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Full text of "Theologische Studien und Kritiken : eine Zeitschrift für das gesamte Gebiet der Theologie"

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ANDOVER-HARVARD LIBRARY 
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Theologifhe 
Studien un Kritiken. 


Eine Zeitſchrift 
nf ü 
dag gefammte Gebiet der Theologie, 
| | in Berbindung mit | 
D. Gieſeler, D. Luͤcke und D. Nitzſch, 
| — 
| ar | 
D. 6, ulimann und D. F. W. C. umbreit, 
Profeſſoren an dee Univerfität zu Heidelberg. . 


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1839, 
3Bwölfter Jahrgang. 
Erfter Band. 


Hamburg, 
bei Friedrich Perthes, 
183839 ' 


Theologiſche 
Studien und Kritiken. 
Eine Zeitſchrift 

a j für | | 
das geſammte Gebiet der Theologie, 
er Verbindung mit 


D. Gieſeler, D. Lüde ind D. Nitſch, 


herausgegeben 


von 


D. C. Ullmann und D. F. W. E. umbreit, 
Profefloren an ber Univerfität zu Heidelberg. 





% 


Jahrgang 1839 erſtes Heft. 


— 
* 
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Hamburg, 
bei Kriedbrih Perthen, 
—_ 1839. 






—A 


Snhalt des Sahrgangd 1839, 
Erfies Heft. 


Seite 
Abhandlungen. 
Lange, über die Authentie der vier Evangelien, erwie⸗ 
fen aus dem Charakter ber vier Evangeliften 7 
Rettberg, Decam und Luther oder Vergleich ve ar 
vom heiligen Abendmahl . . . . 


Arndt, nn zur Entſcheidung des Streites ber die 
Echtheit der Briefe des Ignatius von Antiohien 186 
Gedanten und Bemerkungen. 


Umbreit, Probe einer Auslegung der ae 
ſchichte der Genefis . R . 189 


Sarnad, über die göttliche Autorität ber neuteftaments 
lichen Schriften . r . . . . 


209 

Recenfionen. 
Sad, dhriftliche Polemik; vecenfirt von Dr. en 248 
25 


Reuchlin, das Chriftentbum in Frankreich innerhalb 
und außerhalb der Kirche; rec. von Dorner 


Zweites Heft. 
Abhandlungen. 


Tholuck, die Reben bes Apofteld Paulus in ber Apoftel- 
geſchichte, mit feinen Briefen verglichen. . 805 
829 


Haſſ us) noch ein Wort über bie Stelle in a. 
des Märtyrers Xpologie 1, p. 6 = 


Hofmann, unter welder Dynaftie haben bie Iſraeliten 
Aegypten verlaſſen?... . . 888 


Gedanken und Bemerkungen. 


Kling, — Eroͤrterungen uͤber einige Ab⸗ 
ſchnitte der Korintherbrife. 481 


Hitzig, über die Stelle Prediger 8, 11 ar -% 518 
3Zyro, kirchenhiſtoriſches Actenftüd aus dem Sonventss 
archive zu Bern. N. XV. ee . 518 
Necenfionen. 


Ueber Ratur und Werth des ekftatifchen Hellfehens fowdhl in 


pſychologiſcher, religionsphilofophifcher und eres 
getifher, ald auch dogmatiſcher Hinficht; rec, 
von Dr. ©, Meyer . . . . . + 525 


ueberſichten. 


Ueberſicht der Litteratur der praktiſchen Theologie in ben Sad 


ren 1832, 1833, 1834, 1835, 1886; von Dr. | 
see. 589 


| un. Inhalt. 


Drittes Heft. 


Abhandlungen. 


1. echter, & über den Begriff der Apologetik. Ein hiftorifch- 
kritiſcher Beitrag zur — der Aufgabe, 
Methode und Stellung dieſer Wiſſenſchaft. . 
2. Schmidt, Meifter Edart, Ein Beitrag zur Geſchichte 
der Theologie und Philofophie des Mittelalters 
Gedanken und Bemerkungen 
1. Grimm, Abstammung des Wortes Sünde . . « 
2. Schulz, — ——— über das — 
8. Herzog, een über Bwingl?’s Sehre von ber 
Borfehung und Gnadenwahl . . R . 
Mecenfionen. 
Die Briefe Pauli an bie Korinther, bearb, v. £. J. a 
rec. von. Klin - . . . 
Ueberſichten. 


Ueberficht der Litteratur ber praktiſchen Theologie in ben Jah⸗ 
zen A 1838, 1834, 1885, 1836; von Dr. K. 


H. Sad a Sr ee 
Viertes Heft. 
Abhandlungen. 


1. Adermann, Beitrag zur theol. Würbigung und Abwaͤ⸗ 
gung ber Begriffe zusüun«, vous und Geiſt 
2%. Schweizer, Erklaͤrung d. Erzählung Matth. XXI, 28-82. 
Gedanken und Bemertungen. 
1. Gederholm,-über eine Kegerei in Euther’s Katechismus, 
Ein Senbidreiben an Hrn. Prof, Nitzſch in 


Bonn —— a a 
2. Antwort des Dr. Kisf$ - 
3. Rind, Bemerkung üb, bie erften Sefer bes Hebröerbriefes 
Recenfionen. 
1. Benede, über bie wiff nel Beitanfi ꝛc.; 
rec, von Meyer. . 


2%. Gfroͤrer, Geſchichte bes Urdeifentgums;. rec. von 
Bieſele... 


861 


Abhandlungen 


3 


Theol. Stud. Jahrg. 1839. 1 


1. 


Die 
Authentie der vier Evangelien, 
erwiefen 
aus dem anertannten Charakter ber vier Evangeliften, 


von 


O. P. e ei n 9 e 4 
evangel. Pfarrer in Duisburg. 





8). Eritifchen Unterfuchungen über ben Urfprung und 
die Authentie der vier Evangelien befchränfen fich meift 
darauf, diefe Bücher zu betrachten nach ihrer eignen 
inneren Befchaffenheit, nach dem Berhältniffe, worin fie 
unter einander ftehen, und nach ihrem’ Berhältniffe zu der ' 
irchlichen Tradition oder nach den Zeugniffen, welche 
über Diefelben vorhanden find. Das Berhältniß aber, 
worin die vier Evangelien zu dem Charakter ber vier 


Evangeliſten ſtehen, wird bei diefen Unterfuchungen fo gut _ 


wie gar nicht beachtet; höchftend nimmt man einige Rück⸗ 

‚fiht auf die Perſönlichkeit des Lukas und ded Johannes, 

wenn von der Eigenthümlichkeit der beiden Evangelien die 

Rede iſt, welche diefen Männern zugefchrieben werden. 

Und doc Liegt die Frage: wie die Evangelien zu dem ges 

ſchichtlich darſtellbaren Charakter der Evangeliften, benen 
1% 


⸗ 


8 7. Bange 

‘fie zugefchrieben werben, ftimmen, fehr nahe. Es läßt ſich 
aber auch nachweifen, daß diefe Frage nicht vergeblich ift, 
fondern zu bedeutenden Refultaten führt. Sind und auch 
nicht viele einzelne Züge von der evangelifchen Geſchichte 
aufbewahrt worden, vermittelft deren man die Charakter⸗ 
zeichnung der Evangeliften vollziehen könnte, fo find das 
gegen die wenigen Züge, welche wir von jedem einzelnen 
haben, fehr bedeutend und folglich charafteriftifch. Und 
gerade diefe prägnanten Schattenriffe, weldye und von 
ben vier Evangeliften gegeben find, finden wir den vier 
Evangelien unauslöfchlic, eingeprägt. Die Individualität 
der erfteren ſtimmt mit der Sndivibualität der leßteren 
durchaus und fcharf überein; folglich läßt fich die Authentie 
der vier Evangelien aus dem Charakter der vier Evans 
geliften erweifen. In den nachfolgenden Skizzen ſoll es 
verſucht werden, dieſe Behauptung zu begründen. 


1. Matthäus, 


Matthäus, der Apoftel Chrifti, welcher mehrmals, 
auch noch in der Apoftelgefchichte CL, 13), unter den Zwöls 
fen mitgenannt wird, war früher Zolleinnehmer am See 
Genezareth. Sefus berief ihn vom Zollamte zum Apoſtel⸗ 
amte nach dem übereinflimmenden Zeugniffe der fynoptis 
fhen Evangelin (Matth. 9, 9.5 Mark, 2, 13 ff.; Luk. 
5,277.). Wenn aud bei Markus und Lukas der vom Zolle 
berufene Jünger Levi genannt wird, ‚fo. ift doch nicht im 
mindeften daran zu zweifeln, daß fie denfelben meinen, 
der im eriten Evangelium Matthäus genannt wird; denn 
offenbar erzählen fie alle Drei diefelbe Berufungsgefchichte, 
und auch bei Markus finden wir nicht den Mamen Levi, 

wohl aber den Namen Matthäus im Berzeichniffe der - 
Apoftel mitangeflihrt. Diefe letztere Bemerkung genügt 
auch fchon für ſich, bie äußert fubtile Argumentation 
Sieffert's (in der Schrift: über ben Urfprung des erſten 
kanon. Ev.) zu entkräften, wodurch derfelbe darthun will, 





uͤber die Authentie ber vier Evangelien. 9 


Markus und Lufas hätten bei ihrer Erzählung won der 
Berufung des. Levi unmöglich den Apofiel Matthäus ges 
meint. Wäre der Levi ein Anderer gewefen, ald der Apoſtel 
Matthäns, fo müßte er fich unter ben Apofteln wieder, 
finden. Die Boransfegung Sieffert's, daß .eine ſolche 
fpeciele Berufung wie biefe, welche au ben Levi erging, 
nicht die Bedeutung gehabt habe, ihn in den Kreis der 
Apoftel zu ziehen, ift höchft .unmahrfcheinlich, zumal Da 
. biefe Berufung in der Form gang mit jener zufammens 
fimmt, welche Petrus und Andreas und die Söhne bed 
Zebedäus empfingen. Wir bramchen uns jeboch um fo 
weniger bei diefem angeführten Zweifel an der Identität 
des Matthäus und Levi aufzuhalten, da auch Sieffert da⸗ 
bei bleibt: „gewiß war auch ber Apofel Mats. 
thäus ein Zöllner gemefen.” 

Zuerft wollen wir nun biefen Zug betrachten, baß 
Matthäus vor feiner Berufung ein Zolleinnehmer war. 
Ueber feinen fittlichen Eharafter, fowie liber feine Begas 
bung und Sndividualität gibt ung diefer Umftand an und 
für fid) feinen Auffchluß, wohl aber führt er und darauf, 
dem Matthäus eine gewifle Bildung, namentlich aber eine 
gewilfe Geübtheit im Schreiben unb in der fchriftlichen 
Darftellung beizulegen. Die Fähigkeit, fchriftliche Con⸗ 
cepte zu machen, war ein Erforderniß feines Berufes. 
Sein Beruf aber nöthigte ihn nicht nur überhaupt, zu 
fchreiben, fondern er nöthigte ihn auch, in einer beftimmten 
Art zu fchreiben, nämlich nach den Erforderniſſen des 
Bermwältungslebend, nach den Regeln der Büreaud, wenn 
auch das Büreaumefen zur: Zeit, des Matthäus noch bei 
Weitem nicht fo ausgebildet und georbnet feyn mochte, ale 
in der gegenwärtigen. Matthäus der Zöllner arbeitete 
.alfo nah Rubriken und Fächern; er fchrieb Tabellen und 
fchematifirte, So wurde feine Anfchauungsweife Durch tägs 
liche und anhaltende Gewöhnung zu einer fchematifirens 
den gebildet. Es mußte ihm zum Bebhrfniffe werben, bie 


10 „. ange 


Borkommniffe des Lebens, welche er zu concipiren hatte, 
nach dem Schema des Gleichartigen und Zufammengehöris 
gen zu vertheilen und zu ordnen. Dabei war er durch 
fein amtliched Leben gewöhnt, einerfeits, was den cons 
creten Beitand in den Vorkommniſſen, die er zu verzeichnen 
hatte, anlangt, genau zu verfahren, andererfeitd aber bie 
anfchaulichen, malerifchen Züge und Nebenumftände der 
Thatfachen oder Begebenheiten fallen zu laffen. 

- Der zweite Zug, der unfern Matthäus näher charaltes 
riſirt, ift Diefer: er war ein folcher Zöllner, der in einen 
Apoftel Jeſu Ehrifti verwandelt werden konnte. Dieſer 


- Umftand ftellt ihn nicht nur über ben gemeinen Haufen ber 


Zöllner, die in wüſter oder raffinirter Weltlichkeit lebten, 
ſondern auch Über die beffere Claſſe, über Die Bußfertigen 
und Heildbegierigen feiner Standesgenofien. Er muß im 
Kleinen treu geweien ſeyn, fonft hätte ihn der Herr nicht 
.gefeßt über Großes. Er muß bedeutend gewefen ſeyn in 
feiner Perfönlichkeit, wohl begabt, fonft wäre er kaum 
unter die fiebenzig Sünger, gefchweige denn unter die 
Zwölfe geftellt worden. Er muß aber auch innig und ernft 
gelebt haben in feinem ifraelitifchen Volksglauben, fonft 
wäre er ale ein Sfraelit, der tiefin Galiläa, in der Mitte 
des provinziellen Volkslebens feine geiftige Stellung hatte, 
auf alttefiamentlichen Geifteswegen nicht zu der Erfennts 
nig Ehrifti und feiner neuteftamentlichen. Herrlichkeit ges 
fommen. Wir lernen demnad) in Matthäus einen ifraes 
Litifchen ZoNbeamten kennen, ber ſich durch fErenge Nechts 
lichkeit, durch ein bedeutendes Talent und durch echt 
altteftamentliche Frömmigkeit, die bei einem folchen nicht 
ohne ein tüchtiged Maß altteftamentlicher Schriftfenntnig 
zu benfen ift, auszeichnete. | 
Diefer Zöllner ward zum Apoftelamte berufen durch 
die Gnade Jefu Chriſti. Das iſt der dritte Zug, der und 
mit feinem Charakter vertraut macht. Er empfing den 
herrlichſten und heiligften- Menfchenberuf, einen Beruf, 





über bie Authentie ber vier Evangelien. 11 


der in jeder Beziehung mit feinem früheren in erhabener 
Schroffheit contraftirte. Er war ber Zoͤllner⸗Apoſtel. Das 
lebendige Gefühl diefed Contraſtes aber muß ihn felber 
am meiften innig und bleibend erfüllt haben. War er auch 
in fittlicher und religiöfer Beziehung ald Zöllner über feine 
Standesgenoſſen erhaben gewefen, war er auch befier ges 
wefen, ald fein Stand, fo hatte ihn doc, einmal fein Herz 
und feine Lebensführung einft in jenen zweidentigen Stand 
hineingeführt, und im Lichte der chriftlichen Erkenntnig 
mußte er fich auch aller inneren Sünpdigfeit, alles deffen, 
was er mit den Zöllnern gemein hatte, wohl bewußt wers 
; den. Sn wie mannichfacher Weife aber drängte ſich ihm 
der große Gontraft immer wieder auf! Er hatte auch bie 
Schmach des Zöllnernamend mitgetragen; jebt war er 
mitberufen zu der Ehre, zu fiten auf einem der zwölf 
Stühle, welche fürftlich erhöht waren über die zwölf 
Stämme Iſraels. War auch der Apoftelname vor ber 
Melt ebenfowohl wie der Zöllnername gefchmäht, fo fühlte 
Doc, Matthäus das wefentlich Ehrenreiche diefed Namens 
und wußte, was berfelbe im Reiche Gotted galt. Gr hatte 
auch als Zöllner einer ausländifchen Macht gedient in bes 
denklicher Stellung zu feinem Volle, und nun war feine 
Stellung fo günftig gewendet, Daß er demgroßen David's⸗ 
erben, dem wahrften Könige feines Volkes in dem reinften, 
fegensreichiten und. bedeutendften Berufe dienen Tonnte, 
Als Zöllner war er zu Kleinlichen, peinlichen und äußers 
lichen Gefchäften fortwährend verpflichtet gemefen, als 
Apoſtel war er num zu ber innerlichften, menfchenfreunds 
lichften und großartigften Arbeit berufen. Als Zöllner 
ftand er im täglichen Verkehre mit Zöllnern und Sündern, 
mit Schwägern und Schwärzern; ald Apoftel war er in 
die licht » und liebreiche, hohe Gemeinſchaft mit Chrifto 
und feinen Vertrauten verfeßt worden. Während er in 
- feiner früheren Stellung von einem Geifte umgeben war, 
der ihn auch noch von feinem beſchraͤnkten, vollsthümlichen, 





12 | Range 


altiſraelitiſchen Standpunkte niederzuziehen drohte in bie 
Finſterniſſe der bürgerlichen Schlechtigfeit und Verworfen⸗ 
heit, fand er nun unter dem Walten eines andern Geiftes, 
der ihn durch Gnade und Wahrheit von diefem Stand» 
punkt altteftamentlicher Frömmigkeit hoc, emporzog und 
in das herrliche Wefen, in bie neuteflamentliche Freiheit 
der Kinder Gottes verfegte.. Alle biefe großen Eontrafte 
Sagen in dem einen Eontrafte, den Matthäus Hurchmachte, 
indem er aus einem Zöllner ein Apoftel ded Heren wurde; 
und ohne Zweifel mußten fie feinem erleuchteten Bewußt⸗ 
ſeyn ind hellſte Kicht treten; fie mußten ihm in feiner Dank⸗ 
barkeit für die große Gnade des Herrn immer mehr Har 
werden. So aber wurde durch feine befondere Erfahrung 
fein Blick geübt für die großen Gegenfäße, welche übers 
haupt im Leben, befondere aber in ber evangelifchen Ges 
fchichte vorfommen, und für dad daß fich in 
folchen ———— ausſpricht. 
® 

Das find bie ERNERENELLO.DR Züge in dem Charakter 
des Evangeliften Matthäus. Diefer Schattenriß feiner 
Perfönlichkeit muß fid feinem Evangelium eingeprägt has 
ben. And wenn fidy das nicht etwa nur in leifen Spuren, 
fondern in den befiimmteiten Merkmalen fundgibt, fo 
wiffen wir gewiß, daß das Evangelium in ber ————— 
den Geſtalt von ihm iſt. 

Nicht alle Apoſtel und Evangeliſten haben ———— 
geſchrieben. Diejenigen aber, welche die vier Evangelien 
geſchrieben haben, zeigen ſich dazu beſonders disponirt 
durch die Eigenthümlichkeit ihres Weſens oder ihrer Bil⸗ 
dung. Sie hatten Beruf dazu vor allen andern Apoſteln 
und Evangeliſten. Johannes erſcheint und überall in über⸗ 
wiegender Hinneigung zu dem beſchaulichen, betrachtenden, 
darſtellenden Leben. Er konnte nicht mit Petrus wett⸗ 
eifern im apoſtoliſchen Miſſionsweſen und Kirchenregimente, 
denn bie Thatkraft trat bei ihm ſehr zurück. Petrus konnte 








über bie Kuthentie der vier Evangelin. 43 


nicht mit ihm wettelferu in der apoftolifchen Theologie, 
denn bie tiefe Erleuchtung ded Johannes war Der heile 
Gipfel apoftolifcher Erfenutniß. So mußte er zum Schrifts 
fieller des neuen Teftamentes werden. Lukas warb «Is 
beilenifch gebilbeter Arzt, als zeifender Wahrheitsfreund 
und als Evangelift für litterarifch Gebildete zum Sammeln 
und Verbinden evangelifcher Berichte angetrieben. Der 
Evangeliſt Markus mit feinem fenrigen, raſch gufahrenden 
Unternehmungsgeifte mußte ſich auch auf diefen Zweignens 
teftamentlicher Wirkſamkeit legen. Und fo müffen wir auch 
für das erſte Evangelium einen Wann fuchen, der in ſei⸗ 
ner Gemüthsart oder in feiner Lebensbildung eine befondere 
Diepofition zum Schreiben hatte; dieß it Matthänd, ber 
ehemalige Zolleinnchmer, ber durch feinen Beruf in diefer 
Thätigleit wohl geübt war. 

Es Täßt ſich aber elbarten, baß die Auffafiungsweife, 
welche ihm in feinem Büreauleben zur Gewohnheit gemors 
den ift, der ſchematiſirende Ordnungsſinn, auch in feinem 
Werke fich -Fundgeben wird. Und fo- finden wir’s in der 
That. Indem Evangelium bed Matthäus hat ein gewals 
tiger Trieb, zu rubriziren, dad Gleichartige zufammens 
zuſtellen, überall bie. chronologifche Folge der Begebenheis 
ten Durchbrochen. Dieß ift der unauslöſchliche Charakters 
zug des Matthäus! Wenn daher Sieffert uud Schnedens 
burger die Behauptung aufftellen , es laſſe fich nicht denken, 
daß ein Evangelift oder Apoftel wie Matthäus felber bei 
feiner Eunftlofen Darftellung der Gefchichte Jeſu unwills 
fürlich in diefe künſtliche Manier gerathen feyn follte, den 
hronologifchen Faden zu verlaffen und folche Compofls 
tionen bed Bleichartigen vorzunehmen, fo haben fle au 
eine folche firirte Aufchauungsweife des Matthäus nicht 
gedacht; fonft hätte fi, ihnen fofort Die Weberzeugung 
anfgedrungen, daß es für ben Matthäus gerade das 
Leichte, das Unwillkürliche, bad Kunftlofe ſeyn 
mußte, ſich die Momente der. enangelifchen Gefchichte nach 


4 ange 


gewiſſen Fächern zurecht zu legen. So iſt alſo dieſe Ei⸗ 
genthümlichkeit des Evangeliſten ganz und gar zu einer 
Eigenthümlichkeit des Evangeliums geworden. Wahr⸗ 
ſcheinlich hat auch Papias dieſes ordnende Verfahren des 
Matthäus im Sinne, wenn er von der Schrift des Mar⸗ 
kus ſagt: od raͤßet. Auf dieſe Weiſe entſtanden alſo die 
großen Compoſitionen im erſten Evangelium. Die Berg⸗ 
predigt, bad Wunderverzeichniß von Kap. 8 — 10, in 
welches Matthäus auch feine Berufung (oielleicht nm fie 
als ein Wunder der Gnade darzuftellen) miteinfchiebt, und 
Die Snftructionen für die Apoftel (Kap. 10) geben fich zuerft 
als folche Compoſitionen zu erfennen. Weniger deutlich 
erfcheint als eine folche die Darftelung des alljeitigen 
Verhältniſſes Chrifti zu den Menfchen, und zwar erftlich 
zu Johannes dem Täufer, dann zu dem Gefchledhte feiner 
Zeit, insbefondere zu den galililfchen Städten, ferner 
zu den Pharifäern, endlich auch zu feiner Familie (K. 21 
und 12). Sehr beitimmt tritt wieder die Sammlung der 
Sleichniffe hervor (Kap. 13). Weiterhin macht fich das 
Recht der Geſchichte und des chronologifchen Verlaufes 
geltend; Doch möchten audy hier noch die Spuren des ord⸗ 
nenden Sinnes deutlich genug hervortreten. . Die feinds 
feligen Gewalten im jüdifchen Lande treten nacheinander 
auf; erſt Herodes, der Mörder des Johannes, dann Die 
Schriftgelehrten und Pharifäer ale Vertreter der Satzun⸗ 
gen, dann die Pharifäer mit den Sadduzäern ald Bers 
ſucher. So bewölkt ſich in höchft bedeutfamer Steigerung 
ber Horizont des Lebens Jeſu. Erſt erſcheint Galiläa als 
ein unheimliches Gebiet für den Herrn, dann auch Judäa; 
erſt ſignaliſirt ſich die Partei der Phariſäer als eine chriſt⸗ 
feindliche, dann auch mit ihr die Partei der Sadduzäer; 
die ſonſt Verfeindeten erſcheinen als Verbündete im Haſſe 
wider ihn. Nachdem uns der Evangeliſt alſo die Noth, 
welche dem Herrn von ſeinen Feinden bereitet wird, ge⸗ 
zeigt hat, enthüllt er uns auch die mannichfache Noth, 


über bie Authentie ber vier Evangelien. 15 


welche ihm feine Jünger bereiten (Kap. 16, 17 u. 19. 
Weiterhin entfaltet Chriſtus in mannichfaltigen Beziehungen 
das geiftliche Wefen feines Himmelreichs bis zum Schiuffe 
des 20. Rapiteld. Dadurch ift nun der lebte große Kampf 
mit den Pharifiern und Schriftgelehrten motivirt, deſſen 
Darftellung bis zum Schluffe des 23. Kapitels geht. Im 
24. Kapitel vernehmen wir die Weißagungen Ehrifti von 
dem Weltende, im 25. die Berfündigung des Weltgerichte, 
Dann tritt die Äberwiegende Macht der chronologifchen 
Folge in den großen SchIußbegebenheiten Des ADLER 
Wandels Sefu wieder hervor. , 
Haben wir im erften Evangelium zuerft das Gepräge 
eines Geiftes gefunden, ber zu fchematifiren gewohnt war, 
und barin die Auffaffungsweife des ehemaligen Zolleins 
nehmers Matthäus erkannt, fo müſſen wir nun zufehen, 
ob ſich auch der Charakter der altteftamentlichen, volles 
thümlichen Frömmigkeit, wie fie fich in dem Leben eines 
wahrhaft 'religiöfen, jüdifchen Provinzialbeamten dars . 
ftellen mußte, in dbemfelben Evangelium zu erfennen gibt. 
Diefe auf das A. T. fich gründende, echt ifraelitifche Res 
ligiofität beurfundet dad Evangelium des Matthäus in 
hohem Grade. Der Evangelift begründet die Meffianität 
Shrifti zuvörderft mit feiner dDavidifchen Abflammung. Die 
Genealogie Ehrifti ftellt er. an bie Spiße des Evangeliums, 
wie ed einem an trodene Bündigkeit gewöhnten Verfaſſer 
fo wohl anftebt. Daß er bierbei fogleich fchon disponirt 
und ordnet und dreimal vierzehn Glieder aufzählt, ver» 
rath nicht nur den zählenden Beamten, fondern auch den 
theologiſirenden Sfraeliten. Und nun gebt er bei jeder 
Begebenheit in der Kindheitögefchichte Jeſu auf eine Weißa⸗ 
gung im alten Teftamente zurück, und beurfundet dadurch 
gleichmäßig feine fromme Belefenheit, feinen tiefen Eins 
blid in den Geift der Schrift und feine hebraifirende Des 
morftration der Meffianität Chriſti. Es lag fo ganz in 
dem Beruf eines folchen Apofteld, deſſen Glaubensleben 








16 Lange 


fo tief in dem galilätfch sAfraelitifchen Volksleben wurzelte, 
fein Evangelium zunächſt and zumelft für Iudenchriften 
zu fchreiben. Demgemäß ift es auch Die befondere Ten⸗ 
benz ded Matthäus, Jeſum barzuftellen „als ben Ehrift, 
den König anf dem Stuhle David's, als den König Him⸗ 
meld und der Erde, ald den großen Propheten, ald Gefeßs 
geber und Richter,” wie ed F. Sander in feinem gedie⸗ 
genen Schriftchen a) über die vier Evangelien nachgewiefen 
bat. Diefer hebraifirenhe Charakter des erften Evangelinms 
ift anerkannt; er deutet auf einen Verfaffer zuräd, der ein 
echter Ebräer in feinem früheren Leben war, ohne ein 
Hharifüer zu feyn; in Verbindung aber mit dem fchemati- 
firenden Charakter des Evangeliſten deutet er hin auf einen 
ehemaligen frommen Zollbeamten. Der vielverfannte 
Tiefſinn des eriten Evangeliums, wie er ſich z. 3. in den 
fehr lebendigen Gompofitionen oder in ber höchſt finnreis 
hen Anwendung altteftamentlicher Typen zu erfennen gibt, . 
laßt einen Eoangeliften erfennen, der aus einem Zöllter 
in einen Apoftel verwandelt werben konnte. 

Die trodene Schreibart, woran Matthäus geroshnt 
war, hat ſich dem erften Evangelium in dem Umſtand 
"eingeprägt,. daß ihm die maleriſche Anſchaulichkeit, das 
- feifche Detail der Darkeflung mannichfach abgeht. Das 
gegen hat das Evangelium andy die Züge bes In der Dars 
ftelung der realen Momente äußerſt gewiflenhaften Res 
ferenten. Wahrſcheinlich haben wir diefer amtlichen Ges 
nanigkeit die fecunbären Nebenfiguren im erſten EYangelinme 
zu verdanfen, den zweiten Beſeſſenen, den zweiten Bliss 
den, das mitlaufende Mutterthier beidem Füllen; während - 
die andern Evangeliften, an eine ſolche Genauigkeit wer 


a) Etwas über ben eigenthümlidhen Plan, dem bie vier Evanges 
tiften bei der Abfaffung ihrer Evangelien gefolgt find. Eine 
theol. Abhandlung von 8. Sander, evang, Pfarrer zu Wich⸗ 

linghaufen. Eſſen bei Bäbeder 1827, 


über die Authentie der vier Evangelien. 17 


niger gewöhnt, fich auf die Anführung der DANPINONEER 
befchränften. 

Sener bedeutende Eontraft aber, ber fich — 
in dem gläubigen und dankbaren Bewußtſeyn eines Mannes 
ſpiegelte, der durch die Gnade des Herrn aus einem Zöllner 

ein Apoftel geworden war, ift wahrfcheinlich zu einem 
Grundtrieb in dem Herzen bed Apofteld geworden, bie 
evangelifhe Gefchichte in ihren großen Gegenfäten aufs 
zufaffen und darzuftellen. Diefen Zug, die Zufammens 
ftellung des Entgegengefeßten,, finden wir in dem erſten 
Evangelium wohl ebenfo ftark hervortreten, wie die Zus 
fammenftellung des Gleichartigen. Bedenken wir auch, 
daß eine Gefchichte, wie die evangelifche, überall an bes 
deutenden Gontraften reich ſeyn mußte, und daß fich deren 
and, bei den übrigen Evangeliften viele auffinden laſſen, 
fo. ift doch das erfte Evangelium in diefer Beziehung fo 
eigenthümlich reich, daß man nicht umhinkann, eine bes 
ſtimmte Anlage und einen eigenthämlichen Sinn des Ders 
faffers für große Gegenfäge Darin zu erbliden. Auch aus 
biefem Sinne, den das erffe Evangelium für das Große, 
für das Erhabene der gewaltigen Contrafte offenbart, läßt: 
ſich der Umftand erflären, daß bei ihm bie Rückſicht auf 
das malerifche Detail mangelt. Die Darftellung des er, 
haben Groeßen muß das malerifche Einzelne vernachläffigen ; 
ed wäre nicht nur überflüffig, fondern auch ftörend. Da, 
wo die Alpen zu ſchroffer Erhabenheit auffteigen, laſſen fie 
‚die malerifche Decoration der Wälder, der Triften und 
Alpenblumen fällen; fie werden monoton, um ihren Tos 
taleindrud um fo gewaltiger zu geben. - Daß das Evans 
gelium des Matthäus reich an finnvollen Gontraften fey, 
hat auch Schnedenburger erkannt a). Er fagt nämlich 
(5. 75): „neben diefem Parallelifmus ift fodann ber Gons 


a) Veber den Urfprung des erften Tanonifchen Evangeliums, Gtutt- 
gart 1834. 
Theol. Stud. Jahrg. 18839. 3 








18 4 fange 


teaft, in welchen der Verf. die Perfon, das Leben, Wir⸗ 
ten und Lehren Sefu mit feiner Umgebung ftellt, zwar 
nicht als rein hiftorifche Durchführung, wohl aber als 
wahre Wefensfchilderung fehr gelungen. Bon vorn bereite 
der Judäa graufam beherrfchende Tyrann und der vom 
bimmlifchen Zeichen und prophetifchen Ausfprüchen kennt⸗ 
lich gemachte neue König, durch befondere Beranftaltung 
der eiferfüchtigen Wuth von jenem entzogen. Sodann in 
der Bergprebigt der Gegenfaß der reinen Lehre ded Reichs 
Gottes gegen die verfälfchte alte. Endlich, nachdem wäh⸗ 
- rend des galiläifchen Aufenthalts hie und da auf feind- 
felige Umtriebe der herrfchenden Priefterfchaft und Frömm⸗ 
Ierfchaft hingewiefen war, ber ausführlich gefchilderte 
Directe Gegenkampf, der mit der Unterdrüdung des Ges 
rechten endigt, nachbem diefer jedoch vorher in den pros 
phetifchen Stüden Die fiegreiche Vernichtung feiner Feinde, 
den Untergang bed Alten vor dem Neuen beſtimmt genug 
ansgefprochen.” Wir wollen die Fülle der großen Gegens 
füge, welche und bei Matthäus entgegentreten, bloß ans 
deuten. Das Srabgewölbe der Väter oder Die Genealogie 
der Todten; bann die Geburt des Lebensfürſten. Joſeph's 
Zweifel und Gram; dann Maria’s Unfchuld und Schweis 
gen. Die Heiden, welche von ferne fommen, den Meffias 
anzubeten; gegenüber die Schriftgelehrten, welche ihn 
nicht beachten; die h. Stadt, welche über ihn erfchridtz 
Herodes, welcher ihm nach dem Leben trachtet. Johannes 
in der Wüſte; Johannes von Volfsfchaaren umgeben. 
Sefus.in der Taufe dreifach verberrlicht; in der Wüſte 
dreifach verſucht. Die Lehre Chrifti; die Lehre der Phas 
rifäer. Der heidnifche Hauptmann; die Kinder bed Reiche. 
Der begeifterte Schriftgelehrte, von der Nachfolge Jeſu abs 
gemahnt; der forglich Bebächtige, dazu ermuntert. Wind 
und Wellen gehorchen dem Herrn auf dem Galiläerſee; 
die Menfchen im Gadarenerlande weifen ihn fort. Sefus 
ißt mit den Zöllnern und Sündern; die Pharifäer ftehen, 


über die Authentie her: vier Evangelien. 19 


ihn verfeßernd, im Hiatergrunde. Er treibt Die Teufel aus; 
fie lüften, es gefrhehe burch Beelzebub. Die Sendung der 
Sünger; fie gehen wie Schaafe unter Die Wölfe, Jeſus 
and Johannes im Urtheile der Widerfacher; des einen 
ſchelten fie einen Freier. und Weinfäufer, Deu andern einen 
daämoniſchen Finſterling. Das Zornesſchelten Jeſn wider 
die Städte; dann die Lobpreiſung, daß es den Unmündi⸗ 
gen geoffenbaret if. Jeſus der Heilende, der Helfer; 
feine Feinde als Auflanrer, ald Verſchworne. Die Heine 
Familie der Mutter und Müder; die große Familie der 


Seinen. Die Herrlichkeit Jeſu in feiner Weisheit; Die ber 


ſchränkten Urtheile. feiner Laudslente über. ihn. Herodes 
Hält Prunfgelage und tödtet den Propheten; Jeſus fpeig 
die galiläifchen Armen in der Wüſte. Am Tage lebt er 
unter Laufenden; Nachts ‚in tiefer Einſamkeit auf dem 
‚Bergen. Die Abfertigung der Heuchler von Serufalem; 
das Hinanseilen in die Heidengrenzen zur Erholung. 
Petrus der Seliggepriefene; Petrus ber Satan Geſcholtene. 
Die Verklärung auf dem Berge; die, Jammerfcene am 
Fuße des Berged. Die Zindzahlung bed Unterthanen; 
die fönigliche Darreichung eines Staters aus dem Fifchs 
maul im Meere. Die Jünger, welche groß werden wols 
. Ien; das Kind ald Erempel. Wie der Bruder zu beftrafen 
it; wie man dem Bruder vergeben muß. Die Fragen 
über den Fluch der Ehe, Ehebruch und Scheidung; Unter⸗ 
brechung durch den Segen der Ehe, durch die Kindlein — 
trübe Unterfuchung; fröhliche Unterhaltung. Der reiche 
Süngling geht traurig fort; Die Jünger bleiben bei ihm 
. und haben Großes zu erwarten. Die Verkündigung der 
Leiden; Salome erbittet ihren Söhnen den Fürſtenſtand. 
Das. feftliche Hofianna des Volkes; die fchmerzliche Tem⸗ 
pelreinigung mit dex Geißel. Die letzten Warnungsreden 
an die Phariſäer; dann dag große: Wehe Chriſtus als 
Herr der Herrlichkeit im Lichte Der TWeißagung, Jeruſalem 
zerſtört; Ehriſtus der Gekreuzigte, Jeruſalem bie Mör⸗ 
3 —1 


- 


20 Range 


derin. . CEhriſtus am Kreuze; Ehriſtus auf dem Berge, 
der Anferfiandene, welchem gegeben ift alle Macht im 
Himmel und auf Erden. | 
Nicht alle dieſe Gegenfäse find durch Diefchriftftellerifche 
Sompofition des Evangeliften gebildet; viele liegen in der 
Gefchichte, manche finden wir auch bei ben andern Evans 
geliften. Aber Matthäus hat die Überall vorhandenen 
befonders heil ind Licht geftellt und die vermittelnben 
Uebergänge und Zwifchenlagen möglichft befeitigt, auch 
die Darftellung möglichft vereinfacht, um fie in ihrer Kraft 
hervortreten zu laffen. Und außerdem find manche unter 
feiner Darftelung erſt entftanden, z. B. die große Verkün⸗ 
Digung von dem Untergange Jeruſalems und von der Herr⸗ 
Uichkeit Ehrifti-im Weltgerichte, fo ganz dicht und contras 
flirend hingerückt an die Paffionsgefchichte. Hat aber das 
erfte Evangelium unverkennbar diefe Eigenthümlichkeit, 
und läßt fish dieſe Vorliebe für erhabene Gegenſätze fo 
ganz aus dem Gemüthdlceben des Matthäus erklären, wie 
deutlich weift es dann and) mit Diefem Zug auf den Apoftel 
hin, dee vor feiner Berufung ein Zöllner war! 
MR %* 


E | 

Bei diefer Erklärung der Eigenthümlichkeit des erſten 
Evangeliums aus dem Charakter bes Matthäus fallen fo» 
„fort die meiften Bedenklichkeiten dahin, welche von Siefs 
fert und Schnedenburger gegen die Authentie deſſel⸗ 
ben erhoben worden find. Der erfte Vorwurf, welcher 
von Sieffert gegen das erfte Evangelium erhoben wird, 
lautet: ber Berfaffer ift öfters mit ſolchen Dim 
gen ganz nnbefannt, bie ein Apoftel hätte. 
wiffen müffen Diefe Kategorie ift fehr fubjectiv. 
Man macht unter derfelben dem Evangeliften allerlei Zus 
muthungen in Betreff deſſen, was er hätte fagen follen, 
und allerlei Gonfequenzen aus dem, was er gefagt oder. 
nicht gefagt hat. So fol namentlih aus der Art, wie 
Matthäus die Geburtsgefchichte Jeſu erzählt, hervors 





über bie Authentie.der vier Evangelien. 21 


gehen, daß er den urſprünglichen Aufenthaltsort der Eltern 
Jeſu und die beſondern Umftände, durch welche fie nach 
Bethlehem geführt waren, nicht gewußt habe, Etwas 
Weiteres aber, ald daß er keinen Bericht davon gegeben 
habe, ergibt id aus dem Terte nun zinmal nicht... Solten 
die Evangeliften durchaus pragmatifche Hiſtoriker ſeyn, 
fo begeht man einegeiftige @ewaltthätigkeit gegen biefelben ; 
und anf dieſe Weiſe kann man nicht nur bem erften, fonta 
dern auch allen übrigen Evangelien bie Zuverläffigkeit des 
apoftolifchen Urfprungs und Inhalte abſprechen. Dieſes 
Argument aus den Andlaffungen hat befonders Schnecken⸗ 
burger bis zur leibigften Willie fnbjectiver Zumuthungen 
nltrirt. Aus allen Umftänden der evangelifchen Geſchichte, 
welche das erfte Evangelium nicht erzählt, macht er Mor 
mente des Berdachted. Die Härkfte Faſſung dieſes Argu⸗ 
mentes würde etwa-folgende ſeyn. Nach Johannet 21,5 . 


“würde die Welt ſelbſt Die. Bücher nicht faſſen, welche zu 


ſchreiben wären, wenn Alles, was Jeſus gethan has, 
Eins nach dem Andern aufgeſchrieben würde, Daran fehlt 
aber viel, daß wir ſo viele Bücher von der evangeliſchen 
Geſchichte hätten. Wir haben nur die vier kleinen Evan⸗ 
gelien. Ihre Verfaſſer haben uns alſo nur das Wenigſte 
berichtet, folglich das Meiſte ausgelaſſen, folglich das 
Meiſte nicht gewußt. Damit ſiele alſo nach der bezeichne⸗ 
ten Argumentationsweiſe ein unendlicher Verdacht auf die 
Authentie der vier Evangelien. Der zweite, Borwurf Sief⸗ 
fert’8 lautet fo: Der Verf. des erſten Evangelium. 


: ordnet zwar feine Erzählung hronologifhen, 


reiht aber einzelne bedeutende Vorfälle fo uns 
richtig ein, Daß er ſelbſt gar nicht in dem Ber; 
laufe diefer Begebenheiten gelebt haben fann. 
Daß die chronologifche Folge des erſten Evangeliums. 
mehrfach durch große Eompofitionen durchbrochen ift, Ichrt 
der Augenfchein. Es ift aber Mar, daß fchon bei einem 
einzigen Durchbruche dieſer Art manche hiftorifche Notizen 





2 en Range 
ı 


Ihre richtige chronolvgiſche Stellung unvermeidlich vers 
Hesen mußten, geſchweige denn, wenn biefe Durchbrüche 
fih haͤuften. Daß Martthaus dadurch an fireng hiftorifcher . 
Genanigkeit eingebußl hab, kann wicht geleugnet werben. 
Rah "unferer Auffaſſing: aber liegen die Ungenauigkeiten 
„tn den Üebergängen, nach der entgegengefeßten liegen fie 
in der Subſtanz der Berithte ſelbſt. Der dritte Vorwurf 
lautet fo: wir ſtoßen auf ſolche Erzählungen, 
welche die Geftalt,inderftehier erfheinen, ofr 
fenbar der traditionellen Vermiſchung oder 
Affimilatton verfhiedener Borfälle verdan⸗ 
- ben, bei denen Matthäus zugegen feyr mußte, 

Dieß wird z. B. von der Gefchichte der Bernfung des 
Matthäus vehauptet. Sie fol von der Berufung bes 
Levi verfchieden ſeyn. Wir haben ſchon bemerkt, daß in 
Diefent- Falle der Levi ſich unter den Apoſteln wiederfinden 
mußte. Sagt man einmal, fein Rame habe ſich fpäter in 
ehten ändern Namen der Apoftel verloren, -fo liegt es ja 
am nächften, feftzuhalten, daß er fü eben in den Namen 
Matthänd verloren habe. Was die zweite Speifungss 
getchichte :anlangt, fo würde es allerdings fehr entfchieden 
geden bie Authentie des erften Evangeliums fprechen, 
wenn es ſich erweiſen Heße, daß ber Bericht von derfelben 
mißverfländlic; aus dem Berichte der erften entſtanden ſey. 
Hier aber weiß man. nichts Erhebfiched anzugeben, als 
die Gleichheit des Vorgangs; aus der Ungleichheit in den 
Zahlangaben ſucht man die Entftehung der zweiten Speis 
fungsgefchichte zu erklären, obfchon dieſe Ungleichheit au 
ſich ein hiftorifches Unterfcheidungsmertmal gwifchen beiden 
Speifungen bildet. Was überhaupt die Doppelfiguren 
anlangt, fo erklären fich diefe fehr leicht, wie wir gezeigt 
"haben, aus der flrirten Anſchauungsweiſe des Matthäus. 
Das vierte Bedenken Sieffert's beklagt, daß in der 
Darftellung folder Vorfälle, bei denen die 
Apoftel gegenwärtig gewefen waren, Unrids 


über die Authentie ber vier Evangelien. . 23 


tigteiten entpedt würden, welche offenbar 
aus unvollftändiger Mittheilung des wirt 
lich Borgefallenen und dadurch veranlaßter 
eigener Gombination bes Grzählers von Seis 
ten Ded Zuhörer hervorgegangen feyn müßs 
ten. Hierher gehört bag Mutterthier mit dem Füllen, 
wovon -bereitd die Rede geweſen. Was außerdem bier - 
Erhebliches vorkommt, ift die Differenz zwifchen den Syn⸗ 
optifern und Johannes in Betreff des Ofterlamms. Diefe 
Differenz wird durch das hiflorifche VBorhandenfeyn des 
h. Abendmahls als einer Stiftung, welche and der Feier 
des Ofterlammd hervorgegangen, unerheblich gemacht. 
Man muß nämlich dabei bleiben, daß ber Herr dem bes 
fprochenen Mahl am Borabende des Oſterfeſtes ben Cha⸗ 
rakter eines Paſchahmahls gegeben habe, und daß ſich dieß 
in Dem unwillkürlichen Ausdrucke der Jünger in das Oſter⸗ 
mahl nad, der Gewohnheit habe umgeftalten kön⸗ 
nen. Fünftens, fagt Sieffert, mußten wir aus 
der Seftalt, inwelder bier mehrere von den 
größeren Lehbrvorträgen bes Herrn erfchei« 
nen, fchließen, daß dDiefen in der Erinnerung 
des Evangeliften der hifkorifche Hintergrund 
gefehlt Habe, aus weldhem fie inder Wirklich 
Seit hervorgetreten waren. Hierher gehört die 
Bergprebdigt. und die Infruction der Apoftel. Sieffert 
bemerkt mit Recht, Matthäus verlege Die ganze Predigt 
(Kap. 5 ff.) auf den Berg und in einen Bortrag,.ba er 
den Herrn am Anfange diefes Abfchnitted auf den Berg 
Reigen umd nach dem Schluffe deffelden von bem Berge 
wieder kommen laffe. Nichts defto weniger möchte auch 
Matthäus Recht behalten, wenn er die ganze Predigt auf 
den Berg verlegt, troß dem, daß die Beitandtheile der, 

felben bei Lukas mehr auseinander fallen. Denn ohne 
Zweifel hat Jeſus in Galiläa viel mehr, ald eine Berg 
predigt auf den freien Höhen gehalten. Diefe Bergflüſſe 


U Lange 

feiner Reden läßt nun Matthäus in einen großen 
Strom zufammenfommen. Allerdings bekömmt dadurch der 
Berg des Evangeliften etwas Ideales, er repräfentirt 
vielleicht viele Berge. Und doc liegt er in hiftorifcher und 
geographifcher Beftimmtheit da, fofern auf einem Berg 
einmal die große Hauptrede gehalten, das Evangelium 
ber Seligpreifungen verfündigt wurde. Matthäus behält 
anch in diefer Compoſition den Charakter des Siunvollen, 
den .er fo bebeutfam in feinen Sombinationen, fowie in 
. feiner Beziehung altteflamentlicher Stellen auf neuteflas 
mentliche Begebenheiten kundgibt, mag auch die hiſto⸗ 
rifche und namentlih die chronologifhe Genauigkeit 

darunter leiden. | 

Was man Übrigend von dem Werke des Herrn Prof. 
Sieffert rühmen kann, daß es nämlich mitgroßem Scharfs 
finn und gleichmäßig mit großer Pietät fein Thema augs 
führt, dieß laßt fich nicht von ber Schrift des Herrn 
Dr. Schnedenburger wiederholen. Wie weit getrieben ift 
3. B. feine Argumentation aus den Auslaffungen ded Mats 
thäns! Wie augenfcheinlic find ed bisweilen Dogmatifche 
Boransfeßungen, welche er zur Begründung feiner Des 
ductionen anwendet! Der Anftoß z.B., den.der Verfaſſer 
an der Frage des Petrus: vl ga Eöreı naiv; und an der 
Antwort nimmt, weldye der Herr nad) Matthäus darauf 
gegeben, laßt fih nur auf dogmatiſche Befangenheit zus 
rüdführen. Gibt es eine gnadenreiche Vergeltung für die 
treuen Nachfolger Sefu in der neuen Welt des Himmels 
reichs hienieden und droben, fo kann ed auch ein rechts 
finniged Fragen nach diefer Vergeltung geben, ohne daß | 
man mit Olshauſen darin die Demüthige Befümmerniß der 
Fragenden über das. eigene Schidfal zu finden hätte, 
Schnedenburger meint aber, der Herr müſſe dieje Frage 
als eine Frage der Lohnfucht abgefertigt haben. Daraus 
aber, daß Jeſus im erſten Evangelium auf dieſe Frage 
bed Petrus freundlich eingeht, argumentirt er gegen bie 


x 


über die Authentie ber vier Cvangelin.. 25 | 


Zuverläffigkeit des Berichte. Es iſt beinahe ergößlich, zu 
Iefen, wie er an ber Darftellung der Salbung Iefu zu 
Bethanien, wie fie Matthäus gegeben, Anftoß nimmt. 
Daß hier Maria von vorne herein beabfichtigt, dem Herrn 
das Haupt zu falben, erfcheint ihm als feierliche Steifs 
heit einer Weihefalbung. . Dagegen glaubt er aus 
der Darftellung des Markus fchließen gu dürfen, Maria 
habe dem Herrn eigentlich nur die Füße wafchen wollen, 
dabei habe fie aber aus Verſehen das Glas zerbrochen, 
und nun, aus der Roth eine Tugend machend, habe fie 
auch das Haupt Jeſu mit Salbe Übergoflen. Ja, er vers 
tieft ſich fo fehr in die wohl befaunte Auffaffung diefer 
Scene von Seiten ber Jünger, daß er hinzufeßt: „das 
war nun ein Unrath, der fich hätte erfparen laſſen.“ So 
iſt ſchon Mancher an dieſem herrlichen Actegläubiger Seelen, 
feier durch die Kritik zum Philifter a) geworben. Der 
Berf. weiß dad Zerbrechen des Glaſes fo wenig zu billigen, 
fo wenig in feiner poettfchen Schönheit au faflen, daß er 
fupponirt: es muß durch einen unglüdlichen Zufall erfolgt 
feyn. Diefe Meinung dringt er dem Markus auf, und von 
diefer unglüdlicdhen Borausfeßung aus argumentirt er num 
gegen den Matthäus. Mag man dad num Kritik am neuen 


nicht. 
2. Markus. 


In der Chriſtengemeine zu Jeruſalem lebte in den Ta⸗ 
gen der Apoſtel eine gläubige Frau, Maria, von welcher 
man vermuthen muß, daß fie in der Gemeine ein gewiſſes 
Anfehen hatte. Wenigftens fanden in ihrem Haufe hrifts 
liche Verfammlungen ftatt, woran Biele Theil nahmen. 


a) Diefes Wort ſteht hier nicht im burſchikoſen, ſondern im religions⸗ 
philoſophiſchen Sinne. Es kann durch kein anderes erſett 
werden. 


Teſtamente nennen, neuteſtamentliche Kritik, ik ed gewiß 


— 


26 vange 


Als der Apoſtel Petrus durch den Engel des Herrn wun⸗ 
derbar aus ſeinem Gefängniffe erlöſt wurde, fand er ſich 
in den nächtlich Dunklen Straßen der Stadt zuerft wieder - 
vor dem Haufe diefer Maria zurecht. Als er fidy befann, 
heißt es Apg. 12. 3. 12, kam er vor dad. Haus Maria’g, 
der. Mutter Johannis, der mit dem Zunamen Markus 
bieß, da Viele bei einander waren und beteten. Diefer 
Sohn der Maria, Johaunes Markus, muß damals, ale 
Lukas die Apoftelgefchichte fchrieb, fchon in den Chriftens 
gemeinen befannt gewefen feyn und in Anfehen geitanden 
haben, fonft hätte Lukas nicht die Mutter durch Nennung 
ded Sohnes näher Fenntlich gemacht. Ex war Ehrift und 
wandte ſich früh dem apoftolifchen Miffionsleben zu, weß⸗ 
halb Barnabas und Paulus ihn von Jeruſalem mit nach Ans 
tiochien nahmen (Apg. 12. V. 25). Bon hier wahmen fie 
ihn auf ihre Miffiohsreife mit ald Gehülfen und Diener 
(Apg. 13. 2.5). Er reifte mit ihnen nad) Seleucla und 
Eypern, und von da nach Kleinaften. ALS fie aber gen 
Pergen im Lande Pamphylien famen, ſchied er von ihnen 
und fehrte zurück gen Jeruſalem (Apg. 13. B.13), während 
die beiden ihre Reife weiterhinaus nach Pifidien forte 
feßten. Als fie fpäter von Antiochien aus Diefelbe Meife 
zur Stärfung der geftifteten Gemeinen wiederholen woll⸗ 
ten, war Sohannes Marfus wieder zur Hand. Barnabas 
machte auch den Vorfchlag, ihn wieder mitzunehmen. 
„Paulus aber hielt es für billig, daß fie einen Solchen, 
der von ihnen abgewichen war aus Pamphylien und nicht 
mit ihnen gezogen war zum Werke, nicht mitnehmen 
ſollten.“ Es entfignd nun ein Zwift, fo daß fie ſich von 
einander trennten, und Barnabas, den Markus mitnehs 
mend, fchiffte nach Sypern. Paulus aber nahm den Silas 
zum Gefährten und durchzog Syrien und Eilizien (Apg.15. 
B. 37). Diefer Johannes Markus ift nun ohne Zweifel 
derfelbe, den wir fpäter wieder bei dem Apoftel Paulus 
finden während feiner Gefangenfchaftin Rom; was daraus 


über die Authentie der vier Evangelin.. 27 


berworgeht, baß er als ein Wohlbefüngter in der damaligen 
CEhriſtenheit, und daß: ex: «Id Detter bed Barrrabad anger 
führt wird. Pants ifchrieb über ihn im Briefe au. Die 
Koloffer (Kap. 4. B:1033 „Es grüßen euch Ariftarchne, 
mein Mitgefangener, und Markus, der Vetter des Bars 
nabad,: wegen .Deffen ihr Aufträge erhalten habt (wemer 
zu ench kommt, ſo nehmet ihn wehl auf!).” Im zweites 
Briefe an den Tinntheus (Kap. 4. V. 11) Heißt ed: „nm 
ben. Markus und bringe ihn mit die, denm er iſt mir nis 
Uch zur Hälfleitung.” Im Briefe an den Philemon führt 
ihn Paulus unter feinen Mitarbeitern anf und befbeilt 
Grüße von ihm (B. 24% Derfelde Markus läßt aber gu 
&ner andern Zeit Grüße durch Petrum an bie heimifchen 
Ehriftengemeinen von Babylon aus beftellen: „Le gräßet 
ech, heißt es 1 Petri 5, 23, die. Mitausermählte te Bas 
byfon und mein Sohn Markus Ein Markus, der fo 
ſchlechthin ale Freund: nnd. Belaunter ‘der kleinaſtatiſchen 
oder paläftinenfifchen Chriſten genannt werben konnte und 
der zudem in eineur fo bebeutenden und vertraulicgen Deus 
hältniffe zu Petrus ftand, daß diefer ihn Sohn nannte, 
fan wiedernm Fein anderer gewefen fepn, als derfelbe 
mehrfach vorgefommene Johannes Markus. And nem 
kennen wir ihn hinlänglich, wenn wircauch. die Tradition 
. sicht mitherbeiziehen tollen, nadı welcher er ats Bifchof 
zu Aleramdriem in Aegypten ben Wärtyrertod erduldete. 
Sener Zug, den und Markus felber aus der Lreidens⸗ 
gefchichte erzählt, von einem dem gefangenen Jeſu nachfols 
genden und dann ben Höfchern entflichenden Sünglinge 
wird in ber Regel als eine Notiz betrachtet, Die der Evans 
geliſt von fich felber berichtet. Man hat freilidy auch bas 
gegen gefagt, dieß ſey nur eine grundlofe Vermuthung. 
Aber abgefchen davon, daß Johannes in feinem Evans 
gelixm ſich ebenfalls in diefer Art namenlos einführt, wis 
bier Markus den Yüngling, fo finden wir in der Tleinen 
Baffionsepifode durchaus ben Johannes Markus ber Apoſtel⸗ 


28 en rhangein ne 


gefchichte und der apoſtoliſchen Briefe.wieder: Bein Eins 
zuge. ber Schaar mit dem gefangeiten Jeſu in bie Stabt, 
da fihon alle Zünger von. ihm geflahen:.waren, „folgte 
ihm ein gewiffer Jüngling, der ein Leintuch auf der bloßen 
Haut anhatte” (Marl. 14, 50). Dieß iſt ohne Zweifel 
erw Jüngling, den. Markus. Urſache hatte, nicht nambaft 
zu machen; ein Säugling, ben. die nächtliche Bewegung, 
bei dem Kundwerden der Gefangennehmung Iefu.erfchüttert, 
vom Lager getrieben hat; ein Züngling, der fchon. in einer 
befreundeten Beziehung zu Jeſu fteht; ein Süngling end⸗ 
lich, der ſchnell fertig iſt, der ſich raſch in ein Kleid wer⸗ 
fen und hinauseilen — der ſich übereilen kann. Derfelbe 
Züngling aber, der ſo ſchnell iſt zum Wagen, iſt ebenfalls 
ſchnell zur Flucht, und dabei wieder übereilt, angſtvoll 
und ſchnell: „und es griffen ihn die Leute. Er aber ließ 
das Leintuch fahren und entfloh ihnen nadend,” “Wir has 
ben bier gleichſam ein pſychologiſches Vorſpiel der erſten 
Miſſionsreiſe des jungen Johannes Markus. Er iſt fchnell 
zur Hand, zur Reife gerüſtet; fein ſchöner und begeifterter 
Miffionstrieb bringt ihn früh in Die Gefellfchaft des Pau⸗ 
lus. Es geht and) Alles wohl; fo Tange fie über das blaue 
nuitteländifche Meer fahren, fo lange fie in dem gebildeten 
und ficheren Sypern vermeilen und weiterhin in dem Küs 
Renftriche von ‚Kleinaften ſich aufhalten. Endlich aber, 
da. es hinangeht in die Bergländer Kleinaſiens, durch dad 
fchluchtenreiche, gefahrvolle Taurusgebirge nach Pifidien, 
da weicht er zurück und geht. wieder heim, nicht nach An: 
tiochien, fondern, der innern Beſchämung folgend ,.nady 
Serufalem. Später ift er dennoch wieder in Antiochien ; 
fein feuriges Gemiüith treibt ihn wieder in die verlafjene 
Bahn zurück. Barnabas will ihn auch wieder auf die neue 
Miffiongreife mitnehmen, dem er Bennt des lieben Ders 
wandten fchöne Anlage, wie Dlshaufen richtig bemerkt, 
und nimmt ihn in Schuß; Panlus weit ihn zurüd wegen 
feiner noch unreifen Geſinnung und der noch unzuverläffig 


über bie Authentie ber vier Gvangelin. 29 


‚wantenden Begeifterung. Und fo zieht er denn mit Bars 
nabas wieder den alten bequemeren Miffiondweg dahin. 
Aber der Geift Gottes geleitet ihn auch, und von den We⸗ 
gen der fchönen Begeifterung wirb er immer entfchiebeuer 
hinübergeführt in die Wege der chriftlichen Selbftverleugs 
nung, auf denen er auch der Sache des Herrn endlich fein 
Leben zum Opfer bringt. Es iſt ein koͤſtliches Zeugniß für 
feine fortfchreitende Bewährung in.der Demuth und im 
Slaubensernfie, fowie auch für die apoftolifche Milde 
Panli, daß er fpäter wieder mit dieſem fo innig verbuns 
den war und ihm in feiner Gefangenfchaft zu Rom zur 
Seite ftand. Uber wenn er auch in feiner Individualität 
immer mehr geläutert und geheiligt wurde, fo mußte er 
ſich doc in dem reinen Gtundweſen diefer Individualität 
gleich bleiben, und fo finden wir denn auch den alten, 
mehr lodernden, alötief glühenden Feuergeift immer wieder. 
Bald ift er tief im Abendiande bei Paulus zu Rom, bald 
tief im Morgenlande bei Petrus in der Gegend von Bas 
bylon. Nehmen wir den Bericht der Gefchichte dazu, fo 
ift er zuleßt in Alerandrien und hat alfo hin und her fein 
Weſen gehabt und ald Evangelift in ben großen Haupts 
ſtaͤdten dreier Welttheile gewirkt. Wir fernen in ihm einen 
apoftolifchen Mann kennen, der treuen Glaubendernft in 
einem leicht erregten Gemüthe bewährte, der ohne Zweifel 
mit vorherrfchender Phantafie und großer Begeifterungss 
fühigleit begabt war, den aber ein gewilfer Mangel an 
Geiſtestiefe und ruhiger, durchhaltiger Charakterſtärke zu 
einer ftarten Aeußerlichkeit und theilweiſen Oberflächliche 
keit Disponirte, wobei ihm vieleicht noch einmal die firenge 
Eonfequenz des Panlus zu gewaltig wurde, fo daß er 
ſich zu dem verwandteren Petrus hinwandte, Wenigitene 
find die angegebenen Züge in feinem Hins und Herweben 
zwifchen den großen Miffionsftationen und zwifchen dem 
beiden großen Apofteln bentlich zu erfennen. 


30 =“ .. Zange 

Es wäre zu verwundern gewefen, went ein evange⸗ 
liſcher Sharalter,. wie der gezeichnete, ber überall mit zur 
Stelle war, nicht auch ein Evangelium: gefchrieben hätte, 
Aber beinahe ebenfo fehr wäre .auc bad zu verwundern 
gewefen, wenn: fein Evangelium: nicht das kürzeſte Unter 


den Übrigen geblieben wäre. Schon in feiner Kürze hat 


ed das Anzeichen der Herkunft von einem lebhaften, uns 
ruhigen Geift erhalten, der zu einer ausführlichen Schriftr 
ftellerei keine Geduld hatte. Aber dieſes Gepräge eines 
Geiſtes, wie wir ihn.in dem Evangeliften Markus kennen 
gelernthaben, hat das zweite Evangelium durch und durch. 
Welch eine Lebhaftigfeit des Geiſtes fpricht fi hier überall 
in der Auffaffung ber evangelifchen Geſchichte aus! Das 
Lieblingewort ded Markus ift das frifche eddtag; «8 kehrf 
in feinen Erzählungen immer wieder, ſowie es die vielem 
Momente feines eiguen bewegten Lebend bezeichnen könnte. 
Seine Lofung war: evdEws, wie Blücher’s Lofung: Vor⸗ 
wärts. Mit einer. folchen Lebhaftigfeit des Geiftes ift aber 
in der Regel eine frifhe und ftarke Phantafie verbunden. 
Eine ſolche Phantaſie, wie fie bald fortreißend, bald abr 
fohredend in dem Leben des Evangeliften fich offenbartt, 
beurfundet fich auch in feinem fchriftlichen Werte. Man 
hat ihn wegen feiner colorirten Darftellung den ausmas 
Ienden Evangeliften genannt. Die ausmalenden Züge aber, 
womit er feine Erzählungen erweitert und fchmüdt, haben , 
wir nicht überall als Zufäge feiner Phantafle zu betrachten. 
Solche Menfhen, die eine Individualität haben,’ wie 
Markus, wiſſen fid) nicht nur für fidy felber eine erzählte 
Sache weiter auszumalen, fondern fie haben auch ein bes 
fonders glüdliches Gedächtniß für das.frifche Detail der 
Begebenheiten , für anefdotenartige Spitzen und Momente 
in dem VBorgefallenen, für die malerifhen Züge, bie daß 
Geſchichtliche an fich felber hat. Sie behalten das Eon⸗ 
crete und Individuelle leicht, wenn es ihnen einmal erzähle 
worden ift, bis’zu großen Eingelnheiten — denn gerade 


! 


über die Authentie der vier Evangelien. 31 


dieſe lebensfrifche Aeußerlichkeit entfpricht ihrer Judividua⸗ 


Kität. Und fo haben wir denn viele Ausſchmückungen im 


zweiten Evangelium der malerifchen Phantafie des Markus 


by 


zugufchreiben; 3. DB. Sefus war in der Wüſte bei den 
Thieren; die Kleider Sefu wurden weiß wie der Schnee, 
daß fie Fein Färber auf Erden fo weiß machen 
kann; der Feigenbaum, welchen Jeſus verflucht hatte, 
war verdorret bis auf die Wurzel. Diele weis 
tere. Ausbildung bed Bernommenen geht nicht über bie 
Wahrheit der Sefchichte hinaus. Vernimmt Einer nämlich, 
daß ein Feigenbaum wahrhaft verborrt ift, fo kaun er 
auch hinzufeßen, daß er verborrt fey bis auf die Wurzel. 
In anderen Zügen der Audführlichfeit des zweiten Evans 
geliums finden wir aber nicht die dichtende Phantafie wies 
der, fondern vielmehr jenes glüdliche Gedächtniß, wel⸗ 
ches lebhaften Naturen für das frifche Detail der Ereigs 
uiffe gegeben ift. Hierher gehören viele Notizen, z. B. 
wie es Jeſus biöweilen gemacht habe, wenn er die Kranz 
fen heilte; wie Jeſus im Sturme auf dem See auf einem 
Kiffen im Hintertheile bed ‚Schiffes gefchlafen habe; wie 
ber blinde Bettler bei Sericho Bartimäud, Sohn des 
Timäus, geheißen habe, wie Jeſus in den Grenzen von 
Tyrus und Sidon in ein Haus gegangen fey und gefucht 
habe, verborgen zu bleiben. Diefer eigenthümlichen Ges 
dächtnipfrifche des Markus haben wir auch die fchöne 
Blindenheilungsgefchichte zu verdanfen, die er und Kap. 
8. B. 22, erzählt, und die gerade er allein hat. Außerdem 
finden wir wieder andere Züge von gemifchter Natur, 
nämlich folche, welche wir theilweife der Gedächtnißfrifche, 


theilweiſe der audmalenden Phantafie des Evangeliften 


verbanten ; 3. B. Jeſus fonnte in feinem Baterlande keine 
einzige That thun, ausgenommen, daß er einigen 
Kranken die Hände auflegte und fie heilte 
Und erverwunderte fih überihrenlinglauben. 
Hierher gehört auch wohl dag fchöne Gleichniß in Kap. 4. - 


+32 | | Lange 


B.%ff.: „Mit dein Neiche Gottes verhält es fich alfo, 
wie wenn ein Menfch Samen aufs Land wirft und fchläft 
und ftehet auf Nacht und Tag, und der Same gehet auf 
und wächfet, daß er es nicht weiß. Denn die Erde bringt 
von felber hervor zuerft dad Gras, darnach die Uchren, 
und dann den vollen Weizen in den Achren. Wenn fie 
aber die Frucht gebracht hat, fo ſchickt er aldbald (eddEng) 
die Sichel hin, denn die Aerndte ift da.’ 

Sp hat aber das zweite Evangelium nicht bloß den 
Charakter der maleriſchen Darſtellung, ſondern auch der 
friſchen Begeiſterung. Es iſt geſchrieben unter dem fort⸗ 
dauernden Erſtaunen einer leicht entzündeten, lebhaften 
Seele, wie die des Markus nach den geſchichtlichen Zügen 
ſeines Lebens war. Es iſt das Evangelium des begeiſter⸗ 
ten Evangeliſten. Sp wie er erzählt, fo ſpiegelte ſich die 
Erfcheinung Chriſti und fein Wunderwalten und Wohk 
thun im Volksleben und in dem Gemüthe lebhafter Nas 
turen. Und in diefer Beziehung namentlich füllt das 
Evangelium des‘ Markus feine Stelle aus; durch biefe 
Eigenthümlichfeit ift ed Eines von den vieren, und um: 
degmwillen befonderd wäre fein Berluft ganz unerfeßlich. 
Markus zeichnet und die großen Tagewerle des Herrn 
mit dem Motto: ich muß wirken, fo lange ed Tag ift, ehe 
denn die Nacht fommt, da Niemand wirken fann. Der 
Herr ift hin und wieder von einem großen Volksgedränge 
umgeben, fo daß manchmal der Raum zum Stehen und 
die Zeit zum Effen fehlt. Er wirkt aber mit folcher Hins 
gebung, mit folchem Feuerfcheine der arbeitenden Liebe 
unter den herbeimogendeh Haufen der Hülfsbedürftigen, 
daß die Seinen ihn einmal zurüdreißen wollen aus dem 
Gedränge mit den Worten der Beforgniß: er ift außer 
fi, er fommt von Sinnen (Kap.3. V. 21). Ein anderes 
Mal aber mahnt auch der Herr die Seinen von der Ueber⸗ 
arbeitung ab und befiehlt ihnen, in die Einöde zu gehen 

und ein wenig auszuruhen. Sowie aber bie Arbeit Jeſu 


über die Authentle ber vier Evangelien. 33 


groß if, fo ift e& der Erfolg ebenfalls. „Er heilt ihrer 
Viele, alfo bag ihn alle Geplngten überfallen, um ihn 
anzurühren und geheilt zu werben.” „Wo man von feiner 
Ankunft hört, da trägt man die Kranken aus ber ganzen 
Umgegend herbei und ftellt fie mit den Tragbahren aus 
auf den Märkten, mit der Bitte, daß fie nur den Saum 
feines Kleided anrühren möchten, und alle, die ihn ans 
rühren, werben gefund.” Darum aber macht die Erfcheis 
nung und Wirffamfeit Sefu auch den tiefſten Eindrud auf 
das Volk; fie verwunudern fidy, fie erflaunen über die 
Maßen, fie entfeßen fich, wo er auftritt und feine Kraft 
und Liebe offenbart. Es ift eine ſchlechte Würdigung ber 
evangelifchen Gefchichte, wenn man meint, diefe Dars 
fielung fey rein fubjectio, ed gebe fich in dieſen großen 
Bewegungen nur die Neigudg des Markus zu erkennen, 
feine Erzählungen durch fogenannte Drude (nad ſtraußi⸗ 
fchem Ausdrude) zu verſtärken. Martus war nur dag 
geeignete Organ, den Lebenefchwung und Arbeitsdrang 
in der Gefchichte Jeſu, das frifche Gewittern feiner Heils 
träfte und den großen Freudenfchreden, den fein Weſen 
und Thun überall im Volke hervorrief, durch die lebens 
dige apoftolifche Zradition aufzufaffen und barzuftellen. 
Und wohl mögen viele petrinifche Erinnerungen ihn dabei 
aunterftüßt haben; denn die Individualität des Petrus hatte 
Aehnlichkeit mit der feinigen, aber fie hatte dennoch eine 
viel bedeutendere Gemüthstiefe und Charafterftärke. 

Aber auch diefe Eigenthümlichkeit des Markus hat fich 
feinem Evangelium eingeprägt. Das ftille Gründen und 
Ergründen war ihm nicht fonderlich eigen. Darum theilt 
er von den Neben Sefu nur fehr wenige mit, und biejeni« 
gen, welche er mittheilt, find meiftentheil® lebhafte Streits 
reden, Strafreden und Worte Jeſu vom Weltgericht, — 
alfo Reden von foldher Art, wie fie ihn am meiften ans 
fprechen mußten. Auch in der ——— der wengen 

Theol. Stud. Jahrg. 1889. 


34 | 77 Range 


Reden, welche er liefert, geigt fich biefer wonherrichend 
auf das Aeußerliche gerichtete Stun. So zeigen mandıe 
Zufammenftellungen von Ansprüchen Jeſu fehr wenig 
Zufammenhang; 3.3. Kap. 4. V. 20. 21. 244.25. Einiges 
mal fleigert fich dieſe Aeußerlichkeit des Evangeliſten 
felbft. bis zur Flüchtigleit, 3.3. wenn den Jüngern vers 
boten wird, zwei Nöde anzuziehen (Kap. 6. 8.9), 
oder wenn nach ihm der Feigenbaum nur Blätter hat und. 
keine Früchte, weil die Zeit der Feigen noch nicht 
da iſt, oder wenn er den römifchen Hauptmann aus dem 
| Geſchrei, womit Sefus’ verfcheidet, fchließen läßt, biefer 

fey Gottes Sohn gewefen (Kap. 15. V. 39). Aus biefer 
Eigenthümlichkeit des Markus erflärt ſich aud der Um⸗ 
ftand, daß fich bei ihm der traditionelle Befland der evan⸗ 
gelifchen Geſchichte, ungeächtet aller Malerei ind: Detail, 
fo wenig individualiſirt hat. Die apoftolifche Tradition 
bat fich in feiner Seele fchön gefpiegelt, aber fie hat in 
feiner Darftellung nicht das Gepräge einer tiefgeifligen 
und innigen Verarbeitung befommen. Freilich ſtehen in 
biefer Beziehung Johannes und Matthäus zu fehr gegen 
Markus im Bortheil, ald Jünger und unmittelbare Zeugen 
des Lebens Jeſu. Betrachten wir aber den Markus als 
Gefährten des Apofteld Petrus und den Lukas als Ges 
fährten des Paulus, fo fteht Markus unftreitig im Vor⸗ 
theile gegen Lukas, und dennoch hat felbit das Werk bes 
Lukas mehr innerlicdye Indivibualität, ale das des Markus, 
Wenn man demnach Markus als den Maler bezeichnet, fo 
darf dabei an höhere künftlerifche Driginalität wohl nicht 
Hebacht werden. Wollte man endlich auch den Mangel an 
ftarfer Ausdauer und Charakterkraft in feinem Evangelium 
wiederfuchen, fo wäre. anch wohl diefer individuelle Zug 
in demfelben zu entdeden. Die Annahme, daß Markus 
bie beiden Evangeliften Matthäus und Lukas benußt. habe, . 
ift vielleicht durch den gegenwärtigen Standpunkt der news 


‘ 


über die Authentie ber. vier Evangelien. 85 


teftamentlichen Kritik erfchwert a), fonft möchte wohl bas 
Hin s und Herneigen des Schriftftellere zwifhen Matthäus 
und Lukas an: das Hin «nnd Herweben bee Miſſtonärs 
zwifchen Paulus und Petrus erinnern. Jedenfalls war. es 
ihm Bebürfniß, fich ebenfp in feinem Evangelium an bie 
vorhandene Tradition, wie in feinen Leben an bie großen 
apoftolifchen Männer ſtark auzuſchmiegen. Dieſes Bebürfs 
niß der Anlehnung lag nicht etwa lediglich in feinem bloß 
mittelbaren Berhältniffe zu der Lebenägefchichte Iefn ; denn 
in diefer Beziehung hatte ja felbft Paulus nichts vor ihm 
voraud.: Auc in. der Arbeit felbft fcheint ber nugeduldig 
-forteilenbe. Trieb,,. dem die Ausdauer abgeht, allmächlich 
heroorzutreten; es fcheint nämlich, ald ob die Darfielung 
gegen den Schluß des Evangeliums hinaud etliger, kürzer 
und farblofer würbe; ald ob der Ausmalungen, ber Er⸗ 
weiterungen in der erſten Hälfte bes Evangeliums mehr 
wären.. In jedem Kal. aber ift der Bericht ber lebten 
Verheißang , welche Jeſus feinen Jüngern gegeben. (K. 16, 
B. 17.18) ganz'und gar nach der frifchen and farbreihen 
Darftellung des Marfus. Die ganze Apoftelgefchichte gidt 
er in den beiden Schlußverfen: „Der Herr nun, nachdem 
er mit ihnen geredet, ward aufgenommen in den Himmel 
und feßte ſich zur Rechten Gottes. Jene aber zogen aus 
and predigten an allen Orten unter ber Mitwirkung des 
Herrn, der das Wort durch begleitende Zeichen befräftigte.” 
Der Trieb zur ayoftolifchen Bewegung und Wirkſamkeit 
war bei ihm zu mächtig, als dag er ihm Zeit unb Ausdauer 
hätte gönnen follen, nach der Weiſe bes Lukas auch nad) 
zu dem Evangelium eine Apoftelgefchichte gu fchreiben b). 


a) Bei de Wette findet fie ſich übrigens wieder, f. kurze Erklaͤ⸗ 
| rung der Evangelien bes Lukas und Markus ©, 8. 
b) Diefelbe Lebhaftigkeit des Wefens, welche ben Evang. Markus 
überall charakterifirt, ſpricht ſich ebenfalls in feiner Vorliebe für 
das Praͤſens in der Erzählung, fowie für die Diminutivform, 
& B. zaıdior, itudın u t. 1:77 aus, i 


⸗ 3* 


36 rn Kange 


3. Rufas. 


Die erſten Notizen über Lukas gibt uns ſeine zweite 
neuteſtamentliche Schrift, die Apoſtelgeſchichte. Hier ſchließt 
er ſich zu Troas dem Miſſionszuge des Apoſtels Paulus 
mit ſchöner Anſpruchsloſigkeit an (Apg. 16. V. 10 u. 11). 
„Wir fuhren aus von Troas”: mit dieſen Worten 
verräth er ung feinen Eintritt in die apoftolifche Geſell⸗ 
fchaft. Dann aber verlieren wir ihn wieder aus ber Geſell⸗ 
ſchaft des Paulus und Silas zu Philippi (Apg. 16. V. 17ff.), 
woſelbſt dieſe beiden wegen der von Paulus vollbrachten 
Heilung einer Wahrſagerin ins Gefängniß geworfen wur⸗ 
den. Als fie wieder entlaffen wurden und fortzogen, blieb 
Lukas, wie es ſcheint, zu Philippi. Später kam Paulus nach 
Philippi zurück, und nun ſchloß ſich ihm Lukas wieder am 
indem ſie von Philippi gen Troas ſchifften, um weiterhin 
nach Jeruſalem zu ziehen (Apg. 20. V. 6). Auch in Jeru⸗ 
ſalem finden wir ſie noch beiſammen; Lukas wird in die 
Geſfellſchaft der Apoſtel miteingeführt (Apg. 21. V. 18). 
Durch die Gefangennehmung des Paulus aber, welche 
die jüdiſchen Zeloten hier bewirkten, wurde Lukas aber⸗ 
mals von ihm getrennt (Apg. 21. V. 273. Später, als 
Paulus nad) Eäfarea abgeführt worden war und fich hier 
in gelinder, aber langwieriger Haft-befand, feheint auch 
Lukas wieder mit ihm in Verbindung getreten zu ſeyn. Es 
heißt nämlich: „der Statthalter Felir befahl dem Haupt⸗ 
manne, Paulum in. Berwahrung „zu halten, Nachſicht zu 
haben und Niemand von den Geinigen zu binbern, ihns 
Dienfte zu leiften oder zu ihm zu fommen” (Apg. 24. B.23). 
Wenigſtens ift-der Beichluß, demzufolge Paulus nad) Stas 
lien reifte, auch ein Befchluß über ihn und für ihn. „Es 
war beftimmt, daß wir abfahren follten nach Italien,“ 
fagt er Apg. 27.8.1. Alfo machte er die Seefahrt Pauli 
mit und kommt mit ihm zu Rom an (ap. 28. B.14). In 
Rom war Lulas wenigſtens noch längere Zeit der Gehülfe 


über die Authentte der vier Evangelien. 87 


des Apofteld. Bon hier aus fchrieb Paulus an den Timo⸗ 
theud (im 2. Briefe): Lukas iſt allein bei mir; und im Brief 
an den Philemon ift Lukas mit unter den Brüßenben, 
Ebenfo im Briefe Pauli an die Koloffer. Hier erfahren 
wir, daß Lukas ein Arzt war und daß er dem Apoſtel vor 
Anderntheuer war. „Es grüßt ench Lukas, ber Arzt, 
der Geliebte, und Demas” (Koloff. 4. V. 19. Zugleich 

ı wird es bier zur Gewißheit, daß Lukas zu dem Heiden 
chriften gehörte, denn Kap. 4. B.10 u. 11. heißt ed: „Es 
grüßen euch Ariſtarchus, mein Mitgefangener, und Mars 
kus u. f. w. und Jeſus, genamt Juſtus, Die von den 
Befchnittenen find. Daranf folgen nod) andere Orks 
Bende, die alfo nicht von den Befchnittenen find, nnd 
unter ihnen Lukas. 

