebendigen 
Wechſelverkehr zwifhen Kirche und Kunftübung, Glaubensrichtung 
und Darftellungsweife nicht die volle Bedeutung und tiefgehende 
Wirkung zugefehrieben wäre, die ihr meines Erachtens zulommt, und 
die gerade für den Theologen die nene Wifjenfchaft, mit welcher 
fich zu befchäftigen ihm zugemuthet wird, erft recht anziehend er- 
feinen läßt. Im diefer Hinficht dürfte es genügen, auf einige 
befonders wichtige Geſichtspunlte aus dem hiſtoriſchen Verlauf der 
Kirche und ihrer Anfchaunngen und Lehren, fowie der chriſtlichen 
Kunſt von ihrem Werden an durch ihr Wachstum und in ihrer _ 
ſowol formellen, als materiellen Ausbildung und Misbildung hin- 
zumweifen. An dergleichen Andeutungen fehlt e8 zwar nicht in dem 
zweiten Hauptabſchnitt unferes Buches, von der Eintheifung ber 
monumentalen Theologie, namentlich in beren drittem Theile, von 
den Kunſtideen. Aber ficherlih wäre es im Intereſſe der ange⸗ 


888 x Biper 


bahnten Wiſſenſchaft und der ihr zuzuwendenden Theilnahme im 
theologiſchen Publifum gewefen, den Gegenftand gerade dieſes Abr 
ſchnittes eingehender, anſchaulicher und comereter zu behandeln. 

Es ift vor allem charakteriftifch, wie dem Kunfthaffe der erſten 
chriſtlichen Jahrhunderte ein tiefer fittlicher und religiöfer Gruft det 
Hriftlichen Volles zu Grunde Tag, wie fi, worüber noch Ter 
tullian ſeine Bedenlen äußert, bie erften Anfänge einer ſymboliſchen 
Kunftoorftellung nur ſchüchtern hervorwagen, und wie daneben mit 
rübrender Anfpruchslofigkeit ber ültefte chriftliche Gottesdienft aus 
der jübifhen Synagoge hervorwächſt, das äftefte chriftliche Gotteh 
Haus als Berfammfungsftätte der Gemeinde fi an bie heidniſche 

Baſilikenform anfchließt. Aber nun drängt ſich das unaufhaltſam⸗ 
Bedürfnis bildlicher Darftellung der heiligften Ideen und Empfin 
dungen, welche das chriſtliche Gemüth bewegen, an ben Seiten der 
Grabdenkmaler, auf den Wölbungen und Wänden der Katakomben 
heraus, und jener anmuthsvolle gute Hirte, deſſen Standbild das 
chriſtliche Muſeum des lateranenſiſchen Palaftes aufbewahrt, ſicht 
als eine ſchöne Nachblute altrömiſcher Plaftit vownns da. Obwol 
nun bald Hierauf die Kunſtübung in der chriſtlichen Kirche in rohet 
Machwerk zerfiel und. vom Often ber in ftarren Byzantinismus 
verfant, jo entfaltet fich beim Wiedererwachen eines Iebendigen Odems 
in den Kunſten der großartigfte Gegenſatz zwiſchen dem Charakter 
der griechifchen und. der chriſtlichen Religion. Während die Bor 
Käufer des Phidias, z. B. die Meifter des äginetiſchen Giebelfeldes 
in ber Mündener Ofyptothet, ja noch des Phidias Zeitgenofje Myron 
den menſchlichen Körper ſchon in feiner lebensvollen Naturwahrheit 
darzuftellen wußten, aber fein Geſicht noch in der conventionellen 
Form und in der ausdrudsloſen Steifpeit früherer Darftellung 
auszuführen pflegten, Phidias aber erft mit feiner Schule den Fort⸗ 
ſchritt einer edlen Form mit der idealen Schönheit in der Behand 
fung des Antliges volleudet, hat die hriftliche Kunſt, zumächft im 
Gebiete der Malerei, den entgegengefegten Weg eingejchlagen. Die 
berühmte Madonna des Eimabue in Florenz, bie den Reigen ber 
chriſtlichen Kunftentwidelung des Mittelalters eröffnet, beginnt mit 
dem vergeiftigten Antlig über der noch unlebendigen Geftalt, und 
von dem feelenvollen Auge, von den ausdrucksvollen Mienen nimm 


‚Einleitung in bie monumentale Theologie. 559 


die wiedererwachte Kauft den Gang ihres fchöpferiichen Waltens 
durch Glieder und Gelenke, Figur und Gruppe, bis im Abendmahl 
eines Leouardo, in den Stanzen eines Raffael die vollendete Kumft 
ſich entfaltet. 

Nachdem die Wegenftände ber bildenden Kunft in den früßeften 
chriſtlichen Jahrhunderten fi) auf den prophetiſchen Beruf und bes 
fonders anf die Wunderthaten Eprifti befchränkt hatten, wurden erft 
infolge der trinttarifchen und chriftologifchen Verhandlungen, ſowie 
des Streiteß über die Maria ale Isoroxos die Mabdonnenbilder 
mit dem Jeſusknaben im Schoße ſichtbar, und erft im Zufammen- 
hange mit dem Dogma des Paſchaſius wird durch das Abendland 
hin das Crucifix verbreitet, während im Orient das Kreuz herr⸗ 
ſchend bleibt. In Wechſelwirkung mit der Möndsaftefe, den Buß- 
ordnungen und dem Geislerweien nimmt der Crucifixus und eine 
Reihe anderer Heiligen und Märtyrer die zerfallene Geftalt und 
jammerreiche Geberde fpäterer Kunftübung an und dient hinwie- 
derum zur Entftehung und Pflege der excentrifchen Sitten. Die 
Etſtaſe befonders der ſpaniſchen Gebetsbilder des fiebenzehnten Jahr⸗ 
hunderts hat, wol vornehmlich unter dem Einfluß jeſuitiſcher Oberen, 
jene übernatitrlich fein follende und unnatürlich erfcheinende Vers 
jerrung einer verzüdten Andacht, die uns in unzähligen katholiſchen 
Kirchengemalden entgegentritt, in's Leben gerufen. Dahin gehört 
namentlich das Bild der Schmerzensmutter mit dem Schwert, das 
ihe durch die Seele dringt, ein Lieblingsvorwurf der modernen 
Kirhenmaferei. Weberhaupt Täßt fi aus der Entftehung der Hei⸗ 
figenbilder der Urfprung der Verehrung der einzelnen Heiligen er» 
Hären; während Chriſtoph umd Georg in eine frühe Zeit hinauf 
reichen, Tommt die heilige Anna, die Großmutter Ehrifti, erft im 
fünfzeguten Jahrhundert als eigenes Bild, am liebften mit Maria 
md Jeſus als Heinen Kindern auf beiden Armen, vor, weshalb 
Anspelms Berner Chronik den Refrain erwähnt: „Maria ſelb 
vritt, erhör unfer Bitt“. 

Bon eigentümlichem Werthe find auch die Holzfchnitte der Re 
ormationsperiode. Sie werfen ein Licht auf die negativen und 
tofitiven Elemente der tiefen Bewegung, welche damals durch alle 
Schichten des Volkes gieng. An ihnen bethätigten fich ohne Zweifel 


560 Piper 


die namhafteſten Künftler jener Zeit. Profefior Woltmann in 
Carlsruhe, der jüngfte Biograph Holbeins, hat in einem eigenen 
Bortrag, der mit Illuſtrationen veröffentlicht worden ift, eine Ans 
deutung von dem Reichtum finniger Darftellungen gegeben, bie fih 
3 B. in den großen Berliner Sammlungen vorfinden. 

Was endlich, um diefe meine Bemerkungen nicht allzu weitläufig 
zu machen, den Aufjchwung der bildenden Künfte im gegenwärtigen 
Jahrhundert betrifft, fo ift 8 gewiß eine merkwürdige Erſcheinung 
daß, während eine Anzahl der jogenannten Nazarener von ber evan 
geliſchen zur katholiſchen Confeſſion übergetreten find, der gröft 
Maler unferer Zeit, der vor Kurzem in Berlin verftorbene Peter 
Cornelius, obwol Katholif, in feinen kirchlichen Eompofitionen einen 
univerfaliftifchen Standpunkt einnimmt, der ſich, zumal in feinen 
legten Carton, entſchieden zur evangelifhen Anſchauung Hinneigt, 
wenn er beim Pfingftwunder die Maria nicht unter den Apofteln 
fein läßt. Unter den jegt Iebenden Malern fteht wol auch in re⸗ 
figiöfer Bedeutung Schnorr von Carolsfeld obenan, deffen Bilder: 
bibel ein kirchliches Ereignis genannt werden darf. Im der drift 
lichen Bildgauerfunft überragt hingegen Rietſchel, der Schöpfer der 
Pietas in der Friedenskirche von Sansſouci und des Lutherdent- 
mals in Worms, die großen Meifter nicht nur unferer Zeit, we 
einen Rauch und Thorwaldfen, fondern bis über Michel Angeı 
hinauf. 

Wenn der verehrte Herr Verfafjer den zweiten Hauptabfhnitt 
feines Buches in dem Kapitel von den chriſtlichen Kunftideen mit 
folchen und anderen Exempfificationen belebt Hätte, fo würde fih 
eine wol noch feſſelndere Wirkung auf den nächſten Leferkreis, na 
mentlid) auch unter den Männern des praktischen Sirchendienfte, 
haben erzielen laſſen. Es durfte, im Vergleih damit, in dem 
dritten Hauptabfchnitte das Eine uud Andere, zu einer gedrunge 
"neren Mittheilung fommen. 

Diefer dritte Hauptabſchuitt enthält die. Gefchichte und Literatur 
der monumentalen Theologie (S. 70—908). Hier finden wir 
uns nur durch den ficheren und klaren Faden der ſachkundigften 
Führung in der Fülle literariſchen Materials zurecht, wie man fit 
der ftupenden Gelehrfamkeit und dem unermitdlichen Forſchungs⸗ 





*  Einfeitung im bie monumentale Theologie, 561 


triebe verdankt, der feit lange in deutfchen, itafienifchen, franzöfifchen 
und engliſchen Bibliotheken, Klbſtern, Galerien, Kirchen gefucht und 
gefommelt hat. Die Kunftbetrachtung hebt mit den apoftolifchen 
Vatern an. Der römifche Clemens beruft ſich auf die Salzfäule, 
in welche des Lot Weib verwandelt, und welche, wie auch Joſephus 
bezeugt, der fie felbft gefehen Haben will, „bis auf diefen Tag“ 
vorhanden fei. Juſtin der Märtyrer, der das Wanderleben eines 
teiſenden Evangeliften führte, erwähnt aus eigener Anficht die ſieben ⸗ 
ig Zellen auf der Inſel Pharos bei Alerandria, in welden die 
wunderbare Weberfegung des U. T.'s zu Stande gelommen fei. 
Origenes, Ambrofins, Chryſoſtomus kommen auf Adams Grab in 
Golgatha zu ſprechen, worin man eine bedeutfame Parallele zu der 
Todesftätte des Heilandes fand. Hieronymus erwähnt das Salem 
des Melchiſedet, deflen großartige Palaftruinen in der Nähe von 
Schthopolis fügen. Bei demfelben kommen die Grabmäler von 
Jeſſe und David in der Umgegend von Bethlehem, die Gräber des 
Amos, Habafut, Jonas, ein Grab der Maccabäer u. a. vor. 
Eine wichtige Stelle nimmt bei Eufebins, Theodoret und Chryfos 
ſtomus das Gedächtnis‘ des zerftörten Serufalem im Zufammen« 
bang mit der darauf gerichteten Weißagung ein. Bon hier aus 
verbreitet ſich die Darftellung des Buches über das archäologiſche 
Intereffe der Apologeten aus den Gebieten der griechiſch- römiſchen 
Belt und der Kirche. In der Folgezeit aber befchäftigen den Ver⸗ 
aſſer vorzugsweife die Bilderſtreitigkeiten des chriſtlichen Orients, 
se fi fodann in der Periode des Mittelalters wiederholen und 
n den Dccident Hinüberfpielen, wo Carl der Große mit weifer 
Intjcheidung vermittelt. Hieran reihen fi in einer erfchöpfenden 
lufeinanderfolge die kunſtgeſchichtlichen Zeugniffe der Chroniften, 
er Encyklopädiften, der Pontificalbüher, der Schofaftit und Myſtik, 
er Dichtung (des Nibelungenliedes und der Commedia divina des 
daute), der Humaniften (Petrarca), der Topographen, Archäologen 
nd Hiftorifer bis zur kirchlichen Reform des Savonarola. Die 
euere Zeit aber führt mitten in das Wiederaufleben des Bilder 
teites unter den Reformatoren hinetn und läßt die numismatifchen 
nd archäologischen Studien und Spfteme und die vornehmften 
Nitarbeiter für dieſe Wiffenfchaft an dem Lefer vorübergehen bie 


562 Viper, Einleitung in bie monumentule Theologie. 


auf die Ergebniffe, Anftalten, Sammlungen, Ausfichten der Gen 
wart. Diejes ebenfo ſchwierige, als Teiche Feld gelehrter Arbeit it 
mit einer meifterhaften Ueberficht durchgeführt, und es ift nur fehr 
zu wünfchen, daß bei dem in neuerer Zeit unleugbar hervortreiu: 
den Sinn für hriftliche und Kirchliche Kunſt unfere- theologijht 
Jugend auch die Fingerzeige zu Herzen nehme, bie ihr der hen 
Berfaffer darbietet, und die aus ben trefflichen kunſthiſtoriſche 
Schriften von Schnaaſe und Lübke eine kräftige Unterftügung und 
in dem Bilderatlas zur Kunftgefchichte, welchen die Buchhandlung 
von Ebner und Seubert foeben in einer wohlfeilen Boltsansgek 
veranftaftet Hat, ein Iebensvolles Spiegelbild gewinnen. 

Mit gleihem Fleiß und großer Voltftändigkeit ift der Geſchicht 
der chriſtlichen Kunſtarchäologie auch eine Geſchichte der chriftlige 
Epigraphik zur Seite geftelit, die im Vergleich mit den Kunftdel: 
malern die Mehrzahl der Leſer wol weniger intereffirt, aber fr 
das Geſamte der momsmentalen Theologie ebenfo wichtig und un 


entbehrlich ift. 
Gräüneifen 





3 


Bum SKeweis des Glaubens. Bon D. Albert Bel, 
anferorbentlichem Profeffor der Philofophie am ber Ihr 
verfität zu Göttingen und orbentfichem Mitgliede ber Bil, 
rifch =theologifchen Societät zu Leipzig. Sonderabbrud aus 
der apologetifchen Monatsfchrift: „Der Beweis des Glau⸗ 
bens“. Gütersloh, Drud und Verlag von C. Ber 
telsmann. 1867. IV u. 179 SS. 





Neunzig Jahre früher Hatte Leffing über den , Beweis des Geift 
und der Kraft“ in dem Sinne gehandelt, als meine ber Apoid 
Baulus mit diefem Ausdruck das Gleiche, was Origenes dem Cehſui 








Peip, Zum Beweit des Glaubens. 7") 


migegenhtelt, daß nämlich die Kraft, wunderbare Dinge zu tun, 
von den Gheiften nicht gewichen fei, und die chriſtliche Religion 
daran einen eigenen göttlicheren Beweis Habe, als alle griechiſche 
Dialektif gewähren könne. Es ift diefelbe Schrift, in der Leifing 
jenes gewichtvolle Dietum aufftellte: „Zufällige Geſchichtswahrheiten 
können der Beweis von notwendigen Bernunftwahrbeiten nie werden.“ 
Weil Strauß dies Wort wieder auf feinen Schild gefchrieben Hat, 
fommt aud Herr Peip auf dasjelbe gelegentlich zurück, indem er 
für das Bedurfnis der Gebildeten den von Kant einft beabfichtigten, 
aber ungenügend ausgeführten Nadweis zu liefern verſucht, daß 
die ganze Glaubensfrage eime fittlihe Lebensfrage 
ift, daß namentlich, wie der greife Nitſſch auf dem Brandenburger 
Kirhentage fagte, bie Lehren von der Dreieinigkeit und 
vom Gottmenſchen als Sittenlehren anzufehen find (S. 121). 
Den wefentlichen Inhalt der Heinen Schrift in größerem Stile 
ſyſtematiſch zu bearbeiten, hat der Verfaſſer einer jpäteren Zeit 
vorbegalten. Zür jet ‚bietet er mit einer Ueberfülle von Citaten 

naturwiſſenſchaftlicher, philoſophiſcher und theofogifcher Literatur aus 
alter und neuer Zeit eine Art Rhapſodie, bei der man (mit Kant 
zũ reden) viele zur Sache gehörige Erkenntniffe als Bauzeug ger 
ſammelt und auch techniſch zuſammengeſetzt ficht, ohne doc die Idee 
in helferem Lichte zu erbliden und das arditeftonifhe Ganze zu 
überfchanen. Die eigentlich methodifche Unterfuchung ift gar fehr 
verdeckt durch den lebhaften Dialog, der mit Gegnern und Freun⸗ 
den nach reits und linls Hin geführt wird; die logiſche Folge der 
Gedankenentwickelung wird unterbrochen durch geiftreiches Geplauder 
und laute Reclame. Man trägt am Schluffe den Eindrud eines 
philoſophiſch⸗ theologiſchen Potpourri davon, in dem einzelne Stüde 
ganz trefflich gelungen find, andere umfomehr bie Kritit heran» 
fordern. 

Aus der Reihe der Philoſophen liebt ber Verfaſſer Hanpt- 
ſachlich ben Ariftoteles zu citiren unb befennt ſich gern zu Loge und 
Trendelenburg, den anerkannt bedeutendften Philofophen der Gegen⸗ 
wart, die ohne Falſch, ohne verftohlene Liebängelei mit der Kirchen⸗ 
lehre die letzte Loſung aller metaphyfifchen Fragen in dem Gedanlen 
der Liebe zu finden ftreben (&. 147). Auch mit Ueberweg geht 


564 Beip 


er öfter Hand in Hand. Seine Eonftruction ber Trinität dantt 
er Liebner (S. 102). - Seine Meinung von den chriſtologiſchen 
Wertken Dornerd und Baurs geht — was bie Verfaffer felbft viel 
leicht abgelehnt hätten — (S. 104 Anm.) dahin, daß ohne dir 
felben fein Recht auf wiſſenſchaftliche Beurtheifung des chrift: 
lichen Lehrganzen (?) zu erwerben fei. Großes Lob wird auch an 
Hofmann, den Verfaſſer des Schriftbeweijes, gefpendet, obſchon in 
einem Hauptpunfte, wie wir fehen werden, der Göttinger Philoſoph | 
feiner fundamentalen Differenz mit dem Erlanger Theologen ſich 
bewußt ift. | 

Drei Abhandlungen legen als die drei Hanptpunfte 1) die 
Grenzen, 2) die Mitte und 3) bie Spige des Beweis 
bar. In der erften Abhandlung wird a) im Allgemeinen br 
hauptet: „Rur dem, ber gewiffenhaft forfcht, läßt füch überhaupt 
etwas beweifen.“ Der Anfang aller Wiffenfchaft, der Wille, die 
Gründe bes Erfenntnisgegenjtandes zu wiffen, witrde bloße Willlür, 
bloßes Belieben, eine Scheinfreiheit fein, wenn ihm nicht ein voller, 
zur Vollendung brängender Vorbe griff des zu Begreifenden zu 
Grunde läge (S. 22). Diefe vom Berfaffer fon früher in den 
„Bliegenden Blättern des Rauhen Haufes“ entwickelte Theorie von 
den Vorbegriffen führt natürlich, wenn es fih um Erkenntnis det 
einen legten Grundes "Handelt, auf den „Vorbegriff von Gott“ 
oder, wie damit identifch geſetzt wird, auf das Gewiffen. Wer ins 
bat, für den gibt es einen Beweis; wer es nicht hat, für dem gibt 
es feinen. Auf dem bloßen Weltwege fommt niemand zu Gott 
(S. 25). Weil Humboldte Kosmos von Gott ſchweigt, follte 
jeder einfehen, daß die analytifche Forſchung nicht zum Begriff 
Gottes führt. Der Gewiffensftandpunft ift für alle wahrhaft wiffer 
ſchaftliche Forfhung der in ihrem eigenen Intereſſe unumgänglich 
Ausgangspunkt. " 

Es blickt meines Erachtens hier gar deutlich die Lücke der Dee 
duction hindurch, die bei einer ſyſtematiſchen Ausführung nicht 
bleiben darf. Wenn nämlich der Erfenntnisgegenftand nicht der 
legte und Höchfte ift, welches ift da der Vorbegriff? und mie fteigt 
man auf der Leiter diefer Vorbegriffe auf und nieder? wie ver 
halten ſich die unteren und die oberen Grenzen zu einander? Man 


Zum Beweis des Glaubens. 566 


wird dem Recenfenten der Beip’fchen Schrift in ber Zeitjchrift für 
Bhilofophie und philoſophiſche Kritit (Halle 1868, ©. 810ff., 
3. LIT) in den beiden Stüden Recht geben müſſen, daß das 
Gewiſſen, trogbem es eine Kunde von dem Sein eines Heiligen Ur» 
grundes und Urwillens gibt, doch nicht als unmittelbares Wiffen 
von Gott beftimmt werben darf, und dag, wenn auch Humboldt 
vom objectiven Weltbegriff aus nicht zu Gott gefommen ift, der 
tosmologifche umd der phnfifotheofogifcde Beweis ihre Wahrheit 
aud für den exacten Naturforfcher behalten. Mic dünft, wenn 
gleich Rothe in der zweiten Auflage feiner Ethik den populären 
Berirbegriff „Geroiffen“ aus der Wifjenfchaft hat verbannen wollen, 
und Peips Beftimmung auch nicht gerade glücklich ift, daß in ber 
Art, wie Schleiermacher die legte Mebaction feiner Dialektik aus⸗ 
zuführen vorhatte, ein wirklicher Gewinn für die Erkenntnistheorie 
zu erzielen iſt. Der Act des Wiſſens — das hätte der Verfaſſer 
fir die Theorie des Beweiſes überhaupt durchführen follen — ift 
erſt vollendet, wenn zwei Bedingungen vollzogen find: 1) wenn 
ein Denten erreicht ift, da8 dem Sein vollkommen ent- 
fprigt, und 2) mwenn ein Ueberzeugungsgefühl fih ge 
bildet Hat, daß eben dasſelbe Ergebnis von der in allen ibentifchen 
Vernunft gezogen werden muß. Beide Momente gehören als er⸗ 
gängende Häfften zufammen: eine Uebereinftimmung des Dentens 
mit dem Sein ohne Ueberzeugungsgefühl ift fo wenig ein Wiffen, 
als das ftärkfte Bewußtfein von der Notwendigkeit des Gedachten 
ohne die Zufammenftimmung mit dem Sein. Wo aber ein Willens⸗ 
act fi vollzieht, da gibt es aud eine unmittelbare Gewißheit, die 
ala Gewiffen im eigentlihen Sinne dem Handeln vorangeht, 
es begleitet und ihm folgt. In beiden Fällen aber, wenn bie 
Neceptivität im Denfen, und wenn die Spontaneität im Wollen 
vorwaltet, ift es möglich, für diefe Harmonie zwiſchen dem Selbft- 
bewußtfein und dem Weltbewußtfein die legten Gründe aufzufuchen, 
ſel es als Hödfte Kraft und höchſte Urſache, oder als oberften 
Gefeggeber und Höcften Werkmeifter: immer aber ift das Be- 
twußtfein ein gefpaltenes, entweder im Denken oder im Handeln 
begriffenes, ruhelos zwiſchen beiden oscillirend. Da aber tritt auch 
als drittes Element das unmittelbare Gelbjtbewußtfein 
Theol. Stud. Sahrg. 1869, ” 


58. - Bein 


ein, in dem alle Bewegung zur Ruha Tommt, das fekher dei in 
ſich ruhende Shah aller Bemegung ift und recht eigentlich, durg 
das Mitgefegtfein Gottetz ſich vollziht. Es ift, etmas anderes ala 
Ueberztuqungẽgefühl, etwas anderes als Gewiſſen, und da be 
greift man, wie nahe verwandt eins dem anderen ift. 

Der Verfaſſer fragt in feiner erften Abhandlung b) ebenfalls, 
mie der Glaube bemiefen werden fol, indem er unmittelbar 
den chriſtlichen Glauben einſetzt. Es liegt in dem Zuge feiner 
angffangenen Argumentation, wenn er nun ſagt: „Kin David Strauf, 
ein. Eduard Zeller und, die ihnen anhängen, find nicht im Stande | 

zu glauben; fie könnten, wie fe ſelbſt geftehen, wicht glauben, auch 
wenn das zu Glaubende noch jo ſtark bezeugt märe.“ Es kommt 
aus, da anf einen Vorhegrifi des Grlöferg an, wie ihr der hei, 
meldher fragt: „Wer wird. mic) erloſen aus dem, Leibe dieſes Todes?" 
Und win den erſig Vordegriff, wis. das Bewußtfein der akfolutm- 
Beʒogenheit des Geicönfse auf den Schöpfer undenkbar war ohre 
ein, erftes Ziehen, ein Sichzuwiſſengehen. des Gottes der Schöpfung: 
fa iſt dieler Varbegriff deg Erlhſers undenkbar; ghue eine analoge 
Urwirlung des Gottes. der zweiten Schipfung, dee Grlüfung, det 
Gottes. Jeſu Ehrifti (S. 54). Das böfe. Gewiſſen iſt dem Ber 
faſſer der Ausgangspunkt bed. Chriſtentums; dog Büle überfaupt, 
ja alles Uebel ift ihm ixrgtiogal, ein abfalntes. Wunder, welches 
ala Gegenwunder die Erläfung erheiſcht. Yeweiſen Hat, dam 
ſowol in der Philoſophie als in der Theologie einen engeren um 
weiteren Sin, (S. 3. 91): ben engeren Siun als das Begrün 
den, das Ableiten eines Erlenntnisgegenſtandes ans Gründen, un 
zwar aug feinen eigentümlichen Gründen, ben weiterey Sinn als 
bewähren, bemaßrheiten, als nothwendig aber allgemeingliltig, men 
auch nicht allgemein geltend, darthun. Geht dag Begreifen anf dad 
Warm, dag Erklären auf das Wie, fo. begnüge man ſich bei den 
Wundexthaten wie Steinmeyer mit dem Erlennen des teleologiſchen 
Momentes, dag Wie iſt für alle Wiſſenſchaft versorgen: ebenfor 
wenig 08 wir wifen, wie Chriftus von. Gott auferweckt worden, 
wiſſen wir, wie der Aether oder ein, Atom entftpmden ift. Diele 
Unbegreiflichteit und Unbeweisbarleit theilen die, Dinge: des Chrifien- 
tumg oher der zweiten Schäpfung mit aflen, Dingen dev geſchaſſenen 
Welt, ber erften Schöpfung. 





Zum Beiwis des Glaubens. 37 


So viel Anerkennung mande diefer Säge verdienen, ſo fcheint 
do dem Begriff des Chriſtentums damit noch nicht Genuge zu 
geichehen, daß da8 böfe Gewiffen zur Bedingung der Religion im 
ſubjectiden Sinne gemacht wirb, ober daß die Herftellang eines 
guten Gewiſſens als letztes Ziel gilt: denn beides, Boſes ımd Gute, 
ift doch eine vorthriſtliche Erſcheinung, innig vernüpft mit dem Ein- 
tritt des Böjen im die Welt. Das aber ift doch auch mehr für 
ein Paradoron, als für eine begriffliche Fotmel zu nehmen, baß 
das Widergöttliche recht eigentlich das Unbegreiflihe, das ubjolüte 
Wunder fei, und’ fo leicht wird die Erkenttmis ſich die Aufgabe 
nicht rauben faffen, bei den Gegenwundern außer dem Zwede 
Gottes auch das Wie ber von Bott verwendeten Mittelurſachen gu 
aforfepen. 

Die zweite Abhandlung, die in die Mitte bes Beweifes zin- 
füßet, Hebt mit dem zuvor gewonnenen Refultat anı „Denen, die 
im Stande find zu glauben, d. h. die ein boſes Gewiſſen Haben, 
wird der Glaube wirklich bewieſen, nämlich fo, daß das boſe Ge» 
wiſſen durch die Heilserfahrung zum guten Gewiſſen wird im 
vollen lutheriſch⸗ deutſchen Sinne diefes Wortes" (S. 126). 
Was begründet aber den Uebergang von der Philoſophle im all» 
gemeinen zur Religiondphilofophie? Wis zu der Einſicht, 
daß Gott der Schöpfer der Welt ift, führt ja ſchon das Gewiſſen; 
Ariftoteles Hatte volltommenes Recht, feine „erfte Phildſophie“, die 
bei ihm auch die Philoſophie ſchlechthin Heißt, Theologe zu nennen. 
Aber Religion beruht auf Offenbarung Gottes im weiteren Sinne, 
iſt nach ber ſubjectiven Seite bin die dadurch gewirkte menſchliche 
Gemhtheverfaffung, welche es verhütet, daß die Vollziehung des 
Gottesbewußtfeins in allem Welt- und Selbſthewußtſein unterfaffen 
werde, und welche es vermittelt, daß dieſt Vollziehung gefchehe. 
Es wird dann eine Lehre von der Schrift, datauf die von Epeifto 
vorgetragen und ſchließlich verfucht, die altmenſchlichen Gottesbegriffe 
in nenmerfchliche, chriſtliche umzuſetzen. Fur dieſen Verſuch muß 
Liebners trinitariſcher Theismus dienen, oder vielmehr ble Idee 
der Victoriner von der Liebe als dem Selbander wird mit der des 
Athanaſius vertnupft, um den teinitarifchen Proceß zu begreifen. . 
„Dis wir in der menſchlichen Liebe und Gegenliebe zwiſchen Mann 

37% J 


58 Beip 

und Weib eine mehr fpontane, active (männliche) und eine mehr | 
receptive, leidentliche (weibliche) Liebeserweifung und Art der Lich 
unterſcheiden, ohne ein Vorher oder Nachher behaupten zu wollen, 
fo kommt die ewige Erregung des ewigen Proceſſes dem Bater zu, 
das mehr leidentliche Sichhingeben in der Liebe dem Sohne.... 
Damit aber nichts Unwürdiges, Unheiliges erfolge, nämlich ent 
weder abftracte Zweiheit, Entzweiung, ein Zerfall im Wetteifer 
um Liebe, ober abftracte Einheit, Einerleiheit der Zwei, ein 
Berfinten der beiden Hypoſtaſen in einander, ein Sichverzehre 
ber Liebe und Gegenliebe, ift ein Dritter nothwendig, ein spiritus 
rector, der vor jenen Klippen bewahrt.“ Es ift diefer Deduckien 
entgegengehalten, daß fie weder im Selbftbewußtjein Jeſu einm 
Halt Habe, noch philoſophiſch gelungen ſei. Man wird aud von 
dogmenhiſtoriſcher Seite her entgegnen dürfen, daß für das nic, 
niſche Homoufios, das der Verfaſſer erhärten will, andere Motiv, 
als jene fpeculativen, den Ausfchlag gaben; man wirb von day 
matiſcher Seite her Proteft erheben tünnen gegen das Eintragen 
philofophifcher Begriffe in das Gebiet des frommen Selbftbewußt 
feine. Der Verfaſſer Hat des Verſuches diefer Grenzüberſchreitung 
auch gar fein Hehl, wenn er aus Ariftoteles’ Metaphyſik folgen, 
daß der Stagirit, wäre er ein Zeitgenoffe des Athanafius gemejen, 
zu deffen Partei gegen Arius, gegen Sabellius ſich geftelit Hätte. 
Die Kirhenväter dachten darüber gerade entgegengeſetzt, und die 
Stellen der Metaphpfit (XII, 7. p. 1072b, 20: mördv da wei 
ö voös, und XI, 9. p. 1074b, 25: dijlov d’rs 10 Fairer 
zal rumerarov voel zul od uer@ßdiksı): handeln doch vielmeht 
von dem gleichförmigen Sichfelbftdenfen des abſoluten Geiftes, wie 
Zeller (Phil. der Griechen II, 2. ©. 278) und Bonig (Me 
taphufit II, 24. 55. 61) darlegen, faum von dem aus fich heraus · 
gehenden fchöpferifchen Denken, welches Brandis und Kym dem 
Gottesbegriff des Ariftoteles vindiciren wollten, am wenigften aber 
von ſolchem innergöttlichen Proceß, für welchen Peip Raum fuht 
(S.. 106). Diejenigen, die wie Schleiermadher vom frommen 
Selbftbewußtfein aus den hriftlichen Gottesbegriff nadhzuconftruiren 
ſuchen, denen die Ausſcheidung fpeculativer Elemente, wie fie ſchen 
vor Athanaſius mafjenweife in die Theologie eingedrungen waren, 





Zum Beweis bes Glaubens. B [ 


am Herzen Tiegt, werden den Verſuch, die bkonomiſche Trinität 
fhriftgemäß auszugeftalten, nicht-gerade, wie der Berfaffer (S. 114), 
als ſabellianiſche Berflüchtigung anfehen, und wenn ber Berfaffer 
feine fpeculative Herleitung mit den Worten fließt: „So begreift 
fih das Ehriftentum, jo wird der Glaube bewieſen“ — fi mit 
dem Apoftel Panlus tröften, der jenes auch ohne die nicänifchen 
Denkformen begriffen, diefen ohne die Speculationen der Victoriner 
bewiefen hat. Wie Schleiermacher übrigens der Liebe ihre fpeci« 
fiſch chriſtliche Stelle anzuweiſen wußte, zeigt feine Abhandlung über 
den Tugendbegriff, die neben den übrigen Gitaten des Verfaſſers 
auch einen Play verdient hätte. Die dargebotene Entwidelung ber 
trinitarifchen Liebe veranlagt übrigens noch eine Reihe Bedenken, 
wenn man über den Begriff des einen Weſens und der drei Per⸗ 
fonen Auskunft wünſcht, Bedenken, die jo ähnlich formuliert werden 
tnnten, wie ber katholiſche Dogmatiter Dieringer gegenüber 
Kleutgens Theologie der Vorzeit (Bonner Theol. Literaturblatt 
1868, ©. 252) fie entwidelt Hat. Fur Peip käme noch die weis 
tere Frage hinzu, wenn die Leiblichkeit zur Volllommenheit der Per⸗ 
fönlicpleit gehört (dev Satan nämlich, weil er nicht leibhaftig ift, 
hat nur eine unvolltommene Perſönlichkeit IS. 1207), — wie doch 
dies innerhalb der Gottheit zu denken fei? 

Das ift auch nach der dritten Abhandlung die Spige des 
Beweifes, den Gott, der die Liebe ift, zwar nicht aus einem 
Höheren abzuleiten, aber ihn als den Dreieinigen zu bewähren gegen 
das Princip, welches ihm widerſpricht. Peip unternimmt dies auf 
mei Wegen, pofitiv aus dem Folgenreichtum des chriſtlichen 
Princips in der Weltgefchichte, negativ aus der Folie fehlerhafter 
Verſuche von den Nenplatonifern und Gnoftifern an bis auf die 
theologifchen Bildungen des Mittelalters und bis hinab zu den kos⸗ 
mologifhen Speculationen Baco's und Kants. Ueberall bewährt 
ſich, daß nicht einem einfeitigen, ſondern dem allfeitigen, allumfaſſen⸗ 
den theanthropologifhen PBrincip, dem driftliden, 
das Reich doch bleiben muß. 

Ich fehe ab von dem negativen Theile, der eine kurze Wan⸗ 
derung durch die Gefchichte der Philofophie anftellt; einige Spigen 
de8 künftigen Syſtems in dem pofitiven Theile tauden noch auf, 


a 
0 , Peip, Zum Beweis bes Glaubens. 


die Beachtung verdienen. Indem Peip einer hriftlichen Phi 
ſophie mit [Schletermader und] H. Ritter das Wort redet, fuhl 
er fich durch Hofmanns Aeußerung frappirt, daß, wenn die Phil: 
ſophie ihren Beruf erfüllt, fie zum Beweiſe wird, daß das ur 
wiebergeborene Leben den ungelöften Widerfpruc eines unbefei: 
digten Heilsbedürfniſſes in fich trägt. Dagegen fteht ihm feft, di 
das Ehriftentum entfcheidenden Einfluß auf die Geſchichte ber Phil 
ſophie gehabt Hat, die Sonderung derjelben in alte und neue be 
dingt, die phifofophifche Forſchung aus der Fülle des uns zur Weit 
heit gemachten Epriftus erſt recht zu fhöpfen hat. Die Geſchicht 
der Bhilofophie ift daher auch die philoſophiſche EinTeitungs 
wiſſenſchaft. Dagegen die Religionsphiloſophie gilt alı 
die philoſophiſche Centralwiſſenſchaft. Durch fie vermitte 
fich die actuell⸗philoſophiſchen Disciplinen, Metaphyſik, Na: 
turphiloſophie und Ethik, deren jede die Principien der üben 
fumlichen Gedantenwelt oder ber Sinnenwelt oder der ſittlicha 
Geifteswelt barlegt. Ihnen allen aber geht, den Weg bahnend, die 
ienige Disciplin voran, welche jet die Philoſophen als die Rogil 
von der Metaphyſik unterſcheiden: in ihr macht das philofophliät 
Bewußtſein glelhfam einen Ueberfchlag der gefammelten Geifteskraft. 
Nicht deutlich wird mir, wohin der Verfaffer die Kunſt ftelt, 
wenn er ihr (©. 151) mit Ariftoteles die Beſtimmung zufchreibt, 
die mangelhafte Natur zu vervolllommnen, wenn er die Welt der 
Natur umd der Kunft als Grundlage der fittlichen Geifteswelt an- 
ſieht. Hat die Kunft in einer Ethik großen Stiles unfengbar eine 
Stelle zu finden, wie darf man die Religionsphilofophie aus dem 
Boden ber’ fittlichen Geifteswelt herausheben und anderswohin ver⸗ 
pflanzen? Doch es kommen dabei noch andere. Fragen in Betradit, 
vor allen die nach dem Verhältnis empirifcher Behandlung md 
fpeculativer Gonftruction. Darauf aber hat fi der Verfaſſer für 
jegt in feinen Aeußerungen noch nicht eingelaffen ‚und wir müſſen 
den Ausbau des Syſtems abwarten, ehe eim weiteres Urtheil gr 
fällt werben Tann. 
Bonn. Lie. Barmann. 





VRrogramm 


J der 
Tehlerſchen Theolotiſchen Gefelljgeft zu aarlen 
für das Jahr 1869. 





Die Theologiſche Abtheilung der Tehler'ſchen Stiftung hat 
in ihrer legten Jahresſitzung beſchloſſen, zur Preisbewerbung fol ⸗ 
gende Frage aufzuſtellen: 

„Wie lautet das Urtheil, welches auf hiſtoriſchen und philoſo⸗ 
phiſchen Grunden über den Zuſammenhang von Religion und 
Sittlichkeit gefällt werdet muß?“ 

Zugleich -wiederholt fie die ſchon früher außgefete, aber” nicht 
beantwortete Frage. nad) einer: 

„Entwidelung und Kritik der pofitiven Philofophie.“ 


Der Preis befteht in einer goldenen Medaille von FI. 400 an 
innerem Werth. 

Man kann fih bei der Beantwortung des Holländifchen, La- 
teinifchen, Sranzöfifchen, Engliſchen oder Deutſchen (nur mit latei⸗ 
nifcher Schrift) bedienen. Auch müffen die Antworten, mit einer 
anderen Hand, als ber des Verfaſſers gejchrieben, vollftändig 
eingejanbt werden, ba jede unvolfftändige von der Preisbewerbung 
ausgeſchloſſen ift. Die Friſt der Einfendung ift für beide Preis⸗ 
Schriften auf 1. Januar 1870 auheraumt. Alle eingeſchickten Ant- 


572 Programm d. Teylerſchen Theol. Geſellſch. zu Haarlem. 


worten fallen der Geſellſchaft als Eigentum anheim, welche die ge⸗ 
krönte, mit oder ohne Ueberſetzung, in ihre Werke aufnimmt, fo daß 
die Verfaſſer fie nicht ohne Genehmigung der Stiftung heramsgeben 
dürfen. Auch behält‘ die Geſellſchaft fich vor, von den nicht ge 
trönten Antworten nad) Gutfinden Gebrauch zu machen, mit Ber 
ſchweigung oder Meldung des Namens ber Verfaffer, doch im legten 
Falle nicht ohne ihre Zuſtimmung. Auch können die Einfender nicht 
anders Abſchriften ihrer Antworten befommen, als auf ihre Koften. 
Die Antworten müffen, nebjt einem verfiegelten Namenezettel, mit 
einem Denkſpruch verfehen, eingefandt werden an die Adreſſe: Fun- 
datiehuis van wijlen den Heer P, Teyler van der 
Hulst te Haarlem. 


PVerthen’ Buchdruckerei in Gotha. 


Theologiſche 


Studien und Kritiken. 


Fine Zeitfdrift 
für 
das gefamte Gebiet der Theologie, 
begründet von 
D. 6. Ullmann um D. F. W. €. Huhreit 
und in Verbindung mit 
D. 3. Müller, D. W. Beyſchlag, D. 3. Köflin 

herausgegeben 


"D. C. B. Gumesfugen mn D, €. Riehm 





Jahrgang 1869, viertes Heft. 





Gotha, 
bei Sriedrih Andreas Perthes. 
1869. 


Abhandlungen. 


g8* 


1. 


Zum Audenten an D. Carl Immanuel Nitic. 


Bon 
Wilibald Veyſchlag 


Es hat dieſe Zeitſchrift getroffen, daß fie num auch dem Legt 
übrigen ihrer Begründer die legte Ehre zu erweiſen hat. Am 21. 
Auguft des verfloffenen Jahres ift Carl Immanuel Nitzſch 
einumdachtzigjährig von uns gefchieden; unfere deutſche evangelische 
Kirche und Theologie Hatte fein theureres, ehrwürdigeres Haupt 
zu verlieren. Noch war in ihm — wie einft das ſchon ver» 
funfene Zeitalter der Apoftel in dem greifen Johannes — uns 
Nachgeborenen jene ſchönere, größere Zeit lebendig und gegenwärtig, 
in welcher Gott mit der Erneuerung unferes deutſchen Volkstums 
überhaupt auch unferer Kirche und Theologie ein neues quelifriiches 
Leben Hatte aufgehen laſſen. Und wer hätte — nächſt dem großen 
Bahnbrecher jener Erneuerungszeit — yrößeren und manigfaltigeren 
Anteil daran, daß der Segen derfelben in die Fluren unferes 
wiſſenſchaftlichen und kirchlichen Lebens geleitet ward, als der Ber- 
ewigte, in welchem das evangelifche Deutſchland ein Menſchenalter 
hindurch den Erften feiner Tebenden Theologen verehrte? Es muß 
einer umfaffenderen Darftellung, als fie in diefer Zeitfchrift möglich 
ift, vorbehalten bleiben, ein ſolches in mehr denn einem Sinne 
hochgekommenes und in feiner Mühe und Arbeit Löftliches Leben ein- 
gehend zu würdigen: was wir Bier bieten können, find nur die 


878 " Beyiälag 


flüchtigen Umriſſe eines großen und reichen Lebensbildes, die Wieder: 
holung einer bereit8 anderweitig gegebenen Skizze für den Rahmen 
dieſer Zeitfehrift, die dem Verftorbenen mit ihre bedeutendften und 
unvergänglichften Beiträge verdanft *). 

Es ift das Mutterland der deutjchen Reformation und in ihm dat 
altehrwürdige Wittenberg, das in C. 3. Nitzſch noch einmal einm 
Theologen erften Ranges hervorgebracht hat. Sein Vater, Carl 
Ludwig, zur Zeit der Geburt des Sohnes Superintendent in 
Borna bei Leipzig, wurde wenige Jahre danach als Profefjor und 
Generalfuperingendent nach Wittenberg berufen, wo er bis 1831 
gelebt und gewirkt hat. Carl Immanuel, fein drittes Kind und 
‚zweiter Sohn, warb am 21. September 1787 geboren, jehsgg 
Jahre vor Herders Tod, neunzehn nach Schleiermachers Geburt, 
Nach der Weife jener Zelt won Kiub af zum geiftlichen Stan 
beftimmt, wurde der ſchöne, finnige Knabe, welcher des Baters 
und ber. ganzen Familie Liebling war, bis zum 16. Jahre im 
Elternhauſe unterrichtet, dann aber der Landesſchule zu Pforta über: 
geben, der blühenden Stätte claffifcher Bildung. Noch gedenkt ein 
damals neunjähriger Mitſchuler des tiefen Eindruds, den ihm gleid 
bei der erften Begegnung das geiſtvoll⸗ſchöne Antlig des Jünglinge 
machte; es war der Mare Spiegel einer reinen Seele, in ben m 
ſchaute. Und fo erwies fich der newe Anfümmling alsbald und immer 
mehr als einen princeps juventutis, als eine ſittlich adlige Natur; 
es war, fagt jener Genoffe feiner Schufzeit, als ob feine Gegen 
wart die Luft um ihn her reinige. Milde und Duldſamkeit gg 
feine Mitſchüler, anmuthig-fpielender Scherz und Wig, ein die 
riſcher Schwung und Hauch, ein allem Rohen und Gemeinen u 
zuganglicher, allein auf das geiftig und fittlich Schöne gericteht 
Sinn machte ihn zum Liebling Aller, und befonders der raum. 
Bald war er auch, was Fleiß und Fortſchritte angieng, ald dr 
ausgezeichnetfte Schüler anerkannt; vor allem ſprach die Pocfk, 
Geſchichte und Philofophie des Altertums ihn an. Es mar ml 


8) Da id) zu gleicher Zeit für bie Neue Ev. Kirchenzeitung (Dec. 1868) md 
für die Studien und Kritiken um einen Aufjag über Nitzſch amgegumm 
war, fo Habe id} fein Bedenlen getragen, aus der dort veröffentlichten Hirt 
Arbeit manches wörtlich in diefe ausfüßrlicere aufzunehmen. 








Zum Andenken an D. Earl Immannel Nitzſch. 879 


äine Einfeitigleit der aftfächfifchen Gelehrtenſchule, daß daneben die 
große deutſche Literatur nicht zu ihrem Rechte kam, und Nitzſch 
felbft beflagte fpäter hierin’eine Urſache der nicht mehr zu überwins 
denden Schwerfälligkeit feines deutſchen Stils: anbererfeits verdankte 
er der. energiſchen Einſeitigkeit jener Schule eine Kenntnis des 
Altertums und eine Herrſchaft über die claffiichen Spraden, wie 
fie außerhalb des Kreiſes der Fachmänner Heute kaum mehr ger 
funden werden dürfte. Die Ansprüche der griechiſchen Dichter 
und Philofophen waren ihm zeitlebens geläufig wie Sprüdwörter, 
und bis in fein Hohes Alter ſchrieb und ſprach er Latein faft leichter 
und eleganter als Deutſch. 

Man begreift, daß, als nun 1806 der Neunzehnjährige nach 
Wittenberg zurüdtem, um feine afademifchen Studien zu beginnen, 
die Theologie ihn anfangs wenig anziehen wollte. Zunächſt waren 
es noch die claſſiſchen Studien, die ihn feflelten, was ſich auch 
ohne feine Freundſchaft mit dem jungen Zobed, der damals in 
BVittenberg zu dociren begann, aus dem von Pforta mitgebrachten 
Antrieb erflärt. Dann aber ergriff ihn die Ppilofophie mit folder 
Macht, daß er ſchwankend wurde, ob er nicht in ihr anftatt in der 
Theologie feinen Lebensberuf zu fuchen habe. Es war die Lebens» 
kraft der in frifhem Aufſchwung und großartigfter Entfaltung be⸗ 
griffenen Speculation, die ihn ergriff, während in der Theologie 
entweder die Starrheit des Todes ober ein lediglich geborgtes, eben 
der Bhilojophie entlehntes Leben ihm entgegentrat. Doc gewannen 
des jungen frommen Heubner encyklopädiſche Vorlefungen ihm 
ein theologifches Jutereſſe ab, fpäter auch Tzfhirners kirchen⸗ 
geidichtficde Vorträge und patriſtiſche Studien, die ihm die noch 
lange nachwirkende Richtung auf die ältefte Dogmengefchichte mit- 
getheilt Haben mögen. Sein eigentlicher Lehrer und Führer in der 
Theologie aber ward fein Vater. Earl Ludwig Nitzſch, von 
dem der Sohn zeitlebens nie anders als mit der wärmften Ver- 
ehrung und Dankbarkeit geredet hat, war in der That einer der . 
bedeutendften damaligen Theologen, aber, wie alle ftrebenden Geifter 
jener Zeit, nichts weniger als ein Vertreter der noch in voller recht⸗ 
fihen Geltung ftehenden rechtgläubigen Lehre. Ein ernfter, gelehrter, 
ſelbſtandig denfender Manu, Hatte er in dem verſtandesſcharfen, 


580 Beyſchlag 


fittlic-ftrengen Kantiſchen Syſtem die Grundlage feiner theologiſchm 
Dentart gefunden, verband aber mit dieſem materiellen Rationafisms 
einen formalen Supranaturalismus, indem er in der Weiſe der 
Leffing’fchen Erziehung des Menſchengeſchlechts an der pädagogifchen 
Nothwendigkeit eines pofitiven Dffenbartwerdens der refigids-fit- 
lichen Wahrheiten fefthielt. Diefem vermittelnden Standpunft ver- 
danften nach des Sohnes eigenem Zeugnis zahlreiche Schüler „die 
erfte Rettung in dem verworrenen Streite zwifchen Paläologie und 
Neologie* ; er felbft befand ſich „mit der verftärkten Dankbarkeit 
eines Sohnes“ unter denfelben, und da er’ nad) feines Vaters Willen 
eine andere Univerfität als Wittenberg nicht bezog, fo blieb er of 
Zweifel noch über feine Studienzeit hinaus bei diefer Kantiſchen 
Bermittelungstheologie, auf deren Unzulänglichkeit ihn zuerft Rein- 
hard aus Anlaß feiner Eramenspredigt hingewiefen haben fol. 

Gleichwol regte ſich, bei aller pietätsvollen Hingebung an dm 
väterfihen Lehrer und Führer, in dem jungen Nitzſch ein anderer 
Geist. Der Vater war ein Harer abftracter Denker; in dem Soft 
wogte eine lebensvolle Myſtik, die dem Water fremd war. Der 
Bater gehörte der mit Semler und Leffing begonnenen und mit 
Rant ſich abfdjließenden vorwiegend verftändigen Entwidelung dr 
deutſchen Geiftes an; den Sohn bewegten die neuen feitdem her⸗ 
vorgetretenen höheren Geiftedentfaltungen, die ihm nun erſt auf 
gehende große deutſche Poefie eines Schiller und Goethe; dan 
die Romantiker, die Schlegel, Tieck, Novalis; die neue Phil 
fophie eines Fichte und Schelling; auch Fries, de Wette 
und vor allem Schleiermacher, deſſen Reden über die Religion, 
Monologen, Predigten, deffen Kritik der Sittenlehre und theologiſche 
Encyflopädie ihm lebhaft ergriffen. Wie frühe diefe gewaltigen neuen 
Eindrüde ihn mit Bewußtſein über den Standpunkt bes Batert 
hinausgeführt, wiffen wir nicht; aber bezeichnend für das innert 
Verhältnis beider ift die befannte Aeußerung des Waters, daß e 
an diefem Sohne nicht nur allezeit Freude gehabt, fondern auf 
von früh an ihm gegenüber ein Gefühl der Ehrerbietung m 
pfunden habe. 

Nachdem Nitzſch in feinem dritten Studienjahre eine Abhand- 
fung de evangeliorum apoeryphorum in explicandis canonics 





Zum Andenken an D. Earl Immanuel Ritfc. 581 


usu et abusu gefchrieben, wurde er in Dresden von Reinhard und 
Tittmann nad damaliger Weife im den fombolifchen Büchern 
(auch über deren „Mängel und Makel“) eraminirt und mit dem 
Zeugnis „Sehr wohl“ in die Candidatur aufgenommen. Es ent 
ſprach ohne Zweifel den Wünfchen des Vaters wie feinen eigenen 
Neigungen, daß Reinhard ihn aufmunterte, die doctorale Laufbahn 
zu ergreifen, und fo Habilitirte”er ſich mit einer Differtation de 
testamentis duodeeim patriarcharum, libro veteris testamenti 
pseudepigrapho 1810 in Wittenberg als Privatdocent. Hiemit 
follte er indes nad) damaliger Sitte und nad) feines Vaters Wunſch 
zugleich ein praftifches Amt verbinden: er. bewarb fi um das 
vierte ftäbtifche Diakonat, erhielt aber zunädft nur das geringe 
Amt eines Hülfspredigers (eigentlich diaconus pestilentiarius, 
Krankentröfters) an der Univerfitätsfirche, für das ihn fein Vater 
gegen Ende des Jahres 1811 ordinirte. Bald darauf rücte er 
indes in das erledigte dritte Diafonat an der Stadtkirche auf und 
trat hiemit in's volle Pfarramt ein. 

In diefem follte er bald auf eine gewaltige Probe geftellt und 
durch diefelbe der vollen inneren Reife zugeführt werden. Die 
großen Ereigniffe des Jahres 1813 brachten für Wittenberg eine 
Reihe der ſchwerſten Heimſuchungen mit fih. Die Stadt war als 
Elbübergang ſchon feit 1806 wieberholt ſtark mitgenommen worden; 
nun wurde fie einer der legten Haltpunkte, in denen die Franzoſen 
fich auf deutſcher Erde zu behaupten fuchten. Von Oftern 1813 an 
folgte eine Beſchießung der andern; während des Sommers mehr- 
mals begonnen und wieder aufgegeben, währte die Belagerung zus 
legt ununterbrochen von ber Leipziger Schlacht bis zum 13. Januar 
1814, an dem die Stadt mit ftürmender Hand erobert ward. 
Die Univerfität wanderte bereit3 im Sommer aus, die Vorftädte 
wurden von den erteidigern in brutalſter Weiſe niedergebrannt; 
faft die Hälfte der Bürgerfchaft flüchtete nad) und nad) aus der 
Stadt, während über den Meft neben den täglichen Schreden des 
Krieges Hungersnoth und Seuche hereinbrah. Der junge Nitzſch 
ließ feinen Vater umd die übrige Familie ziehen und bfieb mit 
Deubner — fie beide die einzigen Geiftlichen — bei ber bedrängten 
Gemeinde zurüd. Er ſelbſt hat vierzig Jahre jpäter in einem an 


582 Beyſchlag 


ziehenden Vortrage ein Bild jener Tage entworfen, in denen ihm 
inmitten der großen Weltkämpfe ein demütiges, geiſtliches Heldentum 
zu bewähren vergönnt war. Tag und Nacht vegueten die Bomben 
und Brandrafeten über die unglückliche Stadt; nur in den Kellern 
war man feines Lebens ficher. Die Kirchen waren in Magazine 
ober Gitadellen verwandelt; nur im Hörfaal der Superintendentur 
fand die Gemeinde noch eine Zuflucht. Hier ſtärkten denn die beiden 
Prediger dichtgeſchaarte Verfammlungen mit dem Worte Gotted, 
Gebet und Abendmahl, indefjen draußen die tödlichen Geſchoſſe 
sichten. Mehr als einmal rettete Nitzſch das ſchon brennende väter: 
liche Haus mit eigener Hand; ein andermal vereint mit KHeubner 
die geliebte Kirche, die fie Nacht für Nacht Hüteten, und in deren 
Dachwerk eine congröve’fche Rakete zündend eingedrungen war. De 
zwiſchen wurden mit Lebensgefahr die Kranken in ihren Häufern 
anfgefuht, Brod und andere Speije unterm Talar zerſchoſſene 
Stiegen hinauf den Darbenden zugebracht, den Gefangenen 
in den Kafematten Chriftus der Befreier gepredigt, im Lazareth 
unter Anderen auch fterbenden Katholiken das evangelifche Abend- 
mahl gefpendet. So wurde dem jungen Gotteögelehrten, der un 
verfehrt durch diefe Schredenstage hindurchgieng, die große Zeit der 
vaterländifchen Noth und Errettung zum individuellen Erlebnis, und 
wir können ahnen, wie wejentlic, dasfelbe dazu mitgewirkt hat, feine 
Theologie auf innere Erfahrung und Bewährung zu gründen. Seine 
während ‚der Belagerung gehaltenen Predigten wurden fpäter von 
Freunden zum Drud befördert; einfacher und praktiiher als mande 
der fpäteren, geben fie Zeugni® von der in jenen Tagen entfalteten 
Fulle feines inneren Lebens. 

Auch die endliche Befreiung der Stadt führte nicht fofort ber 
friedigende Verhältniſſe herbei. Die Kirchen waren verwüſtet, 
die Stadt voller Ruinen; manchen vaffte mod) nachträglich 
die Seuche weg. Die politischen Verhältniffe Sachſens blieben 
ungewiß und gedrüdt, und der endliche Uebergang der Stadt an 
Preußen war für die treuen ſächſiſchen Herzen ein anfangs ſehr 
ſchmerzliches Ding. Dazu fehrte die Univerfität nach ihrem alte 
ehrwürdigen Sige nicht zurück; fie "felbft Hatte, zu großem Leib 
wefen der. beiden Nitzſch, den Wunfch geäußert, anderswohin verlegt 





Zum Andenken an D. Carl Immanuel Nitzſch. 588 


zu werben, wie auch endlich geſchah. So war Nitzſchs afademifche 
Tätigkeit im ihren Anfängen zerftört. Auf fein Diakonat bes 
föränft, gab er fih „in der unerwünfchten Muße“, wie es im 
Vorwort der fogleih zu ermwähnenden Schrift heißt, theologischen 
Studien Yin und veröffentlichte 1816 als erfte Frucht derfelben eine 
dogmengefchichtliche Unterſuchung über die Wurzeln der Trinitäte- 
lehre (Theologiſche Studien, erftes Stück). Diefe Schrift — „Das 
Theologumenon vom Preuma Hagion als der Mutter des Chrifts, 
in feinem Zufammenhang mit den allgemeinen Begriffen der morgen- 
ländifchen und den befonderen der jüdifchen Gotteslehre dargeftellt“ — 
zeigt den Verfaſſer bereits mitten in der durch Schelling erregten 
theofogifchen Strömung, aber in einer durchaus felbftändigen Hals 
tung, die fich der philofophifchen Zeittheologie bedentſam entgegen» 
fest. Bei voller Würdigung des trinitarifchen Dogma's und freiem 
Eingehen in deffen fpeculative Erklärung findet er den Schwerpunkt 
des Chriftentums doch nicht im fpeculativen Dogmen, fondern in 
der Perfon des fündlofen und darum gottmenfchlihen Erlöſers 
und weiß ſich fo von der philofophifchen Zeittheologie, die dem 
Glauben grundfäglich unter das Wiffen gefangen nehme, gefchieden. 
Demgemäß ift es der Grundgedanke der Abhandlung, nachzuweiſen, 
wie ſich die hriftlihe „Theogonie* von der phyſiſchen oder logiſchen 
der außerchriftlichen Syfteme, mit ‘der man fie damals auf eine 
Linie zu ftellen liebte, als die ethifche unterfcheide *). Wir fehen, 
Nitzſch Hatte ſchon damals zwifchen den beiden Wegen, in welde 
der Fortfehritt der Theologie auseinandergieng, dem Togifch-fpeculas 
tiven Hegels und dem dialektifch-myftifchen Schleiermaders, feine 
Wahl getroffen. 

Das Jahr 1817 endlich ordnete die Verhältniffe Wittenberge. 
Die Trümmer der Univerfität wurden nad Halte verpflanzt, aber 
an ihre Stelle trat nad dem Willen des pietätsvollen neuen Landes» 





a) Es fei dem Verfaſſer geftattet, Hier im Borübergehen bie Genugtguung zu 
conftativen, mit der er den vielgeſcholtenen Grundgedanfen jeiner Chriftologie, 
und zwar in befonderer Anmendung auf die johanneiſche Logoslehre, in diefer 
von Nitzſch zeitlebens werthgehaltenen Schrift wiedergefunden hat. Bat. 
bel. S. 187148. \ 


584 Beyihlag 


herru das Predigerfeminar, und an demfelben fand neben feinem 
Bater, der das Directorium erhielt, und neben Schleusner und 
Heubner auch Nitzſch als vierter ordentlicher Lehrer feine Stelle. 
Im ſelben Jahre, zum Reformationsjubildum empfing er das Siegel 
feines wiffenfcaftlihen Berufs, die theologiſche Doctorwürde, die 
ihm die Berliner Facultät unter Schleiermachers Decanat — ohne 
Zweifel auf Grund der eben erwähnten Schrift — ertheilte. So 
datirte Nitzſchs Doctorat vom Stiftungstag der evangelifchen Union, 
und wenn auch diefelbe damals in Wittenberg an Heubners Wider: 
ſpruch fcheiterte und erft fpäter zu bedingter Annahme gelangte, fo 
ift doch hervorzuheben, daß die beiden Nitzſch fich bereits damals 
auf ihre Seite ftellten. Das neue beſcheidene Lehramt gewährte 
dem jungen Doctor eine hohe Befriedigung; es entſprach ganz jener 
Berbindung wiſſenſchaftlicher und praktifch- kirchlicher Intereſſen, 
welche zeitlebens ein fo Hervorftechender Charakterzug feiner Wirt: 
famteit blieb. Hauptſüchlich Tag ihm eine ausführliche Vorleſung 
über die „Geſchichte des kirchlichen Lebens“ ob, die ihm zu tief ein- 
gehenden Tirchengefchichtlihen Studien Veranlaſſung gab; daneben 
erffärte er Reden des Demoſthenes und Chryjoftomus und nahm 
an der Xeitung der homiletifch »atechetifhen Webungen theil. 
Außerdem befleidete er nad wie vor fein Pfarramt und auch am 
Kirchenregiment nahm er bereitd damals, wenn auch nicht in amt- 
licher Weife theil, indem fein Vater, der nach des Sohnes Zeugnis 
aud in Dingen der Kirchenverwaltung ein tiefdenkender Mann war, 
alle wichtigen Angelegenheiten feiner Generalfuperinteudentur mit 
ihm beſprach. 

Das folgende Jahr brachte dem Einundreißigjährigen, der bis 
dahin noch an des Vaters Tifche gegejfen, endlich auch den eigenen 
Herd. Emilie Schmieder, des geiftlihen Inſpectors Schmieder 
in Schulpforte hinterlaffene Tochter, Schweſter des jegigen Seminar: 
directors zu Wittenberg, wurde ſeine Lebensgefährtin, um es in 
einer bei mancherlei Heimſuchungen ungemein glücklichen Ehe ein 
halbes Jahrhundert hindurch zu bleiben. Das innige Verhältnis 
zum Vaterhaufe wurde durch diefe Begründung des eigenen Haus 
ftandes nichts weniger als gelodert, und es bezeugt die hohe Be: 
friedigung, die Nitzſch in feinen äußerlich beſcheidenen Wittenberger 





Zum Andenken an D. Earl Immanuel Nitzſch. 588 


Verhältniffen empfand, daß er um diefe Zeit zwei afabemifche Be- 
‚rufungen, nach Leipzig und nad) Greifswalde, von ber Hand wies. 
Gleichwol that feine Gefundgeit gegen die Anftrengungen feines 
Doppelamtes endlich Einſprache; ein Bruftleiden nöthigte ihn 1819, 
in Köfen, in der Nähe der alten geliebten Schulpforte, Erholung 
zu fuchen und dann um ein leichteres, einfachere Amt, um die 
benachbarte Kemberger Propſtei, fi zu bewerben. Er erhielt fie, 
nachdem Verhandlungen über eine alademifche Berufung nad) 
Berlin ſich zerfchlagen hatten, führte aber das neue Pfarr- und 
Ephoralamt nur zwanzig Monate lang, da forderte der afademifche 
Lehrſtuhl ihm dennoch zurüd. Einen Ruf nad) Königeberg, den er 
bereits nach acht Monaten in Kemberg erhalten, hatte er abgelehnt; 
als aber im Sommer 1821 die Aufforderung kam, an der jungen 
Bonner Univerfität eine ordentliche theologifche Profefjur fammt 
Univerfitätspredigeramt zu übernehmen, ward ihm das Heimmeh 
nad; dem afademifchen Leben fo ftart, daß er troß der nicht ohne 
Bangigleit empfundenen Ferne und Fremdheit des neuen Mir 
lungskreiſes nicht net zu jagen vermochte. 

Es iſt keine Frage, dag der Ruf nach Bonn von allen Lebens- 
wegen, die ſich in den legten Jahren für Nitzſch aufgethan hatten, 
bei weiten der glüdklichfte für ihn war. In je engeren Schranten 
fein Leben bis dahin verfloffen war, um fo bedeutfamer mußte 
eine noch vor dem völligen Abſchluß feiner Entwicelung eintretende 
Verpflanzung in ganz andere Verhäftniffe für ihm werden. Bon 
der Stätte einer untergegangenen Univerfität in die Mitte einer 
jugendlich aufftrebenden, aus dem Meutterlande der deutſchen Refor⸗ 
mation an die Grenzwarte derſelben gegenüber einem mächtig aufs 
ftrebenden Katholicismus, endlih aus rein futherifchen, nur vom 
Nationalismus unterhöhften Traditionen in die Anfhauung einer 
altreformirten, vom Pietismus neubelebten Presbyteriallirche, — ein 
ftärferer Wechfel konnte kaum in's Berufsleben eines deutfchen 
Theologen fallen, und die mächtigen Rückwirkungen desfelben laſſen 
fih überall in Nitzſchs ausgereifter theologifch -Tirchlicher Dentart 
erkennen. Daß er gleihwol in der neuen Heimath im beiten Sinne 
er ſelbſt blieb, ja daß er in der zunehmenden und zu feltener Stärke 
gedeihenden Wechſelwirkung mit derfelben erft in ihr vollfommen er 


588 Beyfälag 


felbft ward, die Ausprägung defien, was wir ſchon vorher in ihm 
ſich entwideln fehen, das war eine jchöne Probe wie auf die Ge 
diegenheit feines Weſens, fo auf das Vorſehungsvolle feiner 
Führung. 

Das neue Amt verpflichtete ihn vor allem zu Vorlefungen über 
fpftematifche Theologie und gab fo zur völligen Durchbildung der 
theologischen Grundanſchauungen drängenden Anlaß. Offenbar if 
die Schleiermacherſche Glaubenslehre, die um biefelbe Zeit erſchien, 
als Nitzſch den fyftematifchen Lehrftuhl in Bonn einnahm, zu diefer 
Durchbildung das bei weiten wihtigfte Hulfsmittel geweſen: Aberall 
ſehen wir ihn, ſobald er ſich über einſchlagende Fragen wieder 
literüriſch äußert, auf dieſes eine neue Epoche ber Theologie ber 
gründende Meifterwert zurüdgehen, indem er die Principien d& 
felben entweber erklärt und verteidigt oder feine eigne abweichende 
Anfiht doch nur als Fortbildung und Verbeſſerung am dasſelbe 
anſchließt. Allerdings hat daneben offenbar auch bie neben Schleier 
mader und in vornehmen Gegenfage zu ihm ſich entfaltende peu 
lative Theologie der Hegel'ſchen Schule ihn lebhaft befchäftigt, aber 
in vorherrſchend antithetifcher Weife: obwol von Schleiermaders 
Ergebnifjen keineswegs zufriebengeftelft, erfannte Nitzſch doch ſcharf 
und far, daß die fheinbar viel pofitiveren Reſultate der Hegel'ſchen 
„Theo -Togif“ auf einem vollfommen trügerifchen Fundamente ruhten, 
während die Schleiermacher'ſche Grundlegung das Intereſſe des reli⸗ 
giöfen und chriſtlichen Glanbens in Wirklichkeit ficherftellte. Während 
Schleiermacher der Religion im Gefühl, in der Sphäre des un 
mittelbaren Bewußtfeins ihre felbftändige Heimat angewieſen hatte, 
wollte die fpeculative Schule das Gefühl nur ale die umvoll⸗ 
Tommene Vorftufe des Begriffs gelten laſſen: inmitten dieſes Gegen 
fages, aber ungleich näher bei Schleiermacher als bei Hegel nahm 
Nitzſch die Stellung, welche der Ausgangspunkt feiner ganzen eigen: 
tümlihen theoretifchen Theologie ward und die ihm bereits im 
Jahre 1830 von Schleiermacher das ehrende Wort eintrug, er füi 
der Mann, von dem er am liebften ſei's gelobt, ſei's getubelt werde. 
Er hielt der fpeculativen Schule treffend entgegen, daß, während 
das fromme Gefühl das geiftige Leben in feiner Totalität umfaſſe, 
der Begriff, der dies Gefügl in fih aufgeben folle, nur eine De 





Zum Andenten an D. Earl Immanuel Nitzſch. 887 


fonderung jener Lebens fei, eine Befonderung, die alſo keineswegs den 
vollen Gehalt des Gefühls in ſich befaffe; mit anderen Worten, daß der 
Begriff weder Wille noch Erfahrung zu werden, alfo weder zu heiligen 
noch zu befeligen vermöge. Hiemit war der Intellectualismus ber 
ſpeculativen Schufe, die im religiöfen Glauben nur eine zum Begriff zu 
erhebende „Borftellung“ von göttlichen Dingen, nicht ein Lebensverhältnis 
zu Gott erfannte und ebendamit der ungeheuren Täufhung Raum 
gab, als ob das abfolute Wiffen haben und das ewige Leben haben 
eins und dasjelbe fei, an feiner Wurzel angefaßt und eine Mer 
figionstheorie gerichtet, „die es zweifelhaft ließ, ob ein Tobender 
Seraph eine — weil unwiffenfchaftlichere, auch tiefere, oder eine 
höhere Stufe einnehme, als ein fpeculativer Satan“ *). Hielt Nitzſch 
demnach mit Schleiermader entfchieden daran feft, daß das Gefühl 
nicht nur die vorläufige Form, fondern die wefentlihe Geftalt des 
teligiöfen Geiftesfebens fei, fo war er doch andererfeits mit ber 
Schleiermacher'ſchen Abgrenzung dieſes Gefühls gegen die Gebiete 
de8 Denkens und Wollens keineswegs ganz einverftanden. Vielmehr 
betonte er, daß das Gefühl als unmittelbare Einheit und Ganzheit 
des Geifteslebens Vernunft und Willen, Idee und Gewiſſen weſent⸗ 
lich in ſich hege, im refigidjen Gefühl alfo ſowol eine unmittel⸗ 
bare Erkenntnis, als ein entſprechender Willensimpuls nothwendig 
entſpringe. 

Von dieſem Geſichtspunkt aus vermochte Nitzſch die Schleier⸗ 
macher'ſche Theologie weſentlich fortzubilden, ohne deren unvergäng⸗ 
fie Grundlagen irgendwie zu verlegen. Wenn er als Haupte 
mängel der Schleiermacher'ſchen Glaubenslehre wiederholt das Fehlen 
der Idee des göttlichen Wortes und die Ausfcheidung der „gnoftifchen“ 
Elemente des chriſtlichen Glaubens (Trinität u. ſ. w.) bezeichnet, 
fo war er felbft von dem bezeichneten Gefichtspunft aus im Stande, 
diefelben zu ergänzen. War e8 dem religiöfen Gefühl: wefentlich, 
tefigiöfe Idee, religiöfe Grunderkenntniffe in ſich zu hegen, jo konnte 
der chriſtlichen Religiofität nicht blos die von Chrifto aus— 
gehende Lebensftrömung, fondern e8 mußte ihr ein von Chriſto 
zeugentdes Wort Gottes zu Grunde liegen, in welchem die chriſt⸗ 


&) Syſtem der chriſtlichen Lehre, ©. 27 der 6. Auflage. 


588 Beyihlag 


liche Idee objectivirt und fo die fubjective Glaubenserkenntnis nor- 
mirt war, und fo ergab ſich für Nitzſchs Theologie ein ungleid 
näheres und innigeres Verhältnis zur heiligen Schrift ale der 
Urkunde des göttlichen Wortes, wiewol diefelbe den relativen Unter 
ſchied von Heiliger Schrift und Wort Gottes und ebendamit Rech 
und Pflicht einer theologiſchen Schrifttritit durchaus nicht verleug⸗ 
nete, vielmehr von dem ftreng gefaßten Begriff des Wortes Gottes 
aus erſt recht in’s Licht zu ftellen wußte. Andererſeits waren dur 
die Anerfennung des dem Glauben weſentlich innewohnenden Er- 
tenntnisgehalts und Erkenntniszuges auch diejenigen Elemente der 
chriſtlichen Grundlehren, welche nicht fowol einen myſtiſchen, als 
einen gnoftifchen Charakter tragen und von Schleiermader alt 
fpecufative aus der Glaubenslehre Hinausverwiefen waren, in ihrem 
Heimathörechte im hriftlihen Bewußtſein Hergeftellt und mittelft 
diefer „Anläffe unerläßlicher Speculation“ das Recht einer ſpecula⸗ 
tiven Theologie wieder begründet. Indem Nitzſch von diefem Rechte 
Gebrauch machte, ohne ſich darum auf bie trügerifchen Pfade der 
Hegel'ſchen Theo -Logit zu begeben, indem er von den Thatfaden 
des hriftlichen Bewußtfeins aus an der Hand der urbildlichen Schrift: 
lehre die religiös» fpeculotiven Probleme bearbeitete, vermochte er 
aud der Kirchenfehre in weit höherem Maße gerecht zu werden 
als Schleiermacher, wiewol es ihm nie um deren jcholaftifche Recht⸗ 
fertigung, vielmehr alfein um ihre bibliſch-ſpeculative Erneuerung 
zu thun war. 

Diefelbe Grundanſchanung, vermöge deren Nitzſchs Theologie 
diefen bibfifch-fpecufativen Charakter gewann, war auch der Quellpunft 
einer anderen, nicht weniger bedeutfamen Eigentümlichkeit derſelben, 
ihres ethiſch⸗ dogmatiſchen Zuges. War das religiöje Gefühl 
eben jo jehr wie es Idee, unmittelbare Erkenntnis war, jo aud Ur— 
wille, Gewiffen, fo war der im hriftlichen Bewußtſein wie in der 
heifigen Schrift gegebene ungertrennliche Zufammenhang von Re 
figion und Sittlichfeit auch wiſſenſchaftlich in feiner pſychologiſchen 
Wurzel erfannt. Und nun verfprad; es der Betrachtung beider die 
größte Reinigung und Vertiefung, wenn jedes von ihnen im Lichte 
des andern, wenn Dogmatif und Ethik in ihrer principiellen Ein- 
heit und wechfelfeitigen Bedingtheit durchbetrachtet wurden, indem 


Zum Andenken an D. Earl Immanuel Nitzſch. 589 


fi fo erft Herausftellen konnte, daß nichts zum chriftlichen Glauben 
gehören könne, was nicht Motiv der fittlihen Reinigung und Voll- 
endung, nichts wahrhaft fittlich fein könne, was nicht Frucht des 
Hriftfihen Glaubens ſei. Indem Nitzſch in diefem Sinne die Dog- 
matif ethisch, die Ethik dogmatiſch behandelte, überwand er von einem 
pofitiveren und Bibfifcheren Standpunkte aus und darum noch gründ« 
licher als Schleiermacher in beiden die Einfeitigfeit des alten dog« 
matiftifchen und moraliftifchen Standpunlts. 