Wir Iernen alfo in Lukas einen Mann kennen, dem wir 
die hellenifche Bildung feiner Zeit in einem gewiflen Maße 
zufchreiben müffen. Er war ein Arzt, der in einer Sees 
ftadt lebte; in diefer Stellung mußte er die Anforderungen 

- feiner Zeit in Betreff der höheren Bildung erfüllen, mußte 
die Einwirkungen ihrer geiftigen Bewegung erfahren. 
War er, wie Eufebius berichtet, zu Antiochien in Syrien 
gebürtig, fo mußte er auch fchon in feiner Baterftadt unter 
der Anregung und Einwirkung ber damaligen Weltbildung 

geſtanden haben. Seine Bildung wird aber auch beurs 
Fundet durch feinen Styl, wie er fich inder Apoftelgefchichte 
Fundgibt, namentlich in denjenigen Theilen, wo er feiner 
eignen Ausbrudöweife ganz überlaflen ift, wo der hebrais 
firende Charakter der nenteftamentlichen Tradition ihn am 
wenigften bindet. Die dem hellenifchen Seifte eigne reine 
Beitimmtheit des Ausdruckes, die Klarheit der Vorſtellung, 
die schöne Moberation in der Darftellung kann man ihm 
nicht abfprechen. Als ein gebildeter Arzt mußte Lukas 
zur Reflerion geneigt, über die Leichtgläubigkeit des Volks⸗ 
geifted emporgehoben und mehr oder weniger zur For⸗ 
ſchung geflimmt feyn, wenn auch; ber Beruf und Stand 








5 — — — 
— — P — 
38 —— ". auge ’ ı 4 
> 


der damaligen Aerzte nicht: nach den Verhältniſſen der 

neueren Zeit: betrachtet werben fan.‘ Bei Lukas aber kam 
zu dem Anſehen, was er ald Arzt in Anfprud nehmen 
konnte, das Gewicht einer. ſchönen und bedeutenden Pers 
fönlichfeit. Den Umſtand, daß er zu einem vornehmen 
Manne, dem Theophilus, in einem freundfchaftlichen Ber, 
hältniffe ftand, wollen wir in diefer Beziehung nur bes 
rühren, aber. das zeugt entfchiedener für Die bedeutende 
Natur des Lukas;, daß er in ein fo inniges und bleibendes 
Berhättniß zu dem Apoftel Paulus treten konnte. Vielleicht 


lag es in feiner anfehnlihen Erfcheinung begründet, daß 


der politiſch rückſichtsvolle Magiftrat zu Philippi ihn uns 


angetaſtet ließ, ald Paulus und Silas ind Gefängniß ger 


- 


worfen wurden. Hätte es nämlich Lukas im dieſem Prüs 
fungefturme an ber nöthigen Treue im Belenntuiffe bes 
Evangeliums fehlen laffen, fo hätte Paulus ihn ſchwerlich 
fpäter wieder zu feinem Gefährten angenommen. In es 
rufalem ging er zum zweiten Male frei aus, und dennoch 
dauerte auch hier die Verbindung mit dem Apoftel fort. 
Diefe freie Hingebung, womit Lukas bleibend- in der 
engen Verbindung mit dem gewaltigen Paulus beharren 


konnte, beweift wohl, daß er nicht nur ein ausgezeichnet be- 


gabter, fondern auch ein charafterfelter, befcheidener, einer, 
feits fchmiegfamer, andererfeitd treuer Mann feyn mußte. 
Seine Befcheidenheit ift, wie wir eben fahen, aus der ges 
räufchlofen Art zu erkennen, womit er in die Geſchichte des 
Apofteld Paulus hineintritt... Sein Talent zur Forſchung 
und Darftellung beurfundet die Apoftelgefchichte. Wie 
zufammenhängend ift der Bericht von der erken Gründung 
und Ausbreitung der chriftlichen Kirche! Er laßt nichts 
Unmotivirted, fragmentarifch Dunkles in biefen Bericht 
eisifließeu, obfchon er dem Schauplaße diefer großen Les 
bensbewegung perſonlich fern gewefen it. Wie anfchaus 
lich ‚und "genau aber ift die Darftelung derjenigen Ereig⸗ 
niffe,. welche er miterlebt hat, namentlich der Seefahrt 





über die Authentie der vier Evangelien. 39 


nach Stalin! Daß er aber nicht bloß das Talent der 
Haren Auffaffung und Derftelung hatte, fondern auch 
zur kritiſchen Erforſchung der Zeitverhältniffe begabt und 
dafür gebildet war, hat Dr. Tholud in feiner Schrift 
gegen Stranß mit einer reichen Fülle von Beweifen auf 
eine fiegreiche Weiſe dargethan. Mit diefen Talenten und 
Zugenden aber wurde Lufas durch die entfchiebenfte Ber 
kehrung zu Chriſto ein Werkzeug feines göttlichen Geißes, 
ein Gehülfe am Werke der Apofel, ein Evangeliſt. Bon 
einem foldyen, hellenifch gebildeten Heiden, von einem 
ſchön begabten Arzte, der in einer Seeftadt lebte und nun 
. auf einmal alle feine alte Weltherrlichkeit um Chrifti wib⸗ 
len Dahingab, und der nun mit folcher Hingebung und Aus⸗ 
dauer für die Ausbreitung ded Evangeliums Iebte, müffen 
mir. vermutben, daß er früher fchon in der befferen Rich⸗ 
tung des hellenifchen Geifted geftanden, daß er zu ben 
fragenden, fuchenden, das Heil erfehnenden 
riechen gehört habe: Jedenfalls kam er zum Glauben 
an Chriftum nicht auf den vorbereftenden Wegen, welche 
die treuen Jfraelitenfeelen durch das A. X. geführt wurden, 
fondern auf freieren oder allgemeineren Wegen der götts 
lichen Reitung bes menfchlichen Geiſtes zum Heile. Nicht - 
fowohl die Erfüllung der altteftamentlichen Typen und 
Weißagungen, ald vielmehr die Erfüllung feiner Ahnun⸗ 
gen von dem fchönften der Menfchenkinder, feiner Sehn⸗ 
fucht nach der Offenbarung. der Gottheit und der göttlichen 
Wahrheit und Gnade im Fleifh, und endlich feiner Bors 
ftellungen von einem unausfprechlich huldreichen Menfchens 
freunde, Arzt und Helfer mußte ihn in ber Geſtalt Chriſti 
den Herrn der Herrlichkeit und den Heiland der Völker ers 
kennen laſſen. Die ethifche Natur des Chriſtenthums, feine 
geiftige Evidenz, feine gostmenfchliche Herrlichkeit und 
feine univerfele Macht und Richtung mußte fich der Seele 
eines ſolchen heflenifch gebildeten Gläubigen aus den Heis 
den tief Sr Mas aber inshefondere die Univerſa⸗ 


4 Lange 
lität des Lukas anlangt, fo können wir ſchon aus dem 
einen Umftande, daß er der geliebte, vieljährige Geführte 
des Paulus war, mit Gewißheit fchließen, daß ihm der 
univerfele Sharafter des Chriftenthums mit befonderer 
Klarheit aufgefchloffen feyn mußte, Gerade er mußte den 
Einwirfungen, des pharifäifchen Fanatifmus auf einen. 
nicht geringen Theil der Iudenchriften in den apoftolifchen 
Gemeinen befonders fern oder ftreng gegenüber ftehen. 
So lernen wir. in Lukas einen höchft einnehmenden Charakter 
aus der apoftolifchen Kirche kennen, einen Auserwählten, 
ber in feiner liebenswürdigen, talentvollen, kräftigen Ins 
dividualität vorab gereift war zu einer jener ſeltenen Golds 
früchte der hellenifchen Cultur, zu einem praftifchen Weis⸗ 
heitöfreunde, und der nun durch Die Gnade und Wahrheit 
Chriſti wiedergeboren und geheiligt wurde zu einem Sohne 
‚und Zeugen der lebendigen Weisheit, zu einem reich ges 
fegneten Evangeliften von der in Chrifto erfchienenen 
Freundlichkeit und Leutfeligkeit unfered Gottes und Heis 
landes, und deffen Talent und Bildung dazu geweiht 
wurde, der Kirche Ehrifti ein koſtbares Evangelium und 
eine unentbehrliche Urkunde ihrer Stiftung und erften ‘ 
Ausbreitung zu fchreiben. 
* 0 * 
5 

Diefer Lukas ift der Berfaffer des dritten Evangeliums. 
Ueberall hat daſſelbe dad Gepräge feiner Perfönlichkeit. 
Die befannten Einleitungsworte (Kap. 1. B.1—4) zeugen 
von feiner griechifchen Bildung. Sie zeugen zugleich das 
von, daß der Verfaffer eine Idee von Fritifcher Prüfung ber 
vorhandenen evangelifchen Leberlieferungen hatte und daß 
er dieſer Idee gemäß eine ftreng hiftorifche Darftellung der 
‚ evangelifchen Gefchichte geben wollte. Und in dem Con⸗ 
trafte, welchen der griechifche Styl der Einleitung mit dem 
hebraifirenden Style der gleich nachfolgenden Erzählungen, “ 
bildet, fowie des ganzen Evangeliums überhaupt, liegt 
eine Bürgfchaft für die Gewiflenhaftigkeit, womit er als 


über bie Authentie der vier Evangelin. 41 


——— zuverlaſſiger Memorabilien verfahren iſt. Er 
opfert ſofort den Trieb zur originellen und freien Darſtel⸗ 
lung ſeiner Ehrfurcht für die von ihm als echt und rein 
anerkannten urkundlichen Ueberlieferungen. Das Evau⸗ 
geltum des Lnkas verräth den gebildeten Forſcher, denn 
es enthält eine Menge eigenthümlicher Nachrichten, welche 
in den übrigen Evangelien fehlen. Dieß ift um To merk 
würdiger, da Lukas von allen vier Evangeliften der Ies 
bendigen Quelle der Evangelien am ferniten fland. Nicht 
anr die beiden Apoſtel Matthäus und Sohannes, fondern 
auch der Evangelifi Markus (letzterer als ein Ehrift, den 
die erſte Gemeine zu Sernfalem gezeugt hatte, und ale 
Schüler des Petrus) hatten vor ihm einen bedeutenden 
Borfprung. Demnach zeigt fich in der höchft bedeutenden 
Stellung des dritten Evangeliums, namentlich; in feinem 
Uebergewicht über das zweite, ein fchöner Segen der ges 
bildeten Forſchung, die der Sache Ehrifti geweiht iſt. Die 
entferntere Stellung aber, in welcher Lukas fich zu ber 
evangelifchen Tradition befand, prägt fich fo Kieblich in 
der treuen Sorgfalt und Behutfamfeit ab, womit Lukas 
die vielen fihriftlichen Memorabilien, auf denen fein Evans 
gelium beruht, zufammengefeßt hat. Diefer Umftand näm⸗ 
lich, daß Lukas von Anfang bis zu Ende nur Sammler 
and Ordner fchon vorhandener evangelifcher Schriften 
geweſen, foheint und durch Schleiermacher's Werk über 
die Schriften des Lufas völlig erwiefen zu feyn, wenn 
auch Die hinzugefügte Behauptung, daß er. „ſolche Schrifs 
ten unverändert durch feine Hand gehen lafje”, unerweis⸗ 
lich und zweifelhaft bleiben, und manche Analyfe der ein, 
zelnen Memorabilienverlettung mehr den großen Scharf- 
finn "Schleiermacher’d, als eine wirkliche Fuge zwifchen 
verfchiedenen Memorabilien beweifen möchte. Schleiermar 
» cher beweift belanintlich fowohl durch viele unverfennbare 
Schlußformeln, als durch Wiederholungen, welche ſich durch 
Das ganze Evangelium hindurchziehen, daß baffelbe aus 


| BE EZ Lange 


vielen Berichten componirt ſey, und daß Lukas diefe Bes 
richte fehr zart behandelt habe, indem er namentlid) die 
Schlußfoxmeln habe ſehen und alfe die einzelnen Fugen 
hervortreten laffen. Solche Schlußformeeln findet Schleier⸗ 
macher 3.8. Kap. 1. V. 80;. Kap. 2. B.18. 40. 52; Kap. 4 
V. 15. 41 u. ſ. f. Es iſt zu bedauern, daß auch in dieſer 
ſchleiermacher'ſchen Schrift Spitzfindigkeiten vorkommen, 
vermittelſt deren der Scharfſinn in ſein Gegentheil um⸗ 
ſchlägt, z. B. wenn er ſich das Uebernachten Jeſu auf 
einem Berge nicht anders zu denten weiß, als daraus, 
daß ihm das Gedränge der Karavanen in der Herberge 
käftig geworden ſey. Schleiermather bezeichnet aber deu 
kukas in feiner genannten Schrift nicht.nur als. einen gu⸗ 
ten Sanimler und Ordner, fondern: rühmt es auch, inde 
befondere, daß er faſt lauter vorzäglid echte und 
gute Stüde aufgenommen habe (5. 302), „Dieß”, fagt 
er, „it gewiß nicht das Werk des Zufalls, fondern die 
Frucht einer zwedmäßig angeftellten Forſchung und. einer 
‚wohl überlegten Wahl.” Der gebildete Forfchungsgeik 
des Lukas hat aber nicht bloß einen ſchönen Ertrag von 
befonderen, ihm eigenthümlichen evangelifchen Gefchichten 
zufammengebracht, fondern außerdem höchſt ſchätzens⸗ 
werthe Bemerfungen, durch welche die Erzählungen ber 
anderen Evangeliften ergänzt, erläutert oder gar berichtigt 
werden. So motivirt er allein bie Geburt Jeſu zu 
Bethlehem, die Gefchichte Johannis des Täufers, die 
Ericheinung des Mofed und Elias auf: dem Berge der Vers 
Härung (Kap. 9. B. 31), die Unterweifung der Sünger im 
Gebete des Herrn, den Hmftand, daß Petrus in Gethſe⸗ 
mane mit einem Schwerbdte bemaffuet war (Kap. 22: 3.38), 
und viele andere Punkte oder Begebenheiten in der evan⸗ 
geliſchen Geſchichte. Seine Darftellung it in manchen 
Stellen genauer, als die Des Matthäus und Markus. Er 
uuterfcheidet z. B. in der Weißagung Chrifti, von den letz⸗ 
ten Dingen beſtimmt zwifchen der Zerſtörung Jeruſalems 


über die Authentie der vier Evangelien. 43 


md dem Ende der Melt. Nach ihm lautet ber Ausdruck 
Chriſti von den himmliſchen Zeichen alſo: es werben Zei⸗ 
chen geſchehen an Sonne, Meud und Sternen; nach dem 
Audern werden die Sterne vom Dimmel fallen. Er hat 
und den großen Unterfchied zwiſchen dem unbußfertigen 
nnd bußfertigen Schächer und das felige Ende dei letz⸗ 
tern aufgehoben, während Matthäns flüchtig zuſammen⸗ 
faffend nur von den läfteruden Mitgekrenzigten berichtet. 
Er berichtet und von den Yüngern mit pfuchologifehem 
Derfändniß ihrer Stimmung: fie glaubten nicht vor 
renden (Kap. 24.8. 41), während Markus diefen Uns 
glauben als Herzenshärtigkeit nom Herra laßt geſcholten 
werden, was allerdings ebenfalls richtig it, infofern Die 
Sünger noch nicht ganz geheiligt waren (Marl. 16, 14). 
Ueberhaupt verräth dad Evangelium bed Lufas die Bil 
bung feines Berfaflers auch durch die eingeftreuten Re 
flerionen. Dapin rechnen wir 3. 3. die Bemerfung über 
Die Wunderthätigkeit Ehrifti: Die Kraft des Herrn 
ging von ihm, ed ging eine Kraftvon ihm aus 
und heilte fie alle (Kap. 5. B.17; Kap. 6. B. 10); 
zudem.den Bericht über die Beranlaffung der Verklärung 


Jeſu: Und da er betete, ward die Geftaltfeines 


Angefichte anders Mehrere Referate des. Evan 
geliums fcheinen in ihrer Aufnahme oder in ihrer Stellung 
Die Neigung des Verfaſſers zu der pſychologiſchen Neflerion 
zu offenbaren. Hat ung etwa der Berf. fogar in der heilig» 
ſeligen Stimmung der Mutter Jeſu ihre Diepafition: zu 
Der Geburt des heiligen Menfchenfohues andeuten- wollen? 
Laffen wir dieſe Frage dahingeſtellt; aber das iſt gewiß, 
dag er die Geſchichte von dem zmölfjährigen Jeſus wit 
einer Reflerion über feine wunderbare Gemüthsentfaltung 
aufgenommen hat; „Jeſus“, heißt es, „nahm zu an Alter, 
Weisheit und Gnade bei Gott uud den Menfchen.” Auch 
fcheint es nicht zufällig zu ſeyn, daß in ber Stelle Kap. 9. 
V. 54 — 62. die veligiös »moralifche Erſcheinung der wier 


U ange 


Temperamente in bifterifchen Vorfällen zuſammengeſtellt 
{ft und gezeigt wirb, wie Chriftuß fie alle miteinander 
behandelt und heilt, den cholerifchen Eifer der. Donnerds 
föhne, die fanguinifche Begeifterung eines gläubigen Schrift 
gelehrten, das melanchofifche Heimweh eines Trauernden 
und das phlegmatifche Zögern eines läffigen Jüngers. 
Diefe Zufammenftelung ift wenigftend dem Lukas eigen. 
Auch die bedeutende Bemerkung über die Stimmung ber 
Jünger, nachdem ihnen Sefus feine Leiden zuvor verfüns 
digt, hat Lukas allein und zwar mit einer fo außerordent⸗ 
lichen Emphafe,: daß man genöthigt ift, an die gedanfens 
vollſte Reflerion dabei zu denken, wenn man ihm nicht 
die gedankenloſeſte Tautologie aufbürden will, Es heißt 
nämlich Kap. 18. B. 31: Und fie verftanden von 
Biefen Dingen nihts; und dieſes Wort war 
ihnen verborgen, und fie ‚begriffen dag ©es 
fagte nicht. Vielleicht ließe ſich dieß in der Kürze fo 
wiedergeben: fle wollten und Fonnten es nicht ver 
ſtehen; nämlic, erftlich nahmen‘ fie nichts davon zu Herzen, 
darum blieb ihnen zweitend Die ganze Sache ein Räthfel, 
und darum war ihnen Drittens auch das Einzelne nicht 
verftändlich. Ohne Zweifel legt hier der motivirende 
Lulas deßwegen ein fo ſtarkes Fundament, weil er darauf 
. fpäter die feltfame Erfcheinung zu bauen hat, daß bie 
Sünger die Auferfiehung Sefu, die ihnen doch zuvor vers 
fündigt war, nicht glauben mochten. Auch in der Bemers 
tung, weldye Lukas macht, nachdem er erzählt hat, wie 
Pilatus den gefangenen Jeſus zum Herodes ind Gericht 
gefhidt habe, an jenem Tage feyen Pilatus und Herobes 
Freunde geworben, glauben wir eine pfuchologifche Re⸗ 
flerion und zwar dag, ironifche Wort eines feinen chrifts 
lichen Menſchenfenners zu vernehmen. Bon demfelben 
pſychologiſchen Scharfblice für die Wunder des Lichts zeugt 
die Aufbewahrung der herrlichen Erzählung, wie Sefus 
den Petrus angeblidt habe, nachdem ihn diefer dreimal“ 


über die Authentie der: vier Evangelien. 45 


verleugnet. Indem wir nun ſchon fo manche Spuren bed 
Pſychologen im Evangelium gefunden haben, find wir ja 
bereits dem Arzte nahe gekommen. Um auch den Arzt 
felber im Evangelium zu entdecken, wollen wir nick fo 
weit gehen, die etwaigen mebicinifchen Kunſtausdrücke in 
demfelben aufzufuchen. Nur eine Gefchicdhte wollen wir in 
dieſer Beziehung genauer ins Auge fallen. Alle vier Evan⸗ 
geliften nämlich erzählen und die Uebereilung, in welcher 
Petrus dem Maldıus, einem Knechte des Hohenprieſters, 
das: Ohr abgehauen.. Matthäus, Markus und Johannes 
aber ſcheinen im Bedränge des verhänguißvollen Moments 
Diefes kleine Ungemach zu vergeſſen. Chriſtus der Heiland 
ober konnte die Wunbe des Leidenden felbft in der ſchreck⸗ 
lichften Lage nicht unbeachtet Iaffen, nnd weil eine Rotiz 
von feiner Hülfe vorhanden war, fo fonute fie Lukas der 
Arzt nicht fallen laſſen, wie die übrigen, Hier mußte fich 
der Arzt in einer haratterikifchen Relation bewähren und 
er thut es mit dem Worte: Jeſus rührete fein Ohr au und 
heilete ihn. Auch won dem Schmeiße, der in Gethfemane 
gleichwie Blutstropfen von. Se AENEENCR: erzählt Lu⸗ 
kas allein. 

Dasß der Verfaſſer des dritten Evangelinms einen heiden⸗ 
chriſtlichen, univerſellen Standpunkt hatte, wie wir ihn 
dem Lukas zuſchreiben müſſen, zeigt ſich überall. Nur 
würden wir zu weit gehen, wenn wir dem Evangeliſten 
dabei eine gewiſſe Abſichtlichkeit, ein ſyſtematiſches Ver⸗ 
fahren oder gar ein bewußtes polemiſtrendes Verfahren 
gegen die pharifälfche Partei in der erften Kirche aufdrins 
gen wollten. : Darum haben wir auch feine Rechenfchaft 
von der anffallenden Erfcheinung zu geben, daß nicht 
gerade Lukas die Gefchichte von den morgenländifchen 
Weiſen berichtet. Sein freierer Standpunkt gibt ſich viels 
leicht fchon darin zu erfennen, daß er nicht Das Geſchlechts⸗ 
regifter des Sofeph aufgenommen hat, ſondern ein folched, 
wovon wir vermuthen müſſen, daß es der Maria ange⸗ 


% 
= + + * 
— Hure - 
46 + Lange" 


hört, und gewiß zeigt er fich darin, daß er dieſe Genea⸗ 
togie, alle abrahamitiſche Particularität durchbrechend, 
dis anf Adam zurüdführt.. Unch darin fcheint: fich der 
Evangeliſt aus den Heidenchriſten zu entdecken, daß hier 
jene Rebe Jeſu aufbewahrt worden if, wotin Jeſus Dix 
“Beute von Ninive und die. Königin aus: dem Süden als 
Berklüger gegen. dad Geſchlecht feiner Zeit auftreten läßt: 
Diefer univerfale Standpunkt gab:bem Evangeliften auch 
einen befondern Sinn für: jene Argumentationen Chrifi, 
die nicht aus dem alten Teſtamente, fondern mit ratios 
neller Kraft aus. dem Volksleben gegriffen waren; z. ®. 
Ent..13, 15 ff: „Röfer nicht. Jeder: von euch am Sabbath 


feinen Dchfen ober. Efel von der Krippe und führt ihn zur 


Tränfe, und diefe Tochter Abraham's, die der Satan ges 
banden hatte [don achtzehn Jahre, ſollte nicht gelöft wers 
den von. biefem Band. am Sabbath?’ In diefer Bezie⸗ 
hung:ift noch zu bemerlen, daß Lukas allein Die Gefchichte 
som barmherzigen Samariter hat,-er allein bie Gefchichte 
vor. den: gehn geteilten Arröfigigen „unter denen nur ein 
Danfbarer war und. diefer aberminld: ein: Samariter, zur 


dem das Gleichniß von dem Zöllner und Pharifäer.; lauter 
Stüde, in benen fi das Ducchbrechen des Geiftes Chriſti 


durch den jüdifchen Particularifmng offenbart. Wir has 
den oben.gefehen, baß ein hellenifch gebilveter Geift, wenn 
er. zum Chriftenthume befehrt wurde, befonders von dem 
religiös « ethifchen Wefen Chriftt‘, von der Erfcheinnng der 
Freindlichkeit und Leutfeligfeit. Gottes in ihm, dem Heis 
kınde, ergriffen feygn mußte. Und diefe Ergriffenheit vor 


der Huld des Herrn zeigt ſich durchweg Im Evangelium ' 


des Lukas recht vorherrfchend Darüber fohreibt Sunder 
in dem ober erwähnten. Wertchen (8. 11): „Lukas ſtellt 
und den Herrn vorzüglich als den barmherzigen Hohens 
prieiter dar, der Mitleid mit uns haben kann; ftellt ihn 
dar ald den, der gefalbt ift, zu heilen Die zerftoßenen 
Herzen, den Armen das Evangelium zu verfündigen;. ba 








über die Anthentie der vier Evangelien. 8: 


wird und in fo vielen Befchichten und Gleidmiffen bie Ger 
ftalt eines bußfertigen Herzens befchrieben und die Sändete 
iede des Sunderheilands, ber den verloren Söhnen; 
dem Zachäus, der Sünderin, dem Petrus entgegeneilt.” 
S. 35: „Hier wird auch ber Barmherzige in feiner Freund⸗ 
lichkeit und Holdfeligfeit und vor die Augen gemalt, wie 
er fi herunterläßt zu den Tiefgefallenen, wie er in allen 
Stüden uns gleich geworden, ausgenommen die Sünde, 
wie er weinet mit den Weinenden, und wie unfer Schmetz 
fein Schmerz geworden; er wird und vorgemalt als der, 
der das Niedrige und Geringe erwählt, was da nichts A, 
auf daß er zu Schanden mache, was. ctwas if.” Diefe 
Charakterzüge findet nun Sander wieder in der Befchichte 
von der Maria, von den Hirten, vom Jünglinge zu Rain, 
von ber bußfertigen Sünderin, vom barmherzigen Sama⸗ 
titer, in den drei Sleichniffen vom verlormen Schafe, vom 
verlornen Srofchen und vom verloruen Sehne, von den 


:  weinenden Weibern, welche Jeſu nachfolgten, von dem 


begnadigten Schäder und von den Füngern, die nad 
Emmaus gingen: 

So ziemte es befonders dem hellenifchen Geiſte des 
kLukas in feiner Belehrung, daß er Ehriftum ale den Schön» 
ften unter ben Menſchenkindern erkannte, aus deffen 
Munde holdfelige Worte gingen (Ruf, 4, 22)5 
daß er die herablaffende Gnade Gottes in Ehrifto in ihrer 
Schönheit erkannte, als Leutfeligkeit, als die freie, heiter 
waltende, berzengewinnende, leicht: und ſchnell fich ers 
barmende, Alles lindernde, Alles heilende Huld des Herrn. 
Se ift das Evangelium des Enfas ein Büchlein von dem 
huldreichen Herrn der Herrlichkeit. Welch ein heiteres 
Freudenlicht der Weltverföhnung liegt hier auf den erften 
Blättern von der Geburt Sefn! Wenn Lukas in feiner 
Bergprebigt (Kap. 6) die Armen, die Hungernden und 
die Weinenden fchlechthin von dem Herrn felig gepriefen 
werden läßt, fo möchten wir darin keineswegs eine un⸗ 


48 Lange 
genauere, fondern eine. urfprünglichere Rebaction finden 
ober wenigftens eine ſolche, welche durch den chriſtlich⸗ j 
yhilanthropifchen Sinn dee Lukas nach wirklichen Ausſprü⸗ 
chen des Herrn dieſe Seftalt befommen. Darum hat er eben 
auch das Gleichniß, worin der arme Lazarus felig wird, 
und die Gefchichte, worin die weinende Mutter des todten 
Jünglings von Jeſu mit den Worten getröftet wird: weine 
nicht! Lukas hat das Eöniglichfte Gleichniß von der Liebe 
Gottes, nämlid das Gleichniß vom verlornen Sohn, 
und ebenfo hat er das Föniglichfte Gleichniß von der Mens 
ſchenliebe, nämlich, die Erzählung von dem barmherzigen 
Samariter, Und nun fpielen noch fo viele einzelne Züge 
durch fein Evangelium, welche nicht nur Die gläubige Er- 
tenntniß des’ huldreichen Herrn, fondern auch Den liebe⸗ 
vollen „ innig menfchenfreundlichen Sinn des Evangeliften 
beurkunden; 3. B. dad Weinen Jeſu über die Stadt Serus 
falem; die Zürbitte Jefu: Bater, vergib ihnen, denn fie 
wiffen nicht, was fie thun; das wehmüthige Zurückblicken 
auf die Töchter Serufalems, die ihm weinend nachziehen, 
und der erwedende Blick, mit welchem er den gefallenen 
Petrus anſah. So erfcheint uns alfo bas dritte Evans 
gelium, fowohl was feine innerliche Originalität, ald auch 
was feine eigentbümliche Fülle anlangt, insbefondere auch 
mit der unerfeßlihen Schlußgefcdhichte von der Himmels 
fahrt des Herrn als ein Werk, welches auf einen höchſt 
bedeutenden, griechifch gebildeten, heidenchriftlichen Chas 
rafter fchließen läßt, auf einen Charakter, wie wir ihn 
in Lukas dem Arzte, dem „geliebten” Freunde des 
Apofteld Paulus Fennen lernten: 


4. Johannes. 


Wenn die Individualität des vierten Evangeliums aus 
der Individualität des Johannes erklärt werden foll, fo 
müffen wir auf die Züge Berzicht Ieiften, welche ung zu 
feiner Charakteriſtik im vierten Evangelium felber gegeben 


über die Authentie der vier Evangelin. 49 


find. ; hoͤchſtens dürfen wir diefelben zur Erläuterung ober 
Beftätigung des fonft Gefundenen anführen. Wir milffen 
alfo ſuchen, den Evangeliften aus den drei anderen Evans 
gelien, aus der Apoftelgefchichte und aus feinen fonfligen 
Schriften kennen zu lernen; und infofern die Aucthentie 
ber Apofalypfe in Frage geftellt if}, dürfen wir und auch 
auf Diefe nicht mit dem Gewicht unferer Sache flüßen. 
Bon einem volftändigen Gemälde des Evangeliften fann 
‚alfo bei dieſem vierten am wenigften Die Rede feyn. Und 
wenn wir auch von der erwähnten Verzichtleiftung abfes 
hen wollten, fo möchten wir e& dennoch nicht wagen, ein 
Bild dieſes fchönen, tieffinnigen und adligen Geiftes zu 
verfprechen, dem die firchliche Malerei zum Attribut einen 
Adler gegeben hat, um die Schärfe und prophetifche 
Kraft feines geiftigen Blicks, die herrliche Schwungfraft 
feines Gemüthes, das großartig Edle und Starke feines 
Sinnes zu bezeichnen. 

Bei der Aufzeichnung der Züge, welche und mit dem 
Evangeliften Johannes befannt machen, erlaube man mir, 
die Darftelung meined verehrten Lehrers, des Herrn‘ 
Dr. Lüde cin feinem Commentare zum Ev. Joh., Theil), 
zu benußen. „Sohannes war”, fo heißt es in dem ges 
nannten Werke (S.6ff.), „nach Matth.4,215 Mark.ı,19; 
Matth. 10,2; Mark. 10, 35; Matth. 27, 56; vergl. Mark. 
15, 40; 16, 1. der Sohn des Zebedäus und ber Salome, 
der wahrfcheinlich jüngere Bruder des Apofteld Jakobus 
des Aelteren, deſſen früher Märtprertod unter Herodes 
Agrippa Apg. 12, 2. erzählt wird.” Der. Bater war ein 
galiläifcher. Fifcher am See Genezareth; ob in Bethfaida 
wohnhaft, weiß man nicht.” 

„Wahrfcheinlich bald im Anfange feines öffentlichen 
Lehramtes in Galiläa ruft Sefus ihn und feinen Bruder 
zugleich mit Petrus und Andreas, ihren Genoffen, mitten 
pus ihrer Gewerbthätigfeit zu befländiger Nachfolge und 
apoftokifcher Süngerfchaft (Matth. 4, 18 ff. ; — 1, 16; — 

Theol. Stud. Jahrg. 1889. 


/ 


' 


50 | Range 


Luk. 5, 1-10. Der Berufung geht nad Lufas unmittels 
bar vorher eine wunderbare That des Erlöfers. Darin 
lag gewiß etwas unmittelbar Anregendes auch für Jo⸗ 
haunes.“ — | 

„Außer den mis allen übrigen Apoſteln gemeinfamen 
Erregungss und Bildungsmomenten im Umgange Jeſu 
wurde er mit feinem Bruder und Petrus von Sefu eines 
befonderen Vertrauend und eines näheren Umgangs ger 
würdigt, und fo Zeuge von befonders merfwürdigen Bes 
gebenheiten und. Zuftänden im Leben des Erlöferde. Nur 


er ift mit Petrus und feinem Bruder in dem Augenblide 


gegenwärtig, ald Sefus die Tochter des Jairus erwedt 
(Mark. 5, 37).. Auch bei der geheimnißvoll wunderbaren 
Berflärung Chrifsi auf dem Berge waren nur er, Jakobus 
und Petrus Zeugen (Matth. 17, 1). Und ebenfo find nur 
diefe drei mit Ehrifto, als er in Gethfemane fich von den 
Uebrigen entfernt und im Gebet innerlidy kämpft (Matth. 
3, 37; Mark. 14, 33). Solcher befonderen Momente im 
Leben feines Meiſters mag er mit den beiden Anderen noch 
öfter bevorzugter Zeuge gewefen feyn.” 

„Er gehörte zu den Charakteren, in denen ber Geift 
der Kiebe, je feuriger und inniger er iſt, defto mehr mit 
natürlicher Heftigkeit zu Fampfen hat. Die Sanftmuth 
und Zartheit, die man an ihm zu rühmen gewohnt ift, 
ohne doch bejondere Züge Davon nachweiſen zu können, 
lag mehr in dem allgemeinen Principe der hriftlichen Liebe, 
das er mit befonderer Tiefe und Wahrheit ergriffen hatte, 
als in feinem individuellen Temperamente. Dieß war 
vielmehr von Natur heftig und zernig. Als einft die Ein⸗ 
wohner eined famaritanifchen Fledend ben Herrn nicht 
aufnehmen wollten, brach er zornig mit Jakobus, feinem 
Bruder, in die Worte aus: Herr, willſt du, Daß wir Ferner 
vom. Himmel heißen herabfallen und jene verzehren, wie 
aud, Elias gethan? — fo daß Chriftus ihnen fcheltend er» 
widerte: Wiffet ihr nicht, weß Geiſtes Kinder ihr ſeyd? 





fiber bie Authentie der vier he 51 


"Und das gefchah nicht im Anfange feiner Jüngerfchaft, 
fondern auf der legten Reife bes Herrn nad Jernſalem 
zum Tode (Luk. 9, Sı ff.). Chriftus erfannte diefen Cha⸗ 
ralterzug ber beiden Brüder ſehr bald und fcheint ihnen 
eben deßwegen ben Beinamen der Donnersfühne, Bom- 
vegyis (Mark. 3, 17), gegeben zu haben; ob bei jenem bes 
fonderen Vorfall, oder einem ähnlichen, ift unbelannt.” 

Herr Dr. Lücke macht hierbei folgende Note: „— — Bears 
gleiche die fehr gründliche Abhandlung über die Bedeutung 
des den Söhnen Zebebäi (Mark. 3, 17) ertheilten Beina⸗ 
mens Boavepyis, von J.F. K. Gur litt, in den Studien und 
Kritiken v. J. 1829, Heft 4, S. TIs ff. Der Verf. hat 
gewiß Recht, wenn er meint, der Vergleichungsgrund 
ſey die ſinnloſe, zerſtörende Macht des Donners. Aber 
darin können wir ihm nicht beiſtimmen, wenn er, um die 
ältere Auslegung von der tiefſinnigen Rede, beſonders im 
dem Joh. Ev. (Theophylakt ſagt zu Mark. 3, 17. vier 
Boovris dvoudtes todg tod Zeßzöalov ag neryalommipuxag 
xcl FeoAopınwrdrovg), mit der neuern zu verbinden, fagt, es 
werde im Allgemeinen darauf hingewiefen, daß die Söhne 
‚des Zebedäud Leute von einer überwiegenden Fülle des 
Gefühls gewefen feyen. Gene erftere, unter den griechis 
fhen Vätern übliche Erklärung iſt augenſcheinlich falſch 
und beruht auf einem befannten rhetoriſchen Sprach⸗ 
gebrauche. Anders, und fo 'gewendet, wie der Verf. that, 
ermangelt die Bezeichnung eined — Vergleichungs⸗ 
punttes.“ 

Hierauf. heißt ed weiter in dem angeführten Terte: . 
„Nach der Erzählung Matth, 20,20--285 Mark. 10, 35—45, 
wagen beide Brüder mit ihrer Mutter. die Bitte, Jefus 
möge fie in feinem Neiche feinem Throne zumächft fielen; 
fie wollen die höchſtern Würdenträger des neuen Reiches 
werden. Mag zunäck nur die Mutter die unverkändige 
Bitte audgefprochen haben, — fie waren mitwiffende Theis 
nehmer. Jedenfulls alfo verratken. fie hier — wir wiſſen 

| | 4* | 


— 





52 Lange | 
nicht, wie früh ober fpät in ihrer Tüngerfhaft — einen 
Zug von Ehrgeiz, der wohl ebenfo fehr mit der heftigen 
Lebhaftigfeit ihres Temperaments, als mit ihrem damali⸗ 
gen Unverftande zufammenhing. Gewiß fänftigte und vers 
edelte fich in Johannes je länger je mehr jene jugendliche 
Heftigfeit durch die Macht des chriftlichen Liebeggeiftes. 
Aber auch fpäterhin zeigt fic im Charakter des Johannes 
weit weniger die fanftmüthige und milde, ald jene ftarfe 
und feurige Liebe, welche, verbunden mit einem lebhaften Ges 
fühle von der auefchließlichen Wahrheit des Evangeliums, 
Den Gedanken der chriftlichen zoicıg in der Welt mit aller 
Schärfe durchführt und ausübt.” | 

„Nach der Rückkehr Ehrifti in den Himmel verliert fi 
Johannes zunächſt unter den übrigen Apofteln. Er ers 
fcheint nebft Petrus in Gerufalem (Apg. 3, 1.) im Tem⸗ 
pel lehrend; dann finden wir ihn (Apg. 8) in Begleitung 
des Petrus in Samarien, von Ierufalem ausgefandt, um 
hier die neuen Ehriften durch Mittheilung des heiligen 
Geiſtes zu befefligen. Aber hier, wie dort, tritt er hinter 
Petrus zurüd. Gewiß war er nicht unthätig, aber bie 
größere Kebhaftigfeit des Petrus verdunkelt ihn, wenige 

ſtens in der Tradition der Apoftelgefchichte.” 

„Salat. 2, 2—9. trifft Paulus ihn mit Petrus und 
Jakobus dem Jüngeren in Jeruſalem anmwefend; dieſe drei 
. galten damals ald Säulen der Kirche. 

Zuerft alfo finden wir den Sohannes unter ben Zwölfen 
ohne eine andere Augzeichnung, als diejenige, daß er zu 
den früheften, .— Befennern und Schülern Jeſu 
gehört. Diefe Auszeichnung hatte aber auch Andreas mit 
ihm gemein, von welchem doc fonit nichts die andern 
Apoftel Ueberragendes befannt ift. Dann aber tritt Jos 
hannes mit feinem Bruder Jakobus und mit Petrus in 
eine befonders vertrauliche Stellung zu dem Herrn; biefe 
drei werben die Auserwählteften unter den Auserwählten. 
Und nun konnen wir ſchon nicht umhin, ihn als eine and» 


über die Authentie der vier Evangelien. 53 


gezeichnete Perfönlichfeit zu betrachten, denn unmöglich 
konnte der Herr in ein fo inniges Berhältniß zu folchen 
Sharalteren treten, welche nicht mit intellectuellen nnb 
ethifchen Anlagen auf das Glüdlichfte begabt waren. Nun 
ſteht er wieder mit feinem Bruder Jakobus eine Zeit lang 
auf gleicher Linie und iſt fogar mit: diefem zuſammenge⸗ 
faßt unter dem Namen der Donnersföhne, auf welchen 
‚wir am füglichften zuletzt surädfommen. Dann aber wird 
er auch dem Jakobus vorangeftellt, zuerft in dem Auftrage, 
‚ den er mit Petrns erhält, dem Herrn das Ofterlamm zu 
bereiten (Ruf. 22, 8). Auf diefen Umftand an fich dürfen 
wir zwar fein großes Gewicht legen, aber wir finden 
fpäter dieſe audgezeichnete Stellung bes Johannes perma⸗ 
nent geworden in ber Apoftelgefchichte. Hier tritt er überall 
allein mit Petrus an der Spibe der, Apoftelfhaar auf; 
er alfo und Petrus find nach entfchiedener Anerkennung, 
welche fchon der Herr begründet hat, die begabteften, die 
gefegnetiten und bedeutendften Säulen der Kirche. Petrus 
aber überwiegt ihn bei Weitem an hervortretender herois 
fcher Thatfraft; Johannes geht in myfteriöfer Schweig«- 
famfeit neben dem leitenden, gewaltig predigenden, wun⸗ 
derwirfenden und bahnbrechenden Apoftelfiirften her. Dems 
zufolge müßte man ihn, was die Macht feines perfünlichen 
Weſens anlangt, für viel unbebeutender, ald den Petrus 
halten, wenn nicht fchon das vollfommen gleiche Anfehen 
auf ein Gleichgewicht diefer Perfönlichfeiten fchließen ließe. 
Wir müffen demnad; die augzeichnenden Gnadengaben des 
Sohannes in einer von der hervortretenden Thatkraft weit 
abltegenden, weniger bemerkbaren Ssnuerlichkeit fuchen; 
und wenn das Gleichgewicht der beiden Perfönlichfeiten 
nur einigermaßen feftgehalten werden fol, fo müffen wir 
erwarten, daß Johannes ebenfo dem Petrus an Kräften 
des innerlihen ſchauenden Geiftes überlegen ift, wie feis 
nerſeits Petrus ihn durch die Kräfte des handelnden 
Geiſtes überragt. Diefe Erwartung beftätigt fih aber voll- . 


Te DE 7 


fommen, wenn wir nun die Briefe des Johannes niher 
anfehen, um aus der Eigenthümlichkeit derfelben feine 
Individualität näher kennen zu lernen, und weiterhin 
diefe Briefe mit denen des Petrus vergleichen. Halten 
wir anch fireng an der Wahrheit feſt, daß die Briefe der 
Apoftel alle denfelben Geift ber Wahrheit, des Glaubens 
und der heiligenden Kraft beurfunden, daß fie eine gött⸗ 
liche Seite haben, anf welcher fie vollkommen miteinander 
übereinffimmen, fo ift es doch ebenfalls eine ausgemachte 
Wahrheit, daß in dem Fichte dieſes göttlichen Geiftes fich 
zugleich Die menfchlidhen Perfönlichkeiten der Apoftel anf 
reinfte ausgeprägt darftellen, und daß dieſe uns in fehr 
bedeutenden Unterfchieden entgegentreten. Wie fo "ganz 
anders zeigt fich 3. 3. die Individualität des Jakobus, ale 
bie des Paulus! Und ebenfo fiellt ſich das eigenthümliche 
Weſen ded Sohannes aus feinen Briefen in fchöner Klars 
heit heraus und kann demzufolge mit der Perföntichkeit 
verglichen werden, welche ſich in den Briefen des Petrus 
fpiegelt, und welche wir bereits genauer als .eine fenrige, 
lebhafte, thatfräftige fennen. Sehen wir den erften Brief 
des Apofteld Petrus an, fo tritt ung hier ber firebende 
Geiſt entgegen, der fich die chriftliche Hoffnung, das ums 
vergängliche Erbe mit Vorliebe ind Auge gefaßt bat, und 
ber fich des einfligen Wiederfehend des Herrn freuen will 
mit unausfprecdjlicher und herrlicher Freude; der predis 
gende Geift, der mannichfaltig ermuntert, ermahnt und 
tröftet und auch von bem Herrn verfündigt, daß er felbft 
den Geiftern im Gefängniffe gepredigt habe; der Fühn- 
gläubige Geift, der fich mit feinen Mitchriften als ein 
auserwähltes Gefchlecht, als ein Fönigliches Priefterthum, 
welches die Tugenden Chrifti verfündigen fol, betrachtet; 
der handelnde und verwaltende Geift, der bald den 


\ 


Chriften überhaupt, bald den Knechten, bald den Weibern, _ 


bald den Männern, bald den Xelteften, bald den jungen 
Ehriften fpeciele Ermahnungen gibt; der lebhafte, in 





‘ 


über die Authentie der vier Evangelien. 35 


concreten Anfchanumgen ſich bewegende Geift, der gern in 
Bildern, Gleichniffen und Beifpielen redet, 3. B. von dem 
Golde, das durchs Fener geläutertift, von ber vernünftigen, 
Inutern Milch der Wahrheit, von dem koftbaren Edfteine, von 
bem vorbildlichen Gehorfame der Sarah; der ftreitbare 
and ftreitbewußte Geift, der den Widerfacher, den 
Teufel, umhergehen fiehet wie einen brüllenden Löwen; 
endlich der fchmerzenreich gelänterte Geiſt, ber 
den Widerfachern nicht durch Uebelthun, fondern durch 
Wohlthun den Mund geftopft wiſſen will — mit einem 
Worte, es if überall der wiebergeborne Petrus, der bier 
zu uns redet. | 

Wenden wir und nun zu ben Briefen des Johannes, fo 
treten bie petrinifhen Züge fehr zurüd, dagegen treten 
andere jehr hervor, in denen die herrlichen Gnabdengaben 
bes Johannes fich pffenbaren. Der gemeinfame Grundzug 
derfelben ift mächtige Innerlichkeit, eine Innerlichfeit, die 


ſich im Tieffinn, in ſtarker Innigkeit, ftrenger Lauterkeit, 


elaftifcher, hervorbligender Willenskraft, frifcher Idealität, 
erhabener Einfalt und behaglicdyer Gemüthlichkeit entfaltet 
and ausbreitet. Die Innerlichkeit.des Apofteld äußert füch 
negativ darin, daß hiltorifche Momente und fpecielle Bors 
fchriften in feinen Briefen Außerft felten vorfommen, pofls 


tiv darin, baß er immer von der gedantenvollften Betrach⸗ 


tung ausgeht und auf Diefelbe zurückkommt. Wie tieffinnig 
{ft gleich der Beginn feines erften Briefes; Chriſtus ift das 
erfchienene Leben; dafjelbe Leben, das von Anfang war, 
haben die Apoſtel mit ihren Augen gefehen, mit ihren 
Händen betaftet. Und nun geht der Zug bed erleuchteten 
Tieffinnd durch Alles hindurch. „Gott ift ein Licht, und 


‚in Ihm ift feine Finfterniß.” „Die von und ausgegangen 


find, waren nicht von und; wären fie von und gewefen, 
fo wären fie bei ung geblieben.” „Ihr habt die Salbung 
von dem, ber heilig ift, und wiſſet Alles.” „Mer in ihm 
bleibet, der ſündiget nicht.” „Rindlein, ihr feyb von 


} 


56 8 kange 


Gott und habt jene überwunden; denn der in euch iſt, 
iſt größer, als der in der Welt iſt.“ „Chriſtus iſt erſchie⸗ 
nen, auf daß er unfere Sünden wegnehme.“ — Johannes 
aber philofophirt nicht in abftracter Dialektik, fondern er 
bewegt fich in dem Lichte, das ihm leuchtet, darum bes 
wegt fich mit dem tieffinnigen Geift in ihm ein tieffinniges 
Herz. Eine folche Innigkeit tritt 3. B.- in den Worten 
hervor: „Kinder, es ift die lebte Stunde.” — „Und nun, 
Kindlein, bleibet bei ihm” u. ſ. w. — „Sehet, welch eine 
Liebe hat und ber Vater erzeigt, daB wir Gottes Kinder 
follen heißen.” — „Shr Lieben, laffet und einander lieb 
haben.” — „Laſſet uns ihn lieben, denn er hat ung zuerft 
geliebt.” Die firenge Lauterkeit des johanneifchen Gemüths 
beurfunbet ſich fofort in feinem Briefe. „So wir fagen, 
daß wir Gemeinfchaft mit ihm haben, und wandeln in Fins 
fterniß, fo lügen wir und thun nicht die Wahrheit.” Und 
weiterhin zeigt fie fidy überall, z. B.: „Wer da fündiget, 
der hat ihn nicht gefehen, noch erfannt.” — „Wer Sünde 
thut, der ift vom Teufel” Bon feiner hervorblißenden 
Willenskraft möge das eine Wort im zweiten Briefe zeits 
gen: „So Jemand zu euch fommt und bringet diefe Lehre 
‚nicht, den nehmer nicht auf ind Haus und grüßet ihn auch 
nicht.” Elaftifch nannten wir diefe Willenskraft aber, weil 
‚fie bei den befchaulichen Geiftern in der Negel von diefer 
Art ift, und hier möchten wir ein Merkmal diefer Elaftis 
cität in dem dritten Briefe finden, wenn es vom Diotrephes 
heißt: „Darum will ich, wenn ich Fomme, ihm vorhalten 
feine Werke, die er thut, indem er mit böfen Worten wider 
uns plaudert.” Paulus fprach in ähnlichen Fällen wohl 
beftimmter, durchgreifender. Sehr bedeutend tritt der 
ideale Trieb des Apoftels in feinem erften Briefe hervor. 
Wenn es z. 8. heißt: „wer feinen Bruder haffet, der ift- 
ein Todtfchläger”, fo lefen wir in der Seele eines hriftlichen 
Mannes, dem die Gedankenwelt mit der Erfcheinungswelt 
faft identifch geworben ift. Ihm löſt ſich Die Perfon des 


über die Authentie ber vier Evangelin. 57 


Widerchriſten ideell in viele Widerchriften auf (8.2. 3.18) 
oder in den Geiſt des Widerchriſts (K. 4.3.3). In dies 
fem idealen Zuge führt er die pofltiveren chriftlichen Ber 
griffe gern auf eine tiefe religiondsphilofophifche Baſis 
zurüd, wenn er 3. 8. fagt: „Die Sünde ift das Unrecht 
(die Gefeglofigkeit).” „Wer lieb bat, der ift von Gott 
geboren und. fennet Gott” „Wer num befennet, daß 
Sefus Gottes Sohn ift, in dem bleibet Gott und er in Gott.” 
„Darin ift die Liebe vollendet unter ung, daß wir Freudig⸗ 
keit haben am Tage des Gerichts, weil fo wie er ift, auch 
wir find in diefer Welt. Furcht ift nicht in der Liebe, fon» 
dern die völlige Liebe treibet Die Furcht aus. Furcht hat 
Dein, wer fich aber fürchtet, der ift nicht vollendet in ber 
Liebe.” Sn diefer idealen Richtung ift Denn Johaunes aud) 
vorherrfchend ber Theologe unter den Apofeln geworben; 
fowie die fritifche Seite der chriftlichen. Erfenntniß durch 
den Apoftel Thomas vertreten ift, fo ift die höhere willen» 
ſchaftliche Seite derfelben durch ihn vertreten. Verſchmolzen 
_ aber ift in ihm dieſe Kraft des Tieffinnd und der höheren 
Erkenntniß mit einer erhabenen Einfalt, die ihn 5. 3. ſa⸗ 
. gen läßt: Kindlein, bleibet bei ihm — laffet und einander 
lieb haben, und Aehnliches, fo daß ein Geiftlicher gerade - 
- feinen befchränfteften Confirmanden auserlefene Denk⸗ 
fprühe aus den Schriften des Johannes geben kann. 
Der Charafterzug behaglicher Gemüthlichkeit, welchen ihm 
auch Die Legende in der Erzählung von feinem Spielen mit ' 
feinem Lieblingsvogel beilegt, erfcheint in feinen Briefen 
an mehreren Etellen, 3.8. in den Wiederholungen : ich habe 
euch Bätern gefchrieben, ich habe euch Günglingen gefchrieben 
2. f. w.; in dem zweiten Briefe in den Neußerungen feiner 
Freude über die Kinder der auderwählten Frau und bes 
fonders in der Schlußäußerung: ich hätte euch viel zu 
fehreiben, aber ich wollte e8 nicht durch Papier und Tinte, 
benn ich hoffe, gu euch zu kommen und mündlich mit euch 
- zu reden, auf daß unfere Freude vollkommen fey. Achns 
lich äußert er fich im dritten Briefe 2. 13. 


38 Lange 


Daß ein folcher Geift, wie dieſer johanneifche, fehr 
deutlich auf die Apokalypſe hinweilt, oder daß ebenfo Die 
Apokalypſe anf ihn zurücweift, wollen wir hier nur ans 
beuten. 

Und nun ift und die Individualität des Johannes in 
ihren Hanptzügen Mar und beflimmt genug entgegengetres 
ten, fo daß wir jegt auch die erlänternden Züge aus feinem 
Evangelium zur Beftätigung und Ergänzung heritberneb» 
men können. Diefer lautere, tieffinnige, innige und inner⸗ 
lich ftarke Sohannes lag an dem Herzen Jeſu; Keiner konnte 
ſich ihm fo unbedingt hingeben, Keiner ihn fo tief und reich 
erfaffen, ale er. "Unter den Freunden Sefu trat er dem 
Petrus voran, unter den Knechten Jeſu aber trat Petrus 
ihm voran. Und fo ftehen fie mehrmals nebeneinander 
‚ infchöner Harmonie, Einer den Anderu überwiegend durch 
die eigenthiimliche Kraft. Dem Johannes befahl Jeſus 
fcheidend feine Mutter zur Pflege an; dem Petrus trug 
er auf: ftärke deine Brüder. Als die beiden von der Aufs 
erftehung des Herrn die erfte, verworrene Kunde durch die 
frommen Frauen vernahmen, da liefen fie hinaus zum 
Grabe. Johannes Tief ſchneller; der Zug feiner Seele 
war inniger, er war geflügelter, engelartiger in feiner 
Begeifterung. Am Grabe aber, da hielt ihn die Ehrfarcht 
oder tiefe Bellommenheit und bange Ahnung plöglich feſt. 
Petrus aber in feiner frifchen Entfchloffenheit trat hier 
wieder vor und ging zuerft in das Grab hinein. Nach 
der Auferftehung finden wir in der großen Mitte der vier⸗ 
zig Tage die Zünger wieder an ihrem heimathlichen See 
in Galiläa; dort haben fie einmal die Nacht hindurch auf 
dem Waſſer zugebracht, mit der Kifcherei befchäftigt. Im 
der Morgendämmernng fehen fie einen geheimnißvollen 
Mann am Ufer ſtehen. Sohannes erfennt ihn zuerſt; der 
Adlerblic feines Innern fcheint auch in feinem leiblichen 
Auge zu liegen, und er fpricht: es ift der Herr! Anf das 
Wort des ſchauenden Jüngers ſtürzt ſich der handelnde 


über die Authentie der vier Evangelien. 9 


fofort ind Waſſer, Petrus ereilt ben Heren dur Schwim⸗ 
men. Ge war Johannes; darum bewahrte ihn auch feine 
hohe, fehweigfame Indivianaktät in dem hohrnprieſterli⸗ 
chen Yalafte, den er mit Petrus betrat, vor ber Zudrings 
lichkeit roher Verkläger, während Petrus ihnen bemerkbar 
und zus Verleugnung geängftigt wurde. Darum wanbelte 
er auch, fozufagen, in himmlifcher Berborgenheit durch die 
Drangſale ber erften Kirche hinburch, während die andern 
großen Apoftel mit der Bluttanfe getauft wurden, einer 
nach dem andern. Darum endlih bewegten die übrigen 


großen Apoftel Die großen Hauptftädte der Damaligen Weit 


— 


mit der Predigt des Evangeliums, während Johannes als 
Bifchof zu Epheſus in den chriftlichen Stiftungen des Apo⸗ 
feld Paulns ruhig farb. Und barımı endlich war Petrus 
der Zelfen, auf weldyen bie Kirche Chrifti in ihrem Beginne 
gebaut wurde, feine Wirkfamteit durchdrang die apoftolifche 
Gemeine und gab ihr die thatfräftige Richtung nach aus 
Ben, hinaus in alle Welt in der Kraft des Geiſtes von 


. oben, ber ihm gegeben war, und die johanneifche Rich⸗ 


tung mußte fehr zurüdtreten. Wenn aber einft Die Vers 
klärung biefer Kirche, ihre Vollendung in der Innerlich⸗ 
keit und Geiftigkeit erfolgen fol, wenn es bevorfteht, daß 
das Zeichen des Menfchenfuhnes gleich einem hellen Blitz 
vom Aufgange bid zum Riedergange leuchten fol, dann 
mag wohl die Wirkfamkeit des Johannes auf das Stärffte 


in ihr hervortreten, und vielleicht iſt Dann der johanneifche 


Geift der hehre Donnersfohn, der verflärende Blitz, das 
weltreinigende Gewitter, der himmlifch ſchnell wirkende 
Donner, unter deflen Licht» und Feuerkraft die Kirche 
als eine reine Braut für den fommenden Herrn gefchmüdt 
wird. Nach einer mündlichen Nachricht foll der größte 
lebende Philofoph das Wort Ehrifli: wenn ich will, bag 
er bleibe, bis ich. fomme u. |. w. — auf eine johanneifche 
Kirche deuten, mit deren Entfaltung, nachdem erft bie 
petrinifche und dann bie paulinifche Da gewefen ift, ber 


OO . | Lange 


Weltlauf fchließen, werde. Diefe fombolifch s prophetifche 
Auslegung der befagten Stelle ſtimmt ganz mit der Gewiß⸗ 
heit zufammen, baß das johanneifche Schriftwort noch am 
"wenigften zu.feiner völligen Entfaltung in der kirchlichen 
Lehre und im Leben der Kirche gefommen ift. Auch in der 
Schrift von Sufow über die Zeitalter der Kirche und am . 
Scluffe ded Germanos von Posgaru (Sukow) ift biefe ' 
Anficht ausgefprochen. 

Aus dem Borhergehenden ergibt fi ſich ſchon zum Theil, 
daß ich der Vermuthung des verehrten Lücke nicht beitreten 
kann, nach welcher der Herr den Zebedäiden den Namen 
Donnersföhne lediglidy wegen des an ihnen hervorgetreter 
nen Charakterzuges der Heftigkeit und des Zornes möchte 
gegeben haben, ſowie alfo auch nicht der Behauptung, 
daß der Bergleichungsgrund in der finnlofen, zerftörenden 
Macht des Donners liege. Folgende Gegengründe fcheis 
nen erheblid,. 1) Das Sündige ift in dem Herzen und 
Leben derer, die im Reiche Gottes find, als verfchwindens 
des Moment zu betrachten; bewegen Fonnte der Herr das 
Sündige in dem Leben feiner Ausderwählteften nicht in 
einem Sceltnamen firiren_wollen. . Er gibt den Seinen 
neue Namen als charakteriftifche Bezeichnungen ihrer ers - 
neuerten Bellimmung. 2) Petrus befam einen neuen Nas 
men, von. bem [chroffen, todten Felfen hergenommen, 
and doch war ed ein verheißender, belobenber Name, der 
den feften Felfenfinn bezeichnen follte. Wie follten denn 
die beiden anderen vertrauteften Jünger einen befchämens 
den Namen befommen haben, da fie doc auch in ihrer 
Sndivibualität zum Reiche Gottes berufen waren, und ba 
der finnlofe, zerftörende Donner doch auch eine 
hehre, fegensvolle Erfcheinung it? 3 Die Anficht 
vom Donner verklärt fich fehon im Dedipus des Sophofleß, 
fo daß er als eine bedeutfame, feierliche und väterliche 
Gottesftimme betrachtet wird. Bielmehr noch treibt bie 
- völlige Liebe die Furcht aus ber chriftlichen Betrachtung des 


über die Authentie ber vier Evangelien. 61 


Dommers and; und für bad Herz bed Herrn war er gewiß 
ein erhebended Urphänomen der nahen, gnadenreichen 
Herrlichkeit des Baterd. Nach feiner muthmaglichen Ans 
ficht des Donners wäre demnächſt aber auch feine Anficht 
von den Donnersfähnen zu ertlären. 4) Mochte auch bie 
erhabene Gemüthsart der beiden Zebebäiden, namentlich 
des Johannes, fi einmal in einem Zorneswetter entladen, 
fo hing doch diefeg fändige Lodern ihres Herzens mit einem 
reinen Bekand individueller Anlagen zuſammen, welche 
in dem Kal auch mit verurtheilt werden wären, wenn 
fie den Namen Domersföhne ald Scheltnamen hätten tras 
gen follen. 

Die zweite unter dieſen Bemerkungen ift [chen in ber 
erwähnten Abhandiungwon Gurlitt vorgefommen, welche 
diefe Frage fchr tächtig und ausführlich behandelt. Gur⸗ 
litt's Hypotheſe über Die Entſtehung bed Namens iſt gewiß 
höchſt ingeniss. Sowie nämlich der Herr einſt zu Petrus 
fagte: Meanxdpios ei, Ziunv, Big’Imvä, way db 0oL 
Atyo, ösı oò sl Il&roos, fo, meint Gurlitt, könne er hier, 


veranlaßt durch den Zorneseifer ber Jünger, gefagt haben? - 
vlol Zarouns,üpleig dors viol Boovsis. Doch ſchon Gur⸗ 


litt felber begnügt fich mit der Beziehung bed Namens 
Donnersföhne auf die befannte Scene ihres Zürnens nicht, 
fondern er beweilt, daß nuch Die Auffaffung ber alten gries 
chiſchen Ausleger, nach: welcher mit jenem Namen befons 
ders daß tieffinnige Reden des Johannes bezeichnet ſeyn 
fol, viel für fich habe. Dieß führt ihn zu dem Schlußs 
refnltate: Söhne des Donners heißen die Schne 
Zebedäi als Leute von einer überwiegenden 
Fülle des Gefühls, fofern fie vermöge biefer 
Eigenthümlichkeit ihres Charakters dem Doms 
ner glidyen, entweder in feinem Ehrfurcht ges 
bietenden, geheimnißvollen Wefen, oder. in 
feiner ſinnloſen, zerſtörenden Kraft; doc iſt 
die leßtere Beziehung die wahrſcheinlichere. 


. 





— 


62 Lange 

Der Vorwurf des Herrn Dr. Lücke, daß bei dieſer zuſam⸗ 
menfaſſenden Deutung die Bezeichnung eines klaren Ver⸗ 
gleichungspunktes ermangele, ſcheint nicht gegründet zu 
ſeyn, wenn man bedenkt, daß doch jedenfalls die voraus⸗ 
geſetzte Neigung zum Zürnen in einer überwiegenden Fülle 
des Gefühls ihren Grund haben müßte. Nur möchten wir 
und gerade bei dieſem Ausdrucke: überwiegende Fülle 
des Gefühle, nicht beruhigen. Sohannes hatte offen» 
bar. eine reiche Flle der intelligiblen Kraft. Da Jakobus 
Bes Aeltere ald der. erfte Märtyrer aus den Apofteln im‘ 
Serufalem früh getödtet wurde, fo könnten wir wohl ang | 
diefem Umftande fchließen, daß er die Gemeine gewifler- 
maßen nach außen bifchöflich vepräfentirt habe, und in 
dem Falle hätten wir auch ihm das Bermaltungstalent zus 
zufchreiben, welches den jüngeren Jakobus an die Spitze 
der Öemeindeangelsgenheiten brachte. Allein diefe Ver⸗ 
muthung iſt zu ungewiß, und infefern bleiben wir auf.die 
Individualität des Johannes angewiefen,. wenn der Raute 
erklärt werben fol, der vielleicht deßwegen fo wenig Gel⸗ 
tung befam, weil. Johannes ihn ‚mis Jakobus gemeinfchafte 
lich überfommen hatte, Und. mit Rüdficktcauf ihn möchten 
wir fagen: Söhne des Donners- heißen die Eöhne Zebedäi 
ald Leute won einer erhabenen Gemüthsart, aus welcher 
wie aus der lange fchweigenden Gewitterwolfe von Zeit 
gu. Zeit heile Blitze tiefer Erfenntniß und hehre Donner 
herzbewegender , welterfrifchender Empfindungen hervor, 
brachen; und fie heißen alfo mit Teiler tranfitorifcher Ber 
ziehung auf jenen gefchichtlihen Moment, in weichem eins 
mal ihre fegenbringende, eleftrifche Ratur in fündiger 
Verkehrtheit zürnend und zerſtörend mit dem Feuer vom 
Himmel auf eine famaritanifche, Stadt niederfahren wollte. 

* * 


— 

: Daß fich.diefe Perſönlichkeit des Johannes, welche wir 
oben zu fizziren verſucht haben, mit ber größten Klarheit 
ig dem Charakter des vierten Evangeliums zu erlennen 





über die Authentie ber vier Evangelien. 63 


gibt, läßt fih bald uud zur Genüge beweifen. Es bebarf 
eigentlich feines Beweiſes für Diejenigen, welche dieſes 
Evangelium einigermaßen zu würdigen wiffen. 

Zuerft haben. wir diefed Merkmal anzugeben, daß das 
vierte Evangelium nur den vertrauteften Augenzeugen des 
Lebens Jeſu zum Berfafler haben kann. Hierüber fagt 
Dr. Lüde (a. a.O. S. 67): „Die Anfchaulichleit und Lebens 
digkeit der Erzählung, die Genanigkeit felbfi in ben Neben 
umfänden, bag Eindringen in die inneren Momente des 
Lebens Jeſu, gleichfam in das Herz des Erlöfers, insbe⸗ 
fondere auch die charafteriftifche Entwidelung ded Kampfes 
Chriſti mit feinen Gegnern von Kap. 5. an — das Alles 
verräth einen Berfafler, der nicht nur unmittelbarer Zeuge 
der Begebenheiten war, fonbern auch Dem Herrn fehr 
nahe fand. Jede Zeile fagt deu unbefangenen Lefer: der 
Mann, der dieß Evangelium gefchrieben bat, gehörte zu 
dem engfien, vertrauteften Kreife ded Herru, und wenn 
nun unter den drei vertrauteften Jüngern Sefu eben Jo⸗ 
bannes als der Berfaffer des Evangeliums allgemein ger 
nannt mird, was hat man für einen vernünftigen Grund, 
dieß zu leugnen?” Die erwähnte Genauigkeit in den Ne 
benumfländen der Erzählungen zeigt ſich überall im Evans 
gelium ; beifpieldweife nennen wir Die Erzählungen Kap.ı. 
V. 35 — 51. und die Pafftiondgefchichte. 

Die Smnerlichkeit des Apoſtels Johannes zeigt fich and 
in feinem Evangelium vorab wieder darin, daß er ebens 
falls hier mehr zu der Darfiellung von Betrachtungen, als 
won -gefchichtlichen Ereigniffen geneigt ift. In feinem Evans 
gelium werben und wenige Werke Jeſu erzählt, aber viele 
Reden Jeſu misgetbeilt. Allerdings mochte Johannes and) 
deßwegen in der. Erzählung. der Werke Jeſu fich befchräu« 
ten, weil er die bedeutendſten derſelben meift fchon in den 
andern. Evangelien aufgezeichnet vorfand, welches wenigs 
rend fehr wohl gebacht werben kann; aber eine foldye Aus 
nahme erklaͤrt Doch. bad große Zurlichtreten der Chatfachen 


— 


64 Lange 


in dein vierten Evangelium nicht zur Genüge. Auch hat 
Johannes Manches mit ben übrigen Evangeliften gemein, 
3. B. die wunderbare Speiſung. Es ift alfo hier ſchon 
jener befchauliche, ideale Charakterzug deutlich zu erfennen, 
den wir in ber Perſoͤnlichkeit des Johannes fo mächtig vors 
walten fahen. Beſonders aber auch darin gibt er fich Fund, 
daß die Auswahl, welche der Evangelift aud der Fülle der 
enangelifchen Geſchichten gemacht hat, wiederum einem 
Geſichtspunkte der Betrachtung untergeordnet iſt, wie er 
es -felber zu erkennen gibt (Kap. 20. V. 31): „Diefe (Zeichen) 
aber find gefchrieben, auf daß ihr glaubet, daß Jeſus ift 
der Chriſtus, der Sohn Gottes, und daß ihr durch den 
Glauben das Leben habt in feinem Namen.” Sowie aber 
Die Auswahl der johanneifchen Erzählungen unter dem bes 
ſtimmten Zwede fteht, die göttliche Herrlichkeit Ehrifti zu 
zeigen, einerfeitd das Wohnen der Gottheit, des Logos, 
in feiner fchönen, reinen Menfchennatur, andererfeits das 
beitändige Seyn Sefu, des Menfchenfohnes, im Vater und 
im Himmel („der im Himmel ift”, „der in des Vaters 
3008 tft”) zu verberrlichen, fo find auch wieder die Ers 
zählungen felber von der Betrachtung gleichfam Durchleuchs 
tet, vom Idealen verflärt; ed find von den Worten bed 
Lebens durchwebte, von dem Beifte des Lebens durchwehte 
Geſchichten. Wie mächtig ift 3. B. die Gedanfenpflege in 
ber Geſchichte der Samaritanerin am Saloböbrunnen, ber 
Gedankenftreit in der Gefchichte bed Blindgebornen, Die 
Gedankenfülle in der Gefchichte der Ehebrecherin! 
Wenden wir und nun aber den pofitiveren Merkmalen 
des johanneifchen Tieffinns zu, wie wir ihn im Briefe des 
Apoſtels kennen lernten, fo gibt und das Evangelium die 
reichfte Ausbeute. Mir wollen nur das erfie Kapitel des 
Evangeliums ausdrücklich nennen. Hier find viele Grunds 
älge ber chriftlichen Gnoſis, der chriftlichen Lehre von ber 
Gottheit Chrifti, uch bem- Berhältniffe ded Sohnes zum 
Bater, von dem Berhältniffe des Gsttlichen in Ehriſto zu 


über die Authentie ‘ber vier Evangelin. 65 


dem Menfchlichen und von bem Berhältuiffe Ehrifti zur 
Schöpfung und zur Sünderwelt in großer ‘Klarheit und 
erhabener Unausdenkbarkeit gegeben. Und um fo mehr 
beurkundet ſich hier der eigenthümliche johamneifche Tiefſinn, 
wie er durchleuchtet ift vom Geiſte Ehrifli, da er nicht die 
Worte Jeſu berichtet, fonbern in feiner Weife feine Er⸗ 

kenntniß Chrifti darſtellt. Das einzige Wort Logos, mel 
ches er auf heiligen Geiſteswegen zur Bezeichnung ber 
‚göttlichen Ratur.Chrifti gefunden hat, zeigt unS hier zur 
Genüge feinen Trieb, die pofitiven Begriffe feined Glaubens 
bis auf die tieffte Bafis unerfchütterlicher Ideen begründend 
zurücznführen ; es zeigt und alfo auch feinen Sinn für.die 
höhere Wiffenfchaftlichkeit, fo daß wir ihn insbeſondere als 
den erften chrifllicden Theologen zu betrachten haben. 
. Ban hat freilich. von den Reden Jeſu, wie file Sohannes 
‚und aufbewahrt hat, geurtheilt, fie. feyen redſelig, zwei⸗ 
dentig, voller Wiederholungen, erfünftelte, kalte, bunte, 
myſtiſche Reden. Aber wenn ein Friedrich der Große von 
den Tragödien Shalespeare’s urtheilen kounte, daß «8 
barbarifche Dramen fepen, nur werth, vor den Wilden 
aufgeführt zu werben, fo darf man fich nicht wundern, 
wenn viel geringere Sapacitäten, als Kriedrich ber Große, 
viel tieffinnigere Producte, als die [hafedpear’schen Dramen, 
die johanneifshen Reden Jeſu, alfo beurtheilen konnten. 
Duntel und myftifch nannte man fie, weil man fie nicht, 
verſtand; rebfelig, mit Wiederholungen belaftet, weil in 
ihnen das heilige Gedankenleben in großer Innigkeit gleiche 
fam pulfirt und oft in Pfalmenfdywung übergeht; erküns 
ftelt, weil fie aus der hohen Region des anderen Adam, 
des neuen Lebens find, bas fich ibentifch erweiſt mit der 
Kunft, und endlich kalt, vielleicht weil fie nicht im Declas 
mationsfener der.großen fächfifchen Kanzelredner brillirten. 
Was nun die Innigkeit anlangt, welche wir dem Apoftel 
Johannes eben fowohl, als den. Tiefſinn in BE Maße 
Theol. Stud, Jahrg. 1889. 


zufchreiben mußten, fo ‚wollen .wir nur au das hoher 
priefterliche Gebet (Kap. 17) erinnern. . Dazu if aber fein 
Wort zu bemerlen. Aber das hohepriefterliche Gebet if 
je nit: das Wort des Johannes, fondern das Wort Jeſu! 
Allerdings das Wort Sefu, aber wiedergegeben in feiner 
Heiligen Friſche und Fülle and dem Gemüthe des Johannes, 
weiches daſſelbe treu bewahrt hatte. Nur die verwandte 
Vaunizkeit des Referenten konnte fo innige Worte aus dem 
Herzen Jeſu treu bewahren. Wir lernten ferner den Apo⸗ 


ſel als einen Mann von elaſtiſcher, mitunter hervorblitzen⸗ 


Ser: Willenskraft kennen. Dieſe Eigenthümlichkeit hal 
ihn: zum tauglichen Referenten für jenen ernſten geiſtigen 
Kampf Chriſti mit dem widerſtrebenden Geiſte der Juden 
gemacht, welcher ſich vom 5. Kapitel an. Durch mehrere 
Kapitel hindurchzieht und in deſſen Fortbewegung auch 
and der treu anhaltenden, ſtarken Gelaffenheit Ehrifti mit⸗ 
unter fixafende Bliße fahren, 5. 8. das Wort: „She feyb 
von eurem Bater, dem Teufel, und nach eures Vaters 
Seläftt wollet ihr thun.“ — Und dennoch ift Diefer Kampf 
nur ein Ringen ber'vielgeftaltigen Liebe mit dem Hafle 
und mit dem haßverwandten Unglauben. Diefen Wars 
Del der Liebe Ehrifti erzähle uns Johannes im Evans 
gelium, wie er und in feinen Briefen die Gefoße ders 
felben Liebe verkündet. Sie erfcheint ung hier auf den 
mannichfaltigften Wegen, in den verfchiedenften Geftalten. 
Sie ift geboren aus Gott. Als das Licht. der Welt, als 
bas-Leben der Menſchen kommt. fie ind Fleifch herab und 
findet keine Aufnahme, Die Frommen fehen es ihrer des 
miuthigen und fanften Erfcheinung: gleich an, daß fie bereit 
tft, Alles aufzuopfern: fiehe, das ift Gottes Lamm! ruft 
Sohannes der Täufer. Dann fehen wir, wie fie ihre 
Auserwählten, ihre Werkzeuge anmwirbt, die Sünger der 
Liebe. Das .erfte Zeichen, das fie thut, verrichtet fie auf 
einer Hochzeit, wo fie ben Bund der Liebe mit ihrer Segen 





.. hben: die Authentie der vier Cvangellen. 67 


wart ſegnet und fröhlich iſt wit den Fröhlichen a) Sie 
verhüßt ſich in den -firafenben Eifer, ber mit einer Geißel 
Den entheiligten Tempel reinigt. Sie leitet als die gitt⸗ 
liche Meifierin den gelehrigen Meißer in Iſrael durch ge⸗ 
bheimnißreiche Reden demüthigend md heragewinnend auf 
den Weg ber Wiebergeburt. , Sie weiß ber ftumpffiunigen 
Einfalt eines alten Sünderin am Brunnen nahe zu fommen 
‚ and. ihre gleichſam unter dem Irdiſchen verfchättete. Seele 

wieder herauszugraben. Wie.ringt dieſe Riche mit den 
Verkehrtheiten Ifraels, mit all ihrem Unglauben und mit 
all ihrem Aberglauben! Durch alle Stimmungen geht fe 
hindurch und alle ihre ſinnreichen Mittel. wendet fie am, 
um die Geiſter zu weden, um bie Herzen zu gewinnen. 
Sie wird abſichtlich auſtäßig für dag Volk mit dem Dunklen 
Worte: ihr müßt mein Fleifch effen und mein Blut trinken, 
um bie Aumpffinnigen Seelen aus dem Geiſtesſchlafe aufs 
zurätteln und inihrer Gereiztheit etwa burch vermittelude 


a) Wenn bas Wefen des Humors an fid felber nichts Suͤndliches 
ift, fo muß auch diefe menſchliche Eigenthümlichleit nach ihrem 
reinften und fchönften Gehalt in dem allfeitig vollendeten Mens 
fbenleben Jeſu geſucht werben. Und in bem alle muß auch 
ein Hautch beflelben auf einzeinen Aeußerungen des Hesen ge 
legen haben. Wir glauben, daß das Wort yuraı, ri duo) xml 
col; nur durch diefe Annahme alles Dunkle verliert, daß ber 
Herr in den bumoriftifch heiteren Spielen einer göttlidhsheiligen, . 
menfchlidh= fröhlichen Stimmung mit ſcherzender Freundlichkeit 
ein ernft befchwichtigendes , berubigendbes Wort zur Mutter res 
den wollte. Will man biefe Erflärung bedenklich finden, fo 
hat man das ſchlechthin Suͤndige des Humors zu erweifen, 
Dann aber bat man eine ſchwere pfuchologifche Aufgabe; weiters 
hin wird man Schwierigkeit mit dem Worte ber fhöpferifchen 
Weisheit haben (Spruͤche Salom. 8. V. 30. 81): „ich fpielte 
vor ihm (dem Herrn) allezeit, [pielte auf feiner Erbe Kreis” 
— und Schwierigkeit zulegt mit manchen launig ausfehenden 
Gebilden und Grfcheinungen in der Schöpfung felbft, in denen 
fi das heiter freundliche Walten Gottes kundgibt. 

5% 


68 Lange, über. bie-Authentie Der vier Evangelien. 


Sorte zu fangen: der Geiſt iſt's, der Iebendig macht, 
Yas Fleiſch ift Sein nütze. Dieſen wechſelvollen Kampf der 
Liebe Chriki mit dem fleifhlichen Iſrael befchreibt uns 
Johannes in einer Reihe von Kapiteln, von dem fünften 
an. Bisweilen tritf fle fo firenge, fo zürnend und mächtig 
fcheltend auf, daß man beiihrer Betrachtung der. gläubigen 
Erinnerung. bedarf: ed ift gerade in dieſem Zornesſcheine 
recht eigentlich jene Liebe, die ftärker ift, ald der Tod, die 
alfo auch wohl tödten könnte, um zu retten „ die aber viels 
mehr felber den Tod erduldet. Dann aber legt die Liebe 
Ehrifti gleichfam den Streithelm und Panzer ab, die 
dunkle Kriegsräftung, in welcher fie fo majeftätifch und 
ftrafend auftrat. Der Herr tröftet, beruhigt und ftärkt 
feine Sünger und übergibt fte in der großen Fürbitte dem 
Bater. So tröftet und ſegnet die Liebe, So breitet eine . 
Henne die Flügel über ihre Küchlein aus. Endlich erfolgt 
bie Paffion, der Kreuzestod, die Auferftehung Chriftiz 
Alles erzählt und Johannes in dem reinften und reichten 
‚Lichte jenes Wortes: alfo hat Gott die Welt geliebt; fo 
bag wir durchweg im Charakter des vierten Evangeliums 
denfelben Jünger wiederfinden, der in feinen Briefen vors 
herrfchend von ber Liebe gefchrieben hat und von dem wir 
wiffen, daß er zu ben Anderwählteften ded Herrn gehörte, 
in welchem die Liebe Gottes auf Erben perfönlich erfchies 
nen ift. 


Rettberg, Decam und Luther. 69 


| _ 2; 
Dccam und Luther 
oder | | 
Bergleich ihrer Lehre vom heil. Abendmahl. 
Bon 


Friedrih Wilhelm Nettberg, 
Prof, d. Theol. in Marburg. 


Luther’d Stellung im Sacramentsftreit ift für feine 
ganze Perfönlichkeit fo begeichnend und für feine Anhänger 
fo entfcheidenb gewefen, daß die Beleuchtung derfelben 
gewiß nicht: allfeitig und erfchöpfend genug nerfucht wers 
den kann. Alle Grundzüge, aus welchen fein Charakter 
zufammengefeßt ift, und die er auf feinem Punkte feines 
Reformationswerks verleugnete, treten hier in ein Licht, 
das fo recht den Totaleindrud feiner fittlichen und theolos 
giſchen Perfönlichkeit gewährt. Das ftrenge Halten an der 
“ einmal ald chriftlich wahr aufgefaßten Ueberzeugung, bie 
Begründung derfelben allein auf dem Boben der Schrift, 
ohne jede Rüdficht darauf, was andere Partieen menfch- 
licher Erfenntniß darüber urtheilen, die Durchführung 
feiner Sätze mit glüdlichem Scharffinn und natürlichem 
Witze, das gemüthlich Einrebende, wie dad gewaltig Zers 
malmende feiner Argumentation, — dann aber, aud) die 
ſchroffe, völlig rüdfichtölofe Tenacität am Eigenen, bie 
den Gründen des Gegners auch daS geringfte Eingehen auf 
fie, die gewöhnlichfte Billigkeit verfagt, die Abneigung 
gegen Durchführen der Begriffe bis in ihre leßte Spige 
und gegen fpeculatives Anfnüpfen derfelben an. die allges 
meine Wahrheit und Erkenntniß, die einfeitigfte Kampfes⸗ 
luſt, die dem Gegner nicht etwa entfchuldbaren Irrthum, 


70 KRettbetg 

ſondern ſofort Bosheit des Herzens beimißt, augenblicklich 
in ihm ein Werkzeug des Teufels erblickt, dazu die ſcho⸗ 
nungslofefte Darftellung in aller Kraft, aber auch in allem 
Ungeftüm eines Parteifampfes, — diefe ſämmtlichen Züge 
“ prägen fic in jenem Streit auf eine Art aus, die ed nicht 
länger zweifelhaft Läßt, wie Luther hier mehr, als irgend⸗ 
wo fonft, in ‚feiner ganzen geiftigen Individualität aufs 
gefaßt werden kann. Wenn deßhalb gegenmwärtiger Aufs 
fag verfuchen will, Luther's Stellung in jenen Streite.von 
Seiten ber voraufgegangenen fchelaftifchen Bildung der 
frühern Sahrhunderte zu beleuchten, fo bedarf ed dafür 
Feiner andern Rechtfertigung, als einer Nachweiſung, ob 
überhaupt für Erfaffen feiner Anfiht auch nur eihiger 
Gewinn auf einem Gebiete erwartet werden Darf, von 
dem er felbft fich beftimmt genug“ lodgefagt hat. Hört 
man ihn fonft fidy über die Scholaftif ereifern, die Sos 
phiften Thomas und Scotus mit ihrem Ariftoteles verwilns, 
fchen, beachtet man'dad ganz verfchiedene Princip, von 
welchem er, und von welchem die Scholaftif außgeht, fo 
darf kaum erwartet werben, daß bedeutende Neminiscenzen 
feiner fcholaftifchen Studien aus dem Auguftinerflofter in 
Erfurt fich in feine Reformationsthätigkeit hinübergezogen 
haben. Indeß bei dem Abendmahl ift e8 doch eine ganz 
andere Sache, ald etwa bei der Rechtfertigungslehre; bei 
diefer war auch der geringfte Anklang von Scholafticifmug 
unmöglich, da deffen offener oder verftedter Semipela⸗ 
gianifmius zu Luther's rechtfertigendem Glauben in gar 
feinem Verhältniſſe ftehen Tonnte. Die göttliche Gnade 
ald freies Geſchenk, vermittelt durch das Erlöſungswerk 
Chriſti und angeeignet durch den Glauben, widerftand nun 
einmal geradezu den fcholaftifchen Künfteleien, die den 
Zwifchenraum zwifchen Gnade und Verdienſt möglichft 
auszufüllen, das Widerfprechende daran zu verfleben, 
und bei allem Gerede über die gratia und ihre Stufen doch 
dem meritum einen faſt pelagianiſchen Spielraum einzu⸗ 


Decam und. Luther. 7 


zäunien ‚nerfachten. Anders bei der Echre vom Abend⸗ 
mahle: hier war fein Rückſchritt von der katholiſchen Theozie 
fein totaler, fondern ein folcher fand fich gerade in den 
Gegnern vor, Garlfiadt, Zwingli, Decolampad, die er 
befämpfte. Luther gab am der Fasholifchen Theorie nur 
den einen Punkt, die Transiubftantiation, anf, behielt 
aber den andern bei, die völlig reale Gegenwart; er 
wollte durchaus das Refultat, das fubftantielle Vorhanden⸗ 
feyn des Leibes Ehrifti im Sacramente, feſthalten, und nr 
das Mitteldazu, den Weg zu Deffen Hervorbrisgung Durch 
ein jedesmaliges Einzelwunder, aufgeben, erklärte er ich 
doch in feinem Haffe gegen die zwinglifche Spiritualifirung 
und fnbjective Verflüchtigung bed Sacraments fo entfchies 
den für die Fatholifche Objectivität, daß er lieber mit dem 
Papfte eitel Blut, als mit Zwingli eitel Wein wollte, : Bei 
diefer nur theilweifen Abweichung vom Fatholifchen Dogma 
wäre ed nun fchon an und für fich auffallend, wenn bie 
Anficht, worauf er jeßt verfiel, nicht [chen ebenfalle ein⸗ 
. mal in dem "überreichen Echage Teholaftifher Erndition 
aufgeitellt gewefen wäre. Während der vier Jahrhunderte 
von Anfelm bis auf Gabriel Biel darf man die verſchie⸗ 
denen Möglichkeiten und Nüancen der dogmatifchen Auf⸗ 
faſſung für fo erfchöpft erflären, daß ſchwerlich ‚auf dem 
"Boden derfelben Bildung, der auch Luther angehörte, 
noch eine Anficht aufgefunden werden konnte, die nicht 
früher fchon eine Ausführung oder Doch Andeutung erfahr 
ren hätte. Ein Durchmuftern ber fcholaftifchen Syſteme, 
um eine Achnlichkeit mit Luther's Theorie zu finden, wird 
deßhalb gerade hier fchwerlich ohne Erfolg bleiben fönnen, 
da der große -Reformator bei allem Losfagem von ihnen 
and allem Unwillen gegen fie ſich Doc unmöglich von 
fämmtlichen Eindrüden aus feiner tehheren Bildungs⸗ 
periode losmachen konnte. 
Bei ſeiner Stellung im ——— treten dafür 


! 