Belanntlich ift aus diefem Gedanken einer wechjelfeitigen Durch⸗ 
dringung ber Dogmatif und Ethit Nitzſchs Hauptwerk im Gebiete 
der theoretifchen Theologie hervorgegangen, fein „Syftem der hrifte 
lichen Lehre“. Veranlaßt durch eine Vorlefung, in welcher er den 
Verſuch fpftematifcher Vereinigung der religidfen und der ethiſchen 
Scriftlehre zuerft angeftelit Hatte, erfchien es 1829 als erfter 
fnapper Entwurf, dann 1833 in erweiterter Geftalt, und von da 
bis 1851 im noch weiteren vier Auflagen immer durchgebildeter 
und reicher. Vom Centralbegriff des in Eprifto erfchienenen Heiles 
aus ift bier die hriftliche Lehre in ihrer dogmatifch» ethiſchen Ein⸗ 
heit ſyſtematiſch bargeftellt, indem von der Thatfache des Heils auf 
deren Borausfegungen, das urfprünglice Gute und das thatſäch ⸗ 
lie Böfe zurücgegangen und fo von Begriffen aus, bie ebenſowol 
ethiſch als dogmatifch find, die Lehre von Gott und Menfch, von Sünde 
und Tod, von der Begründung und Aneignung, Gemeinfchaft und 
Vollendung des Heils entwicelt wird. Dabei ift das Augenmerk 
zunächft auf die Darftellung der chriftlihen Lehre in ihrer urbild- 
lichen, bibliſchen Erſcheinung gerichtet als der Grundlage einer 
Keitit und Erneuerung des kirchlichen Lehrbegriffs; nur andeu⸗ 
tungsweife, in inhaltfchweren Anmerkungen, wird auch das Ber- 
hältnis der biblifhen zur kirchlichen Lehre und zur neueren Wiffen- 
ſchaft erörtert. Bon befonderer Bedeutung aber war der dem 
„Syſtem“ gegebene principielle Unterbau, indem hier der Verfaſſer 
feinen eigentümlichen Religionsbegriff entwidelte, von ihm aus 
den wefentlichen Unterfchied von Natur- und Offenbarungsreligion 
begründete und im Verfolg der Charakteriſtik letzterer zur Begriffs- 
faffung der Weißagung und des Wunders, des Wortes Gottes und 
der heiligen Schrift gelangte, — ein Grundriß der Religions- 

Theol. Stud. Jahrg. 1869, ” 


590 Beyfälag 


wiſſenſchaft und Fundamentaltheologie, in welchem Nitzſchs gebiegene 
Fortbildung der Schleiermacher'ſchen Grundanſchauungen — nur 
allzu lakoniſch — zuſammengefaßt iſt. 

Es gehört zu der Eigentumlichkeit Nitzſchs, daß wir von feiner 
theoretiſchen Theologie nicht wie von der praftifchen eine vollkommen 
ausgeführte Darftellung, fondern nur eine mehr oder weniger an 
deutende Skizze erhalten haben: fo Har feine Theologie in den 
Principien war, fo wenig war fie auf den Schein vollkommen abe 
gefchloffener Reſultate angelegt, vielmehr ſich dejjen Mar bemuft, 
daß fie ſowol nad der Seite der Echriftausfegung, als bes ſpecn⸗ 
Tativen Gedanfens Hin unendliche Wege eröffne.. Um fo wil 
tommener mußten dem Freunde dieſer Theologie eine Meihe vm 
Einzelarbeiten fein, durch welche einzelne Partieen berfelben un 
namentlich ihre Principienlehre eine weitere Erörterung empfingen. 
Dahin gehört fein 1827 erſchienenes Sendfchreiben an D. Delbrüd, 
in welchem er die normative Autorität der heiligen Schrift gegen 
den Vorfchlag, das Apoftolicum zur Lehrnorm zu erheben, vertrat; 
dann aber und vor allem feine Beiträge zu diefer unferer Zeitſchrift, 
zu deren Begründung er ſamt Lücke und Giefeler, den Urhebern det 
Planes, Ullmann und Umbreit, 1828 die Hand geboten hatt. 
In ihr trat er von Anbeginn und während der dreißiger Jahre 
wiederholt als Interpret und Apofoget der Schleiermacher'ſchen 
Theologie auf, theils in eigenen Abhandlungen, wie über den Re 
Tigionsbegriff der Alten und über Schleiermachers Religionsbegriff, 
theils in kritiſchen Weberfichten der neuen ſyſtematiſch- theologiſchen 
Literatur, welche namentlich durch die in ihnen wiederholt eintretende 
Nöthigung, den pſychologiſch⸗dialeltiſchen Standpunkt Schleiermachers 
gegen den logiſch⸗ fpeculativen der Hegel'ſchen Schule zu vertretm 
und ſich jelbft mit den abfolut-wiffenfchaftlihen Prätenfionen derſelben 
auseinanderzufegen, von hohem Intereſſe find *). An diefe Arbeiten 
ſchließt fich ferner die berühmte Abhandlung über die immanente 
Trinität (Stud. u. Krit. 1841) an, in welcher der eigentumliche 


a) Bgl. namentlich die vortreffliche Anzeige von Roſenkranz' Kritil der Schleier 
macherſchen Glaubensiehre, Stud. m. Krit. 1887, 2. Heft. 





Zum Andenken an D. Earl Immanuel Nitzſch. 591 


bibliſch -fpeeulative Zug, der Nitzſch von der Schleiermacher'ſchen 
tie von der Hegel’ihen Schule unterfchied, glänzend hervortrat. 
Aber die bebeutendften Beiträge, mit denen Nitzſch afhfere Zeitfchrift 
geihmüdt Hat, bleiben jedenfalls feine „Proteftantifche Beantwortung 
der Möhler'ſchen Symbolik“ (1835) und feine „Theologiſche Kritik 
der Strauß’fchen Dogmatit“. Jene war in dem neu entbrennenden 
Rampfe der beiden Confeffionen, den der Katholicismus in den 
dreißiger Jahren gerade vom Rheinland aus eröffnete, eine wiſſen ⸗ 
ſchaftliche That erften Ranges, indem der von Möhler kunſtvoll 
verfhobene Gegenſatz des Katholicismus und Proteftantismus hier 
mit fiegreicher Mlarheit auf den Gegenfag des geſetzlich entftellten 
umd des evangelifch gereinigten Chriftentums zurüdgeführt und fo 
der neuen Wiffenfchaft der Symbolik ein leitender Geſichtspunkt 
von durchichlagender Bedeutung gegeben ward. Mit derfelben ruhigen 
Ueberlegenheit trat Nigfh der von Strauß mit fo glänzenden Ber 
weisführungen unternommenen Bankerotterklärung der chriſtlichen 
Dogmatik entgegen, indem er durchweg die Oberflächlichteit und 
Bodenlofigfeit diefer Kritit und dem gegenüber die Feuerfeſtigkeit 
der chriſtlichen Grundvorausfegungen, infonderheit der Idee bes 
Bunder8 und der heiligen Schrift erhärtete, — freilich nur für 
diejenigen, die feiner immer mit der Fülle und Tiefe des Gedankens 
tingenden und diesmal ganz befonder& Heraklitifch »dunfeln Schreibart 
zu folgen vermodhten. 

Weit vollftändiger als in diefen an Umfang immerhin beſcheidenen 
literariſchen Arbeiten ftellte fi die gewaltige Geiftesarbeit des 
Mannes in feiner mündlichen Mitteilung dar, gegen die ihm als 
echtem afademifchen Lehrer die fehriftftellerifche doch fehr in zweiter 
Linie ftand. Obwol er nur über eine mäßige Anzahl von Dis- 
ciplinen las, fo fühlte der Zuhörer doc), wie er das gauze Gebiet 
ber Theologie faft gleihmäßig beherrſchte. Es trat das zunächſt 
in feiner Enchklopädie hervor, in der er, auch Hierin die Schleier- 
macher'ſche Organifation weiterbildend, eine principielle, Hiftorifche, 
foftematifche und praftifche Theologie unterfchied, um dann jede 
mit gleicher Birtwofität zu ſtizziren. In der fyftematifchen num, 
bie er aus Schleiermachers „hiftorifcher Theologie“ heraus ver- 
felbftändigte, lag fein eigener Mittelpunkt, aber feine Dogmatit und 

39 


6592 Beyſchlag 


Ethik hatte durch das ganze Gebiet der Theologie ihre lebendigen 
Wurzeln. Bor allem nad der bibliſchen Seite, und wenn er mit 
Ausnahme eines publicum über das Buch der Weisheit feine ere⸗ 
getifchen Vorleſungen hielt, fo war dafür feine bibliſche Theologie 
eine deſto großartigere und zufammenhängendere Einführung in dit 
heifige Schrift. Er rühmte fich, diefe feine Lieblingsdiscipfin zuerft 
in den Kreis der akademiſchen Borlefungen eingeführt zu haben, und 
behandelte fie als eine Art Dogmengefchichte innerhalb der Bibel, 
indem er Altes und Neues Teftament und näher patriarchaliſche 
und mofaifche, prophetifche und jubaiftifche, meffianifche und ape 
ſtoliſche Stufe unterſchied. Indem er hiebei auch den bibliſchen 
Geſchichtsverlauf als Vorausſetzung der Lehrentwickelung von einem 
beſonnenen, aber freien kritiſchen Standpunkt aus in Betracht zog 
wappnete er feine Schüler gegen die Verlockungen eines fich ſelbſ 
überfchlagenden Kriticismus und Lehrte fie, neben dem Neuen Tefte- 
ment auch das Alte, deffen Zurüdfegung er an Schleiermadher leb⸗ 
haft beffagte, in einer gefchichtlich- freien und doch offenbarung® 
gläubigen Weile zu witrdigen. Auf diefem hiſtoriſch-kritiſchen Fun- 
bament entmwidelte fi dann der Schriftgedanfe, der, durch eine im 
Alten wie im Neuen Teftament grammatiſch-hiſtoriſch wohlbegrün⸗ 
dete Exegeſe Herausgeftellt, überall als organiſches Glied eins 
großen, der ganzen Bibel inhärenten Syftems in's Licht eines groß 
artigen Zufammenhanges trat. Nicht weniger aber als auf exege⸗ 
tiſchen ruhte feine Syſtematik auf hiftorifchen Studien; davon 
gaben feine dogmengeſchichtlichen und fymbolifchen Vorleſungen 
Zeugnis, in denen überall die gründlichſte gelehrte Kenntnis dee 
Materials mit geiftvoller Durchdringung und Entwickelung desfelben 
verbunden erfhien. Eine befondere Vorlefung über „Neuere Dog: 
mengeſchichte“ führte den Zuhörer auch wol bi mitten in die fire. 
tenden Gegenfäge der Gegenwart herab, während Vorträge über 
„Chriſtliche Religionswiffenfhaft für Studirende alfer Facultäten“ die 
fonft in der Dogmatik und biblischen Theologie einleitungsweiſe 
behandelte Principienlehre eingehender und zu großer freude der 
theologifchen Zuhörer gemeinverftändficher entwickelten. In allen 
diefen Vorlefungen wußte man nicht, was man mehr bewundern 
ſollte, die Gelehrſamkeit oder den Tieffinn des Mannes, feine um- 





Zum Andenfen an D. Earl Immanuel Niki. 598 


faffende philologiſche, Hiftorifche, philoſophiſche Bildung oder die 
myſtiſch⸗ fpecnlative Energie, mit der er allen Stoff in Geift und 
Lehen verwandelte; aber der höchfte Zauber Tag doch weber in 
diefem, noch in jenem, er lag in ber Perfünlichleit des Lehrers 
felbft, in dem milden Eruſt, in der frei von innen Hervortretenden 
Würde, in dem Eindrud eines fühlbar in der Wahrheit geheiligten 
Weſens, den jeder, der ihm nahe trat, unwiberftehlich empfing. 
Dem Verfaffer diefer Skizze war es vergönnt, im Anfang ber 
viergiger Jahre während eines doppelten Stubienaufenthaltes zu 
Bonn ſich diefem Eindruck hinzugeben und denfelben in einer ihm 
ſchließlich zutheil werdenden perfünlihen Belanntfhaft mit dem 
verehrten Lehrer noch verftärkt zu erfahren. Es war die Blüte 
zeit der Bonner evangelifch-theofogifchen Facultät; achtzig bie 
hundert Studirende, wie damals, Hat fie nie wieder erreicht. Und 
wenn die Koftfpieligfeit des Ortes, ſowie die überwiegend Latho- 
fifche Umgebung einem noch größeren Zuflug im Wege ftand, fo 
war dafür die Hälfte jener Zahl Ausländer, befonders Holfteiner 
und Schweizer, die einzig um Nitzſchs willen kamen. Denn er 
war, wie treffliche und bedeutende Männer auch neben ihm lehren 
mochten, die Perle nicht nur der Facultät, fondern der gefamten 
Hochſchule; unerachtet des confeffionellen und noch manches anderen 
Gegenſatzes, der diefelbe durchzog, genoß doch wol kein Mitglied 
in ſolchem Maße die allgemeine Verehrung wie er. Es war ein 
Student der Medien, der mir, dem Neuling, den theologifchen 
Lehrer zuerft anf der Straße als die allgemeine Reſpectsperſon 
zeigte. Seiner im Hörfaal froh zu werden, war freilich dem An- 
fänger kaum möglich; wer ohne theologiſche Vorbildung in eine 
Nigfh’fche Vorleſung kam, dem ward zu Muthe wie einem Kinde, 
da8 einer Unterredung ernfter Männer lauft. Erſt allmählich, 
nachdem man mit feiner eigentümlichen Ausdrudsweife vertraut 
und in ber theologifchen Literatur, zumal in Schleiermader, etwas 
heimifch geworden, gieng einem ein mehr als wörtliches Verftändnis 
auf, ebendamit aber auch der höchſte geiftige Genuß. Nitzſchs Vor⸗ 
trag war Iebendig umd frei, ohme alfe Rhetorik, aber auch ohne 
jeden Anftoß der Form, wenn man wicht etwa feine impopuläre 
Ausdrucksweiſe und die Nichthernorhebung der Wendepunkte des 


594 Beyfchlag 


Gedankenganges dahin rechnen will: in einer ſteten Dialektit nicht 
der Form, ſondern der Sache bewegte ſich der ruhige, tiefe Ge 
danfenftrom vorwärts, der offenbar in jedem Augenblid aus der 
inneren Sammlung und Spannung des Geiftes in lebendiger Neu ⸗ 
bildung entfprang. Dabei wenig und immer milde und würdige 
Bolemit, zuweilen — wiewol felten — ein Scherz, ber nie zum 
Spafe ward; der Ernft der Behandlung entſprach dem Ernft der 
Sache, und ohne daß das Lehren je die Strenge der Wiſſenſchaft 
verlaffen hätte und im gemöhnlichen Sinne erbaulich geworben 
wäre, ward nicht nur mit gefpannter Aufmerkjamteit, fondern mit 
wahrer Andacht gehört. 

Wer nun, felbft hingenommen von wiſſenſchaftlichen Fragen, jo 
an Nitzſchs wifjenfhaftliher Größe andächtig hinauffchaute, dem 
war es ein überraſchender Eindrud, diefe tieffinnige, mit den höchiten 
Problemen virtuos beſchäftigte Theologie mit der innigften Liebe 
zur Kirche und mit dem ftärkften Zuge zum demütigen Dienft 
der Kirche verbunden zu fehen. Hierin war Nitzſch eine Schleier⸗ 
machern ganz ähnliche Natur. Auch ihm war die ganze Theologie 
eine — freilich charaktervolle und daher in ihrem Bereich jelbftän- 
dige — Dienerin der Kirche und die praktiſche Theologie die Krone 
des theologiſchen Studiums. Seine praftifch »theologifchen Bor- 
lefungen, bald das Ganze der Dieciplin umfaſſend, bald einzelne 
Theile, namentlih Homiletit und theologiſche Kritit des Kirchen 
rechts beſonders behandelnd, bildeten ein zweites Hauptgebiet feiner 
Lehrthätigkeit, und ein foldes, auf welchem feine Virtuofität und 
Productivität im Vergleich zu dem überlieferten Stande der Dinge 
vielleicht noch Höher anzufglagen war ala in der theoretiſchen 
Theologie. Auch auf diefem Gebiete verfügte.er über die gründ ⸗ 
Tichften Studien, von denen er in feinem „Theologifchen Votum“ über 
die preußifche Agende (1825) und in feinem Programme De theo- 
logia practica felicius excolenda (1831) bedeutfame Proben ab- 
gelegt Hatte; eine nahezu fertig ausgearbeitete „Liturgif“ war nur 
durch den zum „Syſtem der chriftlichen Lehre” drängenden Antrieb 
um Abſchluß und Veröffentlihung gelommen. Im engften Auſchluß 
an die praftifch = theologiſchen Vorlefungen ftand nun das homiletiſche 
Seminar, in defjen Leitung Nitzſchs Lehrthätigkeit doch erſt ihren 





Zum Andenken au D. Earl Immanuel Nitzſch. 505 


Gipfelpunkt erreichte. Hier trat man dem immer freundlichen und 
doch nur auß ſcheuer Ferne verehrten Pehrer perfönlich näher: nicht 
aur weil er für feine Seminariften allwöchentlich einen offenen 
Abend Hatte, fondern weil feine Art und Weife im Seminar felbft 
eine fo herzgewinnende war. Auf ungefuchte Weiſe wußte er den 
Schulübungen bereits die Weihe eines kirchlichen Handelns zu geben; 
indem er mit feinem Seminar das Kirchenjahr durchlebte, ſprach 
er hier wol auch einmal ein einfaches und in feiner Kürze 
um fo wirkſameres Erbauungswort zu den Herzen. Seine Recen⸗ 
fionen waren meifterhaft nicht nur in dialeftifher, fondern eben- 
ſoſehr in ethiſcher Hinficht: kein Fehler des fchülerhaften Verſuches 
blieb wnüberführt, und doc; geſchah diefe Ueberführung in einer nie 
verlegenden, immer ermuthigenden Weiſe. Dabei bewunderten wir 
die Geifteögegenwart, mit der er auch einen eben erft vernommenen 
Vortrag fofort treffend und ausgiebig zu beurtheilen vermochte, und 
bie Fülle von pofitiven Anregungen, die bei jedem in Rede kom⸗ 
menden Schrifttert oder Lehrpunft fo ganz mühelos und beiläufig 
abfielen. — Was das Seminar uns in Geftalt der Lehre brachte, 
da8 gab endlich der alademifche Gottesdienft als herrliches Vor⸗ 
bil. Im reinften Sinne feierlicher Tieß fein Titurgifches Reden 
und Handeln ſich denken; ic) weiß, daß ein ungläubiger katholiſcher 
Student, der zufällig Nigfch den Segen austheilen jah und hörte, 
ſich dem erbauenden Eindruck nicht entziehen konnte. Und was die 
Predigten betraf — fie waren von feinen Reizen der Rhetorik ges 
ſchmückt und ihrem Inhalte nah im ftärfften Maß „nicht Milch, 
fondern ftarfe Speife“, — dennoch Hörte nicht bloß die afademifche, 
fondern die ganze Gemeinde von Bonn keinen Prediger fo an« 
dächtig und ausbauernd wie Nitzſch. In großer Schlichtheit des 
Vortrags, mehr meditirend als anredend, faltete die Predigt die 
Tiefen der Schrift, wie des Menfchenherzens auseinander und bes 
rührte — wenn es ihr gelang, durchfichtig zu bleiben — die Ge⸗ 
müther, wie E. M. Arndt in einem Briefe jagt, „wie ein höheres 
Leben“. Mit Recht wird manche Predigt in den verjchiedenen 
bis 1848 erfcienenen „Auswahlen aus der Amteführung der letzt⸗ 
vergangenen Jahre“ dem Bedeutendften und Vollendetſten zugezählt, 
was Nigjch überhaupt aus der Tiefe feines Geiftes hervorgebracht. 


896 Beyſchlag 


Dies Amt des Univerſitätspredigers num wurde für Nitzſch 
die Brüde zu einer firhlihen Stellung und Wirkfamteit, 
die am Bedeutung Hinter feiner afademifchen nicht viel zurüd- 
ftand. Die rheinländifche Provinzialkirche, in deren Mitte er 
ftand, war um bie Zeit, als er nach Bonn fam, eine eigentlich 
erft im Gntftehen begriffene Gemeinfchaft. Erſt das preußiſch 
Regiment hatte die ſehr Heterogenen nieberrheinifchen ‚und ober- 
theinifchen Elemente und in beiden Gebieten wieder reformirt 
und futherifche Gemeinden zufammengebraht. Die Union, am 
Niederrhein vorbereiteter als irgendwo, war zwar von der Mehrheit 
freudig angenommen, aber auch von nicht wenigen und zum Theil 
den mädtigften Gemeinden (3. B. den Elberfelder) abgelehnt 
worden. Ein firchliches Einheitsband gab erft die Kirchenorbmung 
von 1835, welche — in einer Zeit, da die guten Vorſätze der landet 
tirchlichen Organifation in Berlin bereits fehr verflogen waren, 
um den Preis der Annahme der Agende mühſam erlangt — die 
altbewährten presbyterial⸗ ſynodalen Ordnungen des Niederrhein, 
wenn auch in bedingter, durch unorganifche Einfchiebung eines Eon 
fiftoriume befchränfter Weife, der ganzen Provinzialfirche zu gute | 
fommen lieg. Wieviel für eine gebeihliche Entwicelung ber fo zu | 
fammengefaßten Heterogerien Elemente auf ein innigeres Verhaltnie 
von Kirche und Theologie, Synode und Facultät ankam, liegt auf 
der Hand; und doch ftand einem ſolchen das ftärkfte Lebens 
element, welches die Provinzialfivche in fi trug, im Wege — 
der ausgeprägte nieberrheinifche Pietismus mit feiner Geringfchägun 
der Wiffenfchaft überhaupt und feinem Mistrauen gegen eine nament- 
lich im Punkt der Inſpiration freiere Theologie. Es bleibt ein 
denkwürdige kirchengeſchichtliche Erſcheinung und ift vielleicht das 
größte Zeugnis für Nitzſchs ausgezeichnete, Perſonlichkeit, daß e 
ihm gelang, in diefen Verhältniſſen die Stellung — man fan 
wol fagen — eines evangelifchen Kirchenvaters zu erringen. 

In echt evangelifcher Weife war es eine Virtwofität nicht de 
Herrſchens, fondern des Dienens, die ihm den Meg zu diefer Sl: 
fung eröffnete. Der vielbefchäftigte und hochangefehene Brofeflr 
verfehmähte es nicht, der evangelif_hen Gemeinde, mit deren Gott: 
dienften die afademifchen combinirt waren, als Pfarrvicar audi 





Zum Andenken an D. Earl Immanuel Rich. 897 


Neben» und Wochengottesdienften zu dienen, mit den Pfarrern der 
Didces die Laft der Bacanzpredigten zu theilen und fo fi in den 
fichligen Organismus freiwillig einzugliedern. Die Folge war, 
daß er alle Stufen diefes Organismus vom Presbyterium an bis 
zur Generalfynode durchwanderte. Es mar die Kreisfynode von 
Müplgeim!, welche den nad rigorofer Auslegung der Kicchen- 
ordnung eigentlich nicht einmal ftimmberechtigten Univerfitätsprediger 
als ihren geiftlichen Vertreter regelmäßig auf die Provinzialfynoden 
abordnete, und auf dieſen wiederum kam derfelbe zu folder Gel⸗ 
tung, daß er nicht mur mit den mwichtigften Referaten betraut und 
zur Theilnahme am Eandidateneramen berufen, fondern ſchließlich 
auch zum Affeffor (d. h. Wicepräfidenten) der Synode gewählt 
ward. Das Vertrauen der Regierung wollte Hinter dem der Provinz 
nicht zurückbleiben, und fo wurde Nitzſch zugleich in's Provinzial- 
confiftorium berufen, an deſſen Arbeiten er, foweit es feine Bonner 
Berufspflichten geftatteten, ebenfalls Hingebend teilnahm. Wenn 
die in ihrer Eigentümlichkeit von Berlin her nicht eben begünftigte 
theinifche Kirche fich dennoch allfeitig in gebeihlichfter Weife fort- 
entwickelte, ihr Synodalweſen feiner officiellen Erfolglofigfeit un- 
erachtet dennoch durch geiftigen Inhalt und Segen fih immer 
größere Achtung erwarb, die pofitive evangefifche Union hier tiefere 
Wurzeln ſchlug und einen fefteren Gemeingeift ausprägte als irgendivo 
fonft, fo Hat die vielfeitige, geräufchlofe Wirkſamkeit Nitzſchs und das 
fhöne Zuſammenwirken von Farultät, Synode und Kirchenregiment, 
welches er vor allen repräfentirte, hieran wol fein geringes Theil. 
Ein Denkmal feiner ſynodalen Wirkſamkeit ift unter anderem die 
neue Perikopenauswahl, welche er zur Ergänzung der jo mangelhaften 
altherfömmlichen im Auftrag der Synode ausarbeitete, und deren 
Genehmigung und Einführung er nad vieljährigen vergebfichen 
Bitten der rheinifchen Kirche noch im feinen alten Tagen erlebte. 
Eine andere Arbeit, welcher er im Intereffe der Provinzialficdhe 
in Gemeinſchaft mit D. Sad fi unterzog, war die Herausgabe 
einer evangelifch »Eirchlichen Monatsſchrift für Rheinland und Weft- 
falen, eines Organs für die kirchlichen Iutereſſen der beiden ver- 
faffungsverwandten Provinziaffivchen, das er mit mandem ſchönen 
praltiſch⸗ theologiſchen Beitrag gefehmüct Hat, und welches wol die 


58 Beyihlag 


Haupturfahe war, daß feit dem Jahre 1845 die Studien und 
Krititen feine thätige Mithülfe vermiffen mußten. Denn nad) und 
nach hatte ſich eine ſolche Ueberlaft von Aemtern und Pflichten auf 
ihn zufammengehäuft, daß nur eben feine Begabung und Gewiflen- 
haftigkeit das alles ohne Verkürzung des Einzelnen nebeneinander 
zu tragen unb zu feiften vermochte, — freilih auch fo nur auf 
Koften feiner Titerärifchen Mittpeilung umd feiner wiederholt durch 
Ueberarbeitung erſchütterten Gefundpeit. 

Unftreitig ftand Nitzſch in der Mitte der vierziger Jahre auf 
der Sonnenhöhe feiner Wirkfamfeit. Die verjüngte gläubige Theo 
logie, deren Durchbildung er vor allen aus Schleiermachers Händen 
übernommen halte, war bis dahin von Sieg zu Siege gefchritten, 
und der Einfluß, den fie am Rhein auf eine feſt und frei auf 
ftrebende Kirche gewonnen Hatte, ſchien ihren Beruf, das kirchliche 
Leben auch im größeren Ganzen neu zu ordnen, vollends aufer 
Zweifel zu ftellen. Es war im Jahre 1846, als durd die Be 
rufung der Berliner Geueralſynode diefe Aufgabe an Nigich heran- 
trat. Nach langer böfer DVerfchleppung, weldye die zu löfenden 
Probleme riefengroß gezogen umd die zu einigenden Geifter erbittert 
und immer mehr entzweit hatte, wurbe eine landeskirchliche Vertretung 
improvifirt, die über jede Erwartung tüchtig und einig ausfiel umd die 
zu löfenden Lebensfragen ebenfo ernft als muthig in die Hand 
nahm. Die fchwierigfte derjelben, die Verpflichtungsfrage, d. 5. 
die Vermittelung von Bekenntnis und Lehrfreiheit in der evange⸗ 
liſchen Kirche, fiel Nigfch zur Bearbeitung zu, der von der Rhei⸗ 
niſchen Synode zufammen mit dem Präfes derjelben abgeordnet 
war. Die Löfung, welche er als Referent der Belenntniscom: 
mifjion vertrat, ift befannt: er wollte fich hinſichtlich der Bes 
kenntnisſchriften mit einer moralischen Verbindlichkeit derfelben als 
„Zeugniffe und Vorbilder gefunder Lehre“ begnügen, die eigentlich 
rechtstraftige Berpflichtung des Geiftlihen aber auf die in Ur 
worten der heiligen Schrift ausgedrüdten Hauptpunfte der apoſtoliſch⸗ 
teformatoriichen Verfündigung beſchränken. Und wenn es feititand, 
daß einerfeits eine Kirche ohne irgendwelches nöthigenfalls rechts- 
Träftige Belenntnisfundament nicht zu beftehen vermöge, und anderers 
feits eine Verpflichtung auf. den Wortlaut der alten Symbole dem 





Zum Anbenfen an D. Carl Immanuel Rich. m, 


Theologen des neunzehnten Jahrhunderts nicht auferlegt werben 
lonne, was blieb, um endlich Klarheit und Wahrheit in die Lehr- 
derpflichtung zu bringen, anderes übrig, als in diefer Weife auf die 
bibliſchen Hauptpunkte des evangeliſchen Belenntniffes zurüczugehen, 
auf die Punkte, welche die Mpoftel fekbft zur Erzeugung und Er⸗ 
haltung chriftlichen Glaubenslebens für ebenfo unerläßlich als aus⸗ 
reichend gehalten? Das von Nitzſch entworfene und von der großen 
Mehrheit der Synode gutgeheißene Orbinationsformufar hätte immer» 
bin der Kritit verfallen mögen, wenn biefelbe nur etwas Beſſeres 
vorzufhlagen gehabt hätte; jedenfalls Leiftete es die Hauptfache, die 
zu leiften war, indem es jede auf chriftlihem und evangelifchem 
Boden denfbare Lehrfreiheit gewährte und dennoch Burgſchaft gab, 
daß der fo ſich Verpflichtende fein anderes Evangelium als das ber 
Apoftel und Reformatoren predigen ober aber des Woribruchs ein« 
fach zu überführen fein werde. Gleichwol war die Zeit einer ſolchen 
gerechten und ehrlichen Bermittelung von Lehrordnung und Lehre 
freigeit noch nicht gelommen. Daß einige Punkte des Apoftolicums, 
die in ber heiligen Schrift nie unter den Fundamentaljägen apoftos 
liſcher Heilsprebigt vorfommen und auch für eine gläubige Theo» 
logie noch ungefchlichtete Probleme enthalten, in dem Ordinations ⸗ 
formufar übergangen waren, war für die Partei, welcher die ganze 
Synode mit ihrer Unionsgefinnung und Presbyterialverfafjung ein 
Greuel war, eine ausreichende Handhabe, um ein Ketzergeſchrei gegen 
bie Generalſynode zu erregen, und dies Keßergefchrei wiederum war 
einem König, ben bei aller Liebe zur Kirche feine eigentümlichen 
Heale die dringendften Bedürfniffe derfelben verkennen ließen, An- 
laß genug, um nicht nur das Ordinationsformufar, fondern die 
fäntlichen Anträge der Synode in's Bereich des ſchätzbaren Ma- 
terials zu verweifen. 

So mwurbe bie Generalſynode von 1846, indem fie einen flüch« 
tigen Augenblick die Geſchicke der evangelifhen Kirche in Nitzſchs 
Hände zu legen ſchien, vielmehr die tragifche Peripetie feines Les 
bens, nämlich der Anfang der Erfahrung, daß es der von ihm ver» 
retenen vermittelnden Theologie dennoch nicht vergönnt fein werde, 
diefe Geſchicke zu Ienken und den Frieden der evangelifhen Kirche 
jerbeizuführen. Cine Zeit der bitterften perjönlihen Erfahrungen 


600 Beyihlag 


folgte der Synodalarbeit auf dem Fuß. Die planmäßig in's Werk ge: 
fegte Verkegerung der Synode richtete ſich vor allem gegen fein 
Berfon; man ſcheute ſich nicht, einen Mann, der nod auf dr 
Synode aus gegneriſchem Munde das Zeugnis erhalten Hatte, du 
in |feinem Referate Glaubigkeit, Erfahrung, Verftand, Weisheit m 
Wiſſenſchaft ſich wundervoll durchdrungen“, um eben dieſes Rı- 
ferats willen wie einen Abgefallenen und Verführer zu behandeln, 
und felbft ſolche, die fich zu feinen Freunden gerechnet, ohne dot 
ein wirkliches Verftändnis feines Standpunkts zu befigen, wurden 
um jener, wie fie meinten, dem Unglauben gemachten Zugeftänt- 
niffe willen an ihm irre. Es war mit Beziehung auf ſolche Ber- 
tennungen, daß er damals den Spruch 2 Kor. 5, 11 unter ſen 
Bild ſchrieb: „Weil wir wiffen, daß ber Herr zu fürchten ift, fahren 
wir ſchön mit ben Leuten; Gotte aber find wir offenbar.“ Bee 
als der große Haufe bejchränkter Zeloten wußte ber einfichtig 
Minifter, welcher der Generalſhnode präfidirt Hatte, den Mann zu 
würdigen, der, ohne es zu fuchen, der Führer derfelben geworden 
war; als bald darauf der Lehrftuhl der Dogmatik in Berlin er 
ledigt ward, berief er Nigfch auf denfelben, mit der ausgeſprochenen 
Abſicht, feine Einfichten und Rathſchläge für das dennoch wieder 
aufzunehmende kirchliche Organifationswerk zu verwerthen. 

Es war die zehnte afademifche Berufung, die Nitzſch erlebte; 
nad Marburg, Kiel, Heidelberg, Tübingen Hatte man ihn noch von 
Bonn aus begehrt, und er hatte abgelehnt. Auch Konnte er nirgende 
wiederfinden, was er in Bonn zu verlafien hatte, das fchön, 
ſtille, auf's Siebengebirge fchauende Haus mit dem an den Rein 
binunterreichenden Garten, den Freundesumgang von Männern wit 
Bethmann-Hollweg, Arndt, Bleet, Brandis, und die Verehrung ir 
ganzen Univerfität, deren Rectorat er ſchon 1828 geführt; endlid 
dieſe Gemeinfhaft der umgebenden Kirche, in der nun fehon zahl 
reiche Schüler, auch in jenen Tagen der Verkennung treu aus 
harrend, um den geliebten Lehrer ſich feharten. Dennoch; ließ fih 
der Ruf nad; Berlin um der gejamten Landeskirche willen, in 
deren Angelegenheiten er durch die Generalfynode Hineingezogen war, 
nicht ablehnen: es ſchien ja undenkbar, daß das anerfannte und 
unvertennbare Organifationsbedürfnis derfelben abermals durch Jah: 





Zum Andenken an D. Carl Immanuel Nike. 601 


zehnte verfchleppt werden könnte. Und ſo ſchickte Nitzſch im Früh- 
fing 1847 ſich an, von dem ſchönen Rhein, an dem er fünfund« 
| imanzig Jahre hindurch in Frieden und Segen gewirkt Hatte, zu 
ſcheiden. Eben bereitete man eine Jubelfeier diefer Wirkſamkeit 
dor, als die ſchmerzliche Kunde, dag es mit berfelben zu Ende 
fei, ſich verbreitete und die beabſichtigte Beglückwünſchung in ein 
Abſchiedsfeſt verwandelte. Am 14. April kamen zweihundert Schüler 
und Freunde des verehrten Mannes in Bonn zufammen, um fih 
in einer Paftoralverfammlung noch einmal an Geift und Herz des⸗ 
felben zu erfreuen, wobei die reiche Liebe und Verehrung in mancherlei 
Beife, namentlich aber in der Widmung eines finnreihen, kunſt⸗ 
geſchmückten Albums ihren Ausdrud fand. In feinen Abſchieds⸗ 
worten nahm Nitzſch unter anderem auch auf die zulegt erfahrenen 
BViderwärtigfeiten Bezug. „Daß Sie vor meinem Scheiden ſich 
noch einmal fo zahlreich in Liebe um mic verfammelt Haben“ 
— ſprach er — „ift mir ein erfreuliches Unterpfand, daß ich, wie ich 
in der Rheinprovinz mit Freimuth und Sreifinnigfeit auf dem ge- 
legten Grunde gebaut Habe, fo auch ferner freimüthig und freifinnig 
bleiben darf. Mein theologifches Syftem gebe ich mit Freuden 
preis, nicht aber mein Princip, das der Freiſinnigkeit in ber 
theologifchen Lehrentwidelung, nicht da8 Streben nach Union, nad) 
einer Lehrunion der evangelifchen Eonfeffionen.“ 

As Nitzſch im Frühling 1847 nach Berlin überjiedelte, ſtand 
er im fechszigften Jahr. Dem einzigen Kinde, das er einft mit 
nad) Bonn gebracht, waren dort acht andere gefolgt; zwei davon, 
einen unmündigen Knaben und eine Tochter, hatte der Vater auch 
wieber in rheinifcher Erde begraben. Die ältefte Tochter Hatte er 
einem trefflichen Manne zuführen dürfen, aber nad kurzer Che 
war fie ald Wittwe in's Elternhaus zurückgekehrt. Auch in Berlin 
ſollte es an häusfichen Heimſuchungen nicht fehlen; ein bereits in 
ärztliher Wirkfamteit ftehender Sohn kränkelte Jahre fang und ftarb 
zulegt (1857) im Elterufaus. Gleichwol war das reiche innige 
Bamilienleben, das den ehrwürdigen Mann bis an’8 Ende feines Lebens 
umgeben folite, das befte Stück rheiniſchen Glücks, das ſich in den 
neuen Lebensabſchnitt mit Hineinnehmen ließ. Zwar eine ſchöne 
afademifche Wirkſamkeit that aud in Berlin fi auf, und ungleich 


bo2 Behſchtag 


größere Verſammlungen als in Bonn ſcharten ſich hier, wo ſeit 
Schleiermachers und Neanders Zeiten die Theologieſtudirenden nach 
Hunderten zühlten, um den noch in voller Kraft und Friſche ſtehen⸗ 
den Lehrer; auch die akademische Predigt jegte fich fort und ebenfo, 
wenn aud) in privater Form, das homiletifhe Seminar. Dagegen 
wurde der Horizont des öffentlichen Lebens immer düfterer, und 
alle Zeichen der Zeit wiefen auf Sturm. Was die kirchlichen Dinge 
betraf, fo nahmen die Wirren des durch die Rupp'ſche Angelegenheit 
an den Rand des Unterganges gebrachten Guſtavadolfs-Vereins die 
Gemüther in Anſpruch; es gelang Nigih, auf der Darmftädter 
Hauptverfammlung (Herbft 1847) die drohende Kataftrophe jenes 
Vereins, dem er von Anbeginn große Sympathie zugewandt hatte, 
durch friedliche Vermittelung abwenden zu helfen. Dagegen rüdte 
die landeskirchliche Angelegenheit in Preußen nicht von der Stelle. 
Endlih ward (Januar 1848) ftatt der erwarteten presbyterialen 
Organifation der Gemeinden ein Oberconfiftorium errichtet, das 
Dad; des Gebäudes vor dem Fundament; eben hatte ſich diefe Be 
hörde, in die auch Nitzſch ernannt ward, conftituirt, als der März 
1848 hereinbrach. Nitzſch gehörte zu den Wenigen, melde am 
Tage nad der Mordnacht des 18. März, einem Sonntag, Gotted- 
bienft zu halten vermodten; vor einem einen Häuflein legte er 
— freilich, wie er felbft fagt, mehr betend, als predigend — das in 
den gegebenen Berhäftniffen wahrhaft prophetiſche Wort aus: „So 
jemand auch fämpfet, fo wird er doch nicht gekrönt, er kampfe 
denn recht.“ 

Die num folgenden Zeiten der Auflöfung, welche keinerlei öffent- 
liche Ordnung unbedroht ließen, gaben Nitzſch reiche Gelegenheit, eine 
Zugend zu bewähren, die ihm in jenem Bonner Album von EM. 
Arndt nachgerühmt worden war, die Tugend chriftlicher Tapferkeit. 
Auch feinen Augenblid gehörte er zu den DVerzagenden, zu benen, 
die fi in unfruchtbarem Jammern ergoffen. In den Tagen der 
ſchlimmſten Anarchie, am 9. April, richtete er in der Worrede zu 
einer neuen Predigtauswahl an feine Standesgenoffen ein noch 
heute erhebendes Wort chriftlicher Weisheit und Ermuthigung: 
„Die Zeit, in welche wir unverſehens geftürgt worden find, und 
die uns nöthigt, unter den empfindlichen Ruthenftreichen eines großen 





Zum Andenken an D. Earl Immanuel Nitzſch. 608 


Meifters und Erziehers das ABE aller bürgerlichen und geſetzlichen 
Ordnung von neuem zu lernen, wird und muß den Prediger in 
ihrer Art in Anfprucd nehmen. Seine äußere Stellung fann ver- 
ändert und gefährdet erfcheinen; die zu lange angehaltene und Hin 
und wieder vergeblich zurüdgeftauete, nun defto wilder überflutende 
Strömung des politifchen Lebens kann fi bald auf Kirche und 
Schule und deren Verfaffung werfen. Damit wird, fo lange wir 
Zuhörer haben — und die Verfammlungen werden fi füllen und 
nit leeren — der innere Standort unferes Wirkens nicht ver⸗ 
"ändert. Es gefchieht, wie die Schrift fagt, nichts Neues unter der 
Sonne. Das Wort Gottes verwundert fi) über der Dinge feines, 
die gefchehen find und täglich geſchehen. Sehr einfache Wahrheiten, 
die wir fange überhörten, werden, ohne daß wir Urſache hätten, 
bloß nach einer Seite Hin zu rügen oder das bloße Zurückwünſchen 
voriger Zeiten zu erregen, an dieſen Geſchichten Beleg und Ver 
anſchaulichung und in den Seelenftimmungen, die fte angeregt, Auf⸗ 
nahme firden, wie noch niemals.“ — Dasfelbe Sturmjahr 1848 
fteltte ihn als Nector an die Spitze der Univerfität, und hier war 
es, wo er nad feiner eigenen Ausfage wiederholt in perfönfichen 
Gefahren Gottes Schug und Durchhülfe zu erfahren Hatte. Die 
leidenſchaftlichen Erregungen, melde die Hauptſtadt durdzudten, 
drohten wiederholt die Univerfität zum Schauplag oder Werkzeug 
fremdartiger Dinge zu machen. Unbelümmert um Gunft oder Une 
gunft ſteuerte Nitzſch folgen Anwandlungen mit unbeugjamer Energie 
und feheute, um denfelben vorzubeugen, felbft die damals fo ver» 
pönte Zuhülfenahme der bewaffneten Macht nicht. Eines Tages 
war eine ftürmifche Studentenverfammlung in der Aula mit 
Tagesereigniffen bejchäftigt; Nitzſch gieng hinein und gebot als 
Rector die Auflöfung der ungefeglichen Vereinigung. Ein wilder 
Sturm erhob fi; dennoch wagte niemand ihn vom Katheder zu 
teißen. 
ter friedlicheren Geftirnen ſchloß er im Sommer 1849 fein 
Rectorat und ließ feine anziehende Rede „über die kirchengeſchicht-⸗ 
liche Bedeutung der Regierung Friedrich Wilhelms IH.“ austönen 
in die Hoffnungen einer von Preußen ausgehenden Neugeftaltung 
des deutjchen Vaterlandes. Diefe Hoffnungen blieben damals be— 


604 Beyſchlag 


lanntlich unerfüllt, und eine tiefe Ebbe reactionärer Geiſtlofigkeit 
und Willkür trat an die Stelle der abgelaufenen revolutionären 
Sturmfluth. Nitſch war kein Anhänger des Liberalen Doctrinariemus, 
aber feine ganze religiöfe und ethiſche Denkart verbot ihm, mit dem 
damals aufwuchernden abfolutiftifchen Theofratismus gemeine Sache 
zu machen. — Bekanntlich trennten fi, als es erft Mode ward, den 
deutjchen Beruf Preußens als einen revolutionären Traum und die 
befhworene Staatsverfafjung als ein Stück Papier zu verhöhnen, 
eine Heine Anzahl charaktervoffer Männer von der großen confer- 
vativen Partei, um im „Preußifchen Wochenblatt“ den Rechtsſtaat 
in Preußen zu verteidigen und die Fahne der nationalen Ider 
für beffere Zeiten aufrecht zu halten. Daß unter dem Programm 
diefer trefflihen Zeitfchrift auch Nigfchs Name ftand, war im einer 
Zeit, in welcher Ehriftentum und Kreuzzeitungspolitik von Freund 
und Feind als folidarifch behandelt ward, ein Bekenntnis von hohem 
Werth, aber auch von mislichen Folgen. Nigich gehörte von Stund 
an zu ben bei ber regierenden Partei entfchieden misliebigen Leuten. 
Während. das Vertrauen des Berliner Mogiftrats ihn 1852 in 
die erfte Kammer berief, in die er bereits 1849 vom Kreiſe Lande 
berg gewählt worden war, ftrih ihn der Minifter von Raumer 
bei nächfter Gelegenheit aus der wifjenfchaftlichen Prüfungscon- 
miffioen. Ja als der König das vom Grafen Schwerin 1848 
übereift aufgelöfte Oberconfiftorium unter dem Namen eines Evan 
geliſchen Oberkirchenraths wieberhertellte, wurde Nitzſch, obwol recht⸗ 
maßiges Mitglied der herzuſtellenden Behörde, bei der Neubildung 
derfelben ausgefchloffen und erft nach Jahr und Tag unter der 
Bedingung, dag auch Stahl im Oberkirchenrathe Aufnahme finde, 
in feine firchenregimentlihe Stellung reftituirt. Es war in diefem 
unerquieffichften und undankbarften Moment feiner Berliner Periode, 
als ein lockender Ruf, in's Rheinland, in den Bereich altbewährter 
Liebe und Verehrung zurüdzufehren, an ihn ergieng; bie rheiniſche 
Synode bat fi ihren ehemaligen Affeffor fir das erledigte Amt 
eines Generalfuperintendenten aus, und die Regierung hätte ihm 
gern zu diefem Rückzug die goldene Brüde gebaut. Nitzſch hielt 
ſich verpflichtet, auf feinem ſchweren Poſten mannhaft auszu⸗ 
harren. 





Zum Andenken an D. Earl Immanuel Nitzſch. 608 


Mit der politifchen Reaction hatte ſich die theologifch - Kirchliche 
entwidelt; getragen von der „Solidarität der confervativen Interefien“, 
wurde die confeffionaliftifche, neulutherifcde Strömung von Tag zu Tage 
auögebreiteter und anfpruch&voller. Als eine Gegenwehr gegen diefe 
Zeitftrömung, deren Auflommen ja mit ber einreißenden Verachtung 
der wiſſenſchaftlichen Theologie auf's engite zufammenpieng, hatte Nitzſch 
bereitd 1850 in Gemeinfchaft mit 3. Müller und U. Neander, 
dem leider bald darauf Hinweggenommenen, bie „Deutſche Zeit 
ſchrift für chriſtliche Wiffenfchaft und chriftliches Leben“ begründet, 
ein Organ, in deſſen zehn Jahrgängen er mandes herzhafte, in 
böfer Zeit ermuthigende und zurectleitende Wort gefprochen und 
den Kampf wider die unevangelifchen Repriftinationstendenzen mit 
ſcharfem Schwert des Geiftes geführt hat. Es wurde diefer Kampf 
ein perfönficher, als der damals noch ftrictlutgerifche Kahnis gegen die 
bervorragendften Unionstheologen und gegen Nitzſch infonderheit 
wegen der Nichtzertrennung von Rechtfertigung und Heiligung den 
Vorwurf einer katholiſirenden Nechtfertigungslehre erhob. Nitzſchs 
Antwort, die zuerft in der Deutfchen Zeitfchrift, dann erweitert 
als befondere Broſchüre erſchien und in Iehrreicher und überlegener 
Weiſe in die Sache eingieng,-ift ein Meiſterſtück fcharfer und doch 
mürdevoller Polemit. Inzwiſchen fuhr der gegen feine innerfte 
Art und Neigung in den Tagesftreit hineingezogene Mann uner« 
müdlich fort, den Beweis, auf welder Seite eine lebensfähige und 
firchengeftaltende evangeliſche Theologie fei, in großartigfter Weiſe 
auch pofitiv zu führen. Bereits am Ende feiner Bonner Zeit 
hatte er den grundlegenden Theil eines „Syſtems der praftifchen 
Theologie“ veröffentlicht, und indem er nun aud in jenen uns 
tuhvollen Berliner Zeiten an die weitere Durchführung desſelben 
feine befte Kraft feßte, gelang es ihm, dasjelbe von 1848 bis 
1858 um drei die Homiletif, Katechetit, Liturgif und Seelſorge 
behandelnde Abtheilungen weiter zu fördern und bis auf den 
Schlußtheil zu vollenden. Wir erhielten fo die reiffte wiſſenſchaft- 
liche Frucht feines Lebens, ein Meifterwert, wie e8 in der Ge: 
ſchichte der Wifjenfchaften überall eine feltene Erfcheinung ift. Die 
taum erft durch Schleiermacher principiell begründete „Praftijche 
Theologie“ war bier auf eine Höhe der Ausgeftaltung gehoben, 

Theol. Stud. Jahrg. 1869. 4 


606 Beyſchlag 


welche auf lange hinaus unübertroffen, ja unerreicht bleiben wird. 
Alle die großen Geiftesgaben und Charaktereigenfchaften des Ber- 
faſſers kamen Hier, geeint durch das Band der Bolltommenkeit, 
durch die innigfte Liebe, zufammen, um fi in dem Dienft ber 
evangelifchen Kirche zu ftellen. Weiß man doch nicht, was man 
bier mehr zu bewundern habe, die großartige Bewältigung des faſt 
mnabfehbaren gelehrten Materials oder die Meiſterſchaft des ge 
ftaltenden Gedankens, der das alles durchdringt und durchgeiftet, 
oder endlich die Fülle von kirchlicher Erfahrung und praktiſcher 
Weisheit, durch welche Geſchichte und Idee in's Reben übergeleitet 
wird. Wir enthalten uns an diefer Stelle billig einer Analyfe 
dieſes Literärifchen Hauptwerfs des Verewigten; nur zwei Eigen⸗ 
tümlicjteiten desſelben feien hervorgehoben, weil fie für das gang 
Weſen des Verfaſſers bezeichnend find. Das ift einmal die Art 
und Weife, in der das pofitin Chriſtliche überall auf das allge 
mein Menſchliche zurücdbezogen wird, nicht um im dasſelbe ver- 
flüchtigt zu werden, fondern vielmehr um in feiner vollen Pofitivität 
ſich als die thatfächliche Erfüllung der allgemein menſchlichen An- 
lage und Beftimmung zu erweifen: es fpiegelt fid Hierin das Ber: 
Hältnis, in welchem Philofophie und Theologie ſich für Nitzſch ver- 
mittelten und verföhnten. Und andererjeits ift es die weder 
lutheriſche noch veformirte und dod wahrhaft evangelifche Geftalt, 
in welcher das Firchliche Leben, feine Thätigkeiten und deren aus ⸗ 
übende Leitung durchweg jo wiebergeboren aus ihrer Idee und fo 
gereift aus ihrer Geſchichte in die Gegenwart hineingebildet find, 
daß niemand an ihrer Gefundheit und Lebensfähigkeit zweifeln 
ann; — ber Unionscharafter des Buches, welches, wie man wol 
fagen darf, die Idee der Union im ganzen Umfang des firchlichen 
Lebens durchgeführt und praftifch »theologifch vollzogen hat. 
Inzwiſchen fchien im praftifchen Leben der Kirche ebendiefe Idet 
zu Grabe getragen werben zu follen. Nachdem man die num felbft 
in der Staatsverfaſſung geforderte und verbürgte Verfelbftändigung 
der evangeliſchen Kirche in ihren faum begonnenen preöbyterialen 
Anfängen wieder fiftirt, ja die in $ 15 der Berfafjungsurfunde 
biegende Verpflichtung, eine folche herbeizuführen, ſophiſtiſch mwegger 
deutelt hatte, richtete fich der offene und geheime Angriff wiber den 


Zum Andenken au D. Earl Immanuel Nitzſch. 07 


Beftand ber Union. Man wußte im Jahre 1852 vom Könige 
eine Cabinetsordre zu erwirken, die im Anſchluß an bie bereits 
untlar halbirende Unionsdeclaration von 1834 den Kirchenbehörden 
aufgab, ſich im Iutherifche und reformirte Sectionen zu gliedern, die 
alfo den urfprünglichen Gedanken der Union, die Herftelfung einer 
einheitlichen evangelifcgen Kirche, ſoviel an ihr war, zu Grabe 
trug und bie feit 1817 entftandenen weder Iutherifchen, noch vefor« 
mirten und doc; „evangelifchen" Bildungen in der Landeskirche ent» 
tehtete. Die damaligen Mitglieder bes Oberlirchenrathes fügten 
fid) diefer Zumuthung bie auf Nigfch: er erklärte bei der betrefe 
fenden Umfrage, er gehöre beiden evangeliſchen Belenntniffen an, 
nämlich ihrem Eonfenfus. Diefe mannhafte Erklärung fand weithin 
lauten Anklang und wurde der Wusgangspunft einer wirkfamen 
Gegenbewegung; die Freunde der Union traten in unvermutheter 
Stärke und Feftigkeit hervor, der Konig erließ eine beruhigende Er⸗ 
läuterung feiner Ordre, und die angeordnete itio in partes blieb 
ein todtgeborene® Kind. Der Unionsgedanke, zu dem Nitzſch ſich 
zu. allen Zeiten gleichmäßig belannte, trat Hier Mar hervor: feine 
Unton war weder eine Kirchliche Vereinigung aller möglichen Arten 
von Proteſtantismus, noch auch eine bloße außerordentliche Zur 
ſammenjochung der beiden einander nad; wie vor mibderftreitenden 
Sonfeffionen, fondern eine wahrhaftige Belenntnis- und Lehrunion, 
die feines Erachtens fobald vorhanden war, als man von der 
differenten Theologie der evangeliſchen Bekenutniſſe auf deren ein- 
heitfichen Glauben zurüdgieng, auf den Glauben, auf welchen im Unter 
fhiede von der Theologie feines Erachtens die Kirche gefundermeife 
doch allein gebaut werden fonnte.e So hieng fein Unionsgedanke 
mit feiner ganzen religiöfen, theologifchen und kirchlichen Stellung 
ungertrennlich zufammen, und mit Recht haben ihn Freund und 
Feind als den ausgeprägteften Vertreter der urfprünglichen, durch 
feine fpätere Tönigliche Ordre einfeitig wibderrufbaren Unionsidee 
von 1817 betrachtet. Gewiß, es ift der Union in ihren gefährbetften 
Zeiten weſentlich zu gute gefommen, daß fie einen ſolchen Ver⸗ 
treter befaß, der theologiſch kaum, religidß-fittlich gar nicht anzu⸗ 
greifen war und auch die keckſten Wortführer des Confeſfionalis⸗ 
mus in einem theils freiwilligen, theils unfreiwilligen Reſpect hielt, 
—* 


608 Beyfälag 


Einen weiteren trefflichen Dienft leiftete Nitzſch der bebrängten 
guten Sache 1853 durch fein „Urkundenbuch der evangeliichen 
Union“. Eine Sammlung und Erläuterung der evangelijchen Unions- 
acte von den Tagen der Reformation an bis auf die Gegenwart, 
führte dasfelbe den unwiderſprechlichen Beweis, daß die Union der 
evangelifchen Belenntnifje ebenfo alt und mol befjer begründet jei 
als die Spaltung derfelben, und wiberlegte fo das unmiffende Ge 
rede derjenigen, welche in ihr den gefchichtswidrigen Einfall eines 
pofitifchen Gewalthaber8 oder den Abfall eines indifferentiſtiſchen 
Geſchlechts vom Bekenntnis der Väter erbliden wollten. Eine 
treffliche Vorrede leitet biefe Urkundenfammlung ein dur die Er- 
Örterung, was überhaupt firchliches Befenntnis jei, daß evangelifches 
Belenntnis auch ſchon vor den Belenntnisfchriften dageweſen jei 
und daß es als einheitliches aud in den hie und da bifferenten 
Belenntnisfehriften beftehe. Wir können uns nicht verfagen, aus 
diefer Vorrede die treffliche claſſiſch formulirte Inhaltsangabe der 
Augsburger Eonfeffion hier wiederzugeben: wenn irgend eine neuere 
Belenntnisformulirung Ausficht hätte auf kirchliche Anerkennung, 
biefer Verſuch, aus dem Hauptbekenntnis der Reformation das 
Weſentliche, rein Gemeindliche und rein Religibſe unter Beiſeite⸗ 
laſſung des theologiſchen Beiwerks herauszuſtellen, hätte Anſpruch 
darauf. „Wir bekennen ein einiges, ewiges, göttliches Weſen, 
Vater, Sohn und heiligen Geift. Wir lehren, daß Adams Ges 
ſchlecht, verdotben dur die Sünde, aus fich felbft Gott nicht 
wahrhaft fürchten und lieben kann; wir halten von Chrifto, wie 
die allgemeine hriftlihe Kirche, daß er wahrer Menſch und Gott 
in einer Berfon fei; wir achten, Vergebung der Sünde und Ger 
rechtigkeit vor Gott nicht duch unferer Werke Werth oder Ber- 
dienft, fondern aus Gnaden zu erlangen um Eprifti willen, durch 
den Glauben, daß er für uns gelitten Hat und auferftanden ift; 
wir lehren, daß der Glaube aus der Predigt des Evangeliums 
kommt, daß Wort Gottes und Sacrament die Mittel des heiligen 
Geiftes find; wir Ichren, daß allezeit eine heilige hriftliche Kirche, 
die Berfammlung der Gläubigen fein müffe, und daß ihre Wahr- 
heit und Einigkeit .im Evangelium und den Sacramenten beftche, 
deren Kraft und Wirkung durch die untermifchten faljchen Ehriften 





Zum Andenken an D. Earl Immanuel Nitzſch. 609 


nicht aufgehoben wird. Wir laſſen die Taufe nötig, die Taufe 
der Kinder recht fein; wir Iehren, daß im heiligen Abendmahle 
Ehrifti Leib und Blut zur Stärkung des Glaubens, zur Nahrung 
des Lebens, das wir in ihm und von ihm haben folfen, genoffen 
werde; wir wolfen ordentlich berufene Lehrer und halten auf menſch⸗ 
liche Ordnung des Gottesdienftes, fo weit fie ohne Sünde zu Halten 
ift, mar das nicht, daß etwas zur Seligfeit nöthig geachtet werde; 
wir lehren, dag häuslich und weltlich Regiment von Gott fei, und 
achten die Gotteöfurcht und Liebe, womit man darin lebet, bienet 
und duldet, für rechtes, volllommenes Chriftentum; wir fordern, _ 
Gott zu Lob und Dank, alle guten Werke, wir ehren die Heiligen, 
die fie im Glauben gethan, rufen fie aber nicht an und fuchen 
nur Hilfe bei dem einigen Mittler, dem Herrn Jeſu Chriſto, 
und Iehren, daß der auch mieberfommen wirb am. jüngften Tage, 
zu richten die Lebendigen und die Todten. Und da wir nun alfo 
lehren und glauben, haben wir das chriſtlich- kirchliche Leben nicht 
abgefchafft, fondern menfchliche Sagungen, die Misbräuche gewor⸗ 
den; wir entziehen den anderen Chriften nicht mehr ben Kelch bes 
Abendmahles, denn es ift wider die Einfegung; wir wehren nicht 
ben Pfarrern, Ehegatten und Hausväter zu fein, denn das Vers 
wehren wäre wider dem heiligen Eheſtand; wir halten nicht die 
Meffe, daß fie uns Opfer für die Sumde oder Opfer für andere 
Lebendige und Todte fei, denn das Evangelium lautet nicht jo; 
wir fordern nicht Erzählung der einzelnen Sünden in der Beichte, 
denn es ift wider die Freiheit der Gewiffen; wir geftatten den 
Bischöfen nicht, den Ehriften neue Laften des Faſtens und ber 
Geremonien aufzulegen, denn fie verleiten zur Werkheiligkeit; wir 
achten das Leben nach NM oftergelübden nicht für chriftliche Voll- 
fommenheit, denn das ift wider die Wahrheit. Und über das 
alles find wir willig, aus göttlihem Wort in Heiliger Schrift 
weiteren Unterricht anzunehmen und zu geben.“ — Gemiß, in 
diefem Sinne fünnte die evangelifche Kirche das Augsburger Ber 
tenntni® auch Heute wieder von neuem befennen. 

Obwol Nitzſch mit diefem feinem pofitiven Unionsftandpunfte 
feiner der beiden bis heute in Berlin vorherrſchenden kirchlichen 
Parteien Genüge that, war. die perfünliche Hochachtung, die er nad 


610 Beyfälag ' 


rechts und links einflößte, doch fo groß, daß im Jahre 1855 zwei 
tirchlich fehr verfchleden gerichtete Gewalten ſich vereinigen Tonnten, 
um ihn auf den höchften kirchlichen Ehrenpoften der Hauptſtadt zu 
erheben. Die Propftei zu St. Nicolai und St. Marien, das Amt 
eines Oberpfarrer® an der Spige von fieben Diakonen, ein Amt, das 
einft der greife Spener befleibet hatte, war durch Verſtändigung 
zwiſchen König und Magiſtrat zu befegen; der letztere bat fih 
Nitzſch zu diefer Ehrenftelle aus und die königliche Ernennung kam 
den ftädtifchen Wunſchen entgegen. So wurde Nitzſch am 24. Juni 
1855 in fein neues Amt eingeführt, ein Amt, das ihn nad) den 
Moßftäben feines Standes in glänzende Verhältniffe verfepte, 
ohne ihm zu einer erheblichen Arbeit zu verpflichten; dem der 
Bropft Tonnte die ihm zuftehenden Hauptpredigten ebenfo gut einem 
eigens für feine Stellvertretung vorhandenen Diakonen überlafſen, 
als fie felber halten. Nitzſch übernahm fofort alle ihm zuftändige 
Arbeit, fo dab das betreffende Diakonat unbefegt bleiben konnte, 
und behielt daneben nicht nur feinen Play im Oberkirchenrath, 
fondern auch feine Profeffur, gab aber den größten Teil feine 
Gehalts derfelben auf, damit eine weitere Lehrkraft in die Facultät 
gezogen werben fünne. Noch war es dem nun achtundfechezigjährigen 
Manne gegeben, mit voller Kraft diefes dreifachen Amtes zu war⸗ 
ten. Zwar eine große Zuhörerfchaft um feine Kanzel zu St. Ni- 
colai zu fammeln, gelang ihm nicht; der eigentümfiche Tieffinn feiner 
Predigten überftieg die Receptivität einer nichtakademiſchen Gemeinte, 
und alfmählic, reichte auch die Kraft der Stimme für den weiten 
gothifhen Bau nicht mehr aus. Aber eine auserlefene Heine Ge 
meinde aus Nähe und Berne ſcharte fih um fo trewer um feine | 
Kanzel und erfuhr noch immer benfelben unerſchöpflichen Zauber, 

der einft in Bonn fo mächtig und dauernd angezogen hatte. Seine 

afademifchen Vorlefungen hielt er noch mit großer Friſche, jeht 

ganz ohne Heft; fie waren, feit feine theofogifche Entwidelung zum 

Abſchluß gekommen, je Länger je mehr fein völlig freies Eigentum 

geworben. Eine fchöne Probe aus ihnen, feine Vorträge über 

„chriſtliche Glaubenslehre für Studirende aller Facultäten“, ließ er 

1859 durch einen treuen Schüler, der eine genaue Nachſchrift au⸗ 

gefertigt Hatte, veröffentlichen, und wir erhielten fo eine Ste | 





Zum Andenten au D. Earl Immanuel Nitzſch. 61 


feiner gereifteften theologiſchen Gedanfenarbeit, einen Grundriß der 
Apologetit und Dogmatik, der an Popularität zwar manches zu 
wünſchen übrig läßt, aber den verftändigen Lefer um fo tiefer in 
des Verfaſſers geiftvolle Bermittelung de® pofitiven Chriſtentums 
und des freien wiſſenſchaftlichen Gedanken einführt. Daneben ver 
danken wir den flinfziger Jahren jene Neihe ſchöner Einzelvorträge, 
in denen der ehrwürdige Gelehrte im „Evangelifhen Verein“ auch 
feinerfeit8 einen Beitrag zur innern Miffton unter den Gebildeten 
zu geben fuchte: die Vorträge über Melanchthon, Gellert, Lavater, 
über die Religion als bewegende und ordnende Macht der Welt 
geichichte, die Firchengefchichtlihe Bedeutung der Brüdergemeinde, 
die Wirkungen des Chriftentums auf culturloſen Gebieten u. f. w.; 
letzteres Thema eine Blütenlefe aus feinen alademiſchen Vorlefungen 
über „Evangelifche Miſſiousgeſchichte“, einen Gegenftand, den er 
einft in Bonn in den Kreis der alademifchen Vorlefungen einge 
führt Hatte und auch in Berlin wiederholt mit großer Liebe und 
Anziehung behandelte. 

Vom Jahre 1857 an, dem fiebenzigften feines Alters, ſchien der 
lirchliche Horizont fich wieber zu Mären und mit dem Rucktritt Stahls 
aus dem Oberfirchenrath, der Berufung Bethmann- Hollwegs zum 
Euftusminifter" noch einmal eine frieblihe Entwidelung der landes⸗ 
lirchlichen Angelegenheiten ſich anzubahnen. Was wirklich eintrat, 
war freilich nicht die Erfüllung der Morgenhoffnungen feines Le 
bens, aber doc eine friedlich freundliche Abendröthe für dasſelbe. 
In dem Allianztag von 1857 fah er den in Preußen Fünftlich 
zurüdgeftauten Unionsgedanken als einen Gedanken des evangelischen 
Erdkreiſes fi von neuem bezeugen. Er erlebte es, daß ber von 
ihm mitgeftiftete evangelifche Kirchentag die confefftonaliftiiche Be— 
bormundung, bie ihn feinem urfprünglichen Gedanken immer weiter 
entfrembet hatte, abſchüttelte und unter feinem Präſidium in Bran« 
denburg zur großen einmüthigen Conferenz der evangelifchen Partei 
ward. Wenn er in Eiſenach mit den Abgeordneten der deutſchen 
Kirchenregierungen tagte, war er wieder, wie einft auf der General- 
fynode von 1846, der freierwählte „Kirchenfürft” im Sinne Schleier- 
machers, vor dem die angefehenften Männer ſich willig beugten 
und die verjchiedenften Standpunkte ſich fehmeidigten. Bor allem 


612 Beyſchlag 


aber brachte der 16. Juni 1860, das funfzigjährige Ju⸗ 
bildum feiner alademiſchen Lehrthätigkeit, aus nah und fern voll⸗ 
ftimmiges Zeugnis, wie das evangelifche Deutſchland in ihm den 
dermaligen praeceptor“Germaniae danfbar verehre. 

Noch eine gute Strecke über das fiebenzigfte Jahr hinaus hatte 
Nitzſch, obwol fein Leben in feltenem Maße „Mühe und Arbeit“ ger 
weſen, fein Gefühl des Greiſenalters; nun aber nahm Leibeskraft 
und Augenliht allmählich ab. Es war ein unglücklicher Gedank, 
dem fehsundfiebzigjährigen Manne zu feinem dreifachen Amte auch 
nod die Berliner Superintendenturgefchäfte aufzuladen, die er, um 
der Behörde aus einer Verlegenheit zu helfen, ſelbſtverlengnend 
übernahm; er hätte die Muße feines Alters befjer verwenden 
tönnen als auf Verwaltungsaften und = fehreibereien. Seine Bor: 
Tefungen mußte er nun eine um bie andere aufgeben; nur feine 
geliebte homiletifch » fatechetifche Societät hielt er feit. Ebenſowenig 
wid er von feinen Pfarrgefcäften, und wie ihn allezeit neben ber 
Meifterfchaft im Großen die Treue im Meinen ausgezeichnet hatte, 
war es ihm ein befonderes Anliegen, feinen neugebildeten Sirden- 
vorftand zur Handhabung presbpterialer Befugniffe anzuleiten und 
fo an feinem Theile die Lebensfähigkeit der ſchwachen Anfänge 
gemeindlicher Selbftregierung bdarzutfun. Noch fahen wir ihn in 
den Jahren 1865 und 1866 bei den halliſchen Conferenzen zur 
Revifion des Tutherifchen Bibelterte® in unferer Mitte thätig, in 
febendigfter Theilnahme und Liebenswikrdigfter Gemeinfchaft, aber 
Thon mit allen Hemmungen des Alters. Gern hätte er noch ein 
mal eine PBredigtauswahl druckfertig gemacht oder vorliegende Nahe 
ſchriften feiner biblifchen Theologie zur Veröffentlichung bearbeitet; 
er fam nicht dazu. Beſonders aber drückte ihn, daß er noch immer 
mit dem Schlußtheil feiner praftifchen Theologie, mit der Kirden- 
ordnungslehre, im Nüdftande war. Er Hatte vieles dafür vor- 
und auch ausgearbeitet, und meinte feit Fahren, wenn ihm nur 
einmal zwei Monate Muße zutheil würden, fo werde er ab 
fließen Können. Am Ende erkannten die Seinigen, daß es bie 
hoöchſte Zeit fei, ihm zur Vollendung zu drängen, und indem fie 
ihm Auge und Hand liehen, brachte er endlich im Sommer 1867 
den würdigen Abſchluß des großen Unternehmens zu Stande, im 





Zum Andenfen an D. Carl Immanuel Nitzſch. 618 


zwanzigften Jahre feit dem Beginn des Werkes und im achtzigften 
feines Lebens. Es war feine legte Kraft, die er an die Vollendung 
gefegt Hatte. Schon feit dem Herbft 1866, da er von feinem 
fährlichen Erholungsausflug ungeftärkt zurückkam, hatten die ihm 
Naheſtehenden den Eindruck, daß fein Ziel ihm gefteckt ſei. Er 
felbft fühlte die Abnahme feiner Kräfte Iebhaft und legte nicht nur 
die Superintendenturgefchäfte, fondern auch fein Amt im Ober- 
tirchenrath nieder; doch hielt man ihn als Ehrenmitglied in dem⸗ 
felben feft. Zu dem Jubiläum von Halle-Wittenberg im Sommer 
1867, zu dem er, der letzte lebende Wittenberger Docent, herzlich be» 
gehrt war, getraute er ſich nicht mehr zu reifen. Im felben Herbit, 
bald nach der Vollendung der Kirchenorbnungslehre, trafen ihn 
Schlaganfälle, welche die eine Seite lähmten und die Sprache be» 
fäwerten. Die leiblichen Folgen hoben fi) zwar allmählich wieder, 
ober der Geift gewann fein Verhältnis zur Außenwelt nicht völlig 
zurück, um fo weniger, als Geſicht und Gehör fo fehr geſchwächt 
waren. So führte er von da an vorherrfchend ein Traumleben, 
das zumeilen in eine finnigsfeiernde Beſchäftigung mit hehren 
Dingen, aud mit dem Todesgedanken einblicken Tieß, aber nur zeit- 
weife von völlig Marer Befinnung auf die irdifche Tageswelt durd« 
broden ward. Noch Anmal wollte er ſchreiben für den Lieblinge 
gedanken feines Lebens und auf dem fünfzigjährigen Gedenktag der 
Unionsftiftung eine Vollsſchrift verfaffen. Ganz befonders aber 
trat ein Drang zum Predigen hervor, und finnig ſchöne Anfprachen, 
die nur von ber Wirklichkeit abftrahirten, giengen je und dann über 
feine Lippen. Noch vermochte er den Tag feiner goldenen Hod- 
zit, den 24. Juni, als einen fehönen lichten Tag zu feiern; an 
eine Schar junger Mädchen, die ihn feftlich begrüßte, richtete er 
edle Worte über das Glück und die Gefahren der Jugend. Nicht 
ohne Kampf entſchloß er ſich endlich, auch fein Pfarramt niederzu⸗ 
legen, aber noch ehe es dazu kam, zerrannen die letzten Lebenskräfte 
und erlöfte ein fanfter Tod die müde Seele. „Meine Vorſtellungen 
dom Jenſeits“, hatte er nicht lange vor diefen letzten Zeiten an eine 
betagte Freundin gefchrieben, „werden, je älter ich werde, um fo con« 
creter, und ich habe ein beftimmtes Gefühl, daß mir von meinen 
borangegangenen Lieben die Stätte dort redht.eigentlich bereitet wird.“ 


614 Beyſchlag 


Suchen wir ſchließlich nach einem einzigen, umfaſſenden Wort 
für das Eigentümliche in dem Verewigten, für den alles durd- 
dringenden Grundzug, auf dem die Wirkung, der Zauber feine 
Berfönlichteit beruhte, fo ift es gewiß das im -feltenem Mahße 
Harmonifche feines Weſens. Haben Andere durch kraftvolle Ein- 
feitigleit Großes gewirkt, fo er dur das ſchöne edle Ebenmah 
feiner Kräfte und Gaben. Mit dem tiefen myſtiſchen Zug feine 
Weſens fand die nicht minder Fräftig ausgeprägte ethijche Richtung 
desfelben, mit der Sammlung und Zurüdgezogenheit des tiefen 
Denkers und echten Gelehrten der energiſche Sinn für's Gemein: 
ſchaftsleben, der Trieb zur praktifchen Wirffamkeit in wunderbaren 
Gleichgewicht. Diefe Eigentümlichfeit war «8, die ihn in fo hohem 


Grade zu einem Mann der Vermittelung machte; wie in ihm 


felbft myſtiſcher und ethifcher Zug, biblifche umd fpeculative An- 
ſchauung, Wiſſenſchaftlichteit und Kirchlichkeit in eins zufammen 
gieng, fo war es der innerſte Trieb feiner Natur, dieſelben Gegen 
füge auch in Theologie und Kirche zur Vermittelung zu führen. 
Aber nie hat er an der Vermittelung anderer Gegenfäte gearbeitet 
als folder, die ihrer Natur nach Vermittelung vertragen und 
fordern, und wenn feiner johanneifchen, von Natur dem ewigen 
Lichte zugewandten Art auch das Verhältnis" des Menfchlichen uud 
des Ehriftlichen vorzugsweiſe von Seiten feiner wie Weigagun 
und Erfüllung ſich fordernden Einheit erſchien, fo hat er doch dem 


zwiſchen beiden Maffenden thatſächlichen Zwiefpalt nie etwas abge , 
dingt, vielmehr die ſchlechthinige Unvereinbarkeit des fittlichen ; 
Grundgegenfages zum Ausgangspunkt feiner ganzen Weltbetrahtun 


genommen. 