72 Kettberg 


noch andere Gründe hinzu. Er zog ſich zwar zunächſt anf 
den Boden der Schrift zurück, vertheidigte feine Meinung 
nur beghalb, weil fie ihm fchriftgemäß erfchien, und nur 
dadurch, daß er fie als fchriftgemäß nachwies; außer dem 
eregetifchen Operationen ift deßhalb auch alled Uebrige an 
feinen Argumenten unbebentend. Allein auf die Dauer 
konnte er Doch dem Andrängen der Gegner fid) nicht ent» 
ziehen, die eine Ausgleichung feiner Schriftlehre mit ber 
übrigen menfchlichen Erfenntniß forderten und daranf 
drangen, daß, was er ald Wortfinn herausbrachte, auch 
fonft zu einiger Evidenz erhoben werden müffe. - Eine ges 
wife Durcharbeitung ded Begriffe, eine fpeculative Ders 
tretung beffelben war hier um fo unerläßlicher, weil er fich 
für das Schwierige dabei nicht wie beider Rechtfertigungs⸗ 
Iehre auf das allgemein menfchlidhe und befondere chrifts 
‚liche Bewußtfeyn berufen, fondern im Gegentheile gerabe 
an der allgemeinen Kaflungsfraft, an dem fogenannten ger 
funden Berftande, nur Anftoß erregen konnte, Faſt gegen 
feinen Willen mußte er deßhalb noch für das von ihm auf⸗ 
gefaßte Wort der Schrift Rede ſtehen und dabei auf einen 
Boden herabfteigen, wo er fich fonft fehr wenig heimifch“ 
fühlte. Hier darf e8 in der That nicht auffallen, im Ges 
gentheil, ed wäre durchaus umbegreiflic, wenn in biefer 
Berlegenheit nicht Neminiscenzen aus feinen fcholaftifchen 
Studien bei ihm erwacht und Behandlungsweifen ihm 
gegenwärtig gewefen wären, in welchen daffelbe Problem 
ſchon einmal zu irgend einer Löfung gebradht war. Die 
Scholaftif hatte ja die weit fchwierigere Aufgabe, auch bie 
volle Transfubftantiation mit zu vertreten; follte fie nicht 
für die anfcheinend foviel geringere Forderung Luther’ 
der bloß realen Gegenwart noch weit eher Rath gewußt 
haben? Welchen Einfluß das Studium der Scholafif 
gerade auf feine Abendmahlstheorie gehabt hat, räumt er 
rüdfichtlich des Peter d'Ailly in feiner Schrift von der ba⸗ 





Oecam und Ruther. | 73 


byloniſchen Gefangenfchaft felbft ein =): Dedit mihi quon- 
dam, quum Theologiam scholasticam haurirem , occasionem 
cogitandi D. Cardinalis Cameracensis libro sententierum 
quarto :acutissime disputans, multo probabilius esse, es 
minus superfiuorum miraculerum poni, si in altari verus 
panis verumque vinum, non autem accidentia esse astrue- 
rentur, nisi ecclesia determinasset contrarium, cet. Doc) 
in jener Schrift, wo ſich dieſe Reminiscenz ihm aufbrängt, 
hatte er nur erft gegen den Papit die Nichtigkeit der Zrands 
fubftantiation zu erhärten. Wenn er nun fpäter feine im 
weitern Berlanfe des Streitd mit den Schweizern ausges 
bildete Theorie zu vertreten hatte, follten ihn dann wohl 
jene fcholaftifchen Erinnerungen verlaffen haben, voraus⸗ 
gefeßt, ed gab ein folches Syſtem, das feiner weiter ges 
triebenen Anficht fo ganz entſprach? Unter allen fcholaftis 
fchen ‘Theorien über dad Abendmahl ift nun fchon vielfach 
die Anficht des fcharffinnigen Wilhelm Occam genannt, 
mit welcher die Iutber’fche Auffaffung die größte Aehnlich⸗ 
feit habe; eine Befchäftigung Luther's mit deſſen Schriften 
und eine bedeutende Vorliebe für feinen Scharffinn wirb 
durch Melanchthon's Bericht außer Zweifel geftellt, der 
über Luther’d Studien im Auguftinerfofter zu Erfurt fo 
lautet b): Nec tamen prorsus reliquit Sententiarios: Ga- 
brielem et ‘Cameracensem pene ad verbum memoriter reci- 
:tare poterat. Diu multumque legit scripta Occam; huius 
acumen anteferebat Thomae et Scoto, cet. Ein Berfud, 
die Abendmahldtehre Luther’d durch die Subtilitäten 
Occam's aufzuhellen, verfpricht alfo gewiß einigen Er⸗ 
folg; um indeß das Urtheil Darüber ale völlig unbefangen 
vorzubereiten, wird es einer Nachweifung ber beiderfeitis 


a) De captivitate Babylonica ecclesiae. Oper. Viteberg. 1551. 
Tom. Il, Fol. 67. 

b) Melanchthon, Historia de vita et actis Lutheri. Viteberg. 1549. 
Fol. 5. | | 


s 


74 | MKettberg ni 


gen Theorien nach der authentiſchen Darftellaug ber beiben 
Männer bedürfen, und namentlich durch die geringe Ders 
breitung ber occam’fchen Werke eine ausführlichere Ber 
handlung feiner Anfichten entfchuldigt werden müſſen. 
Wir begisinen mit dieſem Doctor invincibilis, über deffen 
Lebensumſtände das Nöthige ald bekannt voraudgefeht wer⸗ 
Ben darf.. j : 
l. | 

Occam fteht am Anfange der dritten Periode der Scho⸗ 
laſtik, ja er ruft dieſelbe durch den neuerweckten Nominaliſ⸗ 
mus ſelbſt erſt recht eigentlich hervor. Bedenkt man, daß 
der volle Nominaliſmus nur ganz zu Anfang der ſcholaſti⸗ 
ſchen Entwidlung ſich gezeigt, mit Roscellin’d Unters 
drückung aber fi auf Sahrhunderte lang zurückgezogen 
und Die üble Nachrede des Zweifeld und der Unglänbigfeit 
verwirft hatte, fo läßt das erneute Hervortreten beffelben 
unter Decam erwarten, daß bei ihm ein erheblicher Gegens 
faß gegen die bisherige Ausbildung der Wiffenfchaft anzus 
. treffen fey; und dieß beftätigt ſich denn auch in jeder Hin⸗ 
fit, beftätigt ſich ſchon in dem Verhältniffe der beiben 
Grundelemente fcholaftifcher Bildung überhaupt, in ber 
- Stellung ded Glaubens zum Wiſſen oder der Kirchen« 
lehre zur Dialeftifchen Verarbeitung. Beim Beginne der 
Scholaſtik verhielten fich beide fo zu einander, daß der 
Kirchenglaube zwar als unumſtößlich vorausgefeßt wurde, 
aber doch nur ale Ziel, bei welchem die Unterfuchung in 
ihren Refultaten nothwendig ankommen mußte; fie felbft 
war formell frei und entbehrte jeder Voransfeßung. Das 
Zwingende dabei wird durchaus nicht im Beginne ber Uns 
terfuchungsreihe anerkannt; Anfelm will Alles fo durchaus 
aprioriftifch beweifen, quasi nihil sciatur de Christo; der 
Kirchenglaube ift gleichfam nur eine Fiction, bie dafür der 
genügende Beweis gefunden ift; er liegt als endliches Ziel 
vos ber ganzen Unterſuchung. Gerade umgekehrt tritt 
die dritte Periode der Scholaftif auf: der Kirchenglaube 


Dccam und Luther. 755 


dient nicht mehr zum Problem der Forſchung, nicht mehr 
als Ziel, bei weichem angelangt werden foll, fondern als 
Fundament, von welchem ausgegangen wird. Manıhat - 
fich in den ooraufgegangenen 206 Jahren mit Beiweifen-füu _ 
daB kirchliche Syftem fo ermüdet, daß es jetzt endlich als 
Feines Beweifed mehr bebürftig angenommen und auch ber 
frühere Schein von. Freiheit der Forſchung aufgegeben 
. wird. Den Grund zu diefer Umgeftaltung hat fchon Dune 
Seotus gelegt, indem er die alte Vorausſetzung der Scho⸗ 
laſtik von der vollen Rationalität des Kirchenglanbens auf⸗ 
hob. Er brachte Wiſſen und Glauben nicht zur Verſoͤhnung, 
wie Anſelm gewollt hatte, ſondern zum offenen Zwiſte, in⸗ 
dem er für den Glauben keinen andern Grund, als die 
Autorität der Kirche anerkannte. F,—r Dogmen von der 
Erlöfung, den Sacramenten, um deren Erhärtung die 
Frühern gar nicht verlegen gewefen waren, verzichtet er 
vSllig auf den Beweis, will'daran nicht mehr die innere 
Nothwendigkeit, fondern nur die willfürrliche göttliche Eins 
feßung und Anordnung geltend machen; jene Säge haben 
als ein contingens simplieiter nun "einmal Geltung fraft 
bes göttlichen Willens, während ebenfo gut auch jedes 
Andere hätte zu berfelben Geltung gelangen können, wenn 
Gott ee fo gewollt hätte. Wenn nun bei fo offener Irras 
tionalität des Kirchenglaubens dennoch demfelben Gehor⸗ 
fam gefeiftet wird, fo gefchieht ed nur ans Ergebenheit an, 
die kirchliche Gewalt, und der Troft der früheren Scho⸗ 
laſtik ift aufgegeben, daß jener Gehorſam Folge ber eiges' 
nen Argumentation fey. - Bon jegt an vermag die Wifſen⸗ 
- Schaft höchftend ſich in Folgerungen zu ergehen, bie ang 
dem Tirchlichen Syſtem abgeleitet werben, Curioſitäten zu 
erfinnen, worauf es ſich anwenden läßt. Bon jegt an liegt 
daB kirchliche Syſtem nicht mehr als Problem vor dem 
Forfchen, fondern als fertige Baſis hinter dem ſcholaſti⸗ 
ſchen Apparate; es ift durch die Wachſamkeit der Merifas 
lifchen Behörden fo unumftößlich feftgeftellt, Daß Operationen 


76 | Kettberg 


mit den Dogmen ſelbſt gar nicht mehr geſtattet ind. Occam 
ergötzt fi) daran, aus anerkannten kirchlichen Sätzen pas 
radore Folgerungen zu ziehen, die mit aller übrigen menſch⸗ 
Iichen Erkenntniß, mit Phyſik und Metaphyſik flreiten, 
z. B. ba jede Hoftie den Leib Ehrifti enthält und die eine 
von dem Prieſter zu Derfelben Zeit gehoben, die andere 
gefentt werden kann, fo folgt daraus, daß ein Körper 


recht wohl zu Derfelben Zeit eine doppelte Bewegung haben 


kann, wenn auch Ariftoteled, der Die Sache bloß natura- 
liter anſieht, dem widerfpricht a). Da ferner der Körper 
Chrifti der Ubiquität zufolge den gefammten Raum ands 
fällt, fo wird ein durch bie Luft geworfener Stein fich da 
befinden, wo ſchon der Leib Chrifti ift, alfo können recht 
wohl zwei Körper in demfelben Raume zugleich ſeyn b); 
ein Körperekann an zwei Stellen zugleich, und zwar bier 
weiß, dort ſchwarz feyn m. drgl. 

Diefe Borausfeßungen der Kitchenlehre, auf welchen 
fo keck weiter gebant wird, betreffen nun nicht bloß die volls 
ftändigen Dogmen, die einmal über alle Begründung ers 
haben erfcheinen, fondern fogar die Beweisführung der _ 
. früheren Scholaftif dafür. Selbſt die bloßen Gründe, die 
Argumentation aus früherer Zeit ift mit dem Nimbus ber 
Autorität umgeben und gleichfam in den Berfteinerungss 
proceß der Scholaftit mit aufgenommen. Wenn Frühere 
den Ausgang des Geifted vom Vater und Sohne dadurd, 
gegen die Griechen bewiefen, daß fie denfelben für das 
Band ber caritas ausgaben, wodurd; Bater-und Sohn vers 
Inüpft find, fo war diefe Behauptung bloß die rationale 
Begründung des Dogmas; der Beweis hat feine Geltung 
nur durch die innere Evidenz, die er umfchloß. Occam 
Dagegen feßt, waß früher bloß Apparat zum Beweife war, 
jest gleichfalls als fchon ausgemacht voraus, macht auch 


a) Centiloguii conol. 27. 
b) Ibid. conclus. 28. 


Occam und Luther. 77 


die Art, wie fräher der Sab bloß bewiefen wurbe, ſchon 
zum Beftandtheile des Kirchenglaubens ſelbſt; auch bie 
Auffaflung des heiligen Geiſtes als jene caritas ift ihm [ham 
ausgemacht, und darauf werben neue Bragen und Unter⸗ 
fuchungen gegründet. 

Ueberall fteht deßhalb fein Autoritätsglauben uud bie 
‚Unterwerfung ‚unter die kirchliche Lehrbefugniß voran; 
Doch Teitet dieß zu ganz eigenthümlichen Beobachtungen. 
Seine Unterwerfung unter die Autorität der römifchen 
Kirdye wird fo wiederholt, fo ausdrücklich, aber auch fo 
abſichtlich ausgeſprochen, Daß man darin nothwendig ets 
was Berechnetes erblicken muß. Auch frühere Scholaftiker 
Jiehen ſich wohl anf die Autorität der Kirche zurüd und 
Iaffen das haec est mea fides, quoniam est catholica fides 
oft genug bemerken, allein das ftete, oft gezwungene Her, 
vortreten dieſes Satzes ift doch nirgends fo abfichtlich zu 


- beobachten: ideo non debet poni, nisi ubi evidenter se- 


gquitur ex traditis in scriptera sacra, vel determinatione 
eoclesiae, propter cuius autoritatem debet omnis ratio ca- 
ptivari a); quod tantum dico propter auctoritates Sanctorum, 
non propter aliquam rationem b). Wie weiß er ſich durch 
Unterwerfung unter Rom's Autorität zu decken c): prae- 
mitto unum: videlicet quicquid dicam sub qyacunque forms 
verborum, quod potest aliquo modo deduci contra quod- 
cungee dictum in sacra seriptura, vel contra determinatio- 
nem et doctrinam ecclesiae vel Sanetorum, vel contra sen- 
tentiam doctorum ab ecclesia approbetorum: non dicam 
asserendo sed praecise recitando in persona illorum, qui 
etiam opinionem tractandam tenent, sive illa opinio sit vers 
sive falsa, sive catholica sive haeretica sive erronea; unde, 


\ 


a) In Sententiarum Lib. I. distinct. 2, quaest. 1. F. 

b) Ibid. Lib. III. quaest. 8. R. 

c) Tractatas venerabilis Inceptoris Guilielmi Occam de sacra- 
mento altaris. Par. 1513. 12°. ah init. 





L 


78 Rettberg 


si AScam talia verba, dioo dieendum et: consimilia non in 
persone.mea, sed in persena taliter opinantium volo ille in- 
telligi. Ueberall find dergleichen Deckungen eingeflreut =): 
proinde de illo aliissimo. sucramento .aligan brevia songeri- 
pturus protestor, me nihil asserturum, nisi quo) romana 
tenet et .docet ecclesia, quzedam phyrica interserendo; 
- quicquid enim romana ecclesia tredit, hog solum et mon 
aliud. vei explicite vel implieite cxedo. — Bedenkt man 
babei feine übrige Stellung gegen: wie römische Kirche, ſein 
pplitiſches Auftreten. gegen bie püpkliche Tyraunei, fo iſt 
ed faſt unverkennbar, wie gefliffentlich. er im Dogma bie 
größte Orthodorie annimmt, um fich injenem Kampfe 
gegen. den fo.gefährlichen Vorwurß der. Ketzerei zu decken. 
Wie weit es ihm weit diefer Unterwerfung uster päpfliche 
Lehrantorität Ernft gemefen ift,. laßt ſich zwar nicht ber 
fiimmen, allein. das. Gezwungene, Abfichtliche .. bei jener 
Devotion deckt ziemlich. deutlich den ironiſchen Zug. bes 
Sweiflerd. auf. Damit ſtimmt dann bie Aufitellung feines 
Nominaliſmus trefflich. überein, wonach ex. bie. Irratio⸗ 
nalität. der gewähnlichkien Erkenntniß darthut und. Das 
Gebiet: der Theologie und Philoſophie möglichft weit aus⸗ 
einauder zu reißen ſucht. Ueberall bleibt fein Bekenntniß 
oxthodor ; aber gerade ber Umſtand, daß er für bie Lehre 
feinen andern Grund, als die Autoritäetennt, läßt deut⸗ 
lich merken, wie er gewiß, ‚fobald er mit der Sprache 
herausgeben wollte, ganz andere Refultate. zu veröffent⸗ 
lichen hätte. Gerade bie übertriebene Devation gegen den 
Glauben der sömifchen Kirche, Deffen völlige Irvationali⸗ 
tät er nachweiſet, mußte für Jeden, der zwiſchen den. Zeilen“ 
gu lefen verftand, ein weit fehärferer Stachel zum Zwei⸗ 
feln werden, ald wenn er fich zum offenen Widerfpruche 
dagegen verftanden hätte. Bei dieſem Verfahren war er 
gegen jede Dogmatifche Verketzerung gefichert; ber firenge 


a) Ibid. prologus. 


Dccam und Luther. | "79 


Wortverfland ſchloß auch die keifefte Ahnung von Hetero⸗ 
dorie aus; nur.der Totaleindruck fonnte beim Lefer einige 
Zweifel hervorrufen. Diefer eingenommenen Stellung 
gegen Rom iſt auch fein Auftreten au der Spige der firens 
gen Franciscaner nicht entgegen: von dem Enthufiafmag;' 
womit jene Spiritualen ſich bemerkbar machen, ift gerade 
hei Occam nichts zu entdeden; won ihrer einfeitigen Ueber⸗ 
fpanntheit ift Niemand ferner, ale er, fo daß, wenn durch 
Kbertriebene Devotion, gegen Rom defien Autorität ge 
fährdet werben follte, das Aufdecken ihrer Irrationalitkt 
nur ein veränderter Angriffsplan gegen ben Papſt blieb, 
Bei diefer Stellung, die überall formell nur auf Dedung 
ausgeht, den Borwurf der Heteroborie vermeiden, fonft 
. aber ganz andere Zwecke verfolgen will, ift nun nichte fo 
erlärlich, als der Mangel an Ernſt der Forſchung und 
des redlichen Wahrheitsfinned, fo daß das fcholaftifche 
@etreibe immer mehr in feiner Nichtigkeit und Auflöfung 
hervortritt. Wie oft bringt er ftatt eines vollen, inhalts⸗ 
zeichen Dogmas nur eine Redensart heraus! 3. B. ob 
der heilige Geift einen doppelten Andgang habe, den ewis 
gen, vom Bater und Sohne, und einen zeitlichen, als Omas 


“ , Denwirfungen an die Menfchen, hängt davon ab, wie 


man gerade die Bedeutung von procedere feftfeßen will, 
was ja von ber Willfür der Sprechenden abhängt a): alfe 
völlige Willkür des Sprachgebrauchs, aber Feine Noth⸗ 
wendigkeit der Sachen! Er felhft hat deßhalb oft wenig 
Zutrauen zu feinen Gründen: er will nicht den vollen Be⸗ 
weis dafür übernehmen, daß Gott Alles außer fich ers 
fenmet b); wenn die Griechen’ mit ihrem leugnen bes filio- 
que hartnädig find, fo können fie nicht widerlegt werben c% 


a) In Sententier. Lib. I. dist. 14. quaest. 1. B. 
b) Ibid. Lib. I. dist. 35. q. 2. D: potest probabiliter probari, 
quod intelligit aliquod aliud a se: yuanquam contra praeter- 
“ venientem non sufficient. 


c) Ibid. Lib. I. dist. 11. q. 1. L. - 


80 u Kettberg 


So treibt er mit dogmatiſchen Fragen ein wirkliches Spiel: 
nachdem er ernſthaft genug unterſucht hat, ob Gott auch 
wohl einen Augenblick lang nicht geweſen ſeyn könne, ob 
er wohl einen Anfang genommen habe, fügt er hinzu: a) 
hic est finaliter notandum, quod octo praedictae conclusio- 
nes immediate praecedentes potius sunt ineredibiles, quam 
asserendae, et ideo tantummodo causa exerecitii dicebantur, 
. quapropter, si alicui placeat aliter respondere, faciliter po- 
terit negare tales consequentias: alſo nur zum Spiele,'der 
Denkübung wegen, behandelt er die wichtigften dogma⸗ 
tifchen Probleme! Daher denn auch die feltfamen Curio⸗ 
fitäten: ob Gott, der die Natur des Menfchen annahm, 
auch irgend eine andere annehmen konnte, Die des Steins, 
Holzes, Eſels b), ob er nach feiner Allmacht auch fromme 
Menfchen, die Maria, die Engel verbamnen, den So⸗ 
rates zum Eſel machen könne; ob der Bater fich ſelbſt 
zeugen, ob ber Sohn, der am Kreuze flarb, auch nicht 
geftorben ſeyn könne 5); ‚ob Gott, da er Menfc ward, 
auch ein Menfchenfuß,, Kopf feyn kann. Dafür, daß er 
dem kirchlichen Dogma fi in Devotion unterwarf, nimmt 
er fich die Erlaubniß, daſſelbe auf die entfeglichfte Art zu 
mißhandeln. Gemiffenhaftigkeit, dogmatifche Treue if 
deßhalb fchwerlich feine Sache geweſen; wirb ed fich bei 
feiner Abendmahlstheorie vielleicht fo herausſtellen, daß 
dem Zufammenbange feines Syftems und der vollen Abs 
fchließung feiner Theorie nichts Anderes, als fein eigenes 
Bekenntniß des kirchlichen credo entgegenfteht, fo werben 
wir gewiß befugt feyn, mehr in feinen dialeftifchen Ope⸗ 
rationen, als in den Firchlichen Formeln, auch wenn er 
fh ausdrücklich dazu befeunt, feine eigentliche Ueberzeus 


gung zu ke 


a) Centiloquii conclus. 54. B. 
b) Ibid. concl. 6. 
c) Ibid. concl. 11. 


Occam und Luther. . 81 


Ehe indeß Occam's Abendmahlsichre entwidelt werben 
kann, ift wenigfitend den Grundzügen nach fein Nemina⸗ 
liſmus zu verzeichnen, der ſich namentlich mit Behandinug 
des Begriffö der Quantität durch den ganzen Begriff der 
leiblihen Gegenwart Ehrifti hindurdhzieht. In dem Trace 
tate vom Sacramente des Altars befchäftigt ihn der Quan⸗ 
titätöbegriff fo wiederholt und unabläffig, daß man vers 
fucht wird, zu glauben, er habe nicht fowohl diefen Bes 
griff nominaliftifch durchgebildet, um dadurch das Pros 
blem jener Lehre zu löfen, fondern er habe vielmehr ſich 
diefes bedeutungsvolle Dogma aliserfehen, um daran dem 
Triumph des Rominalifmus zu feiern. Der Zufammens 
hang des Nominalifmus mit der Abendmahlslehre kommt, 
fur; gefagt, darauf hinaus, daß der Quantitätäbegriff als 
ein felbftändiger, von den Objecten verfchieden, aber an 
ihnen vorhanden, weggearbeitet, mit ihnen felbft vielmehr 
zufammengeworfen wird, fo daß nachher, wenn bie Ges 
genwart bes Leibes im Brote etwa auf ein ziemlich dyna⸗ 
wifches Seyn hinauskommt, aus dem Begriffe der Quan⸗ 
tität Dagegen Fein Einwurf entlehnt werden fan. 

Zur Durdhführung des Nominalifmus kann er im 
Eommentäre zum Lombarden kaum früh genug gelangen; 
er beginnt fie an einer Stelle, wo man fie noch gar nicht 
erwartet, bei der Frage nadı dem Berhältniffe Gottes zur 
Creatur: er unterfucht, ob fid für beide ein gemeinfchafts 
liches Prädicat aufitellen laſſe, und ift damit bei dem bes 
abfichtigten Thema, der Natur des Allgemeinen, angekom⸗ 
men a). Sein Berfahren ift num fofort mehr negativ, ale 
poſitiv; er will nur ben bis dahin gepflegten Realifmus 
. flürgen und hält damit den Sieg feiner nominaliftifchen 
Anſicht fofort für entfchieden; fie ift ja dann frei von den 
Schwierigkeiten des entgegengefebten Syſtems, und durch 
fich felbft erwiefen. Vom Realiſmus, dem er befämpft, 


.) In Sententiarum Lib. I. dist. 11. quaest. & qq. 
Theol. Stud. Jahrg. 1889. 


.82 Retter 


macht Dccam gwar mehrfache Nüancen — doch hat 
.. er feinen Hauptangriff gegen die am meiſten verbreitete 

Anſicht der universalia in re gerichtet, wonad) das univer- 
sale eine.Eriftenz hat einmal außerhald der Seele, die es 
benft, und dann wefentlich verfchieden von den concreten 
Einzeldingen, aber innerhalb derfelben a). Hiernach würde 
ein Einzelding fo viel-Univerfalien in fich enthalten, ale 
ed Eigenfchaften zählt, deren jede ihm ja Durch ein univer- 
sale eingeprägt ft; durch Vermehrung der Einzeldinge 
werben dagegen die Univerfalien nicht vermehrt, da eine 
derſelben hinreicht, biefelbe Eigenfchaft in ihnen allen hers 
vorzurufen. 

Gegen dieſe Anficht kämpft er num zunächft Durch den 
Begriff der uumerifchen Einheit; von dem singulare wird 
diefelbe allgemein zugeflanden, da das concrete Ding in 
fih eins ſeyn wird. Aber dem universale wird die numes 
rifche Einheit noch viel nothwendiger beigelegt werden 
wären, da ed ja noch viel einfacher ift, als jenes, da in 
einem singulare fogar eine Menge Univerfalien enthalten 
ſeyn follen, ebenfo. viele, als es Eigenfchaften an fich 
twägt. Iſt nun aber ſchon das universale numerifch eine, _ 
von dem doch noch eine Vielheit in dem singulare enthalten 
feyn fol, jo müßte dann das numeriſch Eine des singulare 
doc; wieder eine Bielheit in fich fchließen, was fich felbfk 
widerfpricht. Die ganze Theorie von dem Borhandenfeyn 
der vielen Uyinerfalien in dem einen singulare erfcheint 
biernach alfo als unhältbar. 

Einen :zweiten Angriff auf den Mealiſmns begründet 
Occam auf den Begriff der Schöpfung und Vernichtung 
_ @emihilatio), die doc) beide der Allmacht Gottes ald mögs 
lich beigelegt werden müffen. Bei der Schöpfung eines 


a) Ibidem dist.2. quaest.4. A. Utrumillud, quod immediate et pro- 
prie denominatur ab intentione universalis et uniroci, sit aliqua 
revera' res extra animam, intrinseca et essentialis illis, quibus 
est communis, et univoca destincta ab illis. 





Dccam und Euther. 83 


Individuums nräßte doch das ſaͤmmtliche untversale, das es 
mit feinem genus gemein hat, ſchon als vorher vorhauden 
gefeßt werben, ein beträdhtliches Stüd von ihm würde 
alfo nicht erft erfchaffen und die reine Schöpfung bes Ju⸗ 
dividuums damit unmöglich. Ebenſo die Bernichtung beffels 
ben ift doch nur dann eine völlige, wenn die darin enthals 
tenen Univerfalien mit vertifgt würben; bann aber bes 
fchräntte ſich diefer Act göttliher Almacht nicht bloß auf 
das Individuum, fondern träfe fofort das ganze genus mit. 
Mit Uebergehung der Übrigen Gründe gegen ben Reas 
liſmus wiederholen wir nur das Obige: Occam begründet 
feine Anficdyt nur negativ, indem er die Schwierigfeiten 
aufdedt, woran bad entgegengefette Syſtem leidet, übers 
läßt ed aber dabei dem Lefer, wie er ſich das Allgemeine 
denken will, entweder ale ein verabrebetes Ueberein⸗ 
kommen zur Bezeichnung des Einzelnen „wie ja die Spra⸗ 
che willkuͤrlich Worte als Zeichen der Dinge aufſtellt, 
o der als eine Fiction, als ein Gebilde, das der Verſtand 
von dem angeſchauten Gegenſtande abſtrahirt a), oder end» 
lich als eine Qualität der Seeleb), wie ja gewilfe natürs 
liche Töne bei Thieren und Menſchen übereinflimmend ges 
wiffe Dinge bezeichnen. Sein letztes Reſultat ift immer 
das fchon angegebene: das universale hat weder Erifteny 
außerhalb der Seele, noch effentiel ander Subſtanz felbft e). 


a) I[bidem quasst. 8. E. Er nennt eine ſolche bloß in unferer Abs 
firaetion vorhandene Eriftenz ber Univerfalien ein esse obiecti- 
vam; wir würben umgelehrt ein bloß in unferer Verſtandesthaͤ⸗ 
tigteit vorhandenes Seyn ein esse subiectivum nennen. Dccam 
geht von dem Gegenftande felbft aus und nennt, was an demfels 
ben ift, fubjectiv, dagegen das von ihm Verfchiebene, alfo bloß in 
unferes Abfiraction Vorhandene, objectiv. 

b) Ibidem Q; und Quodlibet V. quaest. 13. 

c) Ibidem quaest. 8. Quamlibet istaram triam opinionum reputo . 
probabilem; sed quae illarum sit verior, relinquo iudicio ulie- 
rum; hoc tamen teneo, quod nullum universale , nisi forte sit 
universale per u institntionem, est aliquid ezistens 

6° ' 


84. Rettberg 


Für unfern Zwed iſt allein wichtig, zu fragen, wie er 
gemäß diefer nominaliftifchen Vorausſetzung über Begriffe 
urtheilt, die wie ber Quantitätsbegriff realiftifch eine von 
den Dingen verfchiedene Geltung hatten und bei Beräns 
derungen, bie mit den Dingen vorgehen follen, wie etwa 
Berwandlung, Coeriftenz, wefentlih in Srage kommen. 
Er fegt diefe Begriffe fümmtlich mit den Dingen, woran 
fie vorfommen, identifch und wird nun durch fie nicht 
länger verhindert, über Veränderungen an den Dingen zu 
reden, wie er will. Schon Noscellin, der Vater des ſcho⸗ 
laſtiſchen Nominaliimus, hat ja, wie wenigſtens feine 
Gegner berichten a), zwifchen Subject und deſſen Prädis 
cat nicht unterfchieden, zwifchen Pferd und deflen Farben 


feine Differenz zugelaffen. Ebenfo it bei Dccam das Bers 


hältniß, relatio, von den in einem Berhältniffe ſtehenden 
Dingen felbft nicht verfchieden b): durch jenen Begriff tritt 
zu den Dingen felbft nichts wefentlich Neues hinzu, er iſt 
nichts Drittes zu den Damit bezeichneten Objecten. Diefe 


Anficht führt er nun an einigen der gangbarften Begriffe 


durch c): similitudo und dissimilitudo, aequalitas und inae- 
I) 





quocunque medo extra animam, sed ’omne illud, quod est uni- 
versale praedicabile de pluribus ex sua natura, est in mente vel 
subiective vel obiective, et quod nullum tale est de essentia 
seu quidditate cuiuslibet substantiae. Kurpzufammengefaßt fins 
ben fich feine Gründe in der Summa totius Logicae. Oxon. 1675. 
8. Part. I. c. 15. p. 80 sq.: Quod enim nullum universale sit 
aliqua substantia extra animam existens, eyidenter probari pot- 
est. Primo sic: nullum universale est substantia singularis et 
una numero ; si enim diceretur, quod sic, sequitur, quod So- 
crates erit aliguod universale, quia non est maior ratio, quod 
unum universale sit una substantia singularis, quam alia; nulla 
ergo substantia singularis est aliquod universale; omnis vero 
substantia est una numero et singularis, quia omnis res est una 
, res, et non plures cet. 

a) Anselm. Cantuar; de fide trinitatis c. 2. p. 48, 
b) Occam, in Sententiar. Lib.I. dist. 80. quaest. 1. Z. 
c) Quedlibet VI. quaest. 8 sq. 





Decam und Luther. 85 


qualitas, dopleitas nnd dimedietas, diversitas, distinctio, 
identitas, das Verhaͤltniß der Gaufalität, das Verhältnig 
des calefactivi zum calefactibile, der scientia zum scibilez fie 
alle find nichts von den concreten Dingen Berfchiebenes, 
an weldyen fie vorkommen. Die Bewegung iſt nichts ans 
bers, als das bewegte Ding felbft ), Die Dauer eines En⸗ 


gels ift mit ihm felbft gleich, das Schaffen ift nicht won dem - 


Schöpfer, das Sefchaffenwerden nicht von der Greatur 
_ verfchieben b). Ebendiefelbe Operation wird nun mit Dem 
Begriffe der Quantität vorgenommen, an deren Wegſchaf⸗ 
fung ihm Alles gelegen feyn mußte, fobald er für die Eris 
ftenz bes Leibes Ehrifti in der Hoftie eine von dem ges 
wöhnlichen, materiellen Seyn ‚verfchiedene Eriftenz durch⸗ 
führen wollte. Es muß hier derfelbe nominaliftifche Kunſt⸗ 
griff helfen, wonach jeber Eigenfchaftsbegriff als felb- 
ftändig geleugnet und mit dem Gegenftande, woran er 
vorkommt, zufammengeworfen wird. Iſt die Quantität 
mit dem Dinge, woran fie vortommt, felbft wefentlich 
ibentifch, alfo nichts Selbftändiges daran, fo braucht auf 
" fie weiter nicht Rücdficht genommen zu werben, wenn mit 
der Sadı felbft Veränderungen vorgenommen werben fols 
len. So beweifet er c) mit allen Gründen, die der dama⸗ 
Ligen Wiffenfchaft einigermaßen erheblich fcheinen, aus dem 
Ariftoteled, aus der Schrift, aus den Autoritäten der Bär 
ter, daß ſowohl der Subftanz al& dem Accidens ber Bes 
griff der Quantität ſchon völlig innewohne und nicht erft 
als ein realiftifch felbftändiger von außen hinzukommen 
müſſe. Quantität ftedt ſowohl in der Subftanz, ale in 
- der Qualität, und bleibt alfo zurüd, wenn aud die Subs 
ftanz des Brotes in der Berwandlung untergeht, oder ein. 


4) In Sententiar. Lib. II. quaest. 9sq. 
b) Ibid.*quaest. 1 und 2. 


c) Quodlibet IV, quaest. 28 sqg- esse quantum non convenit sub- 
stantiae per aliquod accidens, nec accidenti per substantiam. 


86 Rettberg 


anderer Körper mit ber Hoſtie denſelben Ort einnimmt =). 
Ideo dico propter illas rationes et multas alias tam physi- 
cas quam theologicas, quod quantitas non est res. distincte 
realiter & substantia et qualitate; ned aliqua quantitas est 
realiter eadem cum substantia, et aliqua quantitas est resli- 
ter eadem cum qualitate: unde quantitas non est nisi res 
habens partem extra partem, et habens partem distantem 
‚ situ ab alia, sive res circumescriptive existens in loco. Die 
. Quantität fommt alfo beinahe auf den äußern Umfang, 
bie Lage der einzelnen Theile gegen einander hinaus, wird ' 
ftatt eined wirklichen und vollen Inhalts auf die rein Aus 
Berliche Linie der Ausdehnung eingeichränft, Dieß läßt 
fidy an dem Prozeffe der Berdichtung und Verdünnung eis 
ner Sache zeigen; der Verluft an Quantität befteht allein 
in der veränderten, zufammengebrängteren oder erweitere 
ten Lage der Theile gegen einander b). 

Eine ausdrüdliche und durchgeführte Uebertragung 
feined Quantitätäbegriffs auf das Sacrament führt er 
zwar nicht durch, allein er hat doch das Materielle an 
Dem quantitativen Seyn entfernt, und wird baburd) nicht 


a) Tractatus de sacramento altaris, Einleitung, Bogen D. 

b) Ibidem cap. 87: Ideo consonum experientiae est, quod, quando 
aliqua substantia sine amissione alicuius partis substantiae fit 
minoris quantitatis per condensionem, sive per alium modum 
nulla res absolnta deferens qualitates corrumpitur, nec secun- 
dum se totam, nec secundum partes eius, sicut consonum est 
experientiae, quod qualitates multa (nullae) tunc nec secundum 
se totas nec secundum partes suas corrampüntur vel amittun- 
tar. Et ideo substantia illa non fit minoris quantitatis per ali- 
cnius atcidentis absoluti deperditionem, sed per hoc, quod par- 
tes illius substantiae minus distant situaliter nunc, quam prius, 
sine cuiuscungue accidentis absoluti destructione vel amissione. 
ibid. c.26: sequitur, quod pars substantiae potest distare a 
parte substantiae sine accidente informante eam, et per conse— 
quens poterit substantia esse quanta sine quantitate addita si- 
bi. — Nullam igitur ut videtur contradictionem includit, quod 
aligaa substantia sit quanta, sine omni re accidente absolato 
addita sibi. 





Dccam und Luther. | 87 


länger verhindert, über Borgäuge an der Enbitang des 
Leibes Ehrifti zu reden, wie er will. War es ihm auch 
vielleicht mehr Darum zu thun, an dieſem Dogma feinen 
Nominalifmus durchzuführen, fo wird Doch feine weitere 
Operation Dadurch bedeutend erleichtert. - Ir 

An diefe nominaliftifche Theorie von der Quankität 
knüpft ſich nämlich feine Erklärung über das Gegenwärtig⸗ 
fegn eines Körpers an einem Orte: er unterfcheidet babei 
ein esse circumscriptive und diffinitive; jenes ift bie ges 
wöhnliche, räumliche Gegenwart, wo jeder Theil bed Kor⸗ 
Herd nur einem Theile des Raums entipricht, alfo die vol⸗ 
lig materiale Eongruenz des Körpers und des ihn umfafr 
fenden Orts. Die zweite Art kommt auf ein mehr dyna⸗ 
mifches Seyn hinaus, wofür Occam bag Keungeichen ans 
gibt, daß nicht bloß der ganze Körper den ganzen Raum 
erfülle, fondern daß auch in jedem Theile des Raums bag 
Ganze enthalten fey. Leider kann er zur Belegung dieſes 
Begriffs nur ein doppeltes Beifpiel auftreiben, worauf ex 
ſtets zurückkommt, das Seyn der anima intellectiva ‚ins 
Körper, und dann das Seyn des Engels an einem Orte 
Rückſichtlich der Seele ermeifet er, daß fie nicht allein gang 
den Körper füllt, fondern aud) ganz ift in jedem Theile 
Defielben, fie wohnt nicht etwa fo im Körper, daß ein Theil 
von ihr im Kopfe, ein anderer im Fuße, im Finger vor⸗ 
handen wäre, fondern wo fie gegenwärtig ift, da iſt fie 
ganz. NRüdfichtlich des Engels war die Scholaftif längſt 
durch ihre phyſikaliſchen und metaphyfifchen Unterfuchuns 
gen über defien Bewegung burch den Raum zu den Res 
fultate gelangt, daß feine Öegenwart an einem DOrtegerabe 
eine folche fey, wie Dccam das esse diffinitive befchreibt. 
Hiernach werden folgende Stellen verſtändlich feyn a): 


a) Quodlib. I. q. 4. Der Zufammenhang biefer feiner Theorie des 
Gegenwaͤrtigſeyns mit dem Begriffe der Quantität findet fih In 
Sententiar. L.IV. q. 4. G. ausgeſprochen: quando substautia vel 
qualitas sic coexsistit loco, quod totum coexsiitit toti, et pars 


88 | Rettberg 


dicd‘quod esse in loco accipitur duplleiter, scilicet circum- 
scriptive et diffinitive. Circumscriptive esse in loco est ali- 
quid esse in loco, cuius pars est ia parte loci et totum in 
toto loco; diffinitive autem esse in loco est, quando totum 
est in toto loco, et non extra, et totum est in qualibet parte 
illius loci, quomodo corpus Christi est in loco diffinitive, 
quia totum eius corpus coexsistit toti loco speciei conse- 
erstae, et totum coexsistit cuilibet parti loci. ‘ Die erfte 
Form des Gegenwärtigfeyns iſt offenbar nur die gewoͤhn⸗ 
liche materielle; für die zweite flellter aber bie beiden fchon 
genannten Beifpiele auf, zunächſt vom Engela): colligi 
potest, quod omne, quod est circumscriptive in leco, est 
quantum: omne enim, quod est circumscriptive in loco, est 
totum in tote loco, et pars in parte: — quod enim angelus‘ 
non est totus in toto loco et pars angeli in parte loci, pro- 
pter hoc angelus non est in loco circumseriptive. — Wegen 
der Seele ftellt er eine eigene Unterfuchung anb): utrum 
ankına intellective sit tota in toto corpore et tota in qualibet 
“ parte; er muß den Sitz der Seele kbenfo gut im Kuße, in 
der Hand, ald im Kopfe zugeben; ein heftiger Schmerz 
im Fuße verhindert ja gleichfalld das Erkennen: wie aber, 
wenn ein Glied verloren geht? dico, quod antma intelle- 
ctiva existens in brachio non redit ad corpus, nec corrum- 
pitur corrupto brachio, sed desinit esse, ubi prius erat, sicut 
‘corpus Christi in eucharistia oessat esse sub hostia, corru- 


- 


parti, ita uni,_quam non alteri: tunc dicitur substantia vel qua- 
litas — quantitas; hoc est, tanc denominatur ab illo concepta 
vel voce, quo vocatar quantitas. Quando autem sic coexsistit: 
loco, quod totum coexsistit toti, et totum cuilibet parti, tunc 
non dicitar quantitas vel quanta. Kann er alfo für den Körper 
Ehriſti das esse diffinitive in der Hoftie erweiſen, fo kommt eine 
Quantität dabei gar nicht weiter in Betracht; er hat das Mates 
rielle daran durchaus fortgefchafft. 

a) Tractat. de sacram. altar. c. 16: cf. c.26. 


b) Quodlibet I: quaest. 12. 





x 


Occam und Luther. 8 


pta specie, et angelus cessat esse in loco, quando pars sul 
loci adaequati corrumpitur. 

Rur eine Schwierigleit bleibt Dabei noch zurück; feine 
Beifpiele eines folchen Dynamifchen Seyns find allein von 
geiftigen Wefen entlehnt, der Seele, dem Engel, und dar 

“ber vielleicht eine folche Gegenwart als möglich zu denken. 
Mit welchem Rechte überträgt er dieß auf ein materielled 
Object, den Körper Chriſti? Er hilft fich fehr leicht über 
diefe Klippe hinaus, indem er den Unterfchieb gar nicht 
anerfennt und fo die ganze Schwierigfeit ignorirt ): di- 
co quod non est inconveniens, nec repugnat aliquo modo, 
substantiam corporis Christi cpntineri sub specie panis. 
Probatur, quia sicut non repugnat alicui indivisibili, quod 
secundum se totum coexsistat distinctis locis, sicut angelus 
secundum se est in toto loco et in qualibet eius parte; si- 
militer anima ihtellectiva secundum se totam est im tote cor- 
pore et in qualibet eius parte: ita non repugnat divisibili, 
quod secundum se totum coexistit alicui toti et cuilibet eius 
parti. Alfo ed wird nur geradezu behauptet, was vom uns 
getheilten geiftigen Seyn gilt, von der Seele, dem Engel, 
daſſelbe gift auch vom theilbaren, materiellen Seyn eines 
Leibes. Selbft die allein geftattete Auskunft, dem Körper 
Ehrifti etwa als corpus glorificatum dynamiſche Eigenfchafs 
ten beizulegen, weifet er ab : nonest maior difficultas, quam 
-quod duo corpora coexistant uni loco vel duo angeli eidem: 
et hoc sive sint corpora gloriosa sive non gloriosa: — glo- 
. ria vel non gloria nihil facit ad hoc cet. Occam will alfo 
gar Fein fpecielles Wunder hier eintreten laſſen, fondern 
Alles aus dem allgemeinen Satze über die zwiefache Mög⸗ 
lichkeit ded Seyns an einem Orte ableiten. 

Nach diefen Boraudfesungen kann nun feine Abend⸗ 
mahlstheorie felbft verfianden werden. Folgt man zunächft 
feinem eigenen Bekenntniſſe, fo will er durchaus die kirch⸗ 


a) In Sententiar. Lib. IV. quaest. 4. H; de sacram. altar. c. 26. 


\ 


90 . Rettberg 


liche Lehre von der Trans ſubſtantiation verfechten a): Bo- 
ctores catholici a romana ecclesia approbati. quando de sa- 
eramento eucharistiae conscripserunt, ‚hoc intendunt astrue- 
re, quod corpus Christi, quod sumptum est de virgine Ma- 
ria, passum et sepultum, quedque resurrexit et in.coelam 
aseendit, et sedet ad dexteram dei patris, et .in quo filius 
dei venturus est, iudicare 'vivos et mortuos, sub specie pa- 
nis veraciter et realiter eontinetur. Quamvis autem realiter 
lateat sub’ specie panis, nune tamen non videtur a nobis oou- 
lo corporali: sed ipsum operiri specie panis a fidelibas 
mente creditur. Et tenetur etiam quod subetantia panis non 
manet, sed remanent accidentia sola per se subsistentia si- 
ne subiecto: Zu ber üblichen Fatholifchen NRechtgläubigfeit 
fehlt alfo auch nicht das Geringfte: der Leib Ehrifti ift une 
ter der species ded Brots vorhanden, und zwar durch 
wirkliche Verwandlung, fo daß die Subftanz des Leibes in 
die des Brotes übergeht, und von diefem nur die Acciden⸗ 
zen bleiben. . Ferner räumt er ein, daß bie Verwandlung 
als Weg zum Vorhandenfeyn bes Leibes zwar nicht in der 
Schrift gelehrt werde, weiß aber, daß dieſe Lehre von der 
Transfubftantiation den kirchlichen Autoritäten ebenfalls 
burch Snfpiration, wie durch folgerechte Sata aus der 
Schrift bekannt geworben feyb). 

Ueber die Art der Berwandkung ift feine ausbrüdliche 
Erklärung völlig mit dem firchlichen Dogma übereinfims 
mend, daß nach gefchehener Verwandlung bie Subftang 
des Brots aufhörez er führt darüber nach dem Lombarden 


a) Tractatus de sacram. altar. cap. 1. 

b) Quamvis in scriptura canonica expresse tradatur, quod corpus 
Christi sub spegie panis est fidelibus porrigendum, tamen quod 
substantia panis in corpus Christi realiter convertitur vel trans- 
substantiatur, in canone bibliae non invenitur expressum, sed 

’* hoc sanctis patribus creditur divinitus revelatum, vel auctorita- 
tibus bibliae diligenti et solerti inquisitione probatum, Tract. 
de sacram. nun c. 9. 





Dccam und Puther. | 9 


drei Meinungen ayfa): 1) was früher Brot mar, iſt dar⸗ 
auf Fleifch ; 2) die Subſtanz des Brots hört auf, nur bie 
Accidenzen bleiben, und unter diefen beginnt ber Leib Chris 
fti zu feyn; 3) es bleiben Subftanz und Accidenzen bee 
Brote und Weins, aber an demfelben Orte wie unter der⸗ 
felben species ift ber Leib Ehrifti ba. Offenbar würde nur 
bie dritte Meinung feiner ganzen Theorie zufagen; dar⸗ 
auf allein paffen die ſtets benutzten Beifpiele von dem Seyn 
der intellectiven Seele und des Engeld, die beide mit eis 
‚ nem Körper an demfelben Orte zugleich find, ohne daß 
deſſen Subftanz vorher verfchwände. Auf diefelbe Art 
würde er das Zufammenfeyn Des Leibes Chrifti mit dem 
Brote behaupten können, ohne deffen Subftanz vorher zu 
entfernen. Aber nein! feine aushrüdliche Erflärung fpricht 
für die zweite ber obigen Meinungen.b): dico tamen, quod 
substantia panis non maneat, sed desinit esse, et sub illis 
speciebus incipit esse corpus Christi. Bon den beiden 
Nüancen, die für dieſe Behanptung möglich find, ob bei 
jener Berwandlung doch wohl die Subftanz des Brotes 
bleiben fönne oder nicht, wendet er fich der erfteren, von 
Scotus anfgeftellten, zu; wenn bie Subftanz bliebe, fo wür⸗ 
De es keinen Widerſpruch enthalten, denn der göttlichen 
Allmacht muß auch dieß möglich feyn: quamvis substantie 
panis de facto non maneat cum eorpore Christi, tamen con- 
tradictionem non ineludit, quin per potentiam divinam pos- 
eit manere panis cum corpore: — illa opinio videtur mihi 
‚probabilior et magis consona theologiae, quia magis exaltat 
omnipotentiam dei, nihil ab ea negando, nisi quod evidenter 
et-expresse implicat contradictionem. Schon hieraus fieht 
man, daß das Berfchwinden der Subftanz bed Brotes für 
ihn feine wefentliche Bedeutung hat, daß er durch Die Con⸗ 
fequenz vielmehr zu der entgegengefeßten Anficht getrieben 


a) Ibid. 0. 5. 
b) Ibid. c. 5. fin. 


92 Rettberg 


- wurde, und nur fein Anbequemen an bad kirchliche Syſtem 
ihn fo fprechen läßt. Allein wie es mit feiner ftrengen 
Orthodoxie beftellt ift, muß aus dem Obigen klar feyn, und 
feine ausdrüdlichen orthodoren Behauptungen Bürfen ung 
nicht-abhalten, den eigentlichen Gehalt feiner Theorie fo 
zu beſtimmen, wie es der Zuſammenhang feines Syftems . 
fordert. | 

Seine ganze Beweisführung ift darauf berechnet, ein 
Zufammenfeyn des Leibes Ehrifti mit jedem andern Köre 
per zu erhärten, ohne daß legterer das Geringfte von feis 
ner vollen Realität zu verlieren brauchte, und fo wird 
das Berfchwinden der Subftanz des Brotes bei ihm wenig» 
ſtens ein völlig müffiger Satz. Sein esse definitive ift ja 
nur darauf berechnet, zu zeigen, daß yecht wohl ein Körs 
per mit dem andern an demfelben Drte feyn kann, nur das 
zu ift ja die Dynamifche Eriftenz der Seele und des Engels 
benußt. Hat er Durch jene Beifpiele die Möglichkeit zur 
Goeriftenz eined Weſens mit einem völlig. realen Körper 
Dargethan, ließe aber in der Anwendung auf das Sacras 
ment an der Realität des Brotes ‘etwas fehwinden, fo 
hätte er mehr bewiefen, als er für feinen Zwed brauchen 
Tann. Gene Beifpiele paßten höchftend zu dem Beweife, 
daß der Körper Ehrifti in jeder einzelnen Hoftie ganz euts 
halten ift, wie die Seele in jedem Gliede; aber die noth⸗ 
wendig voraufgehende fchmwierigere Forderung, zu zeigen, 
wie er überhaupt bafelbft möglichermweife gegenwärtig feyn 
fönne, wäre nicht gelöfet. Schon hiernach darf man ans 
nehmen, daß Occam's eigentliche Anficht ein Zufammenfeyn 
des Leibes und Brotes an demfelben Orte umfaßt, wobei 
Das Verfchwinden der Subftanz bed Brotes ald Forbes 
rung ber Orthodorie bei ihm etwas Leeres und Müffiges 
bleibt. Zur völligen Evidenz erwächft diefe Behauptung, 
wenn man beadjtet, wie er zwar nie von der Koeriftenz 
des Fleiſches und Brotes, aber doch immer von dem Zus 
fammenfeyn des Leibes Ehriſti und der Hoſtie, oder der 


% 


Decam und Luther. . 93 


species panis redet ©): Christi corpus et species panis sunt 
in eodem loco; man beachte die ſtets fich wieberholenbe 
Form der Argumentation, wie fehr es ihm auf Die Coeris 
ftenz zweier Körper an demfelben Orte ankomme, ohne 
Daß von ber Realität des einen das Geringfte eingebüßt 
werdeb): Ita enim tenemus, quod anima intellectiva est to- 
ta in toto corpore, et in qualibet parte eius: — sic etiam 
tenemus, quod angelus est totus in aliquo loco diffinitive, et 
in qualibet parte: per idem non debet etiam aliquis negare, 
quin per divinam potentiam possint duo corpora, tam eius- 
dem speciei specialissimae quam diversae, simul eidem loco 
coexistere. Sic enim salvator lesus Christus clausis ianuis 
intravit ad discipulos, et clauso utero virginis exivit inmun- 
dum, et nullo diviso corpore celesti in celum ascendit. Bei 
diefem Beweisverfahren hat er allerdings auch das weis 
tere Problem vor Augen, zu zeigen, wie in jeder Hoftie 


der ganze Chriſtus enthalten it; darauf zielt immer die 


Befchreibung des esse diffinitive, wonach dad Ganze im 


Ganzen und zugleich ganz in jedem Theile ift; aber noth⸗ 


" wendig liegt Dabei Die erſte Borausfegung zum Grunde, 
das Zufammenfeyn des Leibe Chrifti mit der Hoftie an 
‚ bemfelben Orte. Bermeidet er auch dem Firdhlichen Dogma 


"zu Gefallen den Ausdruck: Eoeriftenz von Fleifch und Brot, 


fo ift doch Eoeriftenz von Fleiſch und Hoftie damit gleich. 
. bedeutend genug ; und darauf erfcheint feine ganze Beweis⸗ 
führung gerichtet. Dean darf alfo als eigentliche Theorie 
Occam's annehmen, daß auf diefelbe Art, wie die Seele 
mit dem Körper nur einen Raum ausfüllt, fo auch ber Leib 
Shrifti in der Hoftie enthalten fey, und zwar, wie bie 
Seele ganz vorhanden ift in jedem Gliede, fo auch der 
ganze Ehriftus in jeder einzelnen Hoftie. 

Als einziger Grund diefer Behauptungen gilt ihm nun 





a) In Sententiar. Lib. IV. q. 4.0. 
b) Tractat. de sacrament, gitar. c. 6. er 


— 


98 — Rettberg - 


die Allmacht Gottes, worauf nach Scotus Vorgange ſich 
ſo trefflich fußen ließ; hatte diefer vom Standpunkte des 
Realismus aus Schon an den.meiften Dogmen das Irra⸗ 
tionale nachgewiefen und ihre Geltung allein auf den aus⸗ 
drüdlihen Willen Gotted begründet, fo mußte Dccam 
von feinem zu Zweifel noch mehr geneigten nominaliftifchen 
Standpunfte aus diefen Weg noch weit eher einfchlagen. 
Das Auseinandergehen theologifcher und philofophifcher 
Wahrheit, das Auflöfende der Scholaftik, die ſich mr noch 
Durch die zwingende Gewalt der Kirche zufammendalten 
kieß, hat allein an der. Allmacht Gottes einen Grund für 
ihre theologifchen Behauptungen: Gott hat nach feiner Alls 
macht noch ‚viel unglaubtichere Dinge vellbradht, alfo wird 
er auch dieß wohl fönnen! Das Aufhören der Subſtanz 
des Brots bei Zurücbleiben der Accivenzen wird fo erwies 
fen, daß Gott recht wohl Dinge, die in nothwendiger Vers 
bindung mit einander ftehen, auseinander zu halten ver⸗ 
möge. Bei den Männern im feurigen Ofen hätte die Flam⸗ 
me ald Urfache nothwendig die Verbrennung als Wirkung 
nach ſich ziehen müffen, aber Gott hinderte die Wirkung, 
ungeachtet die Urfache blieb a). Eben fo kann Gott alfo 
auch Subitanz ohne Accidenzen, und biefe ohne jene beftes 
ben laffen, kann dem Leibe and der Hoftie eine völlige Eos 
eriftenz geftattenb): Non iuxta modum causarum natura- 
lium potentiam divinam.artare debemüs, cum divina pote- 
stas virtutem omnium oreatorum in infinitum excedat. Nec 
ad negandum aliquid posse fleri de virtate divina experi- 
‚ menta sufficiunt, cum totum ordinem causarum possit deus 
immutare; et contra cursum communem Causarum natura- 
lium constat eum multa fecisse. Seine Beifpiele geſtatten 
ihm überall eine Beweisführung ex concessis:. #8 liegt ja 
das viel größere Wunder vor, daß Chrifti Leib durch Die 


a) Tractat. de sacrament, altar. c. 12. 
b) Ibid. c. 6. 





Dccam und Luther. 95 


verfchloffene Thür und aus dem verfchloffenen Schooße 
der Jungfrau hervorging: fo wird dieſelbe Allmacht auch 
das anderweitige Wunder vollbringen fönnen, daß Chrifti 
Leib mit der Hoftie an demfelben Orte ift; das Irrationale 
davon ift Durch die aufgefundene Analogie der Eriftenz des 
Engels und der intellectiven Seele völlig zerfireut. 
Einige befondere Angaben Dccam’d werden über feine 
Theorie noch mehr Licht verbreiten. Zunächft dad Seyn 
des Leibes Ehrifti in der Hoftie ift durchaus nur ein bes 
gleitendes, zufälliges, von Gott fo gewollted. Leib und 
Hoftie Hängen deßhalb gar nicht weiter zuſammen a): Cor- 
pus Christi cuicunque est praesens, est se ipso immediate 
praesens, et per conseguens illa species panis nihil ad prae- 
sentiam corporis facit, hoc est hostia, quia Deus potest 
eonservare corpus in illo loco, in quo modo est hostia, et 
destrmere hostiam. ‘ Wenn die Hoftie bewegt wird, fo theilt 
ber Leib Ehrifti zwar dieſe Bewegung, jedoch nur durch 
einen jedesmaligen ausdrüdlichen Willensact Ehrifti, der 
feinem Leibe gerade Diefe Bewegung dann auch geben will. 
Die Gegenwart der Seele und Willenskraft Ehrifti in der 
Hoftie iſt zwar nicht Folge der Verwandlung b), fonft 
hätte ja während der 3 Tage des Todes Chrifti, als die 
Seele vom Leibe getrennt war, das Sacrament nicht ges 
feiert werden können, aber dennoch befteht eine Einwirs 
fung der Seele auf ben Leib, weil diefer ja nie ohne jene 
gedacht. werden kann. Dad Sacrament hat alfo gar nicht 
mehr die Idee einer Todesfeier; Decam denkt gar nicht 
an das in den Tod gegebene Fleifch und das vergoffene 
Blut, fondern hat nur die Hypothefe vor Augen, wie ber 
nad) der Auferftehung wieder lebende Körper mit der Ho⸗ 
flie an demfelben Orte gegenwärtig feyu könne, Auch hier 
gefällt er fich in. Paradorien, die auf das bloß diffnitive 


| a) In Sententiar. Lib. IV. q. 4. N. 
b) Tractat. de sacram. altaris c.4. 


96 Kettberg 


Gegenmwärtigfeyn doch alle Eigenheiten bed esse circum- 
scriptive übertragen; das Auge Chrifti fieht aus dem eis 
nen Theile der Hoftie feinen Leib auch in dem andern ge: 
genwärtig, ebenfo gut, ald wenn ed von einem ganz vers 
fchiedenen Orte aus geſchähe a): Patet quod, quando me- 
vetur hostia, anima intellectiva Christi movet voluntate sua 
immediate corpus Christi sub hostia non organice, sed ut 
causa partialis toncurrens cum voluntate divina causante 
contingenter, disponente illud corpus mpveri ad motum 
hostiae. — Mirabiliter esset, si Christus existens sub ho- 
stia nesciret, ubi esset. Ideo teneo, quod omnem actio- 
nem et passionem, quam potest habere, quando existit cir- 
eircumscriptive in loco, potest habere in eucharistie, niei 
aliud impediret, puta voluntas divina, — Dico, quod ocu- 
lus Christi in una parte hostiae potest se videre in alia 
parte, ita bene ac si esset in diversis locis. Aug feiner 
Theorie: Chriftus kann mit andern Körpern an bemfels 
ben Orte zugleich fepn, folgt dann eine wirkliche Ubiqufs 
tät, die er wieder nach dem obigen Angaben auf das Pas 
radoxeſte ausführtb): Der Stein, der die Luft durch⸗ 
ſchneidet, tft in feinem’ Kluge an demfelben Orte, wo der 
Leib Chrifti ift, u. dgl. Ihm ift die Ubiquität nicht der 
“ Grund, woraus er die Gegenwart in ber Hoftie ablefs 
tet, fondern nachdem diefe bewiefen ift, bleibt jene eine 
paradore Kolgerung daraus. Höchftens leitet er daraus 
bad Gegenwärtigfeyn Chrifti auf fo vielen Altären. zus 
glei ab): Teneo, quod idem corpus potest esse in 
diverais locis diffinitive —: sed corpus Christi coexistit 
-principaliter toti hostiae et cuilibet parti; igitur eodem 
modo et multo magis potest esse praesens distinctis locie. 

Noch benugt Decam nad) dem Borgange bed Johann 
von Damascus den Satz von ber NRaturenvereinigung, 
a) In Sententiar. Lib. IV. quaest. 5, F. 


b) Vergl. oben ©. 76. not. a. u, b. 
c) In Sententiar. Lib. IV. quaest. 4. 





zwar nicht fo, nm die Allgegenwart von ber göttlichen 
Natur auf die menfchliche zu übertragen, denn fein fteter 
. und einziger Grund bleibt die Allmadıt Gottes; fondern 

er benußt jenen Sag, um die kirchliche Annahme von der 
Trennung der Subflanz und des Accidend am Brote zu 
erweifen: die menfchliche Natur verhält fich zur göttlis 
dien wie ein Accidend zur Subftanz, und doch kommt 
auch jene getrennt von diefer vor; dieß beweifet zunächft 
nichts für den Sat von der UÜbiquität des Leibes Chriſti, 
doch würbe Decam auch diefen wohl haben herausbrins 
gen Fönnen, wenn ihm daran. außer dem allgemeinen Ars 
- gumente von der Allmacht etwas gelegen gemefen wäre, 
Über der Ideengang war doch wenigitens in biefer Art 

- eröffnet, und die fpätere Anwendung des Satzes Teicht a). 
; Endlic über die ganze Bedeutung bed Sacraments 
fpricht er zwar im Sinne der Fatholifchen Kirche die Idee 
der Meile als eines Opfers aus, redet aber dabei zugleich 
son der memoriellen Beflimmung, und endlich auch von 
Dem geftatteten Genuffe des wirklichen Leibes und Blus 
tes, fo daß die drei gangbaren Theorien, die Fatholifche 
nebſt der zwingli’fchen und Inthetifchen, faft gleichmäßig 
darin enthalten findb). -Ut tanti muneris (ded Opfertos 
des Ehrifti) in nobis ingis maneret memorla, ac pro nobis, 
qui quotidie labimur, Christus quotidie mystice immolare- 
tur: corpus suum in cibum, et sanguinem suum in potum 
in eucharistiae sacramento sumendum fidelibus dereliquit. 
Man fieht daraus, daß es ihm weniger um eine Stellung 
der Sacramentslehre zum ganzen Syftem, ale um die bias 
Lektifche Ausgleichung feines einen Sapesd vom nominas 
Tiftifchen Standpunkte aus zä thun war, was zugleich als 
- eine Bewährung bed Nominalifmus felbft gelten ſollte. 





| a) In Sententiar. Lib. IV. quaest. 4.N. 
b) Tractat. de sacrament. altar. prologus. 


Theol. Stud, Jahrg. 1839. 7 


98— .  Kettberg: 


ll. 

Wenden wir und jetzt zur Abendmahlslehre Luther's, 
fo ift die obige Bemerkung wieder aufzunehmen, wie mes 
nig fid) Luther zur Durchführung einer Theorie bis in bie 
legte fpeculative Spiße geneigt fühlte. Er lebte ja fo völ⸗ 
lig innerhalb feines Glaubens, fand fidy fo durchaus in 
deſſen Befige glüdlich, daß ihn das. Berhältnig deſſelben 
zu allem übrigen menschlichen Wiffen gar nicht kümmerte, 
und eine fpeculative Ausgleichung gar Fein Bedürfniß war. 
Es ift der Vorzug der mit folcher Gemüthstiefe begabten 
Menfchen, daß fie in ihrer -hriftlichen Ueberzeugung felbit 
nicht Durch die Incongruenz derfelben mit jeder andermeis 
tigen Erfenntniß wankend gemacht werden. Verſteht fidh 
aber Luther deßhalb irgendwo dazu, auf ein Gebiet übers 
zugehen, das auch nur einen Anklang von Speculation 
fordert, fo darf man annehmen, daß .er nur gegen feinen 
Millen hinauf gedrängt ift und ſchwerlich darin Selb» 
ſtändiges und Großes leiften wird, 

Auch in der Abendmahlsiehre, wie in feiner ganzen 
dogmatifchen Ueberzeugung, ift es der Boden der Schrift 
allein, wo er fich wohl fühlt. Man kann deshalb beobachs 
ten, wie er an den Text fih.anfchließt, ja anflammert, 
nichts anerkennt, als was die einfache, ungezwungene 
Worterflärung ergibt. Wie offen befennt er gleich zu Ans 
fang des Sacramentöftreited den Straßburgern, daß er 
bei feinem exiten Auftreten gegen das Papſtthum wohl bie 
Bortheile beachtet hätte, . die ihm aus dem Aufgeben der 
realen Gegenwart zur Bekämpfung der ganzen Hierarchie 
erwachfen mußten. Die facerbotale Stellung des Kleris 
kers im Fatholifchen Syfteme beruht ja allein auf der Idee 
des Meßopfers; durd) die magifche Kraft feiner Formel 
bringt er ja des Herrn Leib hervor, um ihn Gott zum 
Opfer darzubringen. Dad conficere und offerre corpus 
Domini ift die Grundlage der ganzen facerdotalen Würde, 
fo daß mit dem Aufgeben der realen Gegenwart des Lei⸗ 








Dccam umd Luther. 99 


bes Chrifti dem Fatholifchen Syſteme ber empfindlichfie 
Schlag zuzufügen war; aber felbit durch Diefen Vortheil 
batte er fich nicht zum Abweichen von dem einmal aners 
kannten Sinne des Textes beflimmen laſſen »)3: „das bes 
fenne ich, wo Dr. Carlſtad oder jemand andere vor fünf 
Jahren mich "hätte möcht berichten, baß im Sarrament - 
nichts, denn Brot und Wein wären, der hätte mir einen 
großen Dienft gethan. Ich hab wol fo harte Anfechtung 
ba erlitten, und mich gerungen und gewunben, ba ich gern 
heraus gewejen wäre, weil ich wol fahe, daß ich damit. 
dem Papſtthum hätte den größten Puff können geben. — 
Aber ich bin gefangen, kann nicht heraus: der Text ift zu 
gewaltig da, und will fich mit Worten nicht laffen aus dem 
Sinn reißen.” Darum feßt er den Gegnern jedesmal bas 
Wort des Tertes entgegen; hat daran eine ſichere Mauer, 
anf die er ſich jedesmal zurüdzieht b): „daß du fageft, 
Schrift ſey wider eimander, gilt nichts; wer fragt nach 
deinem Sagen?“ Aber da wollt ich fie loben und chrem, 
wenn fie ſolchs Sagen mit Schrift oder fonjt beweifeten, 
das follen fie wol laffen, auf daß der Tert veft bleibe fies 
hen, das it mein Leib”; daher fein eigen Geftänds 
niß, daß er nur auf den Tert poche c): „Wir haben vor 
uns den hellen dürren Text und Chrifti Wort: Nehmet, 
effet u.f.w.; das find die Worte, darauf wir pochen, die 
find fo einfältig und klar gerebt, dag auch fie, die Wider⸗ 
facher, müflen befennen, es Tofte Mühe, daß man fie ans 
ders wohin ziehe, und lafien doch folch heile Worte ftes 
hen.” — An den Textesworten hat er fich jedesmal er- 


a) Warnungsfchreiben an alle Ehriften zu Straßburg, fi) vor Carl⸗ 
ſtad's Schwärmerey wohl vorzufehen: Luther's fämmtliche Schrif⸗ 
ten. Halle. Tom. XV. ©, 2448. $. 10, 

b) Schrift, daß diefe Worte: das ift mein Leib, noch vefte fliehen, wis 
der die Schwarmaeifter. 1527, Tom. XX. ©. 991. $. 76. 

c) Sermon von dem Sarramente bes Leibes u. Blutes Chrifli wiber 
die Schwärmer. 1526, ibid. S. 916. $. 2. 

7 * 


100 | Rettberg 
friſcht, und bei Zweifel und Anfechtung aufgerichtet a): Sie 


_ Interim sapiam pro honore sanctorum verborum Dei, quibus 
per humanas ratiunculas non patiar vim fleri, et ea in alie- 
nas significationes torqueri_b); „über diefe vier gewaltis 
gen Sprüche haben wirngch Einen andern 1Kor. 10, 16.— 
- Daß ift ja, meyne ich, ein Spruch, ja eine Donnerart auf 
“ Doct. Carlſtad's Kopf, und aller feiner Rotten. Der Spruch 
ift audy die Iebendige Arzeney gewefen meines Herzens in 
meiner Anfechtung über Diefem Sacrament. Und weyn wir. 
feine Sprüche mehr hätten, denn diefen, Fönnten wir doch 
Damit alle Gewiffen gnugfam ftärfen, und alle Widerfechter 
mächtiglich gnngfam fchlagen.” Er erflärt es deßhalb ges 
radezu, daß er feinen Gegnern außer den Worten feinen as 
dern Beweis entgegenzufegen wifle; fie wollen ihm durch Die 
Sachen die Worte, er umgekehrt ihnen durch die Worte die 
Sachen abgewinnen c): „Es find zwey Stüde in dieſer 


Sache vorgeftellt, nemlich verba et res, das ift Wort und 
Ding, oder die Sad, davon die Worte reden. — Danad) - - 


bemühen wir und, daß wir euch die Sache durch die Worte 


- . abdringen, wie ihr euch bemlühet,.daß ihr und die Worte 


durch Die Sache abdringet. Denn fo man die Worte vers 
fiehen muß, wie fielauten, haben wir auf unfer Seiten 
ohn Zweifel gewonnen, und euch die Sachen abgedrungen. 
Dagegen fo ihr die Sache durch unwiderfprechliche Beweis 
ſungen erhaltet, habt ihr gewiß ung die Worte abgebrun= 
gen, nemlich daß fie anders müſſen verftanden werben, 
denn fie lauten.” d) „Wenn wir das erhalten, daß feine 
Worte wahr find, und Ehriftus Leib und Blut drinnen ift, 
follen fie und das Abendmahl wol etwas mehr laffen bleis 


‚a) De captivitate Babylonica, 1.1. fol. 68, 


b) Wider die himmlifchen Propheten. Th. 2. 9.88, Tom. XX. Halle, 
©. 813. 


c) Antwort und Widerlegung etlicher irriger Argumenten. Tom. xx. 
&. 427. $. 2, 


d) Schrift, daß diefe Worte u. ſ. w., S. 1105. 9. 808. 











Occam und uther. 101 


ben, denn eine Kirchweih.“ — Diefelbe Stellung hatte 
auch Decolampad gleich zu Anfang des Streits richtig 
durchſchaut =): Itaque quod vel in civilibus causis daretur, 
sicut nos vobiscum z0 6nrov libenter recipimus, Ita vos 
nobiscum..7v Ösdvoıwv videte ne aversemini, ne fortasse 
gravius quiddam accidat. Die Taktif der Streitenden war 
demnach nothwendig biefe: Die Schweizer erwieſen, ber 
Wortſinn gibt ein Refultat, das unhaltbar iſt; deßhalb 
muß die Erklärung danach abgeändert werden, bie Worte 
ſich nach den Sachen richten. Luther dagegen behauptet, 
nur die Sache ift die wahre und im chriftlichen Glauben 
‚ anguerlennen, bie einfach aus den Worten fließt. Aufdas 
Wie? will er ſich dabei nicht einlaffen; welches Reſultat 
ſich auch daraus ergeben möge, es muß angenommen wers 
den, fo lange die Autorität der Schrift beftehen fol. 
Schon die Berfaffer des fchwäbifchen Syngramma fas 
hen deßhalb ein, daß fie auf jede rationale Begründung 
des Iutherifchen Sates verzichten und mit ihm in die In⸗ 
vectiven auf die Vernunft einſtimmen müßten, wonach er 
jede Frage nach dem Wie? jede verlangte Ausgleichung 
des Dogmas mit der anderweitigen menſchlichen Erkennt⸗ 
niß als’ Arroganz und Sophiſtik abgefertigt hatte b): 
Times forte ne duo corpora sint in uno eodemque loco. 
Timere desine, et ab imaginatione carnali cessa: da ho- 
norem verbo: si enim non absurdum fuerit corpus verbo 
gestari, quomodo absurdum esset, pane per verbum 
gesteri? Aristotelem hic non audimus, nec praedicationes 
logieas: disputet Aristoteles de duobus corporibus in sus 
arena; in verbo Domini alinm cogaoscimus- praeceptorem 
cet. Diefelbe Sprache, nur Fräftiger nad, feiner Art, 
führt Luther überall c): „Uns ift nicht befohlen zu forfchen, 


a) Oecolampadü liber de s. coena, in Chr. Matth. Pfaffii acta et 
scripta publ. eccles. Wirtembergicae. Tubing. 1720, p. 59 

b) Syngramma Suevicam, bei Pfafhi Act. p. 179. 

c) Wider bie himmlifchen Propheten. S. 368. $. 195. 


102 Rettberg 


wie es zugehe, daß unſer Brot Chriſtus Leib wird und ſey. 
Gottes Wort iſt da, das ſagts, da bleiben wir bey und 
glaubens. Da beiße dich mit, du armer Teufel und forſche 
danach fo lange, bie ‚du es erfahreſt, wie es zugehe.“ — 
„Da ſtehet nun der Spruch, und lautet ar und helle, 
daß Ehriftus feinen Leib gibt zu eflen, da er dad Brot 
bricht: darauf fiehen, glauben und lehren wir auch, daß 
man im Abendmahl wahrhaftig und leiblich Chrifti Leib 
iſſet und zu fich nimmt. Wie aber das zugehe, oder wie 
er im Brot fey, wiſſen wir nicht, ſollens auch nicht wiſſen. 
Gottes Mort follen wir gläuben, und ihm nicht Weife 
noch Maß fegen. Brot fehen wir mit den Augen, aber 
wir hören mit den Ohren, daß Leib da ſey.“ a) — „Wie 
aber das zugehe, ift ung nicht zu wiffen; wir follend gläus 
ben, weil es die Schrift und Artikel des Glaubens fo ‚ges 
waltig beftätigen.” b) 

So lag ed alfo durchaus in Luther's Stellung, ja in 
feiner ganzen theologifchen Anſchauung, fih nur an das 
eregetifche Ergebniß zu halten und auf der leiblichen Gegens 
wart zu beftehen, weil der Mare Wortfian fie verlangt. 
Sobald er ſich auf etwas Weitered dabei einläßt, etwa 
den Hebel der Speculation ergreift, um dadurch jenen 
eregetifchen Nefultaten größere Klarheit zu verfchaffen, 
fo ift er nicht mehr in dem ihm eigenthümlichen Elemente: 
Ebenso ift auch die Wiedereinnahme diefer Stellung und 
das Aufgeben jeder Dialektifchen Operation ficheres Zeichen, 
daß Luther von fremdartigen Einflüffen fich frei gemacht 
bat. Als durdy Bucer’d Bemühungen bie wittemberger 
Soncordia fich verbereitete, war eine Ausfühnung nur fo 
möglich, daß Luther feine alte Stellung wieder einnahm 
und von dem Wie? bei feiner —— nichts wiſſen 


a) Schrift, daß dieſe Worte u. ſ. w. ©. 868. 6. 83; 989. $. 72. 
b) Ibid. &, 1011. $. 118, 








Occam ukb Buther. 403 


wollte a): „Wir.bieiben veſt bey dem Artikel Des Glanubens, | 


r 


— und laſſens göttlicher Almacht befohlen feyn, mie. fein 
Leib und Blut im Abendmahl und gegeben werde; — mo 
wir hierin einander nicht: gänzlich verftünden, fo fey Das 
jetzt das Beſte, daß wir .gegen.einander freundlich: ſeyn, 
und immer das Defte zu einander verſehen, bis das Gläm 


‚und trübe Waffer fich feße.? So lange er ans dieſer feiner 


natürlichen Stellung verbrängt war, zeigt er fich in ſich 
felöft fo unklar, daß an Ausgleichung nach außen noch 
weniger zu denken war. 

Aber die von Luther eingenommene Stellung trug den⸗ 


noch eine gewaltige Gefahr in ſich, nämlich. Die Der vollen 


Irrationalität, wenn es ihm wicht gelang, das eregetifche 
Reſultat irgendwie mit .der übrigen menſchlichen Hebers 
geugung auszugleichen. Namentlich fo gemandten Gegnern 
gegenüber, wie Zwingli, Decolampad, war die. ganze 
Beweisführung verloren , fobald’der Wortfinn der Schrift, 
wenn auch nicht:verftändtg Tlar, doch wenigſtens anf ir; 
gend eine Art anfchaulich. gemacht oder auch nur in eine 
Analogie mit anderweits zugeftandenen Sätzen gebracht 
werden fonnte. Namentlich Oocolampad erfennt jene Res 
fignation gar nicht an, daß man bie Frage nach dem Wie? 
aufzugeben nad fic allein an den dürren Xert zu halten 
babe. Das Ganze würde dann auf ein volles Wunder 
hinauskommen; allein weder die Schrift verlangt cin fols 


ches, noch hat Auguſtin, der alle Arten von Wurndern aufs 


zählt, im Geringfien ein ſolches geltend gemacht. by Es 


a) Schrift an die Städte Zuͤrch, Bern u. f.w. 1. Decbr, 1537. 
Tom. XVII. &, 2597, $. 7. 

b) Oecolampadüi liber de coena sacra. 1.1. p- 49: Neque est, , quod 
contendatar, norunt quidem fideles sacramentum, sed igno- 

rant modum; quö in sacramentis sint, quae illic esse‘ credun- 
tur. Veram clarissimo testimonio Augustini docebimus, non 

. esse in hoc sacramento, yuod vel miraculam sit, velhominis . 
captum excedat. — p. 65! Quib &t”si dieas: panis continet 





* 


# 


108 u Bettberg 


———— den nothwendigſten Begriffen, einen materiel⸗ 
Ien Körper an viele Orte zugleich, oder zwei Körper an 
denfelben Ort zu ſetzen. Sogar die für Luther jo empfinds 
liche Waffe des Spottes nimmt er zu Hülfe, um das Uns 


'gereimte an jener Behauptung darzuthun. Mochte kuther 


fich noch fo. fireng hinter den Textesworten verſchanzen, 


dieſer, dem ‘gewöhnlichen Berftande fo zufagenden Argus 


mentation fieß fich nicht entgehen: was an mehreren Ors 
ten zugleich ift, kann kein Körper feyn, und in dem Raume, 
wo fchon ein Körper verweilt, ift für keinen zweiten Platz. 


Möchte er noch fo viel über die Vernunft, als die alte 


PWettermacherin, als die Fran Hulda fpotten, — jene 
Entgegnung war zu fchlagend, und irgend eine Auskunft 
mußte getroffen werden. Sogar bie Fatholifche Anficht 
ließ doch wenigftend den einen Körper feiner Subftanz nah 
verfchwinden, um dem andern Plaß zu machen, hier aber 


. folte Brot und Leib Chriſti an demfelben Orte feyn. 
Wie ſehr Luther fidy auch ſträubte, fich auf das Wie? das 

- bei einzulaffen, feine. Sache war ohne den Verſuch dazu 

ı völlig verloren; er felbft räumt es ein, daß er nur um 


. bie Seinen zu ſtärken, fich auf Die weitere Erörterung eins 
laffe 9: „Doc um der Unfern willen zu ftärten, will ich 
weiter handeln, wie der Schwärmer Grund und Urſache 
nichts find, und zum leberfluß beweifen, daß nicht 
wiber die Schrift, noch Artikel des Glaubens fey, daß 
Ehrifti Leib zugleich im Himmel und im Abendmahl fey; 
wiewohl ich8 den Scwärmern nicht fchuldig bin zu thun, 


corpus, vide quid sequitur: ergo panis locus erit, et unum 
corpus erit in multis locis, et multa corpora in uno loco, et 
corpus in corpore, et corpus in atomo et puncto. — p. 145: 
Nos sane urgemur fateri verum corpus Domini non esse super 
terram; nam hoc esset veritatem corporis auferre. Apud 
acutos autem homines illos nulla consequentia. prohibet, idem 

corpus variis in locis corporaliter. “ 


a) Schrift, daß biefe Worte u. ſ. w. S. 999. $ 98, 





Dccam und Luther. 105 


fondern fie zu beweifen fchnldig find, daß wider die Schrift 
ſey, und koͤnnens nicht thun, wie gefagt. Wenn idy aber 
Das beweifet habe, fo fol man die Worte laffen gehen und . 
ftehen, wie fie lauten (das ift mein Leib), Denn daß ih 
ſollt mit Augen und Finger fichtlidy zeigeu, daß Ehrifti Leib 
zugleich. im Himmel und über Tiſch fey, wie die Schwärs 
mer von und begehren, kann ic; wahrlich nicht thun.“ 
Da Luther das jededmalige Einzelmunder, woburd; in 
der katholifchen Meßtheorie Die Gegenwart des Feibes hers 
vorgerufen wird, zugleich mit der Transſubſtantiation 
gleich anfangs verworfen hatte, fo blieb ihm nichts übrig, 
als ein Univerfalwunder, wodurd die Gegenwart gleich 
für alle einzelnen Fälle erflärt wird; deßhalb kommt feine 
ganze Beweisführung auf den Sat von der Übiqnität bee 
Leibes Ehrifti hinaus. Chriftus ift nur deßhalb im Brote 
und Weine gegenwärtig, weil er allgegenwärtig ift und 
feihe Gegenwart eintreten laflen kann, wo er will; bieg 
it im Sacrament der Fall, weil fein Wort dafür zengt. 
In diefer Hypothefe felbft laßt fich eine allmähliche Durchs 
führung jenes Begriffs beobachten; in den früheren Schrifs 
ten a) bediente er fich der Ubiquität noch nicht, um bie 
Gegenwart des Leibes in dem-einzelnen Hoftien, fonbern 
nur um die Allgemeinheit des Sacraments zu erweifen, in 
Demfelben Sinne, wie auch die Predigt des Worts und. 
die Taufe überall vorhanden iſt; erft fpäter bildet er den⸗ 
ſelben Grund auch für jenes weitere Problem aus. Seine 
Argumente gibt er felbft fo an b): „Meine Gründe aber, 
darauf ich ſtehe in ſolchem Stüde, find diefe: der erfte 
ift dieſer Artikel unſers Glaubens: Jeſus Ehriftus ift wer 
fentlich, natürlicher, wahrhaftiger, völliger Gott und 
Menfch in einer Perfon unzertrennt and ungetheilt; ber 


a) Wider bie himmliſchen Propheten. ©. 873. $. 205, 
b) Bekenntniß vom Abendmahl Chrifli, An. 1538, Tom: XX. 
S. 1185. $. 184. 


106 | Rettberg J 


andere, daß Gottes rechte Hand allenthalben iſt; der 
dritte, daß Gottes Wort nicht falſch iſt oder Lügen; der 
vierte, daß Gott mancherley Weiſe hat und weiß, etwa 
an einem Ort zu ſeyn, und nicht allein die einige, da die 
Schwärmer von gaukeln, welche die Philoſophi localem 
nennen.” Der dritte Grund iſt Fein eigener ſelbſtändiger, 
fondern nur ber gu beweifende oder doch zu erlänternde 
Sat felbft; ed handelt fih ja gerade darum, den von 
Luther mit den Worten verbundenen Sinn ald wahr nach⸗ 
zuweiſen. Allein auch die beiden erften.Gründe, die Bers 
einigung der göttlichen und menfthlichen Natur, and daun 
Die dee der rediten Hand Gottes, werden von Luther 
felbft dem vierten Grunde, daß es mehrere Arten des 
Seyns an einem Orte gebe, nicht völlig gleichgeftellt, fons 
dern legterer eigentlich. .nur aus jenen beiden gefolgert; 
‚die beiden erftern find alfo nur Hülfsgründe für den viers 
ten, worin fich eigentlich Die ganze Argumentation vers 
einigt. | | 

Der Raturenvereinigung bedient er ſich anfangs fehr 
unbeftimmt zur Widerlegung der Trangfubftantiation: wie ' 
beide Naturen zu der einen Perfon gufammentreten und 
nidyt etwa die Subftanz ber menfchlichen ſchwindet mit zus 
rüdbleibenden Accidenzen, um unter dieſen 'die göttliche _ 
Natur aufzunehmen, ebenfo ift auch jene Berwandlung im 
Satrament überflüffig a): Sicut ergo in Christo res se 
habet: ita et in sacramento; non enim ad corporalem in- 
habitationem divinitatis necesse est, transsubstantiari hama- 
nam naturam,, ut divinitas sub accidentibus humanae naturae 
teneater. Sed integra utraque natura vere dieitur: hie homo 
est deus, hic deus est homo. &benfo benubt er Diefen 
Grund in feinem eregetifchen und grammatifchen Kampfe 
gegen Garlftadt: wie in Chrifto Gott für Menfch, und 
umgekehrt Menfch für Gott .gefeßt werden könne, fo auch 


a) De captivitate Babylonica. Fol. 68. 


Occam unb Luther. 107 


gegenſeitig Brot und Fleifch, fo daß beibes ‚wahrhaftig 
vorhanden ift a): „Sleichwie wir auch von dem Menſchen 
Ehrifto fagen, der ift Gott, und wiederum, Gott ift 
Menfh, und doc Niemand fo toll ift, der nicht wifle, 
daß Gottheit und Menfchheit zwo unterfehiebliche Raturen 
find, welcher keine in die andere verwandelt wird, fons 
dern die einfältige Rede will foviel fagen und deuten, daß 
da in Ehrifto fey Gottheit und Menfchheit ineinander wie 
ein Ding, daß mo der Menfch ift, dafelbft and Gott if 
leiblich: Siehe, fo hätte fie die einfältige Artıder Sprachen 
leichtlich können entrichten, Die durch ihre fpißige und ers 
ſuchte Schärfe der Vernunft ihnen felbft und andern ſoviel 
unnüßer Mühe und Arbeit machen.” 

Bald darauf wird die Ubiqnität der Menfchheit [chen 
behauptet, aber doch noch nicht als Folge der Naturens 
vereinigung und des Austanfches der Eigenfchaften, fon» 
dern aus andern davon unabhängigen Gränden, weiler : 
auch ald Menfch zum Herren über Alles gefegt ift b): „Item 
wir gläuben, daß Jeſus Chriſtus nad; Der Menfchheit fey 
gefeßet über alle Greaturen (Epheſ. 1, 20 f.), und alle 
Dinge erfülle, wie Paulus fagt zun Ephef. am 4.7f. If 
nicht allein nach der Gottheit, fondern auch nach ber 
Menfchheit ein Herr aller Ding, hat Alles in der Hand, 
und ift überall gegenwärtig.” Endlich erfi in der auf 
Löfimg der ganzen Frage berechneten und am küuftlichiten 
Durchgeführten Schrift, Belenntniß vom Nachtmahl, legt 
fich die ganze Argumentation dar: and ber Bereinigung 
der zwei Naturen zu einer Perfon wird mit aller der Uns 
- beftimmtheit, die hierüber feit Neftor und Eutyches wals 
tet, der Schluß entlehnt, daß vermöge der Allgegenwart 
‚der göttlichen Natur auch der Leib Ehrifti überall, und fo 
auch im Brote ded Sacramentd gegenwärtig ſey c): „Hie 





a) Wider die himmliſchen Propheten. Tom. XX. ©, 840. $. 142. 
b) Sermon von dem Sacrament. &. 985. $. 22. 
c) Belenntniß vom Abendmahl Ehriſti. &. 1190. $. 148 fi. 


108 KRettberg 
mußt du ſtehen und ſagen: Chriſtus nach der Gottheit, 
wo er iſt, da iſt er eine natürliche göttliche Perſon, und 
iſt auch natürlich und göttlich daſelbſt: — iſt er nun na⸗ 
türlich und perſönlich, wo er iſt: ſo muß er daſelbſt auch 
Menſch ſeyn; denn es ſind nicht zwo zertrennte Perſonen, 
ſondern eine einige Perſon. Wo ſie iſt, da iſt ſie die einige, 
unzertrennte Perſon. Und wo du kannſt ſagen: hie iſt 
Gott, da mußt du auch ſagen: ſo iſt Chriſtus der Menſch 
auch da. Und wo du einen Ort zeigen würdeſt, da Gott 
wäre, und nicht der Menſch, ſo wäre die Perſon ſchon 
zertrennet, weil ich alsdenn mit der Wahrheit könnte ſa⸗ 
gen: hie iſt Gott, der nicht Menſch iſt, und noch nie 
Menſch ward. Mir aber des Gottes nicht! denn hieraus 
wollt folgen, daß Raum und Stätte die zwo Naturen von 
einander ſonderten, ſo doch der Tod und alle Teufel ſie 
nicht könnten trennen, noch von einander reißen. Und es 
ſoll mir ein ſchlechter Chriſtus bleiben, der nicht mehr 
denn an einem einzelnen Orte zugleich eine göttliche und 
menfchliche Perfon wäre, und an allen andern Orten 
müßte er alleine ein bloß abgefonderter Gott und göfts 
liche Perfon fegn ohne Menfchheit.” Daſſelbe Argument 
nimmt er Dicht vor feinem Tode wieder auf, als er mit ' 
Nichtachtung der wittemberger Concordia die Fehde wieder 
begann a): „O lieber Menfch, wer nicht will gläuben den 
Artikel im Abendmahl, wie will er doch immer mehr gläuts 
ben den Artifel von der Menfchheit und Gottheit Chrifti in 
einer Perfon? Und fichtet dich an, daß du den Leib Chriſti 
mündlich empfäheſt, wenn du das Brot vom Altar iffeltz 
item das Blut Chriſti empfäheſt mündlich, wenn bu den 
Mein trinkeſt im Abendmahl: fo muß dich gewißlich viel 
mehr anfechten Cfonderlich wenn das Stündlein könmt), 
wie die unendliche und unbegreifliche Gottheit, fo allents 


a) Kurzes Bekenntniß vom heiligen Sacrament wiber bie Schwaͤr⸗ 
mer.- An. 1544, Tom. XX. ©, 2214. $, 47. 5 


Decam und kuther. 109 


halben weſentlich iſt und ſeyn muß, leiblich beſchloſſen und 
begriffen werde in der Venſchen und in der Jungfrauen 
Leibe.“ 

Bei dieſer ganzen Argumentation von der Vereinigung 
der Naturen bleibt Luther indeß immer ſeines Vorſatzes 
eingedenk: er will nicht behaupten, daß Chriſtus in der 
Hoſtie ſo gegenwärtig iſt, wie ihm als Gott die Allgegen⸗ 
wart beigelegt werden muß, ſondern nur erhärten, daß 
ihm vermöge der göttlichen Natur, außer der gewöhnlichen 
materiellen Gegenwart, auch noch andere Weiſen bes 
Seyns an einem Orte möglich ſeyn müflen; der Erörterung 
über die verfchiedenen Arten des Gegenwärtigfeyne ift er 
damit noch nicht überhoben. =) „Weil unfer Glaube hält, 
daß Ehriftus Gott und Menfch ift, und die zwo Naturen 
eine Perfon ift, ald daß diefelbige Perfon nicht mag zer, 
trennet werden, fo kann er freylich nach der leiblichen bes 
greiflichen Weife fich erzeigen, an welchem Orte er will; 
wie er nad) der Auferftehung thät und am jüngften Tage 
thun wird. Aber über dieſe Weife fann er auch der ans 
dern unbegreiflichen Weife brauchen, wie wir aus dem 
Evangelio bewiefen haben, am Grabe und verfchloffener 
Thür. Nun aber ein folcher Menfch ift, der übernatürs 
lich mit Gott eine Perfon ift, und außer dieſem Menfchen 
Fein Gott ift: fo muß folgen, daß er auch nach der dritten 
übernatürlichen Weife fey und ſeyn möge allenthalben, wo 
Gott ift, und alles durch und durch voll Ehriftus fey auch 
nad) der Menfchheit.” Wenn deßhalb nachher in der Ius 
therifchen Kirche Die Lehre von der Mittheilung der Eigens 
fchaften beider Naturen fo fubtil nady allen Seiten hin and» 
gebildet ift, fo liegt der Grund dazu in diefer Anwendung 
Des Begriffs auf die Abendmahlslehre. 

Zur Ausführung feined zweiten Grundes, ded Bes 
griffs der rechten Hand Gottes, war Luther durch die 


a) Belenntniß vom Abendmahl Chrifli. An. 1528, &, 1190, $. 142, 


— 


10°. Bettberg: 


ſchweizeriſchen Gegner. gedrängt. Um bie Gegenwart 
Chrifti im Saeramente leugnen zu fönnen, hatten fie fich 
darauf berufen, daß ja Ehrifto. ein Verweilen zur rechten 
Hand Gottes beigelegt werde. Schon die Berfafler dee 
fhwäbifchen Syngramma nehmen den Streitpuntt anf, 
deuten ihn aber nicht wie Luther auf die Ubiquität, fons 
dern erweifen nur, daß Chriftus ungeachtet jenes Sitzens 
zur rechten Hand Gottes, durch das Wort ebenfo fein 
Fleifch und Blut müſſe fenden können, wie er durch dafs 
ſelbe feinen Geift fendet. Sie fliehen damit von ber eigents 
lichen Anficht Luther's noch ziemlich fern; denn ein Seyn 
im Worte fann doch immer noch fo dynamiſch gefaßt wer« 
den, Daß etwa nur Die geiflige Gegenwart, wie fie ſpäter Cal⸗ 
ein ausbildet, darunter verſtanden zu werben braudıt a). 
Iam si Spiritus. Sanctus vehieulo verbi nobis advehitur, 
‚manens interim Christo in dextera Patris sedenti coniun- 
'ctissimus, cur eodem verbi vehiculo non posset ad nos 
advehi corpus et sanguis Christi, quando, ut ita loquamur, 
Spiritus Sanctus Christo multo coniunctior sit corpore et 
sanguine eius? Dagegen bie deutfche Ueberfeßung Des 
Syngramma hat dieß fchon viel deutlicher auf Luther’ 
fpätere Theorie hinübergearbeitet. b) „Nun kommt das 
plumpifche Argument, da ihr fprecht: Ghriftus fcy gen 
Himmel gefahren, fiße zur rechten Hand Gottes, feines 
Vaters, kanns nicht gewarten, daß er in das Brot fchliefe 
(ſchlüpfe), ift ferne herab. — Iſt der heilige Geift in allen 
Heiligen allyier anf Erden und im Himmel, fümmt er anf 
die Welt und hernieder, bleibt dennoch in einem Weſen 
mit Chrifto vereint, bey ihm zur rechten Hanb Gottes des 
Baters, durch das Wort: wie unmöglicy und feltfanz . 
dünft ed euch denn, fo wir ſprechen, daß der vergötterte 
Leib Chrifti auch dermaßen durch, das Wort in das Brot 


a) Syngramma Suevicum 1.1. p. 194. 
b) Tom. XX. &. 717. '$. 62, 


Occam und Luther. | 111 


fommt, ımd bleibt dieweil and zur rechten Hand Gottes 
in feinem Reiche figen.” Erſt Luther ſelbſt geht dann offen 
mit feinem Schluffe hervor: die rechte Hand Gottes kann 
doch unmöglich einen beflimmten Ort bedeuten, fondern 
nur das allgegenwärtige Walten Gottes ſelbſt; das Bers 
weilen Chrifti zur rechten Hand deutet alfo ein ebenfo alle 
gegenwärtiges Seyn an a): „Nehmen wir vor den Artikel, 
daß Chriftus fiße zur rechten Hand Gottes, welchen bie 
Schmwärmer halten, er leide nicht, daß Chriſti Leib im 
Abendmahl aud) ſeyn könnte. Wenn wir ſie nun hier 
fragen, was ſie Gottes rechte Hand heißen, da Chriſtus 
ſitzt: achte ich, ſie werden uns daher ſchwärmen, wie 
man den Kindern pflegt fürzubilden einen Gaukelhimmel, 
darinnen ein gülden Stuhl ſtehe, und Chriſtus neben dem 
Vater ſitze in einer Thorkappen und güldenen Krone, 
gleichwie es die Maler malen. — Aus welchen kindiſchen 
Gedanken muß denn weiter folgen, daß ſie auch Gott 
ſelber an einem Ort im Himmel auf denſelbigen güldenen 
Stuhl binden, weil außer Chriſto kein Gott iſt, und wo 
Chriſtus iſt, da iſt die Gottheit ganz und gar. — Die 
Schrift aber lehret uns, daß Gottes rechte Hand nicht 
ſey ein ſonderlich Ort, da ein Leib ſolle oder möge ſeyn, 
als auf einem güldenen Stuhl, ſondern ſey die allmächtige 
Gewalt Gottes, welche zugleich nirgend ſeyn kann, und 
doch an allen Orten ſeyn muß.” „Chriſti Leib iſt zur 
Rechten Gottes, das iſt bekannt. Die Rechte Gottes iſt 
aber an allen Enden: wie ihr müſſet bekennen aus unſerer 
vorigen Unterweiſung. So iſt ſie gewißlich auch im Brot 
und Wein über Tiſche. Wo nun die rechte Hand Gottes 
iſt, da muß Chriſti Leib und Blut ſeyn; denn die rechte 
Haud Gottes iſt nicht zu theilen in viel Stücke, ſondern 
ein einziges einfältiges Weſen.“ b) Dennoch will er mit 


a) Schrift, daß dieſe Worte u. ſ. w. S. 1000. $. Mff. 
b) Ibidem. (. 116. u 





112 | Kettberg 


dieſer ganzen Argumentation nichts Anderes erkämpfen, 
als das Geftändniß, daß es mehrere Arten ber Gegenwart 
gebe, als die materiell natürliche, und daß außer dem 
förperlich localen Seyn auch noch andere Formen auf 
Chriſti Xeib angewendet ‚werden können. a) „Daß ich bes 
weifete, wie Chriftus Leib allenthalben fey, weil Gottes 
rechte Hand allenthalben ift, das that ich darum (wie ich 
. gar öffentlich daſelbſt bedinget), daß ich doch eine einige 
Weiſe anzeigete, damit Gott vermöchte, daß Chriftus zus 
gleich im Himmel, und fein Leib im Abendmahl fey, und 
vorbehielt feiner göttlihen Weisheit und Macht wohl mehe 
Meife, dadurd er daffelbige vermöchte, weil wir feiner 
Gewalt Ende und Maß nicht willen. Wenn fie nun hätten 
wollen oder können antworten, follten fie uns haben bes 
ftändiglich beweifet, wie Gott feine Weife wüßte, nod 
vermöchte, daß Chriftus im Himmel, und zugleich ſein Leib 
im Abendmahlwäre” ,_ 

Beide Gründe alfo, von der Naturenvereinigung und 
von dem Sitzen zur rechten Hand Gottes hergenommen, 
erledigen die Sache nicht, fondern Luther muß fich noch 
‘der Unterfuchung felbft unterziehen über die verfchiedenen 
Arten ded Gegenwärtigfeynd an einem Orte. Erwerfucht 
diefe Aufgabe auf Doppelte Art zu löfen: einmal indem 
er den Gegnern den Beweis zufchiebt, daß es außer dem 
materiellen Seyn des Körpers an einem Orte Teine andere 
Weiſe der Gegenwart gebe. Er febt fich dadurch offenbar 
in nicht geringen Bortbeil, wenn er nad} der göttlichen 
Allmacht die Möglichkeit behauptet umd den Gegnern ben 
Beweis der Unmöglichkeit zuſchiebt. Freilich iſt dieſe 
Wendung doch nur im Zuſammenhange feiner Argumens 
tation guläffig, die zuerft die Worte des Textes fefiftellt, 
fich auf den Beweis der Möglichkeit nicht weiter einläßt, 
fondern nur den Gegenbeweis fordert. Deßhalb hält dies 


a) Bekenntniß vom Abendmahl, S. 1177. $. 116. 





. Decam und Luther. 113 


fer Beweis auch gegen bie ganz anders geftellten Schweizer 
nicht aus, die umgefehrt erſt die Möglichkeit der Sache 


“ erwiefen haben wollen, ehe fie die derfelben entfprechenbe 


t 


Auffaffung der Worte einräumen. Auch hier entfcheidet die 
von beiden eingenommene Stellung. Luther will durch die 
Morte zu den Sachen, die Schweizer durch die Sachen zu 
den Worten. Seine Forderung, ihm bie Unmöglichkeit einer 
anderweitigen Eriftenz nachzumeifen, fpricht er aus a): 


- „Hat Gott nun die Weife funden, baß fein eigen götts 


lid, Wefen fann ganz und gar in allen Creaturen und in 
einer jeglidyen befondern ſeyn, tiefer, innerlicher,, gegen 
wärtiger, denn die Greatur ihr felbft ift, und doch wies 
derum und in feiner mag und kann umfangen feyn, daß 
er wohl alle Dinge umfähet sub barinnen ift, aber Feines 
ihn umfähet und in ihm ift: follte Derfelbe nicht auch etwa 
eine Weife wiſſen, wie Tein Leib an vielen Orten zugleich 


- ganz und gar wäre, und doch derfelbigen Feind wäre, ba 


er iſt?“ b)- „Weil fie aber fich fo fern herand begeben, daß 
fie rühmen, ihre Meinung ſey die gewiſſe Wahrheit: fo 
find fie wahrhaftig and) fchuldig zu beweifen, Daß Chriftug 
Leib im Himmel und Abendmahl wicht möge ſeyn, und dag 
folche Artifel wider einander find.” <) „Das ift Noth, daß 
fie gewiß machen und beweifen, wie die zwei Stücke wider 
einander find: Chriftus Leib ſitzt zur Nechten Gottes und 
ift zugleich im Abendmahl. Wie es zugehe, daß Gottes 
Gewalt ſchwach worden fey , daß fie folches nicht vermöge, 
und daß folches alles mit gutem Grunde und heller Schrift 
überwunden werde.“ 

Außer dieſer negativen Beweisführung, wonach er 
den Gegnern den Beweis der Unmoͤglichkeit aufbürdet, 
muß ſich Luther nun aber doch auf die weitere Andeinander« 


) Schrift, daß die Worte u. f. w. S. 1006. $. 107. 


b) Ibid. &, 1017. $. 129, 
c) Ibid. S. 1108. $, 810. - — Ze 


Theol. Stud, Jahrg. 1889. 8 


14 | Rettherg 


ſetzung einlafien, daß es wirklich außer der materiell koͤr⸗ 
. perlichen Gegenwart noch andere Weifen der Eriftenz an 

einem Drte gebe, alfo die Behanblung des obigen vier⸗ 
ten Grundes. Im voraus nur die Bemerkung, daß ſich 
hierauf befondere der nachherige Vergleich. mit Occam 
- Rügen wird; wenn Luther felbft hier erklärt, daß die So⸗ 
phiften hiebei Nedyt haben, fo darf man darin wohl das 
eigene Geftänbniß erbliden, daß er ſich hier auf fcholaftis 
fhem Gebiete bewege; unb wenn man ferner beachtet, 
daß feine Ausführung nur in fo weit einigermaßen treffend 
ift, ald er mit Decam übereinftimmt, daß aber feine Ars 
: gumentation ſchwankend und ungenügend wird, wenh er 
noch Eigenes beifügt, ſo wird es fich zur Evidenz erheben 
laſſen, wie jehr er in der mennaaprelehte von jenem ab» 
hängig war.. 

Die verfchiedenen Arten des Gegenwärtigſeyns an eis 
nem Orte befchreibt er alfo 9): „Die Sophiſten reden hies 
von recht, da fie fagen: es find breierlet Weife an einem 
Orte zu feyn, loesliter oder circumseriptive, definitive, re- 
pletive, welches id; um leichters Berflandes willen will 
alfo verdeutſchen: erſtlich if ein Ding an einem Orte 
circumscriptive oder locäliter, begreiflich, das ift, wenn 
bie Stätte und ber Körper drinnen fid) miteinander eben 
reimen, treffen und meflen, gleichwie im Faß der Wein 
oder das Waller ik, da der Wein nicht mehr Raumes 
nimmt, noch dad Faß mehr Raumes gibt, denn fo viel des 
Meines if. Auf die Weiſe meffen fich Stätt und Körper 
mit einander gleih ab von Stüd zu Stüd. — Zum andern 
ift ein Ding an einem Orte definitive, unbegreiflich, wenn 
das Ding oder Körper nicht greiflich au einem Ort if 
und ſich nicht abmifjet nach dem Raum des Orts, da ed ik, 
fondern kann etwa viel Raums, etwa wenig Raums ein- 
nehmen. Alſo fagen fie, find die Engel und Geifter an 





a) Bekenntniß vom Abendmahl, ©. 1186; $, 184 ff. 





Dccam und Luther. 145 


Stätten ober Orten, denn alfo kann ein Engel ober Teu⸗ 
fel in einem ganzen Haufe oder Stadt feyn; wiedernm 


kann er in einer Kammer, Laden oder Büchfen, ja in einer 


\ 


Nußſchalen feyn. Der Ort it wohl leiblich und begreiflich 
und hat feine Maſſe, nach der Länge, Breite und Dicke; 
aber das fo drinnen ift, hat nicht gleiche Länge, Breite 
oder Dice mit der Stätte, darin es iſt; ja es hat gar 
feine Länge oder Breite. Das heiße ich unbegreiflic an 
einem Orte feyn; denn wir könnens nicht begreifen noch 
abmefien, wie wir die Körper abmeflen, und es ift. Doch 
gleichwohl an dem Orte. — Zum dritten ift ein Ding an 
Orten repletive, übernatürlich, daß ift, wenn etwas zu⸗ 
gleich ganz und gar an allen Orten ift, und alle Orte 
füllet, und doch von feinem Ort abgemeffen und begriffen 
wird nad) dem Raume des Orts, da es ift: dieſe Weiſe 
wird allein Gott zugeeignet, wie er ſagt im Propheten 
Seremia 23, 23, — Diefe Weife ift über‘ ale Maß, über 
unſer Vernunft unbegreiflich, ind muß allein mit dem 
Glauben im Worte behalten werben.” Das Weſentliche 
davon wiederholter noch 1534, als er für Melauchthon 
die Inſtruction zum caſſel'ſchen Geſpräche entwarf a); 
„forma nostrae. sententiae: dagegen halten wir, daß 
Chriſti Leib nicht müffe allein localiter, räumlich, nach 
Breite und Länge an einem Orte feyn; fondern halten, 
daß der Leib Chriſti auch auf andere Weife zugleich an 
mehr Drten feyn möge. — Und ift das nicht wahr, daß 
ber Leib Ehrifti nicht fünne anderswo feyn, Denn localiter, 
räumlich, nach Breite und Länge.” Und als er 1544 die 
frühere Härte gegen die Gegner zugleich mit Dex Ubiquitäts⸗ 
hypothefe wieder aufnahm, drängt fich fofort dieſe Ideen⸗ 
reihe wieber auf b): „Affo lehren aber die Papiften, ja 


a) Andere Schrift, die Sacramentirer betreffend, bei Gelegenheit | 

der cafleliihen Zuſammenkunft abgefaßt. Tom. XVII. &, 491. 

b) Kurzes Belenntniß vom Abendmahl. Tom. XX. &, 2209. 5.85 
er 











116 Rettberg 


nicht die Papiſten, ſondern die heilige chriſtliche Kirche, 
und wir mit ihnen (denn der Papſt hat das Sacrament 
nicht eingeſetzt), daß Chriſti Leib nicht ſey localiter (wie 
Stroh im Sad), ſondern defnitive, daß iſt, er iſt gewiß⸗ 
lich da, nicht wie Stroh im Sack, aber doch leiblich und 
wahrhaftig da, wie ich in meinem Büchlein ſtark beweiſet 
habe. ” 

‚ Beifpiele und Belege für diefe anderweitige Art des 
Gegenwärtigſeyns an einem Orte find bei ihm von doppels 
ter Art, paſſende und minder pafiende Gene müflen als 
folche bezeichnet werden, weil fie wirklich dem Probleme, 
Zufammenfeyn zweier Subftanzen an einem ONE, einigers 
maßen entfprechen,, nämlich: 

1) Das Zufammenfegn der Seele mit dem Leibe, und 
zwar mit dem ganzen Leibe nach allen feinen Sliedern 2): 
„Nimm vor dich Die Seele, welche eine einige Sreaturift, und 
tft Doch im ganzen Leibe zugleich und auch in der Fleinften 
Sehe, daß wenn id} das Heinfte Glied am Leibe mit einer 
Nadel fteche, fo treffe ich die ganze Seele, daß der ganze 
Menfch zappelt. Kann nun eine Seele zugleich in allen 
Gliedern ſeyn, welches ich nicht weiß, wie es zugehet: 
follte denn Chriftus das nicht vermögen, daß er zugleich 
an allen Orten im Sacrament wäre 9” 

2) Der Aufenthalt der Engel oder. Dämonen an einem 
Orte b): „Die andere Weife wird auch allen Heiligen im 
Himmel gemein werden, daß fie mit ihrem Leibe Durch alle 
Greatur fahren, gleicdywie fie fchon jeßt den Engeln und 
Zeufeln gemein ift; denn der Engel kam zu Petro in den 
Kerker (Apg. 12, N: fo kommen die Poltergeifter täglich 
in verfchloffene Kammern und Kemnoten.” 

3) Das Hindurchfahren des Leibes Chriſti durch die 
verfchloffene Thür und den Stein bes Grabes, alfo das 


a) Germon. S. 920. $. 10. 
b) Belenntniß vom Abendmahl, S. 1195. $. 152, Vol, S. 114. 
Rote a. 


Dccam und Luther, 117 


theilweife Zuſammenſeyn mit Holz und Stein an bemfelben 
Orte. a) „IE doch eben fo groß Wunder, daß viel Leiber 
an einem Orte find, als daß ein Leib an vielen Orten fey. - 
Wer eins kann, der kann das andere auch. Nun haben 
wir Hare Schrift, daß Chriſtus zu feinen Jüngern kam 
durch verfchloffene Thür, und ang feinem Grabe auch 
durch befiegelten Stein. Er fey nun Durchs Fenfter oder 
Thür hinein fommen, fo hat fein Leib, und das, dadurch 
fein Leid gefchwunden ift, zugleich an einem Drte müſſen 
ſeyn, beides unverfehrt und unverwandelt. Es fpricht 
auch der Evangelifte nicht, daß fie ihn haben fehen hinein 
kommen, fondern er trat oder fund in ihrem Mittel. Das 
laut, als fey er dba zuvor geweft verborgen, und habe fich 
offenbart.” — b) „Siehe, das iſt noch alles irdifch und 
leiblich Ding, wenn Ehriftus Leib durch den Stein und 
Thür gehet; denn fein Leib ift ein Körper, den man greis 
fen fann, fowohl als der Stein und die Thür; noch kanns 
Feine Bernunft begreifen, wie fein Leib und der Stein an 
einem Orte find, da er hindurch fähret, und wird hie der 
Stein nicht größer noch weiter ausgedehnt, und Chriftus 
Leib wird nicht Heiner nod; enger eingezogen. Der Glaube 
muß bie die Vernunft blenden und fie aus der leiblichen, 
begreiflichen Weife heben in die andere unbegreifliche Weife, 
Die fie nicht verftehet und Doch nicht leugnen fanın. Muß 
stun die andere Weife durch den Glauben verftanden wer: 
ben und die Vernunft mit ihrer erften, begreiflichen Weiſe 
untergehen: wieviel mehr muß der Glaube allein hie ftes 
ben und die Bernunft untergehen in der himmlifchen, über, 
natürlichen Weife, da Ehriftus Leib in der Gottheit eine 
Derfon mit Gott it?” 

Berfchieden hievon ift eine Sammlung anderer Beifpiele, 


a) Schrift, daß die Worte u. ſ. w. S. 1012. $.121. | 
b) Belenntniß vom Abendmahl, S. 1198. $. 149. Vergl. de capti- 
vitate Babylon. Fol. 67. 


118 Rettberg 


die der zu erhärtenden Sache bei Weitem nicht fo gut ent» 
fprechen, da fie eine fo gaͤnzlich dynamiſche, ideelle oder 
uneigentliche Gegenwart bezeichnen, daß die Beranfchaus 
lihung des ganzen Problems dadurch nicht erreicht wird a): 
„So fohlen auch die Schwärmer bedenken, daß Gott mehr 
Weiſe hat, ein Ding im andern zu haben, denn diefe grobe, 
die fie vorgeben, 'wie Wein im Fafle, Brot im Kaften, Geld 
in der Tafchen iſt. Levi war in den Lenden Abraham's, 
fpricht der Apoſtel an die Ebräer (K. T. V. 5), wie die 
Schrift alle Kinder in der Väter Lenden und aud den Ten- 
den befchreibt. Item allerlei Karbe und Licht, und was 
man fiehet, Heißt in den Augen feyn, daß auch Himmel 
und Erden mögen im Auge feyn. Stem es ift Alles im 
Spiegel, was davor ftehet. Item, Bäume und alle Früchte 
find in den Kernen und Samen. Sstem alle Dinge find in 
unferm Herzen; auch Gott felber, welches auch wohl fo 
groß Wunder ift, als fein anders. Wer will nun zweifeln, 
Gott hab noch viel mehr Weife, die er und nicht fagt, da 
eins im andern, ober da zwei an einem Orte find.” Wenn 
die Beifpiele der erften Art wenigftens ein wirklich oͤrtliches 
Seyn und Vorhandenfeyn zu veranfchaulichen fuchen, fo 
ift dieß Doch bei dem Seyn ded Baumes im Kerne, der 
Frucht im Samen gewiß nicht in gleichem Maße der Fall. 
Beſſer find auch die übrigen Vergleichungen nicht: die 
Stimme eined Nednerd, die in den Ohren aller Hörenden 
zugleich ift, der in Stücken zerbrochene Spiegel, wo andy 
der kleinſte Scherben das ganze Bild wiedergibt, wie früs 
her der unverleßte Spiegel by; dieſe Beifpiele find mehr 


" a) Schrift, daß diefe Worte u. ſ. w. S. 1012, 6. 120, | 

b) Belenntnig vom Abendmahl, &.1199, $.162. Weiter, auf baß 
fie fehen,.wie gar es Feine Kunft fey, ohne Schrift etwas den⸗ 
ten, nehme id) vor mich die Gleichniß Laurentit Vallenſis. Es 
flehet da ein Prediger umb predigt, feine Stimme ift eine einige 
Stimme, die aus feinem Munde gehet, und in feinem Munbe 
gemacht wird und iſt. Roch koͤmmt biefelbige einige Stimme, 


Occam und Buther. 119 


darauf berechnet, das Problem von dem Berhandenfeyn 
des ganzen Ehriſtus in jeder Hoſtie gu Iöfen, find aber 
‚ebenfalls bei Luther nicht originell, fondern aus älterer 
Tatholifcher Erudition entlehnt. 

Bei allen dieſen Beifpielen ift indeß feine Argumenta- 
tion die oben angegebene: er beweifet nicht, baß der Leib 
Chriſti gerade auf biefe Art ins Brote gegenwärtig fey, 
fondern nur, daß ed mandjerlei und andere Arten bes 
Gegenwärtigſeyns an einem Orte gebe, als die materiell 
förperliche, und eine von denfelben auch bei dieſem Problem 
angenommen werden dürfe, a) „Run fiehe, vermag fols 
ches alles die fihwache, leibliche Stimme, daß fie zum 
erften den ganzen Chriftum in bie Ohren bringet, darnach 
ins Herz aller, bie zuhören und gläuben: follte das fo 
wunbderlich feyn, daß er fich ind Brot und Wein bringet? 
Iſt nicht das Herz viel fubtiler., denn das Brot? Daß du 
nun folches ausmeſſen willft, wie es zugehe, wirft bu 
wohl laffen. Ebenfo wenig, als du fagen Fannft, wie es 
zugehe, daß Ehriftus in fo viel Taufend Herzen ift und fo 
drinnen wohnet, wie er gefterben ift und auferftanden, 
und doch fein Menfc weiß, wie er fich brein bringet, fo 


fo an einem Orte ift, nämlich in feinem Bunde, in vier, fünf 

* taufend oder zehn taufend Ohren in einem Augenblid, und iſt 
doch Feine andere Stimme in denfelbigen viel taufend Ohren, 
denn die in bes Prebigers Munde ift, und ift zugleich eine ei: 
nige Stimme im Munde des Prebigers und allen Ohren bes 
Volks, als wäre fein Mund und ihre Ohren ohne alles Mittel 
ein Ort, da die. Stimme wäre. $. 165. Noch eins, alfo bat 
man auch unter dem Papftthume gelehret, wenn ein Spiegel in 
taufend Stüde gebrochen würde, dennoch bliebe in einem jeg- 
lihen Stüd daffelbige ganze Bild, das zuvor im ganzen Spie⸗ 
gel allein erfchien. — Wie wenn Chriftus auch alfo wäre im 
‚Brot und Wein, und allenthalben, denn Tann Gott ſolches mit 
dem Antlitz und Spiegel thun, daß fein Antlig augenblidiich in 
taufend Stüden oder Spiegeln ift; warum follte er nicht auch 
Shriftus einigen Leib alfo machen? u. few, _ 

a) Sermon von dem Sacrament, S. 933, $. 19, 


120 Rettberg 


iſt es hie auch unbegreiflich ‚ wie es — Wie er 
nun ins Herz kömmt und nicht ein Loch hineinbricht, ſon⸗ 
dern allein durchs Wort und Hören gefaſſet: ſo kömmt 
er auch ind Brot, daß er kein Loch darf hinein machen.” 
Wie oben das Argument von ber Raturenvereinigung 
und dem Sißen zur rechten Hand Gotted nur gebraucht 
wurde, um bie Möglichkeit einer andern, als der materiell 
förperlichen Gegenwart zu erhärten, fo haben auch diefe 
Beweiſe nur diefelbe Beltimmung. . 

Der ganze Beweis, den Luther für feinen Satz übers 
nommen hatte, beftand allein in Ermeifung der Mög⸗ 
lichfeit einer andern, ald der gewöhnlichen ‚materiellen 
Eriftenz. Sein Hauptargument bleibt deßhalb ein Berufen 
auf die göttliche Allmacht, der eine foldhe, in den Worten 
ber Schrift verheißene Wirkung möglich ſeyn müſſe. 9 
„Wohlan bie ift meine Schrift: Was Gott fagt, das kaun 
er thun (Rom. 4, 21). Und ift kein Wort vor Gott uns 
möglich (Luk. 1, 37). Weil er denn hie fagt: das ift.mein 
Leib, fo kann ers wahrlich thun und thuts. Nun müßt. 
ihr wiederum beweifen, daß er es nicht thue, noch thun 
könne: — Sie mögen bie fagen vielleicht: wir könnens 
wohl beweifen, wir fliegen einmal heimlich in den Himmel 
eben zur Mitternacht, da Gott am Tiefſten fchliefz wir 
hatten eine Laterne And einen Dietrich mit uns, brachen 
thm in das allerheimlichfte Kämmerlein und fchloffen alle 
Kalten und Laden auf, da feine Gewalt innen lag. Da 
nahmen wir eine Goldwage, daß wird ja gewiß träfen 
und genau abwägeten:. wir funben aber feine Gewalt, die 
bas vermöcht, daß ein Leib zugleich im Himmel und im 
Abendmahl feyn könnt.“ — Zu bemfelben Grunde beruft 
er fih auf den erſten Artikel des Glaubens b): „Und ift 
gegründet in dem erften Artikel, ba wir fagen: Sc gläube 


HD Schrift, daß die Worte u. ſ. w. S. 990, $. 74, 








Decam und Luther. 121 


an Gott ben Vater, allmächtigen Schöpfer Himmels und 
ber Erden. Eben derſelbige Artikel beſchirmet und erhält 
unfern Verſtand im Abendmahl. Nicht, daß ich hiemit 
Gotted Gewalt alfo wollte, wie bie Schwärmer thun, 
mit Ellen meffen und umfpannen, als hätte er nicht auch 
wohl mehr Weife, denn ich jetzt beweifet habe, einen Leib 
an viel Orten zu halten. Denn ich glänbe feinen Worten, 
Daß er mehr thun kann, denn alle Engel mögen begreifen.” 


—— a) „Wenn der Teufel gleich meine angezeigete Weife 


könnte umftoßen (als er nicht thun kann), fo hätte er Damit 
noch nichts andgerichtet, weil Damit noch nichts bewieſen 
wäre, daß :bie zwei wider einander ſeyn: Chriſtus im 
Himmel und fein Leib. im Brot. Er muß beweifen, daß 
nicht allein diefelbige Weife unmöglich fey, ſondern auch 
baß Gott felbft feine andere Weife mehr wiffe noch vers 
möge. Weiler das nicht thut, fo fprechen wir: Gott ift 
allmächtig, vermag mehr, denn wir ſehen; darum glaube 
ich feinen Worten, wie fie lauten.’ 

Achnlich dieſem Berufen auf die Allmacht Gottes ift ber 
Beweis, wenn er fi für die Wirklichkeit dieſes Wunders 
auf das Vorhandenfenn anderer beruft, alfo ein Wunder 
durch das andere erhärtet. Voranſteht Überall die Geburt 
Ehrifti aus dem jungfräulihen Schoße b): „Wie kömmt 
die Mutter dazu? Sie weiß von feinem Manne, und ift 
ihr ganzer Leib befchloffen; noch empfähet fie ein recht na» 
türlich Kind mit Fleifch und Blut im Leibe. Iſt da nicht 
mehr Wunder, denn im Brot nnd Wein?” — c) „Sft er 
nun an einem Ort, als in der Jungfrauen Leib, wefentlich 
mit felbft eigener Perfon und zugleih beim Vater, wie 
unfer Glaube zwingt: fo ift er auch gewißlich an allen 


a) Belenntnig vom ne G. 1179, $.120, Bergl, &, 1189, 
$. 140. 

b) Sermon von bem Sacrament. ©, 9, 6. 20. 

c) Ibidem © 1008, §. 112. 


ı 


1 


m Rettberg 


Enden alfo. Denn feine Urfache ſeyn mag, warım er 
jollte in der Iungfrauen Leib und nicht an allen Enben 
alfo fegn mögen.” — Die Zweifel an der Thatfache im 
Sacramente ftellt er ald Anmaßung der Bernunft überhaupt 
dar: a) „Es ift feine Vernunft fo.geringe, die nicht dazu 
geneigt fey und lieber gläubte, daß fchlecht Brot und Wein 
da wäre, denn daß Chriſtus Kleifch und Blut da verbor⸗ 
gen fey. — Aber wenn man alfo mit unferm Glauben will 
amgehen, daß wir unfern Dünkel zuvor in die Schrift 
tragen und darnach diefelbige nach unferm Sinne lenken, 
und allein darauf fehen, was dem Pöbel und gemeinen 
Düntel eben ift: fo wird Fein Artikel des Glaubens bleiben. 
Denn es ift feinen, der nicht über Vernunft fep von Gott 
‚geftellet in der Schrift.” — 

Nur ein Einwurf gegen feine von ber Ubiquität ent⸗ 
lehnte Argumentation war noch zu erledigen. Iſt Chriſti 
Leib deßhalb im Sacramente gegenwärtig, weil er allgegen⸗ 
wärtig iſt, ſo wird er ja auch in jedem Brote und jedem 
Weine vorhanden ſeyn, und mit der gewöhnlichen Speiſe 
ebenſo gut, als mit der ſacramentaliſchen genoſſen werden. 
Dagegen verwahrt er ſich abermals durch Zurückziehen 
auf den Text: wenn er auch überall gegenwärtig ift, fo 
will er Doch nicht überall erfaßt und genoſſen werden. b) 
„Wiewohl er überall ift, in allen Greaturen, und ich möchte 
ihn im Stein, im Keuer, im Waffer, ober auch im Strid 
finden, wie er denn gewißlich da ift: will er doch nicht, 
daß ich ihn da fuche, ohne das Wort, und mid, ind Feuer 
ober Waffer werfe, oder an Strid hänge. Ueberall ift 
er; er will gber nicht, daß du überall nach ihm tappeſt, 
fondern wo das Wort ift, da tappe nach, fo ergreifeft du 
ihn recht, fonft verfucheft du Gott und richteft Abgötterei 


a) Wider die bimmlifchen Propheten. Th. II. S. 280. $. 26. 
b) Sermon von dem Sacrament. &,928, $.28, 





Occam und 2uther. 123 


an.” — a) Der Aufenthalt des Leibed Ehriſti im Brote 
wird alfo mit einer ausdrücklichen Willendänperung der 
Seele anf den Leib in Verbindung gebracht. Das Zus 
fammenfeyn mit dem Brote ift zwar fein zufälliges, fon- 
dern vielmehr ein von Ehrifto ausdrädlich gewolltes, aber 
Doch von der Eriftenz bed Brotes felbft unabhängig. 


III. 


Nach dieſer Darſtellung der beiden einzelnen Abend⸗ 
mahlstheorien wird ihre Vergleichung leicht durchgeführt 
werben können. Zuvörderfi finden ſich in dem Syſteme 
Oecam's einige Partien, die bei Luther auf keine Weiſe 
erwartet werden dürfen; es find dieß die fpecififch katho⸗ 
lifchen. Züge vom Meßopfer, von der wirklichen Berwands 
lung, wie von dem Verſchwinden der. Subftanz des Bros 
tes bei Zurücbleiben der Accidenzen deffelben: dieß find 
ja fünmtlich Seiten an ber altfatholifchen Sacramentslehre, 
von denen Luther fich früh genug loögefagt hatte. Allein 
die Berwandtfchaft mit Decam wird dadurch nur fehr wer 
nig geſchwächt; denn nach dem Obigen wird fidz leicht ger 
nug zeigen laffen, daß auch bei Occam diefen fämmtlichen 
Sägen nicht eben große Bedeutung beizulegen ift; wenig⸗ 
ftend hängen fie mit dem eigentlichen Fragepunft, den er 
zu erhärten fucht und. worin fein Syſtem wirklich Iebt, 
nur wenig zufammen. Einer Opferbedeutung des Sacras 
ments erwähnt er in dem tractatus nur ein einziges mal, 
und zwar durchaus. beiläufig, wo er fich feinem Grund⸗ 
fage gemäß mit dem Kirchenglauben völlig einverftanden 
erflärt. Zwar bedient er ſich auch des Ausdrucks trans- 
substantiare, erflärt e8 für feine entichiedene Anficht, daß 
aur durch eine wirkliche Verwandlung jenes Nefultat im 
Sacramente zu Stande fomme, Allein mehr, als ein völlig 


a) Daflelbe nur derber und Eräftiger: Schrift, daß die Worte n. ſ. w. 
&. 1014. $. 124 ff. 


124 Kettberg 

muͤßiger Satz konute hierin oben doch nicht gefunden wer⸗ 
den. Hätte Dccam auf den Act der Verwandlung wirk 
lich etwas gegeben, um die Behauptungen über das Gar 
erament zu erflären, fo mußte feine ganze Theorie Dadurch 
zum wenigiten überflüffig erfcheinen. Sobald nämlich die 
Gegenwart des Leibes Chrifti im Brote durch das Einzels 
wunder ber Trangfubftantiation zu Stande kommt, wozu 
Dann noch der ganze Beweis, wozu noch bie Zufammens 
ftelung jener Eriftenz ‚mit folcdhen Arten bes Seyns, die. 
doch in der That nicht für Wunder im gewöhnlichen Sinne 
gelten dürfen, wie Eriftenz der Seele im Körper und defs 
fen einzelnen Theilen? Liegt nicht Occam's ganze Leiſtung 
darin, daß er das Problem vom Seyn des Leibes Ehrifti 
in der Hoftie löfete, ohne es auf ein folched Einzelmunder 
zurüczuführen? Er bringt ja den in Frage ftehenden Kal 
von ber facramentalifchen Gegenwart auf ein allgemeines 
genus von Eriftenz zurück, fpürt dafür mehrfache Analos 
gien auf und erklärt nun die Frage für gelöfet, weil ihre 
Schwierigfeit nicht mehr vereinzelt und in ihrer Art einzig 
ift, fondern fi in ein ganzes Gefüge von Anjchauungen 
einreihen läßt. Seine Bemeidführung ift infofern eine in⸗ 
birecte Widerlegung- der Transfubftantiationslehre felbft, 
da er. ed übernimmt, die Wirkung, die firchlich von diefer 
abgeleitet wird, auf andere Weiſe, phyfifch oder metas 
phyſiſch, zu erklären; er macht ja gerade die Annahme eines 
Einzelwunbers überflüffig, durchfchneidet den Nerv, wos 
durch die Firchliche Anficht ihre Bedeutung erhielt. Daffelbe 
gilt auch von dem Verfchwinden der Subftanz bes Brotes 
bei zurücdbleibenden Accidenzen beffelben. So ausdrücklich 
er die Firdhliche Lehre dabei für die feinige erflärte, an 
wiederholten Stellen feiner Unterſuchung diefen Saß ein= 
flocht, fo bleibt derfelbe doch immer eine müßige Behaups 
tung. Occam's ganzes Beweisverfahren ift ja darauf 
gerichtet, die fo viel fchwierigere Aufgabe zu löſen, wie 
bei völlig unverfehrtem Brote dennoch die Coexiſtenz bes 


Decam und Luther. 125 


Leibes Chrifti damit erwiefen werben könne; ein voraus⸗ 
gefeßtes Verfihwinden der Brotsfubftang wäre eine miras 
eulöfe Annahme innerhalb eines fonft natürlichen Kreiſes, 
wäre eine Erleichterung der Demonftration, auf die Occam 
aber durchaus verzichtet. Beachtet man nur feine ges 
fanmte Stellung zum Kirchenglauben, wie fie namentlich 
durch feinen NRominalifmus bedingt 'ift, fo darf die Bes 
bauptung nicht befremden, daß ein noch fo förmlich und 
umftändlich von ihm ausgeſprochenes credo für fein wife 
fenfchaftliches Syſtem ſchwerlich etwas Andered, ald ein 
echt nominaliftifcher flatus vocis ift; feine theologifche An» 
- ficht bildete ſich durchaus unabhängig davon durch; jeme 
fireng Patholifchen Säge fiehen damit nicht weiter in Zus 
fammenhang und einer Zufammenftellung mit kuther's 
Theorie nicht ferner entgegen. 

Gemeinſchaftlich iſt beiden Theorien das Gegenwärtig⸗ 
ſeyn des Leibes Ehrifti im Brote, ohne das jedesmalige 
Einzelwunder der Verwandlung. Erflärt ſich dieß bei 
Occam auch vielleicht daher, daß er feinen Ruhm darin 
. fegte, ein Problem, das die Kirche nur durch Herbeizies 
bung eines jebedmaligen ansdrüdlichen Wunders löſen 
tonnte, ohne diefe Annahme zu rechtfertigen, alfo bie 
‚ganze Procedur Dabei zu vereinfachen; mochte es vielleicht 
feiner fchofaftifchen Eitelfeit fchmeicheln, was allgemein 
für menſchliche Auffaffung zu hoch galt, nun doch mit 
einer Löfung zu verfehen oder doch wenigftens in Analogie 
mit andern und zwar zugeflandenen Erfcheinungen ges 
bracht zu haben, das Zurädgehen von der Transfubftans 
tintion iſt dennoch bei ihm ebenfo entfchieden, als bei Luther, 
der daran nur das Schriftwidrige und einfeitig Katholifche 
"befehdete. In der Grundanſchauung find alfo beide Mäns 
ner gleich; die Verwandtſchaft fleht fell, aber noch nicht 
die Abhängigkeit des fpätern Luther von dem frühern Occam. 
Konnte Luther nicht auch unabhängig von ihm zu Demfels 
ben Refultate gelangen? Wenn er, durch hermenentifche 


126 Rettberg 


Gewiſſenhaftigkeit gebrungen, bie reale Gegenwart feſt⸗ 
hielt, aber aus demſelben Grunde das Einzelwunder der 
katholiſchen Verwandlung aufgab, blieb ihm da wohl 
etwas Anderes übrig, als das Univerſalwunder? konnte 
er alſo nicht auch recht wohl durch feinen eigenthümlichen 
Bildnugsgang zu einer Harmonie mit Decam gelangen, 
ohne diefelbe gerade von ihm entlehnt zu haben? Zur 
Befeitigung diefer Annahme braucht kaum der Umſtand 
geltend gemacht zu werden, daß Luther fich ausdrücklich 
mit Occam's Schriften befchäftigt, eine Borliebe für ihn 
. gefaßt hatte, alfo mit defien Reſultaten nicht unbelannt 
ſeyn konnte; der viel ſchärfere Beweis liegt in den Einzel 
heiten jener Harmonie felbft: fie find bie in die individuell⸗ 
fien Züge einander fo eutfprechend, daß die Aehnlichkeit - 
ohne Abftammung fchwerlich wird behauptet werben 
können. | 
Dahin ‚gehört vor Allem die Löfung ded Probleme 
durch aufgefundene Bellimmungen über ben Begriff des 
Seyns und Gegenwärtigfeynd an einem Orte. Hier konnte 
ja aus Luther's eigenem Geſtändniſſe nachgewiefen werben a), 
daß er fih auf fholaftifchem Boden bewegte, denn daß 
unter den Sophiften, denen er bier Recht gibt, nur. fchos 
laftifche Autoritäten verfianden werben können, muß jedem 
Lefer Iutherifcher Schriften Ear feyn. Wenn er nun dar⸗ 
auf eine Erörterung vom esse circumscriptive und definitive 
folgen läßt, die bis ind Kleinſte der occam’fchen Theorie 
entfpricht, fo wird es fchwerlich eines Beweiſes länger 
bedürfen, wer unter ben Sophiften gemeint. if. Nur die 
dritte von Luther noch aufgeführte Weife, das esse reple- 
tive, fommt bei Occam noch nicht vor, wird aber auch 
bei Erledigung der Frage felbft dann nicht weiter benußt. 
In den fpäteru Schriften zumal finden ſich über das Ger 





a) Vergl. ©. 114. Note a. 


Occam und Luther. 427 


genwärtigfeyn wur Angaben, die fireng aus Occam nach» 
weisbar find a). 

- Noch fchärfer ald an diefer allgemeinen Theorie bes 
Gegenwärtigſeyns zeigt fich Die Verwanbtfchaft und Ab» 
hängigkeit au dem weitern Berlaufe des Beweiſes. Beide 
Männer laffen ſich nicht baranf ein, zu zeigen, von wels 
cher Beichaffenheit nun die Gegenwart im Brote wirklich 
fey, fondern fie begnügen fih, Analogien dafür anfzus 
fiellen, an einigen Beifpielen zu zeigen, baß ihr Begriff 
gar nichts Unerhörtes, fondern im natärlichen Berlaufe 
der Dinge wohl begründet fey. Und hiebei ift fchou oben 
Daranf aufmerkſam gemadıt, daß Luther’d Angaben nur 
infofern einigermaßen paflend find, ald fie mit Occam 
genau ftimmen, daß fie aber fofort aufhören, dem vorges 
festen Zwede zu entfprechen, wenn er verfucht, noch von 
Eigenem etwas beizufügen. Das Zufammenfeyn der Seele 
wit dem Körper, der fcholaftifch ausgebildete Begriff des 
Seynd des Engeld an einem Orte, ferner die Eoeriftenz 
des Leibes Chriftt mit der verfchloffenen Thüre oder dem 
Steine ded Grabed macht doch wirklich das eigentlich 
Gemeinte anfchanfich, daß zwei Subftanzen an demfelben 
Orte gegenwärtig feyn können, ohne daß von ber Nealis 
tät berfelben etwas eingebüßt werde, wohin andy die alte 
Borftelung von der Gebnrt Ehrifti ex utero clauso’ zu 
rechnen it. Mag auch biefen, fümmtlich aus Decam ent⸗ 
lehuten Beifpielen immer noch der Borwurf anfleben, daß 
fie die Aufgabe felbft nicht löſen, da die erften höchſtens 
Das Zufammenfeyn eines Geiftigen mit einem Körperlichen 
enthalten, die übrigen aber Doc noch manche andere 
Schwierigkeit drädt, fo veranfchaulichen fie doch wenig⸗ 
ftend das eigentlich Gewollte und bürfen zur Klarmahung 
Ded esse circumscriptive für paflend erachtet werden. 
Wie wenig ift dieß aber bei den Beifpielen der Fall, die 


a) Vergl. S. 115. Rote aund b. 


ı br Kettberg 
Luther noch über Occam's Führung hinaus beifügt! Das . 
Seyn der Frucht im Kerne ift Doch gewiß ein fo uneigents 
liches, daß es fchwerlich in demfelden Maße jenen Begriff 
far macht. Das Seyn der Stimme in den Ohren aller 
Zuhörer, dad Wiedererfcheinen ded Bildes in den einzelnen 
Stüden des zerbrochenen Spiegeld, wie es Luther ans 
andern Beweidführungen der Fatholifchen Vorzeit hieher 
übertragen hat, ift für Erweifen der fubftanziellen Gegens 
wart völlig unpaffend, da das Gechörtwerden der Stimme 
nur unter den Begriff ber Urſache und Wirkung füllt, das ' 
Seyn des Spiegelbildes aber gewiß noch viel uneigentlicher 
ale reale Eriftenz erfiheinen muß. Höchitend können jene 
Beifpiele dazu dienen, um das Erfcheinen der facramens 
talifchen Wirkung in jeder einzelnen Hoftie zu veranfchaus 
lichen, worauf Luther ebenfalls vielgeben müßte =»). Wenn 
aber die Abhängigkeit Luther’d von Occam nicht ſchon dar⸗ 
aus folgt, daß feine Beweife nur fo weit paffend erfcheinen, 
als derfelbe ihm Führer iſt: fo läßt fich dieß an dem Argus 
mente vom Grabfteine noch ganz befondere zeigen. Der 
Behauptung nämlich, daß bei der Auferfiehung der Leib 
Ehrifti mit der Subſtanz des Steins habe eine wirkliche 
Coexiſtenz erleiden müſſen, festen ſchon die damaligen 
Gegner den höchſt triftigen eregetifchen Grund entgegen,- 
daß ja Matth. 28, 2. der Stein ausdrücklich abgewälzt 
heißt, alfo ein Hindurchfahren durch denſelben unnöthig, 
ja fchriftwidrig fey. Schwerlich würde Luther, ber mit 
der Schrift fo vertraute, folchen Einwurf fich zugezogen 
haben, wenn er hier ganz auf eigenen Füßen geflanden 
hätte. Nur indem er diefed Argument fchon fertig unb 
namentlich mit Dem Beifpiele von der verfchloffenen Thüre 


a) Kurzes Bekenntniß. Tom. XX. S. 2201. $. 13. In ber Meffen- 
vom heiligen Wahrleichnahm (wie mans hieß) ftehet unter viel 
andern klaͤrlich: sumit unus, stümunt mille; 

quantam iste, tantum ille, 
nec sumptus absumitur. 











Occam umb Luther. 129 


zufammengeftellt vorgefunden hat, ift es erllärlich, wie 
er, in dem Kreife der Argumentation befangen, jenen Um⸗ 
ftand überfehen konnte. 

Auch außer dieſer vollig übereinfimnenden Behand⸗ 
lung des ganzen Problems laſſen ſich zur Erhärtung der 
Abhängigkeit Luther's von Occam noch manche Einzelhei⸗ 
ten benutzen; das Berufen auf die Allmacht Gottes als 
Hauptargument, die Erhärtung des einen Wunders durch 
andere, und zwar immer dieſelben, iſt fo völlig überein⸗ 
fiimmend, daß kaum eine Anficht widerlegt zu werben 
braucht, die etwa beide Männer unabhängig von einans 
der zu diefen Refultaten gelangen Laffen wollte. Sogar 
die Benutzung der Naturenvereinigung ift bei beiden nadhs _ 
gewiefen a); nur die Beziehung auf das Sitzen zur rechten 
Hand Gottes ift einfeitig bei Luther vorhanden, weil er 
dazu erft durch die Einwürfe der Schweizer gebrängt war. 

Auch die Ubiquität ift bei beiden in dad Syſtem vers 
flochten, und man weiß kaum, wo fie weiter ind Extrem 
getrieben ift, ob bei Decam in feinen paradoren Curioſitä⸗ 
ten, baß der durch die Luft fahrende Stein auch zugleich; 
den Leib Ehrifti durchkreuze, oder bei Luther in der Bes 
hauptuug, daß Ehrifti Leib auch im Waffer, Feuer, ja im 
. Stride vorhanden ſey. Nur iſt bei beiden die Ubiquität 
nicht eigentlich Die Baſis des Beweiſes; als folche muß ja 

immer ber Doppelte Begriff ded Gegenwärtigfeyng gelten; 
fondern ald Kolgerung und Mittelglied ergibt ſich aus dem 
völlig dynamiſchen Seyn des Leibed Ehrifti auch deſſen 
Allgegenwart. Zur Klarmachung bes eigentlichen Argus 
mente bleiben die Beifpiele von bem esse definitive ber 
' Seele im Leibe, bed Engels an einem De immer bie 
aſchlagendſten. 

Endlich erſtreckt ſich die Verwandtſchaft und Abhäns 

gigfeit fogar bis auf manche Einzelheiten und Nebenum⸗ 





a) Vergl. S. 97. not. a. u. S. 106, not. a. 
CTheol. Stud, Jahrg. 1889. _ 9 





* 


130 ſettberg. 


flände. Oceam nahm eine fortwaͤhrende Einwirkung ber 
Seele Chriſti auf den im Sacramenite gegenwärtigen Leib 
an, erflärte nur daraus die Möglichkeit feiner. Bewegung 
zugleich mit der von der Hand des Prieſters bewegten Hos 
ſtie. So weit freilich brauchte Ruther feine Theorie nicht 
durchzuführen, aber dieſelbe Anflcht liegt doch auch bei 
ihm zu Grunde, wenn er die zwar überall vorhandene Ges 
genwart deßhalb nur hier für eine erfaßbare ausgibt, weil 
Chriſtus feinem Worte gemäß nur hier erfaßt und gefuns 
den ſeyn will, alfo ein firenger Zufammenhang zwifchen 
ber Seele und dem im Brote gegenwärtigen Leibe: flattfins 
det. Luther ˖ſo wenig, als Dccam denkt alfo an den in dem 
Tod gegebenen Leib ober an das vergoffene Blut; der 
Gedanke an die Todesfeier im Sacramente tritt durchaus 
hinter die Hypotheſe zurück, wie ber in der Auferftehung _ 
‚wieder beiebte Leib ald gegenwärtig nachgewiefen werben 
konne. 
Die Verwandtſchaft Luther's mit Occam und die Ab⸗ 
hängigkeit von ihm kann hiernach vielleicht als eine dop⸗ 
pelte, eine weitere und engere, aufgefaßt werden. Die 
weitere. beſteht im ber Ableugnung ber Zransfubflantias 
"tion oder doch wenigftend in deren Nichtbenutzung, um als 
‚Refaltat die ſubſtantielle Gegenwart bes Leibes im Brote 
heraus zubringen. Diefe Anficht ift bei Occam nicht neu, 
ſondern läßt ſich ſogar aus älterer patriſtiſcher Erudition 
als ein neben der Verwandlungslehre herlaufender, ſelb⸗ 
ſtändiger dogmatiſcher Faden erweiſen; ſogar der Lom⸗ 
barde machte dieß ja als die dritte Hypotheſe geltend, und 
DSDecam referirt nach ihm a): tertia opinio tenet, quod re- 
manent ibi substantis panis et vini, et in eodem loco, sub 
eadem specie est corpus Christi; Occam felbft fagte fie 
war formell. davon los, um das Berfchwinden der Brots 


7 





a) Petri Lombardi sentent. Lib. IV, dist. XI. Occami tractat. de 
sacramento altaris cap. V. 


Dccam und Luther. | 331 


fubftang kirchlich rechtgläubtg behanpten zu Fönnen, wies 
wohl wir zeigen konnten, daß er dennoch nur auf biefe 
dritte Meinung in feiner ganzen Theorie zurückkommt. 
Auch in der. Zeit von Dccam bis auf Lurher geht diefe An⸗ 
ſicht wenigſtens ald Hypotheſe nicht unter: ein Beifpiel 
dafür iſt Das ſchon oben erwähnte des Peter d'Ailly =), 
der ein wirklich volled Derweilen des Brots und Weins 
für annehmlicher erklärt, als das Aufgeben der Brotfub- 
fang bei bloß zurücbleibenden Accidenzen. Eine zweite 
Spur der Art iſt bei dem Grafen Picus von Mirandola 
anzutreffen, der in feinen Thefen gleichfalls lieber die Cor 
eriftenz von Brot und Wein, ale die hergebrachte Trans⸗ 
fubftantiation vertreten willb): Thes. VI. si teneatur 
communis via de possibilitate suppositationis in respectu ad 
‘quamcungue creaturam, dico, quod sine convergione panis 
in corpus Christi, vel paneitatis annihilatione potest fieri, 
ut in altari sit corpus Christi secundum veritätem sacra- 
menti Euchsristiae; quod sit dictum loquendo de possibili, 
non de sic esse. Nur alfo als ein der Erhärtung fähiges 
Problem wird es hingeftellt, Daß Die Gegenwart auch ohne 
Verwandlung gedacht werben könne, das Gegentheil das 
won aber auf Geheif der Kirche angenommen, Auch Lu⸗ 
ther könnte dieſe feine Anficht aus der ältern kirchlichen 
Lehrart aufgenommen haben, und feine Berwandtfchaft 
mit Dccam Würde eine ziemlich weite feyn. Dagegen als 
enge Verwandtfchaft und wirkliche Abhängigfeit muß als 
les das betrachtet werden, was. zur weitern Durchfüh⸗ 
zung, Klarmahung und Erhärtung dieſer Theorie von 
Luther beigebracht wird; es läßt ſich zuverſichtlich bes 
haupten, daß Luther im. Streite mit den Sacramentirern 
ſchwerlich feine exegetifchen Reſultate gerade in der Art 
würde aufgefaßt und behauptet haben, wenn er nicht an 





a) Bergl. ©. 73. not. a. 
b) Oper. Basil. 1601. Tom. I. p. 42, 


132 Rettberg 


Oecam's Borgange die Möglichkeit gehabt hätte, bad Re⸗ 
fultat der Transfubftantiation durchzuführen, ohne doch 
den Weg dazu durch das jededmalige Einzelwunder eins 
zufchlagen. Mochte die Anficht felbft aus dem kirchlichen 
Alterthume ftammen, die beftimmte Form, in der fie us 
ther vorträgt, hat er erft von dem Doctor invincibilis euts 
lehnt: bei ber weitern Ausführung und Durchbildung feis 
ner Theorie ſteht er ganz unter deſſen Einfluffe. 


WW 


Aus dem Vergleiche Luther’ mit Occam und aus der 
Gewißheit, daß feine Abendmahlslehre ihrer Begründung 
nach in fcholaftifchen Subtilitäten wurzelt, mögen noch eis 
tige Folgerungen hier angedeutet werden. 

1. Luther befindet ſich bei der ganzen Frage nicht eben 
in der günftigften Situation: zur Benugung ber ſcholaſti⸗ 
[chen Weisheit ift er nur dadurch gefommen, daß feine Eres 
gefe ihn nicht weiter ftüßte, fondern vielmehr einer ander» 
weitigen Stüße bedurfte. Weil das Reſultat feiner Schrifts 
forfhung ald ungenügend erfchien, da es zu einer vollen 
Irrationalität führte, mußte er ficd auf ein Gebiet wagen, 
dem feine ganze übrige theologifche Stellung fremd war. 
Bei allen übrigen Sägen, beren chriftliche Geltung er her⸗ 
vorhob, bedurfte es nur der offenen Darlegung ber Schrift⸗ 
lehre, um dafür alle Gemüther zu entflammen; und gerade 
das war Luther's Sache, das Anregen der chriſtlichen Ue⸗ 
berzeugung, das Zurückgehen auf die Schrift. Dagegen 
hier mußte er die Sprache des Gemüths aufgeben und ſich 
zu Subtilitäten des Verſtandes verſtehen! Man ſieht es 
ihm an, wie ſelbſt unbefriedigt er ſich auf dieſem Boden 
bewegt; er muß den fo oft verwünſchten Scholaſtikern hier 
Recht geben, muß mit den Papiften harmoniren und kann 
hödhftens als Entfchuldigung beifügen, der Pape habe ja 
das Sacrament nicht erfunden. 

2. Hat kuther aber auf fcholaflifchem Boden gefun⸗ 


Occam und Luther. 133 


den, was er dort fuchte, Löſung des einmal aufgenomme⸗ 
nen Problems? Gibt man auch das Vorurtheil auf, das 
- mit dem bloßen Worte, Scholaftif, verbunden zu werben 
pflegt, fo erweifen fich Doch die bort aufgefundenen Grüns 
de ald äußerſt dürftig. Es fol dad Gegenwärtigfepn des 
Leibes Ehrifti im Brote des Sacraments erflärt werben, 
und zwar ohne das Einzelwunder einer jedegmaligen Vers 
wandlungaufzubieten. Allein etwas Anderes, als das bloße 
Sepen eines Univerfalmunderd an beffen Stelle durch das 
ftete Berufen auf die Allmacht Gottes ift weder bei Oceam, 
noch bei Luther zu finden. Zur Erhärtung der fubftanziels 
Ien Gegenwart, wozu der Eine wie ber Andere fich anheis 
fchig machte, haben fie Fein anderes Argument beigebracht, 
als Gott müffe auch dazu die Kraft befiben. Ihr Beweis, 
verfuch befieht darin, daß fie dad Wie? an jenem Erfolge 
zu rationalifiren wiffen, Das Irrationale an dem ganzen 
Borgange wird dadurch entfernt, daß ed an mehreren ans 
dern Fällen gleichfalls nachgewieſen wird; es fol dadurch 
in den Kreis anderer, fchon allgemein zugeflandener Ers 
fcheinungen aufgenommen werben, 

3. Allein ift die Anführung ähnlicher Beifpiele auch 
gelungen, und leiftet die Analogie auch, was fie verheißt? 
Es brauchen hier nur noch die von Occam felbft aufgefuns 
Denen Beifpiele erwogen zu werden, da rückſichtlich der ans 
derweitig von Luther beigefügten fchon das Ungenügende 
dargethan ift. Indeß gleich gegen die beiden erften, wos 
mit Occam argumentirt, ift fofort einzuwenden, daß fie 
höchſtens auf rein fpirituelle Dinge paflen, da fie nur von 
folchen, von ber Eriftenz der Seele im Körper, dem Seyn 
Des Engels an einem Orte, entlehnt find. Sol dag Er⸗ 
gebniß. auf eine körperliche Subftanz, wie Leib Chriſti, 
übertragen werden, fo erlifcht Damit Die Analogie und des 
ren Beweistraft; es bleibt wiederum nichts übrig, ale ein 
Berufen auf die Allmacht Gottes und ift damit Fein Schritt 
vorwärts gethan. Luther felbft merkt die Schwierigkeit 


134  Weitberg 

nicht einmal, und Occam, der fie merft, ift Hug genug, 
fie zu ignoriren. Anders wäre über die weiteren von Oc⸗ 
eam aufgeftellten Beweife zu urtheilen, den uterus cleusus, 
den Srabftein, die verfchloffene Thüre. Allein bei unbes 
fangener Anſicht der Sache erfcheint doch ber erite als eine 
nicht fchriftgemäße Fiction, die Luther wohl nur beibehiekt, 
weil fie feinem Zwede entfprady, ber zweite Grund wirb 
durch Die einfache Betrachtung von Matth. 28,2. widers 
legt, und alle Beweistraft würde fich auf ben dritten, auf 
die verfchioffene Chlire concentriren. Nur alfo fofern in 
Joh. 20, 19. fireng dad Wunder gefunden wird, worauf 
Decam und Luther fich berufen, dürfte eine Analogie für 
das ganze aufgeftellte Problem gewennen jeyn. Wie ges 
ring aber jegt die Haltbarkeit: einer Hypothefe erfcheinen 
muß, deren fümmtliche Gründe bie auf diefen einen, Doc 
gleichfalls noch einer weitern hermeneutifchen Sichtung füs 
Higen, zufammengefchmolzen find, ergibt ſich von felbit. 

4. Allee, was Luther außer dem Berufen auf das 
gebniß feiner Eregefe und auf die Allmacht Gottes ale 
genügenden Grund bafür beigebracht hat, Tann demnach 
ſchwerlich als Erhärtumg feiner Theorie gelten. Die Klar⸗ 
machung deffen, was er in den Einſetzungsworten ſindet, 
ift ihm fo wenig gelungen, daß, wenn er mit feinen Geg⸗ 
ern den Bertrag eingegangen wäre, mir dann feine Sas 
che als erwiefen betrachten zu dürfen, wenn er wirklich das 
Wie? dabei genügend erklärt hätte, feine Theorie noth⸗ 
wendig aufgegeben werden müßte; das fcholaftifche- Boll⸗ 
wert, womit er feine Behauptung umgeben hat, vermag 
dafür nicht länger genligenden Schub zu gewähren. Es 
bleibt demnach der Hermeneutif ein völlig freied Feld, zu 
ermitteln, ob der von Luther mit jenen Worten verbundes - 
ne Sinn wirklich als der allein richtige gelten darf, oder 
nicht. | 
5. Bielleicht wird 'eine Bereinigung hierüber und fo 
jugleich eine Uebereintanft ber nach ihm und ber nach fei« 





Octam und Luther. 435 


nen ſchweizeriſchen Gegnern ausgebildeten Partei andy 
noch Dadurch erleichtert werben, wenn man. beachtet, um 
was es fich hier eigenslich handelt und was Luther eis 
gentlich zu einem fo leidenfchaftlichen Kampfe beſtimmt hat, 
Schwerlich war es ber verfochtene Satz von ber ſubſtan⸗ 
gziellen Gegenwart ſelbſt; denn ber Hauptgewinn, den na⸗ 
mentlich die katholiſche Kirche aus der wirklichen Anweſen⸗ 
heit des Leibes Chriſti zieht, daß ſie denſelben im Meßopfer 
Gott darbringen kann, dieſer eigentliche Vortheil der gan⸗ 
zen Theorie war. ja beſtimmt genug von Luther gleich ans 
fange zufammt dem Meßopfer felbft. aufgegeben. Welchen 
Grund konnte er alfo noch haben, um einen altfatholifchen 
Satz zu behaupten, auf beffen Anwendung und Benutzung 
im Spftem er ſchon im Voraus verzichtet hatte? Der Grund 
faun allein in dem Bedürfniß einer Objectivität des Sa⸗ 
craments beruhen, die er durch die bloß fignificative oder 
ſpirituelle Gegenwart gefährdet glaubte, Die Taufe hats 
ten die Anabaptiften fchon zerriffenz jeßt wagte fich der 
mit ihnen verbündete Carlſtad aud) an dad Sacrament des 
Altars. Gegen die willfürliche Verflachung deffelben, ges 
gen die Verflüchtigung des inhaltsreichen Sacraments zu 
bloß fubjectiver Rührung und Andacht erblicte Luther 
nur darin eine Garantie, wenn dem Abendmahl ein Um⸗ 
ftand bewahrt blieb, der es über alle Subjectivität hinaus 
hob; und diefen fand er in der fubftanziellen Gegenwart 
Chriſti felbft. Wird Ehrifti Gegenwart im Brote und 
Weine mit derfelben Zuverficht feſtgehalten ohne Trands 
fubftantiation, wie im fatholifchen Syſteme mit derfelben, 
fo find auch diefelben Segnungen daraus gefichert, ohne 
den hierarchifchen und abergläubifchen Beifag, der aus 
dem Meßopfer weiter gefolgert wurde. Daher die ereges 
tiſche Hartnädigkeit, womit er ſich an die Worte dee Ten 
te8 anflammert. 

6. Ließe ſich nun aber vielleicht dogmatiſch zeigen, bag 
die Object bed Sacramentd jener Garantie gar nicht 


136 Rettberg, Occam und Luther. 


bedarf, fo würde derfelbe Zwed erreicht werben, für den 
Luther fo gewiflenhaft kämpfte, und zwar ohne das Eins 
feitige und Verletzende dabei, beffen Folge die betrübende 
Spaltung der evangelifchen Kirche ward. Wenn das 
Abenpmahl feine Beftimmung ald Guadenmittel' erreicht, 
daß ed dad chriftliche Gemüth an die erlöfende Perfüns 
lichkeit Chrifti Enüpft und fo an dem Einzelnen die Wie⸗ 
bergeburt fördert; fo erfcheint babei bie leibliche Gegen» 
wart Ehrifti nur als eine Form, unter welcher Luther jene 
Wirkung auffaffen und ben echt evangelifchen Gehalt de 
Sacraments ficher ftellen wollte. 

Die Nachweiſung ded rein Scholaftifhen an der Aus⸗ 
bildung feiner Theorie dürfte deßhalb als ein Beitrag dazu 
gelten, um in den bamaligen Zerwürfniffen über das Sa⸗ 
trament mehr einen Kampf um die Hülle, ald um ben Kern 
zu erbliden, und einer Erneuerung beffelben in der Gegen⸗ 
wart vorzubeugen. 


3. 


Beitrag zur Entſcheidung des Streites 
über die a 


Echtheit der Briefe ded Ignatius von Antiochien. 


‚(Mit Beziehung auf die Arbeiten des Hrn. Dr. Karl Meier, 
tbeol. Stud. 1836, H. 2. ©. 340 ff., und des Hrn. Eand. 
Nep, 1835, H. 4. ©, 881 ff.) 
Vom ze 
Director und Profeffor Arndt zu Ratzeburg. 


Es find manche Probleme der Kritil, bie von einem 
Geſchlechte zum andern fortgefhoben werden, ohne eine 
Allen genägende Löfung zu finden. Daß die Krage über 





- 


Arndt, Ab, d. Echtheit der Briefe des Ignatius. 137 


die Echtheit der Briefe des Ignatind zu biefen Problemen 
gehört, fcheint nicht fowohl in der Befchaffenheit der Streits 
frage an fich, als vielmehr in der Gefchichte der kritiſchen 
Behandlung berfelben zu liegen. Denn es ift unleugbar, 
daß die äußere Beglaubigung der fieben Briefe bes Igna⸗ 
tind durch die Zeugniffe der Kirchenväter vom Polyfars 
pus bis zu Drigened und Enfebiug a) und bis auf Johannes 
Damafcenus fo ſtark ift, wie man fie nur für irgend ein 
Document bed Alterthums verlangen fann. Nur die klar⸗ 
ften inneren Anzeigen der Unechtheit durften in der Wag⸗ 
fchale der Kritif gegen jene das Uebergewicht behalten. Als 
lein es waren beſonders zwei Umftände in der Gefchichte der 
Kritit, welche das unbefangene Urtheil über die Briefe des 
Ignatius hinderten. Erftend wurden gerade die unechten 
"and von ben echten eine verfälfchte Recenfion zuerft aufger 
funden und bekannt gemacht, Machwerke, deren Befchaffens 
heit felbft in der Kindheit der Kritik die gerechteften Zweis 
fel erregen mußte. Zweitens waren gerade bie heftigften 
Kämpfe der Epiffopalen und Prefbyterianer damals ents 
brannt, ale im 17. Sahrhundert die echten Briefe in der las 
teinifchen Ueberfegung von Uſſerius und im Original. 
von Boffins aufgefunden wurden. Da nun die Partei 
der Epiſkopalen hier ein neues Argument für das uralte 


f 





a) In der Stelle Eufeb. 5, 8, weldhe Hr. Netz (S. 895) anführt, 
find die Worte: tl Iyvarlov uvnunv nenoiman, uogrouglog 
audı — durch Verfehen ausgelaffen, woburd) das Gitat unver 
fändlicy geworben iſt. Webrigens hätte Hr. Neg bei der Bezie⸗ 
bung der Stelle aus dem allgemein als echt anerkannten Briefe 
des Polykarp auf die Briefe des Ignatius auch darauf aufs 
merkſam machen follen, daß die Worte Polylarp’s: 2E 9 yeyal« 
ogpeindijvai Bvynosode. zegıeyovo yag zlorıy xal Uno- 
gornv xal nücer olnodopnv iv elg to» avgi0v jur 
aunxovoas, recht eigentlih den Inhalt der Briefe des 
Ignatius, wie wir fie vor uns haben, bezeichnen. Auch fteht 
der ganze Inhalt bes Briefes Polykarp's felbft in genauer Ver⸗ 
wandtſchaft mit bem Inhalte der Briefe bes Ignatius. 


x 


138 Arndt. 


Beftehen der Epiffopalverfaffung in ber Stirche gefunden 
hatte und darauf die Rothwendigkeit der Beibehaltung ders 
felben gründete, fo war ed dagegen im Intereſſe der. Press 
byterianer, die Unechtheit der Briefe des Ignatius darzu⸗ 
thun, wobei beide Parteien von dem allerdings falfchen 
Grundfage ausgingen, daß die Kirchenverfaffung der apo⸗ 
ftolifchen Zeit ald Regel und Norm für alle Zeiten gelten 
müffe. Obgleich alfo damals das gründlichfte Werk zur 
Erledigung bed Streited von Pearfon (Vindiciae episto- 
larum Ignatii, 1672) erfchienen war, welches in der Haupt 
fache die Krage für immer hätte erledigen können, fo wurde 
dennoch die Kraft der Wahrheit fo wenig anerkannt, daß 
“noch während des ganzen 18. Jahrhunderts die Sache ftreis 
tig blieb. Erft im 19. Sahrhundert haben ſich die Stims 
men der gründlichften und befonnenften Forfcher bes chrifte 
lichen Altertbums dahin geneigt, wenigftend eine echte 
Örundlage in der von der mediceifhen Handfchrift 
bewahrten Form der.Briefe des Ignatius anzuerfennen. 
Nur wird noch von zwei Seiten her eine Anzahl interpo« 
lirter Stellen in Denfelben in Anfpruch genommen, nämlich 
erftend von denen, welchen die Trinitätslehre erft als ein 
Erzengniß fpäterer Sahrhunderte erfcheint, wie Hrn. 

Dr. Zobegott Range, und welde die dogmatiſchen 
Stellen diefer Art bei Ignatius derwerfen a), und zweitene 
von denen, welchen, die Borftellung von der hohen Bedeu⸗ 
tung der Bifchofswürde nicht dem Zeitalter des Ignatius 
angemeſſen fcheint und welche daher Stellen diefer Art als 
unecht bezeichnen. Indeß zeigt fich bei genauerer Prüfung, - 
Daß beiderlei Stellen durchaus überall fo genau in-ben Zus 
fammenbhang eingeflochten find, daß fie nicht ald Einfchiebs - 
fel ausgeworfen werden fönnen, und daß dem ganzen Ges 
dankenkreiſe des Ignatius weder die Stellen der erſtern, noch 


a) ©. Beiträge zur ölteften girchengeſchichte von —— Lange. 
2 Bändchen, Leipz. 1831. ©. 140 ff. 





L 


- hber die Echtheit ber Briefe bes Ignatius. 139 


die det andern Art fremd erfcheinen dürfen. Auch ift es 
von der Trinitätdlehre unter den ernfteren Theologen ans 
erkannt, daß fie ihrem Weſen nach fchon im apoftolifchen 
Zeitalter vorhanden war, und von der Ansbildung der bir 
fhöflihen Gewalt hat Hr. Prof. Kift cin Illgen's Zeitfchr, 
für die hiſtoriſche Theol. IL, 2, S. 47 ff.) in einer gründli⸗ 
den Abhandlung gezeigt, daß fie ſchon im Zeitalter des 
Ignatius als begründet gelten muß. 
Dice Kritik wäre demnach bis auf den Punkt gefonfinen, 
wo ſie ihre Rechnung abſchließen könnte, wenn nicht über 
die Richtigkeit des Textes, der gegen die noch geltende Ver⸗ 
muthung von eingeſchobenen Stellen durchgängig zu ſichern 
iſt, verſchiedene Anſichten vorlägen. Zuerſt iſt, um die Les⸗ 
art der mediceiſchen Handſchr., aus welcher Voſſins den 
Tert der ſechs Briefe (ad Smyrn., Polyc., Eph., Maga. 
Philadelph., Trail.) hernahm und 1646 herausgab, Tennen 
zu lernen, die zweite Vergleichung derfelben, welche Joh. 
Ledgard auf Pearſon's Veranlaffung anftellte, zu bes 
nußen (die Barianten find. in Pearfon’d und Thomas 
Smith's Noten mitgetheilt zu der Ausgabe von Thomas 
Smith. Orford 1709. 4., wieder abgedruckt in Frey, Epi- 
stolae 8. 8. Patrum Apostolicorum. T. II. Basil, 1712. 8.) 
und noch mehr die dritte, genane und forgfältige Verglei⸗ 
hung von Anton Maria Salvinug, welche in ber 
feltenen Andgabe von Karl Aldrich (Orford 1708. 8.) 
abgedrudt iſt. Für den fiebenten Brief, an die Rö⸗ 
mer, ift die Quelle eine colbert’fche Handfchrift, aus wel: 
her Theodor Ruinartzuerft diefen Brief ohne Inter⸗ 
polation herausgab (Acta martyrum sincera. Paris. 1689, 
4.), und welche feitdem nicht wieder verglichen iſt. 