Aber für ihn war auch dieſer Gegenfag, ſoweit es Hide 


geſchehen kann, ein thatſächlich überwundener. Die Harmonie feint 
Weſens war nicht nur eine Anlage feiner Natup, fondern ebenſo · 
ſehr eine große ſittliche Errungenſchaft. Sie ſpiegelte ſich ſelbſt in 
feinem äußeren Menfchen: ſchon feine Erſcheinung hatte etwas Wohl 
thuendes, ja Erbauliches. Die einftige geiftvolle Jugendſchönheit 
umfeuchtete noch das Antlig des Greifes, nur daß Inzwifgen dit 
Geſchichte eines Lebens vol Mühe umd Arbeit, aber auch voll Sitg 
und Frieden ſich in dasfelbe eingezeichnet hatte. Cine hohe, unge 


Zum Andenken an D. Earl Immanuel Nibſch. 615 


künftelte und nie verlegte Würde gebot bereits dem Fremdling Ehr⸗ 
furcht; um fo mehr gewann die Milde, Freundlichteit, Innigkeit, die 
mit ihr verbunden war, dem Nähertretenden Vertrauen ab. War 
der Grumdton feiner Denfart und Rede ein Heiliger Ernft, fo 
machte die Sreifinnigfeit und Weitherzigleit, bie alles Finſtere 
und Enge von bdemfelben ausſchloß, einen um fo wohlthuenderen 
Eindrud. Alles Leidenfchaftliche war ihm fremd. „Gott hat mir 
wenig Affecte gegeben“, fagte er einft in ftürmifch erregter Zeit; 
aber es war micht bloße Natur, es war die Macht und Zucht bes 
Geiftes, was ihn and) in’den bewegteften und angefochtenften Mo- 
menten Maß Halten und mit einer unerfchütterlichen Feſtigkeit ein 
friedſames, verföhnendes Wefen allezeit vereinigen ließ. Bei einem 
Haren, tiefen Blick aud in Welt und Lebensverhältniffe war fein 
Urtheil über Perfonen auffallend milde, und es fam weit eher vor, 
daß er eine ihm wenig wahlverwandte PBerfönlichleit zu hoch an» 
ſchlug, als zu niedrig. Seiner Geiftesfraft und Ueberlegenheit ſich 
wohlbewußt, war er doch fo frei von Ehrgeiz und Selbſtſucht, daß 
auch feine Gegner nie vermuthet haben, es könne ihm um etwas 
anderes als um die Sache zu thun fein. Seine Gelehrfamfeit, 
feine tieffinnige Gedankenfülle, feine wifjenfchaftliche Größe erregten 
Bewunderung, aber was feine ‚Schüler und Freunde mit Ehrfurcht 
an ihm Hinauf fehen ließ, das war die religiös -fittliche Weihe, die 
über diefe Große ausgegoffen war, die fühlbare Einheit von Lehre 
und Leben. „Er ift ein ae dv Xesoca", fagte einft von ihm ein 
auch ſchon verewigter Amtsgenoſſe, — „Unmündige in Eprifto gibt 
es viele, aber er ift ein Mann.“ 

Man erzählt, daß Nigfch einft in ein ihm vorgelegtes Luther- 
album, in dem viele ihre Gedanken und Empfindungen in hohen 
Reden ausgedrückt hatten, das bündige Wort gejchrieben Habe: 
Domine, da nobisgalterum Lutherum. Mit diefem auf in 
felber angewandten Gebetöworte fei diefe Skizze feines Lebens ber 
ſchloſſen. 


016 J Brüdner 


2. 
Ueber die urfprüngliche 
Stellung von Luk. 6, 39. 40 — Matth. 15, 14; 10, 24. 


Ein Beitrag zur Evangelienkritif 
bon 


Wilhelm Brüdner, Paſtor. 


Am wenigften ift die lukaniſche Bergpredigt Luk. 6, 20 
bis 49 al8 ein in's kurze gebrachter Auszug der matthäifchen denkbar. 
Wie fie auch entftanden fein möge, fie hat im dritten Coangelium 
ihre Stellung da, wo Keim *) im Marfusevangelium „ben leeren Raum‘ 
ber Bergprebigt ficht, wo Hilgenfeld ®) in feiner matthätfchen Grund⸗ 
ſchrift die urfprüngliche Bergpredigt derfelben (Mtth.5,1b—9. 13—17. 
20—48; 6, 1—13. 16—34; 7,1—5. 12—14. 24—26) ver: 
muthet, und wo endlich Holgmann °) in der urfprünglichen Markus: 
Schrift die urfprüngliche Bergpredigt, von welcher Luk. 6, 20 ff. eine 
Iufanifche Bearbeitung wäre, vorausfegt, nämlich nach der Aus: 
wahl der Zwölf, fo daß alfo, von den verfchiedenften Voraus ⸗ 
fegungen ausgehend, die genannten Forſcher wenigſtens in biejem 
Punkte auffallender Weife fich die Hände reichen. Woher die Nee 
dem dritten Evangeliften auch zugelommen fein möge, die lukaniſche 
Bearbeitung einer urfprüngfichen Vorlage ift mur "an wenigen 
Bunkten zu bemerken, dort aber auch unverkennbar. V. 22. 23 
erfcheint gegen Matth. 5, 11. 12 entfchieden ampfificirt, V. 28 
mag rregi cov Enngealövrov Önäs an bie Stelle des einfachem 
Ünde zav diwxövswv Uns getreten fein. Gegen die Beralige 





a) Geſchichte Jeſu von Nazara, ©. 88. 

b) Zeitſchrift für wiffenfchaftliche Theologie 1867: Das Matthäuserang- 
Kum, ©. 872. 

©) Die fpmoptifchen Evangelien, ©. 75 ff. 





Ueber Luk. 6, 39. 40 — Matt. 15, 14; 10, 24. 617 


meinerungen oĩ dungrmäol ®.32. 33. 34, role Univ gagıs dariv; 
V. 32.33. 34, fowie xemorös darıv Ent vous ayaplorovs xal 
novngods B. 35 ift gewiß die concrete matthäifche Form in den Parall. 
olzelövar Matth. 5, 46, ol &Ivixol Matth. 5, 47, ziva Mo vVJov 
!gere Matth. 5, 46 (vgl. Lut. 6, 35) und des wow Flo 
eirod avarslisı dmi novngois xal ayadovs al Bgsyes End 
dixaiovg za adixous Matt. 5, 45 urſprunglich. Nach ger 
wohnter Iufanifcher Ornamentit hat wol Lukas V. 38 das Map fo 
gefgüttelt und gerüttelt und überfließend voll gemadt und über- 
haupt V. 37.38 erweitert; es dürfte Matth. 7, 1.2 urſprunglich 
fein. Auch ift das Schlußgleichuis V. 48. 49 aus dem Infanifcen 
Sprachſchatz bereichert. Jedenfalls urfprünglich ift aber bie 
Wiederholung de Grundgebanfens V. 27 u. 35, was in der mat 
thaiſchen Bergpredigt vermieden ift, fodann V. 31 ſowol in der Form, 
als in der ungefuchten Stellung gegen Matth. 7, 12, wo der 
allgemeine Inhalt des Spruchs geſchickt zum zufammenfafjenden 
Abſchluß beuutzt iſt, weiter 6, 43. 44 in feiner größern Einfachheit 
gegenüber den vielen Wendungen, die Matthäus mit dem Gedanken 
vornimmt 7, 16—20, und V. 45, der von Matthäus in der Berg« 
predigt übergangen wird, dafür aber mit anbermeitigen Zufägen 
Matth. 12, 33 ff. nachgeholt erfcheint. Bon den den ſprachlichen Aus⸗ 
drud betreffenden bemerkten Ausnahmen abgefehen, verdient Luk. 6, 
27—86 die Anerkennung der größern Urfprünglichkeit vor Matth. 5, 
39—48, wo fon wegen der Einfafjung der Gedanken in dag 
bier befolgte Schema: nxovoare örı EBbeIn Tols dexgaluıs— 
Yo d8. Ayo iv die Nötigung zu Umftellungen gegeben war. 
Der Anfang der Rede aber Lu. 6, 20—24 hat außer dem Vorzug 
von nur vier Seligpreifungen den, baß die Paradora in denfelben 
viel fchärfer erfeheinen, als Matth. 5, 3 ff., wo der Evangelift die 
Brüden für das Verftändnie 16 mweiuarı und mv dixao- 
oörıv zu legen fich gemüßigt gefehen. Gegen bie Originalität 
der matthäifchen Bergpredigt entſcheidet am meiften einerſeits die 
Häufung der Seligpreifungen, die am natürlichften auf eine künſt ⸗ 
fihe Beranftaltung des Evangeliften Hinweift, andererjeits der 
Abſchnitt 5, 17 bis 6, 18, der ebenfo vie die viefen Weißagungs⸗ 
erfüllungen des Matthäusevangeliums dem Nachweis der rechten 


618 Brüdner 


Erfüllung von Gefeg und Prophetie durch Ehriftus 
dient, daher mit diefer Tendenz des Schriftwerks zu eng verbunden 
äft, als daß feine Faffung nicht auf den Evangeliften zurücgefüht 
werden müßte *). Gegen die gewöhnliche Annahme ®) aber mein 
ich, daß die Weherufe 6, 24—26 von derfelben Hand zu der ur 
fprüngfichen Rede Hinzugefegt find, welche den Gegenſatz von 
Reid) und Arm auch fonft im dritten Evangelium hervorzuheben 
fiebt. Zum erften find die Weherufe gegen bie Reichen, Gefätti: 
ten, Lachenden als folche zu wenig motivirt, zum andern hätten 
fie in Berückfichtigung deffen, daß der Inhalt der ganzen Rede nu 
auf die Yünger, die ausgewählten Zwölf, trog ber gegentheiligen 
Bemerkung Luf. 7, 1 vgl. mit Zul. 6, 17 ff. (Hingegen 6, 20) 
als Zuhörer ſchließen laſſen muß, feinen rechten Zweck m 
dürften fi kaum mit Luk. 6, 27 ff. vertragen. Auch tritt die 
Infanifhe Färbung diefer Verſe fehr ftart in dem dumımicm 
und ragdxinass hervor, wie aud Luk. 22, 21 ff. bei ein 
wenigftens von dem Evangeliften gemachten Wenderung in dr 
Reihenfolge (vgl. Luk. 22, 14 ff. mit den Parall.), die ihn zu einm 
Nachtrag eines vorhergehenden Momentes genöthigt hatte, diejer 
Nachtrag, wie hier die Einfchiebung, mit einem zrArjv ©) eingeleitt 
erſcheint. Der Gegenfag AA uubv Adym Tols dxovovam Lıl, 
6, 27%), der wahrſcheinlich die Veranlaffung für das matthaiſce 
yo d8 Asya Öniv 5, 22. 28. 32. 34. 39. 44 geworden if, 
witrde in dieſem Falle aufs befte ſich an 6, 23 anknüpfen, mas | 





a) Gegen Weizfäder (Unterfuchungen über bie evangeftfche Gefchichte, S. 150) 
umd Weiß (Jahrb. für deutſche Theologie 1864: Die Medeftüdde des aprfr 
liſchen Matthäus, ©. 54), die ben Abſchuitt 5, 17 bis 6, Bine 
Redenſammlung verlegen, und gegen Hilgenfeld, ber 5, 1b. 9.13-U. | 
20-48; 6, 1—13, 16—18 in feiner matthäifchen Grundſchriſt vorm 
jet, a. a. O., ©. 372. \ 

b) Jedoch übereinfiimmend mit Weiß a. a. O., ©. 58. 

©) Diefes Are iſi geradezu ſprachliche lukaniſche Eigentämfichteit : 6, 4.35: , 
10, 11.20; 11,41; 12,81; 18, 835.18, 8; 19, 27; 29, 21; 3,8, 
aber freilich Luk. 10, 14 mit der Parallele Matth. 11,22. 24, Lat. 17,1 
mit der Par. Matth. 18, 7 und Lut. 22, 42 mit der Par. Bat. 
26, 39. 

d) Bol. Mark. 4, 24: BAdners 16 dxovere, ° 


Ueber Luk. 6, 89. 40 — Matth. 15, 14; 10, 24. 618 


das wiederholte Sy dd Ayo vᷣudy im Matthäus, den Gegenfag gegen 
die mazsgss, noch mehr in's Licht ftellte. Denken wir uns bie in der 
Ueberfchrift bezeichneten Verſe 39. 40, in Bezug auf welche die Aner⸗ 
tennung einer Einfchiebung am allgemeinften zu erwarten fein dirfte, 
hinweg, jo erhalten wir eine Rede, die den einfachſten natürlichften Ge⸗ 
danfenfortichritt darbieten witrde und in all? ihren Teilen dem oben an⸗ 
gegebenen Zufammenhange: Auswahl der Zwölf, auf's befte entfpricht. 
Die Rede hätte zuerft einen Eingang 6, 20—23, der die Jünger 
Jeſu, die um feinetwillen arm geworden, leiden, hungern und 
verfolgt werden, an ihren innern Reichtum durch die Seligpreifungen 
erinnert *), fodann 6, 27—38. 41—45 die alles umfaffende 
Ermahnung zur Liebe bis zur Feindesliebe, die alles trägt 
und alles duldet, nad) dem Grundſatz der Billigfeit V. 31 ſich felbft 
verleugnet und barmherzig ift, wie der Vater im Himmel, und 
daher nicht lieblos richtet, weil fie immer zuerſt ſich felber richtet 
und es weiß, daß aus ber Lieblofen Rede des Mundes auf das 
Böfe im Herzen gefchloffen werden muß, während der Gute aus 
dem guten Schatze feines Herzens das Gute Hervorbringt, und zu⸗ 
legt den Schluß V. 47—49, zu dem V. 46 üiberleitet, welcher die 
Züngerfchaft (mäs 6 dgxowsvos res ne zul dxodwv uov züv 
köyav) zu ihrer vollen Wahrheit erhebt (za mov aurodc), in 
welcher die Jünger dann auch Kraft und Beftand haben wirden, 
allen drohenden Stürmen zu widerſtehen. In Berüdfichtigung des 
Widerſpruchs, der ſich damals bereits gegen Jeſus erhoben Hatte 
(Rut, 5, 17 ff.; 5, 27 ff.; 6, 1ff.; 6, 6ff. mit den Parall. im 
Markus), an welchem doch die Jünger betgeiligt waren, waren 
diefelben infoweit auch zum Gegenftande des Haſſes geworden, daß 
fie num auf fpätere Leiden und Verfolgungen um ihrer Junger⸗ 
ſchaft willen jegt vorbereitet werden konnten. Die Ermahnung, den 
Verfolgungen gegenüber die Macht der Liebe entgegenzufegen 6, 
27—36, bie ſich auch über alle Mleinfichkeit des Richtens und 


a) Der Umftand, daß die Jünger angeredet werden, machte hier jegliche Epere- 
geje zu mrooyof ganz entbehrlich. Nicht die Armen im allgemeinen, ſondern 
die Jünger, die als folde arın geworden waren, werben auch als ſolche 
felig geprieſen. 


620 Brüdner 


Verdammens erhebt Ruf. 6, 37. (Matth. 7, 1. 2) 4145, if | 
ebenfo Jeſu würdig, als jet gerade hinlänglich motivirt. Ta 
mußte e8 Mar werden, wie es nur möglich und allein verftändig 
war, ſich zur Jungerſchaft und Nachfolge diefes Meifters zu ent: 
fliegen in der Wahrhaftigkeit, die, auf das Hier gegebene Lieben 
gefeg geftellt, die alleinige Burgſchaft Hat, allem, es komme, wos 
da wolle, in Kraft und Feſtigkeit zu widerſtehen B. 47—49. Diele‘) 
Worte Jeſu 6, 27—38. 41—45 find der Felſengrund, 
auf welchem die Jünger fortan ftehen ſollen, um nicht zu fallen. 
Diefe Schlußworte in diejem hiftorifhen Zufammenhange jind nad 
dem geheimnisvollen Worte vom Bräutigam Luk. 5, 34f. = 
Mark. 2, 19f. = Matth. 9, 15 das Zweite, welches auf dat 
unabweisliche Leidensverhängnis, das ihn und damit auch fein 
Zünger treffen follte, andentungsweife vor der unummundenen Er: 
Öffnung Lu. 9, 22 — Matt. 8, 31 (xal jokaro — xel nor 
encla rov Aöyov Ehlsı B.32) — Matth. 16, 21 (dr zir 
Fefaro) hinweiſt. 

Der tadellofe Gedanfenfortfchritt der Bergpredigt wird nun in 
auffallendfter Weife durch die Verſe 39. 40 unterbroden?). 
Diefe Verſe find Hier fo fremdartig, daß es vergeblich fein bürfte, 
eine Ideenaſſociation zu fuchen, die den Evangeliften zur Einſchel 
tung diefer Worte veranlaßt Hätte, woher er diefelben auch gr 
nommen haben follte. Bei der geradezu verwunderlichen Stellung 
von B. 39 f. dürfte ſchon Matth. 7, Uff. den genügenden Ermis 
geben, daß fie urfprünglich wicht hierher gehören. Iſt num die 
Einſchaltung auf den Evangeliften zurüczuführen, oder wäre hier 
die Annahme einer fpätern Juterpolation angezeigt? Bei der Mög 
lichteit von Interpolationen im Allgemeinen muß doch der ritifer 
in jedem "einzelnen Falle zur äußerften Vorſicht fich verpflichtet 
fühlen. Die Annahme einer Interpolation muß hier durch dm 





a) Matth. 7, 24: vous Adyous rovrous zal moi aurous. 

b) & de Wette zur Stelle. Ewald, Drei Evangelien, &.223. Blech, 
Synopfis I, 328. Holgmann a. a. O, ©. 77. 220. Auqh Weyer 
dur Stelle, Kommentar I, 2. &. 335 nad) der 4. Auflage; frellich fact 
aber Meyer 8. 41 ff. mit B. 39. in Zuſammenhang zu bringen. 


’ 
Ueber Sut. 6, 89. 40 — Matth. 15, 14; 14, 2. ea 


Umftand als unzuläßig erfcheinen, daß die Formel, welche die ber 
treffenden Verſe einführt, ade dd zal nagaßoAnv avrois, durch- 
aus Kulanifchen Charakter hat und ſich Analogieen zu diefer Ein 
führungsformel durch das ganze Evangelium wieberhofen: 4, 23; 
5, 36; 8, 4; 12, 16. 41; 18, 6; 14, 7; 15, 3; 18, 
1.9; 19, 11; 20, 9. 19. Iſt noch da xal echt, wie nach den 
bebeutendften Zeugen anzunehmen ift, fo begegnet und außerdem in 
diefer Formel eine entſchiedene ſprachliche Eigentümlichkeit des Evan- 
geliften *). Durch diefe Formel hat aber der Cvangelift felbft 
einen Fingerzeig gegeben, daß er, bier den Verlauf der mitgetheilten 
Rede unterbrechend, Jeſus etwas anderes fagen läßt. So 
abgeriffen die beiden Sprüche Hier daftehen, ift es auch nicht Leicht, 
diefelben unter ſich in eine einheitliche Gedankenreihe zu bringen. 
Dan müßte zu dem Zwede nasıyers und didaoxakos auf Seite 
der ödnyol vugyAol ſich vorftellen und den Gedanten hier ausge⸗ 
ſprochen finden, daß der Jünger eines blinden Meiſters auch nur 
wieder zur Blindheit geführt werden Tann ®). Wie hart wäre aber 
diefer Sinn in Berüdfictigung deffen, daß die Parallele Matth. 
10, 24 nur den Sinn zuläßt, daß der Jünger Jeſu desſelben 
Leidensgeſchides wie fein Meifter Jeſus felbft gewärtig fein ſoll. 
Schon der conftante Gebraud) von dideoxalog und nasdmens läßt 
biefen letzteren Sinn als den einfachern, nähern erfcheinen, und nur 
eben die unnatürliche Stellung Luk. 6, 39. 40 verbindet zugleich 
dig Nöthigung einer amdern ferner Liegenden Deutung. Wol in 
Folge diefer Wendung des Gedankens fah fi der Evangelift ge⸗ 
nöthigt, zu dem Sprucde den Zufag zu machen: zarmgrıousvos 
3 Euro cs 6 diddoxakog airod, mit welchem unleugbar der 
Gedanke matt abfällt. Macht die Verbindung diefer Verſe fo viele 
Schwierigkeit, fo ift es doch gerade aus diefem Grunde im höchſten 
Grade wahrſcheinlich, daß nicht erft der Evangelift diefe Verbindung 
hergeftellt, vielmehr, daß er die beiden Verſe jo nebenein- 
ander vorgefunden hat, aber dann auch ſicherlich in einem Zur 


a) Nach Holygmann a. a. O., ©. 306, 29mal im Evangelium. 
b) So de Wette und Meyer zur Stelle. 


Test. Stud. Jahrg. 1869. [1 


622 Bruckn er 


ſemmenhange, der bie Verbindumg biefer disparaten Spruche uher 
ermöglichte. 
Zunuchſt werden wir ums bei dem werſchiedenen Subalte beider 
Berſe nicht wundern, wenn wir diefelben bei Matthäus an vers 
ſchiedenen · Stellen 15, 14 und '10,'24, wo ‚fie ſich dem refp. Zu 
fammenhange Fehr gut unpaffen, finden. "Sn ’ber Perikope vom 
Händewajgen :Matth. 15, 1 ff. werden die ingreifenden Be 
rifßer nid Schrifthelehrten vom Jefus fiegreich /zuruttgewieſen, um, 
von den Fungern darauf aufmerkſam gemacht, daß er den "Phari- 
fern -mit "feiner Rede ‘ein / Aergernis bereitet habe, antwortet er in 
unzweiflhafter'Beziehung auf diefe: „Alle Bflangen, die der him 
lufche Vater nicht gepflanzt hat, werden ıerrtipurgelt werden. Lafitt 
fie gehen; fie find iblinde · Wegfuhrer; wen aber kin finder m 
Blinden führt, ‘fo werden Beide 'in>dieWrstbe Fällen.“ Der Zu 
ſammenhang mit dem Vorhergehenden, ſowol mit der Geſtchicht 
vom Handewaſchen Matth. 15, 1 —11, #18 auch zwiſchen V. 13 
und V. 14, iſt durchaus tar und dürfte tabellos etſtheiuen. Um 
jo weniger will firh das Folgende dazu ſchicken. Bei dem ponoor 
neitv Aij ‚ragaßoAfv müßte man -um natikrfithften an das hr 
Vorhergehende, das Bejus gerade den Yüngern :gefagt, deuken, um 
fo mehr, als die rragupoin; VB. 18. 14 viel cher als dem Ber: 
fändniffe ſchwierig gelten muß, als bie durchaus -ofme Aweiteret 
verftändlihe magaßoi; B. 11. Dagegen fest #8 Die Antwort 
Jeſu außer Zweifel, daß die Zünger eine Erklärung über ®. 11 
verlangen, als wenn V. 12 —14 hier gar wit exiſtitie. Dieſer 
Umſiand wird ſtets der Vermuthuug Raum ‚geben, daß Matth. 15, 
12 — 14 von dem Evangeliften ans eimem anderen Zuſammenhangt 
in sine'von ihm vorgefundene Geſtalt der · Geſchichte vom Hündewaſchen 
eingefügt worden ift*). Hilgenfeld entgeht der Schwierigleit 
nur dadurch, daß er umgelehrt V. 15—20 :dem "Bearbeiter 
des erſten Evangeliums zuweiſt ımd die Peritope vom Hände 
waſchen in feiner matthäifchen Grundſchrift mit V. 14 ſchließen 


a) So Meyer zu Matt. 7, 17; Weiß, Theol. Studien und Kritifen 1861: 
Zur Sutſtthung der ſynoptiſchen Evv., S. 67, und Yolgmann a. aD, 
©. 191. | 





Ueber Aut. 6, 39. 40 = Matth. 18, 14; 10, 24. 828 


ft“). Dafür aber, daß Matth. 15, 12-14 eine Einfhal- 
tung ift, wäre noch ein wohl zu berüdjichtigender ‚Iinguifkifrher 
Grund anzuführen. Im höchſten Grade auffallend iſt mänstich bei 
Matthaus Das Häufige Borkemmen des Ausbeude ‚menssoysoses, 
mit welhen Matthäus ‚die bedenllich werdenden Jünger „nuftreken“ 
lt. Gr:fommt 5lmdlt) im Evangelium wer, fo daß mr als 
eine entfehiedene Eigentumlichleit desſelben bezeichnet werden maß. 
Nur einmal ıhat Matthäus raagsegsoräte: ‚mit idven beiden anderen 
Spuopöifeen: 14, 15 == ;Marf.i6, Bö re Ruf. 9, 12, anierhem 
zweimal /mit Marta: 19, B == ‚Marf. 10, 2 und 26, 40 mm 
Dart. 14,45 und viermalımit Lulad: 8, 25 == Rul.ıB, 23; 9, 29 
= Lul.ı8,44; 22,28:— uf. 20,127. und.AT, 58 == Sul. 28,62. 
Hingegen :führt Matthäus 28 mal Perikapen cader neue Momente 
innerhalb ſolcher mit Hilfe feines ronssggenitas sein: :5, 1; :8, 
2.5.19; 9, 14.:18. 20; 18, 10.36; .14, 15; 15, .1.12.:30; 
36, 11; 7, 7. au. 49. 24; 18, 1; 19,.8. 16; 20, 20; 21, 
14. 23, 22, 28; 24, 1; 26, 7. 17. 

Unger Matth. 75, 12 gibt 8 zehn Fulle: «8, 19; 9, 14; 
13, 36; 15, 30; 17, 7.14. 24; 18, 1; 20, 20; 21, 14, wo 
Matthaus bei einer Abweihuug uon Marks gerade on dem 
Bunfte, wo dieſe beginat, Ifein ugossegsonden in. Unwerdung. bringt. 
Rachdem Yeus bereits sven Veſchluß gefaft, eis zo regav Matih. 
8, 18 — Mark. 4, 35 hiuuberzufahren, ſoll nod) war ‚der Ge⸗ 
ſchichte won der Stillung des Sturmes ‘Matth.:B,.23 | 27 — 
Marl. 4, 86-—41 die Geſchichte von zwei Petenten um das 
Himmelreich nbgehandelt werden, und #8 „Auitt“ ‚der eine von ihnen 
herzu“ 8, 19. Während Mark. 2, 18 badurd, daB die Hier 
Fragenden mit den Mark. 2, 16 Fragenden identisch find ©), die Mus- 
laffung 888: Subjects mðglich war, ‚läßt Matt. 9, 14 ‚die Jahannes⸗ 


5) Zeitſchrift fur wiſſenſchaftliche Theologie 1887: Das MatihänsrKuang e- 
‚diem, S. 429. 

b) Nah Holgmann a. a. D., ©. 296. 

©) So Hilgenfeld, Zeitſchrift für wiſſenſchaftliche Theologie 1864: Das 
Matkus - Evangelium und die Markus - Hypotheſe, &. 303; Hingegen de 
Bette und Meyer zur Stelle, ſowie Holtzmann a. a. D, ©. 73, 
und Klofermann, Das Marius Gvaugelium, &..47, auders. 

41* 


624 Brüdner 


jünger, von denen Mark. 2, 18 in dritter Perfon die Rebe ift, 
felbft „auftreten* und die betreffende Frage vorlegen. Mit Matth 
13, 34 war bereits übereinftimmend mit Mark. 4, 34 ein vol 
ftändiger Abſchluß des Gleichnisabſchnitts gegeben; dennoch fügt 
Matthäus nad einem Eitat 13, 35 noch andere Gleichniſſe Hin 
und läßt noch vorher nad) Analogie von Mark. 4, 10 — Matth 
13, 10 die Erffärung des Gleihniffes vom Unkraut unter dem 
Weizen folgen, wobei die „herzufommenden“ Jünger, die auch 13,10 
„herzukommen“, die Erklärung verlangen. In der Berklärunge 
gefchichte ift gewiß die Aufrichtung der von großer Furcht ergriffen, 
zu Boden gefallenen Jünger 17, 7 durch ben „herzulommenden“ 
Jeſus, wovon fih Mark. 9, Sf. nichts findet, auffallend. In 
17, 14 ift das „Herzulommen“ des Vaters eine bequeme Aut 
hulfe, die etwas breit angelegte Gefchichte Mark. 9, 14 ff. mit Ber 
meidung ber Nebenumftände in's kurze zu bringen. Bei 17, 24 
ſchaltet der Evangelift, an 7A90v zig Kayagvaoıı Mark. 9, 3 
anfnüpfend, die Gefchichte vom Stater im Fiſchmaul ein, und eh 
müffen die-die Tempelſteuer Einnehmenden an Petrus „herantreten. 
Durch das „Herzulommen“ der Jünger 18, 1 wird der fer 
natürliche Zug Mark. 9, 33 über’8 Knie gebrochen, um zu de 
folgenden Worten, auf die es allein ankam, auf Fürzerem eg 
zu gelangen. In 20, 20 follen die Zebebaiden Mark. 10, 35 
gefchont werden, deshalb muß ihre Mutter mit der Bitte „heran 
treten“. So find die Heilungen 21, 14 an „heranfommenden‘ 
Blinden, wo Mark. 11,18 nichts davon hat, Hinzufiigung. Ach 
liche Maffenheilungen hat Matthäus auch 15,30, wo viele Volle 
haufen mit den verfchiedenen Kranken „herantreten“. In vier vom 
diefen fällen (9, 14; 13, 36; 15, 12; 20, 20) erſcheint dat 
9058042091 mit röze verbunden. Diefe entfchiedenfte matthäifde 
Eigentümlichkeit, indem der Coangelift diefe Partikel 91 mal im 
Dienfte aller möglichen Zwecke benugt (bei Markus 6 mal, bei Lules 
14 mal; Holgmann a. a. O., ©. 296) findet ſich noch außerdem 
11 mal auffallenderweife gerade dort, wo, wie 15, 12, eine Ab 
weihung von den Parallelen eben entfteht: 8,26; 9,37; 11,20; 
12, 38; 16, 12; 17,13; 23, 1; 24, 9; 25, 1; 26, 52; 
27,3 und Imal dort, wo Matthäus nad einer Abweichung wieber 





Ueber Sul. 6, 39. 40 — Mattf. 16, 14; 10, 24. 628 


zu Markus zurückkehrt: 4, 17; 12, 18; 16, 20; 17, 19; 19, 
13; 22, 15; 26, 45; 27, 13. 26°). Berldfihtigen wir nun, 
dag in Matth. 155 12—14, einem Momente der Erzählung, 
welches gewiſſermaßen in Parenthefe geſetzt erfcheint, ba keine Be⸗ 
ziehung des Folgenden auf dasfelbe ftattfindet, die ſprachliche Manier 
des Evangeliften in auffallendfter Weife fich geltend macht, fo muß 
& uns im höchſten Grade wahrfcheinfich werden, daß Matth. 15, 
12—14 al Einfhaltung des Evangeliften anzufehen ift 
md mithin Matth. 15, 13. 14 nicht hier feinen urfprünglicen 
Ort hat. 

Wir wenden und zu Matth. 10, 24. Hier kommt die Com⸗ 
pofition der gefamten matthätfchen Rede Kap. 10 in Betracht. 
Sehr deutfich befteht diefelbe aus vier Theilen: 1) B.5—16 Miffions- 
infteuetion fir die ausgefandten Jünger; 2) V. 17—22 Hinmelfung 
auf die zufünftigen Verfolgungen im Hinblick auf das Ende; 3) V. 
24— 33 Ermunterungsworte: Fürchtet euch nicht! 4) ®.34—39. 
unerläßfiche Vorausfegungen der Jungerſchaft. Zulegt ein Schluß, 
der aber, über 10, 17— 39 Hinwegfehend, fih nur auf 10, 5—16 
bezieht: 10, 40—42. Zum erften Theil liegen uns drei Paral- 
Idlen vor: Mark. 6, 8S—11, Luk. 9, 3—5 und Luk. 10, 2—12. 
Diefe Parallelen unterjcheiden fich dadurch am meiften von Matth 
10, 5—16, daß bei ihnen eine wirffiche Ausfendung vorausgeſetzt 
wird, fo daß die Ausgeſandten (Mark. 6, 12. 13. uf. 9, 6) 
wieder zurückkehren und Jeſus über ihre Erfahrungen Mitthei⸗ 
lungen machen, bei Matthäus aber ſich nichts davon findet. Der 
hiſtoriſche Zuſammenhang tritt am klarſten in einer kunſtlich nicht 
leicht zu erfindenden Weiſe Mark. 6, 30 ff. hervor, wovon bie 
kurze Notiz Luk. 9, 10 offenbar abhängig iſt. Bei der anderen 
Ansfendung Luk. 10, 1ff. dürfte diefer Zuſammenhang Luk. 10, 17 ff. 


3) Sollte wirffich Markus in Abhängigkeit von Matthäus geſchrieben fein, 
fo Könnte nur eine tenbenziöfe Abneigung vor ſolch harmlofen Ausbrüden, 
wie mgosegysosas und rore, — und e8 ſießen fid dergleichen fpradj- 
fiche Gewohnheiten, Unbehütflichteiten, Liebhabereien des Matthäus noch 
mehrere aufzählen, — die Vermeidung berfelben im Markus erfläclich 
machen. 


626 Bukdacr 


anf eine Eompofition: de& Gvampelifen nach Analogie von. Marl, 
6, 7ff 30ff. — ul. 9, 16..10 zutuckzufithren fein Wie wir 
ung: auch das Berhäftnig! von: Mattip 10, S—FE zu: dieſtn Paml⸗ 
fefet denfen mögen, es iſt von vorußerein wahefcheindicher, dei 
der eiſte Evangeliſt Bei. feiner: Nebecompoftion: bie im feiner Quelle 
(ober Durkem) vVorgefundene: Ausſendaug, die auch: bei ihm 20, 5 
angedenteit iſt, gängficg füllen: gefaffen Bat, ala daß die andem 
Evangefiften in: Abhähgigkeir von ihm die beftkcnmmten Ausſtudungen 
mit batd evfolgter Ruckkehr deu Ausheſandten eifnnben Hätten. 
Dofür, dag Matth. 10, 5ff. die fecundäre Geftalt einer urſpriug 
lien AnsfenbungBrebr®) iſt, hat umdl dev erfie Gomngelifts felhft 
im 10, 15° einen umverkennttven Fingerzeig gegeben. Der zwiſchen 
Watt. 10) 15: utibı Matth. TI, 22: 24: bejtehende Peualieligan 
macht bier Zufannnongehotigkeit mehr aldr wechrſcheinlich, und Sul 
70,12 ff. gibt: die Beraciguũg, da. Matth; 1, 21 FR bie Fat 
ſttzungi dot Mattft. 10; 5 16, urſpruuslich geweſen: Nnch-Dieer 
Woeiehmung wird cs amgegeipt fein, dafı Matthe 0, 16 = 
Ouk. TO, 3 ummittelbar: auf 9 37 f. —⸗ Luk. 10,. 2 im den Quil 
ſchrift/ folge... Se ift alſo Math: 10, 5—16 ein Brudiüd 
einer bängeren Mede, deren Abſchrift der Coangelifti bei 10, 15 
abgeßioche het, weit Mattha 14, Ziff. = uf. 10, 13H den 
bier von ihm gewollten Zwecken nicht: entſprache Dieſe Zweck 
giengen aber hler nicht auf die Erzählung einen Ausſendung der 
Fimger, fordern vielmehr auf Aufftellung einer J üngor in ſtruction 


a) Sedoch find wahr ſcheinlich zınei Vorlahen · voraus zuſetzen· ¶ Die beiden us · 
ſendungsreden im Lukas laffen ſich am leichteſten auf zwei Quellen zäh 
führen, vgl. Holtzmann a. a. O, ©. 1465 f. 182. Da. mag denn cine 
Duell’ auch den Srat und bie: Sandalen aabgeſthloſſen Haben, in dr 
anderen aber in Folge eines anderen Gefichtspunktes daßdor wöror mb 
snodedeutvous savdahı Marl. 6, 8. 9 zu leſen gewefen fein. Es ik 
fü Diefe: Beusiheifiimg: zu bandkten,, wie: Händfigs beit Märkae) bes ci 
ſtheantende, nathtcägfich ein Corvectur buimgenber ed york aupuiteffen it: 
5, 87 (m Bub 8, 50);6, 5. 8; 8, Iac 9; 28 (mm Month. 17, 21; 
wen et); IA, 19: Wei deu Parallelt Mauh. 18; 58 Hätte Matthäus 
durch vollfänbige Cordeetuv diefe Wutbbvirekeweife warıtiebem Bel. dau 
Matth. 5, 32; 19, 9. 





Ueber Lut. 6, 39. 40 — Matih. 15, 14; 10, 24. 627 


„noch ihrer Bedentung für .alle Zeiten“ *), als Hätte fie Jeſus bet 
ſeinenn Abfchied®)ı hinterlaſſen. Dieſer alterime Gefichtspunft, 
bei welchen ber hiſtorijche Hintergrund: gunglich ſchwindet, gibt. dem 
erfte Evangeliftem die Möglichkeit, die Rede durch Anknikpfung 
anderer Staffe, bie iäm Bier paſſend ſchienen, fortzuſetzen. 

Matth. 16, 17—22- ift mit Marl; 14, 9— 13 identiſch. 
Rur konnte wegen Matth. 10,5. 6 bie Heidenpredigt. Mark: 18, 10 
hier feinen Raum finden. Auch abgeſehen nom diefer Parallele ift 
der Grmunbgeanke. vom Matte 10, 19-22 bes- enchatologifche, 
wie das rss B. 22 beweift, welches richt ing Allgemeinen das Emde 
alien Dinge, ſondern ein gang beſtimmt gebachtes Ziel: dire Zer- 
ftörung Jeruſalems und im unmittelbaren. Auſchluß 
daran die Wiodertunft EHrifti: begeidinet. 

Weit überwiegend mehr: als die anderen. Syaoptifer vebet 
Matthäus van der WiederkunftEhunfti: Im dieſem Evan- 
gelium. wird im der eschaielingifiien: Nede Kap. 24. 25: die Be 
stehung: anf die: Wiederkunft Chrifti als eine nahe Beworftcheube 
am ſcharfften betont... Hier allein findet ſich die Erwartung, daB 
„fofort nad): ber. Trübſal jener‘ Tage“, de Hi nachı der Zerftönung 
Jeruſalems (bie bi 24, 28: behandelt: wird): Bi 29 die Zeichen 
der Wiederlunft Chriſti an der Sonne, am Monde, am den Sternen 
u. f. w. geſehen werde‘). Hier allein erhalten die anf das Bo 


3) Zange, Leben Jeſu IM, ©. 108. 

b) Hifgenfeld: „Abſchiedsrede“. Settfiffift: fut wiſſenſchaftliche Theologie 
1868: Das Matthaus · Edaugellum S. 50: 

e) Allerdiugs ſet dad: sr9cn DE, 2 din Aufgefle Grenze, den terminus 
adı quemı zur BeRisnmung den Ahfaffngsuik betr eıften. Evangeliums. 
So konnte nad) dem Abichluffe der Kataftrophe nicht geſchrieben werden. 
Die unmittelbar nad) der Zerflörung Jeruſalems erfolgen follende, aber 
nicht erfolgte Wiederkunft Chriſti konnte noch erwartet werden. Vgl. die 
Abjchwachungen Mack. 18, 20 ımd Sad Ab, Mflt: Alles deutet aber 
auf. bie legte Zeit vor den Zpefidrung Jernſalems oft: die Zeit; der Ent 
Mehung des Evangeliums. Schen ſah dev: Benfaffer die röwilchen Adler 
über Jeruſalem ſchweben. Er ſchrich im: dem Tegen der Tmübjah Das 
erfte Eoangelium iM nicht After als die Apokalpſe, devem Ahfaffung in 
der zweiten Hälfte des Jahres ss nummnehn wiffeniiheftlich feßcht. Außer 
Bolkmar, der das Evangeliunv erſt mn 105 —1M0: entfingen- Häßt, ver» 


638 Braduer 


kenntnis Petri folgenden Worte (Mattf. 16, 24 ff.) B. 28 die br 


ftimmtefte Beziehung auf bie Wiederlunft Chriſti, was übrigens 
ſchon durch das unmittelbar Vorhergehende Matth. 16, 27 = 
Mark. 8, 38 — Lul. 9, 26 als treue Wiedergabe des Urfprüng 
lichen gegenüber den Abſchwächungen Mark. 9, 1 und Luk. 9, 27 
fi erweift. Hier ift überall die Wiederkunft Chriſti als nahe be 
vorftehend gedacht, ja das Evangelium ift unter dem Einfluffe der 
gefpannteften Erwartung derſelben geſchrieben. — Jedenfalls f 
der Urfprung des Gedanlens an eine meſſianiſche Wiederkunft in 
Herrlichkeit: auf Jeſus felbft zuruckzuführen. Ju der Ermartun 
einer fehr bald erfofgenden Wiederkunft ift Jeſus in dem Tod ge 
gangen (Matth. 26, 64 — Mark. 14, 62 — Luf. 22, 69), mb 
wie bei dem legten Mahle Jeſu Gedanken auf das Brechen fein 
Leibes und das Vergießen feines Blutes gerichtet waren, fo auf 
anf feine Wiederfunft (Matt. 26, 29 = Mark. 14, 26; ygl. 
1%or. 11, 26). Diefe Zeugniffe (Matth. 16, 27f.; 24, 27f. 
26, 29. 64), die in ihrer gemeinfamen Beziehung auf die Er 
ſcheinung des Menſchenſohnes in den Wolfen des Himmels im 
Daniel (7, 13) unter fi in Einftimmung ftehen, verbürgen ad 
gegenfeitig ihre Geſchichtlichkeit. Sicher ift aber auch diefes, dab 
die ältefte chriftliche Kirche, die ftets in der Erwartung bes Rom 
mens Chrifti Iebte, ſich diefes Gebanfens mit befonderem Eifer 
bemädhtigte und daher geneigt war, bie durch gefchichtliche Leber: 
Tieferung ihr darüber zugelommene Kunde durch meine Beiter- 
bildungen in diefem Vorftellungsfreife immer mehr auszugeftalten. 
Daher ift es im höchſten Grade wahrfcheinlih, daß die dem 
Matthaus eigentümlichen eschatologifchen Züge, nämlich die Gleid- 
niffe: 13, 24-30. 36—43. 47—50; 25, 1— 13. 31—46, 


einigen fid) alle maßgebenden Stimmen auf dem Gebiete der Eoangein- 
Teitit im dieſer Beſtimmung der Abfafſungszeit. Etliche Keitifer wer 
muthen freifich einige fpätere Nachträge (Strang, Keim). Hilgen 
feld meint (Zeitfegeift für wiffenfchaftliche Theologie 1868, ©. 61), deh 
den ebchatologiſchen Heben Rapp. 24. 25 „bie Zerflörung Jernjalems ber 
veits zu Grunde Tiege“, und fest daher die Abfaffung des Evangeliumt 
unmittelbar nach der Zerfärung Jeruſalems a. a. O., ©. 75. 





Ueber Luk. 6, 39. 40 — Matth. 15, 14; 10, 24. 629 


auch von dem erften Evangeliften felbftändig gebildet und 
feiner Evangelienfchrift einverleibt worden find, wie denn nad» 
weisfih 13, 24—30 Umbildung von Mart. 4, 25— 29°) ift, 
25, 1—13 in Matth. 7, 21 —23 — But. 13, 25—27 mb 
Matth. 25, 31 —46 in Matth. 10, 40—42 — ul. 10, 16 
und Matth. 19, 28 — uf. 22, 30 feine Grundlage verräth. 
Es war der unaußbleibfiche, in fürzefter Friſt zu ermartende Unter 
gang Serufalems, der dem Geiftesauge des Verfaffers ftets vor⸗ 
jchwebte, was ihn mit Spannung und Erregung auf die unmittelbar 
nad) diefer Kataftrophe zu erwartende Wiederkunft Chriſti und das 
damit verbundene Endgericht hinblicken ließ und ihn zu dieſen 
felbftändigen Erweiterungen feines Schriftwerfs veranlaßte. 

Der Blick auf diefen beftimmten in nüchſter Nähe zu erwar⸗ 
tenden Ausgang beherrſcht das ganze Evangelium von der Berg- 
predigt 7, 22 an, bis gegen das ‚Ende des Schriftwerks Kapp. 
24. 25 in einer großen zufammengefegten eschatologifchen Rede 
diefe Beziehung zur ausfchlieglihen Geltung kommt. Dgl. 10, 
17—23; 18, 24—30 (36—43) mit 13, 47—50; 16, 27f.; 


a) Diefelben Momente finden fich in beiden Gleichnifſen: der Samen ans“ 
fände Menſch, das Schlafen, das Aufblühen und Fruchtbringen und bie 
Ernte. Das, mas Matthäus Hinzubringt, iſt das im ben ihm eigentlim- 
fichen Gleichniſſen ftets wiederkehrende conſtituirende Moment: das meſſia- 
niſche Gericht, ſowol in beftimmt eschatologifcher Beziehung 13, 47—50; 
25, 118. 3146, als aud) ohne biefelbe: 18, 23—85; 20, 1-16; 
22, 1—14. Die Erflärung 18, 87—43 beingt diefes Moment zur ans- 
ſchließlichen Geltung. Bon anderen fprachlichen Eigentümlicjkeiten, im 
denen dieſe Stüde zuſammenſtimmen, abgefehen, verräth fon die An- 
fangsformel 18, 24. 47; 18, 28; 20, 1; 22, 2; 26, 1, bie ſich überalt 
wicht recht ſchiden will, die fpätere Nachbildung eines älteren Originals 
13, 81. 33, wo diefelbe Formel durchaus naturwüchſig iſt. , Das 
Gleichnis Mark. 4, 26-29 fließt fi ganz naturgemäß am bie das 
umverfennbare Gepräge des Echten tragenden Gleichmiſſe vom Senflorn, 
vom Sanerteig, vom Schaf im Ader, von ber Perle an, in denen Jeſus 
recht eigentlich „bie Geheimniffe des Reiches Gottes“ bargeftellt hat, die 
Entfaltung desjelben ans einem urfräftigen, in bie Menfchheit gefegten 
Samen, bie zwar in verborgene Weife vor fi) geht, aber mit völliger 
Sicherheit zur Vollendung und Offenbarung feines Zefens, feiner Herr- 
Fidteit gelangt. 


630 Bruckner 


19, 28. So iſt es nicht verwunderlich, daß auch die Funger⸗ 
inftruction Rap. 10 eine ebchatologiſche Btzichung ertalten hat. 
Hat einmal der Evangeliſt die’ hiſtoriſche Ausfendung der Junger, 
die, wie aus Mark. 6; —13. 30 ff. zu erfeen: ift, nur eine 
Vrobeausſendung auf kurze Zeit“) geweſen iſt, fallen gelafſen und 
biefe Grundlage denutzt, um ein für feine‘ Zeit paſſeudes, die Ver⸗ 
häftniffe ber Leſer vorzugsweife berückſichtigendes Mebeftiick zu: bilden, 
fo fand fich als Fortfegung zu 10) 586 bie jedenfalts· ſchom älter, 
in einer Quelffchrift ihm vorliegende Weißagung vom konmenden 
Leiden und Berfolgungen FO, 17—22, die bereit den twbfklichen 
Blick anf das: ſchon von uns begeichnets Ende 10, 29 eröfftee. 
Weil ihm dieſes dabei das Wähtigfte war, fo fühfte er: fich ver 
anlußt, an diefer Borftelfimg länger Baften zu beiden und ans 
eigenen Mitteln V. 23. zu bilden. Diefer eigentümüche, für 
unferen @oangefiften Höchft charakteriſtifche Ausſpruch findet: feine 
zutreffenöfte Erklarung, wenn wir einerfeit® vorausſetzen, daß der 
Berfaſſer B. 17— 22 aus der ekchatologiſchen Rebe genvmmen, 
die unsı Mark. 13, 4 ff. weſentlich dorlicht und die- dam af 
Matth. 24 zu Grunde lag, umd andererfeitS uns vorftellen, wie 
bei- deu Abfaſſung der Schrift dem Verfaffer die Draugſale er 
ſalems, der: von allen Seiten beingerten und weniger durch die 
Gewalt der Romer, als durch den Krieg: innerhalb der eigenen 
Mauern zwiſchen den aufs bfutigfte ſich befämpfenten Parteien 
und Banden bedrängten unglücklichen Stadt und zugleich die ber 
gonnene Flucht der jerufalemifchen Gemeinde vorſchwebten. Zu 
fehr erfüllte biefe feine: Seofe, ah: daß ew, bei feinem: Eveorpte dort 
abbrechend, wo diefe Flucht gemeißugt war, Mit: 24, PEf. = 
Mark. 13, 14 (diefe Weißagung ſelbſt mochte er zu feiner großem 
eschatologijchen. Rede aufzuheben beabſichtigen), diefen Punkt hier 
ganz aufgeben follte. So daß das Örav der Quellſchrift io feinem 
Worten V. 23 noch nachtlingt, briugt er Hier diefe Flucht der 
jeruſalemiſchen Gemeinde, wie diefe ſich auf. derſelben 
über die Städte Israels ausbreitete, ſich ſelbſt zum Troſte mit 
der in nüchſter Ausſicht ſtehenden Wiederkunft Chriſti in Verbindung. 


a) So richtig Klofermann, Das Markus -Cvangelium. & 128 





Ueber Luk. 6, 39. 40 — Matth. 15, 14; 10, 24. 681 


Das Yedyere nöthigt dazu, hien nicht an die Vollziehumg der 
Biffionspglicht‘*), fondern: dewonr zu benfen, daß die Slugb®) von 
Stadt zu: Stabr pibtzlich unterbrochen werden foll durch die herr⸗ 
liche Bollendang des Meiches Gottes! in der Wiederkunft des 
Menfehenfohnes. 

Im Folgenden verliert fich wieben bie eschatologiſche Erwar⸗ 
tmg, ohne: ee Spur zw Hinterlaffen. Der Verfaffer kehrt nach 
feinem Einſchiebung zu: offenbav anderen Redeſtoffen zurit, die 
ihm quelfenmäßig vorlagen. Mit dem Vorhergehenden ift B. 24 ff. 
ficher urfpruuglich wicht verbunden. gewefen. Nach dem Hoffnungs⸗ 
blick auf das seAog' B. 22 konnten: die: Troft- und Ermumerungs ⸗ 
gtunde WI 24-ff. nicht: mehr dargeboten werben. Near eine un 
misberftandliche Idsenaffociatiom har har Verfaſſer veranfaßt, dieſes 
Reveſtuch am dieſer Stelle folgen zu laſſen. Matth. 10, 24— 33 
iſt ein · Suuck aus einem. Guſfe. Das Geprutge des: höchſten Alters, 
den gediiten. Ooigknotitlit: (iso Bezug auf Jefus ſelbſi) ift: Bier un 
verkenubar, ohne Daß: die Veranlaſſung angegeben werden: könnte, 
warn en: Jeſus diefe: Worte geredet: Haben ſollte. DB: 24. 25a 
mit dem: comoseten Beifpiele 25ib °) gibt erft den rechten Grund 
zu ber folgenden Ermunterung: Fürchtet euch nit! So Hätten 
wir weuigſtens file vuk. 6, 40 = Mlatth. 10, 24, wovon ®. 25 
nicht zu tremmen. ft, den urfprünglidhen Ort inſoweit ge— 
funden, daR win num willen, was auf Luft 6, 46 — Matth. 
10, 24 utittittelbu in der Quellſchrift folgte. 

Mit 10, 34-39 Hebt: aber wieder eine neue Gedankenreihe 
am, nachdem 10, 32 f. einen abgerundeten Abſchluß gegeben hatte. 
Es wäre ein. Bevſtoß gegen Pfrchofoge und Logik, nachdem die 
volle Wahrheit geprüfter Jüngerſchaft in 10, 24— 33 vorausge- 
fegt war, noch die Bedingungen einer ſolchen in Erinnerung 
zu: buingend). 


8) &b Meyer zur Stellt 

b) De Wette zur Stelle: „redkiv nur hier fr ale durchgehen, in der 
Flucht: ale beriiternt‘.. 

€) Bafı Mat. 3, 22: — Matth. 9 24 — Aut IT, 15: 

d) Mio ſcheinr Matthı 10).34-—-89 == Sul 12, 5163; 14, 26: 27; 17,88 
der urfprängfiche-Schluß von Luk. 12; 16-88: geweſta zu fen, fo daß 


6s2 Brädner 


Unmögfih fann aber das Rebeftüd Matth. 10, 24—33 fo 
ex abrupto angefangen haben. Sollte nun, wie wir ſchon voraus 
fegten, Luk. 6, 39. 40 auf eine urfprüngfiche Berbindung vm 
Matth. 10, 24 mit Matth. 15, 14 zurüdführen, fegen wir, da 
Matth. 10, 26—33 mit Luf. 12, 2—9 identifch iſt, den ganze 
fo gewonnenen Paſſus Matth. 15, 13. 14; 10, 24. 25 vr 
Luk. 12, 2 ff. und denfen uns den lukaniſch gebildeten, nad) gr 
mwohnter Weife des lukaniſchen Pragmatismus zufammengeftelten, 
an Momente im Markus-Evangeltım 3, 6; 8, 11; 12, 13 am 
tnüpfenden Schluß 11, 53. 54, fowie den ans Mark. 8, 15 gr 
nommenen, lulaniſch amplificirten Eingang 12, 1 hinweg, fo m 
ſcheint in befriedigendfter Weife Matth. 15, 13. 14; 10, 24-3 
als unmittelbare Fortfegung der polemifchen Redt 
Zefu wider die Pharifäer und Schriftgelehrten &ıl. 
11, 39—652 — Matth. 23, 1—36. Daß nun Ruf. 11, 53.54; 
12, 1 lukaniſche Bildungen find, welche der Evangeliſt alt 
paſſendes Schlußwort anfügt und zur Einleitung des Folgenden 
aus eigenen Mitteln *) vorjegt, darf um fo weniger auffallend er 
feinen, als uns auch dort, wo Lukas in den Parallelen durch die 
anderen Synoptifer controlirt werden kann, ganz ähnliche Eingänge 
und abjchliegende Worte, die nur auf den Evangeliften zurüdge 


führt werden können, Häufig begegnen. DBgl. 3, 15 mit Mar. 


1,7 — Matth. 3, 11; 4, 14. 15 vgl. mit Mark. 1, 14f. 
— Matth. 4, 12ff., mit Reminiscenzen aus Mark. 1,39; 2, 12; 
5, 17 vgl. mit Mark. 2,1 — Matth. 9, 1, mit Benugung 
von Mar. 1, 22; 2,6; 3, 7f.; 5, 30; 7,1; 6, 12 ul. 
mit Mark. 3, 13; 7, 18—21 vgl. mit Matth. 11,83; 


Nufas Matth. 10, 37—39 — Zul. 14, 26f.; 17, 33 aus dem du 
fammenhange gerifjen und fpäter nachgeholt hätte. Luk. 17, 83 Hätte 
feine treffliche Rückbeziehung auf Luk. 12, 19. 22f. 33f. 39-50. Kit 
Luf. 12, 54ff. beginnt ein neuer Abſchnitt. 

8) Die lukaniſche Sprachfarbe tritt flark in dem dmosronerite um hit, 
Imgevsıw nur hier, Evedgedew nur hier u. Apg. 23, 21, in dem mgosäyere 
Eavrois nur hier 17, 3; 21, 84 umb ben lukaniſchen Lichlingsansorüden 
Üggsosas und Imeeis hervor. 





Ueber Luk. 6, 39. 40 — Matth. 15, 14; 10, 24. 688 


9,18 vgl. mit Mart. 8, 27 — Matth. 16, 13; 9, 43 vgl. 
mit Mark. 9, 30 — Matth. 17, 22; — fowie andererfeits: Luk. 5, 
15. 16 vgl. mit Mark. 1, 45; Sul. 6, 19 vgl. mit Mark. 
3,12; Lut. 9, 43 dgl. mit Marl. 9, 26 ff. — Matth. 17, 
19ff.; Lukt. 18, 34 vgl. mit Mark. 10, 34 — Matth. 20, 19; 
Sul. 20, 26 vgl. mit Marl. 12, 17 — Matth. 22, 22; 
dul. 21, 87f. dgl. mit Mark. 13, 37 oder Matth. 24, 51; — wo 
überall nach Wahrfceinfichkeit und Vermuthung der Erfolg des 
Vorhergehenden gemeldet wird. 

Wie in dem Abfchnitte vom Händewaſchen Matth. 15, 1 ff. 
wären aud hier die Pflanzen, die der Vater nicht ger 
pflanzt hat, die blinden Wegführer 15,13. 14 (Luk. 6, 39), 
die Pharifäer und Schriftgelehrten. Aber wie viel treffender wären 
bier diefe Ausbrüde nach der wider fie gehaltenen Strafredel 
Zeigt nicht jeder Weheruf derfelben, wie gerade unnatürlich die ge 
machte Künftlihe Frömmigkeit der Pharifäer fei, wie fie dem ein⸗ 
gepflanzten (von Gott gepflanzten) religiöfen Bewußtfein und uns 
mittelbaren (Gott entftammten) Wahrheitöfinne nicht entſpricht? Und 
wie ift das abfchließende ddnyol zupAot mit der directen Rück⸗ 
beziehung auf Matth. 23, 16. 24 vorbereitet durch die Weherufe 
Matth. 23, 13 u. 15? Auch würde die Androhung des Ver⸗ 
derbens hier nach dem legten Weherufe 23, 29—36 — ul. 11, 
47—51 am meiften angezeigt fein, indem V. 33 — 36 dieſem 
Ausgange bereits zuftrömen, ja die ganze Rede von dem Gebdanfen 
eines ſolchen Endes getragen wird °). 

Ber find die Zuhörer der polemifchen Rebe geweſen? Nach 
Matth. 23, 1 die Volkshaufen und die Jünger, übereinftimmend 
mit Mark. 12, 37 f. und Luk. 20, 45; nad) Luk. 11, 37 hätte 
Jeſus diefe Rede als Gaft eines Phariſders diefem und den Mit 
gäften gehalten, — eine fo unwahrſcheinliche Situation, daß auch 
bier diefe Angabe auf eine lukaniſche Bildung ſchließen läßt. Das 


a) Mlerdings müßte aber Matth. 28, 37—39 als nicht hierher gehörig weg · 
fallen, |. Holgmann a. a. O., ©. 200 und Hilgenfeld, Zeitfchrift 
für viffenfchaftfiche Theologie 1868, ©. 49. 


6 ‚Bieidner 


ſhnoptiſche Verhaltnis zwiſchen Matth. 23, 1ff. und uf. 11, 37 ff. 
iſt Hier ‚wieder der Art, daß die Annahme der Abhängigkeit des seinen 
Evaugeliften von !dem anderen kaum worftellbar fein ‚dürfte. Am 
matirlüchften wird die Voransjegung fein, daß in der urfprüng 
lichen Schrift, die dem arften und dritten ‚Eumugeliften norgelegen 
hätte, eine Angabe der Zuhörer und der Situation überhaupt fühlte. 
Daraus liege fi die zwiſchen Matthäus und Lulas in’diekr Be⸗ 
siehumg beftehende Differenz feicht erklaren. Der Anhalt dar Rede 
aber muß nothwendig die Jünger als Zuhüror vorausfegen. ‘Das 
ouxd sur ift nur als rhetoriſche Wendung zu veritchen, fo auch 
Thon von Matthäus verftanden ‚worden, während Lukas Die rheio⸗ 
rifche Form als wirlliche Auvede „gefaßt Hat. So ift die .nole- 
miſche Rede eine durch die einzelnen :Meherufe motivirte Wagr a uug 
vdr · den Pharifäern und Schriftgelrhrten, ‚beven «Gericht ‚mad Ber- 
derben Feſus verfündigt. Matth. 28, 38—36; 16, 18. 14 = 
Lut. 11, 49—51; 6, 39. ‚Das Ayers aumarg Matth. 16, 14 
Teitet ſchon über zu Matth. 10, 24ıff. mit dem wieberhaften: 
„Fürchtet euch nicht“ — vor falthen Gegnern, deden Ende zur 
das ſchließliche Verderben fein laun. Wunbert much aber nicht, 
wenn ſie ouch verfolgen. Eben als meine Junger abet ihr von 
ihnen zu leiden. Haben fie mic Beelzebul genannt, wie viel 
eher werden fie euch fÄmähen (Matth. 10, 24f. = Luk. 6, 40). 
Aber um fo weniger Habet ihr euch zu Fürdten, als meinet 
Sache der Sieg gewiß ift (Matth. 10, 26f. — Lut. 12, .2f.), 
als dieje Gegner nur den Leib tüdten Lönnen in ihrem tödlichen 
Hoffe gegen die Wahrheit (Matt. 10, 28 — Lul. 12, Af.), als 
ihr in höherer Ofhut ftehet (Miatih. 10, 29—B1 Lut. 12, 6f.), 
als ihr bei dem Bekeuntniſſe zu mir deſſen gewiß ſeid, daß ih 
wid, vor meinem Vater zu euch befennen werde (Matth. 10, 32f. 
— ul. 12, 8f.). So iſt Matt. 15, 13f.; 10, 24f. der 
vechte Mebergang von der polemifchen zu der Ermuthigungs ⸗ 
rede, während die Vermittelung Luk. 11, 53f.; 12, 1 nur al 
fünftlihe Ueberbrüdung gelten fann. 

Es ift intereffant, wie die beiden Evangeliften die gemeinfame 
Vorlage für ihre Schriftwerfe, noch abgefehen von der verſchiedenen 
Stellung, auch Hinfichtlic des Textes verſchieden benugt haben. 





Ueber Aut. 6, 39. 40 — Math. 15, 14; 10, 24. 685 


Bei Hinzufügung des Anfangs 11, 37f. und des Endes 11, 53f., 
ſowie der Unterbrechung 11, 45 hat Lulas die Polemuſche Rede 
befonders gefürzt. Um fofort die Schüſſeln zu dem von ihm ale 
Unterlage :emterbreiteten Gaſtmahl zu verwenden, beginnt er bie 
Rede mit 11, 39 = Maith. 28, 25 und ‚hat viehleiht ‚dagegen 
den Anfang 11, 52 — Matth. 28, 13 m ‚has Ende geftellt. 
8.24.28. 30. 32. 33:08 Matthäus ‚werben ıganz -mrögelafen und 
der Yahakt von B. 80— 33 umgegoffen und ner turz 11, 48 
wiedergegeben. Nur.die:vichtige Stellung von 11,43 == V. Gf. bei 
Matthäus und 11,46 == B. 4 bei ähm und die Nichterwähnung ber 
Valerſchaft: des Zacharja 11,51 = B. 85 *) dürfte gegen Matthäus 
urſprünglich fein. -Was aber den matthäiſchen Tert -betrifft, fo 
bereitet der Anfang am meiſten Sthwierigleit. Ob Matt. 23, 2f. 
matthaiſch ober Alter, wird -immer won ber Frage abhtengen, wie 
das Verhaltnis Jeſu feibft zum Geſetz zu denfen fei, in meldem 
Grade jübifcher Befangenheit oder :;Sreigeit wir «uns fein perfün- 
liches Bewußtſein iin diefer Frage vorzuſtellen ‚haben. Daruach 
muſſen im erften Evangelium 5, 181f.; 10, 65f.; 15, 24; 28, 3; 
24, 20 (die übertriebene Sabbatheiligung) entweder miteinander 
als urſprünglich und älter coder ſämtlich als ‚matthäifche Theſen 
gelten, bie als hſolche einen Rurckſchrutt des chriſtlichen Bewußtfeins 
bezeichareten ‚won der Höhe ber Geiſtesfreiheit Jeſu im judaiſtiſche 
Befangenheit des Kreiſes, ans welchem das erſte Evangelium here 
vorgegangen / iſt. Wir glauben, daß der im serften Evangelium ſich 
darbietende Widerſpruch zwiſchen Barticularismus und 
Univerfaltsmns auch durch eine andere Löſung, als die ſeit 
Jahren won Hilgenfeld ‚vertretene und auch neueſtens in deſſen 
Zeitſchrift für wiſſenſthaſtliche Theologie 1867 u. 1868 vorgetragene, 
feine Erffärung finden kann, und find geneigt, "die bezeichneten jur 
daiſtiſchen (6, 18f.; 28, 8; 24, 20) amd particulariſtiſchen 
(10, 5. 6; 15, 24) Züge dem erften Evangeliſten ſelbſt zuzu⸗ 
weifen. Mm wenigſten möglich) iſt es ns, dieſe Theſen dem Erlöfer 


a) Uebrigens fehlt im Sin. vos Bageylov, dagegen hat dqs Hehräer-Evan- 
yelinm "Zazaglov vioö "lwiadd. ©. Hilgenfelds Novum testamen- 
tum · extra eanonem receptum fasc. IV, p. 17. 

. 


686 Brüdner 


von den Schraulen des Gefeges, von dem Joche der Sakung, 
von der Kuechtung des Buchſtabens, der im unlengbaren Wider 
ſpruch gegen den ſchwer laftenden Druck diefer fein Joch ein fanftes 
und feine Laſt eine leichte nennt 11, 28—30, aufzublirden. In 
der That wird die Frage durch Matth. 15, If. — Mark. 7, If; 
Matth. 22, 34 ff. — Mark. 12, 28 ff.; Matth. 9, 14 ff. = 
Mark. 2, 18ff.; Matth. 8, 5—13 — Sul. 7, 1—10 erledigt. 
Daher tragen wir Bedenken, diefe nur im erften Evangelium ſich 
findenden Züge in einer äfteren Grundfchrift, die darin ihr Ehe 
rakterifticum ausfpräche, zu ſuchen. Matth. 23, 2. 3 fteht mit 
dem übrigen Inhalte der polemifchen Rede in Widerſpruch. ferner 
fest Matth. 23, 8—10 den Standpunkt einer fpäteren Zeit voraus, 
wie die auf geordnete kirchliche Verhältniffe fich beziehenden Stüde 
„16, 17—19; 18, 15—20; 28, 18—20, die im Munde Jeſu un 
begreiflich erſcheinen und ſamtlich auf Rechnung des Evangeliften 
zu fegen find. Matth. 23, 11 aber ijt Neminiscenz aus Matth 
20, 26 — Mark. 10, 43, und Matth. 23, 12 aus Luk. 18,14 
hier als an nur ſcheinbar pafjendem Orte eingefhoben. So wird 
wol überhaupt der Evangelift den Eingang V. 1— 11 felbftändig 
mit Benugung von Mark. 12, 38—40 — Matth. 23, 6. 7 und 
Vorwegnahme von uf. 11, 46 = Matth. 23, 4 gebildet Haben. 
Bei Annahme der Unechtheit von V. 14 und mit Berüdkfichtigung 
der ſchon berührten Ausnahmen dürfte Matth. 23, 13—36 der 
urfprünglihe Tert treu wiebergegeben fein. (ebenfalls war 
Matth. 23, 29—36, wo der ausgeſprochene Gegenfag gegen die 
Phariſaer feine höchſte Steigerung findet, auch der Schluß der 
Weherufe, die dann in Matt. 15, 13f. zufammengefaßt wurden, 
um zulegt in die Ermuthigungsrede Matt. 10, 24—33 — ul. 
6, 40; 12, 2—9 auszulaufen. Auch hier ift bei den nur ger 
ringen Abweihungen dem matthäifchen Texte der Vorzug der Ur» 
fprünglidteit zu geben. 

Das Auffalendfte aber, das uns bei der Benugung diefes Rede 
ſtucks feitens der beiden Evangeliſten entgegentritt, ift doch der 
Umftand, daß die einzelnen Beftandtheile in den beiden Evan 
gelien in je ganz verfhiedenen Zufammenhang gefegt er 
feinen. Das fynoptifche Verhältnis beider Evangelien bietet uns 


Ueber Luk. 6, 39. 40 — Matth. 15, 14; 10, 24. 637 


ſeht viele Fälle derjelben Art dar. So ift e8 mit den Relationen 
der Ausfendungsreden. Da weiß Matthäus nichts von den 70 
Yüngern des Lulas, nichts von den zwei Ausfendungen Luk. 9, 1ff. 
und 10, 1ff. Welche Abfichten auch Lukas mit feinen 70 Jüngern 
gehabt Haben mag, es ift viel leichter anzunehmen, daß Lukas und 
Matthäus, aus deufelben Quellen ſchöpfend, in der Quellſchrift, 
die die längere Rede enthielt, Feine Angabe der Jüngerſchaft fanden, 
jo daß jeder der beiden Evangeliften ohne eine offenbare Fälſchung 
die ihnen vorliegende Rede einem anderen Zuhörerkreife gelten lafjen 
tonnte, als daß Lukas in Abhängigkeit von Matthäus diefe Aende- 
ung vorgenommen hätte. So konnte Matthäus. Nedebruchftüde 
wie 5, 13—15 — Lut. 14, 34. 35; 11, 33; 5, 25.26 — 
Luk. 12, 58. 59; 6, 9-13 — uf. 11.24; 6, 19-33 — 
ut. 12, 33. 34; 11, 34—36; 16, 13; 12, 22-31; 7, 7—11 

Quf. 11, 9—13; 7, 13—23 — ul. 13, 24—28 in feine 
Bergrede verarbeiten, die bei Lukas anderweitig untergebracht find. 
Beftandtheile einer Rede darüber, dag Wenige felig werden Luk. 
13, 23 ff., haben ſich nicht nur in die matthäifche Bergrede 7, 13—23, 
jondern auch in die auf diefelbe folgende Gedichte vom Haupt⸗ 
mann zu Rapernaum 8, 11 f. eingefchlihen. Wie verfchieden ift 
die Benugung von Matth. 10, 34— 39 und Luk. 12, 51 —53; 
14, 26. 27; 17, 33, wo offenbar Lukas das Zufammengehörige 
auseinandergerifjen hat! So hat der dritte Evangelift auch Matth. 
24, 3T—51 getheilt und die Theile an verfchiedene Stellen 17, 26. 
27. 35f. und 12, 39—46 gefeßt. Bl. noch Matth. 11, 26 ff. 
und Luk. 10, 21 ff. und Matth. 13, 16. 17; But. 12, 54ff. und 
Matt. 16, 2ff. 

Sole Discrepanzen zwifchen den beiden Evangelien laſſen ſich 
nur durch Annahme einer Spruch- oder Nedenfammlung 
als einer gemeinfamen Quellſchrift derfelben Löfen. Die Ber 
ſchaffenheit diefer muß diefe vielfach verfchiedene Benugung von 
Ausfprüden und Reden Jeſu ermöglicht Haben. Das wird 
dann der Fall geweſen fein, wenn in diefem Schriftwerke Sprüche 
und Reden Jeſu in der Regel ohne Angabe ihrer Veranlaffung 
aufgezeichnet geweſen waren. 

So erflärt es ſich, wie Nedebeftandtheile, die bei Matthäus in 

Theol. Stud. Jahrg. 1869, 42 











638 Brüdner 


die großen Redeſtücke verarbeitet find, bei Lukas zum Theil mit 
ganz nichtsfagenden Bemerkungen (10, 17.21.22.23; 11, 5.29; 
12, 22. 54; 18, 6; 14, 12; 16, 1; 17, 1. 22) eingeleitet 
werben fonnten oder auch mit befonderen Einleitungen verjehen find, 
welche Tediglich als von Lukas gemachte Arrangements und Ein 
faffungen für die vom ihm mitzutheilenden Reden und Ausſprüche 
Jefu angefehen werben müffen und baher eimen hiftorifchen Werth 
nicht beanſpruchen dürfen. Die Manier pragmatifirender Einlei- 
tungen ift, wie wir gefehen, ſchon dort bemerkbar, wo Lulas in 
ſynoptiſchen Erzählungsftoffen in ben beiden anderen Evangelien 
Baralielen hat. In dem fogenannten „Reifeberiht“ 9, 51 bis 
18, 14, der die gemeinfame fynoptifche Grundlage verläßt, tritt 
diefe Manier noch biel-dentlücher hervor. So find Hier die Ne- 
tigen zu beurtheilen, die fich auf die Reife Jeſu beziehen: 9, 51.57; 
10, 1.38; 11, 1; 18, 22; 14, 25; 17,11, fo die Phariſaer ⸗ 
gaftmähler 11, 37f.; 14, Lff. vgl. 7, 36ff., fo find außer 12,1 
auch 11, 1; 15, 1f.; 18, 1. 9 vom Evangeliften gemachte Ex 
nerieen. „Wir werden in dem ganzen Abfchnitt 9, 51 bis 18,14 
eine undronologifche und unhiſtoriſche Zuſammenſtellung zu erkennen 
haben, die wahrfcheinfich dadurch veranlaßt ift, daß Lukas manden 
evangelifhen Stoff fand, den er fonft nicht einzureihen wußte und 
daher Hier zufammenwarf* (de Wette, Exegetiſches Haudbuch 
[3. Aufl.) I, 2. ©. 76). Der Hiftorifche Hintergrund ift nur ein 
ſcheinbarer und die hänfig in Erwähnung gebrachte Reife nad Ir 
rufafem nur der Außerliche Rahmen, in welchen der dritte Evangeliſt 
Stoffe gefügt Hat, die ihm außer und neben der allgemeinen ſhuod⸗ 
tiſchen Grundlage quellenmäßig vorlagen. Daß es aber aud mit den 
matthäiſchen Redeftücden (auch abgefehen von ihrem Verhältnis 
zum Lukas) lediglich in ihrem Verhäftwis zum ganzen Schriftwerk des 
erften Evangeliums eine eigentümliche Bewandtnis hat, wird niemal | 
geleugnet werden können. Nur zu deutlich zeigt die ftehende Formel | 
7,28; 11,1; 18,53; 19,1; 26, 1, daß der Evangelift nad Be 
endigung feiner Redeſtücke, im deuen er recht eigentlich als der Schrift: 
gelehrte für's Himmelreich aus feinem Schage Altes und Neues hervor: 
bringt 13, 52, nicht felten zu dem in den Quellen vorgefundenen 
Alter Neues hinzufügend, weiter in dem ihm fonft zu Grumde 

| 





Ueber Auf. 6, 89. 40 — Malth. 15, 14; 10, 4. 639 


liegenden Texte fortfahren will. Auch Hilgenfeld, der ent- 
ſchiedenſte Gegner einer Spruchſammlung, muß bei feiner Annahme, 
daß die Bergrede und die „Abfchiedsrede* von ihrer urfprünglichen 
Stellung nad; der Auswahl der Zwölf und nad) der polemifchen 
Rebe im kanoniſchen Matthäus mit dem Zwecke, die eschatologifche 
Rede Kapp. 24 u. 25 an bie Stelle ber „Abfchiederede“ einzurücken, 
zurüdgeftellt worden feien, damit zugeben, daß die matthäifchen 
Reden in der Evangelienkritik eine befondere Berücfichtigung in 
Anſpruch nehmen. Und find es nicht gerade vorzüglich die matthäi« 
fen Reden, welche in ftörendfter Weife den hiſtoriſchen Fortſchritt 
unterbrechen, vornehmlich barin meift ihre verfrühte Stellung fund 
geben, daß fie Ausſpruche wie 7, 22f.; 10, 18.23. 32f. 37f. 40; 
beſonders anffallend Matth. 11, 25—30 vor der Anerkennung ber 
Meffianität Jeſu im Züngerkreife und der Hinweiſung auf das ihm 
beoorftehende Leidensgeſchick, weiche nad beiden Seiten Hin nur ala 
erftmalige Eröffnungen eine Bedeutung haben Matth. 16, 13—28, 
bringen. Danach dürften diefe Redeftüce auch mit der von Keim 
vorausgefeigten Anlage des Evangeliums, nach welcher zwei Stufen 
des öffentlichen Lebens Jeſu: Amtsantritt in Galilda und Antritt 
des Todesganges Matth. 4, 17 und 16, 21, beide duch arzd zore 
je&aro bedeutjam eingeleitet 2), zu unterſcheiden wären, nicht in 
Harmonie und Webereinftimmung zu bringen fein. 

Nichts ift auf dem Gebiete der Evangelienkritit fo leicht nad» 
zuweiſen, nichts dürfte in feiner Evidenz jo unzweifelhaft die An- 
erlennung eines geficherten Reſultats verdienen, als die Aunahme 
der gegenfeitigen Unabhängigkeit zwifchen dem erften und britten 
Evangelium *). Die entgegengefetste Annahme muß bei der Durch⸗ 





a) Iefns von Nazara, ©. 5b. 

b) Bgl. Holgmann a.0.D., ©. 163. und Wei, Jahrbucher für deutfche 
Theologie 1865, ©. 320ff. Wenn Keim (Iefus von Nazara, S. 102) 
diefe Annahme Holgmanns als etwas Ungeheuerliches darzuftellen fucht, 
fo dürfte er ſelbſt fi) die Schwierigfeiten, die mit der Entgegengefeßten 
Anſchauung verbunden find, kaum Mar vorgeftellt Haben. Vgl. jedod) 
©. 74, wo Keim felbft „die einfache Benugung ber Evo. untereinander“ 
beauſtandet. 

42* 


0 Brüdner 


führung im Einzelnen auf jedem Schritt und Tritt auf Unerklär 
lichleiten und unüberwindliche Schwierigkeiten führen. Sie ift nicht 
nur unwahrſcheinlich, jondern geradezu unmöglich. Nur Volkmar 
fegt Heute die Abhängigkeit des Matthäus von Markus und Lukas 
voraus. Von anderen Gründen abgefehen, ift für uns diefe An- 


fiht ausgefchloffen dadurch, daß das erfte Evangelium unverkennbar | 


den Zeitpunkt feiner Entftehung furz vor der Zerftörung Serufa- 


lems (unter Titus im Jahre 70) auzeigt und damit einen fichern | 


Halt für die Evangelienkritit darbietet, das Lulasevangelium hingegen, 
wie fein Verhältnis zur Apoftelgefchichte es unabweislich darthut, 
einer viel fpäteren Zeit (Ende des 1. Jahrhunderts) angehört. 
Die Annahme einer Benugung des erften Evangeliums 
durch Lukas aber ift durch das eigentümliche Verhältnis der Ber: 
wandtſchaft und des Unterfchiedes zwiſchen beiden Schriftwerten 
unzuläßig. Erftens gibt Lukas eine mythiſche Kindheitsgefchichte 
Rapp. 1 u. 2 und eine Genealogie 3, 24—38, die fi mit der 
matthäifchen Genealogie Matth. 1, 1—17 und matthaiſchen Kind- 
heitsgeſchichte 1, 18 bis 2, 23 gar nicht berühren, offenbar in 
Abhängigkeit von nur ihm zu Gebote ftehenden Quellen. Zweitens 
zeigt Lukas in den Partieen feines Schriftwerfs, die mit dem Markus 
evangelium paralfel laufen, d. 5. aber, die allen Synoptifern ge 
meinfam find: Luk. 4, 14 bis 6, 19 — Mark. 1, 14 bis 3,19; 
Luk. 8, 4 bis 9, 50 — Marl. 3, 31 bis 9, 40; Lut. 18, 
15—43 — Mart. 10, 13— 52; Lut. 19, 28 bis 24, 53 = 
Mark. 11, 1 bis 16, 8 Lediglich eine Abhängigkeit von 
Markus. Eine unbefangene Vergleihung diefer Partien muß die 
umgefehrte Vorausjegung geradezu für eine Unmöglichkeit erklären. 
Wo Lukas in den bezeichneten Partieen über den Markustert 
hinausgeht: 4, 16—30; 5, 1—11. 17. 39; 6, 12; 9, 31f. 
43; 18, 34; 19, 39—44; 21, 18—20. 22. 24. 28. 34—38; 
22, 8. 15—17. 24—32. 35—38. 43. 44. 49. 51. 65. 
67f.; 23, 2—16. 27—31. 34. 36. 40—43. 46. 48. 56; 
24, 3.5. 7f. 11—53, da find es eigentümliche Tufanifce 
Bildungen, die er felbftändig zufügt und ift Hier nirgenbe 
eine matthäifche Spur wahrzunehmen. Andererfeits hätte er bei 
der Benugung bed Markus Mark. 4, 26—34; 6, 17—29; 


Ueber Cut. 6, 39. 40 = Matth. 15, 14; 10, 24. 2 


6, 45 bis 8,26; 8, 32.; 9,9—13; 9, 21—29 9); 10, 1—12. 
4—26; 10, 35—45; 11, 12—14. 20—25; 12, 28—34; 
14, 51f.; 15, 16—19. 34 —38 ausgelaffen. Bei allen 
Abweichungen des Lukas, wie überhaupt Lukas feine Quelle mit 
Freiheit benutzt hat, ift eine Annäherung des Lukas an den Matthäus: 
tert in dem bezeichneten Partieen nirgends angezeigt. Unerklärt bleibt 
nur noch das Verhältnis von Mark. 1, 1—13 und Luk. 3, 1 
bis 4, 12, fowie Mark. 3, 20—30 und Luk. 11, 17—23. Res 
fuftirt aus der Eritifchen DVergleihung zwiſchen Markus und Lukas 
bie Originalität des erfteren und die Abhängigkeit bes legteren, ohne 
daß der matthäifche Text irgend einen Einfluß auf den Iufanifchen 
gebt Hätte, jo muß uns bei Berüdfichtigung von Matth. 3, 1 
bie 4, 11 und 12, 22—32 die Annahme am wahrfchein- 
fihften werben, daß Mark. 1, 1—13 und 3, 20—30 in unferm 
weiten Evangelium nur in Tüdenhafter Geftalt uns vorliegen. 
Drittens finden fi zwifhen den aus dem Markusevangelium 
genommenen Stoffen an drei Stellen große Einfhaltungen 
Luk. 6, 20 bis 8, 3; 9, 51 bie 18, 14; 19, 1—27. Hier 
find neben Partieen, die Lukas allein eigentümlich find, folche, zu 
denen nur im Matthäus ſich Parallelen finden (im Markus außer 
Auf. 11, 22—27 — Mark. 3, 20— 30 nur einige Anklänge: 
Auf. 10, 3-11 — Mark. 6, 8—11; ul. 11, 33 — Mart. 
4,21; Sul. 11, 43 — Mark. 12, 38. 39; Sul. 12,1— 
Mark. 8, 15; Luk. 12,2 — Marl. 4, 22; Lut. 12, 10 — 
Mark. 3, 29; Lut. 12, 11f. — Mark. 13, 11; Sul. 13, 30 = 
Mark. 10, 31; ul. 14, 34 — Marl. 9, 50; Luk. 17,1= 
Mark. 9, 42; Lut. 17, 23 — Marf. 13, 21; Luk. 17, 3 — 
Mart. 8, 35; Luk. 19, 26 — Mark. 4, 25), aber bei beiden 
Evangeliften in fo verfchiedener Verwendung, daß nicht die Be— 
nutzung des Matthäusevangeliums durch Lukas, vielmehr eben die 
gemeinfame Benugung einer Quellfgrift, ber Spruch— 


a) Matt. 9, 41-50 erſcheint in unferm zweiten Evangelium fo abgeriffen 
und fremdartig, daß ich diefe Berfe als von fpäterer Hand eingefchobene, 
einer Vergleichung mit Matth. 10, 42; 18, 6-9; 5, 18 entflammte 
Interpolation zu beurtheilen geneigt bin. 


642 Brädner 


oder Redenfammlung, angezeigt ift. Blicken wir vom hier 
aus zurück auf die Infanifche Bergpredigt 6, 20—49, welche, wie | 
wir gezeigt haben, einen ganz beftimmten hiftorifchen Zeitpunft, di 
Auswahl der Zwölf, vorausfegt und fi dadurch zu dem übrigm 
Reden der Spruchſammlung in Gegenjag ftellt, jo find wir nad 
Holsmann (Spnoptifhe Evangelien, ©. 75ff.) geneigt, fie ad 
nicht dort zu fuchen, vielmehr anzunehmen, daß Lukas die Vorlage 
zu feiner Bergpredigt in der ihm vorliegenden Markusfchrift zu 
gleih mit dem Hauptmann zu Kapernaum uf. 7, 1—10 = 
Matth. 8, 5—13 nad Mark. 3, 19 gelefen habe. Allerdings it 
die Hypothetifche Natur diefer Vermuthung nicht zu leugnen. Die 
Frage nad) der Bergpredigt ift die fehwierigfte, welche das ſynop⸗ 
tifche Probfem überhaupt ftellt. Iſt jonft da® Gebiet der Sprud: 
fammlung abgeſteckt und dieſe dadurch faßbar geworden, fo läßt 
fi erft über die Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit der Berg 
predigt zu berjelben verhandeln. 

Wie e8 ſich mit diefer Frage auch verhalten möge, die Durd- 
fitigkeit der Compofition des Lukasevangeliums gewährt, vor allem 
einen Blid in den Inhalt der Spruhfammlung. Derſelbe 
ift in den Einfcaltungen, durd welche Lukas den Fluß der aus 
Markus genommenen Erzählung unterbricht, zu juchen. Auch Weis 
erfennt, zu Holgmanns Ausführung *) feine Zuftimmung gebend, 
an, „daß viele Redeſtücke aus diejer Quelle bei Lukas noch in der 
urfprüngli—hen roheren Zufammenfügung, bei unferem erften Evan 
geliften bereits in fünftficher Verarbeitung erſcheinen ®). 

Iſt aus einer BVergleihung zwiſchen Markus und Lutas zu 
erfehen, daß Lukas im ganzen feiner Quelle vornehmlich in der 
Folge der Gefchichtserzählung treu geblieben ift (mur die Um 


a) a. 0. D, ©. 126—187. 

b) Die Redeftüe des apoſtoliſchen Matthäus, Jahrbücher für deutfehe Lie 
logie 1864, ©. 50. Dagegen aber heißt es in der Abhandlung: Di 
Erzähfungsftüde des apoftofifchen Matthäus, Jahrbücher für deutſche Teo- 
logie 1865, ©. 359, „daß die apoftofifche Quelle nad) diefen (wäh 
den matthäifchen) Nebeftücten disponirt war, und allen Stoff, den fir von 
einzelnen Ausfprücen oder Erzählungsftüden ſammelte, zwiſchen dieſelben 
einſchaltete“. 





Ueber Luk. 6, 39. 40 — Matth. 15, 14; 10, 24. 648 





ftellungen Sul. 6, 12—19; 8, 4—21; 22, 14—23. 54— 71 
und die einzige völlige Enthebung von 11, 17—26 =" Mark. 3, 
22—30, aus dem urſprünglichen Zufammenhang, außerdem nad) 
uf. 4, 16—30 und 5, 1—11, mit Mart. 6, 1—6 und 4, 16—20 
zu vergleichen, find Ausnahmen), fo wird uns eine ähnliche Be- 
mugung der Spruch⸗ oder Redenſammlung auch wahrſcheinlich. 
Wie Häufig iſt fchon die Stellung der polemiſchen Rebe Luk. 11, 
39—52 als eine verfrühte bezeichnet worden, unfere Unterſuchung 
beftätigt (nicht die. Hiftorijche Nichtigkeit, aber wol) die Urſprung⸗ 
lichkeit diefer Stellung in der Quellfchrift und rechtfertigt wenigſtens 
an diefem Punkte die Eonftruction Holgmanng®), wenn auch 
nicht für ihm, aber wol für und Luk. 11, 53f.; 12, 1 dahin» 
fällt, ftatt deffen Matth. 15, 13f.; 10, 24. eintritt, 

Ebenfo. gehörte gewiß urjprünglih zu der Ausfendungsrede 
&uf. 10, 2—12, als unmittelbare Fortſetzung Sul. 10, 13—16 
u. 21 —24, was Matthäus, weil es zu feiner Medecompofition 
Rap. 10 nicht paßte, davon getrennt und hinter die Anfrage des 
Taufers geftellt Hat 11, 21—24 u. 25—30. Das in die Reber 
compofition Kap. 10 noch aufgenommene Wort 10, 15 — Lut. 
10, 12 mit dem Matth. 11, 22. 24 ſich wiederholenden Refrain 
gibt einen Einblick in den gemachten Riß. Nach Matth. 11, 24 war 
nun V. 16 des Lukas — Matth. 10, 40 vorläufiger Schluß, der in 
Matth. 10, 41f.») ſich fortfegt, was Lukas ausgelaffen, weil er 
Wr 16 die gaftliche Aufnahme der Jünger, von welcher bie ur— 
fprüngliche Rede handelte, in die andere Vorftellung von dem Hören 


8) a. a. O. ©. 150f. 

b) Matth. 10, 41 wird im Folgenden Matth. 18, 17 „die Propheten und 
die Gerechten“ wieder aufgenommen. . Die Matth. 10, 42 genannten 
paxgoi, die in Rüdficht darauf, daß fie Jünger find, aufgenommen, mit 
einem Becher Waſſers getränkt werden, Teiten am ummittelbarften zu den 
vonlors Lut. 10, 21 = Matth. 11, 25 über, wie denn jedenfalls bie 
Aiaxooc dort und die »rzras hier dieſelbe Bedeutung „Geringe, Einfältige” 
im Gegenfäte zu den Weifen und Einfihtigen (Schriftgelehrten und Pha- 
vifdeen) haben. Matth. 10, 42 ift alfo Hier uriprünglich umd nicht aus 
Mark. 9, 41 abzuleiten. Der unerhörte Ausbrud dr Xgorod Eure 
muß letzteres als fremdes Einſchiebſel aus dem Texte verweiſen. 


6 Brüdner 


ober Verwerfen der Predigt verwandelte und dazu Matth. 10, 41f. 
nicht brauchen konnte. Num jchloß fih Matth. 11, 25—27 
— uf. 10, 21f. an und unmittelbar daran Luk. 10, 23f. = 
Matth. 13, 16. 17. Den Schluß bildete Matti. 11, 28—30, 
mas Lukas ausließ. Ein fehr überzeugender Zug ber Eonftruction 
Holgmanns ift die Annahme, daB die Anfrage des Täufers 
Matth. 11, 2—19 — uf. 7, 19—35 der Anfang der Sprud- 
fommlung gewefen *). Dafür fprechen allerdings viele Gründe. 
Nicht nur ift in der That (wenn Holgmanns Anſchauung von der 
Bergrede richtig) dieſes Stüd das erfte, das uns aus der Sprud- 
fammlung im Lulas mitgetheilt wird, fondern aud) der Inhalt 
des Stüds rechtfertigt nach allen Seiten diefe Bermuthung. Dann 
bezeugte dieſe Anfrage, daß der Täufer jegt erft anfing (übrigens 
unbeftimmt, wann ?), feine Meiftaserwartung mit der Berfon Jeſu 
zu verbinden. Diefes ftimmte allein mit ber Taufgeſchichte Mart. 
1, 9—11, wo nur Jeſus die drei Momente: den geöffneten 
Himmel, den herablommenden Taubengeift und die Himmelsjtimme 
wahr» und vernimmt. 

Wie nun ferner Lukas bei Benugung der Martueſchrift vielfach 
Auslaffungen vorgenommen, im Einzelnen gekürzt, zuſammen ⸗ 
gezogen hat, fo werden wir ebenfalls bei der Benugung der Spruch⸗ 
ſammlung ähnlihe Auslaffungen, Zufammenziefungen im 
Intereſſe der Kürze zu vermuthen haben. Unfere Unterfuchung 
gibt wenigſtens für einen einzelnen Fall die Betätigung. Nicht 
nur ift zwiſchen Luk. 11, 38—52 und 12,2—9 Matth. 15, 13f.; 
10, 24f. ausgelaffen, auch Luk. 11, 39—52 erfcheint durchweg 
als ein Auszug aus einem Tängeren Original. So werben wit, 
um nur einige wenige Beiſpiele anzuführen, das Fehlen von Matth. 
11, 12—15 nad} Luk. 7, 28, von Matth. 10, 41 f. nad Lul. 
10, 16, von Matth. 11, 28—30 nad; Luk. 10, 24 zu beurtheilen 
haben. Es ift im Höchften Grade wahrſcheinlich, daß das Redeſtüd 
Luk. 12, 16—53: die irdifhen Güter und das Endgut, 
zu welchem das Gleichnis 12, 16—21 den grundlegenden Anfang 
bildete, zwar in der Afofuthie der einzelnen Gedanken (nur ſcheint 


®) 0.0. O., ©. 145: 


Ueber Lu. 6, 39. 40 — Matth. 15, 14; 10, 24. 645 


Sul. 12, 33b. 34 — Matth. 6, 19f. wie bei Matthäus vor 
uf. 12, 22. — Matth. 6, 25 ff. ftehen zu müffen, weil fo 
allein die Schäge V. 33b. 34 an da8 Schägefammeln V. 21 un— 
mittelbar anknüpfen; die Meine Herde B. 32. 338 ift, wie pau- 
finifcher Gedanke und Ausdruck zeigt, vom Evangeliften eingejchoben) 
der urfprünglichen Vorlage gefolgt ift, aber auch, daß es urfprüng- 
lid, viel länger gewejen. Hier war der Ort für den ganzen Ums 
fang von Matth. 6, 19—33 (alfo auch Luk. 11, 33—36 und 
16, 13), ferner den ganzen Umfang von Matth. 24, 37—51 
(alfo au Luk. 17, 26—30. 34—36) und aud den ganzen Ums 
fang von Matıh. 10, 34—39 (alſo aud Auf. 14, 26f., wovon 
ſich Luk. 14, 27—33 nicht trennen läßt, und endlich Luk. 17, 33). 
Dana. wären Lu. 14, 26— 33; 16, 13 und 17, 26— 30. 
33—36 als fpätere Nachträge anzufehen. Entfpricht nicht etwa 
die charakterlofe Natur des Stüde 17, 22—37, das ein buntes 
Gewebe verſchiedener Stoffe bietet, diefer Vermuthung? Leicht 
wäre es, aud uf. 16, 16—18, diefe „wahre Rumpelfammer“ 
verfchiebenfter Dinge, wie Strauß fich äußert, fo zu beurtheifen. 
Wenn aber bei genauer Betrachtung die Wahrnehmung unabweislich 
ift, daß Luk. 16, 19ff. mit völliger Nothwendigkeit an 16, 14.15 
ſich anſchließt und daher im Gegenfag zu der fonftigen Manier 
des Lutas ein ZAsys dE xai nagaßoiiv oder Aechnliches ver⸗ 
miffen läßt, fo müffen die Sprüche 16, 16—18 als Einſchiebſel 
fpäterer Hand, als nicht lukaniſche Interpolation erfcheinen. Sehr 
deutlich ift die auszugartige Geftalt der Rede Luk. 13, 24—30 
(= Matth. 7, 13. 14. 22. 23; 8, 11. 12; 20, 16), daß 
Wenige felig werben, bie ganz in die Gedankenreihe uf. 12,54 
bis 13, 9 zurüdgreift. Nach dem Eingange Luk. 13, 24a — 
Matth. 7,138: „Gehet ein durch die enge Pforte“ hat Lukas Matth. 
7,13b. 14 ausgefaffen. Dann folgte Luk. 13, 24b (fo daß das 
Insnoovav elgehdebv feine richtige Beziehung auf eis zmv Lamv 
hatte). Darauf der Grund, warum nur Wenige felig werden 
Matth. 7, 21 (von Lukas ausgefaffen). Diefer allgemeine Sag, 
in Luk. 13, 25 bifdfich wiederholt, wurde nun im Folgenden in 
zwei Beifpielen fpecificirt uf. 13, 26. 27 und Matth. 7, 22.23, 
die nichts anderes als zwei Glieder eines Parallelismus find, in 


646 Brädner 


welche die beiden Cvangeliften ſich getheilt Haben. Das ev exsim, 
eñ qjusec Matth. 7, 22 gewinnt nur fo eine Beziehung, nämlich 
anf vLuk. 13, 25. Darauf kam Luk. 13, 28. 29 — Matth. 8, 
11, 12 ein anderes zoAlos, die Heiden im Gegenſatz zu den 
Juden. Zuletzt Luk. 13, 30 — Matth. 20, 16, ein Schluß, der 
bier trefflich motivirt iſt. 

Wie Lulas feine Marfusquelle mit großer Freigeit benutt 
hat, fo wird er ſich auch der Spruchſanmnlung gegenüber diefelbe 
Freiheit erlaubt haben. Wir Haben bei umjerer Unterjucung 
unfer Zutranen zu der größeren Originalität von Matth. 23, 
13 —36; 15,.13f.; 10, 24—33 im Gegenfage zu den Um 
biegingen in Lut. 11, 39—52; 6, 39f.; 12, 2—9 zu erfennem 
gegeben. Durchweg ift die größere Treue des Matthäus in der 
Wiedergabe des Einzelnen in den parallelen Texten zu würdigen. 
Im diefer Hinficgt müfen wir Weiß in feiner Beurtheilung der 
„Rebeftücte des apoftolifchen Matthäus“ (Jahrbücher für deutihr 
Theologie 1864, ©. 49—-140), auch Weizfüder im feinen 
„Unterfuchungen über bie evangelifche Geſchichte“ (Abfchnitt: Reden 
fammlung) zuftimmen. Vorzüglich hat Letzterer trefflich nadge 
wiefen, wie fi in den Partieen der Redenſammlung, die fih im 
dritten Evangelium finden, häufig bie Unterlage einer fpäteren Zeit 
verräth, beſonders hinfichtlich der Ausfendimgsrede Matth. 10 ve. 
mit Cut. 10 ©. 163, und der antipharifäifchen Rede Matth. 23 
vgl. mit Luk. 11, 37ff. (©. 176f.). 

Wie Lukas zwiſchen die dem Markus entlchnten Geſchichtsſtofft 
größere und Heinere Einfhaltungen fügt, fo find amd in den 
Theilen des Schriftwerts, in welchen die Spruchſammlung benugt 
ift, jehr viele Stoffe auf Rehnung des Evangeliften p 
fegen und der Zugehörigkeit zur Spruchſammlung zu entheben. 
In unferer Tinterfuhung find uns 11, 375. 45. 533 f.; 12,1 
als Iukanifche Einfhaltungen erſchienen. Dergleichen Iutanifhe Ein 
Teitungen, Einrahmungen, Webergänge haben wir bereits oben ge: 
kennzeichnet. Nicht darauf allein befchränfen fich die lukaniſchen 
Bildungen des Evangeliums. In den Einjchaltungen Lut. 6, 20 
tefp. 7, 11 bie 8, 3; 9, 51 bie 18, 145.19, 1—27 find mit 
voller Sicherheit nur diejenigen Stüde für Beftandtheile der Sprud- 





Ueber Luk. 6, 39. 40 — Matt, 15, 14; 10, 24. 647 


ſammlung zu Halten, die ihre Parallelen im Matthäus haben. 
Im Uebrigen. ift -äußerfte Vorficht und kritiſche Sichtung unerläß- 
lich. Nur diejenigen Redeſtücke werden wir für Beſtandtheile der 
Spruchſammlung halten Tönnen, aud wenn fie nur im Lukas 
ftehen, wenn fie nachweisbar durch Darftellungsweife und Spradh- 
colorit ihre Zugehörigkeit zur Spruchſammlung documentiren; fo 
entfgeidet der parallelismus membrorum in 13, 1—5, die Ber- 
bindung von 14, 26f. mit 14, 28—33, ebenfo 15, 4—10 für 
die Spruchſammlung; jo erweifen ſich gegenfeitig als Beftandtheile 
der Spruchjammlung die ähnlich gebildeten Stüde: 11, 5—8. 
1 = Matth. 7, 9f.; 12, 25 — Matth. 6, 27; 14, 28ff. 
31ff.; 15, 4ff. — Math. 18, 12—14; 15, 8ff.; 17, 7ff.; 
oder Lut. 12, 37 ff. 43 — Matth. 24, 46; 12, 47 f.; oder 
12, 16—21 und 16, 19 und 18, 1—8. Ohne Zmeifel richtig 
ift «8, wenn Holgmann folgende Stüde: 7, 11—17. 36—50; 
8, 1-3 (vgl. Mark. 15, 40. 41); 9, 61-56; 10, 38—42; 
13, 10—17; 17, 11—19; 19, 1—10 ans fpäteren Quellen, 
aus der Tradition, aus unbeftimmbaren Diegefen gebildet fein läßt. 
Es ift aber noch) gewiß fehr vieles, was Holgmann ©. 157ff. 
der Spruchſammlung zutheilt, diefer zu entziehen. Das Kapitel 
von dem Sprachcharalter der Spnoptifer, die werthvolffte Partie 
des ausgezeichneten Werts (S. 271 — 358) muß noch ferner als 
eigentlich Lufanifhe Bildungen im Anfprud nehmen: 10, 
17—20. 25—37; 12, 18— 15; 18, 31—33; 14, 1—7; 
15, 1—3. 11—32; 16, 145. 19— 31; 17, 20—23; 18, 9—14. 
Daher richtig Weiß ): „Lukas Hat zwar ebenfalls jene beiden 
älteften Quellen, aber ungleich freier (al8 Matthäus) benugt, da 
er fie duch neue Stoffe aus einer reichen mündlichen oder fchrift- 
lichen Ueberlieferung bereicherte.“ Nach diefen Abgrenzungen ift 
nun ber Stoff, den Lukas aus der. Spruhfammlung in fein Schrift- 
werk aufgenommen hat, leicht zu überjehen. Eine genaue Prüfung 
der leicht auszufcheidenden dahin gehörenden Reden und Sprüche 
wird die Einheitlichkeit der Anſchauungsweiſe und des Sprachcharakters 
als jicherfte Probe der Richtigkeit unferer Ergebniffe darthun. — 


a) Jahrbücher für deutſche Theologie 1864, S. 189. 


648 Brüdner 


Ganz anders erſcheint die Benutzung der Spruch. oder Reden 
fammlung im Matthäusevangelium. In den Redeftüden 
des Matthäus find die borther genommenen Stoffe künſtlich ver- 
arbeitet. Diefe Nedeftüde find Eompofitionen des Evan- 
geliften. Am evidenteften iſt die fünftliche Zufammenftellung der 
Bergpredigt. Auch diejenigen, welche für die Originalität der 
matthäifchen Bergpredigt plaidiren, müfjen wenigftens etliche Be⸗ 
ftandtheile auf die Bearbeitung des Evangeliften zurückführen und 
von den älteren Beftandtheilen unterſcheiden. So gehört nad 
Hilgenfeld*) Matt. 5, 10—12. 18f.; 6, 14f.; 7, 6-11. 
15—23 unferm Evangeliften; nad) Weiß ®) find die Sprüdje über 
den Jungerberuf 5, 18—16, der Sprud) vom Widerſacher 5, 25f., 
das Vaterunſer mit feiner Einrafmung 6, 7—15, ber große Ab 
ſchnitt vom Sorgen und Schägefammeln 6, 19—34 und der Ab 
ſchnitt vom Gebet 7, 7—11 Einſchaltungen, welche dem urfprüng- 
Tichen Eontert der Bergrede nicht angehört Haben, die auch urfprüng- 
lich nur mit vier Sefigpreifungen begann °). Wir Haben in umferer 
Unterfuhung die Zufammenftellung der Ausfendumgs- oder 
Abſchiedsrede Kap. 10 hervorgehoben. In Kap. 11 fügte der 
Evangelift zu ber die Anfrage des Täufers berüdfichtigenden Rede 
V. 2—19 die urfprünglie Fortſetzung der Ausfendungsree 
V. 21—30 Hinzu. In der Parabelrede Kap. 13 bezeichnet der 
Abſchluß V. 34 vgl. mit Mark. 4, 33 f., daß das Folgende, 
B. 36—53, Hinzufügung des Evangeliften zur urfprünglicen 
Vorlage ift ). Hinfihtlih der polemiſchen Rede haben wir ge 
fehen, daß der Anfang 23, 1—12 eine vom Evangeliften ge 
bildete Einfeitung ift. Die eshatologifhe Rede Rap. 24 


a) Zeitſchrift für wiſſenſchaftliche Theologie 1867, Heft 4: Das Matthäus 
ewangelium aufs neue unterfucht. 

b) Jahrbb. für deutſche Theologie 1864, ©. 53. 

o)a.a.D, S. 66. 

d) In den Reben Kap. 12 dürfte nur 12, 82 — ul. 12, 10; 12, 39. 

“. 41.42 — Sul. 11, 29-32 und 12, 43—45 — Sul. 11, 4—26 aus 

der Spruchſammlung genommen fein; und in Kap. 18 nur 18, 6-9 = 
Mt. 17, 1.2; 18, 12.18 — $ul. 16, 4—7 um 18,15.2 = 
Lut. 17, 3. 4 aus derjelben Duelle kommen. 








Ueber Luk. 6, 89. 40 — Matth. 15, 14; 10, 24. 69 


feidet fi in zwei fehr verfhiedene Hälften ©. 1—35 
und B.36—51. In beiden Hälften wird derjelbe Gegenftand, die 
Wiederfunft Chrifti, aber in fehr verfchiedener Auffaſſung beſprochen. 
In der erften Hälfte gehen der MWiederkunft Ehrifti Vorzeichen 
voraus, als das gewaltigfte und Iegte die Zerftörung Jeruſalems; 
in der zweiten Hälfte ift hingegen das Erſcheinen Chrifti etwas 
Plögliches und Unerwarteted und daher Ueberrajhendes. In der 
erften Hälfte wird das Zeichen des. Menſchenſohnes am Himmel 
gejehen mit unverfennbarer Beziehung auf den danieliſchen Wolten- 
mann, verbunden mit wunderbaren Erfcheinungen an Sonne, Mond 
und Sternen, er fendet voraus feine Engel und beruft die Er— 
wählten von den vier Enden; in der zweiten Hälfte fol der wieder- 
tommende Herr zu den überrafchten Seinigen eintreten, wie ber 
Hausherr zu den Knechten. Yu der erften Hälfte ift das herrliche 
Kommen Eprifti nur ein Grund der Freude für feine Erwählten, 
alle Drangfal Hat ein Ende, alle Hoffnung ift herrlich erfült; in 
der zweiten Hälfte ift der Gedanke des kommenden Richters der 
herrſchende. In ber erften Hälfte ift das fehnfüchtig erwartete 
Ende ganz nah bevorftehend, es ift vor der Thür, die Anzeichen 
des Erfcheinens Ehrifti können den Gedanken an einen Verzug gar 
nicht auflommen laffen; in der zweiten Hälfte weiß man ſchlechter⸗ 
dings nicht, wann der Herr fommt, und kaun ſich den Gedanfen " 
des Verzugs hingeben. Dieje Grundverſchiedenheit ber 
Vorſtellung kann nur auf zwei verſchiedene Quellen hin— 
weiſen. Der Evangeliſt hat die beiden verſchiedenen Stücke, aus 
zwei Quellſchriften ſchöpfend, aneinandergefügt, indem er 
V. 36 zwiſchenſchob, um mit diefem felbjtändig gebildeten 
Sag den Uebergang zu der zweiten Hälfte zu maden*). Dazu 
werden dann in Kap. 25 noch weitere eschatologifche Stoffe gereiht. 





8) Sehr treffend ift die Bemertung Wei’ (Jahrbb. für deutſche Theol. 1864, 
©. 122), „daß die Parufierede höchft naturgemäß mit Mark. 13, 31 
(= Matth. 24, 35) abſchloßz“. So weit geht aud Lukas mit dem 
Markus. Bon hier ab gehen die drei Coangeliften ganz auseinander. 
Der paränetiiche Schluß des Markus 13, 82—37 ift eine ſpätere Inter - 
polation, welde in Anfnüpfung an den matthätfchen Tert die dort ge- 
leſenen Gedanten für Lefer einer fpäteren Zeit paränetiſch zuſpitzt. Hin« 


650 Brüdner 


Insbeſondere hat Weizfäder fih zu der Behauptung ver- 
leiten laſſen, daß die Redeſtücke des Tanonifchen Matthäus wefent- 
lich in derfelben Neihenfolge auch ſchon in der urfprünglichen Reven- 
fammlung geftanden und den älteften Kern berfelben (a. a. O, 
©. 184 ff.) gebildet haben mochten. Es hängt diefe Bermuthung 
bei Weizfäder zufammen mit ber fehr eigentümlichen Anficht, 
nach welcher jene ältefte Quelle, gewifjermaßen in Fiterarifcher Prö- 
eriftenz, einen Gntwidelungsproceß ‚durchgemacht haben full und 
daher bem erften Evangeliften in einer älteren, dem britten hin 
gegen in einer jüngeren veränderten Gejtalt, die Lukas zu feinem 
Neifebericht veranlaßte, vorgelegen hätte. Wie foll man ſich nun 
aber eine folche Verwandelung der matthäifchen Redenſammlung in 
die lukaniſche vorftellig machen? 

Wenn Weiß auch anerkennt, dag die matthäiſchen Redeſtüch 
künftliche Verbindungen. urfprünglich anders geordneter Stoffe dar- 
bieten, jo kommt andererjeits feine Abhandlung über die „Medeftüde 
„des apoftofifchen Matthäus“ (Yahrbücher für deutfche Theol. 1864) 
durchweg zu dem Refultat, daß der gefamte Inhalt der Redeſtüde 
unſeres fanonifchen Matthäus bereit8 im apojtolifchen Matthäus 
voranszufegen fein foll, und unfer erfter Evangeliſt hätte es nur 
verfucht, „die alte Apofteljchrift jo vollftändig wie möglich in feine 

" umfafjendere Darftellung des Lebens Jeſu hineinzuarbeiten *). Auer: 
dings wird dadurch die Abficht erreicht, „daß die Kirche nicht mit 
Unrecht diefe Schrift als das Evangelium nad) Matthäus bezeichuet 
hat“. Dem erften Cvangeliften würde damı aber faft nur die 
Redaction bereitd vorhandener Stoffe zuzujchreiben fein. ‚Außer 
der Vorjegung der Kindheitögefchichte, der häufig verſuchten Nach— 
weifung der Erfüllung altteftamentlicher Weißagungen, dem Zufatt 
der ihm eigenen Züge in der Leidensgeſchichte würde fich nad 


gegen dürfte obige Nachweiſuug der Diffouauzen zwiſchen Mark. 13, 1-31 
= Matth. 24, 1—35 u. 37—51 aud gegen Weiß Meinung 
daß ebenfalls Mark. 13, 1—31 — Matth. 24, 1—35 im apoſtoliſchen 
Matthäus zu ſuchen fei, entſcheiden. 

3) a. a. O., ©. 139. 





Ueber Luk. 6, 39. 40 — Matth. 15, 14; 10, 24. 651 


Weiß' Darlegung *) kaum noch etwas als Eigentum des Evan- 
geliften auffinden laffen. Das gefamte Matthäusevangelium wäre 
faft lediglich Compilation. AL folde aber ließe es ſich litera⸗ 
riſch nicht begreifem Gegen eine ſolche Vorftellung erheben die 
eigenften Eigentüimlichfeiten des erften Evangeliums den ent 
ſchiedenſten Proteft. Es Laffen fih im Matthäusevangelium drei 
leitende Gefihtspunfte aufzeigen, welche auf die Abfafjung 
des erften Evangeliums beftimmend und bedingend eingewirkt haben. 
Diefe brachten es nothwendig mit fich, daß der Verfaſſer, die aus 
den ihm vorfiegenden Quellichriften genommenen und für fein 
Schriftwerk benugten Stoffe bearbeitend, dasfelbe auch ſehr wefent- 
lich mit ihm eigentümlichen, die alfo, um uns eines allgemein 
güftigen Sprachgebrauchs zu bedienen, matthäiſchen Urfprungs 
find, bereicherte. Erjtens will das Evangelium den Nachweis 
der wahren und rehten Erfüllung des Alten Teſta— 
ments durd Jeſus Ehriftus, den Sohn Davids, liefern. 
Doher der mit unverfennbarer Abfichtlichkeit geführte Ermeis, daß 
einzelne Ereigniffe nur geſchehen find, damit ein altteftamentliches 
Wort, eine prophetifche Weißagung in Erfüllung gehe. Die auf 
den Evangeliften zurüdzuführenden Citate (1, 22f.; 2, 5f. 15. 
17. 23; 4, 14ff.; 8, 17; 9, 13; 12, 5—7. 17—21; 18, 
14f. 85; 21, 4. 5. 16; 27, 9. 35) bieten in der Regel 
(Ausnahmen 1, 22f.; 9, 13; 12, 7 umd 13, 14f.) eine freie 
Benwgung des Urtertes, während die mit Markus gemeinfamen 
Citate den LXX. folgen. Zu legteren gehören die Citate in 
der Verſuchungsgeſchichte ). Daher hebt das erfte Evangelium 
mit Gefliffentlichkeit hervor, daß Jeſus der Sohn Davids 





a) Bol. Jahrbb. für deutſche Theologie 1865: Die Erzähluugsftüde des 
apoſtoliſchen Matthäus, ©. 367. 

b) Dagegen kann das Citat Dart. 1,2 aus Mal. 3,1, in feiner Abweichung 
ſowol vom Urtert, als von den LXX. auffallend mit Matth. 11, 10 = 
ut. 7, 27 übereinftimmend, wie ſchon aus der unzweifelhaft vichtigen 
Lesart Ev 75 “Hocig zg ngopizn erhellt, nut als ſpätere Suterpolation 
im Markustert beurtheift werden. Die Art, wie Kloftermann (a.0.D,, 
S. 9—22) für die Echtheit des Malendi-Eitats in Mark. 1, 2 plaidirt, 
laun nur zum Erweiſe des Gegentheil® dienen. 


652 Brüdner 


fi *). In der Genealogie.1, 1—17 wird gerade die Abftammung 
von David gefliffentlich darzuthun gefucht, wie die Geburtsgeſchicht 
außer ber Idee der vaterlofen Zeugung, um derentwillen der Schluj 
der Genealogie 1, 16 eine Umbiegung erfahren mußte ®), die Ab 
ftammung von David und das Königtum Jeſu 2, 2 erhärten fol. 
Dieje Geburtsgeſchichte iſt matthäifch. Am bezeichnendſien 
iſt aber in dieſer Beziehung die matthäifche Bergrede, im welcher 
alles unter den Geſichtspunkt geſetzt erſcheint, daß Jeſus ge 
tommen fei, das Geſetz und die Propheten zu er: 
füllen durch eine beffere Gerechtigkeit, als die der Schriftge 
lehrten und Pharifäer, wozu dam einzelne Beiſpiele der wahren 
Gefegeserfüllung beigebracht werden, fo daß mit voller Sicherheit 
der Abſchnitt 5, 17 bis 6, 18 als matthäifch anzufehen iſt. 
Diefe Bedeutung, welche die Bergrede dur Veranftaltung dei 
Evangeliften erhält, fo daß gewiffermaßen 5, 17—20 Programm 
des ganzen Evangeliums wird, ijt der Grund, der den Evan: 
geliften veranlaßt Kat, die Bergrede aus ihrem Hiftorifchen du 
fammenhange zu reißen und fie in deu Vordergrund feines Schrift: 
werks zu ftellen. Zweitens bewegte den Goangeliften beim 
Schreiben die gefpanntefte Erwartung ber Wiederkunft 
Chriſti. Mögen die Stellen Matth. 16, 27f.; 24, 27ff.; %, 
29. 64, ſowie andererjeitd Matth. 24, 37—51 und 25, 14-30 
den ihm zu Gebote ftehenden Quellen entnommene fein, wir haben 
ſchon oben bei Beurtgeilung von Matth. 10, 23 darauf hinge⸗ 
wiefen, warum die vielen anderen eschatologifchen Beziehungen 
unferes Evangeliums 13, 24—30. 36—43. 47—50; 25, 1-13. 
31 —46 auf Rechnung des Evangeliften zu jegen find. Es 
find Nach- und Weiterbildungen, die der Evangelift, dem Kommen 
Chrifti entgegenfehend, feinem Schriftwerf, an welchem er „in der 
Trübſal jener Tage“, die unausbleibliche Zerftörung der heiligen 
Stadt erwartend, arbeitete, einverleibte. Es ift ein überaus uns 
glücfiher Einfall Pfleiderers, der den wirklichen Sadverhalt 


a) Im zweiten Evangelium nur einmal im Munde des Blinden von 
Jericho 10, 47f. und „das Reich Davids“ 11, 10. 
b) ©. Hilgenfeld, Zeitfrift für wiffenſchaftl. Theol. 1867, ©. 909. 





Ueber Luk. 6, 89. 40 = Matth. 15, 14; 10, 24. 658 


geradezu auf den Kopf ftellt, wenn er aus Matth. 24, 14, was 
er für matthäiſches Eigentum erflärt, denn das foll offenbar fein 
Ausdruck: „Unechtheit von Vers 14“ bedeuten, als die Tendenz 
der Gompofition der ganzen Rede Matth. 24 gefunden haben will: 
„bie ungebuldige Erwartung einer unmittelbaren Nähe der Parufie 
zu temperiren“ *). Drittens will das Evangelium, von judai- 
ſtiſcher und particulariftifcher Grundlage ausgehend, im Gegenfage 
zu einem befchränften Judenchriſtentum, welches in den Stürmen, 
die über das jüdifche Volt und Sand hereingebrochen, in dem 
Glauben an Jeſus als den Meſſias wankend geworden war, außer 
dem Nachweis, dag Jeſus der verheißene Meffias fei, noch die 
Aufgabe des Kriftlihen Heiles für die ganze Welt 
darthun. Wollte ſich der judenchriſtliche Particularismus angeſichts 
der Verwüſtung Jeruſalems und bes Tempels von dem unauf⸗ 
haltſam fich fortfchwingenden Rade der Geſchichte nicht zertreten 
laſſen, jo mußte er durch basfelbe weiter getrieben werden, fo 
mußte er fi, über jeine eigenen Einfeitigfeiten und Befchränft- 
heiten Hinausgehend und dem Drange des Zeitfortſchritts, dem 
das Evangelium Jeſu jelber den Stoß gegeben, folgend, fo ſchwer 
«8 feinem eigenen Fleiſch und Blut and werden mochte, dem fieg- 
reich fich behauptenden Univerfalismus, dem Heidenchriftentum, 
anfchließen. Dit der Zerftrung Jeruſalems und des Tempels 
ſah der Particularismus den zufammenhaltenden Mittelpunkt feines 
Beſtandes, den Boden unter den Füßen, feine legten Hoffnungen 
ſchwinden. Daher konnte unfer Evangelift, offenbar in judenchriſt⸗ 
licher Umgebung lebend, leidend und fchreibend, trog 5, 18 f. 
10, 5f.; 15, 24; 23, 3; 24, 20 (Sabbat) nicht nur aus 
feinen Quellen 8, 5—13; 24, 14; 26, 13 aufnehmen, fondern 
mit univerſaliſtiſcher Tendenz fi) veranlaßt fühlen, den Kampf 
Jeſu mit den Pharifäern befonders Hervorzuheben (vgl. 5, 17 bie 


a) Jahrblicher für deutſche Theologie 1868: Weber bie Compofition ber 
escjatofogifchen Rede Matth. 24, 4 ff., ©. 149. Matth. 24, 14 ober 
vielmehr Mark. 13, 10 erklärt ſich hinlänglich aus der Thatſache, daß 
im 7.” Iahrzehnt das Evangelium in der griedif—en Welt und in Rom 
verfünbigt worden war. 

Theol. Stud. Jahrg. 1869. 48 


654 Brädner 


6, 18 und Kap. 23), in feine Kindheitsgeſchichte die heidniſchen 
Magier 2, 1 ff. Hineinzuarbeiten, die univerfaliftifche Beziehung 
des Gleichniſſes vom Gaſtmahl Luk. 14, 16—24 noch mehr her» 
vorzufehren 22, 1—14, das Gleichnis von deu meuteriſchen Wein 
gärtnern Matth. 21, 33—46 — Mark. 12, 1—12 in derfelben 
Richtung durch das bezeichnende Wort B. 43 zu ſchärfen und 
zuzufpigen, aber auch noch felbftändig die Parabeln vom Fiſch 
neg 13, 47—50, von den Arbeitern im Weinberge 20, 1—16, 
"von den ungleihen Söhnen 21, 28—32, vom letzten Gericht 25, 
31—46 zu bilden und zuletzt als Schlußfiegel des Ganzen den 
Befehl Jeſu 28, 18—20, auszugehen in alle Welt und alle Völler 
zu lehren und zu taufen, zu fegen. Alle diefe drei leitenden Gr 


fichtspumfte ftehen mit dem Zeitpunfte der Abfaffung es | 


Evangeliums in der engften Beziehung und Verbindung. Damals 
mußte das Yudendriftentum in den Drangjalen der Zeit die 
Wetter der göttlichen Strafgerichte erbliden, welche nicht anders 
als über Golgatha Her, über dem Grabe des von den Juden dm 
Heiden zum Kreuzeötode überlieferten Meſſias, in finfteren Wollen 
zur furchtbaren Verwüftung der Stadt und des Tempels, mahnend 
und warnend für Alle, die noch hören wollten, ſich zuſammenzogen 
und hereinbrachen. Da war es benn natürlich, daß in dem juden 
chriſtlichen Kreife, aus weldem das erjte Evangelium hervorge 
gangen, fi in Erinnerung an den Kreuzestod Jeſu jene dem 
Matthäus eigentümlichen Züge bildeten, welche vorwiegend die 
Juden mit der größeren Schuld belafteten 27, 3—10. 19. 24. 
62—66; 28, 11—15, vor allem jener Ruf 27, 25, mit weldem 
das jüdijche Volt über ſich jelbft den Fluch heraufbeſchworen Haben 
joll, der jegt jo unleugbar mit feinem zermalmenden Gewichte die 
Kinder derer traf, die unter Pontio Pilato Jeſum gefreuzigt hatten. 
Wenn es bei der Erſcheinung des Auferftandenen in Galiläa 
28, 16 heißt: „die ihn ſahen, beteten ihn an, etliche aber zwei 
felten“, fo ift wol Hier die getheilte Stimmung der judenchriftli—en 
Welt in der Umgebung des Evangeliften, in dem Kreiſe, für melden 
da8 erfte Evangelium zunächft gefehrieben war, gezeichnet. Gegen 
diefe Zweifelnden war das Evangelium gerichtet. Es 
galt in jener — legten — Zeit, da alle alten Stügen brachen und 


Ueber uf. 6, 39. 40 — Matth. 15, 14; 10, 24. 655 


von allen Seiten die Gefahr drohte, daß unter dem Schwinden 
jeglicher Zucht und Ordnung auch die Liebe Vieler — zu Jeſus — 
erfalten werde (24, 12 matthäiſch), im Hinblid auf die bereits be- 
gonnene Flucht der jerufalemifchen Gemeinde (10, 23) aus der 
keiligen Stadt «über der Leiche des niedergetretenen Judentums bie 
wahre Gerechtigkeit, Gefeges- und Weißägungserfül- 
lung in dem gefrenzigten Meſſias aufzuweilen, die er- 
ſchütterte Hoffnung der Chriſten auf die auf's fürzefte zu erwar« 
tende Barufie Chriſti, der aber auch als meſſianiſcher Richter 
fommen werde, Hinzumeifen, aber auch die Beftimmung des chriſt⸗ 
lichen Heiles für die ganze Welt darzutfun. — Im Hinblick 
auf die Hier in kurzen Zügen bargelegte Charakteriftit des erften 
Evangeliums Haben wir in den als matthäifch gefennzeichneten 
Stüden das Mark diefer Evangelienfehrift zu verteidigen, einer 
feit8 gegen Weiß, der ſämtliche Hierhergehörige Mebeftoffe in der 
Maſſe feines „apoftolifchen Matthäus“ vorausſetzt, ambererjeits 
gegen Keim, der *) furzer Hand die Eitate 4, 14—16; 8, 17; 
12, 17—21; 13, 35; 21, 4f., fodann 26, 15; 27, 3—10, 
ferner die Geburtögefchichte, das Gleichnis vom Hochzeitsmahl 22, 
1—14, endlih auh 25, 1—12. 31—46; 27, 62—66; 
3, 14f.; 8, 11f.; 27, 19. 52 f. einem fpäteren nachmatthäiſchen 
Ueberarbeiter zuweift. So hat ſich uns auch hier da® Gebiet der 
Sprud- oder Redenfammlung nad Ausfcheidung einerfeits 
des Matthäifchen, andererfeits des dem Markus Entnommenen ger 
nauer abgegrenzt. Wir erhalten aud in Berüdfichtigung feiner 
matthäiſchen Benugung ein Schriftwerk von geringem Um: 
fange, deffen Beftandtheile der Verfaſſer des erften Evangeliums zur 
Eonftruction feiner Redeftücke b) benugen’fonnte, indem er je nach feinen 
ſchriftſtelleriſchen Zwecken und Bedürfniſſen bald da, bald dort eine 


a) Jeſus von Nazara, ©. 60f. 

b) Außerhalb der Rebeftüce finden fi im Matthäus als ſichere Beftand- 
theile der Redenſammlung, wie Matth. 15, 18. 14 = Luk. 6, 39, noch 
ferner: Matth. 8, 11. 12 — Sul. 18, 28. 29; Matth. 8, 19-22 — 
Sul. 9, 57f.; Matth. 12, 32 — Lut. 12, 10; Matth. 16, 2.3 — 
Auf. 12, 5456; Matth. 17, 20 — Lut. 17, 6; Matih. 19,28 — 
Zu. 22, 30. 

48* 


666 Brüdner 


Stelle ausſchrieb, da der Geſamtinhalt der Meinen Schrift leicht 
einen Ueberblid gewährte. 

Es wird nad dem Visherigen nur erwartet werden können, 
dag wir ums gegen bie Örundvorausfegungen der kritiſchen An 
ſchauungen Weiß’, daß auch das Markusevangelium die apofte 
liſche Redenfommlung benutte *), ablehnend verhaften. Es hängt 
diefe Vorausſetzung mit feiner Anficht zufanmen, daß dieſe Neben 
fammlung auch „erzählende Abfchnitte“ ®) enthalten Haben folle, 
„die aber noch nicht zu einer zufammenhängenden Darftellung des 
Lebens Jeſu verarbeitet waren“. Theilweije wird letztere Anschauung 
in der Abhandlung über die „Redeſtücke des apoftolifchen Matthäus‘ 
(Zahrbücher für deutſche Theologie 1864, ©. 50) bejchränt ‘), 
aber durchweg noch die erfte Anficht feitgehaften. Wir fragen nur: 
Barum hätte Markus die Nedenfammlung fo überans kärglich be 
nugt? Nur eine vollftändige Analyfe des gefamten Markus 
evangeliums könnte die Weiß'ſche Vorausſetzung widerlegen. Die 
konnen wir hier nicht anftellen. 

Allerdings bleibt, wenn wir die einfache Benutzung des einen 
Evangeliften dur den anderen entſchieden ablehnen müſſen, die 
fchwierige Alternative: entweder (mit Holgmann) bie An 
nahme eines urfprünglichen Markus, von weldem das kanonifdr 
zweite Evangelium eine nur wenig variirende Abjchrift wäre, bi 
weicher auch Auslaffungen, Verftümmelungen ftattgefunden hätten, 
oder (mit Weiß) die Vorausfegung einer Redenfammlung von 
unmeßbarer Dimenfion, die daher aljo auch durchaus unbe 
ftimmbar und unfaßbar werden muß. 

Aber eine Sprud« oder Redenſammlung ift überhaupt nirgends 
bezeugt, entgegnet man uns. Zugegeben, daß es wirklich „ben 
Papias gar nicht einfällt, von einer bloßen Redenſammlung det 
MattHäus zu wiffen“ 9%) — in der That nöthigt das Zeitalter de 


a) Studien und Kritiken 1861, &. 69 und ©. 666 ff. 

b) a. a. O., 6. 69. 76. 

©) Bol. übrigens noch die Abhandlung: Die Exzähfungeftoffe des apofe 
liſchen Matthäus, in Jahrbb. für dentfche Theol. 1865. 

d) Keim a. a. O., ©. 56. 





Ueber Sul. 6, 39. 40 — Matth. 15, 14; 10, 24. 687 


Bapias zu der Vorausfegung, daß er das Matthäusevangelium 
ſelbſt gekannt Habe —, darf man eine Bezeugung unferes 
Schriftwerks erwarten, wenn dieſelbe nach ihrem gejamten Um- 
fange im erften und dritten Evangelium Aufnahme gefunden hätte, 
alfo außer einem hiſtoriſch- wifjenfchaftlichen fein anderes Intereſſe 
für fih in Anſpruch nehmen Könnte? Die erfte Schrift ber 
Hriftlihen Literatur dürfte ihrem Inhalte und ihrer Form 
nach mehr Intereſſe für uns Haben, als für die alte Kirche. 


Februar 1868. 


3. 


Das römifhe Recht uud die Kirde >). 


Bon 


D. Kößler, 
Veofeffor aın esangeliiien Prebigerjeminar zu Briebberg i. d. 2. 


Nachdem die Kirche feit Eonftantin angefangen hatte, mit dem 
tömifchen Staate in nahe Beziehung zu treten, wäre zu erwarten 
geweſen, daß bei ihrem Triebe, alles mit ihrem Geifte zu durd;- 
dringen, beziehungsmeife ihrer Herrfchaft zu unterwerfen, auch auf 
die Geſetzgebung des Staates ein weientlicher Einfluß von ihr aus- 
gegangen wäre. Indeſſen ift diefer Einfluß bei weitem nicht fo 
bedeutend gemefen, als man Hätte denken können. 


3) Bol. insgemein: Binterim, Denfwürbigfeiten VI, 1.2. Bingham, 
Origin. eccles., Tom. VII. IX. Zimmern, Geſchichte des römiſchen 
Privatrehts bis Iuflinian. Schweppe, Römiſche Rechtsgefhichte und 
Rehtsaltertümer. “ 


658 Köhler 


Offen vorliegend ift die Einwirkung der Kirche zunächſt in 
Beziehung auf die Rechts fähigkeit der Perfonen. Das römiſche 
Recht machte Hier fehr beſtimmte Unterſchiede. Rechtsfähig im 
vollen Sinne war nur der civis. Nur ihm ftand das jus suf- 
fragüi et honorum zu, ferner in privatrechtlicher Hinficht das jus 
commerci, d. 5. die Fähigkeit des Rechtsverkehres mit römijcher 
Form und Wirfung, wozu insbeſondere auch die testamentificatio, 
das gegenfeitige Recht, nach römischen Formen in legtwilligen Ber 
tehr zu treten, gerechnet wird, dann das connubium, die Fähigkeit 
zu römischer Ehe und den dadurch bedingten Dotal- und Familien 
verhältniffen, wie väterlicher Gewalt, Agnation x. Ausgeſchloſſen 
von dem allem ift der peregrinus, wogegen in der Mitte zwiſchen 
beiden Claſſen noch als eine dritte die Latini ftanden, denen wol 
das jus commercii, nicht aber da8 connubium zuftand.. — Wit 
fehen in der Kaiferzeit, nicht erft ſeit Conftantin, diefe Unterſchiede 
im Verſchwinden, Juftinian Hob fie ganz auf. Aber an ihre Stelle 
traten andere mit dem gleichen Inhalte. Die Manichäer beraubt 
Theodofius I., und zwar auf Beranfaffung des Concils von Con- 
ftantinopel, der mit der Civität verbundenen äußeren Ehren, indem 
er fie mit beftändiger infamia belegt, ferner des Rechtes, jeman- 
dem etwas zu ſchenken, etwas letztwillig zu vererben oder auf diefem 
Wege zu erwerben*). Die Apoftaten verlieren durch ihn die Fähig 
keit zu tefticen ®), fie follen überhaupt absque jure Romano 
Teben °). Nicht minder erklärt Valentinian I. die Manichäer und 
Apoftaten auf immer für activ und paffiv intestabiles, infam, 
aller Standesvorzüge, überhaupt der Rechtsgemeinſchaft beraubt 2), 
Vorſchriften, die dann auch auf andere Ketzer Ausdehnung fanden. 
Nach Zuftinians Gefegen find alte Häretifer unfähig zu jedem 
rechtlichen Verkehr, auch zum Zeugnis vor Gericht *). Heiden, 


a) L. 7. C. Th. de haeret. 
b)L. 1. C. Th. de apost. 
e) L. 2. C. Th. eod. 





Das römische Recht und die Kirche. 659 


melde anfangs wol von Ehrenämtern ausgefchloffen *), aber nicht 
rechtlos waren ®), werden durch Juſtinian für unfähig jedes legi- 
timus actus erklärt‘). — So ift das orthodor chriſtliche Be— 
kenntnis die nothwendige Vorausſetzung voller Rechtofähigkeit ge 
worden; in der Stellung des civis ſteht jetzt der orthodoxe Ka- 
tholik, an die Stelle der früheren, auf der Nationalität beruhenden 
Rechtsungleichheiten find andere von bemjelben Inhalte, aber auf 
bie Religionsverfchiedenheit begründete getreten, jo daß in der That 
feinem Wefen und Gehalt nad) das beſteheude Recht keine Um— 
wandelung erfahren hatte. 

Ein Gebiet, wo ſich die Forderungen der Kirche mit denen des 
bürgerlichen Nechtes befonders häufig berühren mußten, war das 
der Ehe. Der Begriff, den das römische Recht von der Ehe 
aufftelft, ift ein folder, den die Kirche fich fehr wohl gefallen laſſen 
tonnte, wie ihn denn auch das Fanonifche Recht ſich angeeignet hat. 
Die Ehe ift die Vereinigung zweier Perfonen zur Gemeinſchaft 
des Lebens und der Schidfale, individuam vitae consuetudinem 
eontinens oder omnis vitae consortium, divini et humani 
juris communicatio ®). Sie geht aljo feineswegs in der äußeren 
Rechtsgemeinſchaft auf, die refigiöfe Gemeinfchaft ift ausdrücklich 
mit eingefchloffen. Gleichwol ift die letztere nur eine beſchränkte. 
Die sacra, die den Gatten gemeinfchaftlich find, Können nur bie 
privata sacra im engften Sinne, die pro singulis hominibus, 
fein, nicht aber die familiaria oder gentilitia, da die Tochter durch 
ihre Verheiratung — abgefehen von einem fpäter zu erwähnenden 
Falle — nicht aus ihres Vater Gewalt tritt, mithin auch fort 
während an deſſen sacris familiaribus, nicht denen ihres Ehemannes 
Antheil hat. Die Gemeinfchaft des humanum jus ferner fehließt 

a) L. 21. C. Th. de pagan. Ein Heide als hoher -Staatsbeamter noch im 
5. Jahrhundert, vgl. Ribbed, Donatus, ©. 518. Nach Aug. ep. 159 
(si apud judicem non Christianum mihi sermo esset etc.) gab e8 zu 
feiner Zeit noch heidniſche Richter. 

b)L. 24. $ 1. C. Th. eod. 

e) L. 21. C. de haeret. 

81. J. de patr. pot. L. 1. D. de rit. nupt. L. 3 $ 1 fin. D. de 
don. i. vir. et ux. L. 4. C. de crim. expil. hered. 


6 Köhler 


Gütergemeinfhaft ausdrücklich nicht in ſich. Jedes der Gatten hat 
juriftifch betrachtet fein eigenes Vermögen *), fo daß die Frau fogar 
gegen den Mann furtum begehen kann, nur daß deshalb um der 
ehelichen reverentia willen feine gerichtliche Klage angeftelit werden 
konnte. Nur uneigentlich werde jie Herrin des Vermögens des 
Ehemannes genannt, jagt der Juriſt Paulus ?). Und „damit ja 
nicht die Liebe vereinige, was der rechtliche Gefichtspunft trennt“, 
wie ein juriftifcher Schriftfteller ſich ausdrückt °), war die Schen⸗ 
kung zwifchen Eheleuten nicht etwa durch ein Gejeg verboten, fon- 
dern von je her mit den römischen Anfichten unvereinbar 2). So er 
fheinen die Ehegatten durchaus als zwei, wenn auch eng verbun ⸗ 
dene, doch ſich innerlich fremde, jede ihren abgejchloffenen Rechte 
kreis für ſich fireng bewahrende Perſönlichteiten. Charalteriſüiſch 
tritt dies auch in den Motiven hervor, welche die Quellen für das 
Berbot der Schenkungen anführen: damit nit durch Misbrauch 
folder Befugnis der beſſer gejinnte Gatte verarme und der von 
unedler Gefinnung allzu reich werbe *), damit wicht in Folge zu 
großer Liebe ſich ein Gatte durch den andern berauben Laffe‘). 
Mit großer Kühle vedet der Gefeggeber von dem furor amoris, 
der leicht einen der Gatten zu ſchädlicher Freigebigkeit verleiten 
nme ©). Desgleichen findet Fein Zwangsrecht ftatt auf Leiftung 





a) L.1. $15. D. de Sct. Silan. Neque viri servi proprie uxoris di- 
cuntur, neque uxores proprie viri. 

b) Quia societas vitae quodammodo dominam eam faceret. L. 1. D. 
de act. rer. amot. ö 

e) Zimmern «.a.D. I, 499, vgl. L.1. D. de don. i. vir. et ux. (ne 
mutuato amore invicem spoliarentur). 

d) L. 1. D. eod. Moribus apud nos receptum est, ne inter virum et 
uxorem donationes valerent. 

0) L. 8. D. eod. Ne melior in paupertatem incideret, deterior ditior 
geret. 

) L. 31. $ 6. eod. Ne amore alterius alter despoliaretur. 

®) Nov. 74 c. 4. Sed nihil esse furore amoris vehementius, quem 
retinere philosophine est perfectae. — In tantum etiam ante nos 
legislatores tales scierunt animorum affectus, ut ötiam donationes 
constaute matrimonio prohiberent, ut non concupiscentiae magni- 
tudine victi latenter paulatim conjuges semet ipsos privarent sna 
substantia, 





Das romiſche Recht und die Kirche. 661 


der ehelichen Pflicht, auf Pflege im Unglüd u. a Der Mann 
lann die Frau nicht durch gerichtliches Erkenntnis zwingen, ihm 
an feinen Wohnort zu folgen; fie ift, fofern fie nicht noch als 
Haustochter unter der Gewalt des Vaters fteht, in nullius po- 
testate, daneben freilich im Innern der Familie, was Rechte und 
Anfehen den Kindern gegenüber betrifft, dem Manne keineswegs 
gleich geſtellt. „So ift“, wie ein neuerer Nechtögelehrter fich aus⸗ 
drüdt =), „wie überhaupt der Römer ganzes Reben mehr ein öffent» 
liches ift, aud) jene individua consuetudo nur aufgefaßt worden 
als eine Gemeinfamteit der Beziehungen nah außen, Stand, 
Rang ꝛc.“ Recht Harakteriftiich tritt dies z. B. auch darin Her» 
vor, daß die Ehe von felbft aufhört, fobald der Ehemann einer 
Freigelaffenen die Senatorenwürde erlangt, weil zwifchen einem 
Senator und einer Breigelaffenen keine Ehe möglich ift ®). 

Es leuchtet ein, daß hier ein Begriff der Ehe vorliegt, der 
hinter dem riftlichen, wonach durch die eheliche Verbindung aus 
zwei Perſonlichteiten eine einzige wird, fo daß jedes der Gatten in 
dem anderen nur fein eigenes Selbſt wieder erblickt (Matth. 19, 6. 
Eph. 5, 28), weit zurüd bleibt. Vielmehr wird erft von diefen 
Hriftlichen Anfhauungen aus der Gedanke der individua con- 
suetudo, der juris divini et humani communicatio, zu feinem 
vollen Rechte tommen. In der That Hat denn auch das kirchliche 
Beroußtfein von Anfang die Ehe anders und tiefer gefaßt, als das 
romiſche Recht. Es finden fi) zwar Ausſprüche, welche in ana⸗ 
loger Weiſe, nur nach anderer Seite hin die Ehe zu einem nur 
äußerlichen Verein herabſetzen, ſofern fie nämlich als deren Zweck 
keinen anderen, als die gefegmäßige Befriedigung des Geſchlechts⸗ 
triebes anzugeben wiſſen e). Indeſſen Hat ſich das Bewußtſein 
der Kirche mit dieſer äußerlichen Auffaſſung nie befriedigen Können. 





a) Zimmern a. a. O., &.499. 

b) L. 28. C. de nupt. 

c) Aug. in Genes. IX, 7: Non video, ad quod aliud adjutorium mu- 
ier factasit viro, si generandi causa subtrahitur. Justin. Apol. I, 29. 
Ian Zuſammenhang damit betrachtet Athanaſius (u Pf. 50, 7) bie Ehe 
als eine Folge des Sündenfalles. 


662 Köhler 


Bortrefflih weiß Tertullian *) das Glück einer wahren Ehe zu | 


ſchildern, al® des jugum fidelium duorum unius spei, unius 
voti. unius disciplinae, — ubi caro una, unus et spiritus. 
als einer Verbindung, die bis über das Grab hinaus, alſo aud 
nad; aufgelöftem äußeren Bande fortbefteht®). Auctoritatis et 
solatii causa bedarf das Weib der Verbindung mit dem Manne 9). 
Häufig reden insbeſondere die griechiſchen Väter, Clemens, Ori- 
genes u. A., von der Ehe als einem heiligen Geheimnis, das fein 
Borbild in dem Verhältnis des Herrn zur Kirche habe, wo aus 
zweien eins werde, und zwar innerlich, dem Geifte nad %). — 
Eine veränderte Auffafjung des ganzen Verhältnifjes Hätte die Folge 
fein mitffen, wäre biefe Betrachtungsweiſe in der Gefeßgebung zur 
Geltung gefommen. Indeſſen ift ein Einfluß in diefer Richtung 
nicht wahrzunehmen, abgefehen davon, daß Juſtinian °) die früher 
unzuläßige Schenkung zwiſchen Ehegatten geftattet.- 

Bemerkbar ift der Einfluß der Kirche in Beziehung auf bie 
Ehefcheidung und die Eheverbote, ohne daß es jedoch an einem 
biefer Punkte gelungen wäre, das beftehende Recht feinem Geifte 
nach umzugeftalten. In Beziehung auf die Scheidung gr 
ftattet das römifche Recht gemäß feiner Auffafjung der Ehe über- 
haupt fehr weit gehende freiheit: die libera facultas contra- 
hendi atque distrahendi matrimonüi *) gift als unverletzliches 
Grundrecht des Römer; daher auch die Scheidung mit gegen 
feitiger Einwilligung (communi consensu) ohne weiteres, nament- 
lich ohne daß irgend ein fonftiger Scheidungsgrund erfordert wurde, 
giftig war. Selbft eine einfeitig, aber unter ſtillſchweigender oder 
ſelbſt nur vorausgefegter Einwilligung des anderen Theil ge 
fchehene Scheidung, das fogenannte divortium bona gratia, war 
anerkannt. Für einfeitige, ohne den Willen des anderen Theil 

3) Ad ux. 11. 8. 

b) De monop. e. 4: Alium habebit in spiritu (die Witwe, bie fidh zun 
zweiten Male verheiratet), alium in care; — si alter & carne dis 
junctus est, sed in corde remanet. 

e) Ad ux. I, 4. 

d) Stellen bei Binterim a. a. O. VI, 1. ©. 52ff. 

©) Nor. 162, c. 1. 

f) L. 14. C. de nupt, 





Das römiſche Recht und die Kirche. 663 


vorzunefmende Scheidung kennt das Digeftenrecht eine Reihe von 
tchtlih anerkannten Gründen als: ſchwere Vergehungen des an—⸗ 
deren Gatten, unheilbarer Wahnfinn zc. Aber felbft wo die Scheir 
dung einfeitig ohne ſolchen Grund gejchah, hörte die Ehe auf, nur 
daß der ſchuldvoll ſich ſcheidende Gatte von gewiſſen pecuniären 
Nachtheilen betroffen wurde. Die einzige Beſchränkung lag darin, 
daß durch Auguftus eine beftimmte Form für die EHefcheidung vor- 
geihrieben war, an deren Stelle fpäterhin die einfachere des Scheide- 
briefes (libellus repudii) trat. Auch bei Scheidung ohne Beobach⸗ 
tung diefer Form fand indejfen kein Zwang zur Wortfegung ber 
Ehe ftatt. 

Somol die ganze chriſtliche Auffaffung der Ehe, als beftimmte 
Ausfprücde des Neuen Teftaments mußten die Kirche zur Oppo- 
fition gegen diefe Geſetzgebung veranlafjen. Webereinftimmend kennen 
die Kirchenfehrer nur den Ehebruch als rechtmäßigen Scheidungs- 
grund *). Wenn daher in einem von Juſtin berichteten Falle ®) 
eine Frau dem Ehemann gegenüber, der an fie unfittliche Zus 
muthungen geftellt hatte, von der ihr durch das Recht eingeräums 
ten‘) Befugnis Gebrauch machte und ihm den Sceidebrief zus 
ftellte, fo fonnte dies wol nur den Sinn haben, daß fie von dem 
ihr feelengefährlich ericheinenden Zufammenleben mit dem Heiden 
fid) befreien wollte, nicht aber, daß fie fih von dem Eheband felbft 
für frei und mithin zu etwaiger neuer Verehelihung für berechtigt 
erachtet hätte. Der einzige Drigenes °) ſcheint geneigt, die Regel: 





a) Tertull. c. Marc. IV, 34: Praeter ex causa adulterüi nec creator 
diejungit, quod seilicet ipse conjunxit. Chrysost. hom. XVII. in 
Matihaeum: xai'ydg xal rovrp zaralıumdiveı reonov Eva dpkasus, 
&inov‘ magextos Adyov mogvelas. Lactant. epit. div. inst. 8: Deus 
virum et uxorem unius corporis compage solidavit. Ideo praecepit, 
non dimitti uxorem, nisi crimine adulterii victam, et numquam 
conjugalis foederis vinenlum, nisi quod perfidia ruperit, resol- 
vatur. 

b) Apol. U, 2. 

© Wegen Sittenlofigleit (ob mores — deren Begriff aber micht genau 
geſetzlich beſtimmt war) Tonnte repudium geſchehen. Tit. c. de repud. 
et judicio de morib. subl. 

d) Hom. VII. in Matthaeum. 


684 Köhler 


rragexsüg Aöyov rrogveizs nad) der Analogie weiter auszudehnen, 
indem er die Frage aufmirft, ob nicht die Frau, die Giftmifchere 
begehe oder das in der Ehe mit ihrem Gatten erzeugte Kind er 
morde oder den Ehemann beftehle zc., ſich ebenfo oder noch ärger 
verſchulde als die Ehebrederin und mithin mit demfelben Rechte 
verftoßen werden fünne. Auf diefem Wege wüurde die chriſtlich 
Auffafjung der des römifchen Rechtes ſich mehr angenähert Haben. 
Doc) entfceidet ſich Drigenes nicht beftimmt umd tadelt es, daß 
manche Bifchöfe geſchiedenen Frauen bei Lebzeiten der Männer 
wieber zu heiraten geftatteten. 

Die Hriftlihen Kaifer haben dem Bewußtſein der Kirche in 
fofern Rechnung getragen, als fie ſich damit beſchäftigten, die 
Gründe für erlaubte einfeitige Eheſcheidung feftzufegen und dadurd 
der arbeit und Willkür vorzubeugen. So fon Conftantin *). 
Scheidungsgründe find nad; biefem: daß der Ehemann ein Gift: 
mifcher, ein Mörder oder Zerftörer von Grabmälern, daß bie 
Frau Ehebrecherin oder Kupplerin wird. In jebem anderen Falle 
wird einfeitige Scheidung an der Frau durch Deportation und 
Berluft der ganzen dos an den Mann, an dem Manne dadurd 
beftraft, daß er die dos fofort reftituiren muß (anftatt erft nad 
einer gewiſſen Friſt), und wenn er wieder heiratet, darf bie verſtoßent 
Frau in fein Haus eindringen und ſich die dos der anderen zueignen. 
Im Falle, daß die Frau wegen eines Bergehens verftoßen ward, geftattete 
außerdem bereit das alte Recht dem Manne, einen Theil der dos 
(welche an die Geſchiedene zurückfiel) zu behalten (retentio). Auf dem 
durch Eonftantin gezeigten Wege find die fpäteren hriftlichen Kaifer fort: 
gegangen. Honorius und Conftantius®), ausgehend von der alten Unter- 
ſcheidung zwiſchen morum vitia (mediocres culpae) und graves 
causae (crimina), lafjen Scheidung nicht mehr wegen der erfteren, 
fondern nur noch wegen der letzteren zu, wozu freilich nicht Ehebruch 
allein, fondern gewiß auch das zu rechnen ift, mas Eonftantin als crimina 
bezeichnet Hatte. Theodos II. der eine Zeit lang die Verordnungen 
von Conftantin und Honorius aufgehoben hatte, kehrte fpäter wieder 


8) L. 1. C. Th. de repud. 
b) L.2. C. Th. de repud. 





Das römiſche Recht und bie Kirche. 668 


dazu zuräd. Scheidungsgründe für beide Theile find nach ihm *): 
Ehebruch, Mord, Giftmifcherei, Staatsverrath (oder bei der Frau 
Mitwiſſenſchaft an folhem), Falſchung, Grabzerftörung, Tempel ⸗ 
raub, Straßenraub oder Beherbergung von Räubern, Menſchenraub, 
ferner wenn der Mann in feinem Haufe mit lüderlichen Weibern, 
ober wenn die Frau hinter feinem Rüden mit Männern Zufammen- 
fünfte hielt, beiderfeits Xebensnachftellungen, von Seiten des Mannes 
Mishandlung durd Schläge, von Seiten der Frau, wenn fie ohne 
genügenden Grund eine Nacht auswärts war oder wider Willen 
des Gatten öffentlichen Schaufpielen beimohnte. — Uebereinftimmend 
wird Scheidung ohne einen anerfannten Grund zwar mit Strafen 
bedroht, aber keineswegs als nicht gefchehen betrachtet, und felbft - 
Wiederverheiratung in den meiften Fällen diefer Art nicht ver⸗ 
wehrt. Die Scheidung mit gegenfeitiger Einwilligung blieb in ber 
alten Weife beftehen. 