Ohne diefe Quellen des handfchriftlichen Textes zu 
kennen, darf die Kritik nicht beginnen. Diefes haben Hr, 
Dr. 8.Meier und Hr. Ne zu wenig beachtet. Go ift 
Eph. 20. nach Cod. Med. zu fchreiben: ouvägyeode dv wid 
alorsı za) &v’Insoöo Agua, woburd; des Erfteren Beden⸗ 


’ 
r 


130 Arndt 

ken bei dieſer Stelle erledigt wird, und in dem Briefe an Po⸗ 
lykarp ſind folgende Stellen nach derſelben Handſchrift zu 
leſen, welche Hr. Netz ohne Beachtung der genaueren Text⸗ 
vergleichung nach Eotelier hat abdrucken laſſen; In der 
Ueberſchrift uärtov ohne däé, welches von Cotelier aus 
der anglicanifchen Verſion mit IJ aufgenommen, von Smith 
ohne diefe Zeichen behalten iſt. K. J1. &v zapırı, wo Got. 
iv [Ocoũ] zapızı aus den beiden lateinifchen Berfionen aufs 
nahm. 8. 2. uüllov ohne dd. K. 4. ovöR flatt oð Ö8. 
&nıdvulag ohne zn. K. 6. xoulanode. 8. 7. ’Enuön— — 
ög Övvnosıon. K. 8. ’Erel ædocug, ohne 0UV — ovv Hin 
ol — xal Tod ntunovrog auröv TloAvxcgaov. ’Eogo- 
da ucg dic navros. (And VBerfehen find diefe Worte 
bei Boffius ausgefallen, was man daraus fieht, daß er fie 
aud der anglicanifchen Verflon anführt und dann hinzus 
feßt: Nisi forte Florentini codicis lectio ‚sit melior, und 
Doch ift jenes eben die lectio Flor. cod. Diefe ausgefallene 
Stelle hat auch ſchon Th. Smith wieder recipirt.) 

Es ift zu verwundern, wie forglod um die richtige 
Lesart überhaupt die Kritiker des Ignatius verfahren find, 
Sn der Ausgabe ded Textes von 1821 zu Halle hat Thilo 
aus Ittig CBibl. Patrum) den Text nach Boffius abdruden 
laffen, und erſt in der Vorrede fügt er die Varianten der 
Ausgabe von Smith hinzu, von denen vieledas Richtige ent⸗ 
halten. Es bedarf einer Eritifch gefichteten Ausgabe, welche 
den fichern Text der mebic. Handfchr. zu Grunde legte. 
Aber freilich darf man bei der Autorität diefer einen Hands 
fchrift nicht ftehen bleiben. Wir haben außer ihr noch ans 
dere Fritifche Hülfsmittel. Hierzu gehört die von Th. Smith 
nach zwei Handfchr. verbeflert edirte anglicanifche 
Berfion, welche oft, wo die med. Handfchr. verdorben 
ift, die richtige Lesart herzuftellen dient, obwohl ihr Ents 
deder Uſſerius ihr zu viel Autorität zufchrieb. Kerner has 
ben die häufigen Eitate von Stellen des Ignatius bei Joh. 
Damafjcenus, in Antonius Meliffa und Antiv⸗ 


über bie Echtheit ber Briefe des Ignatius. 141 


chus Homilien und andern ältern Schriftfielleen ein 
Recht, verglichen zu werden, wenn diefen Ercerpten, die oft 
nadhläffig copiren a), auchnicht Die legte Entſcheidung zuges 
fchrieben werden darf (wohin Hr. Sand. Netz ſich neigt, wen 
er ganze Stellen anzweifelt, weil fie in einem Ercerpt bei 
Joh. Damafcenns ausgelaffen find). Endlich müffen auch bie, 
leider nur zu ungenau verglicdyenen Handfchr. der interpos 
Hirten Recenfion zur Ausmittelung der echten Redart hins 
zugezogen werden, was freilich auf die Frage führt, wels 
he Hr. Dr. Meier von Neuem aufgeregt hat, wiefern die 
interpolirte Recenfion Spuren des echten Tertes erhalten 
haben könne. Hierbei wird denn zuerſt fo zu verfahren 
feyn, daß die unter fich oft abweichenden Handſchr. der 
längeren Recenfion b) zur Vergleichung gezogen und dem 
Terte der med. Handfchr. gegenüber geftellt werden, ehe 
man iiber Interpolationen urtheilen darf. Auch müffen bie 
abweishenden und oft mit der med. Handfchr. Übereinftims 
menden Lesarten der vnlgären Iateinifchen Berfion (von 
welcher drei Handfchr., Cod. Baliolensis, Magdalenensis 
und Petavianus, befannt find) berüdfichtigt werden <). 


a) Wie forglos die Alten angeführte Etellen citicen, davon Tann 
man fid) durch Vergleihung der von Eufebfus (H. E.3, 36) aus 
Sanatius ad Rom. c. 5. ercerpirten Stelle überzeugen, wo man 
durchaus nicht in Verſuchung geräth, irgend eine ber abweichen 
den Lesarten des Eufebius gegen die ber colbertinifchen Handſchr. 
für richtiger zu erkennen. i 

b) Sie find: 1) die augsburgifche, welde in der erſten Aus 
gabe. der interpolirten Recenfion von Valentin Pacaͤus, Dillin- 
gen 1557. 3., zum Grunde liegt, 2) die nydpruckiſche, 
wonach die "Ausgabe in @eoröyas dıapögav cvyyganuaura 
Sür. 1559, gemadit ift, 3) die thuaniſche, 4) die bodle⸗ 
jantfche und 5) bie Florentinifche, aus welchen breien nur 
einzelne Lesarten, die meiften bei Whiston, primitive christia- 
nity, Vol. I., befannt gemacht find. 

e) Eine nad) biefen Grunbfägen und mit Benugung aller Hilfsmit- 
tel bearbeitete Fritifhe Ausgabe ift bereits von mir in ber 
Handſchr. vollendet und fie wird, wenn ſich ein Verleger findet, 





> 


u Nrmbe 


Daß ohne bie kritiſchen Vorarbeiten das Urtheil über 


die Echtheit der und vom Alterthume überlieferten Briefe 


des Ignatius keine fihere Grundlage hat, davon wirb 
man ſich am beßten aus der genaueren Beurtheilung der fris 
tifchen Verſuche des Hrn. Dr. Meier und Hrn. Band. Netz 
überzeugen. 

Hr. Netz iſt geneigt, eine von A und B (io bezeich- 
nen wir mit ihm die fürzere und: die längere Rec.) noch 
verfchiedene Dritte Recenfion anzunehmen Allerdings 
können in A, wenn wir Darunter den Tevt der nied. Hauds 
fchrift verfiehen, Gorruptionen fich finden, ftatt deren in 
B die richtige Lesart fich erhalten hat. Dieß verftcht man 
aber nidyt, wenn man von verfchiepenen Necenflonen eines 
Buchs in der Kritik redet. Zu viel fchließt Daraus Hr. 
Neb, wenn er A als eine Heberarbeitung bes urs 
fprünglichen Textes anfteht, wo nur von Fehlern bed Ab 
fchreiberg die Rede feyn darf. Aber Hr. Neb will auch im 
mehreren Stellen in A Snterpolationen nachmeis 


. fen Prüfen wir indeß diefe Stellen genauer, fo werden 


wir finden, daß fie alle an ihrem Orte fi vollommen 
rechtfertigen. In der Ueberfchrift des Briefed an Poly 
Tarp ift gegen die Worte udAAov inzoxonyulvov (dxrax 
ift Fehler der med. Handfchr.) Uno HeoÜ nargos xal xu- 
giov ’In6od Xorsroũ weiter fein Verdacht, ale daß ſich 
vielleicht Jemand burdy das Wort Zuloxoxeg zu einer 
Spielerei habe verleiten laſſen. Schon Pearfon und Co⸗ 
telier haben genug zur Rechtfertigung der Stelle beiges 
bracht. Erfterer fagt: pulchra epanorthosis et plane Apo- 
stolica. Gal.4, 9. yvovreg DEV, uällov Ö8 yuaodevreg 
920 Beod. Diefe Art der Epanorthofe ift bei Ignatius in 
mehreren Stellen, die nicht von einem Gloſſator herrüh⸗ 
ren fönnen. AdRom. 8. deAnoare, Iva Te ad Smyrn. 


nebft einer hiſtoriſch-⸗kritiſchen ie und einem erllärenben 
Gommentare erſcheinen. 


P2 











- 


über die Echtheit ber Briefe des Ignatius. 143 


5. Ov Tıveg dyvooüvrsg dgvoüvzeu, wällov db Jowißncaev 

Ur avrod. Aus andern Scheiftfiellern hat Eotelier Eis 
tate. Der Gedanke ift ganz ähnlich wie in der Stelle ad 
Magn. 3. 09x ara Öb (daı0xöan), alla To aargi Insos 
Xgıorod, so zayıov brıoxoaa. — 8.1. Daß die Worte 
zuvıov as vocovg Baorabs bis zu Ende des Kap. auszu⸗ 
fioßen feyen, wird barauf gegründet, daß bier auf einmal 
vom Tragen der Schwachen bie Nede fey, nachdem vors 
Her vom DBelchren Aller geredet worden. ber bieß if 
nicht einmal richtig. Denn vorher fteht ſchon zavrag Ba- 
oraLe und zdvrav avbgov iv ayanıy, wobei doch auf die 
Schwachen hauptfäcdjlidy gezielt wird. ‚Und überhaupt läßt 
fich hier feine fo ftreng logifche Gedantenverbindung erken⸗ 
nen. Uebrigens feßt der Anfang. des 2. Kap.: xalovg ua- 
Omas a. r. A, einen Gegenfat folder, die zu tragen find, 
voraus. Die Worte: OxovAelav xönog, nord xipdog, find 
Fein trivialer Gemeinplag, fondern erhalten ihre fräftige Bes 
deutung Durch die Beziehung auf die bei dem Tragen ber 
Schwachen größere Mühe. Pearfon’sRote: Vid,1 Cor. 3,8. 
Pulchra est haee yvaun, quam exhortationibus interserit. 
Eben dieſer weifet auch darauf hin, Daßxozos aus bem Bilde 
eines d9Ansng richtig gewählt ift: athletas proprie spectat. 
Wie nach Wegftreichung der Stelle ein beſſerer Zuſammen⸗ 
hang durch die Beziehung bed Wortes undnral auf rois xar 
avöon — Arie entfichen fol, iſt nicht einzufehen. Die vors 
her genannten zdvreg find doch wohl auch undnrel. Die 
Lesart der med. Handſchr.: xara Bondeav oß, zieht Hr. 
Neb der andern: xara öuondeev Hsov, in B vor. Aber 
erftens iſt nicht zu erklären, wie dieſe Lesart aus jener, 
wohl aber, wie jene leichtere aus diefer entftand, befons 
ders da u und B oft verwechfeltwerden, und zweitens ents 
fcheidet für die Lesart in B auch Die anglicanifche Berfion: 
secundum consuetudinem Dei, wogegen die Bulg. 
bat: secundum adiuterium Dei, nach der corrupten Lesart. 
Entfdyeidend für den Gebanten aber ift die Parallelftellead 
Magn. c. 6. æciures oVUv 6no7dsıav HsoV Außövzss. 


14 Arndt 

8.2. Ov rövrgaüpe .. . zegıoregd. Die erften Worte 
enthalten nicht, wie Hr. Net meint, eine bloße Erläuterung 
des Vorhergehenden. Gegen die Bösartigeren (Aomoss- 
eovg) fol Polykarp Strenge mit Milde zu verbinden wifs 
fen. Daran fchließt fich der bildlich ausgedrüdte Gedanke: 
„Nicht jede Wunde wird mit gleichem Pflafter geheilt. Die 
Entzündungen (Erbitterung der Gemüther) heile mit fanfe 
‘ten Umfchlägen.?” Wer wird diefen fo fchönen Gedanken 
wegwünſchen? Das Eitat aus Matthäus paßt fehr gut 
an diefer Stelle. Ignatius geht, wie öfterd, vom Beſon⸗ 
dern zum Allgemeineren über. So ift die Empfehlung der 
mit Einfalt verbundenen Klugheit das Allgemeinere in Bes 
zug auf die verfchiedene Behandlung der verfchiedenen Ger 
müther. Für die fchwierigfte Stelle dieſes Kap.: iva za 
Yamousvd 00V Els ng0SWrov xoAaxevys, fagt Hr. Neb bloß, 
daß xoAaxzvunv fchmeicheln, demulcere, dann aber auch 
verführen CP) bedeute, und daß deßwegen, weil dem 
Rec. in B dieß nicht paffend fchien, geändert ſey: Zxavog- 
dchons. Wie nimmt Hr. Neg denn die Stelle? Hr. Dr. 
Meier fihien die Lesart in B ale die Deutlichere vorzuziehen. 
Aber zoAaxsvew ift im fpätern Sprachgebrauch überhaupt 
blande tractare, wie Const. Apost.1, 2. ı7v ldlav yv- 
volxa noAaxsvsıv tvrlums. Pseudo-Clem. Homil, 12,23. 
Un Eitov noAaxsvdeioa iminzıcro evepyirig yevlodau: 
C£. ib, 12, 26. 32; 15, 6. Daher erfcheint die Resart in B: 
Exavogdaons, als offenbare Deutung, obwohl zu eng. Zoo 
gehört zu zeosozov. Th. Smith erklärt richtig: Quaeco- 
ram manifesta sunt inque tuos.oculos incurrunt, blandien- 
tium more tractes et placide feras. Quod non intellexit In- 
terpolator, quisubstituit är«vog®@ayg, corrigas. — Nach 
. diefem Worte muß ein Punkt im Terte gefeßt werden, wenn 
man die Lesart des Cod. Med. alres behalten will. Dieß ift 
der Lesart alrjg in B vorzuziehen. | 

8.3. Wie hier Hr. Neb eine Stelle aus B recipiren 
will, iſt nicht recht klar. Es fcheint, als folle nach vovg xu- 


über die Echtheit ber Briefe des Ignatius. 145 


goods narapchdavs felgen: ds dvraüde El vianaov. cds 
yag kauı To erddıov, Euei 6} ol Griyavoı. ToV Urkgxaıpov 
z000Ö0xm, vov aygovov x. T. A. Der Anfang diefer Stelle 
muß, wenn er Sinu haben fol, .fo interpungirt werben: 
os ivraößbe sl‘. wlansor. Durch den Gedanken des vıran 
und des Gegenfages von arrdinv und-oripavog, ber offen» 
bar durch das Wort uaugos veranlaßt ward, wird etwas 
ber Stelle Fremdes eingefchoben, wodurch der Zuſammen⸗ 
hang, weldyer den Gegenſatz von xaıpog und Uzegxaspog 
fordert, ungehörig zerriffen wird. — Inder Lesart bei R 
avanslvy eis av Bacılslar find die drei legten Worte ein 
Gloffen, welches Feine Rückſicht verdient, wie Hr. Netz 
meint, wegen größerer Schwierigkeit. Der Sinn beffelben 
ſcheint zu ſeyn: bie zur Erfcheinung des Reichs der Herrs 
lichkeit. Aber durch dieſe Lesart wird die ſchöne Parons⸗ 

maſie, welche das zweifache uraysvew bildet und die ganz 
in der Art bed. Ignatius iſt, zerſtört. (Vgl. ad Trall. 5. 
or hiv.Aelası, Ivo Seod un Asınausde.) 

8.5. hält Hr. N. die Stelle: xal dav.. ... Erdapras, 
für verdächtig, weil fie nicht in den Zufammenhang gehös 
re, wo von ber Ehe die Rede ſey. Aber es iſt Mar, daß 
Diefe Worte fich auf die vorhergehende Ermahnung an die 
im freiwilligen Eölibat Lebenden fich beziehen und ganz an 
ihrer Stelle find. — Die Worte: ag 6 zUgıog vv Buxinalav 


enthalten gewiß eine Anfpielung auf Eph.5, 25, find aber . 


darum nicht, wie Hr. N. meint, ein Gloffem, fondern ganz 
in der Mt, wie Ignatius oft auf biblifche Stellen anfpielt 
oder fie einflicht. Qgl.ad Eph.1. 2. 5. 14. 16. 18. u. a. m. 

8.6. Hier erneuert Hr. N. den fchon von Pearfon 
gründlich widerlegten Zweifel an der Echtheit des ganzen 
Kapitels, den zuerft Abraham Scultetus im Jahre 
1603 (Medulla patrum, p. 403) und darauf Bed et infeiner 
Ausgabe von 1623 angeregt hatte, und zwar aus Gründen, 
Die nur der Kindheit der Kritif verziehen werben konnten. 
Hr. R. ſtellt 6 Bedenklichkeiten auf: 1) weil im el bes 

Theol. Sud. Jahrg. 1889. 


PR 


Kap. der Bifchof fo hoch geftellt werde: Allein es heißt 
bloß: zo-moxöno ngoosyere, achtet den Bifhof, was noch 
nicht einmal fo viel gefagt iſt, ale in. vielen andern Stellen 
der Beiefe des Ignatius. Auch au dem Worte Uworas- 
0s0daı, welches oft in dieſer Beziehung vorfommt, braucht 
man. fich nicht zu ſtoßen. 2) Weil der Gebrauch fo vieler 
fremden, aus dem römifchen Kriegsweſen entlehnten Wör⸗ 
ter im Munde des chrißlichen Biſchofs auffallend ſey. (So 
ſchon Abr. Scultet a. a. D. ; vgl. Rivet Crit.sac.p. 191.) Aber 
follte denn auch im Munde des Apofteld Paulus (Eph. 6) 
savonkle, Beigak, Hvgsos, negıxspoiude, payaıge u. |. w. 
anffalfend ſeyn? Es ift einleuchtend, daß bei der fehr pafs 
fenden Metapher, die von der militta Romans entlehnt it 
und hänſtg bei den Kirchenvätern vorkommt, der Gebrauch 
der eigentlichen Ausdrücke, folbft der Sateintichen Formen 
Ssodproop, derocsta und üunenre, bie Anfchanlichfeit des 
Bildes vermehrt. Schon Boffius fagt: Omnia haec verba 
desumta sunt a militia, neque Graecis minus..nota, quam . 
Bemanis, imo verneculis notiors. An Actis Polye. habes 
xoupixtog et sexcenta alibi id genus, etiam in libris N. T. 
3 Well. Ignatius den Apeftel Bauland, wenn. er ihn be= 
nukte, genannt und nicht fo ohne Weitered feine Bilder 
berugt haben. mürbe, ald wären es feine eigenen. Was 
Eotelier (vom Hrn: N. felbft angeführt) dagegen fagt, if 
genägende Widerlegung: Die Vergleichung bed Ehriſten⸗ 
lebend: mit. einem Kampfe .und einem Kriegsdienſte if eine 
fo nahe liegende, daß auch ohne Eph. 6, bie Kirchenfchrifte 
fteller leicht Barauf kommen konnten, Und was fchabete 
es, wenn-bie Lejer an die paulinifche Stelle erinnert wurs 
ben?. .Diefe& war gewiß nicht wiber bie Abficht des Ignas: 
tind, wie man. aus der gleichen Art der Anfpielaung auf au⸗ 
bere Stellen fieht. 4) Weil der Uebergang zur Anrede ars 
bie Mitglieder der Gemeinde auffallend ſey. Diefer ſchon 
den ältern Kritifern auffallende Uebergang hätte nicht fo 
befremden können, wenn man bebadjt hätte, daß fchon 


” 


über die Echtheit dee Briefe des Ignatius. 147 | 


8.5. ust® yvoung voö Inıoednon (ftatt cov) der Ueber⸗ a 


gang vorbereitet war, fo wie durch die K. 5. herrfchende 
Rüdficht auf die einzelnen Stände der Gemeinde, nnd fer 
ner, daß Ignatius voraudfegen Fonnte, der Brief werde 
in ber Gemeinde vorgelefen werben. Gerade dadurch, daß 
Ignatius gleichfam vor dem Angefichte der ganzen Gemeinde 
fchreibt, kommt iym natürlich der Gedanfe, die Gemeinde 


- felbft anzureden, wie denn Überhaupt nach der Natur des 


damals noch waltenden chriftlichen Gemeingeiftes nicht ſo⸗ 
wohl das perfönliche Verhältniß des Schreibenden zu Dem 
Polykarp, als die Rückſicht auf das Ganze vorherrfchendb 
feyn mußte. Warum follte alfo Cotelier nicht Recht haben, 
zu fagen: Quia ad Smyrnae episcopum destinata epistola 
ex more antiquo legenda etiam erat Smyrnensibus, ille in- 
termiscet praeocepta ad populum. Und Thomas Smith: 
ut testatiorem patentioremgue suum erga illos.affectum fa- 
ceret, huic epistolae pro necessaria illa inter Pastorem et 
gregem in mutuis pietatis veritatisque offieiis consuetudine 
coram iis legendae hanc lectionem, quae ad illos proprie 
spectat, adiungi et inseri sapienter statuit, 5) Weil das 
erite Eitat dieſes Kap. fich erſt im Tten Jahrhunderte finde. 
Her dann würden viele Stellen diefer Briefe noch wege 
fallen müſſen! 6) Weil durch die Auslaffung des 6ten 
Kap. keine Lücke, im Gegentheil ein befferer Zufammenhang 
entftände, wenn man auch den Anfang bed ten Kap. ſtri⸗ 
che und zo&zaı, Tforvxapne — fi an das zoizeu am 
Ende des Kap. anfchlöffe. Aber diefer ſo erzwungene Zu⸗ 
fammenhang wäre doch nur fcheinbar an das Eine Wort 


zpines genüpft. Und, um nicht mehr zu fagen, wirb nit 


nach der abermaligen Anrede an den Polykarp, welche ges 
rabe eben nach der Anrede an die Gemeinde nothwendig 


und ſonſt unnöthig war, wieder im Plural mit Indg ges 


redet? Diefer Gebrauch der zweiten Perſon wäre ja bann 
gar nicht motivirt und noch viel auffallender , als bie An⸗ 


rede im Gten Kap. 
| 10% 


* 


18 Arndt 


Wir haben and diefer genauern IUnterfuchung der Bes 
hauptung von Interpolationen, wenn unfere Lefer ung 
bis hieher gefolgt find, die fichere Heberzeugung gewonnen, 
daß auf dem vom Hra. N. verfuchten Wege fich nicht die 
echte Recenfion der Briefe des Ignatius herftellen Laffe, 
und daß diefed auch nicht einmal erft nöthig fey zu vers 
fuchen, weil wir fie in ber med, Handſchr. fchon vor ung 
liegen haben. Wir müſſen hierbei an einen bereits vor 
acht Sahren erfchienenen, von derfelben Borausfeßung 
eines gleichen kritiſchen Werthes beider Recenfionen aus⸗ 
gehenden, aber durchaus mißlungenen Verſuch erinnern, 
nämlich an bie in dieſer Zeitfchrift, Jahrgang 1830. IV. 
©. 920 ff., nadı Berdienft und gerecht gewürdigte Aus⸗ 
gabe der Scripta genuina Graeca patrum Apostolicorum gr. 
et lat. edita a A. Fr. Hornemann. Havniae 1829. 4., welche 
freilich ohne die geringften Fritifchen Anfprüche verfertigt 
und bereits vergeffen zu ſeyn fcheint. Aber würde auch 
eine andere Hand die Arbeit verfuchen, fo müßte fie dens 
noch mißlingen und würde nur von Neuem zum Webers 
fluffe das ſchon gewonnene Refultat der Kritik beftätigen. 

Einen entgegengefeßten Weg, nämlich zurüdführend 
zu ber fonft für interpolirt geltenden Recenſion in B, hat 
Hr. Dr. Meier verfucht, welcher die der medic. Handſchr. 
als eine durch Verfürzung entftandene Ueberarbeitung be⸗ 
trachtet, fo daß die echte Grundlage des Tertes in B ans 
auerfennen fey. Diefe Anficht ift derjenigen ähnlich, welche 
bereitd Joh. Morinus (de sacr. eccles. ordinat. P. IH. 
exerc, 3. p- 36) und Billiam Whiſt on (Essay upon the 
ep. of Ignatius. Lond. 1710. und Primitive christianity re- 
‚ sived. Vol. I. Lond. 1311) aufgeftellt haben, deren letzterer, 

wiewohl mit Unrecht, in B Spuren des Arianifmus, dem 
er als die urfprünglich chriftliche Lehre vertheidigte, zu 
finden glaubte, während er die Rec. in A als einen zu 
Gunſten der nicänifchen Lehre verfälfchten Auszug anfah. 


Widerlegt hat ihn Clericus bereits in einer Abhandlung 


über die Echtheit ber Briefe des Ignatius. 149 


in Cotel. Patr. Apost. T.II., auch ber Berfafler ber Cen- 
sura Temporum. T. H. Lond. 1711. und Iohn Edward’s 
some brief of observations and reflexions on M. Whiston. 
- Lond. 1712. 

Herr Dr. Meier fügt feine Anficht auf — 
bare Spuren einer abkürzenden Bearbeitung in A, die 
nicht ſelten den richtigen Sinn verfehle.“ Wir müſſen 
ihm zu der Beurtheilung der einzelnen, dafür angeführten 
Stellen folgen, um die Richtigkeit feiner Bemerkung zu 
unterfuchen. AdEph.t1. yoplgrourov x. 1.4. Diefe Stelle 
in A nennt Hr. Dr. M. einen ganz unangemeflenen Aus⸗ 
zug ausB. Und was fteht in B? Erftens ftatt undiv Yuiw 
aperero (einer einfachen, dem Ignatius fehr geläufigen 
Redensart) das übertreibende und gezierte u76’ avazveo- 
oel wore Anode. Dann folgt ein vom Hrn. Dr. M. felbft 
ausgelaffener Zufaß: oUrog yap pov 7 ZArls, oUrog To 
xavynua, ovrog AvsAlımng aAodrog, der wegen feiner 
rhetorifirenden Breite den Interpolator deutlich genug 
verräth. Dann zu den Worten: ra Öfoua zegupigw, 
ToUS Zvsvuarırodg uapyaplıas, wo dad Wort zepıplom 
cin der Bedeutung: rühmend vorzeigen, abfolut gebraucht) 
den ganzen Gedanken vollftändig enthält, fett B (aus der 
Stelle adRom.5) den müßigen Zufaß: aro Zivolag uiyoı 
“Pouns, dus verlehrtem Streben nach Verdeutlichung, obs 
gleich zsgıpkpsiv in jener prägnanten Bedeutung noch 
dreimal bei Ignatius vorfommt, adMagn.1; ad Trall.12; 
ad Eph. 7, wie ſchon 2 For. 4,10. Ferner wenn der Märs 
tyrer den Wunfch binzufügt, in diefen Feſſeln ald Gebuns 
dener Chriſti vermittelft der Fürbitte der Gemeinde in der 
Auferftehung zu erfcheinen: &v olg yEvorro uor avasrijvar 
rij xoodevrfj vᷣucu, fo iſt diefer kühne Gedanke (zu dem 
zu vergl. Augustin. civ. D. 22, 19) dem nterpolator zu 
groß; er mildert ihn, indem er für avaorıvaı feht: re- 
Asıodnzvar. Endlich wenn der Märtyrer im demuthigen 
Bewußtſeyn der eigenen Schwäche den Wunſch, beiländig 


150 ' Arndt 


von ber Furbitte der Gemeinde begleitet zu werden, an⸗ 
ſchließt: 75 PEvorco wor Gel ulroyov alvoı, fo wird der 
Suterpolator durch das Wort uiroyos an das panlinifche 
xoıwmvös r@v zadtnudtov (2 Kor. 1,7) erinnert und er 
ergießt fich in den verwäflernden Zufaß: ulroyov Tov za- 
Inudtov Tod XgLoroü xal Komavorv TOO Havarov aurou 
yeviodaı xoœl av Ex vEXro@V AvadıddEdg xal ng Avexiı- 
oög Los, 75 yEvoızd io &miruyeiv. Diefe Fülle it dem 
gebrungenen Charakter ber Schreibart des Ignatius ganz 
zuwider; auch ift ſchon avssduung Eon) eine ber einfachern 
MWortbildung ded Ignatius fremde Formation, und der 
Inſtnitivſatz uEroyov — ycuiodor fogar ohne Verbindung 
angefhloffen. Wer ſollte mın ‚glauben ‚ baß ein Epitos 
mator aus telsLmd7voı das prägnante avaornzvaı herands 
gezogen und überhaupt aus dem Schwalle der Redenss 
arten in biefer Stelle den einfach Fräftigen Ausdrud ges 
bilbet hätte, wie er in A vorliegt?- Zn 


Sn der Stelle ad Eph. 32 mögen beide eengenen 
uns vor das Auge treten: 


A. .B. 

Olda, tg in xci dl — — — — — — — 

yodpo, &yo xaraxpıros, iyo 6 EAdyıorog Iyvanıos zul 

vusig AAempevon, Eyaüno Tolis Uno xivduvo Kal xoloıw 

#lvövvov, dusis Eorngı- MeponoLog‘ Dusig Ö& nAenudvor, 

_ YWEvOL' mügodo, 05 80rerav Earngiyukvor dv Xoisrh- zape- 

eig deov dvaigounivar. Öodelg ye iyo, Alla Tüv did 
Agusrov dvampovuivov d EroTod. 
aluxros Aßeh tod dixalov Ewg 
tod aiuerog’Iyvarlov ZAayıorog. 


Der urfprüngliche Gebanfe, eine Bergleichung des 
Standes bed Märtyrerd mit den Feiner Anfechtung unters 
worfenen Ephefiern, welche die Märtyrer (wie einft ben 
Paulus, Apg. 20, 16) nur voritberreifen fähen, iſt in A 
ſcharf durch bie geordneten Ansitheta bezeichnet, in B aber 





über die Echtheit der Meiefe des Ignatius. 151 


durch Zufühe verbunfelt, und die Autithefen verwiſcht. 
Aus dem Fräftigen Ausdrucke zagodog Zara (für wagodau- 
owrag Ögärs, wie ad Rom. 4. un EÜvorw Ruaıpog yirnadi 
por, das Abftractum für das Concretum. Pearfon fagt 
3. d. St.: sensus est: vom in Epheso, per quam tremseunt 
illi, qui in oriente damnati Romam mittuntur) ift ein ſchwa⸗ 
ched zupadodsls ye geworden (vielleicht auch das Wort 
sagodog felbft verſchrieben), und der ganz unverflänbige 
Zuſatz: ano Tod aiparog”ABelA — — ’Iyverrlov verräth auf 
das Deutlichfte die gloffirende Hand. Den Ausdruck sis 
Deov, d.i. um Gottes Willen, (wie ad Rom. 6. dxo- 
Savsiv el; Xpıarov, ober wie alg Touro, sig ayador, we 
die Präpofition einen Zwed bezeichnet) umfchreibt ber 
Gloſſator durch dıx Xassrov. Wie kann ein Zweifel feyn, 
welches die urfprüngliche Hand bes Schreibenden, welches 
die bes Interpolators ift? 

Ad Eph. 13. iſt in B aus Eph. 6,16. das pauliniſche 
zeavpmusva Bbinr eingeflidt, aber ungeſchickt und ſchwer⸗ 
fällig woös auepriav dazu gefebt, das feltenere Avscız 
(bei Sgn. and) ad Hph. 19) umgangen durd) einen den 
Sinn verſchwemmenden Gemeinplat und endlich die kräf⸗ 
tige Verbindung: dv ri ‘öpovolg vpw rag zlarems, aufs 
gelöſet in: 7 Uneriga Ouövore al Ouupavas alarm. 

Wie wird ein Spitomator jenes für Diefes geſett haben? 

Ad Magn. 9. A. dv Guou, sa) nal ü fon Gar 
dvkrsuls | du’ auroü xal Tod Havdrov aurod, Ov Tveg ag- ' 
vodvraı |. B. xel tod Havarov yeyows wlan dv Xoscıg 
0v ra rinve rijß ünwäslag dgvovvralu. 

Hier drängt fid) in B fegleich dag zöxva zijs auwäslag 
als entlehnt auf (Joh. 17,125 2 Theſſ. 2, 9.. Nach diefen 
Morten folgt in B eine, gewiß von Niemanden als echt 
zu nehmende, lange Bezeichnung ber Häretiler; alfo wird 
man doch wohl in A weiter lefen müffen. Und was folgt 
da? A oV gudenglov: iicßouer va miorsvsw. Dieß 
dann nur anf Bavarov Xgussed, nicht auf den.Savazos 


> Arndt 


überhaupt ober bloß anf Xguorög bezogen werben. Alſo 
muß auch nothmwendig der Ausdruck: 8 aurod xal od 
Havarov avroö vom Berfaffer felbft herrühren und rechts 
fertigt fi) durch den Zufammenhang ald echt; der Satz: 
roũ davarov yeyovs vlxn dagegen erfcheint uuwiderſprech⸗ 
lich als Entſtellung. 

In den Stellen ad Magn. 5; Eph. 17. und Philad. 9. 
iſt A vollftändig aus fich zu verftehen, B aber mit weite 
fchmeifigen und deutlich die Interpolation verrathenden 
Erweiterungen gemifcht. 

Ein „flüchtiges, faft unverfländiges Ercerpiren” wid 

Hr. Dr. M. in andern Stellen wuben: Prüfen wir auch 
dieſe genauer. 
Al Trall. 2. A. dıaxovovs Övrag uuorngiov’Inood Xpı- 
oroũ. B. tous dınxovovs Ovras uvornolav’ Indod Kpıcroü, 
Hier ift bloß eine Variante, Fein Ercerpt. Nach B bat 
auch die anglican, Berfion diaconos ministros existentes 
mysteriorum1.C. Boffius und Smith zogen diefe Ledart vor. 
Prüft man genauer, fo ſieht man, daß bei -derfelben bad 
Wort övrag zu tilgen wäre. Run find aber alle Geiftlichen 
Diener der Geheimniſſe Ehrifti und nicht bloß Die Dias 
onen. Alfo ift die Lesart in A vorzuziehen. "Das Wort 
Bvorngiov ift für Bild oder Gleichniß zu nehmen, wie 
im fpätern Sprachgebrauche, und aus Polycarp. ad Phil. 5. 
xvgios, ög Eysvero dudxovog zavram flieht man, daß die 
Diakonen felbft Abbild Ehrifti und feiner Heilöthätigleit 
genannt werden konnten. 

Ad Trall. 3. Diefe Stelle ift in B völlig verftümmelt, 
die Lesart in A aber vollfommen dem Sinne des Ignatius 
angemeffen, wenn man fo fchreibt: 0v (Exloxozov) Aoyl- 
foum zul tous dhkovs tvrpinsodeı, dyanävrag ag OU 
peldounı Exvrod (ftatt Eavröw, wie Cod. Med. hat). TIo- 
TE00V . . . » va Ov nardupıros ds dnöcrolog duiv din- 
v006mucı; — Welchen Giſchof), achte ich, auch die Uns 
göttlichen (Häretiker) ſcheuen, welche es gern fehen, baß 


So. 








über die Echtheit der Briefe des Ignatius. 153 


ich meiner nicht fchone (denn, obgleich felbft nicht an ben 
lebendigen Chriftus glaubend, lobten fie doch den Muth 
der Märtyrer; vergl. ad Trall.4; ad Smyrn. 6). Sollte 
ich, da ich hierüber fchreiben founte, es fo gemeint haben, 
daß ich, obfchon ein Vernrtheilter, als ein Apoſtel euch 
vorfchriebe? — Daß ayazar .v.a. gern fehen, zufries 
ben feyn heiße, ik befannt, und davrod für äuavroü 
nicht ungewöhnlich. (Der Aceufativ nad psldouns kanı 
grammatifch nicht gerechtfertigt werden.) Nach biefer 
leichten Aenderung ift die ganze Stelle, die eine crux in- 
 terpretum geweſen ift, völlig Mar. 

Ad Trall. 13. ift in A zu lefen: ayviksraı Ducv ro duov 
xveöua (Cod. Med. hat ayvifers vᷣuovu, aber eine Spur 
des Richtigen hat die vulgäre Verfion: castificet vos, alfo 
eyvibmar) d. i. mein Geift weiht fich für euch zum Opfer. 
Bergl.ad Eph.8, wo Pearfon ſagt: Ayvifoue: pro &yvıoud 
sius; quod adhuc apertius est ad Trall. 13. dyviiera, Uuce 
zö Zuöv zveöpe, i.e. &yvıoud darı. Male soriptum fuit &yvi- 
fere; & et a in Mess. saepius confunduntur. — Run vers 
gleihe man bie entſtellte und matte Lesart in B: doza- 
era Uuüs To duov avsüua — Deren Sinnlofigkeit übers 
dieß herwortritt, wenn man weiter lieft: ovᷣ uöyov vu, 
all nal örav Heov ixıruym. 

Ad Polyc. 2. 

A. B. 
O xarpög dnaırei ot, ds O xuıgdg dmaıtei 08 ebreoden. 
 außeovica dviuovs, ad MOrEg yap xußspvnty &veuog 
og zeuunkousvog Auulva, Oovußdiksraı, — — 
els ro Deod ämırugeiv. foutvy Auukves eVderor els 0W- 
inolev, ovra xal Vol 7 euyn 
A005 TO REpırugeiv Deo. | 


In ZB hat Cod. Aug. und Bodl. am Ende: oürw xal col. 
N sun roũ imırugeiv dsod. Cod. Flor.: oõro xal 00l.7 
suyN TO zegırugeiv Heov. Eine noch andere Ledart verräth 


1344 Arndt 


die vers. vulg.: tempus depoacit ie, tangaaım gubernatorem, 
_ prosperum ventum pefere,. pt, sieut navem perielitantem, 
portum aptum ad salntem requirere, d. i. 0 xuıgög axaırei 
ge süyeodaı Ws wußegvjugv Avluovg wol es vadv Yaıa- 
bontvnv Auutvog süßtrov eig omrnplav durugeiv. Diefes 
erfcheint bei genauer Prüfung nur ald ein neuer Verſuch, 
den Siun der Stelle, der fchon in. B verloren ift, gu 
ſtützen. Deun offenbar ift der Begriff eursode: in B in die 
Stelle nur hineingetragen, welcher dem Zufammenhange 
ber Stelle entgegen iſt. Vorher hatte der Verf. vom Ges 
bete gefprochen (rd d2 dopere alreı, {va c0l Pavsgwdj), 
aun.geht er auf die Durch Die Beftalt ber Zeiten nothwen- 
dig werdende Weisheit und Feſtigkeit des Vorftcherg der. 
Gemeinde über, welche er zuerft ale den Wind, der das 
Schiff leuken fol, und dann ald den fihern Hafen, nadı 
bem der Schiffende fich fehnt, darſtellt. Diefen richtigen 
Sinn der Stelle brüdt Thom. Smith aus: In hac tua 
statione, in hac temparum Jucta, res afflictae Christianorum 
tusm opem 'desiderant, imo et exposcunt, ut navarchi pro- 
speros ventorum flatus et mari procelloso iactati portum. 
Eine Umfchreibung deflelben enthält die Stelle bei Antio⸗ 
chus (Homil.111.): 6 xnıgög yap anaızei ausov gs außep- 
 vayınv ngös Toüg dvlnovg al zäg rquxvuulag wel EdAus 
Tov aveviarov ig novnglas orjvaı yevvolag ai bönyeiv 
tovg yeıuefoutvovg Zal vov Auukva Toü Helnuatog Tod 
E00. Hierin ift aber das Bild anders gewandt, fo daß 
der Bifchof felbft als der Steuerer erfcheint.. Eine Parallels 
ftelle hat Clemens Aler. (zgore. p. 33. Sylb.): wußegvnos. 
os 6 Aoyos 0 roũ HEod Kal Toig Acc Kodogplos Tv oð- 
omvucv TO nvsüue TO Ayıov. | 
Ad Eph. 8. Zu zeolyunua ducv ift au ergänzen: 3yo 
iu. Ebenfo ad Rom. 4. ansisvdepog ’Insod (sc. yo 
al) «al avadızdoucı. Lamb. Bos, ell. Gr. p. 604. Das 
gegen was fol in Bfeyn: ein Fegopfer für euch und. die 
heiligſte aꝛc. epheſiſche Gemeinde — ſtoßet aus —? 





über die Echtheit ber Briefe des Ignatius. 153 


Ad Megn. 10. hat B: avAlednzs Zv Xguoros, eine offen⸗ 
bar corrupte Ledart, welche nur fehr gezwungen für s- 
vers dv Xp. genommen wird. Dagegen ift in A aAladnre, 
ſeyd gefalzen — ein Dusch ben ganzen Zufammenbang 
der Stelle gefchäßtes Bild. 

Ad Philed.2. Auxos dbigmsaros — nach bem fpäter gang⸗ 
baren Sprachgebrauch in dbssmusrog — heuchlerifch. (S. 


Bekk. anecd. 1, 483; Lusian. Alexand. c.4; Dorv.adCharit, ' 


p. 555.) Dagegen bat die Interpolation aus Matth. 7,15 
den Ausdruck entlehnt, um das Bild auszumalen. 

Ad Smyrn. 13. rag wapdtvovug rag Asyoukvag grgag. 
Tlagdsvog ift bei Ignatius nach älterm chriſtlichen Sprach⸗ 
gebrauche jeder keuſch Lebende. Diefen erweiternden Aus⸗ 
druck zu erflären, dient der hinzugefeßte eigentliche: rag 
zigas. Der Berf. meint das zngıxov in ber fmyrnäifchen 


Gemeinde. Dagegen ftellt der Interpolator aus fpäterer _ 


Zeit die dsl zapdivovg neben die Wittwen. 
Das Reſultat ift alfo, daß in allen vom Hrn. Dr. M. 
aufgeführten Stellen in A feine Spur von einem flüchtigen 


Ercerpiren, fondern dagegen im B beutliche Zeichen der 


Ueberarbeitung find. 


Ferner glaubte Hr. Dr. M. „Uebergänge, Schlüffe und. 


Folgerungen” in A zu finden, welche den Tert in Bvoraus⸗ 
ſetzen. Er führt dafür die Worte: av oddlv Anvdavs: Yuäg 
(ad Eph. 14) an, Aber @v braucht nicht auf das nächſtvor⸗ 
hergegangene &zovganıa val äwlysın bezogen zu merden; 
ed geht auf den ganzen vorhergehenden Satz. Der Snters 
polator, welcher vorher (c. 13) eine Stelle aus Paulus 
(Eph. 6, 12) eingefchoben hatte, "mußte natürlich von 
Neuem anknüpfend fortfahren: 0dx00v 09 Anca öuägo ri 
rõv vonuarov tod ÖLaßoiov, dav, ag IIavAog, 
reislog &ls Xpiorov Eynss nv alorıv. — Ad Eph. 16. 
opolmg xal 6 dxovav avrod. Sit Fein verfehlter ober 


unverftänblicher Sab, da das vorhergehende Präbicat:. 


sig co zug co aaßsarov zwonas, wiederholt gedacht wird. 


/ 


% 


156 E Arndt 


Auch ift unter dxodeıv nicht das bloße äußere Hören, fon» 
dern das Anhören mit Beifall und Zuftimmung gedacht. 
Die weitfchweifige Nebenbeitimmung in B ift alfo ganz 
überflüffig. — AdEph. 8. & öl xel xara ddgna nodooere, 
TÜTE Avsvuntıxd. orı. Die nöthige Belhränfung erhält 
biefer. Sat aus dem Folgenden: Inooũ yag Xyuora 
zavre aoasoErE — und es bedarf nicht des eingefchobenen 
Flickens: zAngsıs Övreg roũ aylov wvsvunros. Auch geht 
der fo fchön ausgedrüdte Gegenfaß ganz verloren, wenn 
ed bloß hieße: obötv onpxıxov, AAld wvsvuarıxd ndvıe 
xocdootre. — Die Stelle ad Trall. 2. .ift in B durch das 
eingefchobene Gebot, dem Bifchofe zu gehorchen, entftellt, 
während in A örev yag — fidy unmittelbar an das der 
Gemeinde ertheilte Rob: wuuntds övres Dsoo, anfchließt. — 
Alfo aud in diefen Stellen ift in A feine Spur von einer 
überarbeitenden Hand. | 

„Spuren der Berallgemeinerung” follen in A feyn. 
Ad Eph. 2. ag&nov oUv dorı.— In B ift öuäg eingefchoben, 
wie ed’ ganz in der Art einer interpolirenden Hand iſt, 
durch Pronominalbeftimmungen zu ergänzen. Freilich ift 
in A der allgemeine Ausdrud doch nach dem Zufammens 
hange befonders auf Die Ephefter zu bejiehen. — Ib. 6. 
BAtzsı rıs und poßslodw in A, und BAlnere unb poßeicds 
in B, dsioxonov in A, ov Enioxonov in B. Auch die 
Lesart in B fann auf jeden Bifchof bezogen werben, fo 
wie die in A auf-den jebigen, Oneſimus in Ephefud, wie 
denn gleich darauf folgt: rov 09V Inioxomov x. r.ı.. Wo 
ift nur hier ein Streben zur Verallgemeinerung? Die 
Wahrheit ift, daß die Kaffung des Satzes mit vis und 
die Weglaflung des Artikels vor Enioxozov der gewähltere, 
und die zweite Perfon Plurakis und der Artikel Der gemeinere 
Ausbrud ift. — Ad Philad. 1. Die Abweichung von A und 
B ift darin begründet, daß A 6v Zrloxomov an die Anrede 
anſchließt, mit einem rafchen Uebergange, B aber biefen 
Uebergang mildert durch ein eingefchobenes Hexaausvos. 


über die Echtheit der Vriefe des Ignatius. 157 


Welches erfcheint ald das Urfprüngliche? — Ad Trall. 3. 
Hier madıt B den Uebergang fo: aurol plv odv (ol-dii- 
xovoı) Eoraoav Towüroı’ Yusis dt ivrpizeods avroug 
wogegen A rafch durch ein Aſyndeton übergeht: dyuolag 
zavıss ivrosnisdhocen — unter welchem zdvres doch nur 
die Gemeinde zu verſtehen iſt. Welches iſt das Urſprüng⸗ 
liche? — 

Ja, auch „verdeutlichende Zufäße” himwiederum, „Rers 
taufchung feltner und ungewöhnlicher Ausdrücke mit bes 
kannten, Vereinfachung zufammengefegter Formeln“ bes 
hauptet Hr.Dr. M. in A zu finden, während bisher jedens 
Lefer beider Necenfionen ſich gerade das Streben, durch 
Zufäge zu verdeutlichen, in B kundgab, und unten Herr 
Dr. M. felbft den Styl in A „abgeriſſen⸗dunkel und un 
verftändlich” nennt. Indeſſen kommt es bier auf einzelne 
Stellen an. Ad Smyrn. 2. find. die Worte: auroi zo do- 
asiv Övrsg, von den Doketen gebraudıt, die fürmahr oris 
ginell genug ausſehen, in B mit einer wfeitlhuftigen, po⸗ 
lemifchen ‚und mit Citaten verbrämten Stelle vertaufcht, 
Die doch gewiß nicht für originell gelten kann. — Ib. 4, 
Die Worte: Omeg ÖV0x0Aovx..A, fehlen in B, wie öfters 
ganze Sätze übergangen werben. Aber ber Gedanke, daß 
die Belehrung ber Irrlehrer fchwer und nur. von Chriſto 
zu erbitten fey, fleht doch wohl nicht wie ein verdeutlichen, 
der Zufag aus, fondern hat ein völlig originelled Gepräge, 
Uebrigens ift'in B ad Philad. 3. ein ähnlicher Gedanke, ber 
nicht in A fieht. Wäre er dort in B urfprünglich, fo wäre 
er es doch wohl audy hier inA. Nur daß er dort den Zus 
fammenhang fehr unterbricht. — Ad Smyrn. 5. uöAAov dE 7Q-. 
vndn0av dx avrod iſt eine fo originelle Wendung (bei Ignas 
tius noch zweimal, ad Rom.8; ad Trall.5), daß fie gewiß 
feinem Gloffator einftel. — Ibid. 7. Daß A Zixugirog db ch 
sdayysalo fagt, ift Doch wohl nicht bloß eine Verwah⸗ 
rung vor möglichen Mißverſtande, da ed auch ad Philad.9. 
heißt: Zbalgerov 55 ru Ey 0 sönyyilıov. — Ad Eph. 





158 = Arndt 


11. A: va u) Nuiv els solun yiyycas Dieß läßt B. 
nicht aus‘, fondern umfchreibt ed: an Toü nAovrov rüg 
zonstörmtes »al vig' Kvoyijs nerappornsauev — pleos 
naftifch den Ausdrud aus Röm. 2, 4. entlehnend. — Ad 
Eph. 19, A. 09:v EAvero näoe nayela. Hier fchien bem 
Sinterpolator das einfache ZAvero (gerade wie ad Eph. 13) 
fhwerer verftändlih, und wie er überhaupt Die ganze 
Stelle frei umfchrieb, -fo feßte er dafür: yios (MW) 7 
uoryle. Lebtered nennt Hr.Dr; M. eine Formel, was mar 


wohl nicht billigen kann. Ob der urfprüngliche Ausdruck 


war: ayvom sadyosiso, die Unwiſſenheit ward 
. zerftört, oder: dyvolas Edpog Össonsdavvuro, der Uns 
wiffenyeit Dunfel ward zerfirent, möge man un 
theilen! — Ad Magn. 8. A. uvdevuere naicıd. Sft es 
glaublicher, daß diefer concife und bezeichnende Ausdruck 
urfpränglidy war, oder baß es der auflöfende und uns 
fihere war in B: yevenloylaı antoavroı xal lovöcixol 
rögoı —? Ibid. A: -ög tori curoũõ Aoyog aldsog 00x 
. 400 oıyis ngoeMchv. Bi: ög Eorıv avrod Aoyos, 0U 6%- 
Tög, aA oVowWdng.: od yag Zorı Ankıäg Evapfigov- pob- 
vnua, aAh Evepyelas Being ovola yevunın. Der Aus⸗ 
druck in A iſt tief, originell und im Tropus gehalten, 
der in B it breit, in philofophifchen Formeln, bloß lo⸗ 
gifch ausgeprägt. Der letztere feßt offenbar fchon bie im 
den arianifchen Streitigfeiten erft entwidelte Terminolo⸗ 
die vorans und ift viel: zu abſtract für den Ignatius. 
Uebrigens tft diefe Stelle vielfach befprochen cf. die fehr 
ausführliche Behandlung derfelben in Pearson, Vind. Ign. 
1. p.36 aqq.). Da on nnd Aoyog ein’ im gemeinen 
Sprachgebrauche liegender Gegenſatz iſt, ſo hat man gar 
nicht nöthig, an bie Zupn des Valentinus zu denken. Eben⸗ 
ſo braucht Ignatius ouwxen Rom. 3, und der gleiche Ges 
genſatz ift ad Eph. 15; 19. — Ad Magn. 15: Mioxoxo 
Zuvgvalov fehlt in B, wer weiß, durch welchen Zufall ? 
Dagegen ad Eph. 21. fteht m. in A bloß: Hokvnogxov. 











über die Echtheit bei Vriefe des Ignatius. 159 


Und in letzterer Stelle hat B bei vng duninslag zig d9 
Zvola den Zuſatz Avrioysov, den B bei benfelben Wor⸗ 
ten ad Trall. 13. nicht hat. Was folgt aber daraus et⸗ 
wa? — Ad Bam. 10. ift ber Zufag Tour Forıv Abyovanov 
sixcdı vol gewiß ein. fpäteres Gloffem;. dergleichen 
kommt aber auch ohne eigentliche Snterpolation vor. — 
Ad Smyrn. 8, A. oyamıyv mossiv, in B für fpätere Zeit in 
dornv Euivsisiv umgewandelt, nachdem Die Agapen bereits 
abgefommen. — Eph. 8. A. Baoavlferv; B. Paoavov ERE- 
yaysiv. Weldyed von.beidem verräth die gloffi rende Hand 
— 18.9. ortipo: ra Lıkavıa in B ift doch wohl aus Matt. 
13, 25. und ohne Zweifel leichter, ald das prägnante 
oxsipaı els duäsin A. Umfchreibend ift inB. der Ausdruck: 
olę oUx Edwxars adpodorv flatt: obg 00% Eldoare in A. — 
In ovvipyesdaı und ovvedooldesden (Eph. 20) oder in 
Oobũro ÖLnneisdes und odrag Ereıv (Trail. 3) wird ſich ſchwer⸗ 
Yich für fih das eine ald echt neben dem andern unechten 
ertennen laſſen. Ueberhaupt, wenn wir hier einzelne Stel- 
len behandeln, müffen wir immer bebenfen, daß die Vers 
gleihung des Charakters der Schreibart nicht von denfels 
ben abhängen darf. 

Indeß Herr Dr. M. findet überhaupt den Styl in A. 
„fchwerfällig - gedrängt, abgeriffensdunfel und unverfländs 
lich.” (Aehnliches fagte ſchon Dallaeus, de libris suppositis 
Dionys, Areop. et Ign. Il, 25. p. 377. tristes et salebrosae, 
rudes et incultae sunt, oratio brevis et concisa, et horrida, 
torrentis instar, per confragosa montium inter abrupta et 
saxa et cauteg et praecipitia vix enitentis, fertur. Magna 
sensuum ubique obscuritas; vel nullus, vel malignus® ver- 
horum inter se nexus. Prisca Lexiae Apollinis oracula vel 
Sibyllarum folia legere te credas; und alle von ihm anges 
führten Beifpiele zur Unterftitung diefer Behauptung hat 
Pearſon gründlich beleuchtet, Vind. Ign: II. c.14— 16.) 

Geſetzt, ed wäre die Wahrheit der erften beiden Dop- 
pels Epitheta zugegeben, fo folgte daraus nicht die Uns 











— 


160 —Arndt 


echtheit einer Schrift, weil ſelbſt die Eigenthümlichkeit des 
Verfaſſers dazu neigen konnte, fo zu ſchreiben. Ebenſo 
wenig folgte daraus, daß ein ſolcher Styl durch Auslaſ⸗ 
ſung von Stellen aus einer einfach und fließend geſchrie⸗ 
benen Schrift entſtanden ſey. Aber die Gebrängtheit (nicht 
Schwerfälligfeit} und das Sententiöfe (nicht Abgeriffene) 
in dem Style des Ignatius zeigt ſich bei genauerer Ueber⸗ 
legung als Charakter des Verfaſſers, und wurde gewiß 
erhöht durch Die eigenthümliche Gemüthsſtimmung, in wel⸗ 
cher jene Briefe gefchrieben wurden. Man lefe nur ben 
Brief an die römifche Gemeinde, um dieß inne zu werden, 
und vergleiche dann Damit den: im Charakter ganz übereins 
flimmenden Styl der übrigen Briefe. Das Unverſtänd⸗ 
liche des Style ift etwas Relatived; man muß aber erken⸗ 
nen, daß, wer mit Aufmerffamleit und gehöriger Sprache 
kenntniß liefet, bei Ignatius nichts .abfolut Unverſtändli⸗ 


ches antreffen Fauna), — Wenn dagegen Hr. Dr. M. den 


4) Auch Wil. Whiſton (Primitive christianity P. I. p. 10) äußert 


ſich auf ähnliche Weife über den Styl ber Br. bes Ign., wie dr, 
Dr. M.: Their stile and composition is hurth, confused and 
ill digested, so as to be most inintelligible; er nennt fie 
plainly unworthy of so great a man as Ignatius; er findet 
darin (p. 19) may later expressions, absurd reasonings, disor- 
derly periods and perplexed way of writing, which is quite 
disagreable to his own stile, character and time, and to the 
stile, language and genius of the apostles and the other apo- 
stolical mens in’those early ages. Und p. 84..I cannot but 

‘ "refleet on the weakness of human understanding and the in-. 
superable power of prejudice in points of his manner. (Daf 
man nicht mit ihm bie echten Briefe für unecht, und bie inters 
pdlirten für echt halten wollte!) Aber wer unbefangen urtheilt, 
erfennt gerabe in diefen Urtheilen bie Macht des Borum 
theils. Auch zeigt ſich dieß im Gingelnen. Er tabelt 3. B. ben 
Anfang des 6. Kapitel ad Smyrn. als unzufammenhängend 
(man lefe und überzeuge fi!) , die Stelle ib. c. 7. aunipsgs dh 
x. ⁊. 4. als unverſtaͤndlich, ebenfo c. 13. zag zagderovs rg 
Asyondvag'zigas. Dergleichen Aeußerungen muͤſſen den leiden⸗ 
ſchaftlich Urtheilenden Ion verrathen, 


über die Echtheit der Briefe bed Ignatius. 161 


Styl der kürgern Nee. „im Ganzen einfach natürlicher, 
verftändlicher und auch bei größerer Wortfülle keinesweges 
breit und verflachend” findet, „wie al dıa Aoyav Huıllas 
ve ka zporgonal bei Eufeb.3, 36”, fo,weiß ich nicht, ob 
man überhaupt von einem Style reden darf bei einen 
durchaus ungleichartigen Gewirr, theild aus ben koͤrnig⸗ 
ten Süßen bed Ignatius, theild aus rhetorifchen Floskeln 
und Erweiterungen, theild aus eingeflickten biblifchen Eis 
taten zufammengefegt. Aber daß die Hanb bes Interpos 
lators unfähig war, in gleidy gebrungenem, kernhaftem 


- und gedankenreichem Style Die Zufäße zu bem echten Texte 


N 


| kann. 


zu machen, verräth fich Dem -Lefer zu offenbar, als dag 
man zweifeln möchte, der gute Gefchmad, ben wir Herrn 
D. M. zutrauen, bedürfe darüber weitere Nachweifung. 
Man lefe nur und vergleiche 3. B. den Brief an die Phis 
ladelphier in A und B. Und wie möchte aus den Wors 
ten des Eufebius gefolgert werden, daß ein inhaltreicher, 
gedrungener Styl nicht eine OpıAle did Aoyav feyn folls 
te? — Nach dem Urtheile des Hrn. D. M. „tritt da, wo 


beide Recenfionen weniger abweichen, wie in ben Briefen an 


die Römer und ben Polykarp, entfchieben ber Charakter 
der längeren Ausgabe hervor.” Dieß fol feynEph. 1,2; 
Trail. 12; Smyrn. 1,11. 12. Uber dieß find gerade fols 
che Stellen, die, wie am Eingang und am Ende, in eis 
ner weniger gehobenen Stimmung gefchrieben find, wo 
eine ruhige und fich erweiternde Sprache natürlich ift, 
dagegen in den Briefen an die Römer und den Polylarp 
gerade die fententiöfe Sprache fehr bemerklich iſt. Ges 
zade diefe fententiöfe Sprache ift etwas fo Eigenthümlis- 
ches, daß fie durch ein bloßes Excerpiren nie entftehen 


Aber Herr D. M. behauptet auch (©. 359), daß in 
A die bogmatifchen Ausdrüde, namentlich von der hös 
bern Würde Ehrifti, dem fpätern kirchlich orthoboren 


| —— angepaßt De Bun . B diefelben 


Theol, Stud, Jahrg. 1889 


182 Arndt 


viel unbeſtimmter, in einer ber apöftasifchen Seit ans 
gemeffenen Weife behandelt feyen (ebenſo wie Will. 
Whiſton). So werde in A das Prädicat Bsog häufig 
anf Chriftum übertragen ftatt der gangbaren Präbdicate: 
wugLog, oornjo, vios HEod. — Dagegen ift zuvoͤrderſt zu 
erinnern, daß auch in B Chriſtus Feos genannt wird: ad 
Trall. 7. uıunenv yevousvov era Övvanıv Aguorou ToV 
OSOGõ. 1b. 10. dAndüg dyevunen 6 Dsog Aoyog dx tig 
zapdivov — avaoıa, 6 Beög. — ad Magn. 6. Os 296 
alövog napd ro warpl yavııdeis nv Adyos, Beög u0v0- 
yevns vlog. ad Philad. 4. elg uovoyevng vlög, Beög Ab- 
yo: zal avßigamos. ibid. 6. day tig... . Yılov Audgmzon 
eivas voul£y rov xvpLov, odyl Hs0Vv uovoysv7j xal 6o- 
olav xul Aoyov BEod .... 6 ToWwürog Ogyıs dariv.... 
or sog Adyog dv dvdganivo omperı xaroxeı. ad 
Sınyrn. 1. r0v HE0V Aoyov. ib. 5. un OnoAoydv avröv 
Gapxopogov HE0V. ad Eph. 7. 70V xugiov Ynev HEoV 
Inooũv Tov Xotorovu. ib. 15. 6 xugiog jucv xal Beög 
’Inooög 6 Xotoros. — ib. va dus adroü ‚yaol xal aU- 
zog dv yuiv Asohg. — Eph. 19. 8500 og dvdoanon 
gYeıvouivov. — adRom. inscr. *In000 Xouoroũõ TOoüdE0B 
wal oorñoos qucv. — ib. 6. aßoug Xgicrod TOoüPEoD 
pov. — ad Polyc. 3. 10V ara) ws Hsov. 

In vielen diefer Stellen hat A nicht dad Prädicat 


. Beös von Chrifte. Wenn es alfo in B an fieben Stellen 


nicht erfcheint, wo A es hat, fo fteht es doch in B acht» 
schy Mal. Was ift nun darauf für ein Schluß zu bes 
gründen? 

Ferner die. vollftändige Trinitätsformel 
wirb in B mehrere Mal angebracht, wo fie A nicht hat: _ 
ad Trall. 1. HeAnuarı Hegü zargog xal xuglov ’Insod Xpı- 
Grod tod vloũ Deoü Gvvepyelaz wveunerog. — ad Philad. 
4. inslnsp nal elg dydvunros, 6 Deög zarig, xal eig uo- 
woysvng viog, OAtòg Aoyog xal ufigmrog, xal elg ö ze- 
Odxinmvog, To avsöue vg dAndelag. — ib. al zagdEvor, 


über die Echtheit der Briefe des Ignatius. 163 


növov zöv Xoorov 06 Sydmiliv Eyers nal Toy auroü 

zarioa bv raig süyais, parıkopevar UAO Toü Kvsvparog. 

i.5. el yo dag — cn — — dh 

wogexintog. — ib. dav vis xæréoc xal vlov nal üyıon 

. zwsöue Opoloyj. — ad Eph. 20..iv wü zloru Deoü u 
spos xal Inooũ Xgierod . . . Ipodnyovusvog UxO Tod 
zapaxiıcov. — Ib.21. iv Bei zargl xal xuplo ’Inaon 
Koord . . . dv avsvaer üylo. — zum 9, Anführung 
bee Gormel and Matıh. 28,28. 

Daß dagegen in A „fehr häufig” die vollſtändige 
Trinttätöformel ſey, ift eine Behanptung, bie anf zwei 
Stellen ſich befchränft (ad Magn. 13), welche nun. ger 
rabe in B fehlen. Bas iſt daraus zu fchließen? — (Daß 
in Magn. 13. die Worte xasd odoxa in B fehlen, Tan 
nicht in Betracht kommen, da fle in der Formel rS xa- 
zu odpxa dx ybvovg Aaßlö zweimal in B, wie in A, fies 
ben: Eph.20; Smyrn. 1.) 

Endlich wird von dem heiligen Geiſte als Perfon 
geredet in B: ad Eph. 9. zo .d3 Ayıov zveüun (Audi) 
oðᷣ ra.idın, Ali ra Tod Xypıorod, zul 0Ux dp davroü, 
dAla a0 To xvplov. — ib. c. 15. TO zvsüne ro Ayıow 
dıdaoxtrn vnäs va Tod Kpıerod PhEyysodar. — ad Trall, 
6. To Ts wvsüuerog ıav UpnAdenee zugleich mit Tod xu- 
olov zıv Bacıkslav xl In) mücı To Tod Kavsoxpdsogog 
Otoũõ drupaderov. — ib. c. 6. v0 di van ovds On 
Eorıv SuoAoyoüsıy. — ad Philad. 7. TO zysüua — a xev- 
wei Eilyyeı, wie in A. — -Philad. 9, üyıog 6 zagdulerrog 
xal äyıog 6 Aoyog. — ib. 5. Ev xal 6 avro zveüue dya- 
90V xal nysuovınoY, dindts re nad didacnakınöv. — ib. 
extr. &v dylp avevmarı, wie vorher dv xvola ’Inooö 
Kesoro, alfo mit derſelben perſoͤn lichen Beziehung. 
(Diefe beiden lebtern Stellen will Hr. D. M. als Beweis 
nehmen, daß in bibfifch» apoftolifcher Weiſe — d. h. nach 

‚ feiner Meinung ohne perfönlihe Beziehung — 
vom heil. Geiſte gerebet werde. Und doch iſt in ber era 
ı1 * 


164 "Arndt 

ſtern von einer perfönlichen Wirkung des Geiſtes die Res 
de und in ber zweiten zeigt die Zufammenftellung mit Chris 
fto, wie der Zufag dv ay. zw. gemeint fey. Cine gründ⸗ 
liche biblische Theologie wird übrigend Stellen, wie Joh, 
19 16. 265 16, 8.135 1Kor. 2, 10; Röm. 8, 16. 26. u. a. 
nie anders, ald unter der Vorausſetzung einer Perföns 
tichleit Des Geiſtes auffaffen Finnen.) 

Nach diefer Auseinanderfegung wird nun nicht meht 
behauptet werden können, daß in B eine geringere dogs 
matifche Färbung, um fo zu fagen, gefunden werde, Im 
Begentheil aber wirb jeder Lefer ſich leicht überzeugen, 
wie gefliffentlich der Interpolator durch Zufäge dogma⸗ 
tiſche Beftimmungen, felbft erft die in fpätern Zeiten fefl« 
geftellten, einzufchwärgen ſucht. Man lefe nur ad Philad. 
6; ad Magnes. 8. u. a: m. 

Was in B zu Öunften der arianifchen Lehre gedeutet 
werben kann, ift in ber That nicht einzufehen. Bielmehr 
ift fogar die Stelle in A ad Sinyrn. 1. viov Beov xara DE- 
Anua xal Övvanırn Deov, weldye dem Arianifmus günftig 
fehlen, in B ausgelaffen. Denn die Arianer behaupteten, 
der Sohn ſey Beög Beinparı xal Bovij zaroos, 
nicht ovole, wie die kirchliche Orthodoxie (f. Ittig de do- 
etrina Ignati, p. 104). Jene Stelle erfcheint fchon bei Theo⸗ 
doret (Dial. 2) geändert, und vielleicht abfichtlich: viow 
Otoũ xara Osornuæ xl duvanıv. — Die dogmatifchen 
Stellen in A, fast Hr. D. M. felbit, find fo in dad Ganze 
verflochten, daß fie als wefentliche Theile des Ganzen er» 
feinen. Richtig! Und wie follten fie denn erſt durch Epi⸗ 
tomiken in diefem Zufammenhange erfcheinen fönnen ? Ges 
rade ebenfo erfcheinen im Gegentheile die dogmatifchen 
Erpofitionen in B ald Zufäge und eingefchobeng Feten. 
Die Borftellung Whifton’s, daß in A erft durch Umſchmel⸗ 
gung ein dogmatifcher Charakter gemonnen ſey, ift fchon 
von Clericus (ſ. oben) widerlegt. Die Stelle übrigens 
aus Cassioder. Inst, 10. exclusis quibusdam offendiculis 


. über die Echtheit der Briefe des Jgnatius. 168 


Tann eben fo wohl, und gewiß mit mehr Grund, auf B 
bezogen werben. Die Anführung bei Atkanas. de Synad. 
47, die’ bei Theodoret und Gelaſius ſich wiederholt, alſo 
wohl aus Athanaſius genommen iſt, ſtimmt weder zu A, 
noch zu B und ſcheint nach dem Gedächtniß und ungenan 
gegeben zu feyn. Die füänmtlichen übrigen vorhanbenen 
@itate bis ins ſechſte Jahrhundert aus Kirchenfchriftfteflern 
paffen allein zu A, und nicht gu B, ohne Spur von Inter» 
polation a). Zuerſt bei Stephan Gobarus um 580 (wenn 
wir der Angabe von Photius, bibl; cod. 232. p. 191. B. Bekk. 
tranen können) findet fi eine Spur von Kenntniß der 
interpolirten Recenſion; denn diefer behauptete, Ignatius 
habe gegen Nifolaiten gefchrieben, von welchen nur in 
Der interpolirten Recenfion des Briefed an die Trallier 
(c.10) und ded Br. an die Philadelphier (c.6) die Rede tft. 
Nächſt Biefem ift die erfte Spur von Interpolation in dem 
Gitate des Chron. Paschal. p. 416. Dind. Doch fcheint die 
Snterpolation erft mit dem achten Jahrhundert in. dem 
Meaße, wie fie jegt in B fich. findet, nach und nach in bie 
Handfchriften gelommen zu feyn, da Johannes Damafcenus 
unter fo vielen ercerpirten Stellen bloß zmei (aus ep. ad 
Trall. 4) nad) B, alle andern aber nadı A anführt. So 
it auch in den — fpäteren Gitaten bei Antonius in der 
Meliffa die Uebereinſtimmung mit A zu erkennen, und im 
dreizehnten Sahrhundert erfcheint bei Robert, Bifchof von 
Lincoln, das erfte Citat aus der nad A hauptfächlich ver« 
faßten anglicanifchen Berfion (Pearson. p. 22). So läßt 
ſich der fpätere Urfprung der Sinterpolation nachweifen, 
während ſich die Spur der unverfälfchten Necenfion bie 
auf Euſebius zurück verfolgen läßt b). 


a) ©. die gefammelten Gitate bei Pearson, Vind. Ign.I. p.3—30, 
b) Aus dem Verhältniffe ber zwei alten lateiniſchen Leberfegungen 
ift zu erkennen, daß fie nicht ganz mit A und nicht ganz mit 
B flimmen, alfo manche Varianten in den Handſchriften vor 


4, 


166 Arndt 


Nach dieſem allen kͤnnmen wir denn kein anderes Reſal⸗ 
tat gewinnen, als daß in der med. Handſchrift die echte 
Grundlage des Textes ber. Briefe des Ignatius, einzelne 
Fehler des Abſchreibers vorbehalten, zu erkennen iſt, und 
sticht in der, mit erweislichen Zufägen und Veränderungen 
entſtellten, Tängeren Recenfion, die in ber und überliefer⸗ 
ten Seftalt nur für ein Product ded iebenten ober achten 
Jahrhunderts zu halten tft und wahrfcheinlich nur in ber 
Abficht verfaßt wurde, bie bogmatifchen und: firdhlichen 
BVorftellungen fpäterer Zeit Durch ben Namen und das An⸗ 
fehn des berühmten Märtyrers zu Rügen, unbekümmert 


fi) hatten (ſ. oben das Beifpiel aus der Stelle. ad Polyc. 1), 
So bat ad Eph. 1. die anglic. Verf. Christi Dei, wo A 0809, 
B Xquorqũ dat; ad Eph. 7.. hat biefelbe den ‚Anfog Dominss 
Christus noster, wie bei Theodoret und Gelafius, der aber in 
B, wie in A nicht iſt. Ad Trall, 7. hat biefelbe Verſion den Zus 
faß: qui vero extra altare est, non mundus est; wie B. — 
ad Rom. 8. Sufag: quando utique oditur a mundo, wie B, 
wo aber noch mehr zugeſetzt wird. Ib. 4. manumissns fian losa 
[Christi], wie BB — ad Philad. 9, salvatoris domini, wo A 
avglov, B amrijgog hat. — ad Rom. 3. non suasionis opus est, 
wie B. — ad Polyc. 5. secundam Domiuum, A xar« Hsor, B 
xar& xugıos. — ad Eph. 21. et quos misistis, wie,B (und 
war richtig, da in der mebic. Handſchr. der Fehler xl dw fl. 
nal wit), — ad Trall. 6. in delectatione mala, wie Joh. 
Damafc, dv Hdonj xaxjj, ohne Zweifel die echte Lesart, wofür 
Cod. Med. &» dos xansi. — ad Magn. 15. insepurabilem, 
wo B richtig ddsaagırov, dagegen im Cod. Med. ber Fehler dıa- 
xgırov. — ad Philad. 5. imperfectns, B dyamagrıerog, Cod. 
Med. fehlerhaft avagracrog. — ib. 8. inapprozimabilia, God. 
Ang. et Bodlei, Adınrow dggsiov, wonach mit Voſſius zu ſchrei⸗ 
ben &dıxıa fl. Anure. — ad Smyrn, 4. ergo et ego secun- 
dum videri ligor, wie B und Theodoret, während die Worte im 
Cod. Med. fehlen. — ib. 10. erubuistis, wie B richtig Zayozur- 
Önre, Cod. Med. dzasogurdnre. Voſſius und bie folgenden un⸗ 
richtig dnrusorundnre. — Dagegen die versio valgata ſtimmt 
öfters auch mit A überein, z. 3. ad Rom. insor.: quae et pras- 
sidet, B Arıg ngond@jzas ohne nal. — ib. 0,6. passionis Dei 
mei, wo B hat wadovg Agıorev, u, a, m. 


> 


y 





über die Echtheit der Briefe bed Ignatius. 167 


um alle Fritifchen Rüdfichten. Der Hr. Dr. mM. glaubt 
freilich, daß dad, was in B fpätern Urfprungs fey, nicht 
mit fo entfchiedener Abfichtlichkeit hervortrete. Aber moys 


ſollten denn die Beziehungen auf fpätere Härsfien, fogar 


mit namentlicher Anführung der fpäteru Häretifer, und auf 
die Verhältniße -der fpäter ausgebildeten Hierarchie (ad 
Trall,6; ad Philad. 4, 6; ad Smyrn. 9. u. a.) dienen, ale zu 
der Abficht, die fpäteren Borftellungen Der Zeit dem Igna⸗ 
tius in Den Mund zu legen? Ebenfo abfichtlich werden 
die 9 Stufen der himmliſchen Hierarchie. (ad Trall, 5) ein⸗ 
geſchoben, Die genaue Angabe der Zageszeiten des Leidens 
Chriſti (ad Trall. 9), die Angabe über die Zeit des Lebens 
und des Lehramtes Chrifti Cib..c. 10) u. a. Dagegen find 


‘andere Zufäße freilich fo mäßig, daß man recht ſieht, wie 


fie bei einem in Muße Zortfchreibenden auf irgend sin 
Stichwort hervorwadfen: So 5. B. bei dem jugendlichen 


Alter (vsorsgien zäfıs) des Biſchofs zu Magnefia fällt es 
dem Interpolator ein, alle durch Weisheit ausgezeichneten 


. 


Sünglinge aufzuzählen, Daniel, Samuel, Jeremias, Sas 
lomo, Joſias, Timotheus (ad Magn. 3) a). Aehnliche Beis 
fpiele bieten die Steflen adSmyrn. 6;.ad Magn. 12; ad Philad. 
3. u. ſ. w., aus denen man bie eigentliche Manier (anders. 
ift es faum zu nennen) diefes Gloſſators kennen lernt. 
Nach dem Styl und der Manier zu urtheilen, find auch 
die fünf unechten griechifchen Epifteln, ad Mariam Cassobo- 
litidem, ad Tarsenses, ad Philippenses, ad Antiochenses, 
ad Heronem, von gleiher Hand verfaßt, die zuerit im 
fiebenten Sahrhunderte (bei Anaftafius Prefbpter) erwähnt 
werden. Unter biefen glaubte Wil. Whifton die an die 
Tarfier, an die Antiochier und Hero für echt annehmen zu 


koönnen, wegen der Aehnlichkeit des Styls mit den inter⸗ 


Yolirten, wo er denn freilich auch in der Unkritik noch 
confequent erfchien. 


8) Ganz ähnlich) iſt die Stelle in dem unechten griechiſchen — 
der Maria Kaſſobolitis an den Ignatius. 


A Arndt 


Als „auffallend” hat Hr. Dr. M. noch and A einige 
Stellen bezeichnet, die, wenn fie auch eigenthümliche Aus» 
drücke enthalten, doch ihren mahren und tiefen Sinn haben, 
und in denen nichts if, weßhalb fie nicht dem Anfange des 
zweiten Jahrhunderts angemeflen fcheinen könnten. Bet 
den Stellen ad Eph. 15 u. 19 Anf. erkennt man aus Bers 
gleihung der Stelle ad Rom. 3. den Gedanken bes Verfafs 
ſers, der von dem Gegenfate bed Redens und bes fchweis 
genden Handelns durchdrungen ift, und baher voh einer 
Hovrla Ocoũ, einer con redet, in welcher ſich die gött« 
liche Größe herrlich und felbft am herrlichiten offenbart. 
Der Ausdrud xaıvög avdomzos, von Ehrifto gebraucht 
(Eph. 20), follte Doch nicht Schwierigkeit haben, ebenfo wenig 
als zEAsıog &vdemxog (ad Smyrn. 4). Daß durch das Leis 
den Ehrifti das Waffer in der Taufe ald Gnadenmittel ges 
heiligt fey (Eph. 18), erflärt Ehryfoftomue (Hom. 16. ad 
Hebr. T. IV. p. 518. Lavil.): rò yag Bdnuoue adros ad- 
Hovs Zarl auußorov. Vergl. Paulus Röm. 6,3. 

In dem VBerzeichniffe der Wörter aus Ignatius vom 
Hrn. Dr. M. find die offenbar fpäteren Bildungen bes Ins 
terpolatore mitangeführt, woburd; es leider feine Brauch⸗ 
barkeit fehr verliert. Die abfichtliche Nahahmung neu⸗ 
teftamentlicher Redensarten im Pfeudo » Ignatius hätte 
fhon gegen feinen Sprachvorrath argmwöhnifch machen 
können. Der Ausdrnd des echten Ignatius ift zwar auch 
im helleniſtiſchen Idiome gehalten und ber Sprache bes 
NT. nahe verwandt, aber er hat etwas unverkennbar 
Eigenthümliched und gar nichts von ber fpätern philofo- 
phifchen Färbung ber griechifchen Kirchenfpradhe. 





Wenn ed nun feltftieht und von ber Kritik anerkannt 
werden muß, daß nur in der Fürzern Necenfion bie echte 
Grundlage ber Briefe des Ignatius vorhanden ift, fo 
würde ed, um bie Verhandlungen ber Kritif über diefen 

Gegenftand abzufchließen, nur noch der Frage bedürfen, 








= 


über bie Echtheit der Briefe des Ignatius. 169 


ob and in diefer kürzern Recenfion Iaterpos 
Iationen anzunehmen feyen. 

Gegen diefe Annahıne ftränbt fich aber ber fefte, Liddens 
loſe Zufammenhang in diefen Briefen durchaus, der nir⸗ 
gende durch eine bemerkbare Fuge ein eingefchobenes Stück, 
ja nuk einen eingefchobenen Sa verräth, Wir nehmen 
zum Beifpiele die Stellen, welche vom Hrn. Dr. Lobegott 
Lange (Beiträge ıc. Th. II. ©. 142) als unecht bezeichnet 


‚werben: Ad Eph. 7. eig laropög . . . . anadns. Geſetzt, 
‚ biefer Satz fehlte, fo würde man fich vergeblidy nach einer 


genauern Bezeichnung der Irrlehrer, vor denen in biefem 
ganzen Zufammenhange gewarnt wird, umfehen. Hier 
aber werden fie ald Doketen beutlidy bezeichnet, indem, 
wie in andern Stellen (ad Magn. 11; ad Trall.9; ad Smyrn. 


2.3.0.0.) auf die Wahrheit des Factums der Menfch- 


werbung, des Leidend und der Auferftehung Ehrifti befons 
derer Nachdruck gelegt wird und hervorgehoben, baß 


Chriftus als oagxınög und zvevuerıxog zugleich zu ers 


Tennen fey. Daher ift auch die dogmatifche Farbe diefer 
Stelle durchaus nicht verdächtig. Auf eine fo originelle 


Weiſe ift der Uebergang von dem Övgdeganevro. zu bem 


lg larpos gemacht, daß hierzu ſchwerlich dad ingenium 
eines Gloſſators fähigwar. Auch hatder Gedanke, daß nur 


Chriſtus jene Irrenden zu heilen vermöge, feine Parallele im 
‚ der Stelle ad Smyrn. 4. rovrov Ö} Eysı &fovolav ’In6oüg 


Xguorög x. 1... — Ibid. c. 18. 6 yao Heog yuiv .. . 
aylov. Fehlte diefe Stelle, fo wäre nicht nur der Zufams 
menhang mit dem gleich Folgenden: ög Eyevundn x. T. A, 


‚zerriffen, fondern es wäre auch Die fo originelle Stelle im 


nächften Kapitel von der Erfcheinung der Herrlichkeit _ 
Gottes in Chrifto ohne Uebergang und nicht gehörig moti⸗ 
virt. — Ad Magn. 6. 05 00 elavav dv zarpl nv zul dv 
riisı dpavn.. Ueberall, wo Ignatius zum Fefthalten an 
der Einheit der Kirche ermahnt, was er ganz offen 
ald den Zweck feined Schreibens erflärt (ud Philad. 8. os 


170 Ä Arndt 


ardowzog sis Evmdıvy nerngzıankvog), geht er auf bie 
durch die Sendung Ehrifti ven Bott felbft gegründete Ein⸗ 
beit zurüd (ſ. ad Magn. 7. extr.). So ftellt er deun auch 
hier die Diafonen dar ald Träger des Dienftes Chriſti, 
der. vor. den. Zeiten bei dem Vater war und in der Külle 
Ber Zeiten fichtbar erfchien. Dieß kann in dem Zuſammen⸗ 
bange nichts Auffallendes haben. Der gleiche Fall ift es 
bei der Stelle ad Magn. 8. extr., wo auch .die Propheten 
des. 4. T. als Berkündiger des Einen Gottes, der fich 
feloft in Chriſto offenbarte, bargeftellt werden. — Ad 
Rom.3. extr. Hier gebt der Berf. von dem Gedanken, daß 
er durch feinen Märtyrertod als getreuer Jünger Ehrifi 
ſich erweifen könne, ‚über zu dem allgemeineren, dag alles 
Sichtbare vergänglich fey, und auch Chriſtus in feiner 
göttlichen Herrlichkeit erft nach feiner Berklärung bei dem 
Bater erfannt werde. Was ftört hier den Zufammenbang? 
— Ibid. 6. Zxerpiders por uuuneiv eivas von wadovg 
tod Beod xqu. Dieß fchließt fi) genau an Das Vorige an, 
wamentlic an den Satz: @vdpmzog Beod Eoouaı, worin 
auch der Grund liegt, weßhalb er Chriſtus 6 Hzog wov 
nennt (Job. 20, 28). — Ad Smyrn. 1. dofato ’Inooüv 
Agıcrov rov Deov. Gerade dieLobpreifung Ehriſti mußte 
ſich anf das Böttliche, nicht nur das Menfdjliche in ihm 
beziehen. — Ad Polyc. 3. extr., wo aus dem Gegenfaße 
TOUS xcxioovg xarauavdave fic ganz von felbft der Gegenſatz 
im Gedanken entwideln mußte: zov Untexausgov zg05Ö0x«0, 
Tov Axpovov x. .A,, und wo biefe reiche Anhäufung nen 
Prädicaten, nad den vorhergehenden gebrängtern Er⸗ 
mahnungen,, einen paflenden Schlußfat bildet. In allen 
Diefen Stellen ift durchaus nichts Fremdes, Unpaſſendes, 
Unzufammenhängendes zu bemerken. Auch in allen übris 
gen Stellen, wo von bem Dogma der Gottheit Ehrifti ges 
redet wird, find diefe fo feit in dem Zuſammenhange bes 
gründet, daß es ald Pſeudokritik erfcheinen muß, ihre 
Ausſtoßung zu verfuchen. Unb doc, behauptet Hr. Dr. 