Die Wortführer der Kirche waren mit den gemachten Con» 
cejfionen keineswegs zufrieden. Afterius von Amafen ‚Magt über 
die Häufigkeit der Scheibungen; er ſchilt die Weiberhändler, die 
ihre Frauen oft wie die Kleider wechfeln, die ihr Ehebette jo oft 
und fo leicht wie Kramladen auffchlagen, die Heiratsgabe und die 
Güter fortführen, Weiber zum Wucher und Handel halten und 
leicht aufgebracht den Scheidebrief ſchreiben *). "Vielfach wird Klage 
geführt über die ungleiche Behandlung der Frau und des Mannes 
in Beziehung auf den Ehebruch. Mit welchem Rechte, fragt Gregor 
von Nazianz °), wird eheliche Untreue an dem Weibe Hart beftraft, 


a) L. 8 C. de repud. 

b) Hom. V: ol ras ywaizag dis kudrın eundus mersnduöuero ok 
zig naoradag nollixig za) dadlus mnyvüvres ds narnyügeos 
deyasıgn" ol zis eunoplas yauoürres zul zds yuvalzas dumogev- 
öuevon" eis wıxgdv nupokwwöusvor zui eıdüs 16 AßAlov zig dum- 
edasus yadgovzzs, 

©) Greg. Naz. orat. XXI: #6 dj more yag ro wiv Siku Exökase (0 
vöuos), 16 di äggev dnergeye, xai yuvij ulv zuxdic Bovlsvaauısım nepl 
xolenv dvdeds noyäraı xai nızga dvreöder i ıdv vönur Eniriula 
dvig di xuranopveiw yuvads dvev’ wos; — ävdges jour ol 
vouoderoüvzes, did roüro zare yuvamıv 1) vonosenla, 


666 Köhler 


während der Mann, der die Treue bricht, frei ausgeht? man 
fiegt, daß Männer die Gefege gemacht Haben, darum find fie 
zum Nachtheil der Weiber eingerichtet. Achnlich Afterins *) und 
EHryfoftomus®). Die Klagen waren nicht ohne Grund. Adulterium 
wird nad dem Rechte nur begangen °) von der Ehefrau, die mit 
einem anderen Manne gefchlechtlihen Umgang hat, fowie von dem 
Manne, der mit einer Ehefrau ſich vergeht. Geſchlechtlicher Ber 
tehr des Ehemannes mit unverheirateten Weibern ift dagegen fein 
Ehebruch und bleibt ftraflos. Erklärte doch auch das Geſetz Theo 
doſius' DI. Untreue diefer Art nur dann für einen Scheidungsgrund, 
wenn der Mann ſich die Maitreſſe im eigenen Haufe Hielt, wor 
gegen feitens der Fran ſchon Zufammenkünfte, die fie ohne Wiffen 
de8 Mannes mit anderen Männern Hatte, als ſolcher galten. 
Wieberverheiratung Geſchiedener Eonnte die Kirche nur in den 
Fällen anerkennen, wo ihren Grundfägen nad die Scheidung recht⸗ 
mäßig geichehen war. Das Recht der Wiederverheiratung im Falle 
des Ehebruchs wird ausdrüdlic anerkannt 4), doc warb die neu 
Heirat fon frühzeitig als bedenklich heanftandet und davon abge 


a) Höm. V: oðros zig awggoauvns ü »önog ou Tais yurasfı uovo» mag 
905 ügora, dAAd zul To dvdgdaw: ol di rois od Rlou router 
vouodssug neoseyortes, dveuduvor zaralsimove zig nopvelas toi; 
dvdguaı jene Eovalav, Bageis ulv slow zgırai xai duddazaleı ris 
— yuvaılv geuvörntos wri. 

b) Hom. V. in 1Thess.: xa$dneg nueis zas yuvaixas xoAdlouev, Star 
Huiv ovvoxovam Eregois davrie duew‘ oirw za) nuels xolafo- 
us3a, xäv un ind zöv vouwv funaluw, dA Und or od‘ zi 
yae xal roiro noyela Eoriv, 

e) i. Is. 81 D. ad leg. Jul. de adult. 

d) Epiph. haer. LIX, 4: övexev rıwös ngogdesus, mogvelas, # nosyeis; 
A xaxis altlus ywpisnoi” yerouevov, avvapgvra devrepg yırazı 
A ywvalza devregg dvdgl, oılz airıdraı 6 Helos Abyos. Ambrofius (in 
1Cor. 7,15) fügt nod) den Fall bösficher Verlaſſung (d. h. wol millfiteficher 
Scheidung auf · xinen von ber Kirche nicht anerfannten Grund) durch der 
unglänbigen Chetheil Hinzu: Contumelia creatoris solvit jus matri- 
monüi eirca eum, qui relinquitur, ne accusetur alüi copulatus, in- 
Aidelis autem discedens et in Deum et in matrimonium peccare 
dignoseitur. 





Das römische Recht und die Kirche. 667 


rathen *), ja felbft, wenigftens für die Frau, mit Kirchenftrafe be- 
dtoht ). Auguftin, der anfangs die Sache zweifelhaft angejehen 
hatte ©), behauptete in der Schrift De adulterinis conjugiis die 
Unauflöslichkeit der Ehe auch für den Fall des Ehebruchs. Jedenfalls 
waren Fälle neuer Verheiratung jelten und mit Gewiſſensbedenken 
verbunden. Die römiſche Matrone Fabiola, die fi wegen Eher 
bruchs von ihren Manne geſchieden und auderweit verheiratet hatte, 
unterwaxf fi nach dem Tode des zweiten Gemahls freiwillig öffent« 
licher Kirchenbuße 2) (zu welcher fie mithin während des Beſtandes 
der zweiten Ehe nicht angehalten worden war). Yu allen Fällen, 
wo ein von der Kirche nicht anerkannter Grund vorlag, traf die 
fi neu Verheiratenden die Ausfhliegung aus der Kirchengemein- 
ſchaft. So entſcheidet ganz beftimmt der römifche Biſchof Inno— 
cenz I: obwol dic Ehe (nad) den bürgerlichen Gefegen) aufgelöft zu 
fein ſcheint, fo iſt doch ſowol der Mann als die Fran, menn fie 
bei Lebzeiten bes anderen Chetheils eine neue Che eingehen, des 
Ehebruchs ſchuldig ynd daher zu excommuniciren %). Der Conflict 
zwiſchen den kirchlichen und bürgerlichen Ehegefegen lag jomit offen 
vor. Hieronymus 9) fpridt ihn offen aus: andere find die Gefege 





a) Cone. Arelat. I, c. 10: De his, qui conjuges suas in adulterio de- 
prehendunt, et iidem sunt adolescentes fideles et prohibentur nu- 
bere, placuit, ut, in quantum potest, consilium eis detur, ne viven- 
tibus uxoribus suis, licet adulteris. alias aceipiant. 

b) Conc. Mlib. can. 9. 

c) De fide et oper. 19. 

d) Hieron. cp. 30 ad Oceanum: Quis hoc crederet, ut pust mortem 
secundi viri in semet ipsam reyersa saccum indueret, ut errorem 
publice fateretur et tota urbe spectante Romana ante diem paschae 
basilica quondam Laterani staret in ordine poenitentium. Siero- 

nymus erklart ſich hier für die abfolute Unfösbarteit des Ehebaudes. 

e) Epist. 6 ad Exuperium Tolos. epise.: Qui vel uxore vivente, quam- 
vis dissociatum videatur esse conjugium, ad aliam copulam festi- 
narunt, neque possunt adulteri non videri, in tantum, ut etiam hae 
personae, quibus tales conjunetae sunt, etiam ipsae adulterium 
commisisse videantur, secundum illud, quod legimus in Evangelio: 
qui dimiserit etc. Et ideo omnes a communione fidelium abstinendos. 

f) Hieron. ep. 30. — Aug. Serm. 892: Adulteria, non jure fori, sed 
jure coeli. 


668 Köhler 


der Gäfaren, andere die Ehrifti, anderes gebietet Papinianus, an 
deres Paulus. in Eoncil zu Mileve, welches fi für die abj- 
lute Unzuläßigteit der Wieberverheiratung Geſchiedener ausgeſprochen 
hatte, befchloß daher, ein kaiſerliches Geſetz zu erbitten, welches dieſer 
Forderung die bürgerliche Sanction ertheile *). Es iſt wicht dazu 
gefommen, noch die Scheidungsgefege des Yuftinian kommen im 
mefentfichen ganz mit den oben befprodenen von Honorius und 
Theodos II. überein. Die Zufäßigkeit der Scheidung mit gegen: 
feitiger Einwilligung wird von Yuftinian ausdrücklich anerkannt ®), 
wurde zwar jpäter von ihm verboten °), mußte aber von feinem 
Nachfolger Juſtinus wiederhergeftellt werben %), da ſich das Berbot 
als undurchführbar ermiefen Hatte. Eine Milderung der früheren 
Beftimmungen lag nur darin, daß von Juſtinian die fogenannten 
Netentionen, d. h. die Abzüge, welche der ſich fcheidende Ehemann 
im Falle einer Schuld der Frau von der an diefe zurückfallenden 
dos zu machen berechtigt war, abgefchafft wurden ). Als Grund 
wird u. a. angegeben, daß darin für den Wann bie Verſuchung 
fiege, der Frau grundfos allerlei Schuld aufzubürden f). Der 
Einfluß chriſtlicher Denkweife ift nicht zu verfennen. — 

Was die Eheverbote betrifft, fo wurde zunächft die Zahl 
der verbotenen Verwandtſchaftsgrade durch die Kirche nicht weſent 
lich geändert. Hinzu fam durch Conftantins Söhne die Ehe unter 
Geſchwiſterlindern, welche indefjen von je her ungewöhnlich und 
der Sitte zuwider gemefen war 8), und Auguftin, der ſich für das 
Verbot ausſpricht, führt nur einen allgemein menſchlichen, nicht 


&) Conc. Milev. II, can. 17: In qua causa legem imperialem peten- 
dum esse promulgari. 

b) Nor. 22. 

©) Nor. 117. 

4) Nov. 140. 

e) L. un. C. de rei uxoriae act. 

f) L. c. Ne varium genus culpae mariti contra uxores excogitent. 

8) Tacit. Ann. XII, 6: conjugia sobrinarum (er meint wahrſcheinlich 
Geſchwiſtertinder) din ignota. — Aug. de civ. Dei XV, 16 fiber die 
felben: raro per morem fiebat,, quod fieri per leges licebat. Arca 
dius und Honorius (L. 19 0. de nupt.) gaben fie wieder frei. 





Das römische Recht und bie Kirche. 669 


ſpecifiſch chriftlichen Grund dafür an*). Das moſaiſche Geſetz 
hatte dieſen Grad nicht unter den verbotenen. Die Ehen mit Ge⸗ 
ſchwiſtern des verſtorbenen Gatten, auch früher ſchon durch die 
Sitte misbilligt, waren feit Conſtantins Söhnen verboten ®). Der 
Einfluß Hriftlicher Anſchauung ift hier infofern zu erfennen, ale 
nad) diefer die Ehegatten als eine einzige Perfünlichkeit, mithin die 
Geichwifter des einen auch als die des anderen zu betrachten find. 
Doch finden fich kirchliche Vorſchriften in diefem Sinne erft nad 
dem erwähnten Eaiferlichen Geſetze e). Dagegen accommobirte fi 
der Staat infofern nicht den durch die Kirche vertretenen ſittlichen 
Borderungen, daß er inceftuefe Ehen direct unmöglich gemacht hätte. 
Die von Eonftantind Söhnen und dann von Theodos I. darauf 
geſetzte Todesſtrafe hoben Arcadins und Honorius auf. Die fehul- 
digen Eheleute werben von höchſt empfindlichen Nachtgeilen bee 
troffen: fie können weder ſich, noch ihren Kindern bei Lebzeiten 
oder auf den Todesfall etwas zuwenden u. ſ. f., ihre Ehe wird 
rechtlich als nicht vorhanden angejehen 9); aber nichts im Gefege 
weift darauf bin, daß der thatfächliche Beſtand einer ſolchen Ber- 
bindung vom Staate ans gehindert und das barin liegende fittliche 
Aergernis entfernt werben folle. 

Die fonftigen, für die Kirche durchaus annehmbaren Ehehinderr 
niffe des römischen Rechts (Unfähigkeit zum Confentiren, Usmün- 
digkeit, mangelnder Eonfens des Inhabers ber väterlichen Gewalt, 
Zrauerzeit der Witte) wurden ſchon durch Eonftantin und dann 
durch Jovian noch um eines vermehrt, das Gelübde der Keufch- 
heit. Schon der bloße Verſuch, eine sanctimonialis virgo zur Ehe 
zu bringen, wurde mit der ſchwerſten Strafe bedroht *). Ueber 
einftimmend damit nennt es Auguftin verdammlich, wenn eine durch 





a) L.c.: Nescio quomodo inest humanae verecundiae quidquam natu- 
rale atque laudabile, ut cuique debet causa propinquitatis vere- 
cundam honorem, ab ea contineat. 

b) L. 2. C. Th. de incest. nupt. 

c) Bgl. Binterim VI, 2. ©. 471 ff. 

d) L.6, C. de incest. nupt.: Neque uxorem, neque filins ex ea editos 
habere credatur. 

e) L. 5. C. de epise. 


Weol. Stud. Jahrg. 1869. 4 


670 Röhler 


das Keufchheitsgefübde gebundene Jungfrau auch nur die Che 
wünfde *). Sie galten als Verlobte des Herrn ®), daher eine Heirat 
von ihrer Seite als Ehebruch, ſelbſt als Inceſt °). 

Eine andere Reihe römifch rechtlicher Eheverbote wurde durch 
den Einfluß des Ehriftentums befeitigt. Nach der Lex Papia Poppaea 
jollte fein Senator oder Descendent eines ſolchen eine Freigelaffene 
oder eine jolche Perfon Heiraten, die felbft oder deren Eltern 
Schauſpieler find oder waren. Allen Freigeborenen verbietet das 
felbe Gefeg, eine famosa mulier zu heiraten, d. h. eine öffentliche 
Dirne, eine in publico judicio Verurtheite, eine auf Ehebruch Er- 
tappte oder eine Schaufpielerin. — Yuftinus und nad ihm Ju⸗ 
ftinian 2) erklärten die Ehen felbft der verachtlichen Schaufpiele: 
rinnen, im Sale, daß diefe zu ehrbarer Lebensweiſe zurücklehren 
würden, mit den vornehmften Perfonen für ftatthaft. Juſtinian 
erleichterte noch den Rücktritt folder Frauenzimmer vom Theater 
dadurch, daß er den Eid, durch weichen man bisweilen denfelben 
zu verhindern fuchte, für ungültig erflärte. Derjelbe hob nachher 
die Verbote früherer Kaifer Hinfichtlih der Ehen von Senatoren 
mit verworfenen Perſonen ausdrüdlih auf und geftattete einem 
Jeden, jeine Freigelaſſene zu heiraten *). Mögen bei diefer Milde 
gegen Frauensperſonen vou zweibentigem Rufe Yuftinians perjün- 
liche Berhältniffe mitgewirkt Haben — feine Gemalin Theodora 
war eine geweſene Schaufpielerin —, fo liegt doch das treibende 
Motiv gewiß tiefer. Es war der Geift des Chriſtentums, der 
den Gefallenen jederzeit den Weg zur Umkehr offen zu halten und 
bereute Sünden zu vergeffen lehrt, und — in NRüdfict auf das 
Eheverbot wegen Standesverfchiedenheit — die im Ehriftentum be: 
gründete Achtung des Nechtes der Perfönlichkeit als ſolcher, abge: 
fehen von der Zufälligfeit der Geburt und des Standes. Dog 
ift bemerfenswerth, daß ſich gegen jene Beftimmungen des Rechtes 

&) De bono viduit. 9: Jam non solum capeäsere nuptias, sed, etiamsi 
non nubatur, nubere velle damnabile est. 
b) Aug. tract. 9 in c. 2 Joh.: Non sine nuptüs sunt, — sponsus est 

Christus. 

©) Hieron. c. Jovin. I, 18: Non tam adulterae sunt, quam incestae. 
qh L. 38. C. de episc. aud. 
©) Nov. 55, c. 1. Nov. 117, c. 6. Nov. 78, c. 3. 











Z Das römijche Recht und die Kirche. 671 


ein Widerſpruch von kirchlicher Seite nirgends findet. Vielmehr 
war es gerade der erſte chriſtliche Kaiſer geweſen, der den höheren 
Staatsbeamten verbot, ihre mit Sclavinnen, Freigelaſſenen, Schau- 
fpieferinnen ac. erzeugten Kinder zu Iegitimiren, und der in demfelben 
Geſetz Vorſorge traf, daß nicht Frauen edelen Standes zu nichte 
ftandeögemäßer Heirat verleitet würden *). Aus dem Schweigen 
der kirchlichen Kanones in diefer Beziehung konnte fogar der Schluß 
gezogen werden, daß dergleichen nichtftandesmäßige Ehen auch von 
der Kirche verpönt geweſen feien ®), mas freilich nicht bloß der 
Begründung, fondern auch der Wahrſcheinlichkeit entbehrt. 
Dagegen drängte das Bewußtſein der Kirche zu einer neuen, 
dem Rechte bisher unbefaunten Art von Ehehindernifjen, der wegen 
Refigionsverfchiedenheit °). Entfchieden miebilligen die Kirchenlehrer 
die Ehen mit Ungläubigen, welche Tertullian geradezu stupra 
nennt %). Als Grund der Misbilligung gibt Tertullian die Ger 
fahr der Verführung zum Abfall für den chriftlichen Gatten an *), 
Ambroſius, daß die abfolute Lebensgemeinfchaft, welche die Ehe 
darjtelle, vor allem auch Gemeinfchaft des religiöfen Lebens for- 
dere). Die Emcilien haben frühzeitig verboten, chriſtliche Jung⸗ 
frauen an Heiden, Juden oder Häretiker zur Ehe zu geben ®), nicht 
aber umgekehrt eben folde Heiraten chriftlicher Männer. Erſt 


a) L. 1. C. de nat. lib. (von Eonftantin), vgl. L. 6. C. de incest. nupt. 
(von Balentinian und Marcian). 

b) Bingham IX, 296: Neque dubium est, quin, quod tam severe pu- 
nitum est in republica, in ecelesia, pro eo ac decuerit, punitum sit, 
ut ne istiusmodi illicitae praxes foveri vel adjuvari viderentur, 
quod ignominiae et dedecori futurum erat ecelesiae, tametsi nullos 
canones ecelesiasticos diserte contra hanc rem factos meminerim. 

ce) Wiesehahn, De impedimento disparitat. cultus (Berol. 1865), 
p- 7 aqq. 

a) Ad ux. I, 2. 

e) De coron. mil. c. 12: Non nubamus ethnieis, ne nos ad idolola- 
triam usque deducant. 

f) Ambros. de Abrah. c. 9: Quomodo potest congruere caritas, ubi 
diserepat fides? — Primum ergo in conjugio religio quaeritur. — 
Epist. 70. Quomodo potest conjugium diei, ubi non est (fidei) 
concordia? 

g) Conc. Illib, (a. 306), c. 15. Arelat. (a. 318), c. 11. 

44* 


679 Köhler 


fpäter finden ſich Beſchlüſſe *), welche den Söhnen der Efsriter 
und gewiſſen Claſſen des Clerus (dem Lectoren und Pfalmiften, 
bei den Höheren Ordnungen verftand es ſich wol von felbft) ver⸗ 
bieten, fi mit nicht fatholifchen Frauen zu verbinden. Noch weiter 
gehen andere Concilien, welche den Ehriften insgemein die (he wit 
Juden unterfggen ?). Aber für die Zumiderhandelnden werden nur 
Kircheuſtrafen gedroht *), nie wird die Religionsverſchiedenheit alt 
ein trennendes, die Ehe unmöglid; machendes Hindernis aufgeitellt. 
Erft fpät findet fig diefe Aufftellung bei einem fpanifchen Concil 
in Bezug auf Ehen zwiſchen Chriſten und Juden 9). 

Demgemäß hat aud das Recht Hier nur fehr theifweife den 
tirchlichen Standpunkt adoptirt. Nur die Ehen zwiſchen Epriften 
und Juden bat es unterfagt*), im Uebrigen kennt es die Re⸗ 
ligionsperſchiedenheit als Ehehiudernis nicht *). Juſtinian erkenut 
die Fähigkeit zu rechtmäßiger Eheſchließung als ein gemeines Recht 
der römifchen Bürger an ®). Ein richtiges Gefühl hielt die Geſet⸗ 
aeber ab, von dem Gebiete des Rechtes auf das der chriftlicen 
Sittlichkeit Herüherzutreten, fowie andererſeits die Kirche, ihre, von 
ihrem Standpunkt aus durchaus berechtigten Forderungen anders 


a) Conc. Hippon. (a, 898). Carth. II, e. 12. Chalced. (a. 451), c.14, 
sege. 15. 

b) Conc. Aurel. (a. 538), c. 19. Arvern. (a. 535), c. 6. 

e) Conc. Arelat. c. 11: De puellig fidelibus, quae gentilibug jungantur, 
placuit, ut aliquanto tempore a communione geparentur. — Cont. 
Arvern. c. 6: Si quis judaicae pravitsti jugali societate com 
jungitur, — quicunque tantum nefas admisigse dignoseitur, a Chri- 
‚stianorum coetu atque convivio et communione ecelesiae, cujıs 
sociatur hostibus, segregetur. 

d) Conc. Tolet. IV, c. 68. 

©) L. 6. C. de Jud. (Balentinian II., Theodofius und Arcadius). 

f) Ex Leo und Anthemius (L. 10. C. de pagan.) entziehen den Heiden 
auch die Fähigkeit zu rechtmäßigen Ehen. Das Verbot des Valentinian 
und Valens (L. 1. C. Th. de nupt. gent.), daß Provinzbewohret 
mit barbaris oder gentilibus cheliche Berbinbungen eingehen, gehört 
micht Hierher. Nicht die veligiöfe, ſondern die nationale Verſchiedenheit if 
der Grund des Verbotes. 

©) Inst. I, 10: Jugtag autem nuptias'inter se cives Romgni contrahunt. 





Das rönifche edit und die Kirche. es 


als daurch die ihr zu Gebote ftehenden moralifchen Mittel erreichen 
au wollen. Chen zwiſchen Ehriften und Ungläubigen, in welchen ſchon 
Cyprian eine Urfache der Verfolgung umter Decius glaubte erblicken 
zu müffen *), Haben daher auch nie gefehlt ®), ebenfowenig gemifchte 
Ehen zwiſchen Kathofiten und Häretifern, wie aus einer Gefeged- 
flelfe deutlich hervorgeht *). 

Für die Eheſchließung ſchrieb das römiſche Recht keinerlei 
religidſe, wie überhaupt feine folenne Form als nothwendig vor. 
Die in Mterer Zeit fehr gewöhnlichen und, wie es fcheint, auch 
zu den Zeiten des Chriftentums noch üblichen religidſen Hochzeits- 
gebrände mit Opern, Aufpicien u. dal.) Hatten rechtlich keinerlei 
Bebentung. Der gegenfeitige Conſens genügte zut Begründung ber 
Ehe. Die einzige mit vetlihen Wirkungen verfehene religiöfe Eher 
fgliegungsform, die fogenannte confarreatio °), diente eigentlich 
wicht zur Begründung der Ehe als folder, fondern der fogenannten 
manus mariti, eine® unabhängig von jener beftehenben Rechtsver⸗ 
häftniffes, durch welches das ganze Vermögen ber Ehefrau in die 
Hand des Mannes kam und daflır die Frau in deffen Familie in 
der Stellung einer Haustochter eintrat. Sie gehörte im der 
Raiferzeit zu den ehrwürbigen Altertümern f), denen eine reale 
Bedentung längft nicht mehr zufam. Nur noch sacrorum causa 
wurde ihr eine Wirkung beigelegt (d. 5. fofern bie fo verheiratete 


a) Epist. V. de lapsis. 

b) Hieron. c. Jovin. I, 10: Nunc pleraeque, contemnentes Apostoli 
jussionem, junguntur gentilibus. 

o) L. 12. C. de haeret.: Parentibus diversae fidei existentibus et re- 
ligionis, illius sententia praevaleat, qui ad orthodoxam illos (liberos) 
elegerit perducere fidem. Die ganze Eonfitution (von Fuftin) Hartdelt 
dom den Haretilern. 

&) Stellen, wit Tertull. De cor. mil. 12: Idololatria, a qua apud 
illog matrimonia ineipiunt — De praeser. haer. 40: der Kenfel 
mache den summus pontifex bei ben Heiraten — weljen darauf hin. 

e) So genamt son bem Opfer eines Brotes aus far, welches dabei vor- 
tam. Der Pontifex maximus verband unter folennen Formeln das 
Paar, welches verhülft auf zwei mit der Haut des Opferthieres bededten 
Stüften ſag. 

f) Sie ſtammen ex horrida illa antiquitäte, jagt Tee. Ann. IV, 16. 


74 „Köhler 


Frau Antheil an ben sacris des Mannes erhielt); die SPriefter 
waren wol die einzigen, die fich ihrer noch bedienten. 

Somit war in Beziehung auf die Ehefchliegung ein Anlaß zum 
Conflict zwifchen der Kirche und den Staatögefegen nicht vorhanden. 
Die kirchliche Einfegnung, deren Vorhandenfein bereits von Ter- 
tulfian *), dann von Ambrofius ?) und vielen Anderen bezeugt wird, 
fand von Seiten des Staates fein Hindernis, war aber aud für 
diefen irrelevant. Beſtreitbar ift es, ob für das kirchliche Bewuft- 
fein die Einfegnung als die eigentliche und nothiwendige Form der 
Eingehung der Ehe galt, oder ob durch fie mur die bereits vor- 
hanbene Ehe geheiligt werden ſollte. Für das Erftere ſprechen die 
Ausbrüde postulare und dare, die von der kirchlichen Copulation 
gebraucht werben, fowie die Aeußerung des Tertullian, daß nidt 
tirchlich gefchloffene Ehen unter den Chriften ſchwerlich als ſolche 
anerfannt werden würden °). Doc) ift fonft ausdrücklich die Rede 
davon, baß der Priefter durch Anrufung Gottes die Verbindung 
nur beftätige (confirmare), daß er den bereits gültig gefchlofjenen 
Bund befeftige und jegne (eorum jam pacta vel placita firmentur 
vel benedicantur) ®). Verbote oder Androhungen firchlicher Strafen 
für außerkirchlich geſchloſſene Ehen finden fi nit. Man kann 
deshalb annehmen, dag auch die letzteren bei der Kirche anerfamt 
gewefen feien. Auch die Sitte, die zweiten Ehen und die von Ge 
ſchwächten nicht zu fegnen, deutet darauf, daß Tegteres nicht ale 
weſentlich betrachtet wurde. Doc gibt ſich die Neigung, der kird- 
lichen Eheſchließung auch bürgerliche Wirkungen zu vindiciren, ber 
veit® darin zu erfennen, daR mach Auguftins Zeugnis ©) die ſoge⸗ 


a) Ad ux. I, 9. De monog. 11. 

b) Ep. 70: Quum ipsum conjugium velamine sacerdotali et bene 
dictione sanctificari oporteat, quomodo.potest conjugium dici, ubi 
non est (fidei) concordia ? 

c) De pudic. 4: Penes nos occultae conjunctiones, id est non prius 
apud ecelesiam professae, juxta moechiam et fornicationem judicari 
perielitantur. 

d) Binterim VI, 2. ©. 30. 34. 

e) Serm. 5l. De cone. int. Matth. et Luc. V, p. 298. An ber Ih 
teren Stelle macht er eigentümlichen Gebrauch von der im Rechte ge 





Das vömifde Recht und die Kirche. 675 


nannten tabulae nuptiales, d. h. Schriftliche Feſtſetzungen über bie 
Vermögensverhältnife, welche gebräuchlich, aber nicht nothwendig 
waren, öffentlich in der Kirche vorgelefen zu werden pflegten. Juſti— 
nian bat dem unverkennbar vorhandenen Zuge, die Eheſchließung 
auch nad) ihrer bürgerlich-rechtlichen Seite in die Kirche zu ver- 
legen, einigermaßen nachgegeben. Senatoren und andere Perſonen 
der höchſten Rangclaſſen follen nad einem von ihm gegebenen 
Geſetz niemals ohne fchriftliche Cheverträge Heiraten. Anderen 
Berfonen von Stande ift dies geftattet, fie follen aber alsdann 
ihren Eheconfen® in der Kirche vor dem Patron (defensor) der 
felben und drei oder vier Geiftlichen erflären, und das darüber 
aufgenommene Protofoli foll im Kirchenarchiv aufbewahrt werben ®). 
So konnte die kirchliche Feier leicht mit dem Rechtsgeſchäfte in 
eins verbunden werden. Aber ein fpäteres Geſetz ?) ließ auch bei 
den Höheren, nur nicht bei jenen höchften Ständen wieder form- 
loſe Ehen (ex solo affectu) zu, wie es bei den geringeren Claſſen 
immer gemwejen war. Erſt fpät, zu den Zeiten Leo's, wurde für 
den Orient die kirchliche Trauung obligatorifch. 

Ein dem römifchen Rechte eigentüimliches Inſtitut war das 
Eoncubinat, gejeglich anerfannt durch die Lex Julia et Papia, 
welche die eheliche Berbindung mit gemifjen niederen Perfonen 
unterfagte, dagegen jene außereheliche Verbindung, jofern es eine 
monogamijche war (d. 5. nicht neben ber Ehefrau oder mit zwei 
Concubinen zugleich) zuließ. Won*der Ehe unterfchied es ſich durch 
die mangelnde Abſicht vollkommener Lebensgemeinſchaft; die Eon- 
cubine erhielt nicht des Mannes Würde und Rang, die Kinder 


bräuchlichen und in den Eheverträgen gewöhnlichen Formel: liberorum 
procreandorum causa. Damit fei ber einzige erlaubte Zweck der ehe ⸗ 
ũchen Beiwohnung angezeigt. Nisi ad hoc dentur, ad hoc aceipiantur 
uxores, quis sana fronte dat filiam suam libidini alienae? Der © 
eigentliche Sinn der Nechtsformel war: die Ehe jolle ein matrimonium 
legitimum fein (jtoifdjen zwei cives), aus welchem Kinder hervorgehen 
fönnen, welche patrem sequuntur (im väterlichen Stamme nachfolgen) 
und unter der väterlichen Gewalt ftehen. 

a) Nov. 74, c. 4. 

b) Nov. 117, e. 4. 


e76 Köhler 


nicht die Rechte von ehelichen. Es heißt ‘daher inaequale con- 
jugium *). Dem hriftlihen Bewußtfein mußte die ganze Sache 
zuwider fein. Die apoftolifhen Eonftitutionen forderten deshalb, 
daß der Gläubige, der eine Concubine habe, diefelbe, wenn fie eine 
Sclavin fei, entlafje, anderenfalis fie eheliche, bei Strafe der Er— 
communication d). Das Recht Hat diefe Stellung zur Sade nicht 
adoptirt. Auc unter den chriſtlichen Kaifern blieb das Concubinat 
eine licita consuetudo, wie es Juſtinian nennt e). Nur indirect 
fuchten fie der Sache entgegenzuwirtn. So ſchon Gonftantin, 
indem er den Senatoren und anderen hohen Beamten werbet, ihren 
aus irgend einer Verbindung mit gewiſſen niederen Frauensperſonen 
erzeugten Kindern etwas zuzumenden 9); ein Verbot, welches von 
fpäteren Kaifern mehrfach gemildert wurde. Derfelbe verfügte da- 
gegen, daß Concubinenfinder (liberi naturales) dadurch zu ehelichen 
gemacht werden könnten, daß man ihre Mutter, fofern mit ihr 
Connubium zuläßig fei, Heirate °). Yuftin *) verbot die Annahme an 
Kindes Statt (Arrogation oder Adoption) der natürlichen Kinder 
in der ausgefprochenen Abficht, die Eingehung ordentlicher Ehen 
zu befördern ©). Juſtinian ermeuerte das Verbot ®), nachdem er 
dagegen die Legitimation durch wacjfolgende Heirat zu eimem blei⸗ 
benden Inſtitut erhoben hatte ). Derfelbe eröffnete für den Fall, 
daß der Vater feine ehelichen Kinder habe und die Mutter zu ehe 
lichen außer Stande fei, noch den anderen Weg der Legitimation 
per rescriptum principis *). — Die angeführten Bejtimmungen 
laffen deutlich erkennen, wie die Gefeggeber nur ſchwer gegen in 


8) L. 8. C. de nat. lib. 

b) Binterim VI, 2. ©. 345. 

©) L. 5 fin. C. ad Sch Orf. 

@L.1. C. de nat. lib. 

e) L. 5. C. eod. 

ML. 7. C. eod. 

g) L. c.: In posterum sciant omanes, legitimis matrimeniis Iegitimam 
sibi posteritatem quaerendam. 

h) Nor. 74, c. 8. 

i) Nov. dit. pr. 

x) Nor. dit. c. 1. 











Das römifche Recht und die Kirche, 677 


dem öffentlichen Bewußtſein feft gewurzelte Anfchauungen an- 
fämpften. Die Kirche hat in dieſer Beziehung merkwürdiger Weife 
nichts gethan. Es finden fi, feine kirchlichen Vorſchriften, welche 
die oben erwähnte Drohung kirchlicher Beſtrafung für die im Con— 
cubinat Lebenden wiederholten. Es ſcheint, als habe man einen 
fruchtloſen Kampf gegen die herrſchende Sitte geſcheut, wenngleich 
man deren Widerſpruch gegen die ſittlichen Begriffe des Chriſten— 
tums ſchwerlich überſehen Konnte. Vielmehr findet ſich ausdrüd- 
liche Anerkennung des Concubinates unter der einen Bedingung, 
daß es nur mit einer einzigen Frauensperſon ſtattfinde und nicht 
neben einer rechtmaßigen Ehefrau*). Entſcheidender war die Einwir⸗ 
kung an einem anderen Punkte, mo es ſich gerade weniger um 
eigentlich chriftliche, als vielmehr um mönchiſch-asketiſche An- 
ſchauungen handelte. Die Unverheirateten und Kinderlofen 
waren mit mancherlei Machtheilen bedroht, insbefondere in Folge 
ber Lex Julia et Papia Poppaea. Dem wiherfpracd die in der 
Kirche Herrichende Hochſchätzung des jungfräulichen Lebens»), Bereits 
Eonftantin hob daher jene Strafbeftimmungen auf: Manden feien 
Rinder durch die Natur verfagt, welche man dafür nicht ftrafen 
dürfe; audere emthieften ſich des Ehebundes wegen glühender Liebe 
zur Philofophie (es find wol chriſtliche Asketen gemeint), wie denn 
aud viele Frauen, um ſich "Gott zu weihen, beftändige Jungfrau— 
{haft ermählt Hätten ). 

Die zweite Ehe, einft von ber L. Julia et Papia Poppaea 
gefordert, aber von der Kirche misbilligt und theilweiſe mit Pöni- 
tenzen belegt 2), wurde in der hriftlichen Zeit durch die Geſetze 
mit gewiffen Nachtheilen bedroht, wenigftens wenn Kinder aus 
erfter Ehe vorhanden waren °). “ 


a) Conc.Tolet. I, can. 17: Qui non bahet uxorem et pro uxore concubinam 
abet, a communionenon repellatur, tantum ut uninsmulieris aut uxoris 
aut cancubinae (ut ei placuerit) sit conjunotione contentus, alias vero 
vivens abjiciatur, donec desinat et per poenitentiam revertatur. 

b) Tertull. Apol. 4: Vanissimas Papias leges, quae ante liberos sus- 
eipi cogunt, quam Juliae matrimonium contrahi ete. 

c) Euseb. Vit. Const. IV, 26. 

d) Binterim VI, 1. S. 859. 362f. 366. 

e) Säweppe, ©. 725f. 


678 Köhler 


Die Ehe führt uns weiter zu der Gewalt des Baters 
über die Kinder. Neugeborene Kinder, insbefondere misgeftaltete, 
zu töbten oder auszufegen, war von den alten Gefegen zugelaffen, nur 
daß die Fran nicht dem Rechte des Mannes als pater familias vorgreifen 
durfte. Gleichfalls nur aus diefem Grunde wurde die Abtreibung der 
Leibesfrucht beftraft: die Frau dürfe ihren Ehemann nicht um feine 
Kinder betrügen *). Noch unmittelbar vor Conftantin wird das Recht des 
Baters, Kinder auszufegen, gejeglich anerfannt®). Lactantiug°) macht 
dagegen die hriftlihen Anfchauungen geltend: nicht Menfchen ſeien 
Herren eines Menfchenfebens 4), fondern Gott allein; es fei grau 
fam, fein eigenes Fleifh und Blut ber Zerfleiſchung durch bie 
Hunde oder im beften Falle der Selaverei oder der Schande preis: 
zugeben; ferner es könnten, wie die Geſchichte des Oedipus zeige, 
ſchwere fittliche Verwidelungen daraus enttehen. Wer aber be 
fürchte, eine zahlreiche Familie nicht ernähren zu können, der folk 
anf Gott vertrauen *) ober aber fi des Erzeugens von Kindern 
enthalten. — Conftantin fuchte mittelbar entgegenzuwirken, indem 
er armen Eitern Alimente aus der Staatscaſſe zuſprach und ihnen 
ausnahmsweiſe das Verkaufen Neugeborener geftattete?), ſowie durd 
Vorschriften, welche die Aufnahme der Ausgefegten durch Freunde ber 
günftigten®). Erſt Valentinian mit Valens und Gratian hat die Aus 
fegung und Tödtung der Kinder verboten, und zwar bei Strafe des 
Mordesb). Auch Hier Hat die Kirche officielf nichts gethan. — Dit 
patria potestas umfaßte u. a. da® Recht über Leben und Tod der 
Kinder, doch nicht als Befugnis zu willfürlicher Töbtung derfelben, 
a) L. 4. D. de extr. erim. Indignum videri potest, impune eam ma 
ritum liberis fraudasse, Kirchengefege dagegen ſ. Stäublin, Geſchicht 
der Sittenlehre Jeſu III, 398. 

b) L. 16. C. de nupt. (Diocletian und Marimian). 

c) Inst. div. VI, 20. 

& L. c.: Ad vitam Deus inspirat animas, non ad mortem; — animk 
abnegant lucem non a se datam. 

e) L. c.: Quasi — non quotidie Deus ex divitibus pauperes et ex 
pauperibus divites faciat. 

f)L. 2. C. de patr. qui fil! | 

@L. 1. C. Th. eod. 

h) L. 8. C. ad l. Corn. de sicar. 








Das römische Recht und die Kirche. 679 


fondern als Beftandtheil des dem Hausvater als judex domesticus 
zuftehenden Strafvechtes, welches nicht ohne Zuziehung der Ber 
wandten und Freunde geübt werden follte. Zur Kaiferzeit ſcheint 
es noch beftanden zu haben *), doch finden fich hier bereits Maß- 
regeln zum Schug der Kinder gegen Willkür und Graufamteit. 
Eonftantin belegte alle ihre Kinder töbtende Väter mit der Strafe 
des Parricidiums>), — das alte Recht, die Kinder zu verkaufen, 
bereit8 unter den heidniſchen Kaiſern auf Fälle der äußerften Noth 
beiränft), beſtand ſchon unter Diocletian nicht mehr 9), der über 
haupt milder werdende Geift der Zeit hatte es befeitigt. Abgeſehen 
von diefen Milderungen im einzelnen erlitt die Auffafjung der 
väterlichen Gewalt im ganzen feine Modification, fo nahe e& bei 
chriſtlicher Auffaſſung des Verhältniſſes gelegen Hätte, diefelbe nicht 
bloß unter die Gefichtspunfte der Berechtigung, fondern auch ber 
Verpflichtung zum Schuge und für das Wohl der Kinder zu bes 
trachten. — Bei der Tutel ift ein Umſchwung der Betrachtungs⸗ 
weiſe im diefem Sinne zu bemerken, ohme daß derfelbe jedoch der 
Einwirkung der Kirche zugejchrieben werben bürfte °). 

Ein unbefchränftes Recht über Leben und Tod ftand dem Herrn 
über feine Sclaven zu. Doch finden ſich bereits feit Auguftus 
geiegliche Vorſchriften zur Linderung des Loſes der Sclaven. Sie 
dürfen nicht ohne Vermittelung der Obrigkeit zum Kampf mit 
Thieren verfauft, nicht wegen Alters oder Schwachheit oder fonft 
ohne hinreichenden Grund getödtet werden u. dergl. So konnte 
bereit® der Rechtslehrer Gajus behaupten, daß ein supra modum 
in servos suos saevire bei dem römiſchen Volke nicht mehr zu⸗ 
läßig fei). Es ift alfo weniger der Einwirkung des Chriftentums, 





a) L.2. D. ad 1. Com. de sie. 

b) L. un. C. de his qui parentes. 

©) L. ult. D. quae res pignori. 

d) L. 1. C. de lib. causa. 

e) Denn bereits der Jurift Gajus (I, 168) jagt: Utililatem pupillorum 
praetor sequitur. 

f) Vgl. L. 24 $. 5. D. sol. matrim.: Si et in suos (servos) est natura 
talis (saevus), dicendum est immoderatam ejus saevitism hoc ju- 
dicio ceörcendam (Ulpian). 


680 - Köhler 


als vielmehr dem humaneren Zuge der Zeit zuzufchreiben, wenn 
Conftantin auf diefem Wege weiter gieng und 3. B. den Herrn, 
durch deffen Mishaudlung ein unfchuldig oder übermäßig beftrafter 
Sclave ftirbt, als Mörder beftrafte *). Aufhebung der Schaveri 
oder Anerkennung des Rechtes der Perfönlichteit auch in den Sclaven 
wurde auch durch die Einwirkung des Chriftentums nicht erreidt. 
Im Eriminalredt ift feit den chriftlichen Zeiten an manden 
Buntten eine Milderung der gefetlich beftimmten Strafen bemerf- 
bar d). Verftümmelnde Strafen ſchaffte Juſtinian ab, an der Stelle 
der Kreuzigung führte Conſtantin die furca ein. Die servitus 
poenae, welde als Folge gewiſſer Verurtheilungen eintrat und 
ſamtliche Rechte des Berurtheilten vernichtete, ſchaffte Juftinian 
wenigftens für beftimmte Fälle ab, deögleihen die Vermögens 
eonfiscation. Diefer Geift größerer Milde fchloß freilich nicht aus, 
daß, dem Geifte des fich immer mehr entwidelnden Despotismut 
angemeffen, auf die Majeftätsverbrechen wahrhaft graufame Strafen 
gefegt wurden °) ungeachtet der fehr großmüthig und chriftlich 
Mingenden Art, wie ſich Theodos I. über ſolche Verbrechen ausge 
ſprochen Hatte 4} Es fheint damit wenig ernft gemeint geweſen 
zu fein. Verſchärft wurden dur den Einfluß des Ehriftentums 
die Strafen bes Ehebrud. Conftantin °) verordnete für beide 
Theile die Todesftrafe, ſowie auch die nämliche‘) für nefands 
Venus, beides nad dem Vorbilde des moſaiſchen Rechtes. Auf 
das erftere Vergehen fette Yuftinian für die Iran am die Stelle 
der Todesftrafe Iebenslängliche Einfperrung in's Klofter 8). Dat 
fteenge alte Gefeg, wonach der Ehemann gezwungen war, feine 
des Ehebruchs ſchuldige Frau zu verftoßen, änderte Yuftinian im 


a) L. 1. C. Th. de emend. servor. 

b) Schweppe a. a. D., ©. 1028 ff. 

e) L. b. C. ad leg. Jul. maj. (Honorins und Mecabins). 

d) L. un. C. si quis imp. maledix.: Si id ex levitate processerit, con- 
temnendum est, si ex insania, miseratione dignissimum, si ab in- 
juria, remittendum. 

e) L. 80 $ 1. C. ad leg. Jul. de adult. 

f) L. 81. C. eod. 

&) Nov. 184, c. 10. 





Das romiſche Reit und die Kirche. el 


Geifte chriftfichen Milde dahin ab, daß ber Mann bie gebefferte 
Frau wieder annehmen konnte *). 

Ein wichtiger Differenzpunkt hetraf die Todesſtrafe. In 
der vorconftantinifchen Zeit galt fie in der Kirche übereinftimmend 
als verwerflich ®). Denfelben Standpunkt hält zur Zeit des Ueber- 
gangs zum chriſtlichen Stgate noch Lactantius feft *), er erflärt 
ſich unbedingt gegen die Todesſtrafe 4), wie auch gegen den Krieg 
und die öffentlichen Kämpfe der Verurtheilten ). Dem Rechts 
bewußtfgin, wie dem Bedürfnis des Staates gegenüber konnte die 
Forderung nicht in ihrer Strenge aufrecht erhalten werden. Die 
Stellung der Kirche unter den hriftlichen Kaifern läßt daher eine 
gewiſſe Unficherheit nicht verfennen. Theilweiſe wurden Richter, 
die ein Todesurtheil geſprochen Hatten, nicht zur Communion 
zugelaſſen. Ambrofiug *) will dies zwar nicht als gejegliche Regel 
aufgeftelit wiſſen, räth jedoch einem Richter, der ſich in jenem 
Falle befand, an, ſich freiwillig der Communion zu enthalten, und 
fpricht fi fo aus, daß man deutlich erkennt, er wünfcht fein 
Todesurtgeil. „Verurtgeilft du zum Tode, fo wirft du entfchuldigt 
fein, thuſt du es nicht, fo wirft du Lob verdienen." Auguftin er- 
lennt an, daß unter Umftänden die Verhängung der Tobesitrafe 
mumgänglich fein möge, wünſcht jedod an den Donatiften, die 
a Rechtglauhigen Mordthaten begangen hatten, dieſelhe unter 
feinen Umftänden vollzogen ©), damit nicht der Ruhm des von 


a) Nov. eit. 

b) Tertull. de spect. 19 u. ö. 

©) Inst. div. VI, 20. 

4) L. c.: In hoc Dei praecepto nullam prorsus exceptionem fieri 
oportet, quin occidere hominem sit semper nefas, quem Deus san- 
ctum animal esse voluit. 

©) Couftantin ſtellte wenigſtens den Kampf wit Gladiatoren ab, Die Ber- 
urtheilung ad bestias fennt noch das juſtinianiſche Recht (L. 31. D. 
de poen.). “ 

f) Epist. V, 51. 

8) Ep. 160 ad Apring.: Si ergo nihil aliud constitueretur frenandae 
malitige perditorum, extrema fortasse necessitas ut tales occide- 
ventur urgeret: quamquam, quod ad nos attinet, si nihil mitius 


682 Köhler | 
jenen erfittenen Märtyrertums durch dafür geübte bfutige Ber: | 
geltung verkleinert werde, und gibt überhaupt feine Misbilligung 
der Sache deutlich zu erfennen *). Keinenfalls will er, daß um 
der Kirche willen, um deren Sache es ſich dermalen handelte, Blut 
vergoffen werde. 

Das Ganze weift auf eine tiefere Differenz in der Auffaffung 
der Strafe überhaupt hin. Das römijche Recht betrachtet die 
Strafe vorzugsweife unter dem Gefichtspunft der Wiedervergeltung: 
fie Heißt die Vergeltung (Mache) für das Vergehen ®); die Hinrid- 
tung berüctigter Straßenräuber z. B. foll darum am bem Ort 
geichehen, wo fie ihre Verbrechen verübt haben, u. a. zur Be 
ruhigung der Angehörigen der Ermordeten °), d. 5. zur Genug 
thuung für das verlegte Rechtsgefühl. Und zwar ift am die Stelle 
der in alter Zeit geübten Talton, der Zumeſſung des Strafleident 
nad) dem äußeren Maße des verurfachten Schadens, der fubjeciu 
Mafftab nad) der Größe des gezeigten böfen Willens getreten d). 
Daneben wird auch hingewieſen auf Abſchreckung ſowol des Ber 
brechers ſelbſt ), als Anderer *), ober auf Abwehr überhand- 
nehmender gemeinſchädlicher Verbrechen ®), ſowie auf Beſſerung dre 
Verbrechers ®). Die Männer der Kirche bei ihrer theokratiſchen 





eis fieri posset, mallemus eos liberos relaxari, quam passins 
fratrum nostrorum fuso eorum sanguine vindicari. 
a) Ep. 158 ad Marcell.: Si proconsul — persistit velle gladio vindicare, 
quamquam sit Christianus ete. 
b) L. 181. D. de verb. signif.: Poena est noxae vindicta. 
©) L. 28 $ 15. D. de poen.: Ut — solatio sit cognatis et affınibus in 
teremptorum. 
d) L.14. D. ad leg. Corn. de sie.: In maleficiis voluntas spectatu 
non exitus. 
©) L.1. D. de just. et jure: Bonos non solum metu poenarum—ei- 
ceere cupientes. 
f) L. 31 pr. D. depos.: Ut exemplo alüis ad deterrenda maleficia st. 
@) L.16 $20. D. de poen.: Nonnumquam evenit, ut aliquorum male 
fieiorum supplicia exacerbentur, qhotiens nimium multis person 
grassantibus exemplo opus sit. — L. un. C. de rapt. virg.: Ne 
sine vindieta talis crescat insania. 
h) L. 20. D. de poen.: Poena constituitur in emendationem hr 
minum. 











Das römiſche Recht und die Kirche. 685 


Auffaffung des Staates, wie wir folhe aus Auguftins Wert De 
civitate Dei fenneh fernen, konnten höchſtens die zulegt angegebenen, 
mehr nur nebenfächlichen Gefichtspunkte in Beziehung auf die Strafe 
ſich aneignen. Anguftin fennt daher die Strafe nur als Mittel 
zur Befjerung *). Er ermahnt die Richter, ihre Strafgewalt in 
der Weife väterlicher Erzieher zu üben ®). Durchaus dagegen fehlt 
den Männern der Kirche der Sinn für den Gedanken des Rechts, 
ſowol des jubjectiven, welches der Einzelne fi vindiciren und mos 
für er den Schug der Staatögewalt anrufen darf, als des ob- 
jectiven, welches der Staat im Act der Strafe an dem Verbrecher 
übt, von weldem letzteren Gefichtöpunfte allein die Berechtigung 
der Zodesftrafe verftanden werden kann. Sie vermögen nicht die 
Uebung ftrafender Gerechtigkeit von der durch das Chriſtentum 
verbotenen Race zu unterfcheiden °). Sie halten es für unerlaubt, 
Proceffe zu führen 4), namentlich folche Klagen zu erheben, weiche 
eine Verurteilung zum Tode nach ſich ziehen können °). Jede 
BVahrung des eigenen Rechtes unter Beſchädigung des Nächſten 
wird verboten, daher ſelbſt die Nothwehr gegen einen bewaffneten 
Räuber f). Die evangelifchen Ausfprüce vom Erdulden des Uns 
rechtes waren zum Gefeg erhoben worden. In Folge deffen ge» 
brach das Verftändnis für die eigentümliche Bedeutung des Rechtes 


a) Ep. 159 ad Marcellinum: Non quo scelestis hominibus licentiam 
faeinorum prohibeamus auferri, sed hoc magis sufficere volumus, 
ut vivi et nulla corporis parte truncati vel ab inquietudine insana 
ad sanitatis otium legum coereitione dirigantur, vel a malignis 
operibus alieui utili operi deputentur. 

b) Ibid. Cine heilſame Wirkung dieſer Betrachtungsweiſe war es, wenn, 
wie wir aus bemfelben Briefe erjehen, Richter in ber Anwendung der 
Folter bei Unterfuchungen größere Milde walten ließen, als das Geſetz 
vorſchrieb. 

c) August. ep. 159: Nec (christiane judex) in „peceatorum atrocita- 
tibus exerceas uleiscendi libidinem. 

d) Basil. M. de leg. libr. gent. I, p. 176. 

e) Lact. inst. div. VI, 20: Neque militare justo licebit, — neque 
accusare quemquam crimine capitali, quia nihil distat, utrumne 
ferro an verbo potius occidas. 

f) Ambros. offic. I, 28; III, 4. August. ep. 154 ad Publicolam. 


1.03 Röhler 


im menſchlichen Gemeinſchaftsleben und für das Aareuf geprändte 
Geſetz des Staates, während gleichwol jene Forderungen, geſetzlich 
verſtanden, fi als undurchführbar erwieſen. Aehnlich war es in 
Beziehung auf den Eid. Mit großer Uebereinſtimmung wird er 
in geſetzlicher Auffafjung des. bekannten Ausſpruches in der Berz 
predigt für verwerflich erklärt *). Nichtsdeſtoweniger konnte gegen 
über den thatſächlichen Verhäftnifien an feine Abſchaffung nit gr- 
dacht werden). Nur den Glerifern wurde fein Eid auferlegt‘) 

Eine weitere Folge dieſer Auffafiygng des Ehriftentums alt 
eines neuen Gefeges war es, daß die Kirche eine Reihe von Be 
fugniffen, welche ihrer Natur nach dem Stante zuftehen, an fih 
308. Eine eigene kirchliche Gerichtsbarkeit ) emtwidelte fih 
und fand von Seiten des Staates Anerkennung. Ihre Wurglı 
reichen in die vorconſtantiniſche Zeit zurück. Nicht nur alle Streitig 
keiten der Glerifer unter einander wurden nor den Richterſtuhl de 
Biſchofs gezogen, fondern auch alle Proceſſe von Laien, ſobald die 
Borteien einverftanden waren, den Biſchof als Schiedsrichter anzu⸗ 
erkennen. Das letztere konnte vom Standpunkte des Rechtes nicht 
beauftandet werden, da dasſelbe in allen Füllen den proceſſirenden 
Barteien zuließ, durch Webereinkunft auf einen Schiedsrichter zu 
compromittiren, von deſſen Ausſpruch daun nicht appektirt werden 
tonnte. Der Vorbehalt, daß die Biſchöfe als Schiedsrichter nur 
in Folge eines förmlichen Compromiffes, mithin nie gegen der 
Beklagten Willen ſprechen dürfen, wird daher von den Geſetzgebern 
durchaus feſtgehalten e), fowie überhaupt der Grundfag, daß den 
Biſchöfen ale ſolchen eine Gerichtsbarkeit nicht zuftehe *). Eine 





a) Stäudlin, Geſchichte der Sittenlehre Jeſu LU, 101. 220. 24. 
b) Bingham VU, 3öösgg.:-Die Chriften ſchworen bei der Dreieinigfeit und 
per salutem ober majestatem imperatoris. 
e) L. 25. C. de episc. et cler.: Ecclesiasticis regulis et canone a ber 
tissimis episcopis antiquitus instituto cleriei jurare prohibentur. 
qh Pland, Geſchichte der chriftlich - kirchlichen Geſellſchaftsverf. I, 297 fi 
Zimmern IH, 64 ff. 

e) Nov. 12. 

f) Nov. cit.: Constat episcopos forum legibus non habere, nec de 
aliis causis — praeter religionem posse cognoscere, 





Das römifche Recht und die Kirche. 685 


Beglinftigung Tag nur darin, daß nad) einer Verordnung Gons 
fantins *) die fehiedsrichterlichen Ausfprüche der Bifchöfe von den 
weltlihen Behörden ohne weiteres erequirt werden mußten. 

Aber aud eine Strafgerihtsbarkeit wurde von der Kirche 
geübt. Nicht bloß eigentlich kirchliche Vergehungen, d. h. Verletzungen 
der lirchlichen Disciplin und Ordnung, wurden von ihr zur Strafe 
gezogen, fondern ohne principielf gegebene Beſchränkung Vergehungen 
jeder Art, weil und fofern fie zugleih Verlegung der göttlichen 
Gebote waren. Und zwar wurde der einmal angenommenen gefeg- 
lichen Weife gemäß förmlich dagegen procedirt, fo daß frühzeitig 
eigentliche bifchöfliche Gerichtshöfe beftanden, welche vieles aus dem 
bürgerlichen Criminalproceß annahmen. So ftand eine” zweifache 
Strafgerichtsbarkeit nebeneinander, aber mit verfdiedener Tendenz: 
die kirchliche nicht, wie die des Staates, auf Uebung der Ge- 
tehtigeit gerichtet, fondern auf eine beffernde väterliche Zucht ®), 
daher denn auch nicht felten von den kirchlichen Gerichtshöfen 
das inquifitorifche Verfahren ex officio ohne vorausgegangene De- 
Iation angewandt wurde, ganz correct von dem Standpunkte väter⸗ 
licher Erziehung. Bon eben diefem Standpunkte aus erlaubte ſich 
die Kirche nicht felten Eingriffe in die bürgerliche Strafrechtspflege, 
fo durch das von ihr in Anſpruch genommene und oft in fehr 
weit gehender, felbft tumultuarifcher Weife ©) geübte Recht der Für- 


a) Euseb. vit. Const. IV, 27. u 
b) August. ep. 159 ad Marcell.: Nec in peccatorum atrocitatibus 
exerceas uleiscendi libidinem, sed peccatorum vulneribus curandi 
adhibeas voluntatem. Noli perdere paternam diligentiam. — Qui 
modus coöreitionis et a magistris artium liberalium et ab ipsis 
parentibus et saepe etiam in judiciis solet ab episcopis adhiberi. — 
Daher ſchreibt Gregor II. an Kaiſer Leo den Yfaurier, indem er das Ber- 
fahren ber firdhfichen Gerichte dem der bürgerlichen gegenüberftellt: Pon- 
tifices non ita. Sed ubi peccarit quis et confessus fuerit, sus- 
pendii vel amputationis loco evangelium et crucem cervieibus ejus 
circumponunt eumque tamquam in carcerem in secretaria conjiciunt, 
in ecclesiae diaconica et catechumenica ablegant ac visceribus 
" ejus jejunium, oculis vigilias et laudationem ori ejus inducunt. 
Cumque probe castigarint probeque fame afflixerint, — dimittunt. 
©) Giefeler, 8.-©. I, 473, 


Theol. Stud. Jahrg. 1869. 45 


86 Köhler, Das römiſche Hecht uub bie Licche 


bitte für Berurtheilte. Macedonius, Bicarins von Afrika, maht 
in einem ſehr rejpectvoll gehaftenen Schreiben an Auguftin *) ge 
wife Bedenfen gegen die Ausübung dieſes Rechtes im manden 
Fällen geltend. Verbrechen dürfen nicht ımgeftraft bleiben, weil 
es fonft den Anfchein gewinne, als billige man fie ®); um fo weniger 
dürfe die Strafe umterbfeiben, wenn der Verbrecher verftockt in feiner 
Schuld beharre. Er redet ald Mann des Rechtes. Auguftin macht 
in feiner Antwort ©) den Standpunkt des väterlichen Erziehers geltend: 
nur in diefem Leben fei Befferung möglich, die Kirche müfje dar 
Sorge tragen, daß fein Verbrecher unbußfertig ans der Welt gehe; 
daher ihr Recht zur Einmifchung bei ausgefprochenen Todesurtheilen 
— Ein ähnlides Mittel zur Einmifhung war das aus der hir 
niſchen Zeit in die chriftliche herübergenommene und von der Ger: 
gebung anerfannte Recht der Afyled). Die in die Kirche flichen- 
den Verbrecher follten dadurd nicht der Strafe entzogen werden. 
Die Geiftlichkeit der Kirche follte nur Fürbitten fir fie einlegen 
und je nad) den Umftänden ihnen Milderung der Strafe erwirken; 
fie ſollte fie nicht cher herausgeben, als bi die Berfolgenden eidlich 
zugefagt hätten, fie nicht zu foltern, zu verſtümmeln oder zu töbten; 
man folite die Verbrecher Bönitenz thun laffen, fie in vorkommenden 
Fallen anhalten, den Beleidigten Genugthuung zu leiften, und Aus- 
föhnung verfuchen. 

Im Ganzen wird unfere Darftellung — welche übrigens auf 
erſchopfende Vollftändigkeit keinen Anſpruch macht — das oben auf 
geiprochene Urtheil rechtfertigen, daß die Einwirkung der Kirche auf 
das römische Recht nicht von Bedeutung geweſen ift. 8. fehlt 
einerfeits ben Vertretern der Kirche an Verftändnis für das Weſen 
des Rechtes, und andererjeits hatte ſich das römische Recht fehon zu 
weit entwidelt, als daß noch eine jein tieferes Weſen berührende, 
umgeftaltende Wirkung möglich geweſen wäre. Was durd den 
Einfluß der Kirche modificirt worden ift, waren meift nur Außen 
punkte von untergeordneter Wichtigkeit. ' 

a) Ep. 53 in August. epp. 

b) L. c.: Quod utique, cum impunitum volumus, probamus. 
e) Ep. 54. 

d) Stäudfin IM, 399ff. 








Gedanken und Bemerkungen. 


46* 


1 


Die chriſtliche Kirche Aethiapiens. 
Eine arhäologijhe Studie. 
Bon 


8. I. Yıl;, 


Pfarrer in Lintenheim. 


Der Kriegslarm ift verftummt, die fieggefrönten Truppen, 
welche England wider den hafbbarbarifchen König Theodoros von 
Abyſſinien ausgefandt Hat, find nach glorreicher Söfung ihrer Aufr 
gabe heimgefehrt, umd die Wiffenfchaft macht fi an's Wer, die 
Ergebniffe diefer nothgedrungenen Expedition in ein Rand, das ger 
wiſſermaßen eine terra incognita ift, zu jammeln und zu ver- 
werten. Zu diefer Arbeit möchten wir eine Kleine Beihülfe leiften, 
indem wir die fo durchaus eigentümliche abyffinifche oder äthio- 
pifche Kirche zu charalteriſiren verſuchen und dadurch ein allge 
meineres Intereſſe für fie zu weden ſuchen. Und ſolchen Intereſſes 
ift fie wert. Denn abgefehen davon, daß aus diefer Kirche, von 
diefem fernen Grenzland der Cultur und des Chriftentums in 
neuerer Zeit eine Reihe höchft wichtiger, ganz oder theilweiſe verloren 
gegebener Apofryphen aus vorchriſtlicher und der frühejten chrift- 
lichen Zeit, das Bud) Henoch, die Yubilden, die Himmelfahrt 
Ieſaia's, in äthiopifchen Ueberſetzungen zu ung herübergekommen find, 


6” Bolz 


find die abyſſiniſchen Chriſten nah Stanley *) „die einzigen wahren 
Sabbatianer des Chriftentums“, und „meilt die Polygamie der 
jübifchen Kirche Hier noch, nachdem fie von der übrigen hriftlihen 
Welt verbannt wurde“, und fegen namhafte Latholifche Gelehrte, 
wie Werner) und Pichler °), die Entftehung der abyſſiniſchen 
Kirche in das höchfte Altertum, der erjtere fogar in das Ende de 
erften Jahrhunderts unferer chriftlichen Zeitrechnung. Und es ift 
wahr, die abyſſiniſche Kirche athmet mit ber Loptifchen, deren 
Tochter fie ift, mit Stanley zu reden, „eine Atmoſphäre des 
Orients und der Frühzeit, melde felbft in feiner der nördlicheren 
Kirchen des Orients zu finden ift!“ 

Bir glauben den ficherften und nüchtegnften Weg zu gehen, 
wenn wir die intereffanteren Partieen der äthiopiſchen Kirche mög- 
lichſt genau darlegen, wie fie fih uns bei eingehendem Studium 
dargeftelft Haben, und, indem wir uns auf einige Bemerkungen 
und Winke befchränten, den Lefer fein Urtheil fich felbft bilden 
laſſen. 

Wir beginnen unſere Unterſuchung mit Taufe und Abendmahl, 
indem wir einige Bemerkungen über ben Gottesdienft der abyſſi ⸗ 
niſchen Kirche anjchliegen. Es ift bekannt, dag die Abyffinier mit 
den Kopten ihre Kinder am achten Tage nach der Geburt bejchnei- 
den. Die Taufe vollziehen fie dann an den Knaben am vierzigften, 
an den Mädchen am achtzigiten Tage nad) der Geburt. Weniger 
befannt dürfte fein, daß in der griechifchen Kirche das Kind am 
achten Tage zur Kirche gebracht wird, um vom Prieſter feinen 
Namen zu erhalten, und am vierzigiten Tage, der mol aud in 
der Regel der Tauftag ift, mit feiner Mutter im Haufe Gottes 
erſcheint, um dargeftellt zu werden 4). Bei der Beſchneidung 


a) Heidenheim, Deutſche Bierteljagrjcjeift für emglüfch- theologiſche Fer 
fung Nr. VI, Abhandlung I: Die morgenfändifche Kirche, &. 185. 
b) Die abtffinifche Kirche, in der Zeitfeheift für Die gef. iath. Thevlocit 

Wien 1852), ®b. II, Heft 2. 
©) Geſchichte der Krchf, Trennung zwiſchen Orient und Dccibent. Bänden 
1864. - 


d) Job. Glen King, Die Gebräuche und Eeremonien der griechiſchen Kinke 
in Rußland (Riga 1773), ©. 185 u. 187 [. 





Die chriſtliche Kirche Aethiopiens. 691 


empfängt das Kind feinen Namen. Eine höchſt merkwürdige Sitte 
der älteften chriftlichen Kirche findet fich gleichfalls bei den Abyf- 
finiern, der Gebrauch, den Neugetauften Milch und Honig zu 
geben). Wir können uns nicht verfagen, die Beſchreibung einer 
äthiopifhen Taufhandlung, wie fie Ludolf gibt, Hier einzufügen. 
Er ſagt ®): „Der Priefter, der die Taufe der Erwachſenen voll» 
ziehen will, beginnt mit dem 51. Pfalm, und nachdem er mit 
Weihrauch geräudert, fragt er nad) dem Namen der Täuflinge. 
Dann, nachdem einige Gebete geſprochen, und der Diakon die Zus 
hörer wiederholt ermahnt, daß fie beten follen, falbt er die ver- 
ſchiedenen Theile des Körpers mit dem heiligen Oel und legt 
jedem die Hand auf den Kopf. Wenn dies gejchehen, ſtrecken die 
Neophyten die rechte Hand in die Höhe und ſchwören, nad Weiten 
gewandt, dem Satan oder Fürften der Finfternis ab. Hierauf 
nad Dften als zur Sonne der Gerechtigkeit gefehrt, jagen fie mit 
hocherhobener Rechten Chriſto gleihjam ihren Schwur und bes 
lennen, indem ein Presbyteres vorjagt, das Symbolum des hriftlihen 
Glaubens, und auf feine Frage antworten jie, daß fie es glauben. 
Sodann wird die Salbung wiederholt und einige Perikopen aus 
dem Evangelium Zohannis, der Apoftelgefchichte und den paulis 
nischen Briefen verlefen unter Beifügung der gewöhnlichen Liturgie. 
Endlich) wird Del in das Taufmaffer gegoffen und in Kreuzesform 
ausgebreitet, und nachdem nochmals viele Gebete gefprochen worden 
find, fteigt der Priefter in den See, der zu biefem Zweck nor den 
Kirchthürmen ausgegraben ift °), und verjenkt die von dem Diakon 
Herbeigeführten dreimal mit dem ganzen Körper und tauft jie 
auf den Namen Gottes des Vaters und des Sohnes und bes 
heiligen Geiftes. Bei den Männern find Männer, bei den Frauen 


a) Gobats Tagebuch im Magazin für die nenefte Geſchichte der enangelifchen 
Miffions- und Bibelgeſellſchaften, Jahrg. 1834, Heft 2, ©. 300; und 
Stanley bei Heidenheim a. a. O., ©. 134, Anm. a. 

b) Historia Aethiop. (Francof. ad Moen. 1681), Lib. III. 6, 31 sq- 

c) Oft vertritt deffen Stelle ein Beden, das mit Waffer gefüllt und geweiht 
wird, mit welchem Waffer die Täuffinge dreimal ganz übergoffen werden. 
Zienberg, Abeſſinien und die evangel. Miſſion (Bonn 1844), Th. I, 
S. 32. 


692 Bol; 


Brauen bei der Hand, welde den aus dem Fluß ober See 
Steigenden Hülfe Teiften und fie heraufziehend gleichſam aufnehmen, 
welche deswegen von den Alten Empfänger und Empfängerinnen 
(Susceptores) genannt wurden. So abgewajchen und wieder ge⸗ 
falbt, werden fie als neu Geborene mit einem weißen Unterkleid, 
um bie Reinheit des Herzens anzuzeigen, bekleidet und erhalten 
oben darüber ein vothes Kleid zum Andenken an das durd das 
Blut EHrifti erworbene Heil und werden dan erft in die Kirche 
eingeführt, wo fie, unter bie Chriften gemifcht, das Heilige Abend- 
mahl empfangen. Bei ihrem Weggang wird ihnen Milch und 
Honig gegeben, und fie unter Handauflegung mit dem Segen cut: 
laſſen: „Gehet hin in Frieden, ihr Söhne der Taufe!“ 

Die Aehnlichteit mit der Schilderung der Taufe bei Eyrill®) 
ipringt in die Augen: Hier wie dort die abrenuntiatio diabeli 
und die sponsio salutis®), hier wie dort vor Vollziehung ber 
Taufe die Totalfalbung und nach berjelben die Salbung mit 
dem heiligen Chrisma, Bier wie dort nad Vollendung der Tauf⸗ 
handlung das Anziehen mit dem weißen Taufkleide). Ludolf ber 
richtet nur von einer weiteren dritten Salbung, nämlich ſchon gleich 
beim Beginn der Handlung noch vor der abrenuntiatio. Die 
Taufe findet in der abyſſiniſchen Kirche noch Heute vor der Kirche 
in dem dieſelbe umgebenden Vorhof ftatt, wie im der alten 
Kirche in der Vorhalle, und wird ſowol bei der Totalfalbung mit 
dem Galiläum, wie bei der Ertheilung des Chrisma mit dem 
Meiron jeder Theil des Körpers befonders, im Ganzen ſechsund · 
dreigigmal, gefalbt, ein Gebrauch), der unverkennbar mit der alt- 
ägyptifchen Lehre, daß 36 Dämonen den Leib des Menfchen nad 
feinen einzelnen Gliedern und Theilen unter ihre Herrſchaft ver- 
theilt haben, zufanfmenhängt?). Beide Salbungen finden heute 
noch in der griechifchen Kirche auf die angeführte Weife ftatt; die 
der Taufe vorhergehende wird die Totalfalbung, die ihr folgende 


a) Catech. mystug. 1—4. 

b) wie Tertulfian (De baptismo) das owrdononer 16 Xguozei nemt 
©) Oatech. myst. 4. 

d) ©. Kelluer, Hellenismus und Ehriftentum (Löln 1865), ©. 30. 


Die chriſlliche Kirche Aethiopiens. 698 


die Berfiegelung oyeayis genannt, wie denn der Prieſter bei der 
fegteren und zwar bei jeder einzelnen der 36 Salbungen auf's 
neue die Worte: „das Siegel der Gabe des heiligen Geiftes“ 
ſpricht. Wie in der griechifchen, jo kommt auch in der koptiſchen 
Kirche noch nach Älteren und neueren Zeugniffen die mit der Ans 
tleidung verbundene Umgürtung hinzu, auf welche am achten Tage 
die Auflöfung des Gürtels und das Ausziehen des Taufkleides 
nebft einer nochmaligen Abwaſchung des ganzen Leibes folgt. Diefe 
Gürtung führt num zwar Aſſemannus?) gleichfalls, wie die Sal- 
bung von den Kirchenvätern auf den geiftlichen Kampf des Ehriften 
bezogen wurde: „gejalbt wie die Athleten“, auf den Ausſpruch 
Chriſti zurück: „Laffet eure Yenden umgürtet fein“, allein ung ſcheint 
die Ableitung von der altteftamentlichen Prieſterweihe 3 Moſ. 8, 13 
viel wahrfcheinlicher zu fein, worin uns beftärft, daß nach einer 
Nachricht dem Täuflinge auch zugleich „eine Krone“ aufgeſetzt wurde, 
jowie daß die Kopten nur unbeſchuht, mit einem Gürtel verfehen 
und mit einer hohen, wollenen Müge auf dem Haupte die Kirche 
betreten dürfen®). In der griechiſchen Kirche kommt ale weitere 
Geremonie no das Scheeren des Haupthaares Hinzu, in offen: 
barer Nachahmung des Abfcheerens der Haare der Leviten nach 
4Mof. 8, 7. j 

Ein weiterer, von Ludolf nicht erwähnter Gebrauch bei der 
Zaufe ſowol der Erwachſenen, als der Kinder ift das Umhängen 
der Mateles, d. i. der fünf Fuß langen bfaufeidenen Litzkordeln, 
deren jeder abyſſiniſche Chriſt ſowol männlichen, als weiblichen 


a) Bibliotheca Orientalis, Tom. III, Pars I, p. 389. 

b) Schon Abudacnus seu Barbatus, Historia Jacobit. seu Copt. in 
Aegypto etc. (Lugd. Batav. 1740), p. 148 erfenut darin eine Nach- 
ahmung der heiligen leider der Juden; vgl. Herzfeld, Geſchichte 
des Boltes Isvael von Zerſtörung des erfien Tempels 2c., 2. Ausgabe, 
32.0, S. 60 u. 80.11, S. 352: „Es wurde zu einer judiſchen Sahung ⸗ 
ohne Gürtel nicht zu beten“; und Herzog, Theologiſche Realenchfopäbie 
Bd. XV, Artilel „Taufe, S. 481: „Im Orient war die Umgür- 
tung der Senden und die Krönung mit einer burd Gebet 
geweihten corona als Symbol bes königlichen Priefter- 
tums üblich.“ 


694 Bol; 


Geſchlechts beftändig eine zur Unterfceidung von den Mahome⸗ 
danern trägt. Der Priefter taucht fie nach Vollziehung des Tauf⸗ 
acts in da& heilige Del und drückt zuerft mit ihr ein Kreuz auf 
den Scheitel des Täuflings und bindet fie ihm dann unter Segens 
wünſchen um den Hals*). Zu der griedifchen Kirche entſpricht 
dem das Umhängen eines Heinen Kreuzes von Gold, Silber oder 
anderem Metall um den Hals des Kindes durch den Priefter. Ein 
anderer Gebrauch, welchen jelbft der gelehrte Afjemannus den Abyi- 
finiern zufchreibt, den Knaben ein Mal einzubrennen, fcheint jedenfalls 
erft ſpäter entftanden zu fein und mit der von verfchiedenen Seiten 
bezeugten Sitte zufammenzufallen, fi ein Kreuz in die Hand, auf 
den Arm oder auf die linke Schulter einzuägen. 

An die Taufe jchließt fi, wie in der alten Kirche, der Empfang 
des heiligen Abendmahls unmittelbar an, und nicht bloß den Er- 
wadjjenen, fondern aud den Kindern wird fofort nach der Taufe 
das heilige Abendmahl gereicht, indem der Priefter ihnen aus dem 
heiligen Kelch, in melden ein Stückchen des Brots hineingebrodt 
war, mit dem Finger einen Tropfen in den Mund tröpfelt. Vor 
da au genießen die Kinder das heilige Abendmahl bis zum zehuten 
und zwölften Jahre, von welchem Alter bis zum vierzigften Lebens 
jahr fein Abyffinier leicht zum Tiſch des Herrn Hinzutritt. &s 
iſt vollfommen die Ordnung der alten Kirche, wie fie Tertulfian?) 
und Cyrill uns befchreiben: Taufe, Eonfirmation und Abendmahl, 
welche wir in der abyffinifchen Kirche wiederfinden, und wie damals 
werden dieje Handlungen als unzertrennlich zufammengehörig ge | 
dacht, fo daß man das heilige Abendmahl felbft den Kindern nicht 
vorenthalten zu dürfen glaubt. 

Wir laffen aud hier einen zwar bejchränften, doc offenbar 
gewiffenhaften und kundigen Berichterftatter reden, den alten Abu: 
dacnus. Er jagt‘): „Am Sabbattag, nämlich vor dem Sonntag, 
oder an dem Tage, welder dem Weit eines Heiligen voraugehi. 
tommen alle mit bloßen Füßen im Tempel zuſammen, Männer 


2 


3) Ifenderg a. 0. D.; dgl. 4Mof. 15, 37—40. 
b) De resurrect. carnis, c. 8 (Opp. T. II, p. 587 ed. Oberthir). 
lc, p. 14sg. 





Die Hriftliche Eirche Aethiopiens. 695 


und Weiber, wer fan, und bringen einen Mantel ala Dede, mit 
der fie fich, in jener Nacht im Tempel ſchlafend, bedecken und eins 
Hüllen. Sie haben die Tempel auf der Erde mit Deden und 
Teppichen belegt nad) der Würdigfeit des Ortes, und nachdem die 
Veſpern und die Schlußandacht (completorium*)) gehalten worden 
find, fingen alle im Chor, Geiftliche wie Weltliche, miteinander die 
wurden Veſpern und der Schlußandacht gehörigen Gebete und 
Hymnen ; hierauf begeben ſich Männer und Weiber an verſchiedene 
Bläge, um zu fchlafen (doch ift die Halle der Weiber ringäherum 
geihloffen, daß Männer und Weiber nicht beifammen find), außer 
denen, welche beim Tempel wohnen, denn diefe jchlafen in ihren 
Häufern und kommen vor Sonnenaufgang um die eine oder andere 
Hore, von einem Cleriker gerufen, herbei, und die, welche im 
Tempel ſchlafen, uud alle, welde die heiligen Weihen empfangen, 
haben, die größeren oder die kleineren, gürten ji) mit dem Gürtel 
ud begeben fich in den Chor und fangen an, die Morgengebete 
(matutinas) zu fingen, dann die Hymnen und fanonifchen Horen 
(nämlich die erjte, dritte und neunte), welche die Horen der 
Vefpern und der Frühmeffen umfaffen und 48 Palmen umſchließen, 
alle in arabiſcher Sprache abwechſelnd hergefagt. Den Palm 
fagen fie (die Priefter und Oberften des Volle nämlich) einzeln, 
neben den Lectionen mit dem Evangelium, welche zuerſt in kop⸗ 
tier, dann im arabifher Sprache verlejen werden, damit alle, 
welche da find, es verftehen können. Die Gebete werden allein in 
foptiiher Sprache gelefen, nad) deren Vollendung der Priefter die 
Meſſe mit dem Diafonus, Subdiafonus und den Akofuthen (die 
immer der Mefje beimohnen müjfen) beginnt, und wenn alle 
ſich betend zur Erde geneigt haben, lieſt der. Priejter den Introitus 
in foptifcher Sprache vor der Thür des Allerheifigften. Nachdem 
er vollendet, geht er in's sanctuarium zugleid mit den Dienern, 
welche das Weihrauchfaß in der Hand Haben, und geht um den 
Altar, ihn weihend. Hernach aber naht ein Elerifer der Thür des 


8) ©. 122, Anmert. f: „Completorium Thomas de S. Quereu its 
deseribit, quod sit Prayers at the end of Miss i.e. preces in fine 


696 Bol 


Alterheiligften mit einer Hoftie, Wein und Baffer Diefes alles 
empfängt mit großer Ehrerbietung von ihm der Diafonus und 
fegt es im Allerheiligften vor den Priefter hin. Der Priefter fegt 
alles in derjelben Ordnung Hin, daß es geweiht werde, dann be 
ginnt er einige Gebete und Lieder, und das Bolt folgt der Stimme 
des Singenden mit feiner Stimme; wenn aber einige gewöhnliche 
Erzählungen eines Heiligen- oder Feſttages vorhanden find, fo ti 
fie der Priefter in koptifcher Sprache: Hierauf beginnt der Gib 
diafonus die erfte Epiftel, welhe aus dem Alten Teftament- ift, 
und lieſt fie toptifch; dann lieſt der andere Subdiakonus zwi 
Epifteln arabijch, deren eine aus dem Apoftel Paulus, die andere 
aus der Katholita und gewifjen Reden genommen ift, und nad 
Abfingung von Hymnen das auf diefen Tag gewöhnliche Evan 
gelium. Nachher fängt der Priejter die Präfation feierlich in top 
tiſcher Sprache an, dem der Chor folgt und das Webrige fing, 
und die Litanei, welche der Priefter allein im Allerheiligften mit 
erhobener und lauter Stimme koptiſch ſpricht. Nach Vollendung 
diefer Gebete, welde vor der Confecration gefchehen, weiht er 
Brot und Wein, indem das Volk in Heiliger Scheu zuhört. Nah 
der Eonfecration nimmt der Priefter jelbft zuerft da8 Sacrament, 
nad) ihm der Diakonus, der Subdiafonus und die anderen Diener. 
Wenn aber einige aus dem Volt da find, fo reicht ihnen der Priejtr 
einen Theil derjelben Hoftie, und der Diakonus bedient fie mit 
einem filbernen oder goldenen Xöffel mit dem Blut, fo daß alt 
Einer Hoftie müffen theilhaftig werden, die zum mindeften einem 
Pfund Brot nahe kommt.“ 

Die Verwandtfchaft des koptiſchen mit dem griechifcgen Gott 
dienft „Fällt fofort in die Augen: hier wie dort emdlofe Liturgie, 
Refponforien, Gebete und Schriftverlefungen ohne Predigt, hier 
wie dort der Gottesdienſt von der Vefper durch die Matutine fort 
ſchreitend zur fogenannten heiligen Liturgie, d. i. zur Darftellung 
und Feier des Opfertods Chrifti; nur in der koptiſchen Eiturgit 
alles noch urfprünglicher, einfacher, altertümlicher. Doch treten 
wir unferm Gegenftand näher. Bor allem ift zu betonen, bi 
Abudacuus zunächft den koptiſchen und nicht den eigentlichen 
athiopiſchen Gottesdienſt beſchreibt; allein wie er ſelbſt im 





Die chriſtliche Kirche Aethiopiens. 697 


Titel*) feiner Schrift ambeutet, die abyſſiniſche oder äthiopifche 
Kirche ift ein Zweig der koptiſchen, d. i. der alten ägyptiſchen 
Nationalficche, wie ihr Name, von Ghptos abgeleitet, befagt?), 
und‘ unterfcheidet fih darum nur durch einzelne «harakteriftifche 
Eigentümlichkeiten, während fie im Großen und Ganzen mit ihr 
durchaus übereinftimmt. Zuerft ift zu jener Befchreibung des alten 
Abudacnus anzumerken, daß Kopten und Abyffinier, wie .fie das 
Jahr im Herbft mit dem Herbftäguinoetium beginnen laſſen, fo 
den Tag von Abend zu Abend rechnen. Sodann feiern die Abyfe 
finier neben dem Sonntag noch den jüdifhen Sabbat. Berner 
muß, wer Schuhe oder Sandalen anhat, diejelben vor dem Kirchhof 
ausziehen, denn nur mit bloßen Füßen darf man das Heiligtum 
betreten. Auch die Vigilien und gottesdienftlichen Verſammlungen 
zur Nachtzeit find eine uralte chriſtliche Einrichtung, leſen wir doch 
ſchon vom Apoftel Paulus, dag er feine Predigt bis Mitternacht 
verzog®), umd ift es insbeſondere in der abyffinifchen Kirche Sitte, 
das Heilige Abendmahl vor Sonnenaufgang auszutheilen, und nur 
an Fafttagen wird es, um das Faften nicht zu unterbrechen, erft 
nachmittags um drei Uhr gefpendet. Es wird ſtets nüchtern em⸗ 
fangen. Die Priefter nehmen es täglich, die übrigen alle Sonn—⸗ 
tage oder fonft von Zeit zu Zeit. Zur Spendung müſſen mine 
deftens fünf Priefter zugegen fein, doch müſſen die aus Knaben 
genommenen Diafonen meift die fehlende Zahl ergänzen. Die 
Kopten und die Abyſſinier beobachten die jüdifchen Gebetsftunden, 
an welchen fie in den Kirchen täglich zufammentommen und Gott 
mit Hymmen und Gebeten und Lefen und Hören der heiligen 
Schriften dienen®). Auch das Verlefen der arabifchen Ueberjegung, 
nachdem die Perifopen in ber äthiopifchen Sprache vorgelefen find, 
a) Der vollftändige Titel lautet: Historia Jacobitarum seu Coptorum 
in Aegypto, Libya, Nubia, Aethiopia tota et Cypri insulae parte 
habitantium opera Josephi Abudacni seu Barbati cum Annotatio- 
nibus Joannis Nicolai vulg. Sigebertus Havercampus. Lugd. Batav. 
1740. 
b) Herzog a. a. O., 8b. I, ©. 152. 
©) Apg. 20, 7. 
d) Oertel, Theologie Aethiop. (Wittenbergae 1746), p. 98. 


688 J Bolz 


iſt offenbar aus der judiſchen in die chriſtliche Kirche übergegangen, da 
dort der Ueberſetzer neben dem Vorleſer ſtand und das Geleſem 
fofort Vers für Bers in die Vollksſprache übertrug*). Die Abyl- 
finier knieen beim Gottesdienſt nicht, foudern wohnen ihm ftehend 
bei und haben, weil derfelbe oft fehr Tange währt, eine Art Meiner 
Krüden, auf melde fie fi, wenn fie müde find, ftügen. Dagegm 
neigen fie ſich während des Gottesdienſtes wiederholt zur Erk. 
Und wie diefes fchon lebhaft an das Alte Teftament erinnert, m 
das „fi bücen und anbeten“, an 2Mof. 4, 31 u. 2Chron. 7,3, 
fo noch vielmehr ihr gottesdienftlicher Gefang und Tanz. „Tanzm‘, 
fagt Staniey?), „macht einen Theil ihres Rituale aus, wie es auf 
in bem jüdifchen Tempel der Fall war“, und Rudolf befchreibt dien 
Geſang und Tanz mit den Worten: „Sie fingen, fie fpringen un 
ftompfen den Boden und jubeln dem Gott Jakobs nad) den Bor 
friften der Palmen.“ Was aber die Liturgie felbft betrifft, I 
möge uns geftattet werden, hier einen allgemeinen Ausſpruh 
Langens über das Verhältnis der jüdifchen zur chriftlichen Liturgie 
vorausgehen zu laſſen, um feine Richtigkeit an der äthiopiſchen 
Kirche nachzuweiſen. Er fagt nämlich‘): „Aus diefem Grunde 
mußte auch ohne alle Rückſichtnahme auf judiſchen Eigenſtun in 
den erften Anfängen die hriftliche Kirche ihrer äußeren Erſcheinung 
nach ſich ſehr nahe mit dem hergebrachten jübifchen Weſen be | 
rühren. Auf die chriftlihe Grundlage verfegt, konnte mans 
fhöne Stud der jüdiſchen Liturgie beibehalten werden, der Plan 
gleihend, welche erft, wenn fie ftatt dürren Erdreiche. fruchtbaren 
Boden erhält, ihren ganzen Bfütenreihtum entfalten kann.“ R 
der äthtopifchen Kirche und gleicherweiſe in der griechiſchen be 
ginnt jeber Gottesdienft wie bei den Juden ) mit dem Zn 


a) Jo ſt, Geſchichte des Judentums und feiner Secten (Leipzig 1857), Abthl 
©. 177. 

b)a.a.0., ©. 185. 

©) Das Judentum in Paläftina zur Zeit Chriſti (Freiburg i. Br. 1866. 
©. 140f. 

d) Vitringa, DeSynagoga vetere, p. 1077 sq.: „Est autem Kaddisch 
sanctissima illa Prevationis Formula quae in initio eb fine Actnuz 
quorumgue sacroram recitabatur‘‘; vgl. Offenb. Joh. 4, 8. 





Die Hriftliche Kirche Aethiopiens. 699 


hagton®). Ebenſo Hat ſchon Renaudot?) die Aehnlichkeit der chrift- 
lichen Doxologie mit dem jüdifchen Gebet: „Alle Engel öffnen 
ihren Mund in Heiligkeit und Reinheit ꝛc.“ bervorgehoben, und 
far man die äthiopifchen Piturgieen, wie auch die der griechtfch- 
ruffifchen Kirche, nicht leſen, ohme über die zahllofen Anklänge nicht 
bloß, fondern das häufige Zufammentreffen felbft der Ausdrücke 
und der Gedanken mit der jüdifchen Liturgie zu ftaunen. Und 
wenn man diefe Verwandtſchaft und Aehnlichkeit au auf Rechnung 
das fpüteren allgemeinen Geiſtesentwickelung, welche bekanntlich bei 
Juden und Ehriften überrafchende Parallelen genug bietet, ſchreiben 
wollte, fo ift die Offenbarung Johannis da, welde mit ihrem 
himmlifchen Gottesdienft fowol die fonftigen Spuren "vom Vor⸗ 
handenfein einer Tempelliturgie überrafchend beftätigt, als auch fr 
die fpäteren cpriftlichen Siturgieen bereits die unverfennbaren Grund» 
finien zeichnet. — Das erfte, was übrigens der Abyfjinier beim 
Betreten eines Gotteshaufes thut, ift, daß er die Schwelle und 
Thür desfelben andächtig fügt, und wird das und überhaupt das 
Küffen der heiligen Gegenftände für fo wefentlich gehalten, daB 
man ftatt „in bie Kirche gehen“ fagt: „die Kirche Kiffen“ und 
einen frommen Mann allen Ernftes „einen Kirchenküffer“ nennt. 
Das heiflge Abendmahl wird in beiderlei Geſtalt ausgetheift, 
und zwar find die Abyffinier wieder die einzigen Chriften, bei 
welchen nicht bloß das Brot, fondern auch der Wein zum heiligen 
Abendmahl von den Prieftern innerhalb der Mauern der Kirche 
bereitet wird‘). Das Brot ift gejäuert, vom feinften Weizen, 
und wird von eigens dazu aufgeftellten kirchlichen Brotbädern mit 
großer Sorgfalt in einem Ofen im Umkreis der Kirche gebaden. 
Es darf während feiner feierlichen Bereitung fein ungeeigneter Be 
fu), am wenigften ein Weib, ſich herzunahen. Es wird in Ge- 
ſtalt von mäßig großen runden Kuchen, mit einem Kreuze in der 


a) Harris, Gefandtichaftsreife nad Schoa 1841—1843. Deutſch von K. 
v.®. 8b. II, p. 169. 

b) Liturgiarım Orientalium Collectio. Tom. I. Commentar. ad Liturg. 
Copt. 8. Basilü, p. 288. 

c) Renaudot a. a. O. ©. 176, 


700 Bolz 


Form des römifchen X bezeichnet, gebaden und muß ſtets friſch 
gebaden fein. Nur am fünften Tage der großen Woche wird 
wie überhaupt das jüdifche Paſſa gefeiert“), fo auch ungefäuertes 
Brot zum Andenken der &lvna Chriſti zum Abendmahl ge: 
nommen’). Wem fönnte die Analogie entgehen, welche zwiſchen 
der Bereitung des Abendmahlöbrotes in der abyſſiniſchen Kirche und 
der Bereitung der Schaubrote zum judiſchen Tempelgottesdienſit 
ftattfindet? Denn die Schaubrote wurden ja gleichfalls nur von 
Prieftern aus einer Familie der Kahathiter in einem befondern 
Gemach, dem Glut- oder Badhans, au der Nordfeite des 
BPrieftervorhofes gebaden‘). Der Abendmahlswein wird aus nicht 
ganz dürren Rofinen bereitet, welche in der Sacriftei oder dem 
Sanctuarium aufbewahrt werden. Man weicht biejelben zehn Tage 
im Waffer ein, dann werden fie abgetrodnet und auf der Selter 
ausgepreßt, und wird der jo gewonnene Wein bei der Communion 
felbft noch mit warmem Waſſer vermiſcht. Dies letztere ift auch 
in der griechiſchen Kirche gebräudlih. Werner*) hebt im feiner 
trefflichen Beſchreibung der Meffe der Aethiopier als der abyffir 
niſchen Kirche eigentümlich hervor zuerft da8 memento defunc- 
torum, das der Abfolution unmittelbar vorhergeht. Dasfelbe findet 
ſich in den koptiſchen Liturgieen nicht und ift offenbar ein Weberreft 
hohen Altertums. Bei der Erixinaıs Tod nveineros aylov 
hat die äthiopifche Liturgie ferner den Beifag: in saecula saecı- 
lorum, woraus Werner mit Recht erkennt, daß nicht um die 
Zransfubftantiation der vorliegenden Abendmahlselemente, fondern 
um bie ftete Fortdauer des euchatiſtiſchen Opfers und der facre 
mentlichen Gegenwart des Herrn in der Kirche gebeten wird. 
Diefe Mobdification der Imvocationsformel und das unmittelbar 
nad den Einfegungsworten folgende Befenntnis der gefchehenen 


. 9) Aſſemannus a. a. O., ©. 805: „Feria quinta Paschatis seu ma- 
joris hebdomadae agnos assos manducant.“ 
b) Ludolf a. a. ©, lib. II, c. 6, p. 80. 
©) Dächſels Bibelwerl. Breslau 1864. Bd. I, ©. 387. Anmerk. zu 
8 Moſ. 24, 5. 
qh a. a. D., S. 867 f. 





Die Heiftliche Kirche Aethiopiens. 701 


Verwandlung, den Ausruf des Volkes: „Amen! Amen! Credimus 
et certi sumus, hoc est vere corpus tuum“, und nad) der Con⸗ 
fecration des Kelches: „amen! vere est sanguis tuus, credimus‘“, 
fieht er als Ueberrefte der urfprünglichen Liturgie der Aethiopier 
an. Die Worte, welche bei der Darreichung des Brotes geſprochen 
werden, lauten: „Hic est panis vitae, qui de coelo descendit, 
vere pretiosum corpus Emanuel Dei nostri‘‘, worauf der Em- 
pfänger Amen fagt; und bei der Darreihung des Kelches durch 
den Diafon: „Hie est calix vitae, qui descendit de coelo, qui 
est pretiosus sanguis Christi.“ 

Nach diefer Darftellung, wie auch nad) der obigen von Abu— 
dacnus gegebenen Schilderung des koptiſchen Gottesdienſtes und 
nah allen Liturgieen wird Brot und Wein auch den Laien 
getrennt ausgetheilt. Allein Iſenberg fagt beftimmt*): „Zum 
Abendmahlsgebrauch bedienen fie jich gefäuerten Weizenbrotes und 
des Saftes ausgepreßter Trauben. Diefes wird in dem Abend« 
mahlskelch zufammengemifcht, etwas Waffer zugegoffen, das Ganze 
confecrirt und mit einem Löffel den Abendmahlögenoffen gegeben.“ 
Damit ftimmen Bruce und Dertel überein, ja der Letztere macht, 
nachdem er gejagt hat: „Sie vollbringen die Spendung des ganzen 
Sacraments, indem fie ein geweihtes Stüdchen Brot nur zuvor 
in den heiligen Kelch Legen“), die ausdrückliche Angabe: „Das 
Abendmahlsbrot pflegt gewöhnlich gefäuert zu fein, aber am fünften 
Tage der großen Woche brauden fie zum Andenken der Kluue 
Chrifti ungefäuertes, dejfen Stüde der Presbyter den 
Communicanten in die Hand gibt.“ Wir müffen uns 
daher für die von Renaudot°) ausgefprochene Anficht erklären, dag 
für gewöhnlich, wie in der griechischen Kirche, nur die Elerifer das 
Brot und den Kelch getrennt empfangen, während den Laien in 
den Kelch getauchte und darin aufgeweichte Stüdchen Brot mit dem 
Löffel gereicht werden, und nur ausnahmsweiſe in ber großen 


a). a. a. O., ©. 29. 

b) a. a. O. ©. 183. 

c) a. a. O., Tom. I. In Canonem Generalem sive Liturgiam Aethio- 
picam Observationes, p. 518. 


Theol. Stud. Jahrg. 1869, ' 46 . 


702 - Bol 


Woche tie Laien das Brot wie die Geiftlichen befonders in bie 
Hand erhalten. Und können uns die Siturgieen hieran um fo weniger 
irre machen, als auch in der griechiſchen Kirche die Liturgieen bei 
der Kommunion der Laien in ganz ähnlicher Weife den befonderen 
Empfang des Brotes und des Weines voranszufegen fcheinen. 
Vielmehr erfennen wir darin nur einen der vielen von ben ir 
turgieen nod immer treu bewahrten Ueberrefte des höchften chrift- 
lichen Altertums, wie ſolche auch das Gebet für die Katechumenen, 
die Entlafjung derjelben und anderes find. 

Eine andere Frage, über die feit Ludolf viel geftritten worden 
ift, betrifft die Annahme oder Nichtannahme der Transfubftantiation 
im heiligen Abendmahl von Seiten der Abyffinier. Es kann nun 
zwar nicht geleugnet werden, daß die Abyffinier den Ausdrud „Ber 
wandlung“ beim Abendmahl gebrauchen. Gobat jagt”): „Die Abyi 
finier nennen die Einweihung des Brotes und Weines beim Abend 
mahl „Berwandfungen (Melawat)“. Aud) fommen Ausdrücke, wie: 
„Verwandle e8 in deinen Leib, verwandle ihn in dein Blut!“ in 
den äthiopifchen Liturgieen wieberhoft vor. Indeſſen drucken die 
Abyffinier ſich Über die Sache jelbft doch nur allgemeiner und um 
beftimmter aus. Nach Gobat fagten fie gewöhnlich, die Natur des 
Brote und des Weines werbe nicht verändert, beides bleibe, was 
es jei; wer es aber im Glauben genieße, empfange mit bemfelben 
Jeſum Chriftum, und darum nennen fie auch das geweihte Brot 
den Leib und den gejegneten Kelch das Blut Chriſti. Allein in 
dem Yvola avaluaxvos, das fo häufig in den Liturgieen für das 
Abendmahl vorkommt, und in Ausdrüden, wie: „Imple illam (sc. 
arcam) virtute Spiritus sancti, ut perficiatur in ea 
corpus unigeniti Filii tui ete.‘‘®) und „Oramus te, Domine, ut 
mittas sanctum Spiritum et virtutem super hunc panem et 
super hunc calicem, et faciat illum corpus et san- 
guinem Domini ete.“°) und ähnlichen find doc die Anfäge 


a) a. a. O., ©. 209. 

b) Renaudot a. a. O., Liturgia Communis sive Canon Universalis 
Aethiop. p. 474: Oratio super arcam sive diecum majorem. 

e) Renaudot a. a. O., ©. 510. 





Die chriſtliche Kirche Aethiopiens. 708 


der fpäteren Zransfubftanttationsichre unverfennbar enthalten, wenn 
auch richtig und für das hohe Alter der üthiopifchen Siturgieen bes 
beutungsvoll ift, daß, wie Werner hervorhebt, gerade in ihnen die 
nach der Transfubftantiation ſchmeckenden Formeln abgeſchwächt find. 

Den Schluß des Gottesdienftes der äthiopifchen Kirche befchreibt 
ans Trommler®), welchem Dertel folgt, näher fo: „Das Waffer, 
womit der Priefter den Kelch und die Schale ausgewajchen hat, 
trinft er, und die Hände trodnet er keineswegs mit einem Tuche 
ab. Er bfeibt an der Thür des Sanctuariums ftehen, worauf 
alle und jede zu ihm laufen, deren Antlig er beiprengt und fie 
fegnet. Diefes letztere ift gleichfam der Segen, der bei bem Be 
ſchluß des Gottesdienftes in unferen Kirchen gewöhnlich if. Vor 
der Pforte der Kirche fteht ein Geiftlicher mit einer runden Schale, 
in welcher ungeweihte Hoftien liegen. Won felbigen gibt er einer 
jeden Perſon eine. Hier ift num der Gottesdienft befchlofien.“ Es 
ift dies das arridwogov der griechifchen Kirche, das gefegnete 
Brot, welches der Priefter nach dem ottesdienft dem Volke aus- 
theilt®). 

Wir glauben bier noch einer anderen im Höchften chriſtlichen 
Altertum wurzelnden Sitte Erwähnung thun zu ſollen, welche fi 
unferes Wiſſens nur in der Athiopifchen Kirche findet, nämlich der 
Gedächtnis⸗ und Fiebesmahle, welche fich theils unmittelbar an bie 
Beier des heiligen Abendmahls anfchlofen, theils unabhängig von 
ihm gehalten wurden. Gobat ſchreibt darüber‘): „Diefen Nach— 
mittag ſchickte mir der Etfchege (der Großprior der Mönche auf 
Debra Libanos, da8 Haupt ber Mioftergeiftlichkeit) einen Korb voll 
Beigenbrote und einen Krug Bier (Honigbier); beides zum Ans 
denfen an den Abuna Haimanot. Das Gleiche Hatte er an etwa 
400 Menſchen in feinem Haufe ausgetheilt, und beides wird gleich hoch 
geachtet, wie Brot und Wein beim heiligen Abendmahlet). Dreimal 


a) Abbildung der jatobitifchen oder koptiſchen Kirche (Jena 1749), ©. 70. 
b) 30h. Glen King a. a. DO, ©. 166; vgl. Renandot a. a. O., Notae 
in Liturg. 8. Marci, p. 839. 
e) a. a. O., ©. 186. 
qh Harris a. a. O., ©. 215, nennen es die Abyſſtnier „des Herrn Jeſu 
Brot und des Heren Wein“, wiewol es Honigbier ifl. 
. 46* 


704 Boll 


des Jahres wird das Feſt diefes Heiligen auf dieſe Weiſe gefeiert. 
Auch mein Haus war mit Menſchen angefült, und die tiefe Stille, 
mit welcher fie das Bier trangen, und die Glückwünſche, welche fie 
den Bewohnern de8 Hauſes brachten, haben mid, erbaut und mid, 
an die Liebesmahle der erjten Chriſten erinnert.“ 

An unfere Bemerkungen über Taufe und Abendmahl, die beiden 
Hauptfacramente, und bie Feier des abyffinifchen Gottesdienſtes 
nlpfen wir den Bericht über die Fefte und Fajten der abyſſiniſchen 
Kirche an. An Fefttagen ift fie fo reih, wie wol feine andere 
Kirche der Chriſtenheit. Die Geburt Ehrifti und ebenfo der Ge— 
dachtnistag des Erzengels Michael wird allmonatlich gefeiert, Marin: 
tage haben fie zweiunddreißig. Sie zählen den Pilatus zu ihren 
Heiligen, weil er ſprach: „Ich bin unfhuldig am Blut dieſes Ge 
rechten!“) Ihr größtes Feſt ift das Epiphanienfeft, da8 Gedächtnis: 
feft der Taufe Jeſu im Jordan, welches noch heute in der abhſ⸗ 
ſiniſchen Kirche als jährliche Nationaltaufe, da Priefter und Boll, 
Dann und Weib, Kind und Greis in dem feierlich gefegnetm 
Fluſſe baden, oder die Vornehmeren wenigſtens Gefiht und Hände 
waschen, begangen wird, wie ähnlich die griecdhifch «ruffifche Kirche 
noch Heute am Gpiphanienfeft die große Waſſerweihe mit höchſtem 
Bomp vornimmt, indem in der Vorhalle der Kirche oder auch un 
einem Fluſſe oder einer Quelle der Priefter das Kreuz mit dem 
Kreuzeszeichen ſenkrecht eintaucht®). Wie mit einem Bad, fo wird 
in der abyffinifchen Kirche diefes Feft mit einem fogenannten Liebeds 
mahl verbunden, beftehend, wie oben befchrieben, aus Brot md 
Honigbier. „Nachdem fie (nach genommenem Bade) das heilige 
Abendmahl empfangen“, fagt Harris‘), „machte fid die Menge daran, 
einen gewaltigen Stoß Brote zu verſchlingen und ganze Beugen 
von Bierfrügen zu leeren, was alles von den benachbarten Statt 
Haltern geliefert worden war.“ 

Den Feften ftellte ſchon die alte Kirche die Faſten gegenüber. 
Die bie griedifche und alle orientaliſchen Kirchen, fo Tegte die 
abyffinifche dem Faſten einen ungemeffenen Werth bei. Es madt 

8) Stanley a. a. O. 


b) Herzog a. a. O. Bd. IV, S. 9 u. Bd. XVII, ©. 560. 
e) a. a. O, 6. 214. 








Die Hriftliche Kirche Aelhiopiens. 705 


das Hauptftiit des abyffinifchen Chriftentums aus. Nach Harris 
bie Hälfte, nach Iſenberg ſogar neun Monate des Jahres find 
bon den verfehiedenen Faftengeboten in Anfprud; genommen. Doch 
werben nicht alfe gleihmäßig und an allen Orten beobadıtet. Die 
Hauptfaften find, wie in der griechifchen Kirche, das Ofterfaften, 
welches fie fünfundfünfzig Tage vor Oftern am Tage nad) Sera- 
gefimä beginnen, und womit das Ninivehfaften verbunden ift, das 
Apoftelfaften nah Trinitatis von wechfelnder Länge, je nachdem 
Bfingften früher oder fpäter fällt, das Marienfaften vom 1. bie 
15. Auguft, d. i. vom Sterbetage der Jungfrau Maria bis zu ihrer 
Himmelfahrt, und das Abventsfaften, welches vier Wochen, nad) 
Ruppel vierzig Tage vor Weihnachten ftattfindet. Jedoch werden 
nur das Ofter- und Marienfaften nebi dem Wochenfaſten am 
Mittwoch und Freitag, diefes mit Ausnahme der Zeit zwifchen 
Oſtern und Pfingjten, wo aud in der griechifchen Kirche nicht ges 
faftet wird, von alfen abyffinifchen Chriften gleichmäßig beobachtet. 
Das Faften felbft wird ſchon von Kindheit auf von ihnen mit 
größter Strenge gehalten: ganz nach jüdiſchen Grundfägen®) ent 
haften fie ſich vollfommen von Speife und Trank bis nach Sonnen- 
untergang oder wenigftens bie Nachmittage 3 Uhr’), wo, wie 
oben bemerkt, an den Bafttagen erft das heilige Abendmahl aus: 
getheilt wird. Nach dem Gottesdienft ift es dann erlaubt, etwas 
zu fi) zu nehmen. Doc) erft nad Mitternacht darf eine ordent- 
liche Mahlzeit eingenommen werden. Fleiſch, die Fiſche ausge 
nommen, und felbft diefe find bei gewiffen Faſten ausgefchloffen, 
Eier, Butter und Milch und alles, was davon bereitet wird, ift 
ftrenge verboten. Zugleich enthält man ſich alter Arbeit, die Dienft- 
boten wollen nicht einmal das zur Haushaltung nöthige Mehl reiben. 
Wie im Faften, fo ahmen die Abyffinier auch in der Unter- 
ſcheidung von rein und umrein die Juden nah: fie enthalten ſich 
alfer im Geſetz Mofis verbotenen Speijen, fo insbejondere bes 
Schmweinefleifches, des Hafen und des Waffervogels, ja fie genießen 


2) R. Chasda bei Ludolf, Commentar. in Histor. Aethiop., p. 381: 
„Ein Faften, über dem die Sonne nicht untergeht, verdient den Namen 
Faſten nicht.“ 

b) Gobat a. a. O., ©. 289. 


706 Bolz 


nicht einmal die Eier der wilden Vögel und Seevögel. Ebenſe 
enthalten fie fih vom Blut und Erftidten, von erfterem indeſſen 
mehr nur dem Namen nad), und efjen die Spannader nicht. Sie 
beobachten nad Bruce“) aud die vom Geſetz vorgefehriebenen 
Reinigungen und enthalten fi) während der Menjtruation umd des 
Kindbettes des Beifchlafs. Kein Abyffinier ißt mit einem Moha⸗ 
medaner oder Juden, noch auch mit einem unbefchnittenen Chriſten. 
Alles Fleiſch, das fie effen, muß von Thieren fein, welche rite im 
Namen der heiligen Dreieinigfeit geihladtet worden find. Ale 
Gefäße, deren ein Fremder fih zum Effen oder Trinken bedient 
hat, zerbreden fie oder reinigen fie auf das forgfältigfte. Auf 
Reiſen bereitet der Abyſſinier fein befcheidenes Mahl fich ſelbſt, 
indem er am Abend aus, Mehl und Satz, das er mit fich füge, 
ungefäuerte® Brot backt, welches er in eine Brühe tunkt, die er 
von feinem Gaftwirth ſich reichen läßt. In Betreff der Eher 
Hinderniffe wegen zu naher Verwandtſchaft folgt die abyſſiniſche 
Kirche gleichfalls durchaus den Beftimmungen des mofaifchen Ge 
fees. Die Bande der Ehe find fehr loſe, und mit Leichtigkeit 
tnüpft und löft man die Ehen wieder auf. Doch fann ein Abyj- 
finier, wie es auch Gefe der griechifchen Kirche ift, nach dem Tode 
der dritten Frau feine gefegliche Ehe mehr fliegen; Polygamie 
findet fih fehr Häufig, aber der Polygamift ift vom Abendmahl 
ausgeſchloſſen. Eine Ehe dagegen, welche mit Priefterfegen und 
Genuß des heiligen Abendmahls gejchloffen worden ift, gift für 
unauflösfih. Die Priefter müffen, wie in der griechifchen Kirche, 
verheiratet fein; ift einer einmal Priefter, fo darf er micht mehr 
heiraten, darum ift den Prieftern Die zweite Ehe verboten. Die 
höheren Geiftlihen aber werden ftet® aus dem Monchsſtande ge 
nommen und find daher unverheiratet. 

Auch die Sitten bei der Beerdigung bieten manches Intereſſante 
dar, zuerft das Einfchnüren ber Leiche in ein reines baummwollenes 
Tuch und das Umhüllen derfelben mit der großen Lederhaut, welde 
den Abyſſiniern zum nächtlichen Lager dient, dann das Klagegefchtei, 





a) Voyage en Nubie et en Abyssinie par James Bruce, traduit de 
l’Auglais par M. Castere. Paris 1790. Tom. III, p. 357. 





Die chriſtliche Kirche Aethiopiens. 707 


davon Stanley fagt: „Der wilde Jammerruf, welchen man bei 
abyſſiniſchen Begräbniſſen vernimmt, ift dem ähnlich, welchen He⸗ 
rodot im alten Egypten vernahm“, ferner die Mitgabe einer Ab⸗ 
ſchrift des Buches „Lifafa Zedek“ oder „Ziehen der Gerechtigkeit“ 
in's Grab*), entfprechend der Abfchrift der Gebete (da8 Gebet „die 
Hoffnung und das Bekenntnis der rechtgläubigen Seele“ und „dus 
Gebet der Abfolution und Vergebung“ betitelt), welche in ber 
griechifchen Kirche, nachdem fie vom Priefter gelefen worden, ber 
Leiche jedesmal in die Hand gegeben wird, und das von Zeit zu 
Zeit wiederholte Tröftermahl, das QTascar, für welches ſich gleich⸗ 
falls in der griechiſchen Kirche Parallelen finden. . 

- Ohne uns mit der behaupteten und von anderer Seite in 
Abrede geftellten, wie es fcheint, jedenfalls nicht mehr allgemein in 
Uebung jtehenden Sitte der Leviratsehe und mit der allen Drien- 
talen gleicherweiſe gemeinfamen Blutrache, gegen die es in Abyſ⸗ 
finien, wie einft in Kanaan, Zreiftätten gibt, aufzuhalten, ift noch 
hervorzuheben, daß die Abyfjinier noch Opfer, blutige Thieropfer 
haben, weiche fte bei gewiſſen Gelegenheiten darbringen. Schon 
der alte Makrizins®) bemerkt von den Kopten: „Sie haben Opfer 
und Priefter“, Gobat aber fagt*) darüber, da er davon redet, 
daß im Abyſſinien noch manche jüdifche Gebräuche herrſchen: „Noch 
haben fie Opfer, und namentlich eine Art Sühnopfer (Beza, Ver- 
fühnung), was jedoch nur für Kranke gebracht wird. Man ſchlachtet 
ein Thier an der Stelle des Kranken, nachdem man dasſelbe 
dreimal um fein Bett herumgefchleppt Hat.“ Und Harris be 
ſchreibt ) un ein foldes Opfer alfo: „Fäden von rothem Baum 
wollgern waren um des Herrſchers (Saheba Selaffi) Daumen 
und großen Zehen gebimden, und die Schwelle der äußeren Kammer 
mit dem noch naffen Bfut eines ſchwarzen Farren bethaut, der, als 


a) Bgl. damit die Mitgäbe des fogenannten „Todten-Ritual8“ oder „ZTobten- 
Buches” bei den alten Egyptern. Brugſch, Erklärung der egyptifchen 
Denkmäler des Mufeums in Berfin (1850), ©. 54. 

b) Tak-eddini Makrizii Historia Coptor. in Aegypto, translata ab 
Henr. Jos. Wetzer, p. 167. 

e) a. a. O., S. 290. 

qh a. a. O., ©. 341. 


706 Boll 


man das Lebenslämpchen dem GErlöfchen drohend nahe vermeinte, 
dreimal um das Fönigliche Lager herumgeführt und dann mil 
morgenwärts gedrehtem Kopfe an der Thür im Namen Gottes 
des Baters, des Sohnes und des heiligen Geiftes gefchlachtet worden 
war.“ Auch bei Trommler *) findet fi die auf einen noch aut 
gedehnteren Gebrauch der Opfer Hinweifende Notiz: „Das Bolt 
reift auch dahin (an die Wallfahrtsörter), Es nimmt viel Vich 
mit und opfert theil® davon, theils ißt es auch davon.“ 
Doch wird in der Anmerkung das Opfern beftritten. Wenn man 
nun aud geneigt fein möchte, die Angabe bei ihm und Makrizins 
über Opfer bei den Kopten aus einem Misverftändnis der oben 
erwähnten Sitte, die Thiere im Namen ber heiligen Dreieinigkeit 
zu Schlachten, abzuleiten, fo trifft doch mit Spuren von Thieropfern 
bei den koptiſchen und abyffinifchen Chriſten überaus merkwürdig 
zuſammen, daß die Falaſchas, die abyifinifchen Juden, noch Heute 


folche Opfer bringen. Hinter jedem Mesgid oder Berfammlungs | 


Haus haben fie einen großen Stein, auf dem die Opfer gefchladtet 
und dargebracht werden®); und Pangen jagt‘): „Bon den Agapen 
wird bier tm Teftament Levi’8d) gar nicht gefprochen, fondern nur 
von Opfern und dem bei biefen verwendeten Salz und von 
Bädern. Alles das iſt aber nicht fpeciell ebionitiſch, fondern all: 
gemein jüdiſch, und erfcheint die Stelfe befonders Iehrreich dadurd, 
daß wir aus ihr erfehen, wie felbft nah der Zer- 
ftörung Jerufalems auf dem Gebiete judenchriſtlicher 





Anfhauungen noch mandes Stüd Judentum ſich er \ 


halten hat.“ 
Wir eilen zum Schluffe unferer Darftellung. Wir Haben nır 
noch über eines uns ausführlicher auszufprehen, das ift das be 


8) a. a. 0, ©. 68. 

b) Basler Diffions-Magazin 1864, ©. 497. Näheres über bie Opfer bi 
den Falaſchas und adyffinifchen Chriſten ſ. Flad, Schilderungen dr 
abeffinifhen Iuden (Kornthal 1869), ©. 55 fi. 

) a. a. O. ©. 162. 

¶) Das Teftament der zwölf Patriarchen iſt nach ihm in ben Iepten Der 
cenuien des erften oder im ben erften des zweiten Sahrhunderts nach Chr. 
griechiſch in Paläfina verfaßt worden. 


Die chriſtliche Kirche Aethiopiens. 709 


rühmte Tabot, das Abbild der Bundeslade in jeder abyffinifchen 
Kirche. Die Kirchen find mit fehr feltenen Ausnahmen rund er 
baut und haben ebenfo, wie die Mesgids der Falaſchas, nach dem 
Mufter des Tempels zu Jeruſalem drei Abtheilungen, den Vorhof, 
das Heilige und das Allerheiligſte. Jeder rechtgläubige abyffinifche 
Chriſt lebt der Weberzeugung, dag die echte miofajfche Bundeslade 
fi nod heute in der Hauptkirche zu Arum, der alten Könige- 
ftadt, befinde, dahin fie von dem Stammvater des abyffinifchen 
Konigshauſes Menilet, dem Sohn Salomo’s und der Königin von 
Saba, nachdem er fie aus dem Tempel entwandt, gebracht worden 
ſei. In jeder Kirche befindet fi aber ein Abbild diefer Lade, 
welches für das größte Heiligtum, fir das Unterpfand der Gegen- 
wart Gottes, beiradhtet wird. Stanley fagt: „Das Abbild der 
heifigen Arche, die Zionslade genannt, bildet den Mittelpunkt der 
abyffinifchen Andacht. Geſchenke werden ihr dargebracht, und Ges 
bete am fie gerichtet. Bon ihr hängt die ganze Heiligfeit der abyf- 
finifchen Kirche ab.“ Im Allerheiligften fteht nämlich der heilige 
Tiſch, auf diefem Tisch befindet fich die arca. Sie ift eine Heine 
Kiſte, welche meiften® aus Holz gefertigt ift, auf welche die Schale 
für das Brot und der Kelch beim Heiligen Abendmahl geſetzt werben. 
Darum heißt fie au arcula eucharistica. Werner befchreibt 
fie als „die durch eine vieredige, hölzerne Tafel vorgeftellte Bundes- 
lade, welche mit ihren Meinen Säulen aus Holz auf einem tifch- 
ahnlichen Altar aufliegt, und auf welher man Brot und Wein 
zum heifigen Abendmahl confecrirt.“ Sie find fehr kunſtreich ge⸗ 
fertigt. In diefen Laden befindet fich nichts als eine Pergament» 
volle mit dem Namen des Schugheiligen der Kirche. Nach Iſen⸗ 
berg tragen fie bloß eine Infchrift mit dem Namen der Kirche). Bei 
feierlichen Gelegenheiten werden fie in Procefjion herumgetragen, 
und das Volk wirft ſich vor ihnen in den Staub. Wie einft die 
Bundesfade, fo zieht die Lade von St. Michael bei allen Kriegszügen 
der Schoaner mit in's Feld, und ein Chor von 156 Sängern ift 





a) Bol. lad, Zwölf Fahre in Abeffinien (Bafel 1869), ©. 6, Anm. 2: 
„Xabot. oder Serie iR eim vierediges Brett, auf das ein Kreuz 
eingeſchnitzt if.“ 


rı0 Bol; 


beftelft, welche ſich ablöfen, indem alle Monate 12 in’s Lager 
tommen, um bei der im koniglichen Hauptzelt ftehenden Lade 
während bed ganzen Feldzugs jede Nacht bis zum Krähen des 
Hahnes Palmen zu fingen“). Beim Tabot werben auch die fir 
Ügen Gefäße und Bücher aufbewahrt, ähnlich wie Bitringa®) von 
den Synagogen der Juden berichtet: „Die Juden haben im ihren 
Synagogen auch ein Allerheiligſtes, welches die Lade (arca) 
enthält, die zur Aufbewahrung des Geſetzes beftimmt ift." „Gegen 
diefe Yade gewöhnten fie ſich beim Eintritt in die Synagoge fih 
zu verneigen (incurvare), wie wenn bei ihr ebenfo, wie einft ki 
der alten Bundeslade, die Gottheit gegenwärtig wäre.“ 

Wir find zu Ende. Wir haben dem Lefer, foweit nicht, wie bi 
Taufe und Abendmahl, das archäologiſche Intereſſe uns weil: 
laufiger werden ließ, in gebrängter Kürze die hauptſächlichſten 
Eharakterzüge der abyffinifchen Kirche vorgeführt. Sie ift hiernad) 
unzweifelhaft mit der griechifchen und den orientalifhen Kirchen 
nahe verwandt, ift, wie ihr Abuna Heute noch von dem koptiſchen 
Patriarchen zu Alerandria, der jet zu Cairo refidirt, aus ber 
koptifcien Moftergeiftlichteit ernannt und nad Abyffinien geſchict 
wird, eine Tochter der koptiſchen Kirche, welche noch viel Judei⸗ 
fireubes mit ihr gemein hat; aber dennoch ift fie noch viel mehr 
als die Mutterlicche eine eigentliche judenchriftliche Kirche, eine 
Kirche, welche bis auf den heutigen Tag eine Verſchmelzung des 
Judentums mit dem Epriftentum oder faft noch mehr ein Neben 
einander beider darftellt, wie es fich bei feiner Kirche der Erde 
findet, und die deshalb unfer lebhafteftes Intereſſe erregen mıf. 
Sollte, frägt man unwillkürlich, von hier aus nicht auf dem Boden 
von Thatſachen, von archäofogifchen Entdeckungen und Nachweifungen 
für die wichtigfte und dunfelfte Periode der chriſtlichen Kirchen 
geſchichte ein neuer Weg gefunden werden können? Wann und von 
wem wurde die äthiopijche Kirche gegründet? — Sie murde von 
Egypten aus gegründet, und Frumentius war nicht ihr Gründer, 
fondern nur ihr Wieberbefeber und Neubegründer, der Bonifacius 
Abyſſiniens. Nach Alerandria aber mußte das Chriſtentum ſchon 
Harris a. a. O., Bd. I, ©. 876. 

b) a. a. O., ©. 465 u. 181. 





Die chriſtliche sicche Aethiopiens. zıt 


zu Pauli Zeiten jo gut, wie nad Rom vor und ohne Paulus 
fommen, und follte die ausſchließliche Richtung Pauli auf das 
Abendland nicht vielleicht ihren Grund mit in jener Theilung der 
Arbeitögebiete nad) Gal. 2 gehabt Haben: „ich zu den Heiden 
und ihr zu den Juden“, fo daß Paulus das Morgenlond und 
Egypten, wo die Myriaden Juden des Joſephus und Philo wohnten, 
den Urapofteln überließ? Factiſch ift e6 ja fo geworden, warum 
nicht mit Bewußtjein? Paulus wollte einmal auf keinen fremden 
Grund bauen, und wo war fremder Grund ſchwerer zu vermeiden, 
als im Often und Süden? Bei dem lebhaften Verkehr zwiſchen 
Egypten und Yethiopien aber mußte das Ehriftentum in der Form 
des Judenchriſtentums ſchon im .erften Jahrhundert den Nil Hinauf 
nad, Abyffinien dringen); denn, wie nad) Verfiherung der abyſſi⸗ 
niſchen Annafen fchon vor Ehrifti Zeiten ein großer Theil Abyffiniens 
von älteren Juden bewohnt war, fo laffen ſich die Fortdauer der 
Bolygamie, das Vorkommen von Thieropfern, das Tabot und feine 
ungemeffene Verehrung, die Beobachtung fo vieler Stüde des 
moſaiſchen Gejeges, die durchaus eigentümlihe und altertümliche 
Geftalt der abyffinifchen Kirche fchlechterdings nur aus dem Judentum, 
und zwar keineswegs etwa bloß aus ſpäterer Judaiſirung in Folge 
der allerdings etliche Jahrhunderte andauernden Herrſchaft einer 


8) Karl Ritter, Erdkunde, Theil I, Bud) 1, ©. 211: „Die Gruppen 
verroilberter Dattelpalmen (in der Borterraffe von Sire, und in Tigee 
ebenfalls an einzelnen Stellen, aber immer in ber Nähe buch uralte 
Kirchen und K öfter geweihter Orte) mögen wahrſcheinlich Ueberrefte von 
Pflanzungen der älteften hriftlihen Prieſter der erſten Jahr 
bundertefein, welche von @gypten her nach Abyffinien ein- 
Jogen.“ Bgl. Herzog a. a. D., Bd. I, ©. 151, wonad; Eufebins 
zeigt, daß das Chriftentum ſchon im 2. Jahrhundert nach Oberegupten 
verbreitet war. Auch Munzinger in Petermanns Geographiſchen Mit- 
tHeilungen 1867, Abyffinien, &. 398 fagt: „In den erften Jahrhunderten 
unferer Aera ftand Abyffinien auf der Höhe der damaligen Eultur, das 
Ehriftentum, das ununterbrochen den Nil herauf bie hierher veichte, ſchuf 
einen fletigen Verlehr mit dem römifchen Reid). Doc; leitet er, was 
wir fr irrig halten, die eigentümliche Geftalt der äthlopifcen Kirche von 
ihrer fpäteren Jolictheit und dadurch verurfachten Abhängigfeit von ber 
toptiſchen Kirche in Egypten feit der Eroberung Eghptens durch die Diuha- 
mebaner her. " 


712 Bold, Die chriſtliche Kirche Aethiopiens. 


judiſchen Dynaftie auch über das chriſtliche Abyſſinien, ſondern nur 
durch urſprungliches Aufpfropfen des Chriſtentums auf den jüdiſchen 
Stamm in der Form des Judenchriſtentums genügend erflären‘). 
Mit den judiſchen begegnen und ja eng verbunden uralte chriftliche 
Sitten, und das Verabreichen von Milch und Honig an die Neu— 
getauften, das Efien des Pafjahlammes, die Feier des Sabbatt 
neben dem Sonntag, find auch anderwärts bezengte, fonft aber 
überall verſchwundene Sitten der erften chriftlichen Kirche geweien, 
welche eine fpätere Zeit alfo nicht erft hätte einführen können. 

Es ift und genug, wenn wir mit bem Finger auf das Ziel 
gezeigt haben; möchten Befjere denn wir ben gezeigten Weg be 
f&reiten und mit den jeden Tag ſich mehrenden Hütfsmitteln, weht 
ihnen leichter als une zu Gebot ftehen, volles Licht im das noch 
vorhandene Dunkel bringen! 


2. 


Noch einmal das Eſoteriſche. 
Bon 


Lie. D. Hollenderg, 
Gymnaftaldirector in Saarbrüd. 


Es ift bei manden vordriftlihen Religionen eine Spaltung 
des religiöfen Bewußtſeins wahrzunehmen. Die große Menge leh 
in der überlieferten Form des religiöfen Glaubens und Cultus, 
eine gebildetere Minorität, welche gegen die Zeit des Verfalls hin 


a) Noch viel entjdjiedener und zweifelloſer tritt dieſe Verwandtſchaft bei dt 
Vergleichung der abyſſiniſchen Chriſten mit den Falaſchas hervor, mie ft 
Flad in feiner Schilderung der Falaſchas beſchreibt. Man fieht, Bit 
find Söhne Eines Haufes, Brüder, die das Zeugnis der gemeinfamen 
Abftaminung an der Stirne tragen. 





Hollenberg, Noch einmal’ das Eſoteriſche. 713 


zunimmt, ſucht neben der nationalen Religion eine andere Form 
zu gewinnen, die mit Hilfe fonftigen Denkens gefunden und daun, 
auch durch vornehme Ueberlieferung ſich fortpflanzend, die Höhere 
Wahrheit des religiöfen Volksglaubens fein foll. Man hat zuweilen 
geglaubt, diefe Spaltung fei auf das außerchriftliche Religionsweſen 
zu befchränfen, das Chriftentum dagegen dulde den Gegenjag des 
Eroterifchen und Eſoteriſchen nicht. Und gewiß mußte das griechifche 
Denen viel entfchiedener das Bedürfnis empfinden, den Volles 
glauben umzudenten und zu beftreiten, als es eine Religionstheorie 
thun kann, die auf eine heilige, reine, die Schranfen der Nationalität 
faum wiederjpiegelnde Urkunde des Vollsglaubens zurüdgreift. 
Aber principiell kann der Unterfchied des chriftlihen Denters 
von dem vorchriftlichen nicht fein. Alle Religionsurkunden müffen 
durd die Eutwidelung der Menfchen eine Verſchiebung erfahren. 
Nicht bloß ändern fie ſich nicht, während die Menfchen, die fie als 
teligiöfe Urkunden verehren, anders werden; auch die Schnelligkeit 
diefer geiftigen Veränderungen in den Menfchen ift eine ganz ver= 
fdiedene. Die anwachſende Summe von Erfahrungen, die bie 
Menschen machen, die Umgeftaltung des Erfennens und des fit 
lichen Urteil, die daraus hervorgeht, zwingt auch den Kreis von 
Gläubigen, welcher am weiteften von der Stromrinne der Ent- 
widelung abliegt, zu den alten, unbeweglichen religiöfen Ueber— 
lieferungen eine andere Stellung einzunehmen. Wie wenig jind 
unfere heutigen frommen Bauern noch geneigt, den ganzen Tag 
mit Neligionsübungen zu erfüllen, den Zehnten zu geben, fi 
jegliches Unrecht gefallen zu laffen! Und doc find diefe Verände— 
tungen hochſt unbedeutend neben denen, welde in den geiftig reg⸗ 
famen und denfenden Claſſen vor fi gegangen find. Seitdem 
ein neues geiftiges Leben durch die erneuerte Kenntnis des Alter- 
tums, durch die Entwidelung der Weltfunde und des Handels, 
durch den Buchdruck möglih wurde, nahm die hriftliche Gejell- 
haft in zufehends breiteren Dimenfionen die Gewohnheit des 
Theoretifirens an. Man fragte alles Beftehende nach feinen Urs 
laden und Gründen. So groß war freilich die Macht der tiefften 
Lebensanſchauung und Lebensgewöhnung, der refigiöfen, dag man 
nur zögernd auf dieſes Gebiet die Argumentation auwandte. Man 


714 . Hollenberg 


hatte ein Gefühl davon, da das Religidfe doch etwas Bejonderes 
fei. Aber wenn dadurch auch eine Zeit lang vermöge oberflächlicher 
Gleichſetzung aller Theile der ganzen bibliſchen Literatur die Heilige 
Schrift vor der fonjt geübten Analyfe und Kritik ausgejchlofen 
blieb, es konnte doch nicht immer fo bleiben. Namen wie Aſtruc, 
de Wette, Ewald, Strauß, Baur, Hupfeld bezeugen eine Weile 
der Betrachtung, die fi von der früheren und von der auch jegt 
bei einfachen Gläubigen geltenden Weife grell unterfcheidet. Die 
genannten Gelehrten und ihre Auhanger, die ſich naturgemäß in 
den wiſſenſchaftlichen Kreijen jtets vermehren, legen ja den Grundſah 
zu Grunde, daß die im Laufe der Zeit von der Menfchheit er⸗ 
arbeiteten logiſchen, ethiſchen, pfychologifchen Wahrheiten alle Ge 
biete des menfchlichen Lebens zu durchdringen haben, alfo aud das 
religiöfe. Damit ſei nicht das religiöfe Leben inhaltlich einem 
anderen menfchlichen Lebensgebiet gleichgeitellt, e8 könne immerhin 
etwas viel Höheres fein, aber das habe mit der Gleichheit jener 
Broceffe nichts zu thun, die ja überall das manigfaltigfte Materinl 
umfazter. Man müffe auf die religiöfe Literatur die fonit 
anerfannten literariſch⸗ Eritifchen Methoden anwenden, auf die rli- 
giöfe Weberzeugung die pjyhologifchen, metaphyſiſchen und ethiſchen 
Grundfäge und auf die Geftaltung der Kirche und ihren Fortgang 
die Hiftorifchen und geſellſchaftlichen Priucipien, die wir fonft ge 
brauchen. Dadurch fomme nicht allein in unferen ganzen Gedanken 
kreis die und fo möthige Einheit und Uebereinſtimmung, auf 
praktifch werde dadurch der Uebelftand vermieden, daß zwiſchen 
unferer religiöfen uud profanen Weltbetrachtung ſich Widerjprüde 
feitfegen. 

Auf diefer Stelle zeigt ſich auch deutlih, warum dieſe Stufe 
der wiffenden Gläubigen — der Denkgläubigen, wie man fie einft 
fpottend nannte — jet ebenfojehr eine Sache "der Minorität fen 
muß, wie die Mofteriendeutung bei den Alten. Das Beduürfnic, 
in den Theilen unferes Wiffens und Wollens Webereinftimmung zu 
finden, ift ein keineswegs allgemeines. Bon Natur fehenen wir 
uns felbft vor greifen Widerſprüchen nicht. Wie ungleich find 
unfere Stimmungen am Morgen und Abend, an Werkeltagen und 
Seftzeiten! Wie oft reißt uns eine Aeußerung eines imponirenden 





Noch edimal daB Ejoteriſche. 715 


Geiftes fo mit ſich fort, daß wir ihm Beifall geben in einer Weber- 
zeugung, die mit unferen anberweitigen Weberzeugungen, wenn wir 
zu eingehender Prüfung Luft Hätten, in Widerſpruch ftehend er⸗ 
fhiene. Wir haften eben am Concreten und Einzelnen, und das 
alles begleitende Lebensgefühl des Ich ift uns ſchon eine genügende 
Einheit des bunten Lebens. Aus diefer formellen Einheit, dem 
Egoismus des Ichgefuhls, auch eine inhaltliche Uebereinftimmung 
zu machen, ift erft der zugleich ethiſch fortgebildeten, gemifjenhaften 
und intellectuell zum Allgemeinen vorgedrungenen Perſonlichkeit ein 
Bedürfnis, und felbft ſolche Menfchen Hagen darüber, daß ihnen die 
Ausgleihung ihrer Ueberzeugungen nur fehr allmählich gelinge. 

Wenn fon dies für die Wiffenden ein Grund der Be— 
ſcheidenheit ift, fo wird noch meiter gefragt werben-müffen, wie fich 
diefelben den Anderen gegenüber zu verhalten haben, die, unterein« 
ander wieder ſehr verjchieden, auf der Stufe des forglofen Glaubens 
und Aberglaubens, der empirifchen Weberfieferung ftehen oder fich 
einer falſchen Theorie, die ihnen im diefer faljchen überlieferten 
Geſtalt als ein Stüd ber refigidfen Thatſache gilt, — ich meine 
3 DB. die gewöhnliche Infpirationstheorie — in Sachen der Res 
figion bedienen. . 

Zunächft müffen fie bedenken, daß man nicht mit dem Ende 
anfangen Tann. Auch wer zur Differentialrechnung vordringen will, 
fängt mit den vier Species in ganzen Zahlen an. Und jede Stufe 
will ihre Zeit haben. Es ift wahr, daß man ben rohen Stämmen 
Beblirfniffe künſtlich einpflanzt, um fie zu erhöhter Arbeit und zu 
edlerer Lebenshaltung zu erziehen. Und fo ift es auch auf dem 
geijtigen Gebiet pflichtmäßig, nicht bloß materiell den Gedankenkreis 
zu ermeitern und ſchon in der Elementarfchule damit anzufangen, 
ſondern auch intelleetuelle Gewohnheiten einzupflanzen, nad Gründen 
zu fragen, Verwandtes zu vergleihen und unter allgemeine Gefichts- 
punkte zu ftellen. Aber doc nur das Verwandte, was man weiß, 
und unter die allgemeinen Gefihtspunkte, die man felbft Hat. 
Nichts mehr. Die Pſychologie ift doch dazu da, beachtet zu werben. 
Wenn wir e8 nun mit der religiöfen Behandlung der Meinen zu thun 
hätten, fo wirden wir gewiß aus der befannten Nothwendigfeit, 
Märchen zum Unterrichtöftoff zu machen, auch für die kritikloſe 


16 B Hollenberg , . 
Aufnahme der bibliſchen Geſchichte in dem Unterricht gute Gründe 
hernehmen, wobei freilih noch mehr als bei der Fülle . der 
Märden eine ftrenge Auswahl der biblifhen Gedichten geboten 
wäre. Aber wenn dieſes Pädagogiſche uns hier nicht bejchäftigen 
darf, wir auch zugeben, die Analogie bringe e8 mit fi, daß, wie 
mar die Märchen fpäter als bloße Märden betrachte und doch 
lieb Habe, fo ſich auch die bibliſche Geſchichte als nur ideelle Gr- 
ſchichte behaupten und werthſchätzen laſſe, fo ift doch zu fagen, 
daß die Sache hier etwas anders liegt. Die Märchen gehen beim 
Kinde durd die ſchnell wachſende Naturkenntnis von felbft als 
äußere Thatjadhen zu Grunde, und fein gefchichtliches Intereſſe 
arbeitet diefer Auflöfung entgegen. Aber das Alte Teftament ift 
feit Zahrtaufenden in das Denfen der Religiöfen, in ihre Rectüre, 
ihre Sprache, ihre Gebete und Eultushandlungen eingegangen. 
Wenn, was fo als tieffte Grundlage der religiöfen Gefellfchajt 
befeftigt worden ift, was von unzähligen Religionslehrern jeder 
Generation unter den Gefihtspunft einer göttlichen Eingebung ge: 
ftellt wird, wenn dies den Meufchen auf einmal als ein Object 
der gewöhnlichen, Stepfis vorgehalten würde, fo würde nicht bloß 
die Einficht ſchwanken (dies wäre das Geringſte), es ginge aud, 
wenn die Stepfis vor den Einfältigen ihre Berechtigung durd- 
feßte, etwas Werthvolleres verloren, das Vertrauen auf die 
geiter. der Kirche, die verftorbenen und die lebenden. Diefe Er 
wägung bezieht fih in ähnlicher Weife auch auf die ritifche Be— 
Handlung des Neuen ZTeftaments, der Luther'ſchen Ucberfegung, der 
Dogmatik. Ueberall müfjen die Forſchenden zugeben, dag große 
Bedenken vorliegen, die Menge in ihrer Sorglofigkeit durch die | 
fortgefchrittene Kritit zu ftören. 

Was ift aber dabei zu thun? Accommodation ift immer bie 
Pflicht des Gereifteren, des Weiterblickenden. Sie wird, um eine 
Einzelgeit zu erwähnen, unterftügt von dem Bewußtſein, daß die 
Theorie und das Factiſche doch verfchieden find und ungleiche Be— 
deutung haben. Das religiöfe Factum ift die breite gemeinſame 
Bafis für alle Neligiöfe. Die Theorie des Religidjen aber, ein 
Bedürfnis des Culturmenſchen, ift etwas für fih. Sie wechſelt 
mit ber fortjchreitenden Eultur, und foll zu jeder Zeit der voll: 


Noch einmal das Efoterifdhe. 717 


tommene Durchdringung des religtöfen Factums durch die Cultur 
fein. Wenn wir es uns ſtets gegenwärtig erhalten, daß es ein 
großer Unterſchied ift, wie fich die Individuen religiös fundgeben 
und wie fie ſich theoretifch über ihr religiöfes Leben äußern, fo 
wird für eine Verſtändigung ber verſchiedenen Bilbungsftufen eine 
Handhabe gefunden fein. Im tiefften Grunde wird fh ber Ger 
förderte mit dem einfachen Gläubigen eins fühlen, unb bie 
Theorie treunt dann nicht fügfich mehr, was factiſch ver- 
wandt iſt. 

Dann wird ſich auch eine richtige Methode der Einwirkung 
auf den gemeinen Mann cher finden. Denn wenn aud im Kreiſe 
der Wiſſenſchaft in umfaſſender Weife die Arbeit der. Theorie ges 
pflegt werben muß, pofitiv und polemiſch zugleich, fo iſt für die 
Einwirkung auf die Gemeinde ein anderes Verfahren vorgezeichnet. 
Wie Schleiermacher zu feiner Zeit in den Gemeindepredigten ein 
Verfahren anftrebte, durch das fein einfacher Chriſt ſich in feinem 
Glauben verlegt fühlen konnte, fo muß es ftets geſchehen. Man 
wird alfo weder eine hochmüthige, noch eine nicht hochmüthige 
Bolemit gegen den Gemeindeglauben dulden; fondern nur ein Ab» 
fehen vom Veralteten und ein Unterdrüden des Unrichtigen, ein 
Verſchweigen des falſch Theoretifchen mit Hervorhebung deſſen, 
was als gemeinfame Baſis unerſchutterlich bleibt. Damit ift no 
nicht jede Schwierigfeit gelöft. Es könnte z. B. ein Unkundiger 
fagen, das Gemeinfame fei eine zu ſchmale Baſis für bie lebens⸗ 
warme Darftellung des religiöfen Lebens. Das ift wol unrichtig. 
Auch bis jet bewegten ſich die ergreifendften Predigten in den erften 
Elementen der Dogmatik, aber fie thaten einen vollen Griff in 
die ethifchen Gebiete. So wird es im ganzen auch bleiben müffen. 
Wenn bie Gemeinden confeguent und allgemein in der obigen Art 
geführt werden, wenn bie einfachen Gläubigen ſicher find, nicht 
mit einer Kritik behelligt zu werden, die für fie nur Gegenftand 
des ftaunenden Fürwahrhaltens fein kann und ihre Pietät gegen 
das bisher Geglaubte empfindlich ftört, wenn auf der anderen Seite 
die gebildeten Gemeindeglieder ficher find, daß nicht im Intereſſe eines 
angeblichen Glaubens die gewöhnlichen Refultate der fonftigen geiftigen 
Arbeit vor ihnen angegriffen und ehrwürdige Männer wegen ihrer 

Theol. Stud. Jahrg. 1869. 47 


rı8 Hollenberg, Mod einmal das Efoterifche. 


Theorieen verläftert werden, fo wirb fich auch wieber ein kirchlichet 
gemeinfames Leben finden, und die Subſtanz des ticchlicen Glaubens 
in feiner Ausbreitung durch das ganze, von Leid und Freude be 
wegte, des Glaubens fo bedürftige Leben wird auch wieder bie 
Subftanz der Gefellfchaft werden, ein Halt in ber zerrifienen Welt 
der Intereſſen. 





Reeenſionen. 


47* 


1. 


Genesis Graece. E fide editionis Sixtinae addits scrip- 
turae discrepantia e libris manu scriptis a se ipso 
conlatis et editionibus Complutensi et Aldina adcu- 
ratissime enotata edidit Paulus Antonius de Lagarde, 
Theologiae Licentiatus*), Philosophiae Doctor, Pro- 
fessor Regius. Lipsiae 1868. Prostat in aedibus 
B. G. Teubneri. XXIV und 211 pgg. 8°. 


‚Hieronymi Quaestiones Hebraieae in libro Geneseos e re- 
cognitione Pauli de Lagarde. Lipsiae prostat in 
aedibus B. &. Teubneri. 1868. VII und 72 pgg. 8°. 


‘ 


Der Herausgeber der beiden Schriften, welche ich hier zur Be- 
fprehung bringen möchte, bietet uns in denſelben werthuolle Früchte 
feiner Tangjährigen Vorarbeiten zu einer Tritifchen Ausgabe der LXX. 
Leider hat Lagarde fein p. V der zweiten Schrift angefündigtes 
deutfches Buch „Vorfchläge über bie Art, auf welche eine für bie 
Wiſſenſchaft verwendbare Ausgabe der fogenannten Septuaginta 
hergeftelft werden zu können fcheint“ noch nicht veröffentlichen können. 
Dafür aber hat er feine Genefisausgabe mit einer doppelten 
Vorrede außgeftattet, deren erfte (p. 3—8) von den zur Heraus- 


a) Kürzlich Hat die theologiſche Facultät zu Halle die großen Verdienſte de 
Lagarde's durch das Ehrengeſchenk der Doctorwürde anerkannt, 


722 be Lagarde 


gabe der Geneſis benuyten Hulfsmitteln Rechenſchaft ablegt, während 
die zweite (p. 9—24) den Plan zur allmählichen Herftellung 
eines wiſſenſchaftlich haftbaren Textes der ganzen LXX entwidelt. 
Es ift ein Außerft mühfamer Weg, welden Lagarde vorfchlägt, 
ein Weg, der des einzelnen, auch des tüchtigften Mannes Kräfte 
weit überfteigt. Wol niemand wird Heute noch die Befürchtung“) 
de Wette's (Einleitung in das Alte Teftament, 6. Ausg., 847) 
theilen, daß die Kritit der LXX es vielleicht nicht weiter bringen 
nme, als zur Sammlung von Barianten; aber die Hoffnung ift 
sefhwunden, daß das bisher angefammelte Material, wie es 
namentlich in des graßen Ausgabe von eh. Helmes und ac. 
Verſous vorliat, diargichtade Buverläßigtgit beige, um zur Her⸗ 
ftellung einck hen Anfordervngen grufter Kritil genügepden Fextes 
der IN dienen zu lornen. Mad der Ugberficht”), melde Barfons 
am Schluſſe des fünften Yandes gibt, find für den Parignten- 
apparat, welchen bie im Jahre 1827 vollendete große engliſche 
Wuögabe des griechiſchen Alten Teftamento unter dem ſixtiniſchen 
Texte darbietet, nicht weniger als 13 Uncialeedicea“) und 290 


8) Auf basfelbe tame bie von Hebepemming (Drigines I, ©. 188) ſekvſt für 
wunitfig echate uud wol dicht eruft aemsinie Berantkung hivaus: 
„Die Geptuaginte Hatte vielleicht miemals in irgend einem ihrer Theile 
eine völig fefte Geftaft. Sie Tann, mindeſtens theilweije, aus verfchie- 
denen, in ben helleniſtiſchen Synagogen üblichen Dolmetſchungen entftanden 
fin. 59m Diele falle pad eu gleih gufgmgs wericichrne Fazit, mb jeher 
Bandige Vorleler may zu. Aenderungen 

6) Serig werben darin hie Uncieleobicrs, weldie Baggrde mit W, X und T 
begeichnet, als Nr. 43, 258 und 262 den Eurfiohanbfeeiften zugezehit 
auch im anderen Stüden It jene Ueberſicht auf die Art uud Weiſe der 
— für bie Orforder Aysgabe bir all günfigen Richt 


03 eh man den Soxravignns alp amei, wie bie Orforder thun, dere 
. 23 aud) (vgl. bie LXX ed. Tachdf. Prol. p.25, nt. 1) diercher ge- 
hört, fo — 14, während Bleek (Einleitung in's Alte Teſtament, 
Ayfl.1, S. 7775 ebenfo Dieſtel, Gefchichte des Alten Teſtaments, S. 588) 
nme 12 zählt. Der bald XIII, bald 18 gezeichnete Coder der Orforder 
Nunasbe iR wämlich mid dem Beugeifle vos Bruns (in Bihiums Fe- 
vertorinm, SG. RIU, ©, 178) mit Wnpalen geirichen. Bisknen wir 





Genesis Graece und Hieronymj Quaestiones Hebraicae. 7123 


Minuskeln verglichen worden; D. 3. Fritzſche (in Herzogs Real⸗ 
Encyklopädie I, ©. 233) fagt demnach mit Recht, daß bisher am 
meiften für die Vergleichung der griechiſchen Handſchriften ge 
ſchehen fei, weniger für die Benugung der Eitate bei alten Schrift» 
ftellern, am wenigften für bie Vergleichung der alten Ueherfegungen. 
Wenn aber a. a. O. Fritzſche den Voriantenapparat von Holmes 
und Parfons „einen im ganzen zuverläßigen“ nannte, fo ift jegt 
durch Lagarde’s Genefis auch weiteren Kreiſen Gelegenheit geboten, 
fih von den ſtarken Einſchränkungen, deren jenes allzu günftige 
Urtheil bedarf, mit eigenen Augen zu überzeugen. Die verhälmis- 
mäßig große Unzuverläßigkeit des Holmes-Parſons'ſchen Apparate 
ift zwar fchon öfter geltend gemacht worden, namentlich von Tiſchen⸗ 
dorf in den Prolegomenen*) zu feiner Ausgabe dev LXX (vgl. in 
der 2. Aufl. von 1856 den Anfang von Section XXIII oder in 
Aufl. 3 von 1860 Section XXII: „Itaque ut ad apparatum 
perveniatur eiusmodi, unde textus Veteris Testamenti Graeci 
tum antiquissima ratio ea qua per antiquos testes licet pro- 
babilitate restituatur tum historia accurate diseatur, non ab 
opere Holmesiano, ut iam supra [sect. VIII, cf. sect. XXIj 
diximus, sed a novis circa ipsos testes studiis criticis profi- 
eiscendum est‘‘; vgl. auch in beiden Auflagen p. 64, Anm. 1); 
aber erft die Genefisausgabe von Lagarde macht für Jeder⸗ 
mann anfhaulih, mit wie gutem Rechte er das Prophetenwort 
Jer. 4, 3 als Motte au die Spige (p. 9) feiner zweiten Vor⸗ 
rede geftellt Hat. 

Um nun den wiffenfaftlichen Werth von Lagarde's Ausgabe 


W, X und T Hinzu, fo benutzten bie Orforber 16 Uncialcodices und 287 
Minusteln; als ganz genau gebe ich übrigens dieſe Rechnung (über Ar. 27 
dgl. Lagarde p. 16 der zweiten Vorrede) Teineswege. 

a) Diefe wichtigen Prolegomena citire ich Hinfort als „Tschäf. Prol.“; ich 
bemerfe, daß bie zweite und dritte Auflage in Ausdrud und Seitenzahl 
Übereinftimmen, wo mein Citat die Muflage nicht genauer als zweite ober 

drritte angibt. Wie wenig Sorgfalt der dritten Auflage von dem vielbe- 
ſchaftigten Herausgeber zugewendet wurde, beweift bas für 1860 unpaffende 
„hoc ipso anno“, p. 60. Die für 1869 angelünbigte 4. Aufl. Tenne 
ich noch nicht. 