über die Echtheit der Vriefe des Ignatius. 171 


Lange, daß „Sprache (er meint wohl nur die Dogmatif) 
and. Zufammenhang lehre, daß dieſe Stellen nicht von. 
dem erften Verfaffer berrübren Eönnen.” Soviel wird alſo 
behauptet, bloß dem dogmatiſchen Borurtheile zu Liebe, 
am die Lehre der Unitarier ald die des Urchriſtenthums 
darzuftelen! Mas hälfe es-aber, wenn auch einige oder 
mehrere ſolcher Stellen wegzguftreichen wären? So lange 
3. B. nur Eine Stelle der Art bleibt, wie die ift: ad Eph. 
15. Iva ousv aürod vaol zul aurog % Lv naiv Deög 
Aucv — welche ohne Berwerfung des ganzen Kapitels 
nicht wegzubringen ift, fo lange wird Ignatins für die 
Lehre von der Gottheit Ehrifti zeugen. Hr. Dr. Lange 
müßte alfo überhaupt die Echtheit dieſer Briefe leugnen 
und fie, wie jene Stellen, für Werte eined frommen Bes 
trugs erklären; er müßte ihre Abfaffung in das vierte oder 
"fünfte Sahrhundert feßen, weil fie, im zweiten Sahrhuns 
dert gefchrieben, ed ſey von welchem Verfaſſer auch, ims 
mer nody für das frühe Dafeyn der Lehre von der Gott 
beit Chriſti Zeugniß ablegen, wenn nicht felbft fein anfs 
richtig eingeftandenes Wahrheitsgefühl fich Dagegen fträubte 
: (8. 142). Aber felbfi der ganze Zuſammenhang der dogs 
matifchen Borftellungen des Ignatius zeigt, daß es nicht 
auf Eine oder einige Stellen anfommt, fondern daß bit 
Lehre von der Gottheit Ehrifti nothwendig eine Stelle in 
feinem Syfteme finden mußte. Denn es läßt fichleicht nach⸗ 
weifen, daß in diefen Briefen die Grundzüge eined zur 
fammenhängenden bogmatifchen Lehrtypus vorliegen. Um 
den Rathfchluß, nach weldyem Die Gläubigen vor der Welts 
zeit (z00 alavov, ad Eph. inser.) erwählt waren, zu er, 
füllen, offenbarte fich Gott menfchlicher Weife zur Erneue⸗ 
rung des ewigen Lebens (Hzög avdomzlvag pavepoüras 
sis xauvöornta aiöbov ars, ad Eph.19) und Gott verheißt 
in Chriſto Einigung, das it: fich ſelbſt (Evocır 
Izaypyiliscar, ög &orıv adrog, ad Trall. 9. Das Evan 
gelium alfo, bie Lehre der Unvergänglichleit Cödayn 


172 Arrndt 


&p9aooles, ad Magn.6 5; araoprısna dpPeoslag, adPhilnd. 9) 
verfündigt die Menfchwerbung, den Tod umd die Aufer⸗ 
ftehung Chriſti (ad Philad. 9; ad Smyrn. 7). Denn Er, 
der einige Sohn Gottes (6 uövog viög, ad Rom. inser.) war 
vor der Weltzeit (zoo alavmv, ad Magn. 6) bei dem Vater; 
er ift von Einem Bater ausgegangen, und Eins mit ihm, 
und zurüdgefehrt in ihn (ad.Magn. 7). Er ift im Fleiſche 
(apxın0g) auch nach der Anferftehung,, obgleich geiftlicher 
Weiſe geeinigt mit bem Vater (ad Smyrn, 3). Der Glaube 
ift nun die Einigung (Evasız) mit Gott durd feinen Sohn, 
die Einigung mit feinem Fleiſche und Geiſte (ad Magn. 1). 
Alle Gläubigen find Gottedträger (Heop6goı) und Chriſtus⸗ 
träger. Chriſtus wohnet in ung, Alle follen zufammens 
kommen in Einem Glauben in Einem Chriftus (ad Eph. 15; 
ad Magn. 12; adRom.6). Shriften haben einen unzertrenn⸗ 
lichen Geift, welcher ift Jeſus Chriſtus (ad Magn. 15), fle 
follen fih fammeln, wie zu Einem Tempel, zu Einem 
Altare, wie zu Einem Chrifto (ad Magn.7). Hieran fchließt 
fih nun die Lehre von der Einheit.der Kirche. Dein die 
Einheit der Gemeinde unter Einem Bifchofe ift dem Igna⸗ 
tins ein Bild Der Verbindung der Kirche felbft mit Ehrifto 
und Ehrifti mit Dem Vater (ad Eph. 5). Darin befteht die 
Evadız VagxıxRn nal avsvuorınn (adMagn.13); und daranf 
beruht die fo oft, an jede Gemeinde befonders, wiebers 
holte Ermahnung zur Unterordnung unter den Bifchof, 
das Preybyterium und die Diafonen, und bie dringende 
Warnung vor der Trennung von der Kirche und der Auf⸗ 
löfung der Einheit. Darin ifl, wenn man ähnliche Ermahs 
nungen bei Clemens Romanus (ad Cor. 1. c. 37. 38. 46), 
Sreenäus (cHaer. 3, 40; 5,20 n. a.) und Glemend NAler. 
- (Strom. VII. p.325. Sylb.) vergleicht, nicht. zu Tehen, das 
nicht dem Fortſchritte in der Entwickelung der Lehre von 
der Kirche im zweiten Jahrhunderte gemäß ſcheinen dürfte. 

Man wird leicht erkennen, wie jener ganze Lehrthpus 
ohne feiten Zufammenhang feyn würde, wenn Ignatius 


— 





über die Echtheit der Weiefe des Ignatius. 173 


⸗ 
nach ebionitifcher Vorſtellungsart die höhere Würde Ehriſti 
verleugnet oder nur unberührt gelaffen hätte. Es ift alſo 
unmöglich anzunehmen, daß zwar bad, was Ignatius von 
der wrenfchlichen Erfcheinung Ehrifti fagt, ihm angehöre, - 
aber die Stellen von der höhern Natur Ehrifti ihm ange 
Dichtet feyen. Denn fie gehören in den unauflösbaren, 
feftverbundenen Kreis feiner Borftelungen. So wie nun 
damit von dieſer Seite jeder Verdacht einer Interpolation 
in dDogmatifchem Sinne abgewiefen ift, ebenfe muß man 
ſich auch überzeugen, daß von der andern Seite fein Bere 
dacht einer Interpolation in bierardifchem Sinne Raum 
finden kann. Wir find zu fehr geneigt, den älteften Kirchens 
lehrern unfern Begriff der Kirche, der ſich nadı Entwides 
Iung und Belämpfung des zodtov Yeödog des hierardjis 
fchen Syſtems geiftiger gebildet hat, unterzufchieben, und 
vergeflen zu leicht, daß ſich der Begriff der Kirche nur 
auf hiftorifchem Wege entwidelt hat und nicht anders fidh 
entwiceln fonnte. Wohlen wir nun nicht jenem Zeitalter 
eine fpätere Anficht unterfchieben ober es nach einem für 
baffelbe nicht paffenben Maßſtabe beurtheilen, fo mird es 
uns einleuchten, daß jene Väter die Ordnung der Kirche 
natürlich ald Ein Ganzes, ohne Aeußered und Inneres, 
ſichtbare und unfidytbare Kirche zu unterfcheiden,, betradhs 
teten. Allerdings muß ja auch das Aeußere in der Kirche 
im Zufammenhange mit dem Innern, die fihhtbare Kirche 
als hangend an der innern Gemeinfchaft des Geiftes ers 
fcheinen, wenn nicht der Begriff der Kirche ganz verfchwins 
den.foll. Die apoftolifchen Väter wären um fo mehr zu 
folcher Auffaffung der Firchlichen Einheit veranlaßt, je 
mehr bei dem Gegenfabe gegen Heidenthbum und Juden⸗ 
thum an ber gefchloflenen Ordnung der äußern Gemein⸗ 
fchaft gelegen war, und je mehr es derfelben gegen die fidh 
abfondernden und die Gemeinfchaft gertrennenden Hären 
tiber dedurfte. Dabei ift nicht zu leugnen, daß aus übers 
mäßiger Ausbehnung des Gewichts, das auf bie Einheit 


AT Arndt 


ber aͤußern Kirche gelegt wurde, die fpätern Auſprüche 
der Hierarchie entflanden, nachdem bei dem allmählichen 
Zurücktreten der lebendigen geiftigen. Gemeinfchaft der Aus 
ßern Form derfelbe Werth zugefchrieben und auf fie eben» 
Diefelben Prädicate übertragen wurden, welche ihr nur im 
Berbindung mit ber lebendigen Gemeinfchaft zukommen. 

Doch dieß weiter aussuführen, möchte es hier au Raum 
fehlen. Genug, um den Punkt zu fehen, bie zu welchem 
die Kritik das fo lange hin⸗ und hergefchobene Problem der 
ſteben Ignatiusbriefe zu e— verſuchen muß, um es 
zu loͤſen! 


— 


Nachtrag. 


Seit der vorſtehende Aufſatz niedergeſchrieben war, iſt 


in den Anfängen der chriſtlichen Kirche und 
ihrer Verfaſſung (Ir Bd. Wittemberg 1837) vom 
Hrn. Prof Ri. Rothe, jetzt zu Heidelberg, in eimem 
Buche, deſſen Durch tiefgehende Unterſuchungen begründe⸗ 
ter Inhalt auf eine bisher verkannte und doch gewiß allein 
baltbare Vorftellung von der erften Bildung der chriftlidyen 
Kirchenverfaflung führt, eine fo durchaus befriedigende 
Rechtfertigung der Echtheit der ignatifchen Briefe erſchienen, 
daß ed mir willflommen feyn muß, auf die Uebereinſtim⸗ 
mung meiner Leberzeugung mit dem Reſultat einer fo. bes 
fonnenen Forſchung hinweifen zu Dürfen. --- 

Hr. Prof. Rothe bat zuerft „den Gehalt Diefer Briefe 
auf eine lebendige Weife in den geſchichtlichen Zuſammen⸗ 
hang hinein conftruirt, in welchem er veolkftändig aufgeht” 
(S. 738). Er hat dieß gethau, indem er den Beweis ge⸗ 
führt hat, daß die Gründung der Kirche, d. h. eines ges 
regelten, eigentlidy firchlichen Bereind nicht früher, als mit 
dem Ende der früheren ober eigentlich fo zu nennenden 
apoftolifchen Zeit (bis 3. J. 70): eintrat, daß die Anftalten 
sur Grünbung berfelben von ben Apoſtein ſelbſt getroffen 

















[4 


über die Echtheit der Briefe bes Ignatius. a75 


wurden, und daß diefe Anftalten in der Iuftitutkon des 
Epiſkopats im eigentlichen Siune beftanden (S; 316 
443). Daß man es nun in der zunächſt anf bie. apoftolifche 
folgenden Zeit als eine Beſtimmung des Epiffopatsı bes 
tradıtete, ein Organ ber Firchlichen Einheit zu ſeyn, kommt 
zur heilften Evidenz durch Die Briefe des Ignatind, indem 
die drei durch alle.Caußer dent an die Römer) fich. hinzies 
henden Grundgedanken: 1) Warnung vor der Verführung 
der Häretiter, 2) Ermahnung zur Bewahrung ber kirch⸗ 
lichen Einheit, 3) Anfchließung an den:Bifchof, die Prefs 
byterer und Diakonen, ſich in diefen Briefen fo verfnüpfen, 
Daß das Erfte als durch das Zweite und dad Zweite als 
durch das Dritte bedingt und folglich der Epiffopat ale 
das alleinige Mittel zur Erhaltung der Eintracht und Eins 
heit unter den Chriften und hierburdy auch zur Erhaltung 
der unverfälfchten apoftolifchen Lehre erfcheint (S. 44T), 
Run aber macht Ignatins, wie die Gemeinfchaft Des Eins 
zelnen mit der Kirche von der Gemeinfchaft mit dem Bis 
fhofe, fo aud die Gemeinfchaft der einzelnen Chriſten⸗ 
gemeinden mit der allgemeinen (katholiſchen) Kirche. vom 
Epiſkopat abhängig, ale dem alle einzelnen Gemeinden 
zu einer fatholifchen Kirche verfnüpfenden Organ, und’ es 
“finden ſich bei ihm Die aus dieſer Anficht fließenden Con⸗ 
fequengen, daß ihm nämlich die durch Die Verbindung mit 
der Kirche bedingte Gemeinfhaft mit Ehrifto wiederum 
bedingt ift durch die Gemeinfhaft mit dem Bifchofe, daß 
die Berwaltung der Sacramente nur durch den Bifchof 
Gültigkeit habe, und daß die’ Tradition der echten chriftli⸗ 
chen Lehre von den Bifchöfen bewahrt werde (S.467—470). 
Sa, er fpricht audy klar den Sat aus, daß der Epiſkopat 
als eine Repräfentation und ale das Organ der firdhlichen 
Einheit zu betrachten fey (S.471— 478), und hiezu flimmt 
auch der ihn defeelende, überall bezeugte, fenrige Wunſch, 
bas innige Zufammentreten aller: einzelnen Gemeinden zu 


AT 0 7:07 Handke 


beförbeen (S. 419). Eine: gleiche. Betracdktungeweife bes 
Eyiftopats findet: ſich bei Elemend von Rom, Polykarp, 
Dionyſius won Korinth, Srenäns und in.den Elementien. 
Daß. nun aber der Begriff des Epiflopats bei Ignatius 
fein.anderer etwa, als der urfprängliche feg, wird. daraus 
erweislich, daß bei ihm der Epiffopat als Fortfebung des 
Ayoftolats erfcheint,.wie hei Glem, Rom. und Irenäus, 
und damit ftimmt der Schluß zuſammen, den wir aus der 
Natur eined von. den Apofteln für die Einigung der Ger 
meinden zu einem firchlichen Ganzen zu gründenden Amtes 
ziehen. Dieß mußte in Bezug auf die Organifation und 
‚Leitung ber äußern chriftlichen Gemeinſchaft eine höchfte 
und entfcheideude Auctorität haben (Schlüſſelgewalt in 
weiterm.Sinne), alfo eine fonveräne Auctorität in Bezie⸗ 
bung fowohl auf die Leitung der einzelnen Rocalgemeinden 
als folcher, als audy der Geſammtheit derfelben und ihrer 
gemeinfchaftlichen Angelegenheiten, und zwar eine folche 
Ayctorität, die von einer Mehrheit von Individuen folis 
dariſch verwaltet werden follte, welche natürlich. nur von 
gbeufo vielen Individuen, ald es befondere Particulärs 
gemeinden gab, verwaltet werden konnte, die zugleich 
jeder für feine Perſon an der Spike der Einzelgemeinden 
‚ Manden, fo daß durch die Einheit des Epiſkopats unmit⸗ 
teilbar zugleich die firchliche Einheit felbft und ein Zuſtaud 
wirklicher kirchlicher Einigung zu Stande gebracht war 
(5.519 —522), . 

Was id; nun oben für den Beweis der Echtheit ver 
iguatifchen Briefe für meinen Zweck nur anzubeuten hatte, 
die Stärke der für fie fpredyenden innern Gründe, hat 
Hr. Prof. Rothe in einer befondern Beilage mit Klars 
. heit und überzeugender Kraft ausgeführte. Da für die 
Echtheit diefer Briefe nicht nur der Eindruck einer eigene 
thümlichen Zeit fpricht, Die nicht mehr die apoftolifche 
und doch auch nicht Die der Mitte des gweiten Jahrhunderts 








über die Echtheit der Briefe des Ignatius. 177 


iſt a), fondern auch der Eindrud einer entfchieden eigen» 
thümlichen Perfönlichkeit, die fich fo durchgehends in ihnen 


e) Was bie Kenntniß des Ignatius vom Kanon bes N, T. betrifft, 
fo laͤßt fi) zwar, zumal bei dem geringen Umfange ber 7 Briefe, 
nicht ftreng erweifen, baß ihm nicht mehrere Büdyer belannt was 
zen, als diejenigen, auf weldye Anfpielungen bei ihm vorfoms 
men, doch würde ber entgegengefeute Ball, wenn ihm alle Bücher 
des N. I, bekannt wären, bedenklich machen. Folgendes iſt das 
BVerzeichniß der Stellen bes N. T., auf welde — An⸗ 
ſpielungen bei ihm vorhanden ſind. 


Matth. 8, 26 — Smyrn. 1. 
8, 17 — Polyc. 1. 
10, 16 — ib. 2. 
12, 83 — Eph. 14. 
15, 13 — Puilad. 8; Trall. 11. 
' 16, 26 — Rom. 6. a 
18,1.  — Eph. 5. 
19, 12 — Smyrn. 6. 
Joh. 8, 8 (8, 14) — Philad. 7: 
1 Kor. 1, 10 — Eph. 2. 
1, 18. 19. 20 — ib. 18. 
6,7. 8 — Magn. 10. 
6, 9 — Eph. 16. 
15, 8 — Rom. 9. 
2 Kor. 4, 18 —ib $ 
Eph. 5, 2 Eph. 1. 
5, 25 — Polyc. 5 
Shilipp. 2, 10 — Trall. 9. 
130. 4,2, 3 — Smym. 5; 
Hebr. 8,6. 7 — Philad. 9. 


: 9, 12. 24 — — 359 
Benn y begmeifet worben ft, ob die Anfpielungen auf Matthäus 
und Sohannes Evangelium ſicher feyen, fo will ich wegen bes 
erſtern nur beMmerfen, daß die Stelle ad Polyc. 1: ads zig 
wöcovg Baorate, für ſich allein ſchon entfcheiben muß, inbem 
diefer fo auffallende Tropus ſich nur aus Matth. 8, 17. erklären 

laͤßt, wo die Gtelle Jeſ. 58, 4. fo überfest wird: avzös züg- 
achevsiag jur Nlaßs xal ras vooovs dßdezaoe, während die 
LXX. haben: rag duagrlag nusv Yigsı al mag) navy döv- _ 
vüras Wegen bes Ev. Joh. aber Tann die Stelle ad Philad. 7: 
olds ydg [rd zvsüpa], woher Füzeraı al mod dxdyss, nicht 

13 


Theol, Stud. Jahrg. 1889. 





178° j Arndt 


bezeugt, Daß baburch ber Verdacht Ber Interpolation Durchs 
aus abgewiefen wird (S. 723), fo fann der Grund ber 
Stepfid (neben dem Mißgeſchicke, daß zuerft die interpos 


lirte Recenfion befannt ward) nur in der fcheinbaren Un⸗ 


möglichkeit, die hochgefpannten Borftelungen vom Epis 
flopat in die Gefchichte einzuorbnen, befonderd bei dem 
polemifchen Sntereffe, gelegen haben. Wenn ed nun audh 
einleuchtend zu machen ift, baß in fpäterer Zeit bei ſchon 
befeftigter bifchöflicher Auctorität diefe Ermahnııngen durchs 
aus nicht anwendbar, ja lächerlich gewefen wären, und 


: daß die hier herrfchende Vorftellung vom Epiftopat eine 


ganz eigenthümliche ift, indem feine Spur von einer Unters 


ordnung der Bifchöfe unter einander und von beftimmt 


organifteten Formen der Communication der Gemeinden 


ns 


fi) zeigt, dem Bifchof überall der Rath der Prefbyteren . 


zur Seite ſteht und fogar ein allgemein chriftliche® Prie⸗ 
fterthum vorandgefeßt wird a), fo ift Doch damit das 


als ein zufälliges. Bufammentreffen mit Joh. 8,8. und 8, 14, 
(wie Dtshaufen, Echtheit ber Evangelien ©. 264., glaubt) betrach⸗ 
tet werden, weil bas Zufammenflimmen zweier, bei Johannes 
zweimal ebenfo verbundener, Redensarten nicht wohl zufällig 
feyn kann. (Es darf nicht auffallen, wenn Ignatius vom Seilbſt⸗ 
bemußtfeyn bed zrsuua pofitin ausfagt, was Johannes neg a⸗ 
tiv vom fleifchlicen Menſchen. Die Worte in Chriſti Munde 
(30h. 8, 14) zeigen auch. deutlich, daß der Ausdruck überhaupt 
‚die übernatürlihe Abkunft bezeidhnet, gerade wie bei 
Ignatius.) Uebrigens gehört das Einflechten von Stellen des 
N. T. ohne wörtliches Citiren fo augenſcheinlich zu ben Eigen⸗ 
heiten bes Ignatius, daß man befhalb um ſo mehr diefen Spu⸗ 
sen. trauen darf. Aus diefem Grunde wird: auch, denke ic, bie 
Vermuthung immer die wahrfcheinlich ſte bleiben, daß die 
Stelle ad Smyrn. 8. eine freie Citation von Luk. 24, 89 — 48, 
verbunden mit Apoſtelg. 10, 41, iſt, und nach her erſt in bie 
apokryphiſchen Schriften, das znguyna Ildsgev, werin fie Oris 
genes, und das svayy.,ua®” ‘Eßgalovg, worin fie Pitvongmus 
fand, aufgenommen wurbe, 

a) Die Stelle adPhilad.9: zaie) xel ol —— will Hr. Prof. methe 
(S. auf das allgemeine Prieftertpum aller Chriſten begichen, 





[i 


# 
I) + 


über die Echtheit der Beiefe des Ignatius. 179 


Hauptbedenken der Kritik erft zur Hälfte gehoben, und bie 
eigentliche Köfung der. Skepfis liegt in der Nachweifung 
der Entftehung des Epiftopats nicht — wie nadı bergen 





zu welchem Gebanten in ben naͤchſtvorhergehenden Worten: dv 
si zge0surj Uuoe, ber Mebergang gemacht werde. Aber obs 
gleich. oͤfter bei Ignatius auf die Kürbitte der Gemeinde ein fo 
hoher Werth gelegt wird, To ſcheint doch ber Zufammenhang 
zwiſchen biefer Idee und dem Priefterthume durch nichts begrüns 
det, weil bie Fürbitte allein das Weſen bes Priefterthums noch) 
nicht ausmacht. Dan dürfte alfo nur an die Priefter des A. T. 
denken, über welche Chriſtus als des ewige Hohepriefter hervor⸗ 
ragt. Der Gedanke Enüpft ſich an ben Hauptbegriff bes vorher⸗ 
gehenden Satzes, Inoovg Keıorog, an, und man darf dabei wohl 
eine Beziehung auf den Br. an bie Hebr. (vergl. 4,14; 7, 265 
9, 11. 12) annehmen. Uebrigens ift ber Gebante eines allges 
. meinen Priefterthbums der Chriften bei Ignatius klar in ber 
©telle ad Eph. 12: IIavAov svupveras, ausgebrüdt und befons 
ders ad Eph. 9: dort odr xal suvodoı adrzes, Bzopögo: xal 
vaogpogoı, zgL0ropögoı, ayıopögoı. — Bei diefer Stelle fey 


exlaudt, zu erinnern (in Bezug auf S. 719. Anm, 10), daß ber 


Name Gsoypsgos, ben freilich jegt bie Veberfchriften aller Briefe 
als Zufag zu dem Ramen ’Iyvarıog haben, von keinem der äls 
tern Kicchenfchriftfteller, die des SIgnatius gedenken,’ erwähnt 
wird, fondern erſt feit dem ſechsten Jahrhunderte vorkommt, 
zuerſt bei Leont. Byzantin. de sectis act. 8. (denn bie Gitate 
aus Ephraem und Jobius Monachus bei Photius Cod. 227 und 
222 Bekk. p. 258 a und p. 195 b. ebenfalls aus dem fechsten 
Jahrhunderte, find nicht fiher, da Photius fie nach dem ihm 
geläufigen Ausbrude mobificktt haben kann, und bie Acta mar- 
tyrii Ign. find, wie fi) aus dem ganzen Ton und ber Sprache 
ergibt, gewiß nicht älter). Es entfieht daher ein gerechter Zwei⸗ 
fel an der Urſpruͤnglichkeit diefed Namens. Cinen ehrenden Bei⸗ 
namen dieſer Art, der von Ignatius felbſt, in jener Stelle 
Eph. 6, wie von den aͤltern Kirchenlehrern überhaupt (ſ. Suicer. 
—3. v.) allen Ehriften gegeben wird, hätte ſich wohl ber Märs 
tyrer am wenigſten felbft zugeeignet. Der Grund biefer aus⸗ 
zeichnenden Benennung mag aus: ber fpätern Sitte, die Märs 
tyrer mit einem Beinamen, wie d delos, 6 Beomlaıog, © pa- 
adgros, zu erwähnen, abzuleiten feyn. So wäre denn das 0 
xal @eopögeg in ben Weberfchriften ber -Briefe als unechter 
Bufag zu bezeichnen. 
ee 


\ 








S 


180 Arndt 


brachter Vorſtellung — durch eine allmähliche Erhebung 
Eines der Presbyteren, ſondern durch apoſtoliſche Inſti⸗ 
tution. Iſt nun aber, wie es Hr. Prof. Rothe zuerſt, nach 
Kiſt, vollſtändig geleiſtet hat, nachgewieſen, wie ſich aus 
den in dieſen Briefen enthaltenen Elementen die Geneſis 
des Epiſkopats auf eine befriedigende Weiſe conſtruiren 
laͤßt, ſo fällt auch damit das eigentliche Hinderniß der 
Anerkennung ihrer Authentie hinweg (S. 738). 

Die Bündigkeit des Beweiſes läßt hier nichts vermiſ⸗ 
ſen, und die Klarheit und Sicherheit in dem Gedanken⸗ 
gange des geiſtreichen Verf. muß jeden Leſer zu der Ueber⸗ 
zeugung erheben, daß ſeine Darſtellung das Richtige ge⸗ 
troffen hat. | Ä ; 

Ebenfo fcharf und jeden Zweifel ausfchließend ift der 
Beweis (S.740.ff.) für die Unechtheit des Terteg 


ber längern Recenfion cB) der Briefe. Es wird 


nämlich 1) zugegeben, daß diefe fchon unter Gonflantin, 
zu welcher Zeit das Chronicon Paschale gefchrieben ſey a), 
vorhanden war; aber da Athanaflus, Eufeblus, Hierony⸗ 


a) Nach einer bloßen Vermuthung von Luc. Holftenius behaup⸗ 
tete Du Gange (Chr. Pasch. II. p.16.), baß ber erfte Theil dies 
fer Ehronik bis 354 von dem urfprünglichen Verfaſſer herruͤhre, 


| .. ‚ber übrige bis 628 fpäterer Zufag fey. Aber auch in dem frübern 


Sheile kommen ſchon eingeſchobene Stellen fpäterer Abfaſſung, 
Auszüge aus Epiphanius, Gregor von Nazianz, Cyrillus, Baſi⸗ 

lius u. A. und Beziehungen auf Chryſoſtomus (S. 487.), auf Euty⸗ 
ches, auf Apollinaris (S. 447.), auf das Feſt der Verkuͤndigung Ma⸗ 
sid ꝛc. vor. Es gilt alſo offenbar nicht der Schluß von einem 
darunter vorkommenden Gitat aus ber längern Recenfion bes 
Ignatius auf eine frühere Entflehung derfeiben. Da unter fo 
vielen Stellen bei Zohannes Damafcenus nur zwei aus Trall. 4. 
(Parall. s° 28; x 13) Spuren einer leichten Interpolation ent⸗ 
halten, fo läßt fi nur glauben, daß erft nach dem a hten Jahr⸗ 
hunderte die maßlofe Interpolation entftanb, nachdem fie zuvor 
in einigen Stellen in geringerem Maße verfudht worden war. 
Auch die Stelle in dem Chron. Paschale wich bann wohl erft fpäs 
tes in dieſes eingefchaltet werben ſeyn. 


über bie Echtheit ber Briefe bed Ignatius. 181 
mus, Theodoret (und noch Joh. Damafcenus) die fürgere 


Rec. (A) citiren, fo folgt daran nichts gegen dieſe. Fer⸗ 


ner wird 2) in Hinficyt auf die angeblich in A enthaltene 
fpätere nicänifche Borftellungsart von ber 
Gottheit Ehrifti gezeigt, daß in A die Gottheit Ehrifti 
nicht ftärfer betont fey, als in B, daß die Vorftellungsart 
in-A eine noch dogmatifch unentwidelte fey, und daß B- 
immer dogmatifch unverfängliche Ausbrüde, dagegen A 
bie von unmittelbaren Einbrüden ausgehenden habe, wel 
che auch in den bewegteren Stellen in A mehr hervortres _ 
ten. Endlich 3) in Hinficht auf Die vom Hru. Prof. Dieter 
bemerfte ſprachliche und ſtyliſtiſche Beſchaf⸗ 
fenheit des Textes in A wird zuvörderſt mit richtiger 
Einſicht in das diplomatiſche Verhältniß des Textes zuge⸗ 
geben, daß in einzelnen Stellen in B die richtige Lesart 
fich erhalten habe, aber ed wird auch Eorruption des Tex⸗ 
tes in B nachgewiefen; fodann wird in B nicht nur die 
Breite der Darftellung, die fih in müßigen Epis 
theten, in eingeſchobenen, felbft fchlecht paflenden Bibels 
ftellen, in biblifchen Phrafen und Dogmatifch s polemifchen 
Stellen verräth, fondern andy das fihtbare Streben 
nad größerer Deutlichleit und Leichtigkeit 
bemerklich gemacht, indem oft fogar der Zufammenhang 
geftört und ftatt des Schwereren und Härteren ein fließens 
der Ausdruck gefeßt wird. Noch wird bewiefen, daß B 
auch in andern dogmatifch bedenklich fcheinenden Punkten 
unverfängliche Ausdrüde einfchwärzt und die hierardjis 
fchen VBorftellungen von A fo befeitigt, wie fie nad) dem 
verfchiedenen Zeitalter erfcheinen mußten. Auch auf den 
in B voAftändig befannten Kanon, auf bie felbft anachro⸗ 
niftifche Polemit gegen Häretiker, auf die Stellen über das 
Kaften, auf die hierarchifchen Vorftellungen fpäterer Zeit, 
auf die Verwandtſchaft mit den apoftolifchen — 
nen wird aufmerkſam gemacht. 

So hat Hr. Prof. Rothe das, was ich — Beurthei⸗ 


f 


482 Arndt 


Img und Vergleichung⸗der einzelnen vom Hru. Prof. Meier 
angezogenen Stellen zu zeigen verſuche, bereits aus der 
Charakteriſtik der interpolirten Recenfion im Ganzen und aus 
der Vergleichung mit der echten ſo genügend und ſo ſchla⸗ 
gendidargethban, daß id; um fa ſicherer auf die aus den 
einzelnen Stellen. hervorgehenden Refultate hinweiſen darf. 
In Bezug anf die Erflärung einzelner fchwieriger Stellen 
erlaube ich mir noch einige Bemerkungen beizufügen. 

- Die vielbefprochene Stelle ad Philad. 8. hat Hr. Prof. 
KotheS.339 Anm. behandelt und gewiß den Zufammenhang 
im Ganzen richtig ausgelegt. Zwar hat die med. Handſchrift 
Ju zoig apyeloıg, Anglie.: in veteribus, Vulg.: in an- 
tiqgeis. Wollte man aber diefe Ledart behalten und etwa 
mit HR. Niemeyer cin ber Oppoſitionsſchrift von Schrös 
ter, 11. 2. 1829) ein Wortfpiel zwifchen ol dpyaioı und ra 
apysie annehmen, fo würde bieß theild ein fehr froftiges 
.  feyn, theils nicht einmal der Zufammenhang klar werben. 

- Deßwegen zog Hr. Prof. Rothe mit Recht dieinB erhaltene 
‚Lesart 2v roig apzeloıs vor“). Die flreitfüchtigen, nicht 
Chriſtum zu lernen begierigen (æcer ägıdslav, od zera 701- 
. Grouadlev) Gegner des Ignatius verlangten einen Bes 
weis für das Evangelium, d. i. für die Berkündigung ber 
Thatſache der Erfcheinung Chrifti, aus beglaubigten Urs 
fanden: Wenn er nun antwortete: ed ſtehe fo gefchrieben, 
nämlich eben in jenen Urkunden, fo entgegneten 
fle: Ors zpoxasaı. Dieß ift Hr. Prof. Rothe geneigt zu er⸗ 
. Hören: „Das liegt freilid am. Tage, aber damit 
iſt die Sache nicht abgethan, nicht nur überhaupt fchriftlis 
de, fondern öffentlich beglaubigte Nachrichten von 
Ehrifto verlangen wir.” Allein gegen diefen Zuſammen⸗ 
Yang: ber Stelle Drängen fih manche Zweifel auf. Denn 


a) Daß agzsia (was Credner, Beiträge I, S. 16, bezweifelt) Urs 
kunde heißt, erweifet Dionys. Halic. Arch. 2, 35: uergı räs 
sis Tü agzeie dyygapiis, und Ioseph. c. Apion. I. p.1085. &v roig 

"dozuloig vöu Demwixow. - 








über bie Echtheit ber Briefe des Ignatius. 183 


geſetzt, es laſſe fich goxeiohes fo nehmen (welches Wert 
doch eigentlich — weorsdsishes ift), fo iſt Doch ein Gegen⸗ 
fag gegen die Antwort des Igmatind hineingetragen, ber 
offenbar nicht im Bufammenhange liegt. Denn morin ſollte 
Ignatins gefagt haben Or yEypazsız,' ald eben in den. dp- 
zslosg, von denen die Frage war? Sodann läßt ſich nicht 
denen, daß Ignatius fo abgebrochen hätte, indem er bloß 
auf das legte Fundament feiner Ueberzeugung, bie That⸗ 
fachen des Todes und. der Auferftehung Chriſti, zurückge⸗ 
gangen wäre, da doch immer eine andere Antwort vorhan⸗ 
den lag. Der Ausbrud, welchen Ignatins nachher von eis 
ner unverfälfchten Urkunde (ra adıxra apzeie ift nach 
B zu leſen flatt @önxeu) gebraucht, deutet auf einen ans 
‚bern Zufammenhang. Es ift nämlich wooxsızas, wie p0- 
xsiuevov Eorıw, in der Bedeutung zu nehmen: Es ift bie 
Frage, ed fragt ſich eben, ob fo gefchrieben fteht, oder 
ob die Urkunden verfälfcht find Cein Gegenſatz, der ſtreng 
im Zufammenbange liegt). Daß die Gegner fo antwor⸗ 
ten, ift gerade der Beweis ihrer Streitfucht, der JgwWele, 
und nicht der zessrouedle. Nimmt man die Autwort fo, 
daß nur aus bloßer Streitfucht noch die weitern Beweife 
für das yypanını aus unverfälfchten Urkunden ges 
fordert werden, fo hat der Märtyrer ein Recht, fo abzus 
"brechen, wie er thut — denn bie Zoidele liegt am Tage — 
und zu zeigen, wie die ggıorouadle thue, indem fie an bie 
unverfälfchten Urkunden appellirt. To zooxsiusvor 
heißt auch in der philofophifchen Sprache das vorlies 
gende, in Frage ſtehende Problem, wie bei Ari- 
stot. Analyt. prior. II, 11,4: ou Öslxuuras ro mgonelusvor. 
-e. ib. 18, 1, 3 et I, 1: ag Ösl Enrsiv zspl ToU wgoxsipt- 
vov. Topic. II, 4, 5: - Gxoxsiv di Tod nboxsıubvov, tlvog . 
Bvrog ro npoxsiusvdv Zurıv. So fagt ſchon Herodot 3, 
83: yvanas vosig zgoxdareı — ftehen zur frage. — Die 
obige Auffaffung deutet fchon Thom. Smith an: Hoc 
a nobis proponitur et in medkem ebiloitur, tangaam cardo- 


144 — Arndt 
controversise, | que fam alterutrinque disceptanda et dis- 


eutienda erit. Immodestum hoc postulatum de istis ar- 
chivis conquirendis et consulendis reiicit sspientissimus 
martyr. Und C. A Döderlein cin einem Programme: 
Initium novae academiae Bützov. 1760): Hoc ipsum ad 
disputandum propositum est, num: ita scriptum sit. 

Die Stelle ad Magn. 3. ift ©. 436 — 443. umftändlis 
cher behandelt und ed werden die Worte 7 Yaıvousvn ven- - 
zegien rafıs mit Salmafins von der noch neuen hierars 
hifchen Ordnung des Epiſkopats verftanden und ald Zeugs 
niß für Die fpäte Einführung des Epiffopats gebraucht. Aber 
1) ift, wie der Bf. S.441. felbft gefteht, das vorhergehende 
Gala nur von dem jugendlichen Alter des Bifchofs zu vers 
fiehen, wegen ber beigefügten Warnung un .ovyyoächer 
co Axlg. Nun fteht aber unleugbar diefe Phrafe mit dem 


. Kolgenden durch ein xadog in fo enger Verbindung, daß 


man ben Zufanmenhang nicht trennen darf; 2) ift pauwo-. 
gtvn nicht durch ſchein bar zu überfegen, welches do- 
xoũõoc ſeyn würde; 3) daß die gleiche Ermahnung zur Uns 
terwürftgleit unter ben Bifchof fich durch alle Briefe hin, 
durchzieht, hindert nicht, daß gerabe hier in Magnefia ein 
befonderes Hinderniß diefer Suborbination berüdfichtigt 
wird. Was aber 4) die Hauptfache ausmacht, Hk, baß 
veoorspixog nicht fchlechthin für vos gebraucht werden 
Tann. Es iſt das, was bem Jungen oder Zugendlichen 
eigen ift,. und kann daher mit zadıs verbunden nur den 
Sinn haben, welden Pearfon in den S. 439. Anm. 144. 
angeführten Stellen richtig angibt — veorng (daß Pears 
fon veor. rekıs von der Ordination des Bifchofs in noch ° 
jugendlichem Lebensalter verfiche, ©. 437. Anm. 142., finde 
ich bei ihm nirgends). Das Wort rabıs iſt eigentlich 
Stellung Es wird aber nicht bloß vom Orte (wie 
3. B. ganz eigentlich von der Schlaphtlinie: 7 9x6 Tod orex- 
znyoü tdfıg taydeice, Demosth. de Rhod. lib. p.200.R.), 
ſondern auch von jebem Verhältniſſe zu andern Perfonen . 








über bie Echtheit der Briefe des Ignatius. 185 


oder zur Gefellfchaft gebraucht, in welchem Jemand ficht. 
&s Demosth. zepazgsoß. p. 343 extr. sis rlva rakıy bav- 
zov Exrafev Aloyluns &v ri rwoAırele zo æorov; welche 
Stellung nahm er ein? Id. pro cor. 313: olxtrov zd- 
Ev, oox disudigov audog Erov, in der Stellung eines 
Dienftboten. So wäre alfo venzegixn rakıs die Stellung 
des Jünglings, die felbigem als ſolchem, dem Alter nach, 
zukommt, ein gewählterer Ausdruck für vexga nAıxla, um 
zugleich das aus dem Alter folgende natürliche Verhältniß 
zu bezeichnen. Dazu jeßt der Verf. nun das Wort Yaıvo- 
givn, d. i. (nicht etwa: die fcheinbare, nicht wirkliche, fons 
dern) die erfcheinende, bem finnlichen Menfchen wahr, 
nehmbare Stellung eines Jünglings zur menfchlichen Ges 
fellfchaft. Damit wird alfo fehr treffend der Gegenſatz dies 
fer Stellung des noch jungen Mannes zu derjenigen höher . 
ven Stellung bezeichnet, zu welcher ihn als Bifchof fein 
Amt berechtigt und verpflichtet, und welche nicht den Sin⸗ 
nen, fondern nur dem Geifte und Glauben wahrnehmbar 
ift. Auf diefe Weife verftanden, ift Die Stelle ganz dem Zu⸗ 
. fammenhange gemäß. Man lefe nur weiter bie zu Ende 
des Kap., wo eben fo der unfidhtbare Epiffopos, Gott, 
dem fichtbaren (BAcæousvog) gegenüber geftellt wird, wie 
vorher erinnert ward, nicht die erfcheinende jugendliche 


— Stellung des Biſchofs anzuſehen, ſondern als die in Gott 


Verſtändigen ihm Achtung zu bezeigen. Pearſon macht 
übrigens mit Recht darauf aufmerkſam, daß Ignatius die 
Einſetzung des Epiſkopats nicht eine neue Einrichtung nen⸗ 
nen konnte, da er ſie ſelbſt auf die Apoſtel zurückführt. In 
dieſer Hinſicht verdient die Stelle ad Philad. init. Aufmerk⸗ 
famleit, wo ed von dem Bijchofe, den Prefbyteren und 
Diakonen, alfo dem ganzen hierarchifchen Gemeindevorſtan⸗ 
"de heißt: amodsdeıyulvovg iv yvoauy Inooõ Xgısrod, 
oüg xard 16 1dsov Hinue Zormgıtev Ev Peßauoovvy zo 
aylo adrod zvevnori, d.i. die in dem Sinne Jeſu 
Chrifti beftellt find, die er nad feinem Willen feftiglich 


186 Arndt, über bie Echtheit ver Briefe bes. Ignatius. 


beftätigt hat durch feinen heiligen’ Geift. Hier deutet bes 
ſonders das vocabulum forense dxodsınvuve auf bie Ein» 
fegung des Amtes, welche in dem Sinne Chriſti, 
nämlich durch Die Leitung des Geiſtes vermittelſt der Apoſtel, 
geſchehen iſt. Vgl. ad Eph. 3, worüber S. 471 ff. handelt. 

Bei der ©. 769 citirten Stelle ad Eph. 13: ovv£oze- 
oda zig eugaguoulav Osoũ xaı sig Ödkav — möchte die 
Gonjectur eig dogiv fchon das gegen fidy haben, daß dieß 
Wort in der Bedeutung vom Abendmahle fpätern Gebrauchs 
if. Aber aus dem Borhergehenden ergänzt fich leicht die 
Beziehung auf Deoö; vgl. ad Magn. 15, ad Rom. 10, ad 
Polyc. 4, wo überall eis do&au Beod fteht. Auch. ift do- 
Eabeıv in dem eigenthümlichen Sinne lobpreifen, vers 
herrlichen in Worten; ad Philad. 10: dofaoaı To 
övoua. — ad Smyrn. 1: dotato ’Insoöv Xguorou row 
9s6v. — ad Eph. 2: dokagev ’Inooöv Xo. —: ad Polye. 
7: iva — do&don Dusv iv ayarinv sis Öokev Xoustod. . 
— ib, c.8: iva Öofacdhire aiavim Epyo. Die Bezeichs . 
nung des Gottesbienftes und der Loblieder in der Gemein, 
de ift alfo Har. ' 

Endlich S. 253. Anin. 109. wird die Stelle ad Smyrn. 
13: rdg zapdvovg rag Aeyoulvag 1noes, von Zungfrauen, 
bie in dem Amte der Diakoniffinnen ftanden, erflärt. Daß 
aber bier nicht eigentliche Sungfrauen verftanden 
werden füllen, deutet aufs beftimmtefte der erflärende Aus⸗ 
druck zag Aeyoutvas an. Es find Wittwen, wie fie heis 
Ben, obgleith fie — nad) dem prägnanten und ſymboliſi⸗ 
renden Ausdrucke des Ignatius — geiftlicher Weife Jung « 
frauen, in jungfräulicher Keufchheit Lebende, find.. Es 
werden alfo die zu dem yngınov erlefenen Wittwen vers 
ftanden, den Familien, die er vorher grüßen läßt, entges 
gengefegt. Ebenfo fagt von den Wittwen Tertullian (ad 
ox. 1, 4): Malent Deo nubere‘, Deo speciosae; Deo sunt 
puellse. Und Clemens Aler. (Strom. VII, p. 315. Sylb.): 
7 joa dA omppoovung audıg vagdävog. 


ÿ 





1. 


Probe einer Audlegung der Schöpfung: 
geſchichte der Geneſis. 
(Kap. 1--2, 4.) 
Bon 
F. W. € Umbreit. 


Ds alte Teftament beginnt mit ber einfachserhabenen 

Darlegung des oberften Glaubensſatzes ber Offenbarung, 
von welchem freilich die fich felbft genügenbe- Philofophie 
fo wenig etwas weiß, wie jene Philologie, welche die ſo⸗ 
genannte Schöpfung aus nichts Ierifalifch nur aus dem 
Worte na erweifen will. Aber fchon ans ber fcharfen 
Scheidung Gotted von der Welt, die dem fittlichen Geifte 
des Hebraifmus feinen Grund und Charakter gibt, folgt 
son felbft, daß in dem Anfangsworte der Genefid nicht 
die heidnifche Vorftellung von einer ewigen Materie neben 
Gott, zu der er ſich nur ald ordnender Künftler verhals 
ten, zu fuchen fey. Gegen diefen Sinn bed Berfes fpricht 
fchon, daß may ohne Object fteht, während es fonft ges 
woͤhnlich mit einem folchen verbunden ift; denn ed war ja 
noch nichtd vorhanden, wovon es der Anfang feyn konnte, 
Hätte der Berf. das unabweisbare Poftulat des religiöfen 
Glaubens eines unbebingten Urfprungs der Welt aus dem 
göttlichen Urgrunde nicht ausdrücken, ſondern nur eine 


190 NE 


zeitliche Geftaltung bes Chaos behaupten wollen, fo wäre, 
fharf genommen, die ftarf betonte Voranſtellung des 
monns unnöthig geweſen. Das der ‚alerandrinifchen ' 
Ueberfegung entnommene &v aexi (Joh. 1,1) fpricht rück⸗ 
wärts auch für unfre Auffaffung; denn wenn ber Logos 
bei Gott war, fo muß er außer aller Zeit, folglich vor 
Entftehung alled Gewordenen gedacht werben. Bei dem 
durch Das ganze alte Teftament fich hindurchziehenden Ges 
genfaße von Himmel und Erde dürfen wir nicht an bie 
gegenwärtig fell gegrühdete Wohlorbnung des Weltgans 
zen denken, ald habe diefe gerade der Verf. bei dem 
Schaffen im Anfange vor Augen gehabt, als vielmehr 
an das Univerſum als ſolches, wie es der einfachen Ans 
fhauung von dem Oben und Unten unmittelbar vorliegt. 
Es ergibt ſich dieſes auch fogleich aus dem 2ten Verfe, 
in weldyem der DBerf., mit dem Blicke auf der Erde vers 
weilend, zur Befchreibung ihres uranfänglichen verwor« 
renen Zuſtandes -Übergebt. Wir überſetzen demnach das 
anknüpfende ı nicht, wie es gewöhnlich geſchieht, durch 
„und”, fordern durch „aber”.. Aber bie Erde — wie wir 
fie nämlich) jetzt ſehen — war zuerft eine.wüfte, von bichs 
tem Dunkel umfangene Maffe Denn ME Ynzıınh das 
Chaos bedeuten mäüffe, feßt der Zufammenhang außer 
allen Zweifel; wie wir auch aus dem.cirm, welches dem 
folgenden zo parallel ficht, erfehen, .daß wir: ung den 
. angeordneten Weltſtoff als eine flüffige Maſſe vorſtellen 
follen. &benfo muß auch das 7 vor mı in einem gewif⸗ 
fen &egendrude gegen den vorhergehenden Satz genoms 
men werben: Kinfterniß (wie etwas Dichte, Schweres 
gedacht) ruhte zwar über der Ziefe, aber. der Athem 
Gottes webte und regte fich über dem Wafler. Denn die 
finnliche Vorſtellung verlangt durchaus unter dem m 
wre etwas Flüffiged, Bewegliches, wie fchon aus dem 
beſchreibenden ray hervorgeht. Aber freilich if mm 
erfor nicht etwa ein bloßer fiartee Wind ohne bie Idee 


— 





Auslegung der Schoͤpfungsgeſchichte. 191 


der bewegenden und belebenben Gotteskraft, fondern dieſe 
muß vor Allem dem Begriffe nach hervorgehoben wers 
den, wiewohl wir auf der anderen Seite auch das todte 
Abſtractum „Geift Gottes” ausfchließen müffen. „Hauch 
Gottes” ift wieder zu wenig, fo Daß bad gewählte „Athem 
Gottes” immer die angemeflenfte Ueberſetzung ſcheint. Es 
war der Athem der Kiebe, meldyer belebend und geftals 
tend über der auf harmontfche Entwidelung harrenden 
Urmaffe webte; denn es liegt in dem femitifchen Stamme 
I, verwandt mit arıı, der vorherrfchende Begriff der „Er- 
barmung”, wie dad Wort namentlich von Bögeln ger 
braucht wird, die über ihren Eiern oder über ihren Sungen 
brüten. — V. 2. Aus fich felbft fonnte fich aber die Vers 
worrenheit. nicht zur Klarheit entwideln, fondern es bes 
durfte dazu des befonderen Willendacted ver Gottheit: 
das Licht entfirömet ihrem Munde. Gott ſprach: es werde 
Licht! und es ward Licht. Die vielbewunderte Erhabens 
heit diefes erften aller Worte, welches die Welt mit Licht 
erfüllte, dringt ſich ohne alle weitere Erklärung dem eins 
fachsnatürlichen, wie dem gebildeten Sinne auf, und es 
iſt eben darin der Grund feiner allmächtigen Wirkung zu 
fuchen, daß es, der feierlichen Großthat ded hohen Schö⸗ 
pfungsactes vollkommen entfprechend, auf den geringfien - 
Aufwand von Darfiellung und Befchreibung gänzlich vers 
zidytend, diefelbe durch Ohr und Auge in der unmittels | 
barften Gegenwart vernehmen läßt: wir hören das Wort 

und fchanen das Licht. Es verräth wenig Sinn für die 
Uebermacht ber lebendigen That in der darftellenden Rebe, 
wenn man das bloße Denken und innere Wollen Got 
tes: „ic will Welten. fhaffen, und fie waren da”, nadı 
der indifchen. Kodmogonie, erhabener findet. — B.4. Die 
Rede: „Gott fah das Licht” müßte auffallen, wenn wir 
nicht dabei an Die glänzende Erfcheinung des Lichtes dens 
Ten follten, welches dad Auge Gottes felbft erfreute; 
„daß es gut (ſchön)“, befätigt dieß. An. ein präfenbes 


192 | Umbreit 


Hinfehen, wie man. gewöhnlich annimmt, if bei dem 
am nicht zu denken: der Verf. würde dann ein beſtimm⸗ 
teres Wort zum Ausdrude diefes Sinned gewählt haben. 


Es heißt auch nicht: „Bott fah, daß das Licht gut war”, 


fondern: Gott fah (mit Wohlgefallen und Freunde) das 
Licht, daß es gut war. "Darum macht er nun auch 
eine Scheidung zwifchen dem Lichte und zwifchen der Fins 
fterniß, damit die letztere nicht den Glanz des erfteren 
trübe. — V. 5. In dem Namengeben von Tag und Nacht 
liegt die beftimmte und feſte Scheidung bed Lichtes von 
ber Finfterniß. Daß der Abend aber cher wird, wie ber 
Morgen, hat feinen Grund nur darin, weil der Schöpfer 
nach Tagewerken arbeitet und das erſte vollendet hat. 
Diefe naive Betrachtungsweife hat gewiß hier den Vor⸗ 
zug vor der gelehrten Reflerion, daß verfchiedene alte 
Bölfer den bürgerlichen. Zag mit dem Abend angefangen 
hätten. Die öfter nicht ohne Spott aufgeworfene Frage, 
wie denn vor Erfchaffung der Sonne von Tag und Nacıt 
oder überhaupt vom Lichte bie Rede feyn könne, beweift 
nur den niedrigen, recht eigentlich irdifchen Standpunkt 
einer gewiffen Eregefe. Sie verkennt die Wahrheit des 
göttlichen Tieffinnes in der Sprache des Kindes. Die 
Sonne kann freilich nach finnlichsoptifcher Borftelung nicht 
eher zur Erfcheinung gelangen, bis der Himmel da iſt. 

Aber die Sonne iſt ja nur ein einzelner, feft gefonderter 
Ausflug and der Quelle des Lichtes, das in Gott ift (vgl. 
Pf. 74,16, wo der Dichter auch’ den Quell des Lichtes 
“ino vor der Sonne nennet und, von ihr ſcheidet), und 
welches daher bei ber Gelbftentäußerung des Schöpfers 
(denn ein anderer Begriff. von Schaffen durch Gott if 
undenkbar) zuerft aus feinem Weſen hervortreten mußte, 
damit Ordnung in den Grundftoff der Welt gebracht 
würde. Alfo fhuf Gott aus ſich den erften Tag und ars 
beitete bei dem Lichte feiner eigenen Ausftrahlung an dem 
größten Kunſtwerke der Schöpfung. Denn es widerfpricht 








| Auslegung der Schoͤpfungsgeſchichte. 193 


Beineöweges der Würde bed allmächtigen Weltenbanmels 
ſters, daß er Himmel und Erde in ihrem gegenwärtigen 
harmonischen Berbande nach und nach geſchaffen: nach fols 
chem Gefete eines ftil und ficher zur Vollendung forts 
fchreitenden Racheinander der Dinge wirkt und waltet 
noch gegenwärtig die Gottheit; auch flimmen für die Als 
mählichkeit nranfänglicher Schöpfung die beftimmteften 
Zeugnifle der befonnenften und gründlichften Korfcher im 
Reiche der Natur. B.6. Nun die große Scheidung zwis 
fchen Licht .und Finfterniß zu Stande gelommen oder, 
nach finnlicher Vorftellung, die Zeit erfchaffen worden, 
wendet fi Gott zu den feiten Sonderungen im unermeßs 
lichen Raume der Urgewäfler; Himmel und Erbe entftes 
ben. Daß in rn der Begriff „ded Trennenden” das 
Bormwaltende fey, leuchtet aus dem folgenden >30 Deuts 
lih ein; dabei bleibt aber Doch feine urfprüngliche Bes 
Deutung: etwas Feſtgeſchlagenes, Verdichtetes, wie denn 
auch die LXX. das Wort richtig durch oregäoue vulg. fir- 
mamentum und Luther Befte geben. Der finnlichen Ans. 
fchauung ftellt fi) der Himmel als eine breits und feſtge⸗ 
fchlagene Metaliplatte dar, wie ihn aud; Homer auör- 
. ge0v (Odyſſ. 15,328) und yaAxsov (SI. 5, 504; 17, 4255 
Odyſſ. 3, 2) nennt. Vgl. auch Hiob 37, 18 und ben Ges . 
brauch des Wortes SE) 2. Mof. 29,3, wo ed von dem 
Schlagen dünner Metallplatten fteht. Bei dem amarı na 
müffen wir die genauefte Meflung des chaotiſchen Urges 
wäflers vorausſetzen, fo daß die feſte Himmelsdede recht 
eigentlich gerade die Mitte derfelben durchichneiden follte, 
Die Beſtimmung der 77, wird durd das folgende: „fie 
werde trennend zwifchen Wafler zum Waller” anſchau⸗ 
lich vorgeführt, und wir haben nun einen ſcharf geſchie⸗ 
denen, "doppelten Raum des haffen Grundelementes. In 
dem 5 liegt die Richtung nach dem Drte hin, und es ifl 
fo malerifcher ausgedrüdt, ald wenn es hieße: „zwiſchen 
dem Waffer und dem Wafler” Wie fehr es dem Verf. 
Theol, Stud. Jahrg. 1889. Ir} 


194 Umbreit 


auf. eine klare Beſchreibung ankomme, ergibt ſich ans 
V. 7, wo das hochwichtige Werk der Waſſerſcheidung uns 

weiter vorgeführt und abgerundet wird. Die Worte ſind 
aber: nicht eben eine bloße Wiederholung des unmittelbar 
vorhergehenden Verſes, fonbexer in ber befannten Bedeu⸗ 


mung und Ausbildung der Himmelsdecke gegeben. Die 
LXX. fegen xol Zytvero oviwng an das Ende bed Tten V., 
fowie fie zwifchen den beiden Sätzen von V. 8. zul sider 
6 Bros, Orı xaAov einfchieben, offenbar aus einem kritiſch 
verwerflihen Streben. nad Gleichförmigfeit der Rede, 
B.8. Wollte man die freilich etwas vorwitzige Frage aufs 
werfen: warum Gott ed für nöthig gehalten, der nad) 
ihrer Wirkung und Beltimmung treffend bezeichneten 
„Veſte“ noch einen befondern Namen beizulegen, fo iſt 
feine andere Antwort darauf zu geben, ald daß. der von 
dem Standpunkte der Erde ausgehende und den Schöpfer 
redend einführende Berf. den .Abftand, der Höhe — dent 
dieſes bebeutet ja ned — noch tiefer empfunden, ale bie 
Bedeutung der felten. und feheidenden Dede. In dem ihm 
überkieferten Worte cd war ihm zugleich der volle Ins 
begriff alles Ueberirdifegen und Erhabenen im geiftigen 
Sinne gegeben. .®8.9. In dem. mözsınem „es komme 
zum Borfcheine Das Trodene” liegt begrifflich ganz richtig 
. audgebräds, daß der feſte Erbfern aus dem unmittelbar 
ren Schöpfungsacte Gottes ald etmas Befonderes her⸗ 
vergegangen und fidy nicht etwa ‚aus. dem Waſſerele⸗ 
‘mente erft allmählich gebildet habe. Er war im Waſſer 
auf den Ruf Gottes ſchon vorhanden, aber er fam jegt 
ect zur Erfcheinung. B.10. In dem burchgreifenden Ges 
geufage von ad nnd Ye liegt für das letztere Wort 
ſchon die ſicherſte Gewaͤhr feiner ihm auch arabifch (vgl. 
—— bei Freytag) zukommenden Bedeutung der, Tie⸗ 
fe” Man darf alſo feinen Begriff nicht in der Gegen⸗ 
Überftellung des Raffen fuchen und ihn etwa als „Tree 





Auslegung dee Schoͤpfungsgeſchichte. 195 


denheit” oder „Härte” (Erz) fefiftellen wollen. Das bem 
Flüffigen entgegengefegte Trodene erhält den allgemeinen 
Namen Erde, weil fie, unter dem Himmel, bie vorzüg⸗ 
lichfte Wirkungsftätte des arbeitenden Menfchen ift. Un⸗ 
ter-ora> müffen wir dad geſammte große Reich aller Ges 
wäfler der Tiefe verftchen, und Die Bezeichnung bed Mer⸗ 
res in der Bielzahl war durchaus nothwenbig, infofern 
=> nur an ein einzelnes bedeutendes Wafler, 3. B. das 
mittelländifche oder den Nil u.f.w., erinnert. Mit dem 
fogenannten plur.'maiest. oder poet. wird hier nicht era 
klärt. V. 11. Run. die felte Scheidung zwifchen Licht und 
Dunkel, Himmel und Erde, Wafjer und Land vollbradzt 
ft, wendet fi der Schöpfer zur Belebung der einzelnen 
Theile. Zuerft läßt er die Erde fi begrünen. nr ifk 
das frifch auffeimende Grün, wie fid} aus Sprw. 27T, 25, 
ergibt, wo ed an die-Stelle des abgenrähten Graſes tritt; 
ed entipricht dem arabifchen Ude: Aber ed bildet in dies 
fer Bedentung feinen Gegenſatz zu =u>, fo baß dieſes an 
ſich den Begriff des famentragenden Krauted enthielte, 
ober daß jenes erſtere ‘von perennirenden, das letztere 
von jährlihen Samengewächſen fände — benn es muß 
ja jegliched Gewächs der Erde jegt erft ald nur hervors 
gehen — fondern ed umfaßt ald allgemeinfte Bezeichnung. 
der erften Begrünung des Bodens ebenfowohl dad ums 
mittelbar folgende sus, wie dag fpätere > in fih. Wäre 
ed anders, würde fchmwerlich 7 vor =w> fehlen. Was nun 
das VBerhältniß zwifchen aus und 79 betrifft, fo erheifcht 
die in Dem Berfe nothwendig eingefchloffene VBollftändigs 
feit der Pflanzenwelt, daß unter jenem ohne Unterſchied 
alles Gewächs außer den Bäumen verflanden werde Die 
große Mannichfaltigfeit aller Gewächſe ift in bem Arms 
begriffen, welches nach dem Paralleliömus des folgenden 
Verſes auch ‘auf zur zu beziehen ifl. Das Yen br ifl 
nicht überflüffig, fondbern ed dient zur befonderen Her⸗ 
vorhebung der Bänme von den niedrigeren @ewächfen ımb 

18 * 


196 ur Umbreit 


Kräutern, freilich nicht nach einer fcharf treffenden Uus 
terfcheidung, fondern vom Standpunkte naiv-Pindlicher Ans 
fhauung der über der Erde hoch ihren Samen -tragens. 
den Stämme. Man muß alfo nicht überfegen: „auf der 
Erde”, fondetn: „über der Erde”. B.12. iſt dieſes haive 
ynen=52 weggelaffen, dafür aber die Doppelte Beziehung 
des Arab genauer. beftimmt. 3.14. Nach der grünen Bes 
lebung der Erde erfolgt auf das allmächtige Scheiß des 
Schöpfers die glänzende Erleuchtung des Himmels. Licht 
und Dunkel find bereits gefchieden und ald Tag und 
Nacht benannt. Damit fie aber nicht wieder in einander 
fließen, wird als erfter Zwed der Geftirne ihre fichere 
Trennung feltgefeßt. . Aber nicht bloß der ewige Wedhfel 
von Tag und Nacht ift an ihre Erfcheinung gebunden, 
fondern fie dienen auch zur weiteren Zeiteintheilung. 
Denn dieſes liegt zunächft in dem sr rnnd, wo wir 
in dem erfteren den allgemeinen Begriff der Zeichen, näms 
lich der Bedeutung und Erinnerung, in dem andern ben 
der Felle, D.i. der Wiederkehr beftinmter merkwürdigen 
Zeiten gewidmeter Tage zu fuchen haben. Ohne den res 
gelmäßigen Wechfel von Tag und Nacht gäbe es feine 
Erinnerunggzeihen und Zeitbeftimmungen. Für diefe Er- 
Härung flimmt der nächſte Sinn, während die Beziehung 
der rin auf die Aftrologie zu ferne liegt und der monos 
theiftifchen Würde des, Stücks nicht angemeffen if. Und 
ebenfo müffen wir die Auffaffung der Stelle entfchieben 
ablehnen, nach welcher dem nix feine felbftändige Bes 
deutung geraubt, und nach einem fogenannten Hendiedys 
(Gef, Lehrgeb. d. hebr. Spr. S. 854) das erftere Wort 
nur zur näheren Bezeichnung bes mit ihm durch 7 Ders 
bundenen genommen und „zu Zeichen und Zeiten” übers 
feßt wird. Denn es iſt voraus anzunehmen, daß ber 
Berf. bei feiner offenbaren Abficht, den Einfluß der Ges 
ſtirne auf die Eintheilung der Zeiten barzuftellen, eher 
ind Einzelne gehen, ald daß er beim Allgemeinen fichen 





Auslegung ber Schöpfungsgefhihtee 197 


bleiben werde. Auch die parallele Beziehung zu dem fpls 
genden 2a ara fpricht gegen die beftrittene Auslegung, 
da man doch nicht überſetzen wird: und zu Tagen der 
Sahre. Aus unfrem Gefichtöpunfte betrachtet, dürfen 
wir nun gewiß noch weniger diefe letzten Worte als bloße 
Appofition zu dem Vorhergehenden nehmen. V. 15. Nun 
gedenft der Berf. noch, des allgemeinften Zweckes der Ges 
Rirne, daß fie erleuchten follen die Erde. Gerade das 
zunächſt in die Augen Kallende, faft fich wie von felbft 
Berftehende erwähnt er zuleßt. Aber übergangen werben 
in der Rede durfte es feinesweged, und es verräth wer 
nig eregetifchen Sinn für die reine und unmittelbare Ras 
turanfhanung unfred Berichtes, wenn man bie erfte 
Hälfte des Verfes für eine Stoffe erklären will, fo wer 
nig ed von Fritifcher Unbefangenheit zeugt, wenn man 
ſich zu diefem Verbachte durch die LXX, Codd. Samar. und 
1, hebr. Mfpt. bewegen läßt, welche das yAaı-bs mans 
an das Ende bed l4ten Verſes ſetzen. — Wenn. man es 
auffallend gefunden, daß der Verf. nicht der Erwärmung 
durch die Geftirne (alſo durch die Sonne) gedenfe, fo 
hat man überfehen, Daß ja gerade deßhalb, weil er diefe 
Beſtimmung nur der Sonne zufchreiben konnte und er 
alle Lichter des Himmels zufammenfaßte, er nur die Wir- 
kungen hervorheben Fonnte, welche allen gemein waren. 
Uebrigens hat er diefen Zwed der Sonne beftimmt mit 
im Sinne, wo er B.16. von ihr fagt, daß fie zur Bes 
herrfchung des Tages gefchaffen fey. 3.16. Die Lichter 
werden genauer bezeichnet und ald Sonne, Mond und 
Sterne unterfchieben. Wenn gefagt wird, die Sonne fey 
gefchaffen zur Beherrfchung des Tages und der Mond 
zur Beherrfchung der Nacht, fo müſſen wir diefen Auss 
druck in der poetifchen Anfchauung der von der Himmelds 
höhe in königlichee Pracht auf die Erde herableuchtenden 
Geftirne faſſen; denn der Verf. bleibt fich treu, daß er 
den erfien Tag nicht von dem Aufgange der Sonne und 


198 . Umtreit 


die Nacht von ihrem fcheinbaren Untergange abhängig 
. macht. B.17. Der Schöpfer verführt Schritt vor Schritt, 
wie ein forgfältiger, Alles genau überlegender und bes 
rechnender Werkmeiſter. Erft bildet er künſtleriſch Sonne, 
Mond und Sterne, und dann. feßt er-fie an die Veſte 
des Himmels. B. 18. Der Verf. ift fo von dem Glanze 
der Himmeldlichter erfüllt, daß er noch einmal ihre hohe. 
Bekimmung bervorhebt. V. 20. Der erfte große Act ber 
Schöpfung ift gefchloffen, und Gott wendet ſich nun zur 
Belebung aller Räume mit. lebendigen Weſen. Wie er 
mit der Hervorrufung der Fluthen den Anfang gemacht, 
fo erfüllt er auch dieſe zuerft mit ihren Bewohnern. Das 
unendliche Gewimmel der Waffergefchöpfe durch einander 
iſt in dem yoö, welches befonderd von ben Meinen auf 
der. Erde kriechenden Thieren fteht (vgl. Lev. 11,29, 41) 
wie gemalt; das Wort erinnert an unfer beutfches 
‚ „fcherzen”, von Kleinen, behenden Thiereu gebraucht, die 
mit einer gewiffen Munterkeit fich durch einander her ber 
wegen. Es kann auffallen, baß vor ber genaueren lins 
terfheidung der im Waffer wimmelnden Gefchöpfe in 
große und Peine: zuerſt noch der über der Erbe fliegens 
den Bögel gedacht wird; es gefchieht dieſes aber deßwe⸗ 
gen, um bemerkbar zu machen, wie burch den einen 
Nuf des Schöpfers zu gleicher Zeit die tiefften Tiefen des, 
Waſſers wie die höchften Höhen der Erde ſich mit Ichens 
digen Seelen anfüllen; daher auch der Zufag „an der 
Dperfläcde der Himmelsveſte“. 3.21. Der Verf. theilt 
bie Bewohner der Kluthen nach jener bewundernden Ans 
ſchauung, welcher auch der Pfalmift (104, 25) folgt, in 
große Ungeheuer. und unzählbared Gewimmel. Wenn 
©21.B. 21. offenbar von allen auf der Erde kriechenden 
Geſchöpfen ſteht, fo ſollen wir an unfrer Gtelle bei, 
room rımıı Bea =ba nicht etwa an die auf dem Boden 
des Meeres befindlichen Würmer denken, fondern dem 
Berf. ſchwebt dabei nur bas allgemeine Bild Heiner burch 











- Auslegung: der Schöpfungsgefhicte. 499 


einander wimmelnder Gefehöpfe vor, wie es Die Mistradhs 
tung bed Gewürmes der Erde befonders Iebenbig liefert. 


Das dem nis anfcheinend überflüffig beigefügte 232 fol 


das mannichfaltige Geflügel ohne linterfchied, Alles, was 
nur einen Flügel regen faun, mit Eindlichsfrifcher Lebens 
Digfeit hervorheben. 8.22. Der Segenswunſch, welchen 
der Schöpfer über die erften lebendigen Wefen ausſpricht, 
theilt ihnen unmittelbar die Kraft der eigenen Kortpflans 
zung und Bermehrung mit. Dad. lautverwandte Ya 
verfinnlicht die wirkffame Segensformel des göttlichen 
Mundes hörbarstebendig. Unter ara” {ft der Grund unb 
Ort des Meeres zu verftcehen, wie Sef.11,9. Daß Flüffe 
und Bäche nicht genannt werden, davon liegt der Brund 


darin, weil der Berf. die unüberfehbare Fluth in demn 


weiten Meere hervorheben wollte, wozu noch die Laut 
ähnlichfeit in om und war befonderd auffordberte. V. 21. 
Es ift nicht zu verfennen, daß die Thiere ber Erde auf 
eine höhere Stufe der Entwidelung, als die in ben Flu⸗ 
then wohnenden und in den Rüften fich bewegenden ger 


feßt werben; denn fie gehen unmittelbar der Schöpfung. 


des Menfchen voraus. Der Berf. läßt und nach einer 
ganz allgemeinen Ueberfchauung das Thierreich in drei 
Klaffen abtheilen: zahme Thiere, Gewürm ‚und "Wild. 
Diefe Bedeutung der drei Bezeichnungen fteht lexikaliſch 
feſt. Das Wort rmara wird zwar urfpränglicd von allen 
Thieren gebraucht (nach dem Begriffe der Sprachloſig⸗ 
Leit, von an, flumm feyn),.im Begenfaße zum rebeber 
gabten Menfchen, und keinesweges bloß von den zahmen 
ef. 18,6 3.8. flieht es von den fleifchfreffenden Thies 
zen bed Feldes und Sprw. 30,30 wird der Löwe fogar 
der Held nana2 genannt), jedoch hat fich dieſe Bezeich⸗ 
nung vorzüglich durch die Betrachtung der den Menfchen 
zunächft umgebenden gebildet, woher es gelommen, daß 


ed vorzugsweiſe von den mit ihm in einer. gewiffen Ver⸗ 


tranlichkeit Iebenden, infonderheit von den zumkafttragen 





200 umbreit 


geſchickten gebraucht wird. In dieſer hier ſtattſindenden 

"Bedeutung ſteht ed dem yaeir gegenüber, dem. Lebens 
digen der Erde, oder gewöhnlicher ren, des Feldes, 

weil die Thiere ald rn wn3 das eigentliche Leben der Fels 

der und Wälder bilden. Scharf. genommen, hätte ber 
Verf. nur zwei Klaffen unterfcheiden follen, zahme und 
wilde Thiere; er fchiebt aber die Reptilien ale eine Mits 
telflaffe ein, weil Diefe. der naiven Betrachtung ale etwas 

ganz Befonderes auffielen. — V. 25. Die Erde hat leben⸗ 

dige Wefen aus ihrem Schooße und Stoffe hervorgehen 

laffen, wie ed der Schöpfer gewollt; die genannten brei 
Klaffen der Thiere find in ihrer Unterfchiedenheit bereits 
vorhanden. Nun aber bildet fie erft Gott zu ihrer fünfte 
Ierifchen Vollendung aud. Denn wir Dürfen das rue. in 
dDiefer Bedeutung und in feinem Berhältniffe zum voraus . 
gehenden yAsıı nzin gewiß nicht überfehen, wie auch, daß 
in unferm Verſe die me ön2 des vorhergehenden vermißt 
wird, woraus zu erfehen, daß die Erde die Thiere nur 
als lebendige Stoffe hat hervorgehen laffen, welche jeßt 
Gott erft formt und bilder. So erflärt fih, warum es 
nicht heißen könne: Gott machte lebendige Wefen. V. 26. 
Es ift eine gewöhnliche Bemerkung der Ausleger, daß 


- der Menſch als dad Meiſterſtück der Schöpfung zuletzt 


aus Gottes Hand hervorgegangen. Auf dieſen höchſten 
Act der Schöpfung deutet ſchon die feierliche Anrede 
Gottes an fich feld. Er fpriht im Bewußtſeyn feiner 
ganzen weltfchöpferifchen Majeflät; daher: „wir wollen 
machen”, wie bort in der feierlichen Einweihungsfcene 
Sef. 6, 8 die Stimme des himmlifchen Könige an den 
Propheten fich alfo vernehmen läßt: „wer wird ung ges 
ben?” Es ift bei dieſem vielerflärten nios2 weber an eis 
nen von dem Derf. nicht vollftändig überwundenen und 
- daher unvermerkt ihm entfchlüpfenden Polytheiſmus, noch 
an einen fogenannten plural. deliberativ. zu denken; denn 
nach der hohen Befonnenheit, bie das ganze Stüd Durchs 








Auslegung ber Schöpfungsgefhihte.e 201 


dringt, ift es hoͤchſt unwahrfcheinlich, daß gerabe bei dem 
bedeutendften Schöpfungsacte der Berf. fidh hätte von 


‚einer polytheiftifchen Idee befchleichen Laffen follen, wie 


ed denn auch garnicht einleuchten will, warum denn der 
Schöpfer fi mit fich felbit oder erft mit Andern beras 
the, ob er den Menfchen machen wolle. Schlangen und 
Ungeziefer hätte er bereitd hervorgebracht, aber bei der 
Bildung ded Adam nad feinem Bilde hätte er ſich erſt 
bedacht ?! — Der Berf. fagt nicht ausdrüdlich, woraus 
Gott den Menfchen gefchaffen habe. Aber wenn wir 
auch nicht auf die Parallelftelle Kap. 2,7 verweiſen könn⸗ 
ten, woraus erhellt, daß er ihn and dem Staube der 
Erde gebildet, fo würde fhon das niorı und darüber 
nicht in Zweifel laffen, welches, wie bereite bemerkt wors 


‘den, auf die Fünfllerifche _Formung eines fchon vorhans 


denen Stoffes hinweiſt, alfo auf Erbe, nach B. 24, wie 
denn alıdy der Name az die Geftaltung aus Erde zu ers 
kennen gibt; denn ed liegt Doch gewiß näher, die Bedeu⸗ 
tung des Namend des Menfchen in feiner Abftammung 
von der ran auch ohne Rücficht auf Kap. 3,19, als in 
feiner braunrothen Farbe (v. 218, roth feyn) zu fuchen, 
mit Bezug auf das Ausfehn der Erde in Paläftina, wors 
aus aber nur hervorgeht, daß fie felbft daher ihre Be⸗ 
nennung befommen habe. So liegt denn in dem Namen 
des Menfchen der bebeutungsvolle Sinn, daß er in feis 
ner Erfcheinung. die ganze Erde repräfentire, fie in fein 
Bild ald König und Herr derfelben aufgenommen habe. 
Aber verdiente er auch nach feinem Grundfloffe vorzügs 
lich den auf denfelben bezüglichen Namen, fo war er doch 


ein von allen Übrigen, mit ihm durch gleiche Abftammung 


verwandten Geſchöpfen umnvergleichbar * unterfchiedenes 
Weſen. Denn Gott fagt: wir wollen ihn machen „in uns 
frem Bilde, nach unfrer Achnlichkeit.” Der Ausdrud: 
„in unfrem Bilde” veranfchanlicht die Geftaltung der Pers 
fönlichfeit wie in einer Korm des göttlichen Wefens. Dax 


202 —  Umbreit | 


ift eigentlich das Schattenbild, welches eine -Geftalt von 
ſich wirft (vgl. Pf. 39, D, ar. eb Ab dunkel feyn, 
wie oxıcd. Der Schöpfer hat alfo den Menfchen wie in 
feinem Schatten abgebildet. Diefe Bezeichnung, genau 
erwogen, läßt über den vielfach erflärten Sinn des Aus⸗ 
druds feinen Zweifel übrig: daß nämlich der Menfch 
zwar das Bild Gotted an fich trage, - aber nicht in dem 
vollen Fichte feiner ganzen Perfönlichkeit, fondern nur 
wie in einem Schattenriffe, wobei alfo unfer Berf. weit 

entfernt ift, dem Stammvater unfres Gefchlechts abfos 
Intsgöttliche Bollfommenheit als feine urfprüngliche Bes 
fchaffenheit zugufchreiben. Diefe einfach fich ergebende Auss 
legung wird verfehlt, wenn man = in ber Ueberfeßung 
geradezu mit > vertaufcht: „nach unfrem Bilde”, wo dann 
der Ausdruck feine individnellsfinnliche Wahrheit verliert 
und eine eregetifche Mehrdentigfeit erhält. Das zu feis 
ner Erklärung hinzugefügte nmaro betätigt auch unfre 
Auffaffung, mag man ed nun durch „nach unfrer Gleiche 
heit” oder „nach unfrer Achnlichkeit” überfegen, indem 
ja nm immer doch das. Bild im Gegenfage zum Wefen 
der Sache bezeichnet. Es beruht auf einer gänzlichen Vers 
kennung bed wichtigen Begriffes der Perfünlichkeit, in dem 
ſich die reine Geiftigfeit einer in fich begründeten und 
wohl abgefchloffenen Befonderheit mit einer ihrem Weſen 
volfommen entfprechenden Keiblichfeit des Daſeyns uns 
trennbar verknüpft, wenn man unter dem Bilde Gottes, 
in dem der Menfch geformt worden fey, bloß an ben 
fihtbaren Abglanz der Förperlich gefaßten Erfcheinung 
Gottes denken will. Ausgefchloffen darf diefe nach außen 
gelehrte Ebenbildlichkeit Feinedweges werden, aber fie ers. 
ſchöpft nur unfren Ausdrud nicht. Schon die gleich fols 
gende von Gott dem Menfchen feierlichft ertheilte Voll⸗ 
macht, zu berrfchen über alle Gefchöpfe, beweiſt, daß 
der Berf. mit feinem Worte den Sinn einer auch geiftis 
gen Gottähnlichkeit verbunden habe; denn diefe Erinne- 





x 


Auslegung ber Schöpfungsgefchichte. 203 


rang an die Herrfchaft bed Menfchen über Die andern 
Geſchöpfe kann doch uumöglich gegen alle logifchen Denk⸗ 
gefeße von dem unmittelbar Borhergehenden willtürlich 
loSgeriffen werben. indem der Berf. aber dad Gebies 
ten ded Menfchen über die ganze Erde auddrüdlich nams 
haft macht, dürfen wir nicht überfehen, daß er dieſes nur 
ald eine ihm vorzüglich bemerkenswerthe Folge der Gotts 
ähnlichfeit befchreibend hervorhebt, wie denn diefes könig⸗ 
liche Bewußtſeyn, Stellvertreter ded Schöpfers auf Ers 
den zu feyn, aud) den Dichter des 8. Pfalms begeifterte. 
Am ftärkiten drüct fich diefes erhebende Gefühl der fir 
niglichen Stellvertretung Gottes in dem zwifchen aaa 
und vonr-b33 auffallend eingefchobenen yAxı "532 aus, 
woran manche Ausleger folchen Anftoß nehmen, daß fie 
das 1 wegfreiihen, wodurch anfcheinend mehr Harmonie 
in den Satz kömmt, obfhon das >> im VBerhältniffe zu 
dem Borhergebenden: „über die Fiſche des Meeres und 
über die Vögel des Himmels” überflüffig erfcheint, infos 
fern nicht abzufehen, warum gerade die Erde allein durch 
. ben Begriff der Allheit auszuzeichnen geweſen. Aber 
felbft diefes unbeachtet gelaflen, fo wird dieſe Durch eine 
kritiſch⸗ willfürliche Erleichterung der ZTerteöfchwierigkeit 
erzwungene &benmäßigleit der vorderen Glieder durch 
das Mißverhältniß bes lebten wieder geltört, wo Die auf 
- Erden friechenden Gewürme noch befonders ind Auge ges 
faßt find. Bleiben wir daher bei dem. legten Sabe des 
Berfes mit befonderer Aufmerkfamteit fiehen, fo werben 
wir im Berhältniffe zu dem unmittelbar vorhergehenden 
yası=baa1 eine Steigerung der befchreibenden Rede nicht 
verkennen. Der Berf. fühlt, indem er zur Bezeichnung 
der Thiere non= feßt, welches er im vorhergehenden 
Berfe zum Ausdrude der zahmen gebraucht, daß er, um 
Die Allheit des Thiergefchlechtes zufammenzufaffen, ftatt 
nun .noch einzelne Bezeichnungen folgen zu laffen, am 
karzeſten mit dem ya ablomme, wo er danu nur 


9204 Umbreit 


noch hinzufeßt, daß felbft das niedrige Gewürm, das auf 
der Erde frieche, nicht auszunehmen fey. B.27. Wenn 
bei dem os im vorhergehenden Verſe vorzugsweife an 
die Funftvolle Formung des Menfchen aus Erde gedacht 
werben mußte, fo fol jebt durch das a2 die Hervors 
bringung deſſelben als eined ganz neuen Gefchöpfes bes 
zeichnet werden. Der Menſch wurde aber dadurch fpes 
cififch von allen andern Iebendigen Wefen unterfchieden, 
daß ihn Gott in feinem Bilde ſchuf, und wir haben das 
her das nam und das woxz in einen Begriff fireng zu⸗ 
fammenzufaffen und im Tone der Rede unmittelbar mit 
einander zu verbinden. Auf dad Bedeutendfte wird diefer 
Act der göttlihen Schöpfungsthätigfeit durch die Wie⸗ 
derholung des Gedankens_hervorgehoben: „im Bilde Gots 
tes fchuf er ihn”, wobei noch befonderg zu bemerken, daß, 
um den Adel der menfchlichen Natur recht fühlbar zu mas 
chen, der Verf., ftatt bad, pron. person. von Gott, nun 
den höchften Namen felbft gebraucht. In dem lebten 
Gliede überfehe man nicht das beflimmte Berhältniß bes 
den ganzen Vers fchließenden und flarf zu betonenden 
enx zu dem. am Ende des vorhergehenden Gliedes ftehens 
den ınx: im Bilde Gottes fchuf er den Menfchen in ber: 
Einheit, nach dem gefchlechtlichen Unterfchiede aber in ber 
Mehrheit, d.i. nun in der Zweiheit. Irrig ift ed, wenn 
man, um den fi von felbft ergebenden Sinn eines Paas 
red (man überfehe auch babei den beftimmten Artikel von 
er nicht, wodurch der Menfch ale der Stammvater ſei⸗ 

nes ganzen Gefchlechtd ausgezeichnet wird) aus der&telle 
hinwegzuräumen, ftatt des Plurald den Dual verlangt; . 
es Fann ja nicht heißen: als ein Männliches und Weibs 
liches fchuf er fie beide, fondern die einfache Erflärung 
der Worte ift: zu einem Paare, eigentlich: zu einem 
Durchbohrenden und einer Durchbohrten fchuf er fie; 
denn der finnliche Ausdrud zur Bezeichnung des weiblis 
. hen Theiled des Menfchen (ra23 von 223, durchbohren) 














Auslegung der Schöpfungsgefdichte. 205 


verlangt einen gleichen für den männlichen, st aber wird 
nicht nur durch das arabifche p>: fondern auch fchon 


im Hebr. durch das verwandte „p7 und im Aramı. durch 
Sp7 und ;c> in der angenommenen Bedeutung beftätigt. 
Ueber das Wie der Trennung ded Adam in eine männ⸗ 
fihe und weibliche Hälfte beftimmt die Ueberlieferung 
nichts; erft im zweiten Kapitel vernehmen wir darüber 
einen genauen Bericht. B.28. Der Schöpfer wiederholt 
Die bereits oben gebrauchte Segensformel (B. 22), um 
and) dem Menfchen die Kraft der Befruchtung und Selbft> 
vermehrung mitzutheiten, fügt aber dem „füllet die Erde” 
das hochwichtige 7ö=>7 hinzu, womit er das V. 26 ſchon 
Geſagte in einem ftarfen Worte noch einmal herworfehrt, - 
wie ſich der Menfch die Erde im’ weiteften Sinne folle 
unterthan machen: denn diefes ift die Grundbedeutung 
des gebrauchten G=>, in der es mit dem früheren und uns 
mittelbar wieder folgenden 7) übereinftimmt: die ganze 
Bewältigung der Materie durch den Geift in Kunft und 
Wiſſenſchaft liegt in Diefem einzigen centnerfchweren Worte, 
2.29 1.30. Es wird zwar nicht beftimmt gefagt, daß Dem 
Menfchen auch der Genuß des Thierfleifchee von Gott ers 
laubt worden fey, aber doch fcheint derfelbe nach der Ges 
walt, bie er ihm über alle anderen lebendigen Gefchöpfe 
gegeben, nicht gerade ausgefchloffen gemefen zu feyn; hier 
kömmt ed nur darauf an, als einen Borzug der Mens 
fhen vor den Thieren in Bezug auf die Nahrung hervors 
zuheben, daß der Herr jenen Gemüſe und Baumfrüchte, 
diefen aber nur das grüne Grad angewiefen habe; dent 
das lettere wird unftreitig nur durch =u> p=5> bezeich, 
net, wobei man nm 377 aus dem vorigen Verſe wieder 
berunterzunehmen hat. Indeffen mag immer auch im Bes 
wußtfepyn des Verf. von dem urfprünglichen paradiefifchen 
Zuftande des Menfchen die Tödtung der Thiere zu feiner 
Ernährung etwas Fremdes gewefen feyn, wie er denn 
aus einem gleichen Örunde auch nur von ben vegetabilis 


206. Umbreit: 


ſchen Speifen der Thiere redet und ihr ſich wechfelfeitige® 
Berzehren ganz unberührt läßt. Wenn freilich. Die Lesart 
pr San, Die wir in 15 codd. und von den LXX. 
Saab. und einigen oodd. Targum. ausgedrückt finden, richs 
tig wäre, dann würde mittelft einer fünftlichen eregetis 
fchen Aushülfe, nach der re nicht nur, fondern auch das 
5 vor roa-da durch „zugleich mit” zugeben fey, dem 
Menfchen auch die Fleifchipeife geftattet worden ſeyn; 
aber abgefehen von dem Zwange, den man namentlich 
‚jenem > praef. anthun muß, fo fpricht befonders die allzu 
weite Entfernung des =i09 pr->> von den dem Menfchen 
zur Nahrung beftimniten Kräutern und Früchten gegen jene 
Erklärung. 3.31. Der Schöpfer fieht nun auf die ganze 
Reihe feiner vollendeten Tagewerke zurüd und fpricht 
die feierliche Billigungsformel über fie aus. — Kap. 2, L 
Wenn man gewöhnlich urtheilt, daß erft mit dem Aten 
Verſe ein neues Kapitel beginnen folle und die drei erften 
des gegenwärtigen zweiten. den Schlußftein des ganzen 
Schöpfungsgebäudes bildeten, fo müßte man unfrem Abs _ 
theiler doch diefes zugeben, daß nach der Schließung des 
Sechstagewerks ein Ruhepunkt und neuer Abfchnitt eins 
trete. — Es ift hart, nach einem Zeugma, wie die Auss 
leger in der Regel thun, das suffix. an n=2X aud auf Pax 
zu beziehen, weßhalb wir fchon bei Nehemia, der unfren 
Vers Kap. 9,6 feined Buch vor Augen gehabt zu haben 
fcheint, die natürliche Auflöfung finden: „der Hinmel und 
fein ganzes Heer, die Erde und Alles, was darauf.” Wir 
halten ed dem Charakter unſres Berf. angemeffener, da 
er eben bei der Schöpfung der leuchtenden Heere des Hims 
meld mit befonderem Intereſſe vermweilte, daß er dieſen 
auch hier noch einmal eine Auszeichnung gebe und alfo 
das fragliche suffix. nur allein auf Sad zurüd bezogen 
haben wolle: „ſo waren denn Himmel und Erde vollen, 
bet und fein ganzes Heer”. B. 2 fällt m mit rise im 
zweiten Gliede des Verſes in einen Begriff zufammen: 


= \ 


Auslegung der Schöpfungsgefhihte. 207 


‚indem Gott am flebten Tage mit feinem Gefchäfte fertig 
war, fo ruhte er auch von demfelben. Sicher will der 
Berf. mit feinem Anaxdn dan das Fertigfeyn ausdrüden. 
Wenn man freilich überfegt: „es vollende Gott am fiebs 
ten Tage fein Gefchäft”, fo entſteht ein Widerſpruch das 
gegen, daß er an demfelben fo geruht, daß er ihn ale 
Ruhetag gefegnet und geweihet habe, und man begreift, 
wie die Lesart wer fi habe bilden können, die offenbar 
aus der Bedenflichfeit über das fortgefeßte. Arbeiten Got⸗ 
teö an feinem Ruhetage bei den Samar., LXX.und dem 
Syr. gefloffen, während der Chald., die beiden Araber 
und Hieronymus unfern maſorethiſchen Text barbieten. 
Und wirklich verdient fchon aus eregetifchem Grunde die 
von Sieronymus bezeugte Kesart den Borzug, wenn wir 
bei dem Begriffe des Fertigwerdend mit. der Arbeit den 
ganzen fechften Tag in Betrachtung ziehen; denn dann 
- konnte in Wahrheit nicht gefagt werden, daß Gott fein 
Geſchäft an ihm vollendet habe, fondern diefes war, firenge 
genommen, erft am Schluffe deffelben der Fall. Geht man 
von unfrem maforethifchen Terte aus, fo wirft das fols 
gende „er ruhte am fiebten Tage” das einzig richtige Licht 
auf den vorhergehenden zweidentigen Ausdruck; denn 
wenn Gott am fiebten Tage von feinem Gefchäfte ruhen 
wollte, fo mußte er an demfelben mit ihm fertig ſeyn. 
Auf dieſe Weife brauchen wir nicht zu der ungrammalis 
-fchen Weberfegung unfere Zuflucht zu nehmen: „er hatte 
fein Werk vollendet”, da dem Hebräer das plusquamperf, 
fehlt. 3.3. Die Segnung bes fiebten Tages befteht eben 
in der Heiligung, d.i. in der feitlichen Auszeichnung des⸗ 
felben vor andenen Tagen. In dem nioys aba ay5 Tex 
„welches er fchuf, um ed zu machen”, ift mit großer Bes 
flimmtheit die ganze Arbeit der ſechs Tagewerke befchries 
ben, indem Gott nicht.bloß den-Stoff ordnete und bil⸗ 
dete, fonbern ihn auch exit hervorbrachte. Es paßt alfo 
gar nicht, wenn man zur Erflärung des nitax> 73 an bie 


208 Umbreit , ‚Auslegung der Schoͤpfungsgeſchichte. 


Verbindung von oxb am oder mivsb ap wa.m. ers 
innert, als fände hier nur eine Ergänzung des Berbums | 
durch ein andere® ftatt. 