724 de Lagarde 


der Geneſis zu beurtheilen, bedarf es nicht der Vergleichung mit 
der langen Reihe von mehr ober weniger ungenügenben Ausgaben 
der LXX, die bis jegt erfchienen find; zum Beweiſe dafür, daß 
der von Lagarbe bargebotene Apparat, welcher bie 
größte Zuverläßigkeit mit verhäftnismäßiger Reichhaltigkeit ver- 
bindet, weitaus ber befte heißen muß, der jemals 
zur Genefis veröffentliht worden ift, genügt die Ver- 
gleihung der Ausgaben von Holmes und Tiſchendorf vollkom- 
men. Wie diefe beiden Gelehrten, fo liefert auch Lagarbe, dem 
es zunächft noch nicht um den zur Zeit wiffenfchaftlih ünausführ⸗ 
baren Verſuch einer durchgreifenden Textrecenſion zu tun ift, ein- 
fach den fogenannten figtinifen*) Text, jo daß der eigentliche Werth 
von Lagarde's Arbeit in dem unter jenem Texte befindlichen fri- 
tifchen Apparat zu ſuchen ift. Ehe ich aber zur „discrepantia 
scripturae‘‘, wie Lagarde mit Recht fagt, „e libris a me ipso 
conlatis quantum fieri poterat diligentissime enotata“ felber 
übergehe, mögen wenige Bemerkungen über die Wiedergabe des 
Textes ber „römifchen Ausgabe von 1586“ hier eine Stelle finden. 
Während Holmes und Tiſchendorf (Prol. p. 17; vgl. Aufl. 3, 
p. 89, Anm. 3) nad; gewohnter Welje das Jahr 1587 als das 
bes Erfcheinens angeben, nennt Lagarde 1586; zu diefer Neuerung 
veranfaßt ihn die Thatſache, daß auf dem Titelblatt des von ihm 
benugten Eremplars zur Ziffer VI mit der Feder I Hinzugefügt 
ift. Freilich zeigt da8 am 8. October 1586 erlafjene Decret des 
Bapftes Sirtus V. (Tschdf. Prol. p. 27), daß die Ausgabe 
ſchon 1586 vollendet war, und dieſe Jahreszahl befigt ein Anc- 
Togon in der Bezeichnung des complutenfifchen Pentateuchs mit 
1514; aber die hergebrachte Jahreszahl hat doch ihren guten 
Grund, und ich führe Lagarde's Abweihung nur an als Beleg für 
die Sorgfalt, womit er überhaupt bie Federzüge des römischen 
Drudes bemerkt und in feiner Ausgabe verzeichnet hat, in welcher 
aud die werthvollen Anmerkungen (vgl. Tschdf. Prol. p. 26) 


8) Für die Genauigkeit von Lagarde vgl. Kap. 8, 9; 25, 30; 41, 1. 





Genesis Graece und Hieronymi Quaestiones Hebraicae. 725 


der römiſchen Ausgabe“) keineswegs fehlen. In den geringeren 
Abweihjungen vom römifden Drud, die den Gebrauch der Ini⸗ 
tiafen, die Interpunction und Aehnliches betreffen, hat ſich Lagarde 
ähnlich wie Tifhendorf (vgl. Prol. p. 28—34) der jegt üblichen 
Art und Weife angeſchloſſen, fehreibt auch nicht mit Tiſchendorf 
“Aoedu, fondern ’ABordu; Verſehen in den Accenten (vgl. bie 
Drudfehler in Gen. 23, 1. 2) finden fi nur felten. Was 
die von Tifehendorf (Prol. p. 35. 51) wol zu ftarf betonte Ber- 
meidung wichtigerer Fehler der römiſchen Ausgabe betrifft, fo ver- 
miffen wir bei Lagarde das Richtige nicht (vgl. 3.8. Kap. 19, 5, 
wo ber Apparat den Drudfehler kennzeichnet, wie er 21, 2. 21 
umd 36, 37 die ſchon mit der. Feder gemachte Correctur erkennen 
Täßt), wenngleich ſich Hier über einzelne, für den Sinn gleichgültige 
Fälle ftreiten läßt. So drudt Tifhendorf Gen. 23, 8 "Eygwr, 
weil unmittelbar darauf in V. 10 (den Druckfehler V. 20 hat 
noch die dritte Auflage der Prolegomena) biefelbe dem Hebräifchen 
entfprechende Form ’Zyowv ſich zweimal findet; Lagarde aber hat, 
wie mir fcheint, weniger paffend in B. 8 "Eygmu beibehalten. 
Dagegen billige ich es, daß Lagarde Kap. 20, 14. 16 das von 
mehreren Handſchriften gefchügte didgayue in den Text geſetzt 
und durch den Apparat die befiere Beglaubigung von dldgaxue 
nachgewiefen Hat; mit nod größerem Zug und Recht ift 50, 23 
Maystg beibehalten, da mir bier Tifchendorfs Aenderung lediglich 
als Berfchlimmbefferung erfceint. Es Handelt ſich ja nur um Ab» 
druck der Textgeftalt, welche die Herausgeber des ſirtiniſchen Textes 
geben wollten und, wenige offenbare Irrtümer abgerechnet, auch 
wirklich gegeben haben, nicht aber?) um Veranſtaltung einer neuen 


&) Sogar Eorrecturen in diefen Anmerkungen verzeichnet Lagarde forgfältig, 
f. 3. Gen. 3, 15. Belanntlid; fehlen diefe Anmerkungen in den gewöhn- 
lichen Ausgaben der LXX und fo auch bei Tiſchendorf; über die Frag- 
mente, welche Petrus Morinus ſammelte, vgl. aud Rofenmüllers 
Handbuch für die Lit. ꝛc. II, S. 296 ff. 459. 

b) So halte ich mit Tiſchendorf (Prol. p. 46) Gen. 19, 38. 85 avriv für 
die urſprüngliche Lesart der LXX, finde e8 aber nur in der Orbnung, 
daß er gleich Yagarde im Terie aurdv gebrudt Hat. Der Tert fol ja 


726 de Lagarbe 


Terxtrecenſion, die vielmehr erft fpäter anf Grund des vervoll⸗ 
ftändigten und kritiſch geſicherten Apparates ſich erheben fol. 
Nachdem wir gefehen haben, daß Lagarde in unferer Ausgabe 
den figtinifgen Tert mit der ihm eigenen Sorgfalt treu mittheikt, 
wenden wir uns nun zu der Hauptſache, bem unter dem Terxte 
ftehenben kritifchen Apparat sder Eommentar, der trog ber Hleineren 
Rettern des ſaubern Drudes deu Tert en Umfang überragt. Damit 
man ſich bei ber Reichhaltigkeit des Apparates, welcher in kuapper, 
aber Harer Faſſung außer zahlloſen tritiihen Bemerkungen zumeilen 
erwünfchte exegetiſche Winke enthält, bequem zurechtfinden könne, 
ſchließt fich der Apparat zwedmägig an bie einzelnen, auf jeder 
Seite neu bejifferten Zeilen des Tertes an, welchen natürlich die 
Angabe der Verfe und Kapitel nicht fehlt. Es verdient bekanntlich, 
hohe Anerkennung *), daß Tiſchendorf, als er im Jahre 1850 die erfte 
Auflege feiner Stereotppausgabe der LXX ‚veröffentlichte, die wicht 
hinreichend erforfchten Citate bei alten Schriftftellern, fowie die 
alten Weberfegungen bei Seite ließ und fi auf bie Benugung der 
äußerft wenigen fehr alten Handſchriften beſchränkte, für deren 
forgfältige Vergleichung er einftehen konnte. So empfingen mir 
einen zwar ſehr dürftigen, dafür aber auch um fo zuverläßigeren 
Apparat. Seitdem find nun, und zwar namentlich durch die Be: 
mühungen von Tiſchendorf felbft, viele weitere Handſchriften zu- 
gänglic geworben, ohne daß der Titel feiner Stereotypausgabe einem 
Zufag zu den Worten „omnem lectionis varietatem codicum 
vetustissimorum Alezandrini, Ephraemi Syri, Friderico- 
Augustani“ erfahren hätte. Es ziemt ſich nicht, dem unermüd⸗ 
lichen Gelehrten darum zu tadeln, weil er ſich in den Prolegomenen 
anf Furze, aber dankenowerthe Mittheilungen Hinfichtlich der neu 


oben ber firtiniide fein. Freilich leſen wie anf dem Titel von Tifdien- 
borfs Ausgabe: „Textum Vaticanım Romanum emendatius edidit“, 
während Lagarde ſchlicht „e fide editionis Sigtinne‘ ſchreiht. Wo La 
garbe von der römiſchen Ansgebe abweicht (3. B. Rap. 7, 28), gibt er 
- im Apparat bieg immer gend au. 
®) Bol. das zu forte Bob in Ludwig Diefte?a Gedichte des Atem Tefa- 
ments in ber Aeiffichen Bixche (Fene 1860), S. 5RP, 





Genesis Grace und Hieronymi Quaestiones Hebraicae. 727 


erlangten Hulfsmitiel beſchrunkt Sat; ich rede nur von der That ⸗ 
ſache, daß eine Weihe wichtiger Haudſchriften trotz ihrer neuerbinge 
gewonnenen Zuganglichkeit noch nicht für ben kritiſchen Apparat 
dom Tifchendorf ausgebeutet worden iſt. Diefe Lucke ift mm 
gtoßentheils ducch Lagarde für die @enefis in willlommenſter Weiſe 
ausgefüllt werben. Wührend unter den drei von Tiſchendorf ber 
ungten Handſchriften nur eine für bie Geneſis in Betracht tommt, 
weil dies Buch in den beiden andern fehlt, hat Lagarde nicht mur 
bie wichtigſten Handſchriften, welche bereits für die Ausgabe von 
Holmes in zum Theil fehr ungenügender Weife zu Rathe gezogen 
waren, mit philologijcher Genauigkeit ausgebeutet, fondern auch 
einige fehr wertvolle Codices kritiſch verglichen, die beim Er» 
ſcheinen ber großen Orforder Ausgabe noch nicht aufgefunden 
waren; zugleich aber hat Lagarde die Fürberung des Verſuchs zu 
einee Durdführung des Unterfchiedes zwiſchen hexaplariſchem und 
oeiwößnlichem Texte der LXX durch zahlreiche Mittheilungen aus 
Haudſchriften und biefen gleichgeftellten Drucken beftändig im Auge 
behalten. 

Bon den Uncialhandjchriften bes griechiſchen Alten Teſta⸗ 
ments, welche Ragarde in feiner zweiten Vorrede (p. 10—15) als 
überhaupt noch worhanden aufgezählt hat, umfaßt feine einzige bie 
ganze Genefis, während neun®) mehr oder weniger große Frag- 
mente bderfelben geben. Nur ſechs von diefen neun find burd die 
Ausgaben vom Baber, Tiſchendorf und Ceriaui allgemeiner zu- 
gänglich unb konnten daher wen Lagarde benutzt werben. Bählen 
wir zunädft die drei bon Lagarde notkgebrungen übergangenen 
Codices auf, deren Tert ihm nicht in beglaubigter Beftalt vor⸗ 
Ing, fo bezeichnet Holmes fie durch II, VI und X, Lagarde durch 
B, L, M. Der erfte ift der berühmte römiſche Coder, der in 
der Vaticaniſchen Bibliothek die Zahl 1209 empfing, von bem bie 


a) Acht zählt Tiſchendorf in Monum. 8. ined. Nova Coll. Vol. I, p. KEXVII, 
und die fülaf Verſe deo Sinaitieus, die 1857 auf ber oberen Hälfte won 
Seite 3A1 diefen qweiten Cagarde p. 5 hat ierig „erfien“) Bandes tr 
fögtenen, Tamen freilich faum in Vetradt. 


728 be Lagarde 


Herausgeber des figtinifden Textes trotz ihres Verſprechens fo 
häufig abgewichen find. Begreiflicher Weiſe mochte fich Lagarde 
mit ber Mäglichen fogenannten Ausgabe des Vaticanus“) von 
Angelo Mai (geftorben 1854), melde Gar. Vercellone gegen 
Ende 1857 veröffentlichte, überhaupt nicht befaffen (vgl. Bunfens 
Bibelwert I, p. CCCLXXXI sqq.); er hat zwar bei der erften 
Stelle, wo der firtinifche Text abweicht, nämlich zu zelon 
Rap. 46, 29, die Bemerkung gemacht, daß Cod. B anders leſe, 
übrigens aber die von Tiſchendorf (Prol. Aufl. 3, p. 93 sq.) für 
die Genefis gegebenen Barianten von feinem Apparate ausge: 
ſchlofſen. Der Anfang des Alten Teftaments bis Gen. 46, 27 
fehlt bekanntlich Längft in der Vaticaniſchen Handſchrift; Lagarde 
verweift uns zu Gen. 3, 15 auf feine „Gefammelten Abhandlungen 
(Leipzig 1866)“, wo er ©. 113ff. Proben aus einer dem Fran- 
ciscus Lucas von Brügge bekannten Collation zweier Baticanifcher 
Handſchriften mittheift, die auf Befehl des Cardinals Granvella 
auf den Rand einer Straßburger Ausgabe der LXX geſchrieben 
war. ber der zu Gen. 3, 15 von Fr. Lucas angeführte Vati- 
canus wird um fo weniger mit unferer berühmten Handſchrift, in 
der aud Pf. 105, 27 bis 137, 6 fehlen, identiſch fein Können, 
als Lucas feinen Cod. Vat. für Pf. 126, 2 ebenfogut wie für 
Gen. 3, 15 Zeuguis ablegen läßt. Der zweite von Lagarde 
übergangene Coder?), den er mit L, Holmes mit VI bezeichuet, 
befindet fi zu Wien und gehört nad Holmes und Tifchendorf 
(Prol. p. 57; Aufl. 3, p. 56) etwa dem 6. Jahrhundert an; 
von ben 26 erhaltenen Blättern geben die 24 erften bedeutende | 
Stüde der Genesis in Silberfgrift auf Purpur. Noch mehr Stoff | 


a) Zifhendorf hat 1867 (Appendix codicum celeberrimorum Sinaitic, 
Vaticani, Alexandrini) von B eine Doppelcolumne aus dem Alten 
Teſtament herausgegeben; Leider gehört ein forgfältiger Abdruck des Vati- 
canus, was das Alte Teftament betrifft, mod immer zu dem frommen 
Wunſchen. 

b) Ueber ben von Holmes beſorgten Abdruck der von Prof. Alter ver 
fertigten Abſchrift gl. Rofenmülfers Handbuch für bie Literatur ıc, 
8. U, ©. 3207. 





Genesis Graece und Hieronymi Quaestiones Hebraicae. 729 


als der Vindobonensis purpureus würde ber zu Paris befind» 
liche dritte unbenutzte Coder, in welchem von der @enefis nur 
Kap. 34,2 bis 38, 24 (vgl. Lagarde p. 12) fehlen, geboten 
haben, früher ein Eigentum des Henri Charles Du-Cambout de 
Coislin; Montfaucon und Tiſchendorf fegen dieſen herapfarifchen 
Coislinianus (bei Lagarde M, bei Holmes X) in's ſechste Jahr- 
hundert, Wetftein und Holmes in's fiebente. 

Kommen wir jegt zu den ſechs don Lagarde für die 
Genefis ausgebeuteten Uncialhandſchriften, fo nimmt 
die erfte Stelle ber berühmte, wol in Egypten gefchriebene Codex 
Alezandrinus (bei Sagarde A, bei Holmes III) ein, im britischen - 
Muſeum zu London befindlih, ben Lagarde Übereinftimmend mit 
Tiſchendorf in’s fünfte Jahrhundert fegt. Diefer Handſchrift, die, 
abgefehen von größeren Lüden im erften Königsbuche und im Pfalter, 
ſich über das ganze Alte Teftament erftredt, fehlen in der Genefis 
(Rapp. 1. 2. 14—16) nur wenige Verſe oder Verstheile, welche 
Lagarde p. 3. 4 befpriht, indem er für einzelne unleſerlich ges 
wordene Stellen auf die zu London 18161828 (Bleek und 
Zifehendorf geben dafür 1812—1826) erfchienene loſtbare Aus- 
gabe von Heinrich Harvey Baber verweift (vgl. Tschdf. Prol. 
p. 68 5qq.).; Während Crebner (Beiträge zur Einleitung in 
die biblischen Schriften. Zweiter Band. Halle 1838, ©. 16) noch 
„aus der Prüfung der Varianten des Codex Alexandrinus, welche 
fih unter dem Tegte der Londoner Polyglotte und bei Lambert Bos 
finden, mit Zuziefung der Ausgaben von Grabe und Breie 
tinger die echten Lesarten dieſer Handfchrift herausſuchen“ mußte 
und es mit Recht unbegreiflih und unverzeihlich fand, daß Holmes 
und Barfons, ftatt den in ihrer Nähe aufbewahrten Coder ſelber 
zu vergleichen, ſich Tediglih auf die mangelhafte Ausgabe von 
Grabe beſchrunkten, deffen Kritik fie vielfach nicht einmal richtig 
verftanden, find wir jegt fo glücklich, durch Babers Ausgabe, 
welche Tifchendorf und Lagarde unabhängig von einander ausge 
beutet haben, ein wefentlich treues Bild von ber Textgeſtalt der 
wichtigen Handfchrift zu befigen. Baber Hat im vierten Bande, 
welchen Lagarde famt der Ausgabe von Grabe fortwährend bes 
rücfichtigt, nicht alle Fehler, die fich in fein Werk eingefchlichen 


70 be Logerbe 


Saben, werbefiert, fo daß man im einzefnen Hüllen“) Über die wirl 
liche Lesaxt des Codex Alexandrinus ungewiß Weibt. Ich finde 
nicht, daß Lagarde die Ausgabe vom Field beuutzt hat; obgleich ich 
aber Babers Wert, defien Aulauf für die Bonner Lnivertäte 
bibliothek jetzt beſchloſſen ift, noch nicht einfehen kann, will es mir 
feinen, daß Lagarde d) reichhaltigere und genauere Mittheilungen iiber 
Baber macht, als Tiſchendorf und gegeben bat. Bei Lagarde ieſen wir 
3. B. zu Gen. 46, 5, wo Tiſchendorf ſchweigt, „oexoo A. Ba- 
berus in uolumine IV tacet‘‘; Gen. 40, 20 gibt Lagarde als 
Lesart von A erross, Vſchendorf (Prol. p. 73) erw; zu 
Rap. 47, 4 bemerkt Tiſchendorj (Prol. p. 69), e in yag ki 
bei Baber mit der Feder ergänzt, während Lagarde ſchreibt: „rue 
Baberus uolum IV,«, scribit, id est y e euanuisse refert; 
sed uolum. I,« est, addito g (calamo ut uidetur) saper 
uersum“. Nur felten unterläßt Lagarde die Anfügsung von offen- 
baren Schreibfehler, z. B. Rap. 10, 9 zıyas ftatt Zuyes 
(Tschäf. Prol. p. 73), oder von eigentumlichen Schzeibweifen wie 
Rap. 29, 4 dx zagav; gewöhnlich‘) gibt Lagarde nicht nur die 
geringften Abtweichungen des Codex Alexandrinus vom figtinfjgen 
Texte an, ſondern beftätigt and in wichtigeren Fallen (4 B. in 
Gen. 22, 2 für sp und av) feine Uebereinftimmung mis dem⸗ 
felben ausbrüdtic®). 

a) Hier leiſtet bie Ausgabe von Friebrich Field (Vetus Testamentum etc. Recen- 
sionem Grabianam ad fidem codicis Alexandrini aliorumque denuo 
recognovit ete. Oxford 1859) gute Dienfte. So bezewgt Field, dafs Baber 
Gen. 49, 21 gegen Grabe Net bat, Gen. 46, 10. 16 aber Unzet 
(Tschdf. Prol., ed. 3, p. 69 %q.). 

b) Als Stellen, in denen Lagarde Tiſchendorfs Ausgabe verbeffert, nenne ic 
beiſpieloweiſe Kap. 28, 11; 29, 81; 31, 48; 35, 2; 38, 1; 40, 5; 
42, 86. 88; 48, 18; 45, 19; 50, 8. 

©) Die Lesart ıder gibt Lagarde in allen von Tifhenderft (Prol. p. 78 nu. 1) 
nochgetragenen Stellen, 3. 8. Gen. 30, 9, auch Kap. 1, 4, wo Lagarke 
bewertt: in A praemissum e paruulum a correetore recenti. 

A) ALS Probe der Sorgfalt von Lagarde finde hier noch feine Bemerkung zu 
Kap. 1,26 Aufnahme: „za rww nrereivor rov A in rasura uiginti duarum 
Vt erarum capaci: eo tamen loeo, quo nune syllaba va» lagitu, 
corium intackum uidetur ouper uocis ovgusee im ramıra A, port 
quam decem literae radendo deletae: vesprims mann in corio intasto“, 





Genesis Graece und Hierenymi Quaestiones Hebraicae. 781 


Wahrend ih fo die von Lagarbe gegebene Anabentung bes 
Codex Alexandrinus der von Tiſchendorf dargebotenen vorziehen 
muß, fehlt im Apparat der Ausgabe von Tiſchendorf, worin bes 
fanntfih Codex Alexandrinus die Hauptſache bildet, die Ver⸗ 
gleihung der fünf übrigen von Lagarde beuugten Uncialhandfegriften 
für die Genefis gänzlich. Darunter ragt durch Berühmtheit hervor 
die von Tiſchendorf umd Lagarde dem 5. Jahrhundert zugewiefene, 
ſchon mit Initialen verfehene Genefishandfchrift, weiche, früher 
Robert Cotton und jet bem britifchen Muſeum angehörig (bei Lagarde 
D, bei Holmes I), leider nur noch*) in einer Menge Heiner Fragmente 
erhalten ift. Bor dem Brande der Cottön’fcen Bibliothek (1731; 
Holmes falſch 1723) ward ber Codex mehrfach verglichen, namentlich) 
von Ufher, deffen Eollation Holmes zuweilen zu Rathe zog, von Grabe 
und dem Schleswiger Geiftlichen Magnus Erufius. Die werthvollfte 
Vergleichung ift die von Grabe, welche Heinrich Omen 1778 
herausgab. Der Vorfteher der Cotton'ſchen Bibliothek, Richard 
James (Lagarde p. 4 irrig Jones), bemerkte auf dem exften 
Vlatte der Handſchrift, fie fei zur Zeit Heinrichs VII. von Philippi 
nach England gekommen. Tiſchendorf hat 1857 im zweiten Bande 
ber Nova Collectio feiner Monumenta sacra inedita (p. 95-—176) 
die koftbaren Bruchftüde edirt uud zugleich p. XVI-XXXVI 
die nöthigen Mittheilungen ex Owenii collatione Grabiana ge- 
geben. Daſelbſt findet ich p. XIII die Weberficht®) der von 
Codex D erhaltenen Fragmente, welche Lagarde p. 4 sg. wieder- 
holt, ohne die Kapitelzahlen überſichtlich Hervortreten zu Laffen. 
Die Bruchſtücke der Cotton'ſchen Handfchrift ſamt der Coflation 
von Grabe Hat Lagarde auf das genaueftee) für feinen Apparat 


a) Irrig hielt 1798 €. F. 8. Kofermüller Gandbuch für die teratur ber 
bibliſchen Kritik und Eregeſe, Bd. IL, &. 437) den Codex Cottonianus 
für ganz verloren; vgl. Eichho ru s Repertorium XIV, &. 30 (Leipzig 
1784). 

b) Ungenau gibt Viſchendorf 83, 18, vagarde 33, 10, während nach p. 138 
vielmehr 83,8 das Richtige ift; ferner iſt für 41, 57 bei Lagarde 41, 56 
zu Iefen. 

©) So bemerkt er zu Rap. 7, 9: „euonA9oe» D teste Holmesio, euayAder 
D [teste’ Grabiof“. Bel. Pagarde zu Rap. 8, 8; 11, 4. 16; 17, 8; 


782 be Lagarbe 


ansgebeutet und auch fehr häufig (z. B. Kap. 2, 24; 5, 3.78.19; 
6, 14) das Zufammenftimmen von D mit dem firtinifchen Terte 
ausdrüdtich bezeugt. Wol noch wichtiger als der Cottonianus ift 
die von Lagarde mit E bezeichnete, auf der- Bodleyanifchen Biblio- 
thel zu Oxford befindliche Handſchrift, die Tiſchendorf 1853 im 
Oriente auffand und ebenfalls im zweiten Bande feiner Nov. Coll. 
(p. 179—308) edirte. Der Codex Bodleianus, von Tiſchen- 
dorf und Lagarde dem Ende des 8. Jahrhunderts zugewieſen, ent: 
Hält Gen. 1, 1 bis 14, 6; 18, 24 bis 20, 14 und 24, 54 bis 
42, 18, fteht aljo, was den Umfang ber Genefisfragmente an- 
langt, nur dem Alexandrinus Londinensis und Coislinianus Pa- 
risiensis nad), während er in diefer Hinficht, wie Tifchendorf mit 
Recht hervorhebt, alle übrigen Uncialhandſchriften übertrifft. Für 
feine Ausbeutung des bei Holmes natürlich fehlenden Codex E 
war Lagarde ausſchließlich) auf Tiſchendorf (vgl. Prol. p. 61) 
angewiefen, während der von Ragarde mit F bezeichnete Codex 
Ambrosianus saeculi quinti, deſſen Genefisfragmente (Kap. 
31, 15—37; 42, 14—21; 42, 28 bis 46, 6; 47, 16 bis 48, 3; 
48, 21 bis 50, 14) Anton Maria Ceriani im dritten Bande der 
Mailänder Monumenta sacra et profana 1864 herausgabd), ſich 
unter der Zahl VII ſchon bei Holmes und Parſons bemugt findet. 


18,22; 21,32; 24, 37; 80, 17; 81,38. Uebrigens darf ich nicht ver- 
ſchweigen, dafs Holmes über feinen Codex I, foweit meine Wahrnehmung 
reicht, verhäftnismäßig recht genaue Mittheilungen macht. 

a) Mehrfach ſpricht Legarde Bedenten aus über die Richtigkeit des von 
Viſchendorf dargebotenen Textes, vgl. Kap. 5,3; 12,2, beſonders 41,53, 
100 Tifhendorf susunsnae, eyevovzo hat. Fiir Codex G vgl. Kap. 35, 16. 

b) Außerdem enthält F die meiften Stüde des übrigen Pentateuchs, darunter 
Numeri ganz, und das Meifte von ber erften Hälfte des Joſua (Bagare 
p. 10). Das zweite Heft des dritten Bandes (Mailand 1868) rriht 
erſt bis zum Ende der Peviticnsfragmente. Ceriani gibt laut Titel: 
quae ex prima scriptura supersunt in codice. Bemertenewerch f 
das Urtheil des gelehrten Abate auf p. 9 der Vorrede: Collatio codieis 
nostri in Holmes pessime curata fuit non modo pro posterioribus 
curis, sed etiam pro textu primigenio. @benbafelöft lehrt Ceriani, daß 
bie noch von Tiſchendorf (Prol. p. 57, Aufl. 3, p. 56) enähnten 
beiben Prophetenblätter einem andern codex XI fere seculi angehören. 





Genesis Graece unb Hieronymi Quaestiones Hebraicae. 733 


Der vom Cardinal Friedrich Borromeo für die von ihm in Mai« 
fand gegründete Ambrofianifche Bibfiothek zu Korfu gekaufte Codex 
ift von Lagarde meit genauer (vgl. 3. B. Kap. 49, 29. 31) ale 
von Holmes ausgebeutet worden. Dasfelbe gilt von der berühmten 
hexaplariſchen Handſchrift, welche nach dem Pariſer Parlaments- 
rath Claude Sarrave den Namen Codex Sarravianus (bei 
Lagarde G, bei Holmes IV u. V) führt und bedeutende Fragmente 
des Oftateuch enthält, von der Genefis freilich nur 31, 54 bis 
36, 18. Weil Tifchendorf die verfprengten Stüde von G, den 
er fpäteftens zu Anfang des 5. Jahrhunderts gefchrieben glaubt, 
nicht ſchon 1860 ſamtlich ediren konnte, fehlen noch die 22 zu 
Paris befindlichen Blätter“); der größere Neft erſchlen im dritten 
Bande der Nova Collectio (S.3—262, und das nad) Petersburg 
verfprengte Blatt mit Richt. 9, 48 bis 10, 6 auf ©. 299. 300) 
unter dem Titel: Fragmenta Origenianae octateuchi editionis 
ex codice Leidensi folioque Petropolitano. Indem Lagarde 
(p. 11) bie in G enthaltenen Stüde aufzählt, tadelt er einen von 
Tifchendorf in der Zufammenftellung auf p. XIX begangenen 
Irrtum (in G fehlt nämlich Num. 18, 3—29), ohne den zweiten 
Fehler (Richt. 19, 15 irrig ftatt 19, 25) zu bemerken; anderwärts 
hat Tifchendorf (Prol., Aufl. 3 p. 57) beide Irrtümer vermieden, 
dafur aber in Aufzählung der Fragmente aus dem Deuteronomium 
"wieder einen neuen Fehler gemacht. Solche Heine Irrtümer bei 
fonft fo überaus forgfäftigen Männern, deren große Verdienfte zu 
ſchmälern mir fern fiegt, erinnern an bie humanarum uirium 
infirmitas (agarde p. 21); und ich ermähne diefe Nachläßigfeiten, 
teil ich überzeugt bin, daB man von ben Profegomenen, melde 


8) Brüber der Colbertſchen WBibliothet angehörig, erſcheint die6 von Codex G 
abgeriffene Stuck bei Holmes als Codex Colbertinus unter der Ziffer V; 
Tiſchendorf wollte die fieben Blätter aus Exod., dreizehn aus Lev. und 
zwei aus Num. im fünften Bande feiner Nova Collectio geben, der aber 
1865 den vom vuffifchen Geiſtlichen Porphyrius Ufpensfi im Orieute er- 
worbenen Coder ber paulinifden und katholiſchen Briefe bringen mußte, 
Für Herbft 1869 Hat Tiſchendorf als vierten Band der Nova Collectio 
das Psalterium Turicense purpureum VIL saec., addito libro Da- 
nielis ex Cod. Marchal., verfprodjen. 


Theol. Stud. Jahrg. 1869, « 


a 
734 de Lagarde 


Lagarde in Lörperfich Teidendem Zuftande binnen Turzer Zeit ab» 
faffen mußte, nur mit Unrecht einen ungünftigen Schluß auf den 
mit äußerfter Sorgfalt gearbeiteten“) kritiſchen Apparat machen 
würde. Als Beifpiel der Genauigkeit, womit Lagarde den Codex G 
auögebeutet hat, erwähne id Gen. 35, 14. 16. Bon ber legten 
uncialhandſchrift, die Lagarde für die Genefis benugt Hat, dem 
berühmten Sinaiticus (bei agarde S) kommen nur die fünf 
Berje Kap. 24, 9. 10. 4143, welde Tiſchendorf 1857 heraus- 
gab, in Betracht; feitbem hat Tifchendorf (vgl. den Bericht in 
Zarncke's Liter. Centralblatt 1867, Nr. 27) aus alten Einbänden 
im Sinaiflofter weitere Fragmente des Pentateuch gewonnen und 
1867 in „Appendix codicum celebr. Sinaitici ete.“' Stücde aus 
Gen. 23. 24 und Num. 6-7 herausgegeben. Während Zifchen 
dorf den Codex S unbedenklich in die Mitte des 4. Jahrhunderts 
feßt, ſchreibt Lagarde p. 5: De aetate, quum librum ab homine 
barbaro scriptum esse autumem, nihil certi ausim adfir- 
mare). Da Lagarde beim Schreiben von p. 14 Tifchendorfs 
Prachtausgaben von 1846 und 1862 nicht zur Hand Hatte, ift 
feine Aufzählung des von 8 Erhaltenen, abgefehen von den Apo- 
tryphen, die Lagarde vorfäglich unberädfichtigt läßt, ungenau aus ⸗ 


8) Soweit meine bisherigen Vergleichungen reichen, muß ich fagen, daß dit 
Akribie von Lagarde die vom Tiſchendorf noch übertrifft, geſchweige bie 
Leiſtungen von Holmes, die fid) in ihren beften Stücen nicht mit der 
Arbeit von Lagarde meffen Lönnen. So finden fi von den adjt Fällen, 
in denen Sagarde p. 156 die Ausgabe von Complutum anführt, nur 
fünf bei Holmes; von den drei bei Holmes fehlenden find zwar zwei 
unwichtig, weil fie das » &peixvorızoy und eine Zuftimmuug zum 
Fetinifchen Terte betreffen. Der dritte Fall (Rap. 38, 9), wo die ed. 
Compl. orx arrod Eoras flatt oux aurp Zgras lieft, ift dafür um ſo 
wichtiger, und folder Beifpiele von Unzuverläßigfeit der Oxforder Aus 
gabe ließen fid) viele beibringen. 

b) Bol. ©. $. Fribſche (EZOHP. Duplicem libri textum ad optimos 
eodices [d. 5. den Ausgaben von Ufger, Holmes und Tiſchendorf] emen- 
davit et cum selecta lectionis varietate edidit. Turici 1848, p. 4sq.. 
der über die praestantia codieis fehr günftig urtheilt, aber dem Ur 
Fam Tiſchendorfs über das Alter des Friderico- Augustanus nicht beir 

mmt, 


Genesis Graece und HieronymiQusestiones Hebraicae. 785 


gefallen; namentlich beginnt da8 Fragment aus 1Chron. ſchon 
mit Kap. 9, 27. Uebrigens bemerfe ih, daß das Blatt mit 
gef. 66, 12—24; Jer. 1, 1—7, welches Tiſchendorf nad} einer im 
Driente verfertigten Abſchrift im erften Bande feiner Nova Col- 
lectio p. 213—216 zum Abdrucdk bradte, in die fogenannte 
Petersburger Ausgabe des Codex Sinaiticus aufgenommen worden 
ift, während bekanntlich die nach Friedrich Auguft benannten Stücke 
darin fehlen. 

Ehe ich die fieben“) von Lagarde benugten Minuskeln aufe 
zähle, nenne ich die drei aus ungenannten Handſchriften geſchöpften 
Ausgaben, die Aldina, Romana und Complutensis, deren 
Beiden a, b, c im Apparate von Lagarde auf jeder Seite zu 
finden find. Was die 1518 zu Venedig in der Officin des Aldus 
Manutius erſchienene Ausgabe der griechiſchen Bibel betrifft (vgl. 
Tschdf. Prol., p. 18), fo Hat Lagarde faft alle derfelben 
eigentümlicen Lesarten in der Venediger Handfchrift gefunden, 
melde bei Holmes mit 122 bezeichnet iſt; hinſichtlich der Ges 
nauigkeit, womit a von Ragarde verglichen ift, vgl. zu Kap. 21, 22. 
Ueber die Benutzung der figtinifchen Ausgabe durch Lagarde habe ich 
ſchon geſprochen; das Zeichen b findet ſich nicht nur fehr häufig 
im Apparate, wo die Uebereinftimmung von Handfchriften mit dem 
ſirtiniſchen Texte (3. B. p. 10. 113) oder Abweichung von dem ⸗ 
felben angezeigt wird, fondern auch vor den zahlreichen Noten aus 
dem römiſchen Drude. Diefe,) Anmerkungen, zuweilen von Lagarde 
(vgl. Kap. 6, 16) emendirt und (ogl. Kap. 38, 18) erläutert, 
geben an, wa® LL UU (d. h. libri veteres) oder AL (d. h. wol; 
alius liber; Lagarde p. 9 vermuthet: alia laetio) darbieten; 
ferner theilen fie alte Schplien (4 B. Kap. 22, 13) mit, zeigen 
an, wie Aquila, Symmachus und Theodotion überfegen, was fonftige 
alte Verfionen und die wichtigften Kirchenväter bezeugen 2c., vgl. 


a3 Nur drei derſelben (Bei Holmen 25, 44, 180) Lonnte Lagarbe für bie 
ganze Genefis vollſtändig vergleichen; übrigen® fehlt bei Holmes 44 
für bie erſten Bucher das Pentateudh; fo gut wie gängfich, da die nade 
trägligen Notizen am este des erfien Bandes laum der Rede werth 
find. 
43% 


136 de Lagarbe 


Rop. 3, 8; 4, 4.8.12.26; 6,6; 14,13; 15, 2; 18, 12 2c. c. 
Mit Recht betont Lagarde in feiner zweiten Vorrede p. 23, daf 
die Herausgeber des römiſchen Drudes für bie Kenntnis der 
hexaplariſchen Lesarten die Bahn gebrochen haben, während die 
Verdienfte von Drufius und Montfaucon leicht überfchägt werben. 
Unter dem Zeichen c erfcheint bei Lagarde der wahrfcheinfih 1514 
auf Koften Francisci Simenii de Cisneros gedrudte Penta- 
teuch*), deſſen Gollation ich auch bei Holmes verhältnismäßig 
genau finde. " 
Bedenken wir die geringe Zahl und die Luckenhaftigkeit der erhaltenen 
Uncialhandſchriften, fo tommt uns die Nothwendigkeit der Berglei- 
Hung von Minusteln, welche fein befonnener Kritifer ſchon 
als folhe veradhten wird, um fo deutlicher zum Bewußtſein. Es 
freut mich daher fehr, daß Lagarde für feinen Apparat noch mehrere 
Minnsteln vergleichen fonnte, deren Collation bei Holmes großen 
theils höchſt mangelhaft ift. Zuerft nenne id den Codex Mo- 
nacensis Graecus 9 (bei Lagarde m, bei Holmes 25), der 
über Exodus nicht hinausgeht umd die Genefis mit einer noch nicht 
ansgebeuteten®) catena ingens auf Hundert. Folioblättern enthält. 
Der Mündener Bibliothelar Ignaz Hardt ſetzte die Handſchriſt 
ins 11. Jahrhundert, Kagarde nicht vor das zwölfte. Sowol 
diefer Münchener, als auch der fogleich zu erwähnende Baſeler Coder 
ift mit zahllofen Krigeleien des Tübinger Magifters Martin Erujius 
befudelt, deſſen Hand ald eines putidissimi nebulonis @agarde in 
feinem Apparat oft (3. B. p. 8. 36— 38) erwähnt, ohne in 
feinem gerechten Zorne cine richtige Correctur (vgl. p. 38) des 
putidissimum animal zu verfchweigen. Codex m ift durd bie 
ganze Genefis von Lagarde genau (f. 3. B. Kap. 19, 24) ver⸗ 





a) In meinem Eremplar lautet der Titel genau folgendermaßen: „Vetus 
testamdtu multiplici lingus nüc primo impressum Et imprimis Pen- 
tateuch’ Hebraico: Greco: atqj Chaldaico idiomate. Adiücta 
vnicuig; sua latina Iterpretatioe,“ 

b) Uebrigens macht Sagarde öfter, wie aus ben Randbemerkungen, fo aus dem 
Sommentare von m wertfoolle Mittheilungen, vgl. zu Rap. 19, 2; 
25, 9; 36, 24; 37, 2; 47, 31; 50, 19. 





Genesis Graece und Hieronymi Quaestiones Hebraicae. 737 


glichen; als Beiſpiel einer Zufammenftellung von Lagarde mit 
Holmes: ermähne ih, daß diefer Kap. 20, 2 anoxzevworv gibt, 
Lagarde erroxzer&ouv, und daß Rap. 20, 3. 6 die von Lagarde aus 
m verzeichneten Lesarten vrvıw und evexev bei Holmes fehlen. 
Den eben erwähnten Codex Basileensis B VI 18 (bei Lagarde 
r, bei Holmes 135) konnte Lagarde aus Zeitmangel nur bie 
Kap. 24, 22 vergleichen, behäft ſich aber völlige Ausbeutung ber 
vortrefflihen Handſchrift vor, die mit zahfreichen Randbemerfungen 
und einem reichhaltigen exegetifchen und kritiſchen Commentare aus— 
geftattet ift, aber außer der Geneſis nur noch einen Theil von 
Erodus enthält. Nach Lagarde p. 6 feheint der Coder, tempore 
coneilii basileensis in bibliothecam praedicatorum rauracen- 
sium inlatus, im 13. Jahrhundert gefehrieben zu fein. Nicht 
immer (vgl. 5. B. Lagarde p. 23. 48. 73) ift deutlich angezeigt, 
wohin die Nandnoten gehören; diefelben enthalten (vgl. z. B. 
p. 34—37) wie der Commtentar (vgl. p. 50. 51. 54. 72. 85) 
ſchätzbare Bemerkungen, und namentlich bemeifen die zahlreichen 
(gl. 3. B. Rap. 4,7; 5, 1; 6, 7; 14, 23) Mittheilungen aus 
Aquila, Symmachus und Theodotion, welch ein Schag zur Feſt⸗ 
ftellung des Herapfarifchen Textes aus ſolchen Handſchriften nod) 
zu heben ift“). Als Beiſpiel, wie Lagarde und Holmes den 
Codex r ausbeuten, diene Kap. 12, 4. 5. In derfelben Zeit wie 
r glaubt Lagarde den früher dem Sebaftian Tengnagel zugehörigen 
Wiener Oktateuch (bei Qagarde t, bei Holmes 130) geſchrieben, 
welcher nad) Holmes aus dem Driente ftammt. Im Verzeichniſſe 
der kaiſerlichen griechiſchen theofogifchen Handigriften zu Wien ift 
t die dritte; die vierte (bei Lagarde w, bei Holmes 31) ift, wie 
Lagarde fagt, ein codex chartaceus, Genesin adiuncta catena 
continens, saeculi XV., a me non conlatus, sed inspectus 
tantum. Ueber den mit gewohnter Genauigkeit und Vollſtändigkeit 


a) Bekanntlich tHeilt Holmes in den Anhängen hinter den einzelnen Büchern 
allerfei Scholien und herapfariiche Lesarten aus Handſchriften mit; aber 
in dem Anhange zur Genefis wird Codex r kein einziges Mal erwähnt. 
Bei Montfaucon fehlen z. B. die Meberfegungen des Aquila und Sym- 
machus, die vagarde zu Kap. 5, 1 aus Codex r mittheilt. 


738 de Lagarde 


ansgebeuteten Codex t bemerkt Lagarde p. 73: cum taedeat 
semper referre tꝰ radendo idem habere quod b, semel dixisse 
sufficiat, ubicumque t! positurus sum, tꝰ cum b conuenire. 
Sehr Häufig weicht Lagarde bei t von Holmes ab, 3.8. Kap. 28, 
5. 9. 13. 18. Ferner hat Lagarde zwei Handfhriften ber 
Mareusbibliothet zu Venedig, deren eine bie Ziffer 2 trägt 
(bei Lagarde x, bei Holmes 29), die andere 6 (bei Lagarde y, 
bei Holmes 122), für feinen Apparat benugt. Die Handſchrift y 
ift von Lagarde nicht vollftändig ausgebeutet, fondern nur zum 
Zwede der Vergleihung mit der Aldina eingefehen worden; aber 
die Mittheilungen von Lagarde aus x und y find für die Be 
urtheilung der Oxforder Ausgabe wichtig, mag aud in x nah 
Lagarde der Pentateuh, im 10. Jahrhundert geſchrieben, nur 
von Gen. 43, 15 am (falſch Holmes 48, 13; vgl. Lagarde 
p. 179) erhalten fein. Da aud die mit 3, 4 und 5 bezifferten 
Eodices der Marcusbibllothel (bei Holmes 121, 120 und 68) 
den Pentateuch enthalten, und zwar, wie Holmes meint, textum 
omnino eundem per Pentateuchi libros, quem habent reliqui 
Codices Veneti, fo werden in ber Orforder Ausgabe ſämtliche 
fünf Handfhriften von Venedig nur einem Zeugen gleich gerechnet, 
indem entweder der alte, mit Gen. 43, 15 beginnende Codex 
29 citirt wird, von welchem Holmes fagt: „continet in Penta- 
teucho textum, quantum videtur, eundem cum isto, quem 
habet Editio Aldina“, oder fir den dort fehlenden Anfang des 
Ventateuch die Handfehrift 68, welche Holmes ihrer correcten Schrift 
wegen den übrigen (120—122) vorzieht, zumal da 122 eine Ab- 
ſchrift aus 68 fe. Die Nichtigkeit diefer letzteren Behauptung 
läßt Sagarde zwar bdahingeftellt fein, weil er die fünfte Venediger 
Handfchrift noch nicht Habe prüfen können; aber der Apparat von 
Lagarde (vgl. 3.8. p. 40. 55. 1805q.) beweift, fo viel ich fehe, 
eine zwiefache Ungenauigfeit von Holmes, fofern fehr Häufig x 
und y weder unter ſich zufammenftimmen, noch eine von dieſen 
beiden Handfcpriften die Lesart von a darbietet. Mas Lagarde, 
der von fo naher Verwandtſchaft zwiſchen x und y fein Wort fagt, 
geradezu behauptet, ift einfach dies, daß y faft alle eigentümfichen 
Lesarten von & enthält. Als einen befonderen Beweis dafür, daß 





Genesis Graece und Hieronymi Quaestiones Hebraicae. 139 


x bon Lagarde viel genauer als von Holmes ausgebeutet ift, nenne 
ich 3. B. Gen. 43, 21. 22. 26. Schließlich hat Lagarde eine 
in Zittau befindliche (bei Lagarde z, bei Holmes 44) Hand» 
ſchrift aus dem 15. Jahrhundert forgfältig verglichen, welche bie 
fogenannten geſchichtlichen Bücher der LXX und da8 ganze Neue 
Teftament enthält. Wie immer bei den Minuskeln, fo gibt er 
auch bei z die Accente 2. genau an; am Echluffe von Kap. 2,23 
verzeichnet der Apparat, ba ich ein Beiſpiel anführe, folgende Zu- 
fäge: «ven A, Ev ert, adım m, dvem z. Hier fehlen bei 
Holmes r und z, der indeß angibt, daß die meiften der von ihm 
angeführten Miuusfeln wie Complut. ben spiritus asper haben. 
Für das Richterbuch fand O. F. Fritzſche (Liber Judicum, Turiei 
1867, p. 5) bei Holmes*) die Lesarten von z in Kap. 9 gar 
nicht angegeben; ſchloß aber aus den Mittheilungen der Oxforder 
Ausgabe, daß die Kapitel Richt. 2—18 eine ganz andere Text⸗ 
geftalt als Nicht. 1. 19 ff. darböten. Was die Genefis betrifft, 
fo gibt Lagarde z.B. in Kap. 24, 1—4 zehn Abweichungen des Codex z 
von b an, außerdem dreimal feine Zuftimmung zu b; von all diefen 
Fälfen hat Holmes ‘natürlich feinen, da ihm ber Zittauer Coder 
überhaupt erft befannt wurde, als der Drud der Oxforder Aus» 
gabe bereits bis zum Buche Numeri fortgefchritten war. Zwar gibt 
Holmes am Schluffe des 1798 erfchienenen erften Bandes unter Ad- 
denda nod) einige Varianten aus z zu den erften Büchern des Penta- 
teuchs, aber feinen einzigen der vorhin erwähnten Fälle. Ueberhaupt ift 
die hier von Holmes benutzte Collation dermaßen ungenügend, daß 
Lagarde es wol nicht der Mühe werth gefunden Hat, die Benutzung 
von Z für die Genefis bei Holmes überhaupt zu erwähnen. Es ift 
mir umbefannt, ob die fpätere Colfation von Chr. Friedr. Matthäi 
(vgl. Lagarde p. 8), die vom October 1801 bis Mai 1802 
dauerte, ſich auch noch auf die Genefis erftredte; gewiß ift, daB 


a) Schon 1801 erſchien von der Orforber Ausgabe der Anfang bes zweiten 
Bandes mit Joſ., Richter, Ruth (cf. Jac. Amersfoordt, Dissertatio phi- 
lologica de varüis lectionibus Holmesianis locorum quorumdam 
Pentateuchi, Leyden 1815 p. 45), fo daß alfo Holmes, der 1805 1 
den ganzen Oktateuch bearbeitet hat. 


740 de Lagarbe 


man ſich in der Orforder Ausgabe nad) einer nachträglichen Be- 
nugung derfelben für die erften Bücher des Pentateuchs vergeblich 
umfieht, daß alfo Lagarde durd feine Ausbeutung bes Codex z 
der gefehrten Welt eigentlich zum erftenmale die Tegtgeftalt der 
Geneſis in diefer Handfchrift befannt gemacht hat. 

Die bisherigen Mittheilungen über Lagarde’s Hülfsmittel und 
feine Benugung berfelben werden wol mein Urtheil rechtfertigen, 
daß diefer neuen Ausgabe der Genefis ein Hoher wifjenfchaftlicher 
Werth zufomme, wenngleich der fachkundige und gemwiffenhafte 
Herausgeber fie nur als Vorarbeit zu einer wirklichen 
Ausgabe der LXX betrachtet. Für Lagarde Handelte es ſich 
zunächſt um Beſchaffung eines reichhaltigeren und zuverläßigeren 
tritifhen Apparats, als der bisherige war, und einen ſolchen gibt 
uns feine Genefis-Ausgabe; der Apparat enthält aud) an zerftreuten 
Stellen (vgl. Kap. 2, 13; 4, 22; 10, 22; 14, 10; 31, 29; 
46, 20) Andeutungen, wie ab editore futuro zu fchreiben fein 
werde. Hoffentlich wird Lagarde felber, der ſchon fo gemichtige 
Proben feiner Meifterfchaft gegeben und bereits feit Jahren mit 
feltener Liebe feine reihen Kräfte einer Arbeit gewidmet Hat, zu 
welcher er in fo hohem Grade berufen ift, diefer zufünftige Heraus- 
geber fein fönnen. Bevor ich aber den von Lagarde in der er- 
wähnten zweiten Borrede entwidelten Plan zu einer künftigen Aus- 
‚gabe der LXX dem Lefer mittheile, muß ich noch die auf p. 210. 211 
enthaltene Zugabe erwähnen, welche für die Stichenzahl ber alt» 
teftamentlichen Bücher und namentlich für das Buch Efther von 
Bedeutung ift. Hier gibt nämlich Lagarde zur Ausfüllung des 
Raumes aus einem Pariſer Coder (Colbertinus 659, nunc 
Graecus 5, apud Holmesium 54; vgl. Merr’ Ardiv, ©. 245), 
der nad Holmes um das 14, Jahrhundert gefehrieben ift, eine 
offenbar viel ältere Weberficht der Bücher des Alten Teftaments, 
worin Efther*) fehlt (vgl. Bleek's Einleitung in das Alte Teſta- 


a) Dinfichtich des Purimfeftes, deffen perfticher Urſprung auch mir fon 
feit Jahren wahrfcheinfich iR, wie ihm auch Nöldele (Die altteftamentfiche 
Literatur, Leipzig 1868, ©. 85) annimmt, verweift Lagarde auf fein 
Bert: „Gefammelte Abhandlungen“ (deipz. 1866, S. 161—165), mo 
zum erftenmale. ein Beweis für biefe Bermuthung verfucht wird. 





Genesis Graece und Hieronymi Quaestiones Hebraicae. 741 


ment $ 313). Die Handfhrift bemerkt die Stichenzahl der eins 
jenen Bücher, zu welcher Lagarde jedesmal die Zahl des Nice- 
phorus in edigen Klammern Hinzufügt. 

Indem Lagarde ſich anſchickt, ſeinen Plan für die Ausgabe 
der LXX auseinanderzufegen, gibt er mit Recht zuerft, da es an 
einer Handfchrift fehlt, die als Duelle alfer übrigen alten Abs 
fhriften bei der Ausgabe zu Grunde gelegt werden fünnte, eine 
ziemlich vollftändige Weberficht der Uncialcodices oder der und er⸗ 
haftenen Handfchriften der LXX, die vor dem Jahre 1000 n. Ehr. 
verfertigt find“). Diefe Aufzählung von 29 Codices famt den 
von Lagarde dafür gewählten Zeichen will ih mit einigen Be— 
merkungen mittheilen, nachdem id) die von Lagarde für die Genefis 
derglichenen oder noch nicht benugten Uncialhandfchriften bereits 
oben beſprochen Habe. Das Verzeichnis ift folgendes: 1) A (f. oben), 
bei Holmes Alex. und II, Codex Alexandrinus, umfaßt 
beinahe das ganze Alte Teftament. — 2) B (f. oben), bei Holmes 
I, Codex Vaticanus, enthält faft da® ganze Alte Teftament. — 
3) C, fehlt in der Oxforder Ausgabe, der als Codex Ephraemi 
Syri befannte Barifer Balimpfeft, von Tiſchendorf (Prol. p. 80 sqq.) 
der Mitte des 5. Jahrhunderts zugewiefen, enthält vom Alten 
Zeftament Bruchftücte ans Hiob, den Sprüchen, Prediger, Hohem Lieb, 
Weisheit Salomonis und Jeſus Sirach, welche Tifchendorf 1845 
berausgab und fir feine Ausgabe der LXX benugte. — 4) D 
(j. oben), bei Holmes I, Codex Cottonianus Geneseos. — 
5) E (f. oben), fehlt bei Holmes, Codex Bodleianus Geneseos. — 
6) F (f. oben), bei Holmes VII, Codex Ambrosianus, gibt große 
Bruchſtücke aus Pentateuh und Joſua. — 7) G (f. oben), bei 
Holmes IV u. V, Codex Sarravianus zu Leyden, Paris und 
Petersburg, hexaplariſch, Fragmente aus Pentateuch, Joſ., Richt. — 
8) H, fehlt bei Holmes, ein Petersburger Palimpfeft mit dem 


a) In das 9. m. 10. Jahrhundert ſeten freilich die Orforder auch manche 
ihrer Curfivhandſchriften; fo zählt Amersfoordt (de var. lect. Holmes., 
p. 132) als von Holmes für den Pentateuch benugte und dem genannten 
Zeitalter zugewieſene Minuskeln folgende auf: 20, 127; 14 15, 17,18, 
19, 25, 62, 180, 184. 


742 be Lagarde 


größeren Theile von Numeri, von Tiſchendorf (Prol., p. 615g.) 
dem 6. Jahrhundert zugewiefen umd im erften Bande feiner Nova 
Oollectio (p. 51—138) 1855 herausgegeben. — 9) J, in der 
Orforder Ausgabe 13 oder XIII, Codex Bodleianus; Lagart 
bemerkt weiter dazu: „P J Brunsius*) in Eichhornii reper- 
torio XIII 177. continet psalmos et cantica, quae dicuntur, 
ueteris testamenti“. — 10) K, fehlt bei Holmes, Codex Tischen- 
dorfianus II bibliothecae?) universitatis Lipsiensis, ein Par 
Üimpfeft mit geringen Fragmenten aus Numeri, Deut., Joſ. 
Richter, von Tiſchendorf (Prol. p. 58. 62 sq.) dem 7. Jahr⸗ 
hundert zugewiefen und im erfien Bande der Nova Collectio 
(p. 141—176) herausgegeben. — 11) L (f. oben), bei Holmes VI, 
Codex Vindobonensis mit Stüden, der Genefis. — 12) M (f. oben), 
bei den Ogfordern X, Codex Coislinianus, heraplarifd, enthält 
faft den ganzen Oktateuch (ohne Lücke Exodus, Lev., Deut, 
Richter) und von den Königen Bruchſtücke des erften Buches, das 
ganze zweite und das dritte bis Kap. 8, 40. Vgl. Montfaucon, 
Hexaplorum Origenis quae supersunt I, p. 657 sqq. — 
13) N, bei den Orfordern XI, Codex Basiliano-Vaticanus, d. h 
früher Eigentum der Mönche des Heiligen Bafilius, jegt im Ba 
tican zu Rom, nad Montfaucon und ZTifhendorf im 9. Jahr⸗ 
Hundert gefchrieben, enthält von Lev. 13, 59 an alle geſchichtlichen 
Bücher des Alten Teftaments, einige Lüden abgerechnet. — 14) 0, 
bei Parſons VII, Codex Dublinensis rescriptus, nach Tiſchen- 
dorf (Prol. p. 57, Aufl. 3 p. 56) sexti fere saeculi, enthält 
vom Alten Teftament uur Jeſ. 30, 2 bis 31, 7; 36, 18 bie 
38, 1. — 15) P, bei Parfons IX oder 294, Codex Canta- 
brigiensis, der Bruchftücke des Pfalters enthält und in ber Ueber: 
ſicht von Tifchendorf (Prol. 1. c.) fehlt. — 16) Q, bei Parfons 
XI, Codex Claromontanus, nunc Vaticanus, gibt die 16 Bro 
phetenbücher mit den kritiſchen Zeichen des Drigenes und zahlreichen 
Lesarten aus Aquila, Symmachus und Theodotion. Zum Unter 


8) Bruns ſetzt den Coder in's 10. Jahrhundert und meint, es fei dieſelbe 
Dandſchrift, für welche Ufher die Jahreszahl 951 -angebe. 
b) Cf. Tschäf. Nova Coll. I, p. XXX. 





Genesis Graece und Hieronymi Quaestiones Hebraicae. 748 


ſchiede von der für das Nene Teftament wichtigen Handfehrift aus 
dem Kloſter Clermont bei Beauvais (Bleeks Einfeitung II, $ 270) 
nennt man unfern oder gewöhnlich Marchalianus nad Renat 
Marchal, einem früheren Befiger, oder felten (vgl. Hody, De bibl. 
text. orig. p. 619) Rupefacaldianus nad; dem Cardinal Rode» 
foucauld, der die Handſchrift einem Jeſuitencolleglum zum Ge— 
fente machte. Der von Montfaucon und Tiſchendorf (Prol. p. 57, 
Aufl. 3 p. 56) in's 8. Jahrhundert gefegte hexaplariſche Codex Q 
hat in den Unterſuchungen über Tetrapla und Hexapla eine wide 
tige Rolfe gefpielt und ift vielfach überfhägt worden. Gewöhnlich 
haben die vor den Büchern Jeſaja und Ezechiel befindlichen Nachrichten, 
die Lagarde nach Montfaucon und Stroth mittheilt, ein gutes Vor⸗ 
urtheil für den Marchalianus erwedt; vgl. Möntfaucon, Praelim. 
in Hex. Orig., p. 14 sq. 74; Holmes, Praefatio ad Tom. I. 
cap. I, sectio V und sectio XI, p. 2 med.; Redepenning, 
Drigenes I, ©. 376; II, ©. 177. 477 und Fritzſche in Herzogs R.E. 
16&. 231; nur Friedr. Andreas Stroth im zweiten Stück feines 
Verſuchs eines Verzeichniſſes der Handfchriften der LXX Dol- 
metſcher (Eihhorns Aepertorium VIII, ©. 191) gefteht, daß ihm 
die Note vor Ezechiel etwas verdächtig fei. Mir fcheint, daß La- 
garde (p. 13. 16) aus dem Selbftruhme von Q mit Recht auf 
geringen Grad von Zuverläßigkeit und auf die Nothwendigfeit der 
größten Vorſicht beim Gebrauche diefer Handfchrift gefchloffen Hat. 
— 17) R, fehlt bei Parſons, Codex Veronensis Graeco-Latinus 
psalmorum, nad) Tifchendorf (Prol. p. 58) Latinis literis quinti 
vel sexti saeculi scriptus, 1740 von Blandini edirt. — 18) 8 
(f. oben), fehlt bei den Oxfordern, Codex Sinaiticus, deſſen alt» 
teftamentliche Stüde bekanntlich Tifchendorf unter verſchiedenen. 
Namen an verfchiedenen Orten herausgegeben und zum Theil ſchon 
für feine Ausgabe ber LXX benugt Hat. — 19) T, bei Parſons 
262, Codex Turicensis mit Fragmenten des Pfalters, die im 
vierten Bande von Tifhendorfs Nova Oollectio erſcheinen follen. 
Breitinger nennt in feiner Abhandlung über T (Züri 1748, 
ef. Tschdf. Prol., p. 59) denfelben „antiquissimus liber in 
membrana purpurea titulis aureis ac litteris argenteis exa- 
ratus‘‘; Tiſchendorf (Prol. p.58, Aufl. 3 p. 57) fegte ihn zuerft 


7144 J de Lagarde 


in's 5. oder 6., zuletzt in's 7. Jahrhundert. — 20) U, fehlt bei 
®arfons, Codex Londiniensis, der aus Egypten auf das britiihe 
Mufeum gelangte, von Zifchendorf ſchon 1844 in diefer Zeitichrift | 
beſprochen und dann im erften Bande der Nova Collectio p. 219 
bis 278 herausgegeben. Diefe fragmenta papyracea, quorum 
aetas saeculum quartum superare videtur (Tschdf. Prol, 
p. 58. 60 sq.), enthalten faſt 23 Pfalmen, find aber von einer 
ungelehrten Hand geſchrieben und daher voll von” Fehlern; in Eng 
land follen noch andere Fragmente von U fteden. — 21) V, in 
der Orforder Ausgabe 23, Codex Venetus. Diefe hexaplariſche 
Handſchrift der Marcusbibliothet zu Venedig enthält auf 164 Folio | 
blättern außer fämtlichen Propheten und den falomonifchen Schriften | 
den Schluß des Hiob, die Klagelieder und einige Apokryphen; 

Zifependorf (Prol. p. 25, nt. 1; p. 57 sq., Aufl. 3 p. 56) 

glaubt“) V bei b benugt und ſetzt den Eoder in's 8. oder 9. Jahr⸗ 

hundert. — 22) W, bei Parſons 43, Codex Parisinus, mit 

Bruchſtücken des Pfaltere, nah Tiſchendorf (Prol. p. 58, Aufl. 3 

p. 57) wie der folgende Coder X noni fere saeculi. — 23) X, 

bei Parfons 258, Codex Vaticanus, enthält den größten Theil 

bes Hiob. — 24) Y, fehlt bei Parfons, Codex Taurinensis, 

enthält auf 135 fehr zerriffenen und vielfach unfeferlichen Blättern 

ons dem 9. Jahrhundert das meifte von den 12 Meinen Pros 

pheten. Die Kenntnis dieſer Turiner Handſchrift, welhe wie P | 
bei Tiſchendorf fehlt, verdankt Lagarde dem nützlichen Verzeichniſſe 
von Stroth (a. a. ©. VII, ©. 202 f.), der noch mehrer 
andere Handfhriften als angeblich vor dem Jahre 1000 gefchriehen 
aufführt (3. B. nad) feiner Zählung 53 u. 57), melde Lagarde 
„Übergeht. — Nun folgen bei Lagarde fünf von ihm mit Z be 
zeichnete Handſchriftenreſte fehr geringen Umfangs, die ſämtlich bei 
den Orfordern fehlen und von Tiſchendorf in feiner Nova Col- 
lectio herausgegeben find. 25) Z*, Codex Petropolitanus re- 
seriptus, enthält Bruchſtücke aus dem zweiten und dritten Bude 
der Künigsherrichaften, gedrudt a. a. ©. I, p. 179—184. Di 
Palimpfefte Z* und Z+ Hat Tiſchendorf, der fie etwa in's 7. Jahr⸗ 





a) Ebenfo Stroth in Eichhorns Repertorinm VIIL, p. 182, 


Genesis Graece und Hieronymi Quaestiones Hebraicae. 745 


hundert (vgl. Prol. p. 58. 63) fegt, im Oriente gefunden. — 
26) Z®, Codex Petropolitanus rescriptus, mit Brucjftüden aus 
Jeſaja, von Tifchendorf edirt I, p. 187—198. — 27) Z°, Codex 
Londiniensis, 1 Bfatt mit Ezechiel 4, 16 bie 5, 1.2—4 (irrig 
Lagarde 1, 16 bis 5, 4), gedrudt a. a. ©. U, p. 313. 314. 
Die beiden Palimpfeftfragmente, welche zu den aus dem nitrifchen 
Mofter ftammenden ſyriſchen Handfhriften des britifhen Mufeums 
gehören, bezeichnet Zifchendorf (Prol. p. 58, Aufl. 3) in feiner 
Aufzählung der von Holmes noch nicht benugten alten Codices als 
duodecimus; des verfdjiedenen Alters wegen wählt Lagarde beffer 
die Zeihen Z° und ZU, denn Z° gehört nach Tiſchendorf etwa 
in's 7. Zahrhundert, ZA in das fünfte. — 28) Z4, Codex 
Londiniensis, mit 3 Kön. 8, 58 bis 9, 1, gedrudt a. a. ©. IL, 
p. 315. 316. — 29) Z°, herapfarifche Bruchſtücke aus den letzten 
vſalmen, 1853 von Tiſchendorf, der fie (cf. Prol., p. 63 sq.) 
dem 5. oder 4. Jahrhundert zuweift und a. a. O. II, p. 319. 320 
beransgegeben Hat, im Driente als Dede eines Einbandes ger 
funden. Ob diefe fragmenta Tischendorfiana jdon an eine 
öffentliche Bibliothek verkauft worden find, ift mir unbekannt. 

Zu dieſen 29 Handfgriften würden nun nad Yagarde noch 
einige im Privatbefige befindliche, die in Petersburg, Patmos, 
Jeruſalem ſtecken“), Hinzufommen, auch Parsonsii 27, wonad) 
Lagarde in Tübingen und Stuttgart vergeblich ſuchen fieß. Werner 
berichtete Vercellone 1866 (vgl. Bonner Theol. Literaturblatt 
1866, Sp. 598 f.) über einen von Joſeph Cozza in einem 
Mofter des Kirchenſtaates aufgefundenen griechiſchen Palimpſeſt, 
der große Stüde vom heraplariichen Texte der LXX, befonders 
aus den Propheten, enthalten und aus dem 7. Jahrhundert ftammen 
fol; und ſchon 1867 erſchien: Sacrorum bibliorum vetustissima 
fragmenta Graeca et Latina ex palimpsestis codd. biblio- 
thecae Cryptoferratensis eruta atque edita a Jos. Cozza. 
P. I. Romae. J. Spithoever. 8%. So mag leicht ſchon die 


a) Bgl. die von Tifdjendorf (Prol. p. 58, Aufl. 3) aufgedählten 4 Codices 
aus dem 9. oder 8. Jahrhundert, bie auf feirten oben erwälinen © duo-. 
deeimus folgen. 


746 de Lagarde 


nächte Zutunft noch die eine oder andere alte Hanbfhrift, die in 
der bisher gegebenen Weberficht fehlt, ans dem Dunkel Bervor- 
dehen. 

Geſetzt aber auch, daß uns alle zugänglichen alten Hand— 
ſchriften der griedifchen Bibel Alten Teftaments in Fritifchen 
Ausgaben oder zuverläßigen Bergleihungen vorlägen, fo würde 
auch diefe Erreichung des jet nächſten Zieles, von dem wir noch 
ſehr weit entfernt find, bei weitem nod nicht zur Herftellung 
des Tertes der LXX genügen. Nah Ausſcheidung der 
hexaplariſchen Handſchriften, als welche Lagarde (p. 19) GMQVZ° 
bezeichnet, bleiben von den zahlreichen oben genannten alten Hand- 
ſchriften, eben weil fie meiftens fo Lüdenhaft und gering an Um- 
fang find, für mande Bücher oder Stücke des Alten Teftaments 
nur fehr wenige diefer alten Zeugen übrig, Mit Recht fagt La 
garde p. 16: At quis est tam ineptus, ut ecclesiae graeco 
sermone utentis in tot prouinciis per decem fere saecula 
codicibus ueteris testamenti omnibus cum his tribus qua 
tuorue libris putet conuenisse? praesertim quum horum 
ipsorum discidium non nimis paruum esse compraehendatur. 
uersio autem septuaginta uirorum non ecclesiae opus est, 
sed ante ecclesiam conditam facta, ut ex omnium codicum 
ecclesiasticorum dissensu sensim ad consensum et ex hoc 
consensu demum ad primigeniam, quam apud Judaeos graece 
loquentes optinuit formam illa interpretatio, adscendendum 
sit. Dazu fommt, dag wir oft feine Gewißheit darliber haben, 
ob nicht das Zeugnis mehrerer Uncialhandſchriften zu einem einzigen 
zufammenfhrumpft. Nicht nur unfere Ummiffenheit, was den Urs 
fprung oder wenigftend den Bundort fo vieler Codice® betrifft, 
haben wir zu beflagen, fondern Lagarde erinnert auch an die wahr 
ſcheinlich fehr große Verbreitung, welche durch kaiſerlichen Einfluß 
irgend einem beftimmten Texte zutheil wurde, z. B. dem Texte, 
welchen ein Diakon des Eufebius von Caeſarea fünfzig Schreiber 
dietirte, um die von Conftantin (vgl. defien vita IV, cap. 36) be 
ftellte doppelte Wagenlaft fehleunigft zu liefern, oder dem Texte, 
welchen Theodoſius II. Höchiteigenhändig abzufchreiben pflegte. 
Unter biefen Umftänden wird, ganz abgefehen von ber unerläßlicen 





Genesis Graece und Hieronymi Quaestiones Hebraicae. 747 


Benugung ber außer ben griechifchen Bibelhandfchriften vorhandenen 
Hüffemittel, namentlich der alten Ueberfegungen, von denen ich 
nachher veden will, notwendig auch an forgfältige Ausbeutung der 
Eurfiopandichriften gedacht werden müffen. 

Im Intereffe der Vervollftändigung des verhältnismäßig dürfe 
tigen Apparates, der aus den Uncialhandſchriften zu gewinnen ift, 
macht Lagarde auf die Wichtigkeit der Minuskeln auf 
merkſam. So find am Schluſſe von Gen. 12, 8, mie Lagarde 
fügt, post xvgov quindecim literae radendo deletae in A. 
post zugiov F co oydevus avro ay, für welden Zufag ober 
urfprünglichen Beftandtheil von A, der jegt nur nod in ben 
füngeren Handſchriften erhalten ift, Holmes noch andere Minuskeln 
anführt. Es Liegt in der Natur der Sache, daß man durch forg- 
fältige kritiſche Vergleichung guter jüngerer Handſchriften zuweilen 
zu dem verlorenen Uncialcoder, aus bem jene gefloffen find, wird 
auffteigen tönnen ; Sagarde jchreibt: hos codices patientia et 
sagacitate inuentos, sed numquam uisos, soleo literis graecig 


uncialibus designare, quae cum latinis permisceri non Pos- . 


sunt, T/0A ZZOWR. Leider mußte Lagarde, der bei diefen 
Unterfuchungen auf die Ausbeutung von Minuskeln, welde der 
Orforder Apparat barbietet, angewiefen war, im Verlaufe der 
Arbeit fi) immer mehr von der Unzuverläßigfeit jener Ausgabe 
überzeugen, fo daß er eine neue felbftändige Ausbeutung der betrefe 
fenden Curſivhandſchriften beſchloſſen hat, um die das ganze Alte 
Teftament umfafjenden codices, qui sunt et non sunt, ſicher 
geben zu fönnen; für jet heißt e8 p. 19: literam unam tantum 
habeo, quae audeat coram lectoribus comparere, 4, ex 
monacensis noni et uindobonensis 130 comparatione compa- 
ratam. Möchte fein Wunſch, uns all’ die genannten griedhifchen 
Unciafen in feinem Commentare vorführen zu können, doch noch 
erfüllt werden! Soll das aber gejchehen, fo muß Lagarde durch 
geeignete Mitarbeiter unterftügt werden; handelt es ſich doch nicht 
um Ausbeutung einiger weniger *) Minuskeln, fondern (Lagarde p. 21) 


a) Als berüdfihtigungsmwerth nennt Tiſchendorf (Prol. p. 64 nt.1) den von 
Stroth (Eichhorns Nepertorium V, S. 126; vgl. Rofenmüllers Hand- 


——— 


748 de Lagarde 


soli libri recentiores, e quorum consideratione archetypi 
literis uncialibus scripti diuinandi sunt, aut denuo conferendi 
(weil der Oxforder Apparat felten gut, meift fehr nachläßig fei) 
aut primum excutiendi (weil zu den Zeiten von Holmes und 
Varſons noch unbefannt) in censum ueniunt plus quam qua- 
dringenti. Wenn aud Lagarde von diefer Zahl die zu Rom ber 
findfihen und die den Orfordern von Privatbefigern freundlich 
dargebotenen Codices als jet ſchwer zugänglich abrechnet und von 
den meiften Pfalmenhandfcriften, die ihm der Berücfichtigung 
nicht werth ſcheinen, gänzlich abfieht, fo bleiben doch übrig (p. 22) 
paene ducenti, ad quos excutiendos ea cum fide, qua in 
hac editione Geneseos excussos dedi acmrtxz, anni insu- 
mendi uidentur decem, si cum idoneis adiutoribus rem geras. 

Bevor ich auf die Benugung der außer den griechifchen Bibel: 
handſchriften Heranzuziehenden Hulfsmittel, d. h. der alten versiones 
et patres, noch furz eingehe, will ich mit den eigenen Worten 
Lagarde’s feinen Plan einer breifahen Ausgabe mittheilen, der 
fih ihm nad vielen vergeblihen Verfuchen in folgender Weije 
feftgeftellt Hat (p. 21): primum molior librum e codieum 
uncialium, qui hexaplares non sunt, — et eorum, qui super- 
stites ipsi sunt, et eorum, qui exputari sagaci patientia pos- 
sunt — consensu haud raro certa coniectura emendando 
edendum, cui libro scripturae discrepantiam non adiciam. 
deinceps propositum est codieibus GMQVZ® et uersionibus 


buch U, S. 328) in's 11. Jahrhundert gefegten Codex Lipsiensis mit 
Exod. 32, 7 bis Deut. 1, 18; ferner (Prol. p. 64 und Aufl. 3, p. 8) 
eine Curſivhandſchrift des 9. Jahrhunderts, von Tiſchendorf im Driente 
gefunden, von der Richter (od) Prol. Aufl. 3, p. 64 fehlt Judicum vor 
versus 27) und Ruth dem britiſchen Mufeum überlaffen find, - der 
größere Theil des Pentateuch aber, fowie Joſua und bie drei erſten 
Königsbücher jetzt der kaiſerlichen Bibliothel zu Petersburg angehören; und 
endlich (Prol. sectio XXXVI) den Codex Tischendorfianus V der 
geipgiger Univerfitätsbibtiothet, dem 12. Jahrhundert angehörig (ie ältere 
Echriſt diefes Palimpfeſtes fol aus dem 9. Fahrhundert fein), aus welchem 
Tiſchendorf (Prol. p. 86—89) bereits die wichtigſten Varianten zu 
Bi. 4979 veröffentlicht Hat. 





Genesis Graece und Hieronymi Quaestiones Hebraicae. 749 


syriacis usum (nam ad arabicam hexaplarem*) aditus uix 
patuerit) editionem hexaplarem curare, cui editioni frag- 
menta interpretationum seriorum quae supersunt omnia 
nouo labore coaceruata additurus sum. tertio loco orationi 
primae editionis, adcuratius interea fortasse aliorum quoque 
curis expolitaee, adparatum criticum integrum adiungere 
cogito, sed eum non ex incedentibus confuso ordine scriptu- 
rarum turbis, uerum e testibus et uersionum et patrum 
auxilio, acuta praeterea codicum ipsorum aestimatione et 
perpetua interpretum seriorum consideratione in quosdam 
quasi manipulos redactis, fauente autem fortuna uel legio- 
natim dispositis conlectum;. menda codieum adnotationibus 
non inferentur, sed in infimo margine literis minimis subi- 
cientur. 

Gegen die Zweckmaßigkeit diefes Planes wüßte ich nichts ein- 
zuwenden, finde ihn vielmehr der Schwierigkeit des großartigen 
Unternehmens wohl angemefjen. Zrog des lebhaften Wunfches, 
daß Lagarde, der wie faum ein anderer jeßt lebender Gelehrter 
zur Ausführung des Werkes berufen ift, die nötige Unterſtützung 
finden und die glückliche Vollendung der ganzen Arbeit erleben 
möge, kann man es doch nur billigen, daß eine ſchrittweiſe Durch⸗ 
führung des Planes in Ausfiht genommen und dadurch auf alle 
Fälle ein erheblicher Gewinn für die Wiffenfchaft ſicher geftellt iſt; 
ſollte auch die beabſichtigte dritte Ausgabe nicht unter der Leitung 
oder in der. Ausarbeitung von Laharde felbft erfcheinen können, fo 
würde doch die vollendete erfte Ausgabe mit den dazu gehörigen 
Vorarbeiten und Sammlungen und nicht minder die zweite Aus- 
‚gabe ihren felbftändigen wifjenfchaftlichen Werth Haben, und auf dem 
einmal gelegten ſichern Grunde könnten zukünftige Forſcher weiter 
arbeiten und das angeftrebte Ziel glucklich erreichen. Wenn fogar 
der Codex Vaticanus unter dem Cinfluffe des heraplarifchen 


a) Bgl. Redepenning, Origenes IL, S. 180, Anm. 2, ſowie Eihhorns 
Einfeitung im das Alte Teflament, 4. Ausg, $ 294 c. Uebrigens weiß 
ich nicht, ob die bier von Lagarde übergangene latina hexaplaris (Eichhorn 
a. a. ©. $ 331) nicht noch wichtiger if. 

Theol. Stud. Jahrg. 1869. 4 


750 de Lagarde 


Textes ftcht (vgl. über die editio Romana das Urtheil von Mont- 
faucon, Hexapl. Orig., Praelim. cap. IV. $ 5), fo ift eine ab» 
foluse Scheidung ber Handſchriften in hexaplariſche und nithere- 
plarifche unftatthaft; und niemand weiß befjer als Lagarde, daß 
eine rein mechanifdje Gewinnung ber einzelnen heraplariſchen Les⸗ 
arten ein Ding der Unmöglichkeit ift*). Nichtsdeſtoweniger will 
Lagarde mit gutem Grunde die Ausbeutung der im ftrengen Sinne 
als heraplariſch zu bezeichnenden Handſchriften und Ueberfegungen 
der zweiten®) Ausgabe vorbehalten, gleichwie ſeine Sorge für die 
dritte Ausgabe, daß ich jeine eigenen Werte gebrauce, zunädit 
nur dahin geht, at patrum libres auctor et (si modo potero) 
magister sim sollerter e codieum fide edendi, ut ipse edidi 
Titum bostrenum, constitutiones apostolicas, Olementis ho- 
milias, Der Tegt der LXX liegt nämlich in den bisherigen An 
gaben dermaßen im Argen und andererſeits find die von Lagarde 
für feine erfte Ausgabe aufgebotenen Hulfsmittel jo ftattlic, 
daß wir diefem ſchon bewährten Kritiker aud für eine nur vor 
laufige und des kritiſchen Apparats noch ermangelnde Conftituirung 
des Tertes zu großem Danfe verpflichtet fein werden, zumal da 
die Vollendung der zweiten‘) und vollends der abjchliegenden dritten 
Ausgabe nach den fahgemäßen und wahrheitsgetrenen Berechnungen 
von Lagarde erft nach langen Jahren möglich ift. Wie die Dinge 
jegt liegen, Eönnte nur ein Charlatan binnen kurzer Zeit eine 
wiſſenſchaftlich genigende Ausgabe der LXX Herftellen wollen; es 


a) Mit Recht ſagt Lagarde p. 16: tirones ab hoc toto studiorum genere 
arceo, deieio, depello. 

b) Warum fie erft die zmeite fein Tann, deutet Lagarde p. 28 mit den 
Worten an: fragmenta interpretationum recentiorum in eis ipsis 
eodieibus inueniuntur, quos propter editionem meam primam ex- 
eutere aut debui aut debebo. 

©) Die Ausbeutung der codd. M V zu Paris und Venedig würde 15 Dio- 
mate angeftrengter Arbeit Toflen. Vom zweiten Bande der Mailänder 
monumenta sacra et profana, der bie Fragmente bes fprifch-herapfa- 
riſchen Pentateuchs bringen foll, reiht das 1866 erſchienene dritte Heft 
erſt bis Ex. 20, 26, jo daß Lagarde, um nicht auf Ceriani warten zu 
müffen, ſchon am eigenes Schäpfen aus der Londoner Duelle gedacht bat. 





Genesis Graece und Hieronymi Quaestiones Hebraicae. 751 


entfprict dem Ernfte und der felbftlofen Treue deutſcher Wiſſen⸗ 
ſchaft, daß Lagarde erft für denjenigen Tert, welcher anf Grund 
der inzwifchen möglichft vollendeten Ausbeutung ſämtlicher Hülfe- 
mittel verbefjert fein wird, die für unfere Zeit erreichbare Boll 
endung in Anfpruch nehmen will. 

Lagarde Hat fein Berliner Gymnafialprogramm von 1857 „De 
novo testamento ad versiorum orientalium fidem edendo“ 
mit deutſchen Zufägen in feine Gejammelten Abhandlungen (Leipzig 
1866, &. 85—119) aufgenommen; der geringen Beachtung gegen« 
über, welche dies werthoolle Programm bei den Theologen gefunden 
hat, erinnere id an die warme Begrüßung desfelben durch H. Ewald 
in den Gött. gel. Anz. 1857, ©. 1014 ff., der in Lagarde nicht 
nur wegen feiner feltenen, umfaffenden und gründlichen Sprachkennt ⸗ 
niffe und manigfachen Zertigfeiten, fondern aud wegen feiner 
faft ebenfo feltenen Ausdauer und Liebe zur Sache den geeigneten 
Bearbeiter der morgenländifchen Ueberfegungen erblidt” Was das 
Neue Teftament betrifft, fo will fih jet Lagarde (Gef. Abhandl., 
©. 119 Anm.), da Verſionen und Kirchenväter*) feines Erachtens 
noch eine geraume Zeit hindurch Ginzelunterfuchungen erfordern, 
auf die koptiſche Weberfegung bejchränfen, falls nad) der Ausgabe 
ber LXX noch Zeit übrig bleibt. Vielleicht erflärt fid daraus, daß 
Lagarde fein Hauptangenmerf auf die orientalifchen Töchterverfionen 
des griechiſchen Alten Teftaments geworfen Hat, die Uebergehung 
der altlateinifchen Ueberfegungen in feiner Aufzählung®) der zur 
Herftellung der LXX zu benugenden alten Verfionen; die fogenannte 
Itala wird in den altteftamentlihen Einleitungen z. B. von Eich⸗ 
horn ($ 325) und Bleet (8 347) gewiß mit Recht als ein nicht 


8) gl. Geſ. Abh., S. 86: „Lachmanns ausgabe würde allein fchon durch 
die Tenfche, wahrheitsliebende beſchränkung auf die benugung von fünf 
fichenpätern epoche machen. Ich kann mir wicht Helfen, mir feige 
die ſchamröthe in's geficht, wenn ich in, kritiſchen‘ ausgaben des neuen 
teſtaments wahre Leporelloliſten über hunderte don verglichenen vätern 
abgebrudt jehe.“ 

b) Anderwo (Gef. Abh, ©. 89) ſpricht ſich vegende über die große Schwie · 
rigkeit der Beuutzuug derſelben deutlich aus. 

40* 


762 de Lagarbe 


unwichtiges Hülfsmittel zur Gewinnung des vorhexaplariſchen grie⸗ 
chiſchen Textes bezeichnet. 

Zu der erwähnten Aufzählung, worin die georgifche und bie 
ſlaviſche Ueberfegung mit Recht fehlen, nennt Lagarde p. 1859. 
fieben aus der LXX geflofjene Berfionen, die er mit den hebräifchen 
Buchſtaben x (uersio armenica), 3 (basmurica), ı (aethiopica, 
si modo unam nominare possumus, quae e duabus conflata 
est), n (syriaca hexaplaris), » (thebana), o (Jacobi edesseni) 

p (coptica) bezeichnet. Bei mehreren diefer Ueberfegungen 
iſt noch faft alles zu thun; dies gilt fofort von der erften, da die 
armeniſche Bibel“) zwar volftändig, aber nur unzuverläßig 
herausgegeben und ihr Text j don vor dem Drude jo ſtark beſchädigt 
worden ift, daß er mur bei Anwendung ber größten Vorſicht zur 
Herſtellung des griechiſchen Eremplares dienen kann, welches Joſeph 
und Eznak 431 von der Synode zu Epheſus heimbrachten. Unter 
den drei eghptifchen Weberfegungen (vgl. Bleeks Einleitung in's 
Neue Teftgment, $ 278) kommt die fogenannte baſchmuriſche 
faft gar nicht in Betracht wegen der Geringfügigfeit der darin 
erhaltenen Fragmente, welche ſich auf die von G. Zoëga und von 
W. 3. Engelbreth aus dem erjten und fünften Kapitel des Jeſaja 
herausgegebenen Verſe befchränfen follen®). Bedeutend find dagegen 
die Ueberbleibfel aus der thebäifchen oder ſahidiſchen Ueberfegung 
(ogl. Eichhorn $ 314), die fid) über den größten Theil der LXX 
erftredten, während erft einige Heine Stückchen gedrudt find. Sehr 
große Stüde endlich find fhon von der nieberegyptifchen Ueber: 
fegung gebrudt, welde als die koptiſche oder memphitiſche ber 
tannt ift; den Pentateuch gab 1867 Lagarde jelbft heraus, der 
auch eine Handſchrift der Proverbien befigt, die in 14, 26a auf 
hört. Außerdem erwähnt Lagarde die koptiſche Pfalmenausgabe 

3) Eine genügende wiffenfchaftfiche Ausbeutuug der armeniſchen Ueberfegung 
erwarten wir erſt von Lagarde; die bisher wol beften Notizen geben Eid- 
horn (Einleitung in’s Alte Teftament, $ 306308), Bleek (Einleitung 

in's N. T., $ 279) und Arnold (Herzogs Real-Enchtl. I, ©. 194). 

b) Lagarde Hat überfehen, da von Duatremere Klagel. 4, 22 bie 5,22 und 
de8 Jeremia Brief an die Juden in Babylon’ aus der baſchmuriſchen 

Meberjegung edirt find, vgl. Eichhorn, 4. Ausg. I, ©. 356. 374. 





Genesis Graece unb Hieronymi Quaestiones Hebraicae. 763 


von Morig Schwartze (Leipzig 1843) und die Veröffentlihungen 
de8 Engländer Tattam, der 1846 den Hiob, fowie 1836 und 
1852 die Propheten edirte. Ueber das äthiopiſche Alte Tefta- 
ment vgl. den betreffenden Artitel in Herzogs R.-E. von Auguft 
Dillmann, deffen kritifche Ausgabe des Alten Teftaments ſchon faft 
zur Hälfte erfchienen ift. Was endlich die von Parſons (vgl. Rede⸗ 
penning, Origenes II, ©. 180, Anm. 1) vernahläßigte fyrifch- 
heraplarifche Ueberjegung des Paul von Tela betrifft, fo find 
zu den von Norberg, Bugati und Middeldorpf herausgegebenen 
Büchern, die 3.8. von Ed. Reuß (Gefchichte der Heiligen Schriften 
Neuen Teftaments, 4. Ausg., $ 429) erwähnt werden, neuerdings 
die aus dem Handfchriftenfchage bes britiſchen Mufeums dur 
Stat Roordam und Ceriani edirten Stüde hinzugefommen, während 
von der Bearbeitung (vgl. Herzogs R.E. II, S. 191) derſelben 
durch ben Bifhof Jakob von Edeffa*) faft noch nichts ger 
drudt ift. 

innerhalb der zehn Jahre, welche Lagarde (p. 22) auf die 
BVergleihung der griechiſchen Handſchriften für feine erfte Ausgabe 
der LXX verwenden will, ſoll zugleich ftattfinden „uersionum 
s2pb perlustratio, quarum uersionum non codices tantum 
adeundi, sed indoles singulis uoluminibus describenda“. 
Weil Lagarde fih auf diefem nur wenigen Gelehrten zugänglichen 
Gebiete ganz befondere Verdienfte erwerben Tann, fo ift ihm für 
andere Theile des umfangreichen Unternehmens, befonder® für die 
Vergleichung der griedifchen Handfchriften, um fo mehr tüchtige 
Unterftügung durd jüngere Kräfte?) zu wünfchen. Die Unentbehr- 


a) Nicht nur Pentateuh und Daniel find vom biefer Recenfion in zwei 
Barifer Dandſchriften erhalten, fondern es liegen nach der Algen. Fiter.- 
Btg. 1846, Nr. 204 auch noch einige andere Bücher, wie Reuß a. a. D. 
mittheift, handſchriftlich vor. 

b) Ich zweifle nicht, daß Lagarde fich als Univerfitätsichrer bald geeignete 
Schüfer Heranziehen und mit ihnen ſehr bebeutende Erfolge erzielen wird; 
fol aber der fhöne Plan wirklich zur Ausführung‘ gelangen, fo dürfen 
die Männer, welche an oberſter Stelle für bie Förderung der Wiffen- 
ſchaft zu wirken berufen find, es natürlich auch nicht an den nöthigen 
Geldmitteln fehlen Laffen. “ 


754 de Lagarbe 


lichteit derfelben wird auch demjenigen einfeuchten, der nicht mit 
dem Recenfenten in Zarncke's Liter. Eentralblatt (1868, Nr. 39) 
die Sorge hegt, die fortwährenden Eollationen möchten zuletzt den 
Geift fo aufreiben, daß er ſchwerlich den freien Blick behielte, der 
für die eigentliche Hauptarbeit, die Ordnung und Sichtung ds 
Materials, vor allem nöthig ſei. Wie eruſt aber Lagarde die 
Bearbeitung der Verfionen nimmt, hat er bereits in dem erwähnten 
Programm (Gef. Abhandl., S. 99 f.) mit folgenden auf die LXX 
leicht anwendbaren Worten aus geſprochen: „prudentes rei criticae 
aestimatores non dubitabunt quin non suppetat (quod adhuc 
factum est) ut versiones aut semel evolutae fugientibus 
quasi oculis inspiciantur aut ab eis qui velint accuratiores | 
haberi integrae perlegantur. duabus potius rebus opus est, 
primum ut singula vocabula per omnes novi testamenti 
libros quo modo vertantur persequamur, deinde ut syntaxin 
sermonis graeci cum linguis syriaca aegyptiaca aethiopica 
armenica comparati seribere aggrediamur. ita enim et de 
interpretis alicuius constantia et de editionum codieumque 
nostrorum fide eertiores erimus et facillime öbservabimus, 
si quis interpres in suo libro alis habuit ac quae codiees 
graeci nunc superstites praebeant.‘‘ Ganz, ähnlich ſpricht fih 
TH. Nöldele (Zeitſchrift der deutfchen morgenländifchen Geſellſchat 
1868, ©. 443, Anm. 2) über die Benugung einer beftimmten | 
morgenländijchen Ueberfegung für die bibliſche Textkritik aus. | 
Was endlich die patres betrifft, fo ift ſchon oben bemertt, 
daß Lagarde, um fid auf zuderläßige Texte ftügen zu Sönnen, 
noch eine Reihe Fritifcher Ausgaben für nöthig Hält, che zu der 
beabfightigten dritten Ausgabe der LXX gejchritten werden könn. 
Dies führt mich auf die zweite an der Spite diefer Recenfion ge 
nannte Schrift, auf die von Lagarde zufammen*) mit der griechiſchen 
Geneſis herausgegebenen exegetiſch⸗ kritiſchen Bemerkungen des Hiero- 


a) Leider werden beide Bücher nur auf fee Beſtellung verſandt uud find 
micht einzeln käuflich; auch iſt der Preis von 4 Thalern trotz der trefl- 
Aden Ausftattung nicht geade niedrig. Se begränbeter aber Die Befürchtung 
des erwähnten Recenfenten if, der Abjat möchte ein geringerer werben, 


Genesis Graece und Hieronymi Quaestiones Hebraicae. 765 


nymus zu zahlreichen Stellen der Genefis. ALS Titel diefer wich. 
tigen Arbeit des Hieronhmus gibt 3. B. D. Zödler (Hieronymus 
[Gotha 1865], ©. 171) und ebenfo 2. Dieftel (Geſchichte des Alten 
Teſtaments, ©. 102) „Quaestiones Hebraicae in Ge- 
nesin“ an; Lagarde zieht „in libro Geneseos“‘ dem überein- 
Eömmlichen, aber nicht ſicher überlieferten „in Genesin‘‘ mit Recht 
vor, ſofern er ſich nicht nur anf die Berliner Handſchrift ftügen 
Tann, fondern ach durch das Abweichen vom hergebrachten Wort« 
Laute die Unſicherheit desfelben*) deutlich in's Licht fiellt. Daß 
der Drud im dritten Bande der Quartausgabe von Ballarfi (Ber 
nedig 1767, Sp. 301—380) trog aller Berbienfte des Veroneſer 
Kritilers (vgl. Zocklers Hieron. ©. 9) nicht genügt, liegt auf der 
Hand.. Danach: bietet fih zur Vergfeihung mit Lagarde's Aus- 
gabe der Quaestiones der Abdrud im 23. Bande der series 
prima von Migne's Patrologia (Paris 1845, Sp. 935—1010) 
dar; manche Drudfehler bei Ballarfi (3. B. 311 A, vgl. Lagarde 
8, 17) hat der franzöfliche Abbe allerdings vwerbeffert, vermuthlich 
aber auch nene dafür eingefchwärzt. Jedenfalls ift an Verſehen 
Vallarſi's, die fi) in der Wiederholung bei Migne zu kräftigen 
Schnitzern geftalten, fein Mangel vorhanden, 3.8. 327 A und C, 
vgl. Tagarde 22, 17; 23, 8, 9, wo Lagarde natürlich dns Richtige 
hat. Uebrigens Liegt dns Verdienſt der neuen handlichen Ausgabe 
nicht vorzugsweife in der von Lagarde mit gewohnter Sicherheit®) 
geübten Fernhaltung der Drudfehler, fondern darin, daß Lagarde 


als er von Rechts wegen werden follte, defto lebhafter wolimiche ich, durch 
meinte Beſprechung der beiden Bücher Manchen zw ihrer Auſchaffung zu 
bewegen. 

Zu Anfang des kritiſchen Commentars ſchreibt Lagarde: Qui titulus 
Praefizus sit ab Hieronymo ipso, nescio. # ih indice Ubrorum uolu- 
mini praemisso „Jeronimi Questiones in libro geneseos “. — Hie - 
ronymus ſelbſt nenmt fein Werkchen (bei Lagarbe S. 24, Lin. 11): uel 
quaestionum hebraicarum uel traditionum congregatio. Nicht nur 
Codex £, fondern auch > ſchittzt den won Lagarde gewählten Zitel durch 
die nad) der Vorrede und vor Anführung von Gen. 1, 1 ftehenden Worte: 
Ineipiunt hebraioäe questiones in libro (y hat libris) geneseos. 

b) Mir iſt bei Lagarde fein Drudfehler aufgefallen, wenn nicht etwa Lydia 

(18, 7), wofike Ballack (322 A) Lydii gibt, bierhes gehört, 


a) 


7656 de Lagarde 


uns meines Wiſſens zum erftenmale einen auf keitifcher Hand- 
fchriftenbenugung ruhenden Text des Hieronymus barbietet und 
damit zugleich für ein wiſſenſchaftlich begründetes Urtheil über die 
bisherigen Ausgaben der Werke des genannten Kirchenvaters einen 
werthoollen Beitrag liefert. 

Niemand wird es bedauern, daß der am 9. März 1864 ge 
faßte preiswürdige Beſchluß der Wiener Akademie, ich meine das 
heute zum Theil ſchon erfüllte Verſprechen einer den jegigen Forde⸗ 
rungen der Willenfchaft genügenden Herausgabe ber Tateinifchen 
Kirchenfchriftfteller, unfern Kritifer von feiner Ausgabe der Quae- 
stiones nicht abgefchredt hat. Der Terikrititer. der LXX mar 
um fo mehr berechtigt, Über den aus den Werken bes Hieronymus 
zu erwartenden Gewinn für feine Aufgabe fih urkundlihe Ge 
wißeit zu verfchaffen, als die umfafjenden Arbeiten diefes Kirchen: 
vaters nicht ſchon in der erften Zeit durch die Wiener Akademie 
zur Veröffentlihung gelangen follten. Es wird dem zukünftigen 
Wiener Herausgeber, namentlich durch Benutzung zahlreicherer 
Handfehriften, als jegt Lagarde zu Gebote ftanden, die Herftellung 
eines vollftändigeren kritiſchen Apparates fehr leicht werden; aber 
ich zweifle nicht, daß fich die dem nächſten Zwede zur Genüge ent- 
ſprechende Ausgabe von Lagarde auch jedem fpäteren Herausgeber, 
der mit reicheren Mitteln arbeiten kann, als ein ſehr werthvolles 
Hilfsmittel erweifen wird. Bon den fünf Handſchriften des latei⸗ 
niſchen Buchleins, die Lagarde aus eigener Anfchauung kennt, hat 
er den unvollftändigen Regensburger, jegt Mindener Coder aus 
dem 9. Jahrhundert wegen Zeitmangeld nicht benugen können. 
Die Münchener Bibliothek befigt ferner zwei frühere Freiſinger 
Handſchriften nicht geringeren Alters; die jüngere (bei Lagarde 1) 
ift wegen ihrer Unvollſtändigkeit nur felten von Lagarde zu Rathe 
gezogen worden, zumal da codex %, wie Lagarde den Frisingensis 
prior bezeichnet, derfelben Familie wie m angehört. Obwol $ aus 
dem Ende des 8. oder dem Anfange des 9. Yahrhunderts ſtammt, 
hat Lagarde dennoch die erft in's 12. Jahrhundert fallenden Hand- 
Schriften von Berlin (8) und Schaffhaufen (y) feiner Ausgabe zu 
Grunde gelegt, wenngleich er natürlich im geeigneten Falle (vgl. 31,12) 
der lectio recepta (5) gegen Ayp den Vorzug gibt. 


Genesis Graece und Hierouymi Quaestiones Hebraicae. 767 


Der Grund für dieſe Unterordnung von 9 liegt ohne Zweifel in 
dem, was Lagarde in der Genefis-Ausgabe (p. 23 sq.) über die von 
ihm fo genannten patres ralsuymjarovg bemerkt. Da nämlich aus 
unbeftreitbaren Thatſachen*) eine Ueberarbeitung des Hieronymus 
durch die mala manus scioli cuiusdam iudaiei erhelle, fo erklärt 
Zagarde: codices eos, qui scripturam hebraicam nunc uulgatam 
exhibent, pro corruptis habui ideoque eos secutus non sum 
neque deinceps sequar. Ob diefe Verderbnis ſich nod weiter 
als auf die Ausfprade bes Hebräifchen erftredt, wäre wol genauer 
zu unterfuden. Die hebräiſchen Wörter, die in den Quaestiones 
vorkommen, liegen uns bei Lagarde kritiſch genau und in voll» 
ftändigem Apparate vor, wie auch die griechifchen®), während Lagarde 
fonft nur die wichtigeren Sesarten feiner Handfehriften anführt; die 
durchſchnittlich 5— 6 Abweichungen von Vallarſi's Tertrecenfion, 
welche jede Seite bei Lagarde aufweift, beziehen ſich in den wich— 
tigeren Fällen übrigens faft immer auf die hebräifchen und grie- 
chiſchen (vgl. 3. B. Lagarde 23, 15; 30, 1) Wörter. Den von 
unferem Kitifer conftituirten Text kann ich zwar nicht in fämtlichen 
Einzelnheiten für den urfprüngfichen des Hieronymus halten, ziehe 
3. B. mit Vallarſi 3290 xai vlg dem 6 viog bei Ragarde 25, 4 
vor; daran aber zweifle ich keineswegs, daß die Tegtrecenfion von 
Lagarde den nachfolgenden Kritikern nur in unbedentendem Maße 
Gelegenheit zum Berbeffern übrig gelaffen hat, und daß wir für die 
Zegtkritit der LXX vollfommen ausreichten, wenn uns die betref- 


a) Zu Gen. 2, 8 gibt Lagarde mimizra nad) Ay, während das meccedem 
von p dem hebräifchen Texte entipricht, von welchem ſich Hieronymus 
wol nur durch einen Gebächtnisfehler entfernte; wenigftens ift mir dieſe 
Annahme wahrſcheinlicher als die gemwagte Hhpotfefe vom Lagarbe, 
DIpR fei erſt nad) der Zeit des Hieronymus als Glofe in den Tert ein- 
gedrungen. ferner gibt Lagarde zu Gen. 3, 8 barus haium nach By 
flatt des laroeaiom von @, zu Gen, 6, 4 nifilim nad)  flatt anna- 
Alim in @ ac. 

b) Die oft wunderlich entftellten und mit fonderbarer Mifhung griechiſcher 
und lateiniſcher Buchſtaben geſchriebenen griechiſchen Wörter bat Lagarde 
mit größter Sorgfalt zum Abdrud gebracht. 


788 Böhmer 
fenden patres alle in Ausgaben von jolder Güte wie Lagarde's 
Quaestiones des Hieronymus vorlägen. 

Abdolf Kamphaufen, 


Dr. u. ord. Prof. der Theol. it Bom. 


2. 


Die Offenbarung Iohannis, ein Schlußſtein der heiligen 
Schrift. Ein neuer Verſuch ihre Dunkel zu lichten von 
Heinrich Bochmer, Paftor zu Eonrabsmwalbau. Breslau, 
Berlag von Maruſchke & Berendt, 1866. 337 ©. 





Die immer auf's neue mit immer gleicher Zuverficht auf 
teetenden neuen „Berfuche, das Näthfel der Offenbasung zu löjen,“ 
begegnen bei dem wiſſenſchaftlichen Eregeten von vornherein einem 
gerechten Mistranen. Die ganze Borftellung vou der Apofalypie 
als einem Rathſelbuch gehört einer Anfhauung von der Schrift 
und ihrer Entftehung an, welde auf allen anderen Punkten felbit 
von den Meiften, die fie hier noch feftgalten, längft aufgegeben ift. 
Die Apolalypſe ift wie jedes andere neuteſtamentliche Buch für 
Leſer ihrer Zeit gefchrieben, um verftanden zu werden, und ohne 
Zweifel auch verjtanden worden. Ihre bildliche Darftellungsform, 
die um® vielfach fo fremd geworden, war ihrer Zeit ungleich ge 
Iüufiger und ift fiher, etwa abgeſehen won dem bekannten Zahlen 
räthfel und einzelnen Mäthfelworten, zu deren Löfung aber der 
Apolalyptiker jelbft die Handhaben bietet, nicht zur Verhüffung, 
fondern als die der Natur der Sache entjprechendfte gewählt. Seit 
die Eregeſe von dem Baun der alten Juſpiratioustheorie befreit 





Die Offenbarung Johannis. 79 


ift und die Apokalpyſe nach den fonft überall geltenden hermeneu⸗ 
tiſchen Grundfägen zu erflären begonnen hat, bricht ſich das rich 
tige DVerftändnis derfelben mit fortfchreitender Sicherheit Bahn. 
Es gibt hier Schwierigfeiten und exegetifche Differenzen, die viel 
leicht nie unter allgemeinem Einverftändnis werden gehoben werben; 
aber das ift auch bei jedem anderen Buche der Fall. Diejenigen, 
welhe eine ganz neue Löſung der Rathſel der Apolalypſe ans 
kündigen, erweden daher von vornherein ben Verdacht, außer 
halb des Entwidelungsganges der methodiſchen Schriftforfhung 
zu ftehen und noch in Voransfegungen befangen zu fein, von denen 
aus ein gefchichtliches Verftändnis dieſes Buches überhaupt unmögs 
lich ift. . 

Bon diefen Erwägungen aus haben wir uns für berechtigt ges 
halten, derartige Schriften über die Apefalypfe, welche der Wiſſen ⸗ 
ſchaft von vornherein wenig Förderung verfprechen, bei unferer Re 
viſion der neueren Egegefe derfelben, deren Refultate wir kürzlich 
in diefen Blättern darlegten (vgl. 1869, Heft 1), mit Still 
ſchweigen zu übergehen. Wir glauben eine Berfäumnis wieder gut 
zu maden, wenn wir nachträglich auf eine Schrift etwas näher 
eingehen, die fcheinbar im diefelbe Kategorie gehört und ſich doch 
wefentfih von ihr unterſcheidet. Wir meinen bie obige bereite 
1866 erſchienene, aber zufällig erft jet ums näher befamnt ges 
worbene Schrift von H. Böhmer. Die Boruusfegungen dieſer 
Schrift über das Weſen der Yufpiration. überhaupt und der Pro 
phetie insbefondere, obwol wir biefelbe uns weder in ihren Details, 
noch in ihrer Begründung vollftändig aneignen möchten, find doch 
im wefentfihen fo gefund, daß fie ein gefchichtliches Verftändnis 
des Buches ermöglichen, und berechtigen daher zu der Erwartung, 
daß wir es Hier mit einer wirflichen Förderung der Eregefe zu 
thun Haben. Diefe Erwartung erfüllt fich freilich großentheils nicht; 
es fehlt dem Verfaſſer an hermeneutiſcher Methode, feine Eregeſe 
hat vielfach etwas unficher Hin» und Hertaftendes, fie ſchwankt zwifchen 
den beterogenften Interpretationsmethoden haltlos umher und hat 
fich daher durch vorgefaßte Lieblingsgedanken in faljche Bahnen leiten 
laſſen. Dennoch zeigt das Buch fo viel aufrichtiges, Wahrheit 
fuchendes Streben, dag wir es für angezeigt Halten, unferen 


780 Böhmer 


gefern eine kritische Weberficht über feine eigentümlichften Reſultate 
zu geben. 

Abgefehen von der erften Bifton (1, 9 bis 3, 22), die ja zu 
keiner principielleren Differenz der Auffaffung Anlaß bietet, und bei 
der das Eigentümlichfte unſeres Buches in feiner Auffaffung der 
®emeindeengel und der fpecielleren Beziehung manches Einzelnen 
in den Briefen auf diefelben Liegen dürfte“), Ienft unfer Buch von 
Rap. 15 an in die Bahn der gewöhnlichen geſchichtlichen Erklärung 
der Apokalypfe ein. Es findet hier bie Kap. 19 das Ende ber 
heidniſchen Weltmacht prophetiſch geſchildert. Die Art, wie der 
Berfaffer S. 247. 248. 259. 260 die prophetifche Conception, 
wonach dem Seher die Art, in welcher Rom feinen Untergang 
finden werde, aus feiner Zeitfage heraus in concreten Zügen vor 
die ahnende Seele tritt, analyfirt und rechtfertigt, gehört zu dem 
Beften, was hierüber gefchrieben iſt. Aber leider fehlt es auch 
bier in der Durchführung an der möthigen Gractheit der Exegeſe. 
Das Verhältnis der zehn Ufurpatoren zu dem Rap. 17, 11 ge 
nannten achten Könige bleibt ganz unflar. Die Dekarchie, die 
doch nach Kap. 17, 13.17 deutlich dem in dem achten Könige per» 
fonifteirten Tiere ihre Herrſchaft überträgt, wird hier felbft ale der 
achte Herrſcher gedacht, und während die fieben Könige richtig ge 
deutet find, erfheint Domitian doch nicht als der achte, fondern als 
der, gegen bem ſich die Zehn verſchwören. Der tiefere Grund davon 
liegt darin, dag das Thier nicht von der römischen Weltmacht vers 
ftanden wird, fondern unbegreiflicherweife von Stalien, auf deſſen 
durch die Uebermacht der Weltherrfcherin niedergedrückte politiſche 


a) Schon hier zeigt ſich die Unfidjerheit in der Eregeſe des Berfafiers. Nach 
der Erörterung auf ©. 95. 96 ſcheint man einfad) an Biſchöfe benten 
zu müffen. Nach &. 98 find aber nicht eigentlich Biſchöfe, fondern apo- 
ſtoliſche Legaten, wie Zimothens in Ephefus, gemeint und darum bie 
Briefe nur an ſolche Gemeinden gerichtet, in denen dergleichen ihren ih 
hatten, obwol doch ſchon der Ausbrud Ayysdos rüs Extänsias ben Ge- 
danfen an Sendboten der Apoftel unmöglich macht. Nah ©. 311 find 
dieſe „Engel“ Vorſtande einer größeren Anzahl von Gemeinden; nach 
©. 98 Hat Johannes ihre Zahl auf bie ihm fo wichtige Siebenzahl ger 
bracht. 


Die Offenbarung Johannis. 761 


Bedeutung das räthjelhafte 7v xad oux Zusıv gehen foll. Es ift 
alfo eigentlich Italien felbft, das in jenen zehn Ufurpatoren gegen 
das flaviſche Kaiferhaus und feine Hauptftadt, auffteht; und doch 
wird’das dx röv änea Eosıy wieder auf die zehn Ufurpatoren 
gedeutet, die als in Rom Großgezogene aus den jieben Hügeln her 
find, während doch nad) alfer hermeneutiſchen Raifon die B. 11 
genannten od ärer& nur die V. 10 befprochenen fieben Könige jein 
. tönuen. Dazu fommt nun, daß der Berfaffer S. 252, indem er 
Harmagedon als „Berg ber Koftbarkeiten“ erklärt und auf Rom 
deutet, die Könige der ganzen Erde (Rap. 16,14), die nah ©. 258 
aus dem Morgenlande kommen, indem die Austrodnung des Euphrat 
nur die Befeitigung der Hinderniffe für ihren Heereszug andeuten 
foll, als diejenigen denkt, die das Strafgeriht an der Stadt volle 
ziehen follen, wodurch auf's neue die ganze Conception verwirrt 
wird. Endlich foll nad S. 247 das in Trümmern liegende Rom 
noch durch ein gewaltiges Naturereignis vollends von der Ober« 
fläche der Erde verſchwinden, worauf Rap. 16, 19 gedeutet zu 
werben feheint (S. 255), eine Deutung, die mit ihrer faljchen 
Buchſtäblichkeit offenbar den klaren Fortfchritt der Weißagung zu 
der endlichen vollen Enthüllung über die Modalität des Unter 
gangs Roms (Rap. 17, 16) aufhebt, aber allerdings daran mahnen 
dürfte, baß die bisherigen Erffärungen der ſechsten Zornſchale noch 
immer viel zu wünfchen übrig laffen. Daß nachher die Könige der 
Erde (Kap. 19, 19; vgl. Kap. 16, 14), die neben dem Thiere 
im legten Kampf von dem wieberfehrenden Meſſias befiegt werden, 
mit den zehn Königen des Kap. 17 identificirt werden (S. 269), 
ift ja freilich ein gangbarer eregetifher Misgriff, der aber bei 
unferm Berfaffer einen eclatanten Widerfprud involoirt, weil er 
die zehn Könige Kap. 17 jedenfalls ungleich richtiger als die 
herrſchende Auslegung gedeutet hat. Ebenfo ift es ein Widerſpruch, 
wenn jene Zehn, in denen das Thier (Italien) fi zu einer achten 
Herrſchermacht verkörpert hat, nun neben ihm erfcheinen, wie 
andererſeits bier feine Auslegung des Thieres definitiv daran 
fcheitert, daß diefes ſamt dem Pfeudopropheten Tebendig in den 
Teuerofen geworfen wird (Kap. 19, 20). Während ber Berfaffer 
ſich durch diefe Stelle fogar veranlagt fieht, den faljchen Propheten 


762 Böhmer 


als eine einzelne geſchichtliche Perfon zu demfen, bie nur von Jo— 
Hannes als Repräfentant ihrer Gattuug aufgefaßt wird, macht es 
ihm feine Sorge, das Thier daneben von Italien zu verftehen, 
das in einen Schwefelfee verfinft, und er quält ſich nur mit der 
Frage, wie gleichzeitig die Leichname ber dort befiegten Könige auf 
der Grdoberfläche Liegen bleiben fönnen, deren Köjung mir Lieb- 
habern ©. 272 nadjzulefen überlaffen. 

Die Betrahtungen, mit weldyen der Verfaſſer dem Abſchnitt 
über das taufendjährige Reich eröffnet, enthalten wieder fo viel 
Treffliches, daß man hoffen durfte, hier eine unbefangene Würdigung 
diefes prophetifchen Bildes zu finden. Es hindert ihn an diejer 
Würdigung auch nit, daß der Fall Roms und der heidniſchen 
Weltmacht, mit der dasjelbe unmittelbar verknüpft wird, nicht zu 
der Zeit und wicht in der Weife eingetreten ift, wie bie Offen- 
barung es fehildert (&. 276). Weil er aber dieje Weißagung bereits 
mit ber eingetretenen Herrſchaft des Chriftentums erfüllt fehen 
will, jo hat er doch die apofafyptifce Vorſtellung vom taufendjährigen 
Neiche aufs willkurlichſte umgebeutet.” Es wird dem ganzen 
bibliſchen Sprachgebraud und Borftellungskreife zuwider bie erfte 
Auferftehung verwandelt: in ein Erwachen der bis dahin ſchlum⸗ 
mernden Gläubigen zum bewußten leiblofen Leben, in dem fie mit 
Ehrifto vom Himmel Her über die Gläubigen auf Erden herrſchen. 
Schr ausführlich und fehr unklar wird die Frage, wem die Throne 
beftimmt feien, erörtert, obwol der Verfaſſer S. 311 aus ihrer dort 
feft angenommenen Beftimmung für die Zwölfapoftel und dem von 
ihm gemuthmaßten Grunde, weshalb ihre Zahl nicht genannt fei, die 
gewagteften Schlüffe auf deu Verfaſſer der Apofalypfe zieht, von dem 
er ©. 286 noch nicht fo beftimmt wie hier weiß, daß er das tauſend⸗ 
jahrige Meich zu erleben Hoffte. Die Schwierigkeit, daß während einer 
geſchichtlichen Weltzeit der Satan gebunden fein ſoll, loſt er durch die 
millfürfiche Behauptung, daß derfelbe in der Apofafypfe nur der 
Urheber der entjciedenen Chriſtusfeindſchaft und keineswegs aller 
Sünde fei (S. 288). Das Leben der Gläubigen im taufendjährigen 
Reiche harakterifirt er dadurch, Daß er das Hochzeitsmahl (Kap. 19, 9) 
der Hochzeit jelbft vorgängig (!) denft und aus Joh. Kap. 6 
erläutert (vgl. ©. 290 mit S. 268. 270). Daß der legıe 





Die Offenbarung Iohannie. 768 


Entſcheidungskampf wider Gog und Magog fich bei Jeruſalem voll- 
ziehen werde, welches die Chriſtenheit bleibend als heilige Stätte 
liebe umd ehre, ift er dagegen wieder geneigt, ganz buchftäblich zu 
mehmen. Bon der anderen Seite ſoll auch die zweite Auf 
erftehung feine leibliche fein, fondern nur die Befeligung der Gläu⸗ 
bigen vollenden (S. 297. 298), bei deren Darjtellung im himm⸗ 
liſchen Jeruſalem er danu wieder eingelne Züge wie die Er- 
wähnung der Heibenvöffer (S. 300), die Zahlen der Maße (S. 302), 
die Blätter ber Lebensbäume (&. 303) ungebürlich preßt. Ebenfo 
pocht er dann wieder bei alfer Freiheit, mit der er die apokalyptiſchen 
Darftellungen behandelt, auf die unmittelbare Echtheit einzelner 
Worte Chrifti, auf deren Unantaftbarkeit als verba ipsissima ſich 
die Drohung Kap. 21, 18. 19 beziehen ſoll (S. 307. 308). 
In einer Schlußbetrachtuug verteidigt der Verfaſſer die Apo⸗ 
ftolieität der Apokalypſe. Hier find die allergemagteften und uns 
haltbarften Beweismittel”) buntgemiſcht mit manderlei feinen 
Beobachtungen und anfpregenden Ausführungen. Indem er namente 
lich den Zeitunterfchied zwifhen ihr und dem Evangelium hervor 
hebt, läßt er doch der Sprachverſchiedenheit wegen letzteres nur von 
einem Schüler des Apoftels nach feinen Mittheilungen und in 
feinem Auftrage niedergejchrieber fein (S. 324) und ebenfo ben 
eriten Brief (S. 327), während er die beiden Heinen Briefe dem 
Presbyter zufchreibt, den er auch geneigt ift für den Eoncipienten 
der beiden größeren Schriften zu halten (S. 330). Das Haupt» 
gewicht aber für feine Darftellung und die, wie er meint, auf 
diefem Wege allein zu rettende Canonieität der Offenbarung liegt 
dem Verfaſſer darin, dag fie den Abſchluß der aus der alttefta- 
mentfihen Prophetie herausgewachſenen meſſianiſchen Hoffnungen 
in ber Erwartung einer baldigen Wiederkunft Eprifti unter einer 
beftimmten geſchichtlichen Conftellation concentrirt, und nun in dem 
Apoftel ſelbſt die durch das Nichteintreffen derfelben motivirte Ent- 
widelung eintritt, wonach er die Wiederfunft Ehrifti in der Wirk— 


a) Wir heben nur beifpielsweife hervor, daß der Berfafjer in dem Redenden 
Kap. 19, 9 und Kap. 22, 6 den johanneiſchen Parakiet erblict (vgl. 
©. 321 mit ©. 268. 304). 


764 Böhmer 


famfeit des Paraklet fich ftetig vollzichen, Die erfte Auferſtchung 
in den Gläubigen bereits vollzogen nud das tamjendjährige Reid) 
in dem Siegeslauf des Chriſtentums trog bes Fortbeſtehens der 
Romerherrſchaft verwirklicht ſieht. So gewiß der Verfaſſer hier 
in die bereit® oft widerlegte fpiritualiftiiche Deutung des Evange- 
liums zurüdjällt, die ſchon an den deutlichen Ausfagen des erften 
Briefes über die nahe bevorftehende Wiederkunft ſcheitert, und dar 
durch ſich eine richtige Auffaffung des Entwicelungsganges von den 
eschatologifchen Anſchauungen der Apolalypfe zu denen der beiden 
andern Zohannesfchriften verjchließt, fo gewiß iſt doch auch Hier fein 
geihictliher Sinn und jein aufrichtiges Streben anzuerkennen, 
mit weldem er diejes Problem in den Blick gefaßt hat. 

Mit alledem ift aber noch nicht der Punkt bezeichnet, am welchem 
der Verfaffer der „bis in die Gegenwart ſich fortpflanzenden Ver⸗ 
bfendung“ über den Sinn unferes Buches endlich ein Ende machen 
zu helfen hofft, um dadurch die Lehre von der Heiligen Schrift 
ihrem Abſchluſſe näher zu bringen (S. 328. 329). Denn in 
allem bisher Beſprochenen ift doc nur Weniges fo eigentümlic, 
dag fi der Verfaſſer davon eine ſolche epochemachende Wirkſamkeit 
verfprechen durfte. Und doch könnte eine folhe immer nur durch die 
Auslegung der Schlußlapitel herbeigeführt werben, in denen ja jedenfalls 
zuletzt die eigentliche Pointe der Offenbarung liegt. Das eigentlih 
Neue vielmehr, das ber Verfaſſer bieten will, ift feine Auslegung 
von Rap. 4— 11, die doch, fo viel beftritten in ihnen auch noh 
vieles Einzelne ift, immer nicht eine ſolche Bedeutung für das 
Ganze der Offenbarung Haben, daß eine neue Auffafjung derfelbm 
für ihre Erflärung epochemachend fein könnte. Wir werden aber 
von vornherein bei den Beobachtungen, die wir bisher an der Eregelt 
de8 Verfaſſers gemacht haben, nicht ohne Mistrauen am die ganz 
meue Erklärung herantreten, die uns hier von ihm geboten wird. 
Wir unfererfeits können biefelbe nur als eine ganz verfehlte be⸗ 
zeichnen ; aber wir gehen um fo fieber etwas näher darauf ein, ald 
ſich leicht zeigen läßt, wie ſich in ihr vielfah nur die Fehler und 
Unflarheiten der gangbaren Auslegung gerät haben. 

Der Verfaſſer will nämlich nachweifen, daß Kap. 4—11 feine 
Zutunftsweißagung enthält, fondern eine prophetijche Darftellung 


Die Offenbarung Johannis. 7165 


der vorchriftlichen Heilsgeſchichte. Da nun fehon die Weberfchrift 
1, 1—3 deutlich als ausfchlieglihen Zwed des Buches die Offen- 
barung der Zukunft bezeichnet, die eigentlich nad dem Verfaſſer 
erft Kap. 15 beginnt, fo erflärt er dieſelbe, obwol man in ihr 
doch faft Wort für Wort den Sprachcharakter des Buches nach- 
weifen kann, einfach für unecht (S. 80. 81) und beutet 1, 19 
in der gejwungenften Weife von dem, was Johannes an ben 
Gemeinden gefunden hat, wie es Chriftus anfieht, und von ben 
angedrohten Folgen desjelben (S. 97). Ya es miaht ihm feine 
Schwierigkeit, & dei yevsodaı nera Tadre (4, 1) auf das zu 
beziehen, was nad ber Zerftörung Jeruſalems geſchehen fol, da 
nad feiner Auffaffung erft Kap. 15, wo mir jenfeits jenes Er- 
eignifjes ftehen, die eigentliche Weißagung beginnt. Können die 
dringendften Gegenzeugniffe nur fo gewaltfam entfernt werden, 
umd liegt e8 von vorn herein auf der Hand, da bie vielfach jo 
ganz analogen Darftellungen der erften und zweiten Hälfte (vgl. 
befonders Kap. 8 mit Kap. 16) ohne ausdrüdliche Andeutungen, 
die zugeftandenermaßen völlig fehlen, unmöglich fo ganz heterogen 
gedeutet werden können, jo find wir um fo begieriger, zu hören, 
was benn den Berfaffer zu diefem gewagten Interpretationsverſuch 
bewogen habe. 

Er beruft fich zuerft auf die unbeftreitbare Thatſache, daß 
Kap. 12 von der Geburt Chrifti die Rede fei, und allerdings für die 
herrſchende Ausfegungsweife, wonach die Apofalypje eine fortlaufende 
Reihe aufeinanderfolgender Ereigniffe in einem Gefichte darftellen ſoll, 
bildet dies einen noch ungehobenen Anftog. Statt aber daraus zu 
fofgern, daß eben jene Auffaffung eine faljche fei, daß nur ein neues, 
von ben vorigen gefondertes Geficht jo ab ovo beginrien könne, be— 
guügt ſich der Verfaſſer mit einigen Seitenhieben auf die längft über» 
wunbene Recapitufationsnethode, ohne zu beachten, daß die Frage, 
ob die Apokalypfe ein oder mehrere Gefichte enthält, von den 
Fehlern derfelben völlig unabhängig ift, und zieht dafür die aller- 
dings ganz berechtigte Confequenz jener faljchen Auslegungsweife, 
daß alles, was vor Kap. 12 dargeftellt wird, zeitlich vor die Ge— 
burt Chrifti fallen müſſe. Nur dag mit jener Vorausfegung 
natürlich auch diefe Confequenz hinfällt. In ähnlicher Weife beruft 

Theol. Stud. Jahrg. 1869. 0 - 


166 = Böhmer 


fih der Verfaffer auf die Schwierigkeiten, welche bei der gang 
baren Auslegung die Scene mit dem verfiegelten Buche (Rap. 5) 
hat. Zwar der Beweis, den er anzutreten fucht, daß hierin nicht 
Rathſchluſſe über die Zukunft ftehen können, fondern nur der gött 
liche Erloſungsrathſchluß (S. 56. 58), ift von fo geringem Gewidt, 
daß wir uns dabei nicht aufhalten wollen; allein, wenn er darauf 
aufmerffam macht, wie unſhmmetriſch es fei, daß das legte Sieg 
der fieben, von denen fech® nur ein Kapitel füllen, alles Kap. 8—22 
Dargeftelite enthalten fol (S. 59. 134), fo tft das in der That 
ein fehr berechtigter Einwand gegen die gewöhnliche Anficht von der 
Anlage des Buches, und wenn er daran erinnert, daß doch aus dem 
mit den fieben Siegen verfchloffenen Buche überhaupt erft etwas 
hervorgehen kann, fobald alle fieben Siegel gelöft find, fo wird auf 
diefe Schwierigkeit von den Auslegern viel zu wenig gemirdigt. 
Daraus folgt freilih, daß die Symbolik der Entfiegelung etwas 
correcter gefaßt werden muß, als es gewöhnlich geſchieht; aber wen 
nun der Verfaffer die Begebenheiten, welche bei Löſung der ein 
zelnen Siegel vorgeführt werden, ala Mittel zur Herbeiführung er 
Offenbarung des erft mit der Loſung des fiebenten kundwerdenden Heil 
rathſchluſſes faßt, fo ift das doch in der That feine beſſere Erklärung, 
fondern die naivfte Umdrehung der fymbolifchen Darfteltung‘). 
Ganz unerheblich ift endlich die Beobachtung, daß erft von Kap. 13 
an Ermahnungen zur Treue und zum Glaubensmuth folgen, da ja 
nad) jeder Auslegung in jenen Abfchnitten erft von dem Kampf 
der gegenwärtigen Weltmacht gegen die Chriften die Rede ift, dir 
felben alfo dort erft an ihrer Stelle find. Daß wirklich die bisherige 
Auslegung dem ganzen Theil Kap. 4—11 gegenüber jo rathloe 
dafteht, wie der Verfaffer annimmt, fünnen wir wenigftens nidt 
zugeben; zufegt wird aber doch alles darauf anfommen, ob es ihm 
gelungen ift, bei feiner neuen Grundauffaſſung eine einigermaßen 
befriedigende Deutung des Einzelnen zu geben. 


8) Der Berfaffer ſagt &. 135 wörtlich ganz naiv, man könne die Schilde 
rung: „Als das Lamm das Siegel aufthat, geſchah dag und das” aud um 
tehren und fagen: „Dies und das geſchah umd dadurd wurde eim Giegel 
gelöf.” 


Die Offenbarung Johannis. 767 


Der Verfaffer geht davon aus, daß Kap. 4, 3 ein Thron im 
Himmel aufgerichtet wird, und deutet dies von der Errichtung des 
davidiſchen Königtums, in welchem erft das Unterpfand für das 
aufzurichtende Gottesreich gegeben wurde. Die vierundzwanzig Aelte- 
ften find dann die himmliſchen Urbilder der von David eingefegten 
vierundzwanzig Priefter- und Sängeroberften, die aber dann doch 
wieder &. 131 die Ratheverfammelung Gotteg bilden, und neben 
denen fich freilich die vier Weſen als Repräfentanten aller creatür- 
lichen Lebenskräfte etwas fonderbar ausnehmen. Aber diefe ganze 
Deutung fcheitert einfach am dem Imperfect Zxsızo, das eben nicht 
heißt: „es ward geſetzt“. Dies ift aber keineswegs gleichgäftig, wie 
der Verfaffer S. 119 meint; denn damit ift jede Deutung deö- 
felben auf einen beſtimmten gefchichtlichen Act ausgeſchloſſen, und daß 
der Thron nicht von Ewigkeit her beftehend zu denken fei, Tann in 
dem xsicde an ſich durchaus nicht Liegen. Da trog der Ein- 
fegung des Konigtums, welches die Errichtung des Gottesreiches 
zu garantiren feheint, dennoch der Verfall immer tiefer einreißt, 
entfteht nun die Frage, wie der Heilsrathfchluß fi fortfegen foll. 
Nur der göttliche Erlöfungsrathihlug kann dieſelbe Löfen; aber die 
Ausführung desfelben ift durch den freien Entſchluß des Gottes- 
fohnes bedingt. Die Uebernahme des Erloſungsrathſchluſſes foll 
nun dadurch dargeftelft fein, daß das Lamm das Buch, worin diefer 
Rathſchluß verzeichnet fteht, nimmt (8.7. 8). Aber hat wirklich erft 
zur Zeit des finfenden Königtums der Gottesfohn den Erlöfungsrath- 
ſchluß übernommen? Und kann es wol eine ſchiefere, mißverftänblichere 
Symbolik geben, als wenn Ehriftus, der doch erft in Folge feines 
Todesleidens als gejchlachtetes Lamm erfcheinen kann, nun do in 
diefer Geftalt erft den Entſchluß zum Erlöfertode faſſend gedacht 
werden foll? Nun wird aber gleich darauf das Lamm gepriefen, als 
das, welches gefchlachtet ward und die Gläubigen erfauft umb zu 
Brieftern gemacht hat (Rap. 5, 9. 10). Die Berufung auf das 
fogenannte praeteritum propheticum (S. 132) ift eine reine Aus⸗ 
Flucht, zumal das danebenftehende reine Futurum Baosledaovorw 
zeigt, daß das voraufgehende Präteritum eigentlich zu nehmen ift*). 

a) Ein Irrtum if, daß das Lmoinsas jedenfalls von der Zukunft genommen 
werben muß, ba die erlöfte Gemeinde das Gottesreich bildet, das aus lauter 


768 Böhmer 


Und wenn num das Lamm, ehe es auftritt, ausdrücklich als der 
Löwe, welder gefiegt bat, angefündigt wird (Kap. 5, 5), io 
fheitert daran unrettbar diefe ganze Auffaſſung. Wir brauden 
uns darum nicht bei der Wiberlegung der wunderlichen Exeget 
aufzuhalten, wonach oa Aavid Ehriftum als die Wurzel des 
davidifchen Königtums darftelfen ſoll. 

Erweiſt ſich fo die Bafis, auf welcher ſich die Deutung dee 
ganzen Siegelgeſichts erhebt, als unhaltbar, fo Hat dieſelbe auf 
unter den Vorausfegungen des Verfaſſers in ihrer Einzeldurchfüh— 
rung wenig Anſprechendes. Wir fahen ſchon, daß die einzelnen 
Siegel nur Ereigniffe bringen, welche die Offenbarung des gätt- 
lichen Erlöfungsrathichluffes, wie fie endlich Jeſ. 53 erfolgt, vor- 
bereiten. Was aber num die Siege Davids im erften, die blutigen 
Bruderfriege zwiſchen den getrennten Reichen im zweiten, die fpär 
lien Ernten im dritten, das frühzeitige Sterben im vierten 
Siegel zur Herbeiführung diefer Offenbarung (S. 135) oder zur 
Befeitigung aller Hinderniffe derfelben (S. 130) beitragen follen, 
wie dadurch die Entwidelungsftadien, welche die Prophetie des Alten 
Teſtaments zu durchlaufen hatte, ehe fie zur vollen Erkenntnis de 
feidenden Meſſias fam, angebeutet fein follen (S. 149), vermag 
ich doch nicht abzufehen, felbft wenn man wegen der Betheiligung der 
ta an ihnen hierin die Entfaltung des natürlichen Lebens in Ieratl 
fieht. Die Märtyrer des fünften Siegels müffen nun natürlich 
aftteftamentliche rauen fein, wobei bie Zutheilung der weißen 
leider (Rap. 6, 11) der ganzen fonftigen Symbolik der Apofalypie 
entgegen ihrer Bedeutung entleert und das puxgov. bei xaovor 
kritiſch oder exegetifch meggejchafft werden. muß. Wenn der Ber 
faffer im fechften Siegel das Zufammenbrechen der morſch geworde- 
nen Staaten Israel und Juda fieht und die ſchreckenden Natur 
erſcheinungen, welde von Joel und Jeſaja als Borboten des Gr- 
richtstages aufgefaßt wurden, fo ift diefe Erklärung freilich niät 
ſchlechter, als zahlloſe andere, welche ſich fträuben, Hierin einfach den 
Beginn des Weltunterganges zu fehen; aber wenn der Berfafler 


Prieſtern beſteht. (Ries Amadelay zai Iegeis und vgl. mein Lehrbuch ber bil. 
Theologie des Neuen Teftaments, 8184, c.) 





Die Offenbarung Johannis. 769 


num der Schiwierigfeit, daß die Ungläubigen jener Zeit darin den Zorn 
des La mmes hereinbyechen fehen, dadurch zu entgehen meint, daß der 
Seher ihnen feine eigene Anjicht in den Mund legt (S. 147), fo ift 
damit eben bewieſen, daß der Apofalyptifer nicht an die Gerichte der alt= 
teitamentlichen Zeit, ſondern an das Eudgericht denkt, bei dem 
allein das Kamm, d. h. der einft auf Erden getödtete Meffias, als 
Richter fungiren kann“). Die Berfiegelung der 144,000 in Kap. 7 
bezieht ſich nun darauf, daß die Gläubigen in Israel in Kraft des 
Heiligen Geiftes den Troft der meffianifchen Verheißung in die Zer- 
ftreuung mitnehmen (S. 150.151), die unzählige Schar aus allen 
Zölfern find die berufenen Heiden, deren Pauier nach Jeſ. 11, 10 
der Meffias werden foll (S. 153), wobel Kap. 7, 14ff. wieder 
in der unzuläßigften Weife profeptifc) gefaßt werden ſoll (&.152), 
was freilich auch bei den gangbaren Auslegungen vielfach der Fall 
ift. Mit dem Eingang des 7. Kapitels, der einen Moment des Stils 
ftands im Volkerleben bezeichnen foll, weiß der Verfaſſer nad) ©. 154 
felbft nichts anzufangen, warum aber bei der Eröffnung des fiebenten 
Siegels, die nach feiner Auslegung‘ nur die prophetiiche Offen- 
barung des Erlbſungsrathſchluſſes ift, ein Schweigen „banger Er- 
wartung“ im Himmel eintritt, ift bei ihm nur noch ungleich) 
weniger zu verftehen, wie bei der gangbaren Auslegung. 

Ganz vergeblich bemüht fich der Verfaffer, der augenfcheinfichen 
Analogie der Pofaunengefihte mit den Schalengefichten gegenüber 
jene auf die ſchweren Geſchicke zu beziehen, die über Vorderafien 
und das Volfsgebiet, an das etwa Jeſajas dachte, hereinbrachen, 


a) Merkwürdig ift, daß der Verfaſſer an eine unlösbare Schwierigkeit, die 
fich feiner ganzen Auffaffung entgegenftellt, gar nicht dent. Die neuere 
Kritik erweiſt mit Gründen, denen fich der Verfaſſer bei feiner Auffaſſung 
der Prophetie nicht verſchließen kann, daß die Weißagungen, in beren 
Reihe Jeſ. 53 gehört, der erilifchen Zeit angehören. Num kann es ihm 
zwar feine Schwierigkeit machen, daß der Apofalyptifer mit feiner Zeit 
alle Weißagungen des. Buchs Jeſaja demfelben Propheten zugeichrieben hat, 
aber wenn derjelbe nun die Eröffnung des göttlichen Erlöſungsrathſchluſſes 
im die Zeit des Königs Hisfins ſetzt, fo ift ja feine ganze Zeichnung der 
altteftamentlichen Heilsgeſchichte, in welcher diefe Eröffnung eine jo bedeut ⸗ 
fame Rolle jpielen foll, eine ungeſchichtliche und demnach falſche. 


770 Böhmer 


als Affyrien und Babylonien fi als erobernde Mächte geltend zu 
machen begannen (S. 161). Die Beziehung des hölliſchen Hmm 
ſchreckenheeres und der hölliſchen Reiterſcharen des Kap. 9 auf die 
Aſſyrer und Chaldäer, die den Reichen Juda und Israel ein Ende 
machen, ift freilich um nichts beffer und um nichts fehlechter, als ihre 
Beziehung auf Hunnen und Tartaren, Muhamebaner und Türken; 
aber wir conftatiren nur, wie principlo® die Auslegung des Ber- 
faſſers, die fonft doc oft beffere Anläufe nimmt, Hier in den 
Bahnen der Alfegoriftit geht. Mit Kap. 10. 11 weiß der Ber 
faffer nur dadurch etwas anzufangen, daß er den Propheten ſich 
als den Propheten in abstracto fühlen (S. 172), ja gerade 
ſich an die Stelle Daniels und Ezechiels fegen läßt (S. 174). An 
Erlebniffen wie Dan. 10. 12, 4 und Ezech. 2, 9 bis 3, 9 fol 
in Rap. 10 bie Nacprophetie in der Zeit nach Jeruſalems 
erftem Fall darakterifirt (S. 174. 180), in Kap. 11 die Be 
ftrebungen der nadegilifchen Propheten zur Wiederaufrichtung des 
Tempels und ihre Bußpredigt (S. 181. 182) dargeftellt werden. 
Die beiden Zeugen find aber doch nicht dies prophetifche Zeugentum, 
fondern das wieder aufgerichtete Fürftentum und Hoheprieftertum, 
wobei gelegentlich das Berwandeln des Waſſers in Blut (Kap. 11,6) 
auf das Blutvergießen der Makfabäer gedeutet wird (©. 185). 
Das Thier aus dem Abgrund (Kap. 11, 7) ift nun Antiohus 
Epiphanes felbft ober beffer die Entweihung des Heiligtums durch 
Pompejus, vielleicht au Herodes, der von Rom gefendet wurde. 
Die Tödtung der beiden Zeugen ift die Entweihung der beiden 
Aemter in der ‚herobianifchen Zeit, obwol dann wieder die Eriune ⸗ 
rung an das Schidfal der beiden Onias die Darftellung beftimmen 
fol (S. 187); die Himmelfahrt derfelben ihre Verklärung im 
Bewußtfein der Israeliten; das Erdbeben Kap. 11, 13 die Er 
oberung Jeruſalems durch Pompejus, obwol auch hier die Auslegung 
zwifchen ihm und Antiohus Epiphanes ſchwankt. Selbft daß in- 
mitten diefer Darftellung Jeruſalem als die Stadt bezeichnet wird, 
wo ihr (der Zeugen) Herr gefreuzigt wurde (Kap. 11, 8), ftürt 
den Verfaſſer nicht, da dies nur ein eingejchobener ſchmerzlicher Stif 
feufzer des Johannes -ift (S. 188). In der That, wenn der 
Verfaſſer meint, daß fid die bisherige Auslegung an biefem Kapitel 


Die Offenbarung Johannis. 771 


vergeblich gemüht hat (S. 62), fo gift das noch viel mehr von 
feiner haftlofen, unklaren, zwifchen fchranfenlofem Alfegorifiren und 
buchſtabelndem Preffen der Neminiscenzen an die altteftamentliche 
Prophetie ſchwankenden Erklärung. 

Wenn nun die Lobgeſange im zweiten Theil des Kap. 11 bie 
Geburt des Meffias einleiten follen, fo überficht der Verfaffer, 
dag der Grund derfelben nichts weniger als die beginnende Er- 
Löfung, fondern nach Kap. 11, 18 vielmehr das gefommene Gericht 
ift. Oder vielmehr, er fieht es wol; aber er läßt ſich aud durch 
die Marten Gegenzeugnijje nicht von feinem einmal feftgefegten 
Programm abbringen. Mit der Oeffnung des Himmlifchen Tempels 
(Rap. 11, 19) fignalifirt fi ihm die mit der Geburt Ehrifti be— 

. ginnende Berföhnung (S. 193). Die unhaltbare Erklärung des 
Sonnenweibes von der Maria ift eine durch feine Auffafjung gar 
nicht einmal motivirte Verirrung; daß fie in der Bifion im Himmel 
geſchaut wird, brauchte warlich nicht erft dadurch erflärt zu werden, 
daß fie bei der Empfängnis und Entbindung in einem efftatifchen 
Zuftande gedacht wird (S. 54), ſolche Züge feiner Darftellung 
zeigen nur, wie wenig der Verfafjer in den Grundfragen der Exe⸗ 
gefe der Apofalypfe eine fefte Anſchauung fich gebildet hat. Die 
Mitbeziehung der Geburtsjcgmerzen (Rap. 12, 2) auf Sul. 2, 35 
(S. 200) zeigt, wie willkürlich die einfache Worterflärung fpie- 
lenden Lieblingsgedanfen geopfert wird. Wennbazwifchen S.203. 204 
eine im weſentlichen treffende Erklärung von Kap. 12, 7—12 
gegeben wird (wo der Verfaffer nur die c. Acc. in V. 11 ein 
fach mit „durch“ überfegt), fo ift e8 um fo unbegreiflicher, wenn 
num dicht daneben Kap. 12, 6. 13—16 von Berfolgungen und 
Berleumdungen der Maria gedeutet wird und V. 17 auf wirkliche 
Verwandte der Maria. Mag fein, dag die bieherige Auslegung 
mit diefem Verfe noch nicht ganz in's Meine gelommen ift; aber 
diefe Erklärung Hat denn doc keine Ausficht, etwas anderes zu 
werben, als ein Cabinetsſtück in der exegetifchen Curiofitäten» 
fammlung. 

Daß der Berfaffer das erfte Thier in Kap. 13 von Stalien 
deutet, haben wir bereits gefehen; die Häupter mit dem Namen 
ber Läfterung find demnach die fieben Hügel Roms mit den Tempeln 


772 Böhmer 


darauf, bie geheilte Todeswunde die Herftellung des unter Vitellius 
niedergebrannten Capitols, die Hörner mit den Diademen die 
ſchneebedectten Hänpter des Apennin. Zwingend zu diefer Deutung, 
die ohne jeden Anlaß in ber Grundauffaffung des Verfaſſers die 
Spur der fait allgemein acceptirten Deutung biefes erjten Thiers 
verläßt, foll das eine Maul fein, welches dies Thier trotz feiner fieben 
Häupter hat, und das nur die Tibermündung fein kann (S. 215). 
Wie aber diefes Thier mit diefem Maule läftern und wie es angebetet 
werden foll, darüber ſcheint der Verfaſſer nicht nachgedacht zu 
haben. Bei dem zweiten Thiere hat der Verfaſſer wieder mehr 
und Beſſeres aus der ganzen zeitgefchichtlichen Situation beigebradt, 
als irgend ein Ausleger, nur daß er bei Kap. 19, 20 geneigt ift, 
an die concrete Berfon des Priefters Bafilides zu denken (©. 271; 
vgl. ©. 218. 219), zeigt, daß er auch bei einem fo einfagen 
Problem die richtige Erklarung nicht reinfich durchzuführen vermag. 
Die Zahl 666 Hofft er noch auf einer Denkmünze zum Anbenfen 
der Wiederaufbauung des Capitols zu finden, eventuell tröftet er 
fih damit, daß diefelbe verloren jei (S. 223. 224). In Rap. 14 
findet er endlich die Zerftörung Serufalems. In der Einleitung 
fingen trog der ausbrüdlichen Angabe in ®. 3 die 144,000 Er 
wählten aus Israel ein aus Schmerz (?) und Freude gemiſchtes 
Lied über den Fall Yerufalems, das der Verfaſſer gleich felbft aus ver- 
fchiedenen Pfalmen componirt (S. 227); er ift geneigt, anzunehmen, 
daß fie, die doch nach feiner Deutung von Kap. 7 allen Perioden der 
i8raelitifchen Gefchichte angehören müſſen, wirklich in der Erwartung 
de8 nahen Endes der Ehe entfagten (S. 230), und auf Grund 
einer Sage bei Tacitus ſcheint er zu glauben, daß etwas Achnliches, 
wie die Verſammlung derfelben auf dem Berge Zion, wirklich ftatt- 
gefunden habe. Der Zerftörung Jeruſalems geht nach Matth. 
24, 14 voran die Verfündigung des Evangeliums unter allen 
Volkern (8. 6—11); Kap. 14, 8 ift dem ganzen jonftigen Sprach⸗ 
gebrauch der Apofalypfe entgegen wirklich das alte Babel gemeint 
(S. 234); Rap. 14, 15. 18 ift der irdifche Tempel mit feinem 
Opferaltar gemeint, trogdem dazwiſchen V. 17 von dem Himm- 
liſchen die Rede ift, und darin, daß das Gericht V. 19 ale Wein⸗ 
telterung gedacht ift, Tiegt „der Mare Beweis“, dag an den 





Die Offenbarung Johannis. 773 


Weinftod des jübifhen Volks (ef. 5) gedacht ift (S. 238). 
Auch die Deutung dieſes Kapitels genügt, um die unmethobifche und 
darum Haltlofe Exegeje des Verfaſſers ausreichend zu charakte- 
riſiren. 

Wir ſchließen unſere kritiſche Revue mit dem erneuten Be- 
dauern, daß der Verfaffer, der mit feinen gefunden Grund- 
anſchauungen fo viel beſſere Hoffnungen erweckt, fid durch Lieb⸗ 
Kingsgedanfen, deren Unhaltbarkeit nad; unferen kurzen Andeutungen 
ſchon evident fein wird, Kat verleiten laſſen, in die Reihe derer zu 
treten, welche ſich durch exegetifche Mishandlungen an dem herr 
lichen Schlußbuc des Neuen Teftaments verfündigt haben. 


. Brof. Dr. Weiß. 


Theol. Stub. Jahrg. 1869. 51 


Bericht gungen. 2 


Here Paflor Achelis im Hafledt kritiſtrt S. 415 dieſes Jahrganges meinen 
Wunderbegriff. Beide zur Begründung feines Urteils angeführten Stellen 
find nicht von mir, fonbern fo gut, wie der betreffende Abſchnitt überhaupt, von 
dem Berfaffer. des Bibefwerkee, D. Eh. C. I. Bunfen, wie ich, um Irrungen 
du vermeiden, gleich zu Anfang des Bormwortes zu Bd. VEIT mittheifte, 

Heidelberg, 15. April 1869. Holämann. 


Gern nehme ich hierdurch die gegen Herrn Prof. D. Holgmann gerichtete 
Stelle in meinem Auffage über D. R. Rothe zurück und bebauere fehr, bie 
Mitteilung von D. Holtzmann in dem angeführten Vorwort überfehen zu haben. 

Haftebt, den 21. April 1869. Achelis, Paſtor. 





Im dem kurzlich erſchienenen Bud: „Wiefeler P. @., Beiträge zur ridtigen 
Würdigung der Evangelien und der evangeliſchen Geſchichte“ wird gebeten 
Bolgenbes zu berichtigen: 

S. XI, 3. 5 von unten des Vorworts. Hier iſt durch ein Verfehen ein 
- a Bee wear KR © KU Be a am oben ven 

Worten: „Was die verjdjiebenen Eharakteriftiten. . . . betrifft 
u. |. m.“ hätte gemacht werden follen. 





Inhalt des Jahegangts 1868. 
Juhalt der erſten Heften. 


Abhandlungen. 
1. Weiß, Apotalyptiſche Studien. . ... 
2. Weiß, Die Grundzüge der Heilslehre Jeſu bei den Synoptilern.. 
3. Barmann, Zur Geſchichtsſchreibung und Sittenlehre Hermanns von 
Nädenaum . 2.2000. rennen. 
Gedanken und Bemerkungen. . 
1. Tholuck, Das Abendmahladoema in der neueren lutheriſchen Theo» 
„ne Fa 





Recenfionen. 
1. Zahn, Maroillus von Aucyra; vec. von Möller. . . .. . 
2. Krigler, Hemanität und Ehriftentum; vec. von Richter . . .- 
3. Knaake, Johannis Staupitii opera omnia (a. n. d. T.: Johann 





von Staupitzens ſanuliche Werke); .ree. vor Bindfeil. . . . . 
Elm . > 2222er rn 
Inhalt des zweiten Heftes. 
Vormt.. 22... ME .. . .. 
Abhandlungen. 
1. Riehm, Zur Eharakteriftit der meffianifcgen Weißagung und ihres 
Berhäftniffes zur der Erfüllung; dritter Axilel.. 


2. Riene, Der Epheferbrief ein Sendſchreiben des Paulus an. die Helden- 
Hriften ber fieben (?) kleinafiatiſchen Gemeinden, welche mit Ephefus 
eine engere Verbindung bildeten . . . - » ..... 

Gedanken und Bemerkungen. 
1. Sad, Pſychologiſch - moraliſche Bemerlungen mit Bezug auf bie Ge- 
ſchichte Lehre vom Sundenfalle...4 . 
Necenfionen. 
1. Dorner, Geſchichte ber proteftantifchen Theologie; rec. von Tholud 
2. Kamphanfen, Das Gebiet des Herrn erflärt; rec. von Rüetſchi 
Miscelten. 

Programm der Haager Gefellichaft zur Verteidigung der chriſtlichen Re- 

Higion füc das Fahr 168 2 2 2 2 2 oe 





103 


203 


209 


285 





776 Suhaft des Saheganges 1889, 





Inhalt des keitien Heftes 
Abhandlungen. Er 
1. Achelis, D. Rideard Rothe . Pa 39% 


2. Diepta, Die Kor von der Iufpiraian ber Shit . 

8 RLBpper, Die@ehentung und ber Sue bes Abfenitte Kö. 512-1 46 
Gedanken und Bemerkungen. 

1. Burkhardt, Ueber die Glaubwurdigkeit der Auiwort Luthers: „Die 








ieh? ich, ich Tann micht anders, Gott Heiff mir, Amen“. . . . . 517 
3. Oraf, Zu den evamgelifhen Berichten von der Auferſtehung Jen 
Die Belfung nah Balilde. . 2200 532 
Recenfionen. 


1. Wolters, Conrad vom Keresbad; und ber eleviſche Hof zu feiner Zeit, 
und: Reformationsgefdiähte der Stabt Weſel; rec. von Willens . 545 
2. Piper, Einleitung in die monumentele Theologie; rec. von ®rümeifen * 
3. Peip, Zum Beweis des Glaubens; rec. von Barmann . 
Miscellen. 
Programm der Mu Bere theologifchen Geſellſchaft zu Ganzen fe 
das Jahr 1899. 2 2 2 one . brl 


Anhalt des vierten Heftes. 





Abhandlungen. 
. Beyſchlag, Zum Andenlen an D. Carl Immanuel Nitzſch. . . 577 
2. Brucker, Ueber die urfprüngfichen Stellen von Luk. 6, 39. 40 = 


Matth. 16, 143 1,4 222 en 616 
3. Köhler, Das römiſche Recht und die Kirche - : . - . 2.» 657 
u Gedanken und Bemerkungen. i 
1. Bolz, Die chriſtliche Kirche Aethiopien® . » 2 0. w...8 
2. Hollenberg, Noch einmal das Eoterilhe » -  - - - - - na | 
NRecenfionen. 
1. de Lagarde, Genesis Graece und Hieronymi Quaestiones He- 
braicae; rec. von Ramphaufen - 2. 22000. 72 
2. Böhmer, Die Offenbarung Johannis; ver. von Weiß . . . . 78 





Perthes Vuchdrucerei in Gotha. . 


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