Völlig unbegründet erfcheint die Annahme einer Inters 
polation der drei erften Berfe zu Gunſten der Sabbathes 
feier, wie dieß auch in neueſter Zeit anerkannt worden iſt; 
nur irrt man wieder darin, daß man die Kosmogonie 
überhaupt wegen des Sabbath mitgetheilt denft; denn 
das Schaffen Gottes und feine Arbeit bleibt nach dem eins 
fachften Eindrude der ganzen Ueberlieferung immer die 
Hauptfache. B.4. Das Wort rinain nach feiner Abftams 
mung von 753 und feinem im A. X. vorherrfchenden Ges 
brauche von „Geſchlechtsregiſtern“ ift zur Bezeichnung der 
Entftehung Himmels und der Erde auffallend, Man übers _ 
feßt ed zwar gewöhnlich durch „Gefchichte” mit fcheinbar 
berechtigter Berufung auf das Vorkommen diefer Bedens 
tung Kap. 25, 19; 37,2, wie ſich diefelbe auch aus der 
urfprünglichen und einfachften Geſchichtserzaͤhlung von 
ſelbſt gebildet, aber man darf doch gewiß dabei das Eis 
gentliche des Ausdrucks nicht überfehen; denn da wir es 
“mit einer höchft einfachen Darftellung zu thun haben, fo 
dürften wir wohl.einen viel näher liegenden Ausdruck zur 
Bezeichnung des Gedankens erwarten, wie etwa: alfo 
wurden Himmel und Erde gebildet. Wir follen aber, auf 
das Vorhergehende zurücfehend, mit unfrem Verf. gleiche 
fam das Gefchlechtöregifter des Univerfums überbliden, 
wie er ed nach feiner fuccefftven Anfeinanderfolge in ſechs 
Entwidelungen der göttlichen Schöpfung vor unfren Aus 
gen ausgebreitet. Und fo folgt bei der befannten Streits 
frage, ob V. 4. auf das Frühere fich zurückbeziehe, oder 
den Anfang des Folgenden bilde, ſchon aus der genaueren 
Erwägung unſres Wortes die Entſcheidung für die erſtere 
Annahme. Aber in dem folgenden Stücke finden wir ja 
auch in der That Feine Geſchichte des Himmels und der 
Erde, fondern nur von der leßteren und zwar in befons 








N 


Zarnack, uͤb. die göttl. Autorit. der neuteſt. Schriften. 209 


derer Beziehung auf den Menſchen iſt die Rede. Bei ihr 
bleibt er nun vorzugsweiſe ſtehen und trägt zuerſt von 
ſeiner Schoͤpfung und Trennung in Mann und Weib er⸗ 
gänzend nach, was er bei der nothwendigen Kürze des 
erhaben⸗poetiſchen Tones im erſten Kapitel nicht hatte aus⸗ 
führen dürfen, Aus dieſem Grunde erklärt ſich auch, was 
rum er fpäter ya dem 326 vorandgehen läßt. 


2; 
Ueber 
die göttliche Autorität der neuteflamentlichen 
Schriften. 
g Von 


Wilhelm Zarnad, 
Dialonus zu Beeskow in ber Prov, Brandenburg, 


Wenn gegen die Autorität der neuteſtamentl. Schriften im 
Allgemeinen ein ſchärferer Angriff, als je bisher, von Dr. 
Strauß gewagt worden iſt, wenn ſich viele wackere Käm⸗ 
pfer gefunden haben, welche dieſen Angriff auf demſelben 
Boden, wo er geſchah, auf dem der hiſtoriſchen Kritik, zurück⸗ 
zuweiſen mit gutem Erfolge unternahmen, ſo erſcheint es 
nicht nur als zweckmäßiges Beginnen, ſondern als drin⸗ 
gendes Bedürfniß, auch die göttliche Autorität dieſer Schrif⸗ 
ten ausführlich zur Sprache zu bringen, oder mit andern 
Worten, wie der Herausgeber des litterariſchen Anzei⸗ 
gers in einem der früheren Jahrgänge deſſelben dazu aufs 
forderte, eine genauere Unterfuchung ded Dogmas von 
der Infpiration des N. T. anzuftellen. Wenn fich nun ber 
Verf. diefes Aufſatzes genöthigt fühlte, für. ſich felbft dieſe 
Arbeit vorzunehmen, wenn es ihm gelang, für fich eine bes 
Theol. Stud. Jahrg. 18839, 14 


210 Sarmad 


flimmte, beruhtgende Leberzeugung dadurch zu gewinnen; 
fo hofft er, daß Die gegenwärtige Erläuterımg des wichti⸗ 
gen Gegenftandes, wenn fie auch nicht darauf Anfprud) 
machen darf, irgend etwas Durchaus Neues zu geben, doch 
dadurch, daß fie einige eigenthämlich modificirte Anfichten 
. enthält, vorzüglich aber dadurch, daß fie Manches Klar 
ausfpricht, was vielen unferer Theologen unbeflimmt und 
dunfel im Gemüthe liegt, nicht ganz unnüg feyn dürfte. 

Die göttliche Autorität der Schrift überhaupt und 
namentlich des N. T., auf welche. ed und hier anfommt, 
beruht auf der Snfpiration ihrer Verfaſſer; unfere ganze 
Unterfuchung läuft mithin. auf Beantwortung der Fragen 
hinaus: Sind die neuteſtamentl. Schriftfteller 
und dadurd ihre Bücher infpirirt? und in 
welchem Sinne find fie es? 

Wir müffen von der, in unfrer Kirche nicht ER pas 
triftifche Autorität audgebildeten, Erklärung der Infpiras 
tion ausgehen, daß fie eine übernatürliche Wirkfamkeit 
Gottes ſey, wodurch er mittelft ded h. Geiftes die göttlis 
hen Schriftftellee zum Auffegen ihrer Werke angetrieben, 
ihnen Sadjen und Worte eingegeben und alle Irrthümer 
in dem: theild vorher auf natürlichem Wege Erfundeten, 
theild eben. göttlich Mitgetheilten verhütet habe, Und dür⸗ 
fen wir num den erften Theil der Erklärung, welcher dem 
impulsus ad scribendum ‚enthält, übergehen, fo ftellt fich die 
Frage fo: Sind bieneuteftamentl. Schriften von 
ſolcher Beſchaffenheit, dag fie im ſtrengſten 

Sinne als frei von allen Irrthümern angeſe⸗ 
hen werden dürfen? 

Da finden wir nun, wie ed wenigſtens erſcheint, im 
ihnen: nicht unbedeutende Differenzen. Wir wollen nur 
bier bie verfchiedenen Gefchlechtsregifter. bei Matthäus und 
Lukas, die chronologiſche Abweichung der fonoptifchen Evv. 
von Johannes in Beziehung auf dad letzte Mahl Jeſu 
mit ben Jüngern und auf die Kreuzigung, — die größere 














üb. die göttl. Autorität d. nenteſtamentl. Schriften. 211 


Divergenz, daß nad jenen 3 nur Galilda, nadı Johannes 
ebenfo gut Judäa Schauplag der öffentlichen Wirkfams 
feit Chriſti if, erwähnen, wollen ferner daran erinnern, 
daß Matth. im 24. Kap. Jeſum fo reden läßt, ale ob ex 
feine Wiederkunft zum lebten Gerichte ald eins mit ber 
Verwüſtung des jüdifchen Landes und noch zu Lebzeiten 
der damaligen Gmeration gefchehend ſetzte, daß demge⸗ 
mäß die. Apoftel, namentlich Paulus, die Wiederkunft des 
Herrn als fehr nahe denken, — und nun fragen: Wie 
iſt dieß alles zu erflären? 

Da haben viele ältere und neuere Theologen, aus eis 
nem wohl ertiärbaren, guten Gefühle bemüht, in der 
Schrift um jeden Preis Alles feftzuhalten, zu unzähligen 
Hppothefen und gezwungenen Erklärungen ihre Zuflucht 
genommen (ich führe der Kürze wegen nur ein Beiſpiel, 
die auch won Dlshaufen erneuerte Bereinigung der Ges 
fehlechteregikter durd; Aunahme von Adoption und Levis 
ratdehe, an). Wird nun durch diefed Verfahren etwas ges 
wonnen ? Und wenn das Aufitellen fo gewagter Hypo» 
thefen auch nur darthun fol, daß das Behauptete doch 
wicht völlig undenkbar fey, ohne daß man damit fagen will, 
es fey wahrfcheinlid; fo gefchehen, ſtößt ein folches Ders 
fahren nicht den Unbefangenen ab? Erregt es in ihm nicht 
das dem beabfichtigten gerade entgegengefeßte Gefühl, den 
Argwohn, daß die Sache felbft, die man auf folche Art 
deweifen will, wohl hoöchſt unſicher, ja unwahrfcheintich 
ſeyn möge? Kommen dabei nicht ähnliche Kunſtſtücke, wie 
dei Strauß, zum Borfcheine? Werden dadurch nicht ges 
wandten Gegnern höchſt gefährliche Waffen geboten? Und 
was wird. am Ende dadurd gewonnen? Ein auch fols 
hen Erklärern einwohnendes hiftorifches Wahrheitsgeflihl 
kaun ſich doch nicht: überall verlengnen; man redet fi 
felbft doch nicht Alles ein und fieht fid) gezwungen, ber 
entgegengefeuten Ueberzeungung manche Conceſſionen zu 
machen, wodurch demnach die Strenge des Prinzips des 
| 14*# 











212 — garnad 


einträchtigt wird, Warum alfo follte man nicht lieber das 


Unleugbare geſtehen, warum nicht ausſprechen, was man 


halblaut ſich ſelbſt doch ſagen muß: der Apoſtel Anſichten, 


wie fie in den neuteſtamentl. Büchern vorliegen, find nicht 
durchweg im firengften Sinne irrthumefrei; es findet fich 
hie und da eine Meinung, die nicht gehörig begründet, eine 
Hoffnung auf die Zukunft, die im Einzelnen und. Kleinen, 
wenn auch-micht im Großen und Ganzen, durch den Ers 
folg widerlegt ift, eine Auslegung der Worte Ehrifti, wels 
che feinem Sinne nicht ganz entfpricht, eine Behandlung 
der altteftamentl. Stellen, eine Beweisführung aus ihnen, 
- welche nur der Zeit, der eigenthümlichen und volksthüm⸗ 
lichen Bildung der Apoftel entfpricht, für ung aber ihren 
Werth verloren hat, wie ed ſich 3.8. mit dem Gewichte 
verhält, welches Paulus Galat. 3, 16. auf den Genef. 
26, 4. gebrauchten Singular legt, und mit dem Gebrau⸗ 
che, den er von den Namen Sarah uud Hagar Salat. 4, 
24 ff. madıt? 

Oder zwingt und etwa die Schrift, fie für infpirirt in 
dem Sinne der völligen Fehlerlofigkeit zu halten? Wir 

müſſen ung dieſe Frage, um fie gründlich zu beantworten, 

in zwei auflöfen, nämlich: | 

1) Erheilt aus der Schrift, daß die Verfafler der neu⸗ 
teftamentl. Bücher fich bei dem Schreiben einer beſon⸗ 
deren göttlichen Hülfe erfreuten, noch verfchieden von 
ihrer allgemeinen Erfüllung mit dem h. Geifte, wodurch 
ihr gefchriebenes Wort die volle Würde eines un« 
fehblbaren Öotteswortes erhielte? — und menu 
dieß nicht erwiefen werden könnte, folgt aus ihrem Erfüllts 
feyn.mit dem Geifte im Allgemeinen, daß fle in ſich und 
darum in allenihren, gleichviel ob fchriftlichen, oder münd⸗ 
lichen Aeußerungen von allem Irrthume frei gewefen 
Teyen? 

Was die erſte Frage betrifft, fo beruft man ſich für 


| die befondere Infpiration der heiligen Schriften vor. 


‘ 











ub. bie goͤttl. Autorität der neuteflamentl. Schriften. 213 


nehmlich auf 2 Petr. 1, 21. und 2 Tim. 3, 16. Die erftere 
Stelle ift wenig geeignet, den firengen Infpirationsbegriff 
zu ftüßen; fie fagt ja nur: die Prophetie des A. T. ift nicht 
menſchlichen, fondern göttlichen Urfprungs; was die Pros 
pheten gefprochen haben, fam nicht aus ihrem natürlichen 
Vermögen, fondern Gott gab es ihnen durch überirdifche 
Offenbarung (man denke, wie die Art folcher Offenbaruns 
gen 3: 3. erhellt aus ef. 6. und Apgefch. 10); fo war es 
erflärlich, Daß jene heiligen Männer noch nicht den vollen 
Sinn des ihnen Gegebenen burchfchauten, und daß auch 
ihre Zuhörer oder Lefer dieſen noch nicht vor der Erfüllung, 
begriffen. Es fommt hier nicht Darauf an, ob der 2. Brief 
Petri authentifch fey, oder nicht, indem dad hier Auges 
fprochene gewiß allgemeine Ueberzeugung ber Apoftel war; 
anf jeden Fall ift aber hier nicht von der Schrift im Gans 
zen, fondern von der zgopnrele yoapijs und von einem 
Walten des Geiſtes auch im Anrsiv, nicht einer befondern 
assistentia im yoapsıy, die Rede; fomit kann die Stelle 
‚ wohl gegen diejenigen, welche alle eigentlich göttliche Ofs 
fenbarung in den Propheten, nicht gegen die, welche nur 
die abfolute Unfehlbarkeit der Schrift, die Infpiration ders 
felben im altorthodoren Sinne, leugnen, mit Grund ges 
braucht werden. 

Naher den Punkt, auf den es hier ankommt, treffend 
iſt 2Tim. 3, 16. Hier wird ausdrücklich die ganze Schrift 
des A. T. Heonvevorog genannt. Man fönnte freilic, noch 
fagen, daß damit, wenn auch ein Wehen des Geifted durch 
alle Theile der Schrift, doch nicht eine vollftändige Uns 
fehlbarkeit derfelben behauptet werde; aber wenneine fols 
che. auch nicht nothiwendig aus den Worten der Stelle ſich 
ergibt, fo möchte doch kaum geleugnet werden fönnen, daß 
Paulus die Schriften des alten Bundes insgefammt für uns 
fehlbar gehalten habe. Jedoch wenn einige Dogmatifer 
nun fchließen: die Apoftel halten das A. X. für infpirirt 
in jenem ftrengen Sinne; um ſo viel mehr müffen fie das 





Ro. 


214 Zarnacdk 


nene dafür halten, fo heißt dieß höchſt vorellig verfahren 
and bie eignen Anfichten Über den verhältnigmäßigen Werth 
der neuteftamentlichen Schriften zu den altteftamentlichen 
ohne Weiteres auch den Apoftelmbrimeflen. Wenn die Ans 
fit der neuteftamentl. Schriftftellee über da A. T. bie 
ind Einzelne abfolnt bindend für und ſeyn follte, fo müßte 
erft ihre Unfehlbarkeit feſtſtehen, und ſelbſt dann würde 
Daraus für das N. T. noch wenig folgen. Die Sache fcheint 
fich, nach unbefangenem Urtheile, durchaus fo zu verhafs 
ten: die Jünger Chrifti halten jene heiligen Bücher, deren 
Entftehung fich im Dunkel der Vorzeit verliert, für infpis 
rirt und unfehlbar; ihren eigenen Schriften aber, deren 
Urfprung fie kennen, von denen fie wiffen, auf welche Art 
fie entitanden, vindiciren fie nicht diefelbe göttliche Würde. 
Sie thun dieß in Wahrheit nie und nirgends. Ein folches 
Unterlaffen kann der, weicher weiß, daß das Verfchweigen 
der widhtigften Wahrheiten, um den Schein der Anmaßung 
zu vermeiden, nur von verſtecktem Hochmuthe zeugen wärs 
de, nicht von ihrer Befcheidenheit ableiten. Es ift.ebenfo 
undenkbar, daß die Jünger beim Schreiben un bewußt 
vom Geifte geleitet worden feyen. Denn der Geift der 
Wahrheit ift auch ein Geift der Selbfterfenntnig, und find 
fie fid) feined Beiftandes überhaupt bewußt, wie fie dieß 
fo vielfältig beweifen, wie follte ed gefchehen feyn, daß fie 
von dem noch hinzutommenden Beiltande zum Schreiben 
nichts fühlten, nichts wußten? Wir fehen ferner, die 
Jünger des Herrn berufen fi, wo dazu alle Beranlaffung 
gewefen wäre, durchaus nicht auf ihre Schriften als abs 
folut entfcheidend. Paulus überführt die Korinther im 2. 
Briefe nicht durch die ungweifelhafte Autorität des eriten, 
fondern das in jenem und in andern feiner Schriften Dar⸗ 
gelegte fuchter noch in den folgenden Briefen zu beweifen. 
Würde er dieß mit einem anerfannt eigenen Worte Ehrifti 
gethan haben? — Offenbar ordnet er auch die Antorität 
feines gefchriebenen Wortes weit ber Autorität Chriſti uns 


ab. die göttl. Autorität ber neuteſtamentl. Schriften. 215 


ter; wäre bad orthodore Dogma. von ber Inſpiration 
aber gegründet, fo fläuden fie völlig gleich. 

Es bleibt danach nur übrig, zu geftehen: win befonberer 
Beiftand de göt:lichen Geiſtes bei Dem. Auffeßen der news 
teftamentl. Bücher, der noch verfchteden wäre von dem alle 
genteinen apoftolifchen Erfülltfeyn mit dem Geiſte, und der . 
biefe Bücher ald nur Gottes Wort im eigentlichen 
Sinne enthaltend darftellte, ift aus jenen Hauptbeweidftels 
len nicht zu folgern. Nicht anderd verhält es ſich mit den 
übrigen Stellen der Schrift, welche zur Stützung ber ſchrof⸗ 
fen Infpirationstheorie angeführt zu werden pflegen. Wir 
können fie nach der Eintheilung von Haſe (Hutterus re- 
dirivus, $. 45.) durchgehen. 1) Erod. 2,275 Deut. 31,19; 
ef, 8, 15 Ger. 36, 2. Hier erhalten die Propheten den 
göttlichen Befehl zum Niederfchreiben gewifler Offenbarun⸗ 
gen; es läßt fi) aber daraus weder dieß fchließen, daß 
jedem Entfchluffe zum Schreiben ein folcher unmittelba⸗ 
rer Befehl Gottes vorausgegangen fey, noch daß in dem 
niedergefchriebenen Stücden kein Irrthum ſeyn könne. 2) 
Matth. 5, 17. Hier fpricht Jeſus die völlige Unverbrüch⸗ 
Jichkeit jedes Buchftabens im Gefeß aus. Iſt nun damit 
auch der ganze altteſtamentl. Coder gemeint und wird ihm 
Damit, den Audfpruch ganz wörtlich genommen, eine Ans 
torität gefichert, die er nur durch jene Inſpiration haben 
könnte, fo müflen wir bedenfen, daß Jeſus felbft bock das 
AT. mit einer foldhen Freiheit behandelt, nach der «8 
fcheinen muß, es liege ihm am Buchſtaben nicht fo viel (er 
citirt z. B., wenigftens nach ben Evangeliften, den Tert 
ber LXX., welcher dem Buchftaben nicht genan entfpricht), 
daß die Praris der Apoftel ergibt, wie fie keinesweges Das 
Wort be Herrn fo verftanden haben können, ale ob im 
eigentlichften Sinne auch der geringfte Buchflabe der Schrift 
heilig und unanflöslich fey. So bleiben und nur zwei Er⸗ 
Härungen übrig: entweder wir nehmen an, Matthäus 
babe ‚hier ebenfo, wie Kap. 21, Sefu Wort nicht vollkom⸗ 


216 Zarnack 


men genau wiedergegeben, — oder wir laſſen, wie die al⸗ 
ten Exegeten nothgedrungen thun, von der Strenge der 
Interpretation nach, und dann beweiſen die Worte nicht 
mehr die woͤrtliche Unfehlbarkeit der altteſtamentl. Schrif⸗ 
ten. Luk. 24, 27. thut doch nur dar, daß die Zukunft Chriſti 
den heiligen Männern unter dem alten Bunde durd; göttliche 
Offenbarung fo befannt war, daß der Erfolg mit der Weiſ⸗ 
fagung zufammentraf. Wenn der Berf. nun dieg für uns 
leugbar hält, fo fcheint ihm daraus jene Infpiration, wie 
fie oben erklärt worden, keineswegs zu folgen. Nicht mehr 
Kiegt in den Worten Joh. 5, 39, — und will man zu dies 
fen Ausſprüchen noch Matth. 22, 41— 45. fügen, fo wird 


“bier nichts weiter ausgefprochen, als bag Pfalm 110. 
meſſianiſch fey, und das kann er ſeyn ohne wörtliche Ins 


fpiration, wenu auch nicht ohne Offenbarung durch dem 
göttlichen Geiſt, — wie denn auch nur burch Verwerfung 


der letzteren, nicht durch Ablegung der erfteren, die 


Schrift aufgelöft wird 3) Die Stellen Joh. 14, 


16; 15,265 16, Aff.; Apg. 1,5; 2,1ff.; 4,31. enthalten im 


Allgemeinen die Berheißung des Geifted und beweifen ihre 
Erfüllung, fagen aber nichts über den befondern Fall des 
Schreibens, weßhalb fie erft weiter unten berücdfichtigt 
werben können. 4) Apg.15, 285 1Kor. 2, Of.; Epheſ. 3, 


5; Sal. 1,12. gehören ebenfo wenig hierher, indem fie 


. nur im Allgemeinen von wahrhaft göttlichen Offenbaruns 


gen durch den Geift reden, nicht von einer übernatürlichen 
befondern Hülfe beim Schreiben, — und freilich, wer jene 
leugnen wollte, widerfpräche aller Schrift. 5) Mark. 16,17; 
1Kor.12,1ff.; 1 3oh. 2,27, wozu man außer vielen andern 
Stellen nody Apg.2, 5 ff. fügen fann, zeugen von außerors 
dentlichen Gaben des Geifted, von denen auch erft fpäter 
die Rede feyn kann. 6) Ebenfo wentg gehören hier 
her &rod.4,125 Jer. 1,9; Matth.10, 205 Luf.12, 11—12. 
u. ſ. w. 


Wir komm en alſo auch hier anf dad oben ausgeſpro⸗ 


* 








üb. bie goͤttl. Autorität ber neuteflamentl. Schriften. 217 


chene Refultat zurück: die Zufpiration der h. Sqriftſteller, 
wie fie die ältere Dogmatik behauptet, als ein von der Er⸗ 
füllung mit dem h. Geiſte noch Berfchiedenes, zu ihr Hin⸗ 
zufommendes, als eine Bewahrung vor allen, auch den 
geringfügigften Irrthümern namentlih im Schreiben, 
erhellt nicht aus der Schrift. 

Somit fommen wir zur Beantwortung bed zweiten 
Theiles jener Doppelfrage: Folgt aus dem apoflolifchen 
Erfülltfegn mit dem Geifte Die völlige Unfehlbarkeit der 
Sünger in fi) und fomit in allen ihren Aeußerungen? 

Wir wenden und zuerft zur Erklärung der verheißens 
den Worte Ehrifti, Matth. 10, 205 Luk. 12, 11— 12; Joh. 
Kap. 14—16, und fragen: Sind diefe Worte fo zu urs 
giren, daß man jenes Leiten in alle Wahrheit als Auss 
fchließen alles Irrthums im firengften Sinne faßt? oder 
mit andern Worten: Wird in der Verheißung, deren Meis 
nung man Doc; unter Anderm auch aus der Erfüllung am 
Pfingſtfeſte erklären muß, eine fo vollländige Verändes 
rung der Jünger gefeht, daß fie nur vorher natürliche, 
irrthumsfähige Menfchen, von jener Stunde an aber 
reine, volllommene Organe des h. Geiſtes, wenig, 
ftens in Beziehung auf die Erfenntniß, gewefen wären? 

Mir fcheinen die Ausſprüche Jeſu nicht fo urgirt wer, 
den zu dürfen. Wenn Ehriftue fagt, er werde dann nicht 
mehr in zaposulaus, fondern zadgnol« mit ihnen. reden, 
fo heißt da8 gewiß ebenfo wenig, er habe vorher nur in 
zeporulaus, gar nicht zagsnole zu ihnen reden Dürfen, ale 
ed werde in feinem Worte ihnen von jener Stunde an 
nichts mehr wagoıula, fondern Alles durchleuchtend klar 
feyn; denn in bemfelben Zufammenhange nennt er bie 
Sünger Freunde, indem er ihnen. Alled Tundgethan, 
was er vom Vater gehört; er bezeugt fchon früher, daß 
dem Petrus nicht durch Fleifch und Blut, alfo nicht auf 
natürlichem Wege, bie Ueberzeugung von feiner Würde 


gekommen fey, fondern vom Bater, mithin durch ben Geift, 


\ 


218 Zarnack 


und Paulus, der doch den Geiſt nicht in geringerem Maße 
hatte, als die übrigen Apoſtel, fagt, daß ihm die unſicht⸗ 
bare Welt nur in alvlyunoıv ertennbar ſey, was doch nicht 
wefentlidy verfchieden ift von zaposulass. Somit ift die 
Anficht, dag Chriftns dort nur von einem relativen Unter⸗ 
ſchiede, von einem Mehr und Weniger rebe, welche weis 
ter unten genauer zu mobiftciren fegn wird, gewiß hinreis . 
chend begründet, und derjohanneifche Ausſpruch, Ev. Joh. 
7,39, daß vor Chrifti Verklärung der Geift noch nicht da 
gewefen, darf darum nicht von einem abföluten Mangel 
des Geifted während des irbifchen, niedrigen Lebens Jeſu 
verfianden werden, wie darüber ja wohl kaum noch Ders 
ſchiedenheit der Meinungen beftehen kann. 

Der heilige Geift ift alfo am Pfingfttage nicht in ab» 
foluter Fülle über die Jünger gefommen. Nähmen wir 
dieß an, fo ftellten wir fie auch zu bedenklich Chrifto gleich. 
Hat der Herr fie aud, annähernd Freunde, nicht Knechte 
nennen wollen, fo waren fie Doc, über den Namen und 
Stand der Knechte nie durchaus erhaben; fie. durften nie 
im firengen Sinne fagen: Wir und Chriſtus find eins; 
wer und fiehet, fiehet den Herrn; fo gab ed auch für Einen 
nur, für Sefum, feine Geheimniſſe im Reiche Gottes; fr 
die Sünger blieben folche vorher und nachher. 

Waren fie aber nicht.allwiffend; war von dem Rathe 
Bottes ihnen Vieles verborgen; führte ber heilige Geiſt fie 
allmählich der fchranfenlofen Erfenntniß näher, fo daß fie 
Diefelbe im irdifchen Dafeyn nie erreichten, fo wäre dabei 
noch Iogifch möglich, daß fle fih nicht geirrt hätten; e6 ° 
ift ja verfchieden, in Manchem unwiffend feyn, und im 
Manchem fid, irren; — manche Wahrheit nicht kennen, 
und Falfıhed meinen. Aber in ber Wirklichkeit läßt ſich 
nicht wohl denken, daß ein Menſch Manches nicht wiffen 
und doch in feinem Stüde Falſches meinen -follte; vielmehr 
folgt, wie Schleiermacher einmal bemerkt, aus dem nicht 
Alles Wiffen eigentlich auch das nichts abfolut 








üb. die göttl. Autorität der neuteſtamentl. Schriften. 219 


Wiſſen; im Reiche Gottes hängt eine Erfenntmif ſo am 


der andern, daß jede von allen übrigen erft ihr rechtes 
Licht erhält; aus dem ſtückweiſen Erkennen folgt auch das 
dunkle Erkennen (1 Kor. 13), und wenn durch das neue 
göttliche Leben, welches der h. Geiſt wirft, doch nur all⸗ 
mählich der Teig durchſäuert werden kann, wenn dieſer 
Geiſt doch des Menſchen Seele nicht zu einer tabula rasa " 
macht, auf die er täglich mehr fchriebe; wenn im Gegen, 
theile viel Eigenes im Menſchen zurücbleibt, um von dem 
Goͤttlichen in fortfchreitender Entwidelung überwunden zu 
werden, fo ift ed nothwendig, anzunehmen, daß in dem 
Beftreben, das übrig gebliebene Dunkel zu erhellen, Zus 
fammenhang. in das bruchftädwets Erkannte zu bringen, 
auch die eigenen Gedanken der Apofiel einen bid zu einem 
gewiffen Grade flörenden Einfluß übten. 

Es läßt ſich ferner nicht denken, daß bei ſittlicher Un⸗ 
volltommenheit Freiheit von Irrthum beftehe; das Eben⸗ 
bild Gottes ift ein einiges; es kann nicht in einer Bezies 
hung, wie in der der Erfenutniß, vollendet feyn, während 


‚ihm in anderer, in der der Sittlichfeit, viel mangelte. 
Ganz deutlich wird dieß Dusch genaue Erwägung der bes 


kannten Gefchichte von des Petrusund Barnabas Schwach⸗ 
heit, Gal. 2, 11ff., in deren Beurtheilung der treffliche _ 
Neander (in der Gefch. der apoftol. Zeit) wohl irrt. Pe⸗ 
trus that, um nur ihn zu erwähnen, ſich der falfıhen Mei⸗ 

nung ber Judenchriſten fügend, Unrecht. Wenn er die Sa⸗ 
che aber fo benrtheilt hätte, wie Paulns, würde er ed ges 


than haben? Würde er, im Maren Bewußtfeyn, er thne 


daran wider Gott, die Sünde begangen haben? Wenn 
dergleichen überhaupt vorfommt, fo bezeugt es Die Außerfte 
Verſtocktheit, welche wir dem irrenden Jünger gewiß nicht 
zutrauen dürfen; es gefchah vielmehr ohne Zweifel in ihm, 
wie in und .allen die Sünde zur That wird; man dispu⸗ 
tirt fich die Bedenklichleiten hinweg, Das Bewußtſeyn bed 
Rechten wird durch Furcht und Begier verbuntelt; und fo 





220 | j Sarnad 


irrte Petrus wenigfteng ———— in einem Punkte 
der chriſtlichen Lehre, der dem Paulus ſo wichtig ſcheint, 
daß er das Aufgeben deſſelben einem gänzlichen Abfalle von 
Chriſto gleich ſetzt. Wo aber Irrthum in der Seele iſt, 
wird er auch durch Worte offenbar. Es wird unter jenen 
Judenchriſten, zu denen ſich Petrus damals, mit Zurück⸗ 
ſetzung der Brüder aus den Heiden, hielt, ohne Zweifel 
auch die Verbindlichkeit des moſaiſchen Geſetzes zur Spra⸗ 
che gekommen ſeyn, und dürfen wir glauben, daß Petrus 
fich da ohne Irrthum darüber geäußert — Das iſt wohl 
undenkbar. 

Paulus ſetzt ferner voraus, daß in den vom Geiſte 
Erfuͤllten mancherlei Irrthümer übrig ſeyen; es herrſcht 
ja Differenz der Meinungen, welche durch gegenſeitige 
Verſtändigung ausgeglichen werden muß, und wenn er, 
zur Stützung ſeiner Autorität, ſich auf den ihm gegebenen 
Geiſt beruft, J1 Kor. 7, 40, fo tritt er damit nur der Ans 
maßung Solcher entgegen, welche, weil fie den Geift em⸗ 
pfangen, ihren Willen für Geſetz erflärten, und fagt: Sch 
bin nicht geringer, als fie; wir ftehen une gleich; haben 
fie den Geiſt, ich habe ihn auch. 

Sagt man dagegen, wie Biele thun, die Apoftel ſeyen, 
wenn auch im Privatleben dem Serthume unterworfen, 
doch in ihren amtlichen Aeußerungen unfehlbar gewefen, 
fo ift dieß zuerfl-eine unerwieſene Borausfegung, und 
dann ift der Unterfchied zwifchen Privatäußerungen und 
amtlichen nicht mit Beftimmtheit feftzuftellen. Man darf 
wohl behanpten, die Apoftel fühlten ſich Überall in ihrem 
Berufe, der eben war, auf alle Weife, durch Privatges 
ſpräch und öffentliche Predigt, durch häusliches umd kirch⸗ 
liches Leben Herzen für das Himmelreich zu gewinnen, und 
fo iſt jener Unterfchied nur ein relativer und fließender. 
Soll aber daraus die Unfehlbarkeit der neuteftamentlichen 
Schriften bewiefen werden, fo ift auch in ihnen gar nicht 
auszumachen, was amtlich und nichtamtlich ſey. Wenn 








ab, bie göttl, Autorität der neuteflamentl. Schriften. 221 


kLukas für den Theophilus Evangelium und Apoſtelge⸗ 
ſchichte aufſetzt, thut er das freundſchaftlich, oder von 
Amtséwegen? und wenn das letztere, was hatte er für ein 
beſtimmtes Amt? Wenn Paulus dem Philemon ſchreibt, 
fo möchte man diefem Briefe am allerwenigften einen amts 
lichen Charakter beilegen, und hat er darum eine gerins 
gere Autorität, als andere feiner Briefe? — Wenn der 
Derf. durchaus nicht leugnet, daß die Apoftel in wichtigen 
Angelegenheiten der Kirche und da, wo fie fich vorzüge 


lich in ihrem heiligen Berufe fühlen, and) kräftiger vom 


Geifte durchdrungen werden, fo läßt ſich doch daraus eine 
abfolute Unfehlbarkeit ihrer Schriften nicht darthun. 
Mithin ift eine Snfpiration der h. Schriftfteller ale Aus⸗ 
fchließung jedes Irrthums, wonach namentlich die neu⸗ 
teftamentl. Bücher ohne menfdhlichen, ftörenden Einfluß 
entitanden, im abfoluten Sinne nur göttlich wären, aus 


der Schrift nicht zu erweifen; ja es ift eine folche Inſpi⸗ 


ration nicht einmal denkbar, man müßte fie denn ale ein 
ganz mechanifches Dietiren faffen und bie Eigenthämlichs 
keiten der Anſchauungs⸗ und Darſtellungsweiſe von einer 
Accommodation des h. Geiftes ableiten, was doch faumein 
Dogmatifer unferer Zeit wagen möchte. 

Es gibt allerdings einen efftatifchen Zuftand, in dem 
das niedrige Bewußtſeyn zurüctritt und menſchliche Ges 
danken nicht merklich einwirken. Bon einem folchen redet 
Jeſaias, Kap. 6; in einem folchen befand ſich Petrus nad 


Apoſtelgeſch. 10; in demſelben Paulus zuweilen, z. B. auf 


der Reife nach Damascus (denn nach feiner eignen Erzäh⸗ 
Inng, Apoftelgefch. 22,9, war die vernommene Stimme 
nur innerlich zu vernehmen, den Begleitern unhörbar) und 
nad 2Kor. 12, 1ff. Hier darf man wohl annehmen, daß 
die göttliche Kraft Überwiegend und herrichend war. Dem 
fchließt fich der Zuftand an, in welchem die erften Ehriften 
in Zungen redeten und weiſſagten; aber wenn es 


ſerlbſt von einem ſolchen heißt: wvsvpnare zgopnTÄV zg0- 


m Zarnack 


grrinıg Sxorudosres, 1Kor. 14, 32, wie viel weniger kann 
der Zuftand des befonnenen Ueberlegend, wie er bei dem - 
Schreiben und Dictiren.vormwaltet, ald tin folder anges 
fehen werden, - in dem ber. heilige Geift die Jünger mit 
Beruichtung alles. ihnen Eigenen zu feinen reinen Organen 
machte? — Bei aller Erfüllung durch den 5. Geiſt, vor⸗ 
nehmlich in dem ruhigen, befonnenen Zuſtande, muß man 
vielmehr zwei Kactoren unterfeheiben,. die göttliche und 
die menfhliche Thätigkeit.. Die göttliche bleibt diefelbe, 
ed ift derfelbe, einige Geiſt; er wirkt aber in den verfchies 
denen menschlichen Berfönlichkeiten verfchieben nach Maßs 
gabe der Umſtünde, vornehmlich aber nach Verhältniß ihrer 
Empfänglichkeit und Renitenz. — Nur wo jene völlig uns 
begrenzt und Diefe gar nicht vorhanten, mo feine einwoh⸗ 
sende Sünde und. Finfterniß ift, wie in Chriſto, kann dad 
Wort des. dann ohne Maß vom Geiſte erfüllten Menſchen 
vollfommen gleih Gottes Worte geſetzt werden. Auch 
wir haben ja den Geiſt; doch können wir von keinem 
Worte, bas wir fprechen, wenn es nicht bloß Wieder⸗ 
bolung des Wortes Ehrifti ift, im ſtrengen Sinne behaups 
ten, es fey Gottes Wort, und ift nun auch, wie die Ge⸗ 


- fchichte unwiderſprechlich lehrt, in jenen erften Chriſten 


der. h. Geiſt in einen reicheren Maße und mit einer wuns 
derbareren Wirkſamkeit gewefen, ale in uns, fo haben fie 
ihn doch immer in einem Maße, nicht solllommen , gehabt, 
fo Sönnen fie durch ihn nur im Maße, nicht abſolut, in 
ale Wahrheit. geleitet und vor allem Irrthume — 
worben ſeyn. 

Iſt nun aber die Lehre von der Inſpiration der neu⸗ 
teftamentL_Schriften in dem Sinne, wie fie eine abfolnte 
Unfehlbarleit bedingen wilrde, wicht fchriftgemäß,, fo fras 
gen wir: Wie hat fie ſich bilden fünnen? Auf: weichem‘ 


Grunde if fie erbaut? Was har die alten Dogmatiker ben 


ſtimmt, fie fo auszubilden? Was haben die Bertheibiger 
des alten Syſtems noch heute für Gründe, fie en 
zu wein: 


/ 


Ab. die göttl. Autorität der neuteftamentl. Schriften. 723 


Wenn der fchärffte Gegenfab gegen ben Pelagianifinns 
der reformatorifchen Dogmatif zum Grunde lag; wenn 
die Anficht derfelben von der Erbfünde als einer totalen 
Unfähigkeit zu allem göttlidy Guten in Beziehung auf bie 
Ertennmiß, wie auf das Thun, eine beſtimmte, über allen 
Zweifel erhabene, volltommen göttlidye Autorität forderte, 
fo glaubt man diefe nur begründen zu fönnen durch ben 
irengiten Begriff von der Infpiration und Unfehlbarkeit 
der Schrift, die allein Glanbensartikel gründen follte, 


Diefen Begriff fand man ale allgemein geltende Anficht dee 


Kirche vor; man durfte ihn nur beftimmter hervorheben 
und genauer ausbilden; ihn zu begründen, erfchien ale 
weniger nothwendig, da er von keinem mächtigen Gegner 
befämpft ward. So vergaß man bald, wie Luther, von 
einem tiefen, innigen Wahrheitsgefühle geleitet, die Schran⸗ 
ten einer flarren Eonfequenz durchbrochen und die Schrift 
mit großer Freiſinnigkeit behandelt hatte, und gefiel ſich 
Darin, den Infpirationsbegriff immer confequenter und 
Dadurch fchroffer zu faffen. — War. im Unmiedergebornen 
in Wahrheit keine Spur. von Gefühl für. die göttlichen 
Dinge übrig, fo mußte ein mit voller göttkicher Autorität 
bewaffneten. Buchftabe daftehen; es reichte üicht mehr 
bin, den Inhalt der Bibel für fehlerfrei zu erflären; 
man ging fo weit, eine göttliche Bewahrung vor Irrthum 
in der Nunctation des hebräifchen Coder anzunehmen, unb 
da felbft fo der Intherifche Glaube noch nicht beftimmt gen 
ung gewührleiftet war, indem verfchiebene Erflärung mögs 
lich blieb, fo fuhr man fort, die Symbole, in denen die 
Streitpuntte mit viel größerer Genauigkeit und Schärfe 
befiimmt waren, ebenſo, wie die Schrift, für. unfehlbar 
zu halten. Wenn man dabei noch die Autorität der Bibel 
als ber norma normans von der der Symbole als ber 
norma normata unterfchied, fo war dieß doch im Grunde 
unmeientlih, — denn daß Irrthümer in den lutherifchen 
Glaubens bekenntniſſen enthalten ſeyen, durch Mißverſtand 


5% 


>y Barnad 


der norma normans,, gab doch Feiner ber alten Dogmatiter 
zu. — Wenn nun, nachdem ſchon durch die calixtifche und 
fpenerfche Schule an diefent harten Steinhaufe der Ortho⸗ 
dorie, aus weldyem bei der größten Vollftändigkeit und 
Unverlegbarkeit der Außenmanern, der innerliche, geifts 
liche Gehalt des Glaubens faft entflohen war, gerüttelt 
worden, endlich der Rationalismus der neueren Zeit von 
bem alten Gebäude der Dogmatit nichts übrig gelaffen 
hat; wenn er fein loſes Spiel nur durch die Anficht, daß: 
die Schrift gar nicht infpirire fey, daß überhaupt im 
Chriftenthume Beine eigentliche, übermenfchliche Offenbarung - _ 
gegeben ſey, treiben Fonnte, fo ift eine flarre Anhänglich⸗ 
Beit vieler unferer gläubigen Theologen an dem alten In⸗ 
fpirationdbegriff aus dem Gegenfage gegen jenes deſtrui⸗ 
rende Princip fehr erflärlih. Man hat ſich in den theolos 
gifchen Streitigkeiten überzeugen müflen, wie Die gerühmte 
Bernunft doch in conereto nichts Beltimmtes, Sichere® _ 
- Über die höchften Gegenftände des Denkens und: Lebens 
Iehre, wie, was dem Einen vernünftig erfcheint, von dem 
Andern für abfurd erflärt wird, während es dem ruhigen 
Beobachter fcheinen muß, Vernunft und Unvernunft fey 
zwifchen ben Streitenden ziemlich gleich vertheilt. Man 
hat ſich aus der Ängftlichen Unficherheit zur gläubigen Ans 
ertennung einer höheren Autorität gewandt und hat ges 
glaubt, fich diefe nicht anders, ald durch Annahme eines 
infpirirten Wortes fichern zu können. Wenn man fich nun 
auch, von allen Seiten gedrängt, mandyerlei Eonceffionen 
zu machen genöthigt fah, welche eigentlich die Segel 
fhon aufhoben, fo hat man fich dennoch den Begriff fo 
gut, wie möglich, zu bewahren geſucht, und fo gibt es. 
unter unferen gläubigen Theologen (ber Laien nicht eitts 
mal zu gedenken) viele, welchen es dünkt, als ob mit der 
alten Snfpirationstheorie der Grund des Glaubens aufs 
gegeben und mit ber Einräumung einiger Irrthlmer im 
RE dem kecken Verfahren bed Nationalismus Thor und 


- 











üb, bie goͤttl. Autorität ber neuteſtamentl. Schriften. 225. 


Thür geöffnet würde, die, auf Erfcheinungen, wie das 
ftrauß’fche Werk hinzeigend, ausfprechen: das muß dars 
aus werden. 

Aber fuht man einen Grund und Boden der Ueber⸗ 
zeugung, auf dem man feftfichen könne, fo muß dieſer 
zuerft feftftiehen; wie es ſich aber mit jener Iufpirationds 
theorie verhalte, ift aus dem Vorhergehenden klar gewors 
den; fie entbehrt des biblifchen Beweiſes; wer fie ſich ans» 
eignen will, muß fie millfürlich auf Menfchenwort anneh⸗ 
men. Und was wird nun daraus? Fällt bei näherer 
Kenntniß der Theologie, ja wenn man fich nach dem 
Rathe Einiger auch dagegen verfcließen wollte und 
könnte, fällt bei genauerer Kenutniß der h. Schrift felbft 
nicht die unfichere, durch Menfchenwilllür erbaute Grund» 
lage zufammen und mit ihr das ganze dermalige Gebäude 
des Glaubens? Wird man fih dann, in der Zeit der 
Anfechtung, mit jenem Beweife für die Infpiration tröften 
können, der da feht, fie fey nochwendig, wenn die Offens 
barung überhaupt nüglich feyn fole? Wird der Gedanke 
ſich nicht aufdrängen: Wäre die Ueberzeugung von der 
abfoluten Unfehlbarfeit der Schrift wirflid, ald Grundlage 
bed Glaubens nothwendig, fo würde dieſe Lehre beſtimmt 
in der Bibel ausgefprochen feyn, da doch nun im Gegens 
theil ihr ganzer Inhalt dagegen fpricht? Und fällt man 
nicht durch dieſe Art der Beweisführung in das libel bes 
rüchtigte Verfahren des Nationalismus hinein? Wenn 
man fagt: Gott Eonnte anders Feine Offenbarung geben; 
— er mußte für ihre genaue und unfehlbare Ueberlieferung 
forgen , heißt das nicht, dad Verhältniß unferer Erkennts 
niß zu der unerforfchlichen göttlichen Weisheit verfennen?— 
Nein, anmaßlicher Menfch, es iſt deine Sache nicht, zu 
fagen: So mußte Gott thun, alfo hat er fo gethan, fon, 
"dern in fiiller Erwartung der Wunder, die du ſchauen 
werdeft, den verborgenen Wegen Gottes nachzugehen, zu 

Theol, Stud. Jahrg. 1889. 16 


* 


— 


226 Zarnack 


forſchen: Wie hat Gott gethan? und dich mit freudigem 
Dante in feinen Willen zu fchiden. Thuſt du nicht fo, 


dann ftraft fich deine Unbefonnenheit früher oder fpäter; 


in der Zeit der Anfechtung fällt dee auf Menfchenantorität, 
d. h. auf Sand, gebaute Glaube zufammen. 

Und. wenn man ſich felbft überreden fünute, die ortho⸗ 
doxe Infpirationstheorie ſey wohl begründet, fo hätte man 
darin Doc; noch nicht den gefuchten unantaftbaren Grund | 
des Glaubens; es bedärfte für jenerängfllichen, am Buchs 
ſtaben haftenden Chriften noch eined andern. Es müßten 
Die h. Bücher zunächſt durch übernatürliche Leitung der 
Abfchreiber von Zufäßen, Gloffemen, Schreibefehlern fo 
frei erhalten feyn, daß für jeden Buchflaben und Punkt 
feftlände, was göttlich autorifister Tert wäre. Daun 
wären nod au taufend Stellen verfchiedene Erklärungen 
möglich, und fo bedürfte ed der infpirirten Exegeten; es 
müßte, weil Doch die große Mehrzahl der Chriſten die 
Schrift: nichtiin den Urfprachen leſen fann, in jeder Landes⸗ 
fprache eine. göttlich autorifirte Ueberſetzung geben, follte 
anders ibe Glaube nicht auf Menfchenwort beruhen; es 
bedürfte auch noch der infpirirten Erflärung der Ueber⸗ 
fegungen, indem auch Diefe verfchiedene Erklärungen zus 
laſſen. — Man antwortet, dieſes Apparates bedürfe es 
nicht, denn ein unbefangener, wahrbeitliebender Sinn, 
der an Gottes Wort nicht mäfeln will, fondern die Er⸗ 
kenntniß zum geile der Seele fucht, werbe bie richtige Er⸗ 
Hörung wohl treffen. Ganz wohl, ich bin: davon gleichs 
mäßig überzengt, aber ein fo reines Herz, durch die 
Guade vorbereitet und befähigt, Gott zu ſchauen, wird 
auch von der Wahrheit ded Evangeliums überzeugt wers 
den ohne Kenntniß des Infpirationdbegriffe, Freilich 
weun zwei Menfchen von gleich reinem Gemüthe, 3.2. ein 
Rathanael und ein Eornelius, die Schrift leſen, fo wer» 
ben die Glaubensbekenntniſſe, welche fich jeder von ihnen 


&b. die göttl. Autorität der neuteſtamentl. Schriften. 227 


daraus bildet, noch in unwefentlicheren Dingen verſchie⸗ 
den ſeyn; fo fol ed aber andy feyn, und eine größere 
allgemeine Uebereinftimmung wird nur durch bie nene 
Willkür, daß man den Symbolen eine der Schrift gleiche 
Würde beimißt, erzielt werden können. Mithin, wii 
man fich nicht immer weiter in grundlofe Borausfeßungen, 
wähnend, damit einen feſten Grund bed Glaubens zu er⸗ 
bauen, verlieren, fo leiftet Das alte Dogma von der In⸗ 
fpiration der Schrift gar nicht einmal, was ed fol. Und 
fo wäre auch von diefer Seite feine Urſache da, ed um 
verändert feſtzuhalten. 

Nachdem wir und aber durch diefe negativen Erläns 
terungen ben Weg gebahnt haben, fchreiten wir zur pofls 
tiven Beantwortung der Frage! Wie verhält ee fid 
mit der göttlihen Autorität der neuteflaments 
lihen Schriften? - 

Hier kommt es nun zuerft darauf an, anf rein hiſtori⸗ 
[chem Wege die menfchliche Glaubwürbigkeit jener Büs 


. cher darzuthun; ein anderes Verfahren ift durchaus unzus 


läffig; jede Dogmatifche Argumentation muß, wenn man 
nicht zuvor mit dem hiftorifchen Beweile aufs Reine ger 
tommen ift, an dem Fehler leiden, daß fie vorausſetzt, 
was erft erwiefen werden fol. Und namentlich in ber 
neueften Zeit, wenn durch den Angriff von Strauß auch 
fein Stein von dem hiftorifchen Fundamente bed Glaubens 
unangetaftet geblieben ift, und wenn dad Nieberreißen 
durch eine anmaßliche, kecke Kritik gefchah, fo muß dieß 


Fnundament durch eine beffere Kritit wieder aufgebaut wer⸗ 


den. — Wenn dieſe nur den unerlaßlichen Forderungen 
entfpricht, wenn fie in einem ernſten, dem heiligen Gegen⸗ 
ande angemeflenen, aufrichtig wahrheittiebenden Sinne 
geübt wird, fo wird fie die beiden Abwege, anf welche fie 
fo. oft gerathen ‚, gleichmäßig vermeiden, nämlich den des 


dreiſten uebermuthes, ber des Auffpärens von angeblichen 


15 * 


228: |  Barnad 


Mängeln des alten Gebäubes, des Nüttelnd und [honungs« 
kofen Niederreißens fein Ende tennt, und den des liſtig 
fophiftifchen Bertheidigend des unhaltbaren Alten, bloß 
weil ed hergebracht und der trägen Gewohnheit lieb ger 
worden iſt. So wird fie bie unzweifelhafte Echtheit der 
bei Weitem meiften neuteftamentl, Schriften in ein helles 
Licht ftellen und zu dem Nefultate führen, daß in der Aufs 
nahme derjenigen, welche man nicht mit berfelben Evidenz - 
als echt urchriftlich erweifen kann, die alte Kirche unter 
Beiltand des heiligen Geiftes durch ein fehr richtiges Ges 
fühl geleitet worden fey, indem, mit fehr wenigen Modi⸗ 
ficationen, derfelbe Geift und Glaube in ihnen, wie in 
den ungweifelhaften, herrfchend, fie von’ den apofryphis 
ſchen und. häretifchen auf. das Beſtimmteſte unterfcheidet, 
daß die Kirche wohl in dem lirtheile, daß ein neuteſtamentl. 
Buch von dieſem oder jenem Berfafler herrühre, zuweilen, 
nicht aber in dem, ob eine Schrift apoftolifchen Sinnes 
und Charakters fey, geirrt habe. 

So treten zuvörderſt diefe heiligen Schriften in eine 
‚Reihe mit den vollkommen fihern Documenten ber Profans 
gefchichte, und dieß ift ihre menfchliche Autorität. Sind 
wir num von diefer feſt überzeugt, fo fteht und das Bild, 
welches fie vom Erlöfer und von den Zuftänden der ur» 
hriftlichen Zeit geben, aus der fie unmittelbar hervor. 
gehen, als unbezweifelt da. Mag es feyn, daß in der 
Mittheilung von Reden und Thatfachen einzelne Fehler 
vorfämen, wenigftens folche, welche die Wahrheit dieſes 
Bildes wefentlich alterirten, Fönnen von den h. Schrifts 
fiellern, fchon weil fie einfadre, unbefangene, wahrheits 
liebende, weder durch falfche wiflenfchaftliche Theorien 
verfchrobene, noch burch irdifched Intereſſe verführte 
Männer find, nicht begangen worden feyn. — Zu diefem 
Bilde der erften Gemeinde gehört aber durchaus wefentlich, 
ja al&.der alles Andere bedingende Grundzug, bie Ers 





* 


ab. die goͤttl. Autorität ber aeuteſtamentl. Schriften. 229 


füllung ber erſten Chriſten mit bem heiligen Geiſte, und 
eö follte denfbar ſeyn, daß Alles, was wir bavon in ber 
Schrift leſen, wenn nicht erſonnen fey, Doch auf falfcher 
Erflärung natürlicher Thatfachen beruhe? Der Schreiber 
dieſes wenigſtens muß geftehen, daß ihm kein Factum der 
älteren Gefchichte gewiſſer beglaubigt erfcheint, als dieß: 
Chriſtus hat den Seinigen den. heiligen Geiſt alö übers 
menfchlich fräftigen Lehrer und Führer verheißen, und 
diefes. Wort ift auf eine unzweifelhaft erfennbare Weife in 
Erfüllung gegangen. Dieß Walten des Geiſtes motivirt 
ja fo fehr die ganze Entwidelung der Kirche mit ihren wich 
tigften Thatfachen, daß, wenn es hinweggebacht wird, bie 
ganze ältefte Gefchichte ber Kirche unerBlärbar wird, Go 
wird ja, um nur eind anzuführen, Petrus erfl Durch dem 
auf Cornelius und die Seinen ebeufo, wie auf die Apoftel - 
am Pfingittage, fallenden Geiſt gründlid) überzeugt, baß, 
den Heiden die Aufnahme weigern, heiße, wiber Gott 
reiten; — durch feine Erzählung der Begebenheit erlau⸗ 
gen die Gläubigen zu Jeruſalem ſodann diefelbe praftifche - 
Ueberzeugung, und diefe wirb Grund, daß die chriftlichen 
Miffignäre ſich auch an die Heiden wenden, fo daß alfe 
Durch dieſes Factum bie Praxis der Kirche feft entjchieden 
wird. 

Der heilige Geift fällt aber auf die Gläubigen ber apo⸗ 
ſtoliſchen Zeit überall in derfelben wunderbaren Weife, fo 

daß, wo dieß noch nicht gefchehen, die Aufnahme in das 
Reich Ehrifti noch nicht ald vollftändig angefehen. wird 
(Apoſtelgeſch. 8, 14 ff.; 19, Iff.). Derfelbe verBlärt ihnen 
Ehriftum und erhält fie in enger Gemeinfchaft mit ihm 
und dem Vater; er leitet fie in alle Wahrheit, aber fchon 
wegen feiner Allgemeinheit gibt er den zuerft von ihm 
erfüllten Züngern Beine völlig entfcheidende. gebietende 
Autorität über Die andern Chriften; wo fie eine folche in 
gewiffem Maße in Anfpruch nehmen, thun fie es nicht 


Ss 


30... Barmad:. .. 


‚ als Inhaber des Geiſtes, ſondern ald Augenzengen bes 
Lebens Chrifti (Apoftelgefih. 1, 21° 22) und ald von ihm 
berufene, mit. der Leitung der geſammten Kirche beaufs 
teagte Diener (xAyzol awogsoloı). 

Diefer Geift num führt die Chriften überhaupt und 
namentlich: die Apoftel nicht. fo in alle Wahrheit, daß er 
fie auf einmal mit ihrem gangen Strome überfchlittete, 
fondern fo, daß er fie im allmählichen Kortfchreiten von 
Stufe zu Stufe hebt und in der lebendigen Wechſelwirkung 
der Heiligung und Erkenntniß zu immer veineren Gefäßen 
feiner göttlichen Herrlichkeit bildet. 

Die Gläubigen find aber nicht zu allen Zeiten gleich 
vol des Geiſtes. Sie befinden fich zuweilen im efftatifchen 
Zuſtande; fie erhalten in folchem und in Träumen unmits 
telbare Offenbarungen cf. weiter oben); ed werden ihnen 
überhanpt folche, oft ift nicht ‚genauer gefagt, wie? zu 
Theil, vergl. 3.3. Apoftelgefch. 20, 235 21,11. u. f. w. 
— Der gewöhnlichfte Erfolg und Ausdruck des Hingenom⸗ 
menſeyns vom Geiſte ift das wgopmrevav und YyAaodaıg 
Aulsiv, letzteres mit fo weitem Zurüdtreten bed gewöhns 
lichen menfchlihen Bewußtfeynd, daß es für die yAco- 
ons Amloüvres der dpumvevovres bedarf. — Auf ſolche 
Art werden den Gläubigen unmittelbar die Befehle Gottes 
gegeben; fie erhalten jo auch Kunde desjenigen götts 
lichen Willens, der nicht im unmittelbaren Zufammen» 
hange mit dem Worte Ehrifti ſteht (ſo konnte ja aus 
Jeſu Worten auf Feine Weile folgen, daß gerade Paulus 
der Heiden Bote werben follte, oder daß er nach Maces 
donien gehen müßte). Es tritt hier dad Vermitteltſeyn 
aller Dffenbarungen Gottes an Die Gläubigen durch Chris 
ftum nicht fo beutlid; hervor. 

Solche Augenblide der höchften Zutpysıa Des Geiſtes, 
wenn fie auch felten find, Können fchon an fich nicht ohne 
Einfluß anf den übrigen Verlauf des Innern Lebens fepn; 








üb. die goͤttl. Autorität der neuteſtamentl. Schriften. 231 


die Shriften find in allen übrigen Augenbliden nicht leer 
vom Geifte, aber er wirkt hier ftiller, fo zu fagen, na⸗ 
türlicher,, nicht ale neue Offenbarungen mittheilend,, fon» 
dern an das Wort des Erlöferd erinnernd, es erklürend, 
feine Anwendung auf alle Lebensverhältniffe zeigend. — 
Die Wirkſamkeit des Geiſtes ſenkt fich audy tief herab, fo 
3.3. erfcheint fie in jener Zeit der Schwachheit Petris 
nie verfchwindet fie ganz, fo lange der Glaube bleibt, 
denn gängzliche Leerheit vom Geiſte wäre völlige Trennung 
von Chriſto. Zwifchen beiden Ertremen, dem faft ganze 
lichen Hingenommenfeyn von der überwältigenden Kraft 
. des Geifted und dem beinahe Verlaffenfeyn von ihm, bes 
wegt ſich überhaupt das chriftliche Leben, unb fo auch in 
der apoftolifchen Zeit. — Aber kräftiger, intenfiver in den 
Einzelnen ift damals diefer Geiſt; je weniger der Sauer⸗ 
teig die ganze Maffe durchfäuert hat, defto mehr iſt er auf 
einen Punft concentrirt. Die Kräfte ber neuen Schöpfung 
regen fich -Iebendiger in der frifchen Jugend; baher zur 
Zeit Chrifti und der Apoftel auch die Wunder, welche fich, 
ohne daß eine beftimmte Zeit ihres Aufhörend angegeben 
werden fönnte, allmählich verlieren. Seit aber der heilige 
Geift Gemeingut einer fehr ausgebreiteten Kirche gewors 
den ift, verliert fich mehr und mehr feine plötzliche Bewalt; 
er fommt immer weniger dem Windesbraufen, immer mehr 
ber fanft wehenden Morgentuft ähnlich. Wenn man darum. 
die erften Gläubigen ald Infpirirte den fpäteren ald Nichts 
infpirirten entgegenfeten will, fo darf man nur nie vers 
geflen, daß der Gegenfaß einzig und allein ein relativer, 
gradueller feyn kann. Aber auch aus diefem relativen Uns | 
terfchiede ergibt fh, daß den h. Schriftſtellern nicht allein 
um ihred Umganged mit Zefu willen, nicht. allein wegen 
ihres unmittelbaren Lebens in ber Gemeinde, deren Zuftand 
ihre Bücher bezeugen, fondern auch durch den Geift, der 
urfprünglich Träftig über. fie gefommen, eine bei Weitem 


232 Barnad 


größere Autorität beigumeffen fey, ale den fpäteren Chris 
fien, daß, wenn der Späteren Lehre erft nach dem R. T. 
beurtheilt werden Tann, die Bücher des N. T. felbft die 
jedes Urtheil über Chriftfiches und Unchriftliches beſtim⸗ 
mende Rorm abgeben. Diefe Autorität, welche fie als 
Werke der urfpränglich wunderbar vom Geifte Erfühten 
befigen, ift ihre göttliche Autorität. 

Wenn nun die eben gegebenen Beſtimmungen fich mit 
unabweislicher Gewißheit aus der Gefchichte-der älteften 
Kirche ergeben, fo laffen fie noch das Bedürfniß einer ° 
genaueren Faflung übrig. Diefe aber zu finden, iſt das 
eigentlich Schwierige, ja es leuchtet ein, daß die Aufgabe 
gar nicht vollftändig, fondern nur annähernd gelöſt wers 
ben kann, und dieſes nur will der Berf. verfuchen. 

Wir finden, daß viele Dogmatifer die Unfehlbarkeit 
ber h. Schriftfteller nur auf die Glaubenslehren, andere 
nur auf die Zundamentalartikel bezogen haben, Diefe 
Beftimmung ift, noch ganz abgefehen von ihrer Begrüns 
dung, fehr ungenau. Denn was ift Glaubensartikel? 
und wie unterfcheidet er ſich von der bloßen Hiftorie? 
Die Gefchichte Ehrifti ift ja vorzüglich Gegenftand des 
Glaubens. Und welche find die Fundamentalartikel? Die 
Dogmatif ift darüber nicht einig. — Geftehen wir aber 
dieß, fo kommen wir Doch Über dieſe Beftimmungen nicht 
weit hinaus; nur dürften wir Urfache haben, fie anders 
zu modificiren. 

Der h. Geift nämlich ift, wenn aud na Mag und 
Aeußerungen verfchieden, im Grunde derfelbe in den Apo⸗ 
fteln und in und. Wir kennen ihn aber aus eigener Ers 
fahrung als einen religiöfen Geift, in die Wahrheit ber 
Erfenntniß, der Empfindung und des Wandels gleichmäs 


Big einführend. Sehen wir nun von jenen befondern, nur 


in einzelnen Augenbliden gegebenen Dffenbarungen, bie 
ſich nad) Bedürfniß anf rein’ äußerliche Dinge beziehen 


\ 


8 


üb, die goͤttl. Autorität der neuteſtamentl. Schriften. 233 


konnten (wie jene Kunde, die dem Ananiad von der Woh⸗ 
rung des Panlus, Apoftelgefch. 9, 11, dem Eornelius von 
dem Aufenthaltsorte des Petrus kam, Aypoftelgeich. 10,6), 
weil fie offenbar nicht von dem regelmäßigen Walten bes 
Geiftes ausgehen, fondern zu demfelben hinzukommen, 





ganz ab, fo leuchtet ein, daß das Licht des Geiſtes am 


heilften auf den Mittelpunft des Heils fchien, wie das 
fhon in Luther's Wort liegt, der die Inſpiration der 
Schriften daran, ob fie Ehriftum treiben, zu prüfen 
lehrt. Die Jünger wurden praftifch und theoretifch zus 
gleich über die Centralwahrheit des Evangeliums, die Ers 
Iöfung durch Chriſtum, belehrt; praftifch, indem die Er⸗ 
fahrung des durch den Geift gewedten inneren Lebens 
ihnen bezeugte, daß nur in Chriſto das Heil fey, und fie 
mit lebhaften Widerwillen gegen Alles, was in Lehre und 
Leben diefem Heile zuwider war, erfüllte. Dieß Licht vers 
breitete fi dann von dem Mittelpunfte aus und fiel, alls 
mählich abgeftumpft, fchwächer auf die weiter entfernten 
Partien. — Wo die Apoftel mehr amtlich auftraten, fühls 
ten fie fi) dann auch natürlich_inniger und kräftiger vom 
Geifte des Herren durchbrungen, fowie der hriftliche Pre⸗ 
diger fich auch heute auf der Kanzel und am Altare lebens 
Diger von Gott befeelt findet. — Was aber die bloß 
hiftorifchen Dinge betrifft Cdenn von den wichtigften 
Grundwahrheiten herabfteigend kommen wir auch anf 
folche im N. T. berichtete Sachen, welche an ſich nicht 
in der geringften Beziehung zum Frieden bringenden und 
heiligenden Glauben ftehen, z. B. ob die Gefährten Pauli 
vor Damaskus das Licht gefehen, die Stimme nicht gehört, 
was Paulus felbft Apoftelgefch. 22, 9. u. a. O., oder die 
Stimme nur gehört, das Licht nicht gefehen haben, was 
Lukas Apoftelgefch. 9, 7. erzählt), fo kann man mit Zuvers 
fiht behaupten, daß der h. Geiſt die Jünger ebenfo vor 
Leichtgläubigfeit, wie vor dem leichtſinnigen Uebertreiben 








234 |  .Barnad 


und Ausfchmüden der Thatfachen bewahrte, was wir auch 
unter und als intellettuellen und moralifchen Fehler anfes 
ben, und daß.er fie mit aufrichtiger Wahrheitsliebe und 
jener axolBex, deren ſich Lukas rühmt und die ihm von 
Dr. Tholuck neuerlich treffend vindicirt worden iſt, zu 
reden und zu fchreiben lehrte. 

Meiter dürfen wir nicht gehen; es ift unmöglich, dem 
geringfügigften Buchftaben der h. Schrift jene göttliche 
. Autorität, wie fie die alte Iutherifche Dogmatif zu ihrem 
Gebrauche erdachte, zuzufchreibenz; Zeit ift e& geworben, 
baß die Theologie jene Vorſtellung aufgebe. — Somit 
wäre die urfpfüngliche Frage beantwortet; der Berfafler. 
würde aber glauben, feiner Aufgabe fehr unvolllommen 
genügt zu haben, wenn er nicht auf bie fich nothwendig 

anfchließende Unterfucung einginge: Welhen Ein 
fluß bat diefe veränderte Ueberzeugung auf 
die Behandlung ber neuteftamentl. Schriften 
und die Sehkelteng des —— — aus 
ihnen? 

Wenn ſich die oben ausgeführte Anficht allgemeine 
Geltung verfchafft, wie nach des Verf. Ueberzeugung bie 
religiöfe und wiffenfchaftliche Bewegung unferer Zeit dar⸗ 
. auf hinarbeitet, fo kann fich jene Methode der Dogmatil, 
die, ausgehend von dem fchroffiten Gegenfaße gegen den 
Pelagianifmus, das menfchliche Verderben bie zum Mans 
gel jedes Ueberreſtes von gutem, reinem Wahrheitsgefühle 
übertreibend, ſich nur auf den Buchftaben der Schrift grüns 
den zu Fönnen meint, freilich nicht halten. Wenn ihre Ber 
gründer ſich durch Andeutungen in ganz einzelnen Schrifte 
fielen zur Behauptung der wichtigften Weltanfichten legis 
timirt glaubten (3.8. den Untergang der Welt durch Feuer 
nad 2 Petr. 3, 7, die Höllenfahrt Chrifti nach 1 Petr. 3, 
19, die Erneuerung der Creatur nad) Röm. 8, 18 ff., ein⸗ 
zig weil fie Dort angedeutet find, ald unleugbare und hoch⸗ 





ab. die göttl. Autorität ber meuteffamentl. Schriften. 235 


wichtige Slaubenswahrheiten aufitellten), wenn fie durch 
Sufammenitellen von mandherlei Ausfprüchen der Schrift 
ohne Rädfiht auf ihren verfchiebenen Charakter, ob fie 
nun fireng didaktiſch, ob poetifch, ob rhetorifch ſeyen, eine 
Fünftliche Moſaik bildeten, fo fann ihr Thun ſich une nicht 
mehr empfehlen. Aber mag immerhin die harte Wufchels 
ſchale, welche nach Gottes Willen. eine gute Zeit lang 
das Kleinod des Glaubens bewahren und fchügen follte, 
zerbrechen, die .edle Perle wird damit nicht zerſtört wer⸗ 
den. jene Dogmatik in ihrem bloß bialektifchen Verfahs 
ren, das faft nothwendig früher oder fpäter auf den Abs 
meg eines bloß fophiftifchen Klügelns an der Wahrheit 
führt, entfpricht den Forderungen nicht, welche das chrift« 
liche Bewußtfeyn unferer Zeit an die Theologie "macht, 
Sie hat die Oppofltion der freier Gefinnten, der willen 
ſchaftlich und religiös Erregbareren durch die, wenn auch 
in guter Abficht angewandte, Doch, man darf wohl fagen, 
unheilige Art, mit der fie den gefunden Fruchtbaum bes 
Glaubens theils zu groben Balken behaute, theild zu Fünfts 
lihem Spielwerfe zerfchnigte, nothwendig gegen ſich ges 
waffnet. Der Sinn ber neuen Theologie wendet ſich von 
einem folchen Verfahren offenbar ab. Eine tieffinnigere, 
gemüthlichere und, wenn man das Wort nicht mißverftes 
hen will, myftifche Behandlung der Dogmatif, in welcher 
de Wette cin einer früheren Necenfion der trorlerfchen 
Logik in den Studien und Kritifen) die endliche Bereinis 
„gung bed Supernaturaligmus und Nationalismus ahnt, 
thut unferer Zeit noth; — und einer foldhen ift uns 
fere Anfiht der h. Schrift im höchſten Grade 
günftig. | 

Man nimmt diefelbe in dieſem Sinne als die glaubs 
würdige Urkunde eined göttlihen Wert, das von dem 
Sottmenfhen Jeſus Ehriftus ausging, aufgefebt von des 
nen, welche nicht nur vermöge ihres Lebend mit Sefu und 


236 Zarnack 


| R 
in der erften Gemeinde die Wahrheit bed Bezeugten ame, 
beßten kannten, fondern auch durch eine lebendigere Kraft 
des h. Geiftes vorzugsmeife befähigt waren, fie mitzutheis 
fen. Man glaubt dann freilich nidyt mehr, aus ganz eins 
zen ftehenden Andeutungen in der Schrift die wichtigften 
Wahrheiten herleiten zu fönuen, man entfagt dem noch 
immer allzu gewöhnlichen Gebrauche, die dogmatifchen 
Lehrbücher urit unzähligen Gitaten einzelner Stellen, im 
bunten Gemiſch aus dem A. und NR. T., aus den Büchern 
Moſis und den Propheten, den Evangelien und der Apo⸗ 
kalypſe, auezuftatten, aber man wendet ſich dafür dem 
Schriftgebrauche im Ganzen und Großey zu, wie ihn 
Schleiermacher eınpfohlen und anzuwenden begonnen hat. 
Man hält nur das ald wefentlich zum chriftlichen Glauben 
- gehörig, wag, den eigentlichen Mittelpunft des rekigiöfen 
Lebens, unfer Berhältniß durch den Erlöfer zu Gott, bes 
treffend, ald allgemeine leberzeugung der Jünger des 
Herrn bafteht, — und läßt mandyerlei biblifche Anfichten, 
die mehr in das Gebiet der Naturs und Weltweisheit ger 
hören, auf fich beruhen. 

Erfcheint das hier Ausgefprochene nun zu unbeflimmt,, 
zu fehr dem Mißbrauche ausgeſetzt; fieht ed aus, als ſetz⸗ 
ten wir damit die Vernunft, als zum Scheiden des Unwe⸗ 
fentlichen vom Wefentlichen berufen, über das geoffenbarte 
Wort Gottes, fo ift das eben nur Schein. — Wir find 
vielmehr überzeugt, daß nicht die menfchliche Vernunft in 
concreto, fondern der Geift Gottes in alle Wahrheit lei⸗ 
. tet, daß jene an ſich nur ein fchlafender Keim ift, Der durch, 
die göttliche Offenbarung befruchtet werden muß. Wir 
wenden nur an und dehnen weiter aus, was auch die alte 
Dogmatik, gewiflermaßen im Widerfpruche mit ihrem Sys 
fteme, zu feßen durch Die Schrift gedrungen war, daß nam 
lich der Einzelne, wie bie Kirche, nur durch den Geift Got» 
tes in die chriftliche Erfenntniß eingeführt werben kann. — 


— 


ub. die goͤttl. Autorität der neuteſtamentl. Schriften. 237 


Wenn aber jener Keim befruchtet worden, wenn bie vor⸗ 
bereitende Gnade das Gemüth gelehrt hat, in ber Offen⸗ 
barung das Heil zu fuchen, fo wird dieß redliche Gemüth 
durch den in der Schrift kräftig waltenden Geift mehr und 
mehr erwedt, derfelbe Geift wird durch das Mittel der. 

Schrift in ihm erzeugt — und in der Wechfelmirtung bes 
Lebens und Erkennens, der Kraft und Einficht, des For⸗ 
fchens in der Schrift und der Neflerion über bie eigenen 
Gemüthszuſtände wird allmählich das Räthſel gelöft, wird 
der Uinterfchied zwifchen dem Wefentlicheren und Gleich 
gültigeren in der Schrift annähernd gefunden, wirb auch 
in Beziehung auf das letztere die ehrfurchtsvolle Behands 
lung der heiligen Urkunden, die ihrem Urfprunge und Ins 
halte geziemt, hinreichend gefichert. Iſt es doch ausge⸗ 
macht, daß Niemand zu Ehrifto kommt, es ziehe ihn denn 
der Vater, daß Niemand glaubt, der nicht durch die Gnade 
zu immer tieferer Erfenntniß der Wahrheit, daß nur in 
Chriſto das Heil ift, geführt worden if. Und wo nun ein 
Gemüth fo von Gott geführt wird, da bedarf es feiner 
menfchlich gearbeiteten Feſſeln, wie jener Infpirationstheo- 
rie, um zu verhüten, baß es nicht zu weit geführt werde; 
davor fichert am beftimmteften jener innere Führer. Dem 
hat unfere proteftantifche Kirche vertraut, indem fie, echt 
fseifiunig, dem Volke die Schrift in die Hände gab, — 
und auf. den wollen wir ferner getroft bauen. Eine durch⸗ 
gehende liebereinftimmung ber Ueberzeugung bis ind Eins 
zeinfte und Kleinfte wird freilich fo nicht für ben Augens 
blick erzielt werden können. Doch auch mit ber Annahme . 
einer abfolnt vor Irrthum fihernden Infpiration hat man 
ja nie eine folche zu Stande bringen können. Die Voraus⸗ 
fegungen, welche das innere Leben der Menfchen, ihre Ges 
müthserfahrung, gibt, bringt. einmal Jeder zur Lefung der 
Schrift mit; was ihm da unter der Führung Gottes ges 
wiß geworben ift, kann und darf er um keiner Theorie 


238 garnack 


willen aufgeben. Selig nur, wer mit aufrichtigem, einfäls 
tigem Gemüthe, mit reinem Herzen fein inneres Wefen 
betrachtet; er wird: Gott fohauen in dem Erlöfer; — die 
Schrift öffnet ihm mit der reicheren Selbfterfenntniß zus 


' 


gleich die Tiefen ber GSotteserfenntniß, und fo wird in als 


len redlich Gott fuchenden Herzen ein im Wefentlichen glei⸗ 
cher Glaube erzeugt. Anders aber ſoll es auch nicht ſeyn; 
Gott hat uns keinen göttlichen Buchſtaben, den man nur 
auswendig lernen dürfte, um der Wahrheit gewiß zu ſeyn, 
geben, er hat uns die theoretiſche Wahrheit nur im 
Kampfe des innern Lebens erringen laſſen, chriſtliches Le⸗ 
ben im Gemüthe und Verſtande nur zugleich wachſen laſ⸗ 
fen wollen. — Sehen wir noch alle in einem Spiegel, im 
dunfeln Worte, erfennen wir alle nur ftüdweife, fo wäre 
mit der völligen Uebereinftimmung auch eine jeglichen. 
Fortfchritt ausfchließende Verhärtung gelegt. Im Ges 
genitheil aber, wir follen im liebevollen Vereine der vers 
fohiedenen Kräfte, von Einem Geifte geleitet, ſtreben und 
forſchen nad; dem Himmelreiche der endlofen Wahrheit, 
und das Ziel, welches erft ami Ende der ganzen Entwides 
lung erreicht werden kann, ift, daß die ganze Kirche werde 
wie ein volllommener Mann nachedem Maße des männs 
lichen Alters Ehrifti. Zu diefem Ziele. will Gott die Kirche 
gewiß noch durch manche Entwidelungsftufen führen, und 
darf der kurzfichtige Menſch einen ahnenden Blick in den 
noch verhüllten Rath des Herrn wagen, fo möchte der Verf, 
dieſes Auffages als eine der. wichtigften derfelben diefe 
nennen, wohin eben die ganze Bildung unferer Zeit zu füh⸗ 
ren fcheint, nämlich die, auf welcher ein todter Buchftas 
bene, Gedächtniß⸗ und Verftandesglaube, der zum Hers 
zen und Leben der Menfchen in feiner Beziehung fleht, gar 
. nicht mehr gefunden werben dürfte. Se mehr nämlidy bie 
bloß menfchlichen Theorien und Beweife, welche den Glau⸗ 
ben ftäßen follen, in ihrer Unerweisbarkeit erfannt wer⸗ 


üb. die göttl, Autorität der neuteſtamentl. Schriften. 239 


den, deſto mehr wird Jeder, den fein Herz nicht zum. Err 
löfer zieht, aud, im verftandesmäßigen Bekenntniſſe von 
ihm fern bleiben; deſto mehr wird zwifchen denen, welche 
glauben, und denen, die nicht glauben, ein totaler Unter 
fchied des Gemüthes beftehen; defto weniger wird fich ir⸗ 
gend Semand täufchen können, ob er ein Ehrift fey,. oder 
nicht; defto mehr wirb die Kirche geseinigt werden, in» 
dem, wer nicht dem Herzen nach zu ihr gehört, auch der 
Meinung und Anficht nach von ihr fih augfchließen wird. 
Und wenn Gott und dahin führen wollte, — wer will wie 
der ihn Fümpfen? Ein Jeder aber, der mit ftarrer Anhänge 
lichkeit für unhaltbare Menfchenfagungen fämpft, ift in 
Gefahr, ald ein wider Gott Streitender erfunden zw 
werden. - — 

Somit hätte der Verf. feine Ueberzengung weitlänfig 
ausgefprochen und motivirt. Iſt ed danadı noch nöthig, 
daß er ſich gegen den Vorwurf einer deftructiven Tendenz 
verwahre? 8 gibt leider eine nicht geringe Anzahl von 
Solchen, denen, während fie fich der audgezeichnetften 
Glaubengfeftigfeit rühmen, ed ganz entgeht, daß dasjenige, 
was fie an ſich fo hoch fhägen, großentheild Folge eines 
betrübenden Mangeld an wiflenfchaftlicher und religiöfer 
Erregbarkeit ift, und die darum mit.dem Urtheile, daß fols 
che Uinterfuchungen fchon den Stab über die chriftliche Ges 
finnung ihres Urhebers brechen, fehr rafch bei der Hand 
find. Den etwaigen Beichuldigungen Solcher darf aber 
der Schreiber diefed getroft fein Bewußtſeyn entgegenftels 
len, weldyes ihm bezeugt, daß gerade im Gegentheile nur 
die Tendenz zum Aufbauen ihn genöthigt hat, diefe Uns 
terfuchung anzuftellen. — Wenn ihm lange Zeit Die Meis 
nung von ber abfoluten Unfehlbarkeit der Schrift im uns 
Maren Bewußtſeyn heilig war; wenn ed ihm fchien, als 
fey dieſe das einzige, unveränderliche Fundament des Glaus 
bens; wenn er im redlichen Suchen nach der Frieden ger 


U0 Zarnack, üb. die goͤttl. Aut. der neuteſt. Schriften. 


benden Wahrheit der Erkenntniß und des Lebens auf allen 
jenen vorher aufgebedten Irrwegen felbft einige Schritte 
that; wenn dagegen allmählicd) Das zuerft mit unheimlicher 
Unklarheit und Gewalt ſich aufdrängende Gefühl der Uns 
baltbarkeit jened Grundes ihn um Die Bewahrung des 
ganzen Glaubensinhalts ängſtlich beforgt machte, mußte 
er fich nicht nach Gewißheit fehnen? Und wenn die Uns 
terfuchung ergab, daß in jenem Fundamente mand)e vers 
witterte Steine waren, burfte er fich fcheuen, dieſe auszu⸗ 
brechen und durch feite zu ergänzen? Wenn er fid nun 
dadurch im frohen Befige des erquidenden, befreienden 
Glaubens an den Erlöfer gefihert fühlt, war es zu fas 
dein, daß er zum Ruben mancher Brüder, die fich in dem⸗ 
felben Falle mit ihm befinden, feine innigſte Ueberzeugung 
in einer ſtreng wiffenfchaftlichen Zeitfchrift ausſprach? 


Recenſionen. 


Theol. Stud. Jahrg. 1830. 16 


1. 


Ghriſtliche Polemik von Dr. Karl Heinrih Sad, 
ordeutlichem Profeffor der Theologie zu Bonn. Ham⸗ 
burg bei Friedrich Perthes. 1836. 361 ©. 8. 


Erſter Artikel. 


——— ich mich anſchicke, die vorliegende Schrift einer 
Öffentlichen Kritik zu unterwerfen, und dabei mein perſoͤn⸗ 
liches Berhältniß überdenke, droht mir eben dieß alles 
Recht Dazu zu nehmen. Der Verfaſſer iſt mir feit vielen 
Sahren auf das Snnigfte befreundet, nicht bloß ale ehema⸗ 
liger College. Bei: aller Berfchiedenheit im Einzelnen 
wiffen wir und in der kirchlichen, theologifchen -Gefinnung, 
fowie in der wiffenfchaftlichen Richtung weſentlich Eind; 
Auch theile ich mit ihm feit Tängerer Zeit die Freude und 
Arbeit an der hier vorgetragenen Wiflenfchaft, und ohne | 
Berabredung befinden wir und dabei auf demſelben Wege, 
Und da der Berfaffer außerdem: die Güte gehabt, dieß 
Berhältniß durch eine herzliche Dedication auch öffentlich 
zu bezeugen, jo fcheint, wenn der alte Kanon der Unpars 
teilichkeit noch in feiner ftrengen @infeitigkeit gilt, in 
‚ ber That Alles zufammenzutreffen, um mich als einen dop⸗ 
pelt und dreifach Parteiifchen von der öffentlihen Kritit 
über diefeg Buch auszuſchließen. 

Wenn id; nun deffenungeadhtet mich nicht davon abs 
halten Safe, fo verfenne ich nicht, daß jener Kauon ein 


nothwendiger Zaun oder Riegel ift gegen parteimachende 
16 * 


244 er Be --- 


Umtriebe. Aber wer fi) davon frei weiß, gegen ben ift 
auch das Gefeg nicht. Zu einer unparteifchen Kritik ges 
hört vor Allem, daß man nicht nur die Schrift, fondern 
. auch den Schriftfteller felbft recht verſteht, nämlich eben 
jene aus dieſem. Wie nun, follte Dazu der Freund nicht 
geeigneter feyn, als der Fremde, der erſt Fennen lernen 
muß, und der Gleichgültige oder gar Abgeneigte, der nur 
fchwer eingeht? Die echte Kreundfchaft ift die befte Aus⸗ 
legerin; fie mißverficht am wenigſten. Und wenn- bei ihr 
die Wahrheit immer die höhere, gemeinfame Freundin, 
" magis amica, oder firenger gefagt, die unbedingte Herrin 
bleibt, was fürchtet man für die Kritif? Hat die Wahrs 
heit an Der Verfchiedenheit der Gaben und Richtungen ihre 
Freude und Luft, fo hat fie auch am Streite der Geifter 
ihren Gewinn. Und fo werden Freunde, wenn fie an einz 
ander Kritif üben um der Wahrheit willen, weber Ver⸗ 
fchiedenheit, noch Streit, noch offenen Zadel fcheuen. Aber 
befteht die Kritit nur im Tadel, nur im Zwiefpalt, nicht 
auch in der Zuftimmung? Allerdings gebraucht die Wahrz 
heit in ihrem Eritifchen Dienfte auch Solche, die einander 
fremd , ja feind find; fie will in Liebe und Haß, im Streit 
und Frieden offenbar und bewährt werben. Aber eben 
deßwegen hat die freundfchaftliche Disputation ober Bes 
fprechung fo gut ihr Recht und ihren Ruben, wie jede 
andere. Und fo fcheue ich mich nicht," von diefem Rechte 
hier Gebrauch zu machen, wie ich une ohne Schaden der 
Wiffenfchaft. 


Das Buch iſt gut gefchrieben, kurz und bündig, viels 
leicht hie und da etwas zu gebunden, im beſten Sinne 
aber geiftreich und lebendig, in einem gebildeten, reinlis 
den Style, Immer ein Lob, hier aber um fo bedeuten 
ber, ba es gilt, eine bedenklich und unlieb gewordene 
Wiffenfchaft von Neuem zu empfehlen. Dazu gehört auch 
eine empfehlende Form. Aber das Hauptverdienft des. 


x 


Ehriſtliche Polemik. 245 


Buches ift, daß es feinem Inhalte nach, um mobern zu 
fprechen, eine theologifche nnd kirchliche Nothwendigkeit 
tft, d.h. ein wefentliched Bedürfniß der Kirche und Theos 
logie zum erften Male vollitändig nnd beflimmt ansdrückt 
and für den Anfang auf eine ausgezeichnete Weiſe befriedigt. 

Die ältere theologifche Polemik war feit länger, als 
einem halben Jahrhunderte litterarifch entfchlafen. Ihr Tod 
‚ fehlen ebenfo erwünfcht, als unvermeiblih. Im Fort⸗ 
fchritte des kirchlichen Lebens entfprach fie der Praxis nicht 
recht mehr, hemmte diefelbe. Sie erörterte Streitpuntte, 
die kein wahres Intereſſe mehr hatten; die neu entſtande⸗ 
nen, tiefer greifenden lagen außer ihrem Bereiche. Als eine 
unorganifche Mifchform entftanden und fortgebildet, fonnte 
fie der andringenden Gewalt neuer organifcher Bildungen 
auf den verwandten theologifchen Gebieten nicht widers 
ſtehen. So ftarb fie Doppelt. Aber ihre eigentliche Seele, 
die polemifche Praris, älter, als die Theorie, faft fo alt, 
wiedie Kirche ſelbſt, Fonnte nicht fterben. Eine wefentlis 
che Lebensform der irdifchen Kirche, gleicherweife bedingt 
durch die Irrthumsfähigkeit, wie durch die unzerfiörbare 
Wahrheitskraft derfelben, ift fie in irgend einem Grabe 
immer wirkſam vorhanden in der Kirche. Es war alfo 
eine Täufchung, wenn man glaubte, mit ber Älteren Pos 
lemik auch die polemifche Praxis hingerichtet oder abger 
ſchafft gu haben. 

Es liegt in der wefentlichen Beziehung der Theologie 
zur Kirche, die firchliche Prarid durchweg mit ihrer Theo⸗ 
rie zu begleiten, diefelbe wifjenfchaftlich zu organifiren, 
zu corrigiren. So mußte auch in dem Grade, in weldyem 
Die neuere polemifche Praxis lebhafter und fomit.auc vers 
widelter und fchwieriger wurde, eine neue polemifche 
Theorie entfiehen. Die fortfchreitende encyllopädifche Ors 
ganifation der neueren Theologie fonnte einen fo wefents 
lichen Punkt der Praxis nicht ohne Wiffenfchaft laffen. 
Schleiermacher hat ald Encyklopaͤdiker das unbeftrittene. 


/ 


. 


ı ® 


246 GSack 


Verdienſt, die wiſſenſchaftliche Nothwendigkeit einer neuen 
theologiſchen Polemik zuerſt klar und beſtimmt aufgewieſen 
zu haben. Er bezeichnete ihren Pag, als Gegenſtück der 
Apologetik, in der philoſophiſchen Theologie und entwarf 
das allgemeine Schema ‚der neuen Geftaltung. Seitdem 
zweifelt mohl Niemand an der Nothwendigkeit der Reftaus 
ration der Polemif. Allen fo lange man bloß bei der fors 
mellen, encyklopädiſchen Schematifirung ftehen bleibt, ift es 
unmöglich, über Stellung, Umfang und Methode der res 
generirten Wiffenfchaft einig zu. werden. Gelbft der Bes 
griff derſelben ſchwankt noch 9). Nur eine vollftändige 


a) Es ift intereffant, die verſchiedenen Anfichten ber neueren theologis 
ſchen Encyktopädiften hier Burz zuſammenzuſtellen. Roͤſſelt be 
trachtete die Polemik als den zweiten Theil der foftematifchen Theo⸗ 
logie, ald Anhang der Dogmatik, ebenfo Kleuder, nur daß 
diefer fie beftimmt vefinirte als die nothwendige Fritifche Rechts 
fertigung ber eigentlich geoffenbarten Religionswahrheiten, ins 
wiefern fie ſyſtematiſch geordnet feyen, Pland und Schmidt 
gaben die Polemik in dieſer Geſtalt mit Recht ganz auf. Jene 
Eritifche Rechtfertigung gehört wefentlich zum vollen Vortrage 
der Dogmatik. Was etwa noch von Differenz der kirchlichen 
Lehrbegriffe außer der Dogmatik zu befprechen ift, faßten Beide 
beffer in der fogenannten Symbolik zufammen. &o vor Schleis 
ermacher. Nach ihm wird bie Polemik wieder in den Enchs 
Eopäbien aufgeführt, aber von Stäublin 3.8. faft ganz in 
der. alten Weife, ald ein Anhang zur Dogmatit und Moral, 
feltfam genug zufammengeftellt mit der Myſtik, die ihre vorans 
geht als wäre biefe eine befonbere theologijche Disciplin, und 
mit der Apologetit und Symbolik, die ihe folgen. Aehnlich 
Brande, der aber glüdlicher Weife die Myſtik wegläßt und 
bie ſyſtem. Zheologie ſich in folgender Reihe entwideln läßt: 
Dogmatik, Ethik, Apologetif, Symbolik und Polemik, In dies 
fem Zuſammenhange tft die Polemik nichts weiter, als bie ftreis 
tende Seite ber Symbolik. So ſchien ber reformatorifche Wink 
von Schleiermadyer wie verloren, Die Polemik mit der Apolos 
getik zufammen der ganzen Theologie unter dem ehrenvollen 
Namen der -philofophifchen Theologie voranzuftellen, fchien zu 
parador. Nur der vortrefflidhe katholiſche Iheolog Dr. Drey, 
fie den Schleiermacher nicht vergebens geſchrieben, folgte ihm 


Chriſtliche Polemit. 247 


Ausführung im Stoffe felbft kann Die encHllopäbifch ent, 
worfenen Schemata corrigiren und den Streit zur Eut⸗ 





darin, daß er die Polemik nebft der Apologetit zu den beiden 
integrivenben Theilen der Brunblegung ber eigentlich wiſſenſchaft⸗ 
lihen Theologie, ber Dogmatik und. Moral, machte, welder 
nach feinem Schema bie hiſtoriſche Theologie mit Ginfchluß der 
Exegetik vorangeht. Allein er ſah die Polemik nur als eine 
Apologetit bes Pofitiven gegen das Pofitive an, während er ber 
eigentlichen Apologetit die Wertheibigung des Poſitiven gegen 
das Natürliche in ber Religion zuwies. Seine Ausführung ift 
beſſer, als fein Begriff, denn er Tommt doch am Ende fafl auf 
denfelben Inhalt der Polemik, wie Schleiermader. Unter den 
proteftantifchen Theologen hat dann Danz zwar bie Polemik 
wieber in der alten Art aufgefaßt, als bie Lehre von ben bog» 
matifchen Streitigkeiten, als die flreitende Symbolik, ber es 
aber gut anftehe, ſich mit ber Irenik und Henotik zü vereint 
gen, aber neu iſt und ein guter: Griff, daß er ihr einen Plag 
in der praktiſchen Theologie anweift, unmittelbar nad) der Prags 
matik des Kirchendienftes. Nur bat er diefe Stellung. der Pos 
lemik gar nicht fo benust, wie er Tonnte, um ihren Begriff 
‚und ihre’ Methode nach Schleiermacher's Vorgange gu regeneris 
ren. Es hat mid) Wunder genommen, baf mein Freund Ha⸗ 
genbach in feiner vortrefflichen Encyklopädie ben guten Ges 
banken von Danz nicht weiter benugt hat. Er ftellt die Poles 
mit nebft der Apologetit, die ihr vorangeht, verbunden mit der 
Irenik, die gar keine Wiffenfchaft für ſich if, Hinter die Dogmatik, 
und befiimmt ihren Begriff fo, daß er fagt, die Polemik im 
weitern und formalen Sinne fey gegen alles Krankthafte in ber 
Kirche und theologifchen Wiſſenſchaft gerichtet. Das ift nach 
Schleiermacher. Aber biefer würde nie gefagt haben , die Pos 
lemit babe auch das Kranke in ber theologifhen Wiſſenſchaft zu 
behandeln, Und in der That iſt die theologifhe Krankheit im⸗ 
" mer in und an der Kirche und nicht verfchieden von ber kirch⸗ 
- lichen. Wenn dann aber Hagenbadh fogar fagt, daß bie Pole: 
mit ſich auch nach außen bin in Verbindung mit ber Apologes 
tik geltend machen könne, fo gibt er den ſchleiermacher'ſchen Ber 
griff ganz auf. Er unterfcheidet von der Polemik im weiteren 
Sinne ober der allgemeinen die befonbere proteftantifche, welche 
formell auf der Worausfegung beruhe, daß die Idee des Chris 
ſtenthumes gefchichtlich am reinften in ber evangelifchpeoteflans 
tifchen Kirche ausgebildet fey, materiell aber auf ber fogenann« 


288 - Sack 


ſcheidung bringen. Hierin finde ich die Nothwendigkeit 
des vorliegenden Buches von der rein wiffenfchaftlichen 


Seite, abgefehen von ben befonidern Zeiterfcheinungen. 


Sndem es im Wefentlihen Schleiermacherd Begriff und 
Schema von der Wiffenfchaft realifirt, geſtattet es eine 
diftinetere Prüfung deffelben,, ald biöher möglich war. 


ten Symbolik ober der comparativen Dogmatik, und weiſt ihr 
das Gefhäft an, den proteft. Lehrbegriff in feiner relativen 
Wahrheit gegen die andern Eirchlichen Lehrbegriffe, namentlich 
gegen das roͤmiſch⸗katholiſche Princip und das ſeparatiſtiſch fecs 
tirerifche ins Licht zu ſetzen. Mit diefer Vermiſchung des ältes 
sen unb neueren Begriffe läßt fich nicht weiter kommen. - Nur 
das wird durch Hagenbach's Erörterung klar, daß es große 
Schwierigkeit hat, die allgemeine Polemik nach Schleiermacher's 
Begriff ohne ihren concreten Inhalt, den fie durch bie hiſtori⸗ 
ſche und foftematifche Theologie erſt bekommt, zu halten. Zu⸗ 
legt iſt noch zu erwähnen, wie Roſenkranz in feiner Ency⸗ 
Hopäbie die Polemik begriffen und geftellt hat, In dem theos 
Iogifchen Kreife, ben er.conftruirt, gebt die Theologie von ber 
Gpeculation, der fpeculativen Sonftruetion des Gheiftenthums, 
unabhängig von ber Erfcheinung beffelben, aus, bewegt ſich 
dann weiter durch die hiſtoriſche Erſcheinung, den hiftorifchen 
Stoff des Chriftenthumes hindurch, und fehließt mit ber prakti⸗ 
ſchen Theologie als der Erkenntniß ber Formen, worin bie abs 
folute Religion unmittelbar eriflirt und in deren bialektifcher 
Erplication fie ihre individuelle Lebendigkeit hat. Diele praktiſche 
Theologie iſt einerfeits vermittelt durch die biftorifche, anderer⸗ 
feita durch die fpeculative Theologie. In diefem zweiten, bem 

‚ fpeeulativen Vermittlungsmoment, entfteht nun innerhalb ber 
praktiſchen Theologie, unter der Rubrik des Kirchenregiments, 
nach ber ſymboliſchen Theologie und dem Kirchenrechte die Theo⸗ 
logie vorzugsweife, welche, ausgehend von dem Beſtreben, bie 
befondere Geftalt der Kirche als die wahrbafte, ber Idee anges 
meflene, beweifen zu wollen, eben bieß in der zwiefachen Wifs 
fenfhaft der Polemit und Apdlogetit thut, in jener alle ans 
beren Geftalten der Religion als nicht abfolut mit ihrer Idee 
eongruirende wiberlegend, in biefer die befondere Geftalt 
der Kirche als in fich ſelbſt wahr und vernünftig vechtfertis 
gend. — Hierin iſt mitten im Dunkel der hegel'ſchen Formu⸗ 
Urung ein wacklicher Fortſchritt. 


Ehriſtliche Polemik. 249 


Aber nicht geringer ift die Nothwendigkeit des Buches - 

von der kirchlich praktifchen Seite, in befonderer Bezie⸗ 

hung anf die Erſcheinungen der Gegenwart, 

Set der neueren Epoche und Krifid im europätfchen 
Bölterleben Cich meine die. feit Dem Ende des 18ten Ihdts.) 
ift Die Macht des Gegenfates und fomit der Stoff des 
Streites auf dem kirchlichen Bebiete größer, ald je gewor⸗ 
den. Die Gegenfäge mögen früher mannichfaltiger gewes 
fen feyn, auch wohl kirchen⸗ und fectenftiftender. Ein gros 
Ber Theil derfelben iſt verfchwunden oder abgeftumpft. 
Manche frühere Streitfragen find aus ber Kirche in die 
Schule verwiefen worden und haben fich hier in rein ges 
lehrte Disputation aufgelöfl. Die neueren Gegenfäße und. 
Streitfragen in der Kirche find einfacher, aber fchärfer 
und zerreißender geworden; fie gehen an die Wurzeln und 
entfcheiden über Leben und Tod. Es zeugt bieß von der 
tiefften Lebendaufregung. Die daraus hervorgehende Fris 
fche und allfeitige Bewegung ift etwas Erfreuliches. Aber 
auf der andern Seite ift auch, je tiefer die Krifid greift, 
. befto mächtiger der immer noch in der Kirche vorhandene 
Krankheitäftoff, der chronifche, wie der acute, hervorges 
brochen und hat fich in neuen, immer gefährlicheren 
Krankheitsformen über bie Kirche verbreitet. Die Kranfs 
heitsproceffe find fchleuniger und dabei offener, als je, 
Das ift dad Gute, aber auch das Schlimme und Unan⸗ 
fländige ber modernen kirchlichen Publicität, jener Firchlis 
chen Zeitungslitteratur, weldye alle Kenfter und Thüren der 
Kirche aufgemacht und auch wohl an Dächern und Wäns 
den rüttelt, damit Alles immer mehr in freier Luft und 
wie auf dem Markte lebe und fterbe. 

Es ift eine eigene Erfcheinung/ die Polemik fol urs 
fprünglich Die Kirche von ihren Krankheiten reinigen, heilen. 
Aber, wie oft, ſo ift fie auch jegt zum Theile felbft von der 
Krankheit ergriffen und mehrt das Uebel, wie uch unrechte 
ArzueisQuadfalber und Pfufcher. Ich fehe und male nicht‘ 


250 | Sad 


ſchwarz. Aber es ift doch ebenfo wahr, als betrübend, 
wie auf dem kirchlichen Kampfplatze Alles je laͤnger je mehr 
durch einander rennt, ohne Schule und Kunſt Berufene 
und Unberufene durcheinander ſtreiten, ohne Ordunug und 
Gliederung, wie ein Dorflandſturm, und in dem regello⸗ 
fen Gefechte die entfcheibenden Momente des Sieges nicht 
benußt und die Friedenspunkte immer. mehr zurücktreten 
und verfchwinden. Oder will man die Erfcheinungen im 
friedlichern Bilde der Heiltunft betrachten, fo ift Die pathos 
logifche -Unwiffenheit und die therapentifche Verkehrtheit 
und Pfufcherei in Dem Grabe vorhanden, Daß, wer ums 
glüdlicher Weife eben nur diefe traurige Seite der Zeit 
fieht, fürchten muß, ed ſey darauf und daran, .aus ber 
Kirche einen Kirchhof voll lauter Todten zu machen. Was 
ſoll man fagen, wenn nicht nur inden fogenannten Kirchen⸗ 
zeitungen, fondern hier und da fogar im Kirchentegimente 
der Fräftigere, entfchiebenere Glaube an den Sohn Gottes 
im Maren biblifchen Sinne Myſticiſmus gefcholten, Luther, 
Auguſtin, ja felbft der Apoftel Paulus am Ende für bie 
urfprünglichen Pietiften gehalten; Bibels und Miffionsgefells 
fchaften als ſchädlicher Pietiſmus verboten, andererfeits aber 
jede freie Forfchung und Frage Keberei genannt, hier der 
Berftand, dort das Gefühl und die Phantafie auf dem rer 
ligiöfen Gebiete ald Kontrebande audgefchloffen und ge⸗ 
ftraft werden, Ertrem durch Extrem, Uebel durch Uebel 
geheilt wird? — Es fehlt nicht am den entgegengefegten, 
erfreulichiten Erfcheinungen, aber fie find noch fparfam. 
Jedenfalls fehlt es noch gu fehr an dem rechten Geſchmack 
und Sinn, an wiffenfchaftlichem Tünftlerifchem Bewußt⸗ 
feyn im Streite. Sol dag naturaliftifche Fechten, foll die 
verworrene Heilart aus der Kirche verfchwinden, fo ift 
eine neue Ppolemifche Theorie, dem Stande der theologis 
fchen Wiffenfchaft, der Bildungsſtufe der Kirche entfpres 
chend gebildet, driugendfted Bedürfniß. 

Der Berf. hat, wie gefagt, dieſes Bedürfniß für den 


Ghriſtliche Polemit. | 251 


Anfang auf eine amögezeichnete Weiſe befrisbigt. Die 
Urtheil fchließt: aber nicht aus, daß bei weſentlich glei 
chen Principien Einzelnes, felbit Hauptpunkte andere ger. 
raßt und entwidelt werden können. 


Wir geben zuerſt eine kurze eberficht des vorliegen, 

den Wertes. Ä 
Nachdem der Berf. in der Einleitung den Begriff der 
Polemik erörtert, die. Quellen derfelben ‚angegeben, fo» 
dann das Berhältnig der Wiffenfchaft zu den übrigen 
theologifchen Disciplinen, vornehmlich ihre wefentlic fürs 
dernde Einwirkung auf die Seelſorge und die kirchliche 
Statiſtik, erörtert, ihre Form näher beftimmt und ihre 
Litteraturgefchichte kurz erzählt bat, handelt er das Sy⸗ 
ſtem felbft ab, welches nad ihm in die allgemeine 
und befon.dere Polemik zerfällt. In jener erörtert er 
im erften Kapitel das Wefen, die Entfliehung und Wir⸗ 
tung des kirchlichen Irrthums, im zweiten die Nothwens 
Digfeit der Beftreitung deffelben, den Beruf und bie 
Hauptformen der Beitreitung. Die befondere Polemik bes 
fchäftigt fi nun mit den fünf Hanptformen des kirchli⸗ 
chen Irrthums der Zeit, von denen jede wieder zwieförmig 
erfcheint. Iene fünf Hauptformen find: 1) der Indifferen- 
tifmus in den befondern hiftorifchen Erfcheinungen bed Na⸗ 
turalifmus und Mythologiſmus; 2) der Litteralifmus, in 
der Doppelgeftalt des Ergifmus und Orthodorifmug; 3) der 
Spiritualifmus in der zwiefachen Erfcheinung ded Rationa⸗ 
liſmus und Gnoſticiſmus; 4) der Separatifmus in den 
beiden Formen des Myſticiſmus und Pietifmus; 5) der 
zwieförmige Theokratiſmus, nämlich ale Hier archiſmus 
und Cäſareopapiſmus. In jedem Abſchnitte wird zuerſt 
das Weſen des Hauptirrthums näher beſtimmt, dann die 
geſchichtliche Erſcheinung beſchrieben, und nachdem die je⸗ 
desmalige Doppelform angegeben, dieſe durch genaueres 
Eingehen in ihre Urſachen und Hauptwomente beſtritten. 


252 2 Sack J 


Die Beſtreitung unterſcheidet forgfältig den Wahrheits⸗ 
ſchein, der jeden kirchlichen Irrthum begleitet, bezeichnet 
die Momente des Uebergangs von der Wahrheit zum 
Irrthume, charakteriſirt dann dieſen, wie er ſich geltend 
macht, in ſich ſelbſt und mit andern zuſammenhängt, den 
Glauben und die Kirche zerſtört, aber an dem Worte Got⸗ 
tes, den richtig gefaßten Principien deſſelben und an 
einem geſunden, conſequenten, logiſchen Denken im Glau⸗ 
ben feine Widerlegung oder Zerftörung findet. — 

Die Klarheit und Einfachheit der Dispofition Liegt 
am Tage. Auch die Ramengebung, die wiffenfchaftliche 
Signatur, der einzelnen Krankheiten oder Irrthümer wird 
im Allgemeinen wohl gefallen. Die Namen find größtens . 
theils ſchon gefchichtlich geprägt, keiner rein neu erfunden, 
was nicht unwichtig ift zu bemerken, da. die Verfuchung 
fehr nahe liegt, nach Art der Aerzte ſich in technifchen 
Ramenerfindungen, richtigen und UROONGEN, Iuftig zu ers 
gehen. Ä 
Die Eintheilung in ira eine und befondere 
Polemik weicht von Schleiermacher’8 Sprachgebrauch ins 
fofern ab, ald dieſer die allgemeine Polemik auf die Krank⸗ 
heitszuftände der Kirche überhaupt bezieht und unter ber 
befondern, fpeciellen, diejenige verfteht, weldye ed mit den 
Zuftänden der befondern Kirchenparteien zu thun hat. 
Diefer Sprachgebrauch ift richtig und bequem zugleich. 
Des Berfaffere Polemik ift nun eine allgemeine chriftliche 
in dem Sinne, daß fie die befonderen Kirchenparteien 
mehr nur gelegentlich, erempels und vergleichungsweife 
betrachtet. So fcheint alfo hier die Eintheilung in allge- 
meine und befondere Polemik wenigftene dem Ausdrude 
nadı um fo weniger ſchicklich, da die allgemeine nichts Ans 
deres ift, als die Grundlegung oder Erörterung der poles 
mifchen Grundbegriffe. Allerdings ein unmefentlicher Punkt, 
allein es ift gut, fich gleich bei den erften Schematifiruns 
gen ber neuen Disciplin Darüber zu verftändigen, um nicht 


Chriſtliche Polemik, 253 


ohne Noth verfchtebene Sprachen zu reden. Demnadywärs 

den wir vorziehen, den erfien Theil den allgemeinen oder 
grundlegenden zu nennen und ebenfo den zweiten nicht 
befontdere Polemik, fondern den befondern Theil ber ar 
gemeinen, die fonft reine Abftraction bliebe, 


Mas die Einleitung betrifft, fo enthält ſie wefentlich 
Alles, was man von ihr fordert. Der $.1. vorangeftellte 
Begriff enthält die Beftimmung des Inhalte und der Form 
der MWiffenfchaft, und je mehr er genetifch entwickelt ift, 
defto mehr befaßt er auch fchon die Nothwendigkeit ber 
Wiſſenſchaft, welche dann durch das encyklopüdiſche Vers 
hültniß S.3. nur näher erörtert wird. Aber eben deß⸗ 
halb wäre e& vielleicht ſchicklicher geweſen, (F. 3.) gleich auf 
S. 1. folgen zu laffen und $. 2 mit $. 4. fo zu verbinden,. 

daß jener, indem er von den Quellen redet, den In⸗ 
E der Wiffenfchaft näher beftimmt, nicht ohne Andens 
tung der Form, diefer aber durch Gonftruction der Mes, 
thode die Form an dem Sinhalte genauer erörtert. Da 
der Begriff der Polemik aber erft wieder geboren wird, 

und viel darauf anfommt, ihm gleich die rechte Richtung 
zu geben, fo wird geftattet ſeyn, bei diefen einleitenben 
Unterfuchungen länger zu verweilen. 

Vergleicht man mit der Begriffsbeitimmung des Verf. 
G. 1.) die fchleiermacher’fche, fo findet man bei großer Ues 
bereinftimmung eine Berfchiedenheit, von der ich nicht fa= 
gen kann, daß fie nur ein Vorzug ber erfteren wäre. 

Des Verf. runde und fcheinbar fehr nette Definition’ 
Iautet fo: die Polemik ift derjenige Theil der 
philoſophiſch⸗kritiſchen D Theologie, welcher 





a) Der Verf. verfteht darunter nichts Anderes, als was Schleier: 
macher ſchlechthin philoſophiſche Theologie nennt. Freilich iſt 
dieſe weſentlich Kritik, ſofern ſie die beſondere Erſcheinung des 
Chriſtenthums mit der Idee der Religion überhaupt vergleicht. 


254 Sal 


die den chriſtlichen Blauben geführbenben 
und die Reinheit Der Kirche trüäbenden Irr⸗ 
thümer nach ihrem Wefen und Zufammenhange 
ertennen und widerlegen lehrt. — Nach Schleier« 
macher ift Gegenftand der Polemik nicht fowohl der kir ch⸗ 
liche Irrthum, als die firhliche Krankheit, bie 
krankhaften Erfcheinungen im Leben der Kirche. Nun tft 
ja freilich jeder kirchliche Irrthum eine kirchliche Krank⸗ 
heit, aber es gibt krankhafte Erfcheinungen in. der Kirche, 
die man noch nicht, oder nicht mehr bloß als Irr⸗ 
thum begreifen kann, krankhafte religiöfe Gefühlsſtimmun⸗ 
gen, Schwäcnungen und Uebertreibungen. in ben inner» 
ften Lebenstrieben, woraus die Srrthümer ſich erft erzeu⸗ 
gen, indem die Krankhaftigkeit das Denken ergreift. Der 
kirchliche Irrthum gehört doch auch nach dem Verf. vor⸗ 
zugsweiſe der denkenden, begriffebildenden Thätigkeit der 
Kirche an und liegt nach der Seite der Lehre hin. Indem 
Hr. Dr. Sack dieſen Begriff näher beſtimmt, das Weſen 
und die Entſtehung des kirchlichen Irrthums erörtert, geht 
er zwar ſehr in die tiefer, in. der Sünde ſelbſt liegenden 
Keime deffelben ein, ja er fleigt bie zu dem Fürften diefer. 
Melt, dem Bater der Lüge, hinab, aber nach feiner Des 
finition fommt doc die Polemik erft in dem: wirklichen 
Irrthume zu ihrem Gegenftande. Sonach wäre bag vor 
dem Momente des eigentlichen Irrthums liegende Krank⸗ 
hafte in der Kirche von der Polemik fo lange auszufchlies 
Ben, ale noch Fein kirchlicher Srrthum. daraus entftanden 
ift. Die Polemik entſpricht aber doch offenbar Der ganzen cor⸗ 

rectionellen Seite der tirchlichen Praxis. Bezieht fich diefe . 
nicht bloß auf ben Rn Irrthum, fondern umfaßt fie 


* 


Allein, wenn man von einer philoſophiſch⸗kritiſchen Theologie 
ſpricht, koͤnnte es ſcheinen, als wolle man auch eine hiſtoriſch⸗, 
am Ende auch dogmatiſch⸗ekritiſche beſonders unterſcheiden, woran 
doch der Verf. gewiß am wenigſten denkt. 


Chriſtliche Polemit. 255 


jede Verirrung uud Störung der kirchlichen Lebendfunctios 
nen, fo if auch Die Polemik nicht auf jenen befdwänkt, 
Wir müffen alfo der fchleiermacher’fchen Definition, weil 
fie den volleren Umfang und Aufammenhang des polemis 
fohen Inhalte bezeichnet, den Borzug geben. Der Anke 
druck Krankheit des kirchlichen Lebens hat freilich etwas 
Bildlicyes oder vielmehr Analoges und ift wiſſenſchaft⸗ 
lich genauer zu beftimmen. Dieß aber iſt nicht fchwer. 
Es liegt nahe, die Kirche als einen gefchichtlichen ethiſchen 
Drganifmus anfzufaffen. Iſt aber die Analogie zwiſchen 
dem geiftigen und leiblichen Organiſmus Feine bloß bilds 
liche, fondern eine reale und wefentliche, fo liegen in dem 
leteren für jenen Standpunkte, welche die überrafchends 
ften und wahriten Blide in das Weſen der Polemik ges 
währen. Sch hebe hier nur das Eine hervor, daß, wenn 
es. danach geſtattet iſt, den Polemiker als geiftlichen Heils 
künſtler zu betrachten, der praftifche Charakter und Zwed 
der Polemik höher und edler erſcheint. Es ift Dann nicht 
bloß die. Aufgabe, zu ftreiten und zu widerlegen, fondern 
eben vorzugeweife zu heilen, das gefunde Leben nicht 
nur herzuftellen durch Arzneien und Operationen, fon» 
dern and vor Krankheiten durch reinere Luft. und’ beffere 
. Diät zu bewahren. So erweitert und verebelt ſich das 
polemifche Verfahren und wird ganz aufgenommen in bie 
per der chriftlichen Liebe und Weisheit, worauf der Arzt 
aller. Seelen, ber heilige Vorſtreiter, feine Kirche gebauet 
hat a). — 

Als Quellen der Polemik bezeichnet der. Verf. $. 2. 


a) Die ältere Polemik verkannte biefen höheren Zwed nicht, aber 

fie nahm ihn nicht in den Begriff auf, fondern dachte ihn fi . 

mehr hinzu aus bem allgemeinen ethifchen und religiöfen Zwecke 

der Theologie. So bezeichnet Schubert. Institut. theol. polem. 

I. p. 41. als wefentlie Stüde der utilitas theol, polemicae: 

melior errantium informatio, redunitio ecclesiarum — ideogue 
et ipsa animarum salus.ct summi numinis gloria. 


\ 
! 
/ 


256 Sack | 
folgende drei: die kauon iſchen Schriften, Die Res 
ligionsphilofophie und die Gefhichte der 

hriftlihen VBöller 
Es ift nicht Har, ob der Derf. nur die Quellen des 
solemifchen Inhalts oder auch der Form meint. Wenn 
er dieſe nicht $. 4. befonders entfliehen ließe, würde man 
and der hinzugefügten Erörterung flellenweife fchließen 
können, er laffe auch die Form aus jenen Quellen ents 
fpringen, fofern die Form auch die Erfenntnißweife in der 
Wilfenfchaft bezeichnet, und jene Ouellen die Bereinigung 
der hiftorifhen und philoſophiſchen Erkenntniß in fi 
fchließen. Aber davon abgefehen, fo gibt die Erörterung 
des Sabes Feine befriedigende Einficht in die Entftehung 
des polemifchen Inhaltes aus den bezeichneten Quellen. 

Der Berf. febt ald die erfie Quelle die heilige Scheift, 
als die zweite die Religionsphilofophie, als die dritte die 
Gefchichte der chriftlichen Völker. Diefe Rangbeftimmung 
der Quellen foll, wenn ich nicht irre, die Neihe der Ent» 
fiehungsmomente des polemifchen Inhalts bezeichnen. Aus 
‚der Schrift, als dem Worte Gottes, erkennen wir nad 
des Verf. Erklärung den Irrthum in ſeinem Zuſammen⸗ 
hange mit ber Sünde. Dieſen Zuſammenhang nennt der 
-Verf. die geheimnißvolle Natur des polemiſchen Inhalts, 
die nur durch das Wort der heil. Schrift hinreichend be⸗ 
leuchtet werben könne. Verſtehen wir recht, fo meint er, 
bag in der Polemik vor Allem die wahre Ratur und ber 
Urfprung des Firchlichen Irrthums zu erkennen feyen, 
und daß, weil dieß nur aus der Schrift möglich ſey, diefe 
die erfte Quelle feg. Allein kommt es nur darauf an, 
überhaupt den Zufammenhang des Irrthums mit der Süns 
de zu erkennen, fo reicht die allgemeine Ethik und Pfps 
chologie vollflommen aus. Die Schrift gibt der Polemil 
einen viel pofitiveren Inhalt, nämlich den vollen Begriff 
‚ber hriftlichen Wahrheit, den fie nöthig hat, um feinen 
Gegenſatz, den Firchlichen Irrthum, vor Allem feinem Ins 


⸗ 


cheiſtiiche Polemit. 287 


halte nach, richtig zu erkennen. Freilich belehrt die Schrift 
auch darüber, daß, wenn in der Kirche von jener Wahr⸗ 
heit abgewichen wird, daran die Sünde ihren Antheil hat. 
Aber dieß ift, verglichen mit jenem erfteren Moment, uns 
tergeordnet, wiewohl nicht unweſentlich. 

Wie aber ift nun die Religionsphilofophie, welche der 
Berf. nad) Schleiermacher ale die Anwendung ber ſpecu⸗ 
lativen Ethik auf das hiftorifche Gebiet der Religion bes 
ſchreibt, die zweite Quelle des polemifchen Inhalts? Es 
IE nicht leicht, hier den Verfaffer ganz zu verfichen. Die 
Neligionsphilofophie nicht nach ihrem ganzen Umfange in 
der Polemik zu benußen, fey, fagt er, unwiffenfchaftlich; 
ihren noch immer nicht vollendeten Sägen auch nur einen 
einzigen erwiefenen Ausfpruch ber Schrift zum Opfer zu 
bringen, untheologiſch; das. richtige Verfahren fey die je 
volfommenfte Ausgleichung der Ausfprüche beider unten 
Fefthaltung des apologetifchen Refultatd. Alles fehr rich⸗ 
tig, aber dieß ift Beine Beftimmung des befonderen Inhalte, 
der aus diefer Quelle fließt. Vielleicht liegt, was wir fus 
chen, in den Worten, wodurch der Verf. den Begriff der 
Religionsphiloſophie ald Quelle der Polemik näher bes 
fimmt, nämlich al& die von ethifchen Prinzipien ausges 
hende begriffliche Auffaffung der Religionsanlage in der 
menfchlichen Natur, wie fie unter Zufammenfaflung der 
Allgemeinften religionshiftorifchen Refultate den der jeweis 
ligen Stufe der ethifchen Begriffdentwicelung genügend» 
ften Auffchluß Aber die mannichfaltige Entwidelung bes in 
fi felbit einfachen Religionsbedürfniffes gibt. Daraus 
erhellt, daß der Verf. aus der Religionsphilofophie die als - 
gemeinen ethifchen und pfychologifchen Grundfähe ber 


Polemik, wie der Apologetit fhöpft, alfo eben dasje⸗ 


nige, wodurch beide die wefentlichen Theile der philofos 

phifchen Theologie find. Aber es wäre wohl. nöthig_ges 

wefen, den aus jener Quelle gefchöpften polemifchen Ins 

halt von dem apologetifchen beflimmten zu unterſcheiden. 
Theol. Stud. Jahrg. 1889. 17 


⸗ 


258 Sad: 


Soll bie Polemik nicht erſt wieder Apologetit werden, ſo 
entnimmt fie aus ‚ber Religionsphilofophie nicht erft dem 


Aufſchluß über die mannichfaltige Entwickelung des in ſich 


felbft einfachen Religionsbedürfniffes, fondern vorzugss 
weife die allgemeinen Kategorien ber falfchen Religion 
oder. des religiefen Irrthums, um daraus die befonderen 


chriſtlichen Erfcheinungen wiflenfchaftlich zu verftchen. 


- Die dritte Quelle ift nad) dem Berf. die Gefchichte der 
chriſtlichen Volker, ald in welcher fich die Macht und der 
Zufammenhang der kirchlichen Irrthümer auf eine das In⸗ 
nere in der Erfcheinung kundmachende Weife darftellt. 


Dieſe gibt alfo der Polemik erft ihren factifchen Inhalt, 


> 


das Factum des Firchlichen Irrthumsd. Da aber der Irr⸗ 


thum doc) zunächft ein Factum der Kirche ift, fo ſollte man 
denken, es ſey mit jener Gefchichte eben ‚die Kirchenges 
fchichte gemeint. Allein der Berf. bemerkt, daß weil der 
kirchliche Irrthum, hervorgegangen aus dem linwieders 
geborenen in der Kirche, ‚mit dem gefammten Leben der 
Sünde inder Welt zufammenhange, fo fey nicht bloß die 
Kirchengeſchichte Quelle der Polemik, fondern auch diejes 
nige Meinungs s und Sittengefchichte der chriftlichen Vol— 
ker, welche mit ihrem veligiöfen Leben zufammenhängt. 
Indeſſen, befaßt nicht die wahre und volle Kirchenges 
ſchichte das alles fchon in fh? ES genügt in der That, 
unter Borandfeßung eines wiſſenſchaftlichen Begriffs ber 
Kirchengefchichte zu fagen, diefe fey Die Duelle des factis 
ſchen Inhalts der Polemil. Aber gerade dieß leugnet ber 
Berf. beftimmt, indem er hinzufügt, Die Kirchengefchichte, 
infofern fie eine durch theologifche Grundbegriffe beftimmte 
theologifche Disciplin fey, habe ſelbſt in der Polemik ihre 
Duelle, nicht umgekehrt. Nach den Örundfägen der fchleier« 
macer’fchen Encyklopädie fcheint dieß richtig. Allein je 
mehr die Polemit von ihren allgemeinften Prinzipien in 
bie Behandlung ber befonderen Erfcheinungen praktiſch 
singeht, deſto mehr wird mir jene Stellung zweifelhaft. 





Chriſtliche Polmi. , 259 


So lange die Polemif nur im Allgemeinen von dem kirch⸗ 


lichen Irrthum oder der Krankheit des chriſtlichen Lebens 
zu handeln hat, bedarf fie weder der wiſſenſchaftlichen Ere⸗ 
geſe, noch der Wiffenfchaft der Kirchengefchichte zu ihrer 
Borausfegung. Das’ allgemeine Bild vom Wefen, von 
der Urgeftalt und der gefchichtlichen Entwickelung ded Chris 
ſtenthums reicht zur Bildung der polemifchen Grunbbes 
griffe vollflommen aus. Sobald aber der Firchliche Irr⸗ 
thum in irgend einer befonderen gefchichtlichen Erfcheinung 
der Gegenwart polemifch behandelt werden fol, kanu bie 
Polemik nicht mehr vor aller Eregefe, Kirchengefchichte 
und Syſtematik ſtehen bleiben; fie muß in das Innerſte des 
Haufes hinein. Bor Allem muß der gefchichtliche Zufamr 
menhang des Irrthums genau und gründlich erfaunt wors 
den feyn. Der allgemeine @indrud davon, die Populäre 
Erfahrung, hilft nichts. Je mehr dann aber eine genauere 
geichichtfiche Erkenntniß lehrt, wie der Serthum, die Krank⸗ 
heit, einzelne Momente der chriftlichen Wahrheit afficirt, 
befto mehr fordert die Beftreitung oder Heilung ein ges 
naues, ficheres Verſtehen derfelben aus Schrift. Das vor⸗ 


Siegende Buch gibt in feinem. befonderen Theile Beweiſe 


dafür faft auf jeder Seite. Es ift unmöglich, anders zu 
verfahren. Oder könnte auch nur eine allgemeine Therapie 
ohne den Grund einer tüchtigen Wilfenfchaft der Phyſio⸗ 
logie und Anatomie u. ſ. w. gedacht werden? — Wienun? 
Soll die Polemik ihren allgemeinen Theil in der philofos 
phifchen Theologie erft fertig machen in abstracto und den 
befonderen concreten fo lange fuspendiren, bis fie mit jes 
nem erft durch die Wiffenfchaft, der Eregefe und Kirchenges 
fchichte gegangen iſt? Faſt fcheint esfo! — IR fie aber 
‚einmal fo weit gegangen, fo wird fie mit dem befonderen 
Theile, den fie fucht, auch wohl noch bie nad) vollendeter 
Dogmatik und Moral warten müflen und erft innerhalb 
der praftifchen Theologie einen. bleibenden Platz finden. 
In der That.greift der kirchliche Irrthum oft fo ſehr in den 

17* | 


De 


260 Bi 


ſyſtematiſchen Nerus ber Dogmatik und Moral ein, daß 
er ohne diefe Wiffenfchaften weder gehörig zu verftchen, 
noch zu widerlegen iſt. Auch davon gibt ded Verfaſſers 
Behandlung im befonderen Theile Beifpiele in Menge. 
Das ift kein Fehler, fondern eine Nothwendigkeit. — Aber 
wie. foll es nun feyn? Sch halte die fahleiermacher’fche 
Eonftruction der Polemik in der philofophifchen Theologie 
nicht an ſich für unrichtig, aber fie ſcheint mir befchräntt 
‚oder näher beftimmt werden zu müflen, nämlichfo: une 
Die allgemeine polemifche Ideenlehre gehört wefentlich der 
philoſophiſchen Theologie an und ift ein unmittelbarer 
Ausfluß der Apologetif, fofern diefe im Allgemeinen die 
Möglichkeit, die Unvermeidlichkeit des Irrthums, der fals 
fchen Religion, in der Kirche der vollkommen wahren Res 
ligion wiffenfchaftlich zu erflären hat gegen darauf bezüg⸗ 
liche Vorwürfe. — Das Syſtem der Polemit mit feinem 
beftimmten hiftorifchen Inhalt und feinen praftifchen Res 
fultaten iſt allerdings auf jene Ideenlehre gebauet, nimmt 
fie wieder auf, bildet fie in ihren Stoff hinein, kann aber 
eben wegen biefed Stoffes nur nadı vollendeter Eregefe, 
- Kirchengefchichte, Dogmatik und Moral eintreten als eine 
Disciplin der praßtifchen Theologie a), diefer eben fo wen. 
fentlich, als etwa die firchliche Rechtslehre, welche, wenn 
ich nicht irre, ebenfalls in der philofophifchen Theologie 
ihre ideale Grundlage hatb). 

Es ift nicht unintereffant, die Geneſis des polemiſchen 
Inhalts von dieſer Stellung der Polemik aus einen Aus 





a) Hier oder nirgends und niemals findet die Polemik eine ruhige, 
bleibende Stätte in dem Syſteme ber neueren Theologie, 


b) In diefem Sinne Tann ich mir die roſenkranziſche Gonftruction 
der Polemik (f. oben Anmerkung ©. 248) aneignen. Die Apos 
logetik behält aber nad) meiner Anſicht ihre Stelle in ber phis 
loſophiſchen Theologie, unter der ich nicht im Stande bin eine 
fpeculative Gonftruction bes Chriſtenthums unabhängig von ber 
Grfäeinung deſſelben zu verſtehen. 


J 


Chriſtliche Polmt. 201 


genblick näher zu beteachten. Bon ihren Gegenftanbe, ber 
Krankheit, dem Irrthume in der Kirche, aus entſteht Die 
Holemit in jebem Augenblicke zunächſt als ein wißbehaglis 
ches Gefühl, als ein Urteil des Mißfallens in dem ges 
funden Theile der Kirche. In diefer Form ift fie freilich 
etwas rein Laienhaftes und Allgemeines, aber darauf bes 
ruht auch ihre allgemeine Anerkennung und Ausübung in 
ber Kirche, felbft von Seiten der Laien. Tritt num jenes 
polemifche Sefühl oder Urtheil vorzugsweiſe in den Kleri⸗ 
Bern oder allgemeiner in den Theologen in feiner vollen 
Stärke und als praftifcher Impuls hervor, fo entfieht für 
Diefe die Nothwendigkeit einer wiffenfchaftlichen Rechen⸗ 
ſchaft und Entwidelung. LUnterfcheiden wir in jenem Ger 
fühl oder Urtheile das theoretifche Moment und den praftis 
fchen Impuls, beide aber als ungertrenntich verbunden, fo 
haben wir die beiden Theile der Polemik, den betrach⸗ 
genden und ben praftifch widerlegenden ober 
heilenden. Ferner analyfiren wir jened Gefühl oder 
Urtheil feinem Inhalte oder vielmehr Grunde nach genauer, 
fo finden wir ein Zwiefaches, genau Zuſammengehoͤriges, 
einmal nämlich das Factum des Irrthums als das zus 
nächſt äußere, objective Entſtehungsmoment des polemis 
fchen Urtheild, fodann das Bewußtfeyn der urfprünglis 
chen Yhriftlichen Wahrheit and Gefundheit, worin dad ins 
nere, ſubjective Entſtehungsmoment liegt. In der ſpyſte⸗ 
matiſchen Conſtruction der Polemik iſt nun die Aufgabe, 
den vollen Inhalt dieſer beiden Momente aus ihren Quel⸗ 
len wiſſenſchaftlich zu entfalten. Und ſo öffnen ſich zur Bil⸗ 
dung des polemiſchen Inhalts im Syſteme die beiden Quel⸗ 
lenreihen der Theologie, die hiſtoriſche auf der einen Seite, 
und auf der andern Seite von dem kanoniſchen Anfangs⸗ 
punkte des Chriſtenthums in der heiligen Schrift diejeni⸗ 
gen Wiſſenſchaften, welche zur vollen Aneignung und ideas 
len Verfländigung der chriftlichen Wahrheit dienen. Hierin 
iſt eingefchloffen das Zurückgehen der Polemik anf die po» 


- 


262 x?" 


lemiſche Ideenlehre in ber philoſophiſchen Theologie, aber 
auch das Vorwärtsgehen in die Dogmatif und Moral. | 

Ehe ich diefen Paragraphen verlafle, ‚möchte ich die 
Frage aufwerfen, ob dem Berf. nicht oblag, in der Lehre 
von den Quellen, da er den verſchiedenen Gehalt derfels 
ben unterfcheidet, wenn auch kurz, das Verhältniß des A. 
und N. Teſt. im heil. Schriftlanon genauer zu beſtimmen? 
Es ift befaunt, wie ein CTheil der kirchlichen Irrthümer 
von jeher mit einer falſchen Faſſung jenes Verhältniſſes 
genau zufammengehangen, fa geradezu daraus gefloffen 
iſt, indem entweder Die wahre Einheit oder bie wahre Difs 
ferenz beider Teftamente verfannt wurde. So hängt alfo 
auch von der richtigen Beſtimmung diefes Berhäktniffes bie 
polemiſche Methode, ihr Gelingen und Mißlingen, we⸗ 
fentlichh ab. Selbft wenn die Polemik nur die Apologetit 
zu ihrer Boransfegung hätte, Tönnte fie das Tichtige Bers 
bältnig im Allgemeinen fchon ſicher beftimmen. Aber ich 
befcheide mich gern, wenn gefagt wird, das gehöre in bag - 
Syftem der Polemik feldft, nicht in die Einleitung. Nur 
Darauf muß ich befiehen, daß fihon im allgemeinen Theile 
bie Prinzipien in Betreff jenes Verhältniffes fefigeftellt wers 
den mäflen zur Begrändung ſowohl ber fpeciellen Pathos 
logie des kirchlichen Irrthums, als der fpeciellen Therapie 
deffelben. Wir vermiffen aber diefen Punkt auch in dem 
allgemeinen Theile des vorliegenden Wertes, 

Wir übergeben, was der Berf. (6: 3.) über das ency« 
Mopädifche Verhältniß der Polemik fagt, um wieder etwas 
länger bei der genetifcyen Beſtimmung ber Form der Pos 

kemif ($. 4.) zu verweilen. Der Hauptfaß lautet fo: Die 
Form der Polemit entfieht theild Dur den 
Gegenfabß des Allgenreinen und Befonderen, 
tyeils Durch den Kreislauf, der ſich aus der 
die Wahrheit begleitenden Bewegung bes Irr⸗ 
thums ergibt. 

Man fleht, der Verf. verftcht hier unter der Form die 


Chriſtliche Polemik. 263 


ſyſtematiſche Formulirung und Schematiſtrung des pole⸗ 
miſchen Stoffes... Und fo ergibt ſich aus feiner. Formbe⸗ 
ſtimmung die Eintheilung feines Syſtems nicht bloß in den 
- Allgemeinen ober begründenden (nicht abſtracten) ‚und 
ben befonderen oder begründeten Theil, fondern and, das 


Schema des befonderen Theiles „als einer kreisförmigen 


Entwidelung des kirchlichen Irrthums in dem gefchichtlis 
chen Leben der Kirche um den Mittelpunkt beffelben, bie 
chriftliche Wahrheit in ihren Hauptmomenten.” Leber dies 
fen legten Punkt fagt ber Berfeviel Schönes und Wahres. 
Allein werm doch in der. Einleitung nicht ſchon die ganze 
MWiſſenſchaft feloft fieden kann, fo fcheint mir Durch dieſe 
Erörterung dem ‚allgemeinen Cheile etwas vorweggenom» 
men zu ſeyn. Im erften Kapitel bes-allgemeinen Theiles 
redet der Berf. vom Weſen, von der. Entftehung und Wir⸗ 
kung Des kirchlichen Irrthums. Erſt hierher gehört die Dar⸗ 
ſtellung der Geſetze, wonach der kirchliche Irrthum in ges 


fchichtlicher Mannichfaltigteit erfcheint, und fomit auch das 


gefchichtliche Schema feiner Hanptformen, wiffernfchaftlich 
eonfirnirt aus jewen Gefeben An biefem Orte war eben» 
fo nothwendig Davon zu fprechen, als von ben Hanptfors 
men der Beſtreitung zur Bildung des Ueberganges in den 
befonderen Theil, woran es der Verf. $. 3. im zweiten Ka⸗ 


pitel nicht-fehlen laßt und. wovon er in der Einleitung mit 


Necht noch nicht redet. Sene Schematifirung ober Orga 
niſation des befonderen Theiles ift von befonderer Wich⸗ 
tigkeit. Bei aller Uebereinſtimmung kann ich bedeutende 
Abweichungen sticht verfchweigen. Aber ich verfpare bie 
Anseinanderfeßung bis an einen bequemeren Ort, mo es 


‚möglich ift, im Zufammenhange ausführlicher davon zu 


reden. 


Die Kormbeflimmung einer Willenfchaft kann in der 


Einleitung nur fo weit gehen, als der allgemeine Begriff 
der Wiffenfchaft ohne den artichlirten Stoff geftattet, aber 
Alles, was der allgemeine Begriff unmittelbar für die Form 


mi 


264 | Sad 


beſtimmung enthält, muß zur Sprache fommen. In diefer 
Hinficht vermiffe ich Die in dem allgemeinen Begriffe der 
Polemik fhon liegende Unterfcheidung und Verbindung 
der theoretifchen Sonftruction oder ber pathologischen Dias 
gnofis des kirchlichen Irrthums und berpraftifchen Widerles 
"gung ober Heilung beffelben. Daraus entfiehen Feine zwei 
‚befonderen Theile des Syſtems, aber die Form ber Wiſ⸗ 
ſenſchaft beſteht weſentlich darin, beide Thätigkeiten des 
Polemikers gehörig auseinander zu halten und zu verbin⸗ 


ben. Ich wundere mich, daß die Lehre von der Form der 


Polemik den Berfaffer nicht darauf geführt hat, als das 
innerfte. Wefen diefer Form die Dialektif, die bialektifche 
Kritik darzuftellen. Denn iſt nicht vor Allem die Aufgabe, 
theqretifch wie praftifch das Weſen, Die Erſcheinung unb 
den Schein des Serthums und der Krankheit, wie der 

‚ Wahrheit und der Gefundheit zu unterfcheiden, nament⸗ 
lich den Schein in feiner Wurzel zu faffen und zu zerftreuen? 
Freilich ift die Dialektik die wiffenfchaftliche und Tünftleris 
fhe Grundform aller Theologie, wie aller Wiffenfchaft, 
aber in der Polemik concentriret fie fich gleichfam und if 
das Alles Beherrfchende. Sie erfcheint hier in echt ſokra⸗ 
tifcher Art, weniger als uausvrıxn, denn die Wahrheit if 
ſchon geboren, obwohl fie in den Irrenden und Kranken 
zur vollen Wiedergeburt kommen muß, deſto ‚mehr aber 
als eine wahre Zgoruun und sedagoıs. Hieran knüpfen 
ſich Teicht die intereffanteften Erörterungen über das eigens 
thümliche Wefen der theologifchen Dialektik, ihre fittlichen 
Bründe und Zwecke, worüber wir gerade ben Verf. fo a 
gehört hätten. 

Die Einleitung fchließt mit der Litteratur der Polemit. 
Der Gegenſtand iſt zu einladend und regt mich zu ſehr an, 
um nicht dem Verf. meine Bemerkungen darüber mitzu⸗ 
theilen. 

Nach dem Verf. beginnt die eigentliche Litteratur der 
Polemit als Disciplin erſt mit der Reformation. — Da 





Chriſtliche Polemik, 265 


\.für ihn die Aufgabe if, eine Geſchichte ber pokemiſchhen Sy⸗ 
fleme und Handbücher zu geben, fo fchließt er bie polemi⸗ 
ſchen Schriften, welde eingelne Lehren oder auch das 
Ganze eines kirchlichen oder Dogmatifchen Lehrbegriffe vor 
fote nach der Reformation befireiten, aus, Er nennt dieſe 
Schriften praftifch» polemifche Thätigkeiten, auf eine vors 
bandene oder vorausgeſetzte Wiffenfchaft der Polemik ges 
ſtützt. Jene Thätigfeiten.aber, fagt er, ſeyen nicht für fi 
litterarsbifterifch gu werfichen, fondern Ermweifungen und 
Mittel der Firchlichsdog ifhen Entwidelung und 
nur im Zuſammenhange dieſer gehörig aufzufaflen. 

Dagegen habe ich mancherlei zu erinnern. 

Zuvörderſt fcheint mir, um wit Dem Uinwichtigeren an⸗ 
zufangen, die neue Terminologie kirchlich⸗dogmiſch 
ebenfo grammatifch unrichtig, ald unverfländlic,. Der 
Begenfa fol das firdlichsbogmatifche feyn, von 
welchem Ausdrucke der Berf. in ber Aumerlung fagt, er 
würde, wenn er ihn oben im Texte gebraucht hätte, wie in 
fo vielen Fällen, zum Nachtheile der Bekimmtheit des Be⸗ 
griffs die Vorſtellang von einer Dogmatik in der Kirche 
außer und vor ber Hieche in ſich ſchließen. Aber felbft 
wenn dieß wäre, durfte er doch den Sprachgebrauch nicht 
fo ändern, da do g wmiſch gar fein Wortift, weder ein gries 
chiſches, noch ein durch Korruption entftandenes technie 
ſches, alfo durchaus unftatthaft. — Dogmatifch geht im⸗ 
mer nur auf Dogmazuräd, nihtauf Dogmatif, Das 
Dogma kann audy ohne Theologie ſeyn, alfo aud das 
Dogmatifche, die Dogmatik freilich, als wiffenfchaftliches 
Syftem der Dogmen, nie und nimmer. 

Aber daven abgefehen, fo enthält jede polemifche 
Schrift, fie mag ein vorhandenes Syftem ber Polemil 
vorausſetzen oder nicht, immer ein gefchichtliched Moment 
für die Entwickelung ber Polemik als Kunft und Willens 
fchaft, weil fie immer aus demfelben polemifchen Grundge⸗ 
fühle hervorgeht, worauf am Ende dad Syiten ber Pole⸗ 


266 ga 


mit beruht. Auch das iſt wahr, baß eine einzelne praktiſch⸗ 
polemifche Thäsigkeit nicht für ſich litterariſch⸗hiſtoriſch zu 
verftehen iſt. Das tft aber überhaupt keine litterariſche Ers 
ſcheinung. Das gefchichtliche Verftchen geht immer anf 
ven Zufammenhang der Entwidelung. 

"Wie nun die Polemik als Syftem ſich lebendig fort 
bildet nicht bloß in Syftemen , ſondern auch, ja ganz vors 
züglich in bedeutenden polemifchen Schriften, wodurch die 
Syfteme, ihre Methode, ihr Inhalt n. ſ. w. erweitert, cor⸗ 
figirt werben, ebenfo müffen wirfagen, daß bie lebendige 
Sefchichte der Polemik längft angefangen hatte, ehe poles 
mifche Syſteme und che die Polemik. als befonders mars 
Hirte theologifche Disciplin entfinnd. Als Schema, ale 
ee, felbft als wilfenfchaftliche, wenn auch nur im Keime, 
war die Polemik im Geifte der Kirche immer vorhanden, 
fobald eine merhodifhe polemifche Thätigkeit von deu 
Theologen ausging, Go entfteht jede Theorie aus der le⸗ 
bendigen Praris und hat hierin ihre Urfpruinges und Vor⸗ 
bereitungsgefchichte. Es if. ebenfo lehrreich, als interefe 
fant, zu beobachten, wie nach und nach die Idee der Pos 
lemik in der Praxis deutlicher wird, beftimmtere Geſtalt 
gewinnt, bie fie zur förmlidyen Geburt in der Wiffenfchaft 
gelangt. Indem alfo der Verf. Diefen reichen Stoff vor 
und neben den polemifchen Theorien und Syſtemen vers 
ſchmaͤht, hat er feiner Litterargefchichteein bedeutendes Sur 
tereſſe entzogen. Eine wahre Gefchichte der Polemik in 
dem bezeichneten Umfange. würde nach meiner Meinung 
anfangen mit einer kurzen Charatteriſtik der polemifchen 
Praxis oder Kunft der Apoſtel, namentlich des Apoſtels 
Paulus, dem apoſtoliſchen Hanupte der Polemitk; dann etwa 
die patriſtiſchen Methoden eines Irenäͤus, Epiphanins, 
Anguſtin eroͤrtern; — ſie würde ferner zeigen, wie der po⸗ 
lemiſche Stoff und mit ihm die polemiſche Methode in der 
Kirche allmählich wächſt, ſich cortumpirt und reformirt, 
wie die Kirchen, die Individnen ſich darin unterſcheiden. 








Shriftliche Polemik. 267 


Wie intereffant 3.98. die Vergleichung ber verſchledenen 1 
lemifchen Talente und Methoden in der. Reformationtzeit, 
eined Erasmus, Luther, Melanchthon, Calvin, Zwingti 
u.f. w.! Der Berf. kommt felbf in diefe Perſonalcharak⸗ 
teriftit der polemiſchen Litteratur hinein, aber nur einmal 
und kaum anfangend bey Georg Ealirt. Aber auch Spes 
ner, er felbft, nicht bloß die Spenerianer, hätte ald epo⸗ 
chemachend eine nähere Charakteriftit verdient. Und um 
aus der neuelten Zeit einen. Mann zu nennen, ber zwar 
fein Syften und Handbuch der Polemik gefchrieben, aber 
die Idee derfelben klar in feinem Geifte getragen und feis 
nen Beruf zum Theile Darauf bezogen hat, andy bie Kunſt 
wahrhaft verftand, wir meinen Schleiermadher, wie lehr⸗ 
reich wäre eö gewefen, bieß polemifche Genie, die polemis 
fdje Stelung und Art dieſes Mannes kurz zu GRrSHeripe 
ren und zu beurtheilen! 

Der Verf. gibt den Grund, warım die Polemik erſt 
fett der Reformation, eine Disciplin geworden, im Allge⸗ 
meinen richtig an. Der Gegenfag' der römifchen und pres 
seftantifchen Kirche rief zuerft das theologifche Bedürfniß 
einer theologifchen Disciplin hervor. Aber wie fo bieß? 
Darüber fehlt die Erklärung. Uber follte es ſich damit 
nicht fo.verhalten? Da ‚beide Parteien fich gegenfeitig 
als Irrthum und Krankheit befämpften, nach: ihrer Vorſtel⸗ 
Aung mit gleichem Rechte, jo fragte fid), wer und wäs 
follte entfcheiden? Nur durch Grgründung der. polemis 
fchen Prinzipien, nur durch eine wiflenfchaftliche ei 
ſche Theorie konnte entfchieden werben. 

Sehr natürlich trug die Polemik’ des A6ten und 1Tten 
Sahrhunderts vorzugsweife den kirchlich⸗ſymboliſchen Eha⸗ 
rakter, weil fie bavon ausging, daß die weſentliche Eins 
heit der Kirche mit einer folchen Parteibifferenz, wie Die 
zömifch » fatholifche und .proteftantifche.war, unverträglid) 
fey, und daß nur auf der einen Seite bie volle. Wahrheit 
und Geſundheit ſeyn Sinne. Dachte man ſich nun von bei⸗ 


- 268 | Bad 


den Seiten ben bogmatifchen Lehrbegriff ald alleinigen 
Ausdruck der Einheit, Sefundheit und Wahrheit der Kir⸗ 
che, fo konnte, fo lange dieſe Vorſtellung ‚nicht berichtigt 
war, die Polemik fi nur in Eirchlich « fombolifchen Eon» 
troverfen entfalten. Hieraus erflärt ſich Die Damalige enge 
Berbindung der Polemik mit der Dogmatik und die gegen 
feitige Verderbung beiber inallen Kirchen, wahrhaftig nicht 
bloß in der Iutherifchen. 

Die Reform der Polemik durch ©. Calixt und Die 
bald darauf erfolgte fpener’fche Richtung in der Iutheris 
fchen Kirche harakterifirt der Verf. im Wefentlichen richtig 
als eine Entfchränfung vom Zwange der Symbole und 
ein Zurückgehen auf die tiefere Einheit ber Kirche und in 


den chriſtlichen Grundgedanken. Aber wenn er bie neue 


Richtung deßhalb die Dogmatifchseregetifche nennt und ihr 
vorwirft, daß fie die wefentliche Beziehung auf die Idee 


„der Kirche aufgegeben habe, fo hängt dieß menigfteng mit 


Spener nicht zuſammen, der ein fehr ſtarkes Bewußtſeyn 
yon ber Kirche ald einer Lebensgemeinfchaft hatte und 
gar nicht der Meinung war, baß die Kirche ine anf Dem 
Dogma beruhe. 

- Wenn die Polemik bis in bie neuere Zeit · in allerlei 
Mißbildungen gerieth, ſo lag die Schuld gar nicht bloß an 
ihr ſelbſt, ſondern in dem Mangel an wiſſenſchaftlicher 
Organifation ber Theologie überhaupt, der jedem Theile 
fchadete. Ueberall nämlich treten in dem Syſteme der Theo⸗ 
Logie des 16ten und 1Ften Jahrhunderts die verfchiebenen 
Momente und Glieder noch gar nicht oder nur fehr unvolls 
kommen auseinander. Dan trieb in der Dogmatit Moral, 
in ber Eregefe Dogmatik u.f.w. Die Dogmatik beherrfchte 
noch Alles, nahm Dogmengefhichte, Kritik des Kanons, 
Apologetit und, Polemik auf, kurz fie war das wahre Pan 
dectenſyſtem der Theologie. Unter ſolchen Berhältnifien 


iſt begreiflich, daß die Polemik, wie. Die andern Discipli⸗ 


nen, nur allmählich fi fonderte und zu ihrem richtigen 





Chriſtliche Polemik, 269 


Begriffe gelangte, ja fie gerade am fpäteften. Als feit ber 
Mitte des 18ten Jahrhunderts Die neue Articuketion oder 
Organifation des theologifchen Wiffens eintrat, mußte die 
Polemik einen Theil ihres Inhalte an die ans dem Bedürf⸗ 
niffe der Zeit früher hervortretende Apologetik, einen ans 
bern an die neue Formation der Dogmatik und Symbolif 
abgeben. Bei der Mißgunft der Zeit, ber Erfchlaffung des 
firchlichen Sinne, dem geichwächten Eifer für bie Rein⸗ 
beit und Gefundheit der Kirche ging fie mit der Auflöfung 
ihres urfprünglichen Inhalts felbft unter, weil der neue, 
wahre Inhalt fehlte. Die polemifche Praris blieb freilich, 
aber ohne die Zucht der Schule und ohne neues reineres 
Leben der Kirche verbarb fie zuſehends. Erſt als in bem 
neuen Geiſtesſturm ein frifcheres chriftliches Lebensgefühl 
erwachte und ſich verbreitete, konnte fich aus dem neuges 
bildeten polemifchen Gefühl und Urtheil ein neuer rich« 
tigerer Begriff der Polemik erzeugen. Das ift gefchehen, 
und. des Verf. Werkift, wie gefagt, ein bedeutender Beis 
trag zu Diefer Reform. 


In der allgemeinen Polemik erörtert der Verf., wie 
gefagt, Rap. 1. den Begriff des Firchlichen Irrthums nach 
den drei Kategorien bed Weſens, ber Entftehung und 
Wirfung genauer. 

Wir gehen hier zuvörderſt einen Augenblick in bie Ein» 
leitung zurück und fammeln, was ber Verf: dort ſchon 
Aber den Firchlichen Irrthum gefagt hat. 

Indem er $.4. die Form der Polemil erörtert, fagt er, 
nicht der Irrthum ale folcher fey Gegenftand der Polemit, 
fondern der firchliche, d. h. fofern er ein von Gott zuges 
Iaffener und in der Zulaffung ale Entwidlungsmittel für 
bie Erkenntniß und Reinheit der Kirche (von Gott) ges 
wollter und ihr gleichfam vorgehaltener fey. Dieß lautet 
wie eine Erklärung ded.Kirchlihen im Irrthume von Seis 
ten feiner göttlichen Cauſalitaͤt und Zweckbeſtimmung. Iſt 


N 





270 Be 


aber überhaupt ſtatthaft, von goͤttlicher Cauſalitaͤt And Te⸗ 
leologie im Irrthume zu. fprechen, was wir nicht gefonnen 
"And, zu feugnen, — fo gilt dieß doch ganz allgemein,: auch 
für den Irrthum außer ‘der Kirche, Dad Eigenthümliche 
des Eirchlichen Irrthums wirb darand nicht begreiflich. 
Der Berf. fagt dort ferner, der kirchliche Irrthum fey 
nicht bloß an der Wahrheit, fondern hafte fo an dem wahs 
ren, wahrheitslauten Reben der Kirche, daß.er ihren reas 
len, lebendigen und guten Bewegungen folge und deßhalb 
nicht anders könne, als fich nach den Wahrheitderweifuns 
gen richten und in- feinen Erfcheinungen noch eine gewifle 
Abfpiegelung der Ordnung, welche die kirchliche Wahrs 
heit in fich hat, zu erkennen geben. Sehr wahr! Aber 
diefe Klettenartigkeit, dieſer Parallellauf ded Irrthums 
mit der Wahrheit ift wieder etwas ganz Allgemeines und 
zeigt ſich auf allen Gebieten der menſchlichen Erkenntniß. 
Der Verf. neunt jenen Parallellauf des Irrthums im 
der Kirche lieber einen Kreislauf. Darunter verſteht 
er das Laufen bed Irrthums in der Peripherie um deu 
Mittelpunft der Wahrheit, welche in ihren Hauptmomens 
ten felbft feinen Kreislauf im Leben der Kirche habe, fons 
dern der zufammengehaltene Mittelpunft bleibe, von wel 
- chem auß fich bie Kreife des in ber Wahrheit fräftigen und 
liebenden Lebens der Kirche rein and mannichfaltig bilden. 
Der firchliche Irrthum befte fi), weil er den Verluſt ded 
Mittelpuntts in ſich fchließe, an einen irrig aufgefaßten 
Punkt der Peripherie und werbe von diefem aus in fcheins 
bar glängender, doch innerlich einförmiger Weife rund⸗ 
. getrieben u. f. w. — Allein wie Wahres und Schönes 
auch diefe zum Theile bildliche Darftelung enthalten mag, 
das charakteriftifche Wefen des firchlichen Irrthums wirb 
doch auch dadurch auf Feine Weife näher beftimmt und ers 
Härt, Sener peripherifche, gleihfam oberflächliche Lauf 
ift dem Irrthum in jedem Spiteme des Denfend eigen. 
Nach des Rec. Dafürhalten iſt der kirchliche Irrthum 


Ehriſtliche Polemit. art 


infofern ein kirchlicher, als er ſich objectis auf Die chriſt⸗ 
liche Wahrheit in der Kirche bezieht, unb fubjectiv im or⸗ 
ganifchen Geſammtleben der Kirche entſteht und daſſelbe 
durchlauft. — Dieß iſt, wenn ich nicht irre, der einfache 
Begriff des kirchlichen Irrthums, ber den Eroörternungen 
des Berf. in der Einleitung zum Grunde liegt. 

Gehen wir nun mit diefer vorläufigen Erklärung zu 
dem allgemeinen Theile des Syſtems an den Ort, wo der 
Berf. das Wefen des Firchlichen Irrthums genauer erörs 
tert, wie belehrt er und darüber ? 

Er ftellt ©. 36. folgenden Hauptfag auf: Das Wa 
‚fen des firhlihen Irrthums befteht in demje⸗ 
“nigen Scheine ber chriftliden) Wahrheit, ven 
die Kirche, fofern fie niht ganz bei Chrifto 
bleibt, durch die in der Welt wirffame Lüge 
in ihrer Mitte entfiehen läßt. 

Wir fragen aber gleich, warum entfichen Läßt? Ges. 
ftattet die Kirche nur den Srrthum, oder veranlaßt, oder 
erzeugt fie ihn? Der Verf. meint offenbar das Letztere. 
So hätte er alfo fagen follen: entlichen macht oder erzeugt. 
Man ftoße ſich nicht daran, Daß der Verf. die Kirche felbft 
ald Urheberin und Hegerin des Irrthums anfieht! Cr 
meint die Einzelnen in der Kirche, aber ald Mitglieder dee 
Kirche, in denen fih die Kirche von Seiten ihrer Irr⸗ 
thumfühigkeit Darftellt. Auch wird man leicht begreifen, daß 
der Verf. unter dem Bleiben bei Chrifto das Feſthalten feis 
ner vollen, mit feiner Perfönlichkeit wefentlich verwachfeneit 
@lanbenswahrbeit verſteht. Dieß wäre deutlicher gewes 
fen. Aber jener prägnante Ausdrud ift für den Bibellefer 
vollkommen verftändiich und nichts Myſtiſches. 

Wir fragen weiter: ift der Irrthum nur. der Schein 
der Wahrheit, nicht wefentlich der Widerfpruch damit? 
And dem Folgenden fieht man, baß dieß der Berf. wirks 
lich meint, aber warum drückt er ed nicht gleich im Haupt⸗ 
fage ans? Daß in dem Irrthum immer ein Widerfchein 


% 


272 Sack 


Der Wahrheit it, ein Abſchein, iſt nicht fein Weſen, ſon⸗ 
bern das Berführtwerben durch den Schein, das Abweihen . 
und Nichttreffen der Wahrheit. Dieß fagt der Verf. is 
der weitern Erllärung felber, Aler Irrthum, fagt er, 
ft urfprünglid ein Abirren von der dem menfchlichen 
Denken vorgefchriebenen Bahn. Aber warum nur Yrs 
fprünglich, warum nichtimmer und überall? Jene Bahn 
beſtimmt der Verf. dann genauer als bie Auffaſſung aller 
und durch unfere von Gott angewiefene Stellung zur Bes 
-trachtung fommenden Dinge in Gott, d. b, in ihrer Bezies 
bung zu Gott. Der Irrthum entſteht, fagt er ferner, 
wenn bad Gottesbewußtſeyn oder das Bewußtſeyn, nur. 

durch Bleiben in Gott Wahrheit und Leben’ zu haben, ſich 
Durch das Hervortreten bes Selbftifchen verbunfeln läßt. 
So fey alfo aller Irrthum urſprünglich veligiöfer Irr⸗ 
thum. 

Schließt dieſer Urirrthum die pſychologiſch⸗pragmatiſche 
Geneſis deſſelben in ſeinem weitern Verlaufe nicht aus, 
ſo ſtimme ich dem Verf. bei. Aber wenn er zwiſchen dem 
religiöſen Irrthum im engeren Sinne und dem weltlichen 
ſo unterſcheidet, daß jener im fortgeſetzten Trennen der 
Gedanken über Gott von dem urſprünglichen göttlichen 
Lebenslichte, dieſer in ber fortgefetzten Loßreißung der 
Gedanken über die Dinge von ihrer Beziehung auf Gott 
beftehen fol, fo hat. dieß etwas durchaus Unverſtändliches 
für denjenigen, der, wie ih, für unmöglich hält, über 
Gott zu denken ohne bie Welt, feine Offenbarung, bei aller 
Verfchiedenheit beider, und dem das Denken über die Welt 
ohne Gott eben als die Srrreligion felbft erfcheint. 

Der Verf. führt dann nach der Schrift, wie er fagt, 
bie Erhal tung jenes doppelten Irrthums auf den Satan 
ale den Vater der Lüge zurüd. Allein nad der Schrift 
ift der Teufel auch der Urheber jenes zwiefachen Irr⸗ 
thums unter den Menfchen. Kann aber der Berf. bie 
Entflehung bes Urirrthums and der menjchlichen Freiheit 





Chriſtliche Polemik. 273 


genügend erklären, warum nicht auch die Erhaltung und 
Fortbildung deſſelben? Gewiß ift die Lehre vom Teufel 
eine biblifche, aber nad; meiner eregetifchen Erfahrung 
eine folche, welche durch chriftliche Agentien weiter aufges 


löſt oder ermittelt werden muß, wenn fie im Zufammens 


hange des chriftlichen Glaubens verftändlich und praftifch 
werden fol. Sch halte fie für die concentrirte Beranfchaus 
lichung der mwefentlichen Wahrheiten, daß die Sünde, wie 
ber Irrthum, überall in der geiftigen fittlichen Welt, auch 
auf der höchften- Stufe, denkbar, und immer und überall 
nrfprünglich ein Act der perfönlichen Freiheit ift, daß fle 
aber, wicmohl wirklich geworden in der Menfchheit, in 
jedem Einzelnen eine dunkle Region in der Tiefe des Geis 
ſteslebens, ein Element paffiver Bewußtlofigfeit und eine 
im Gefammtleben Aller liegende.contagiöfe Gewaltbefommt, 
welche bei der fittlichen Behandlung des Irrthums, wie 
ber Sünde felbft, bei der Heilung von beidem ganz vorzügs 
lich in Betracht kommt. Iſt aber fchon für die Dogmatil, 
wie für die Ethif nothwendig, jene Lehre, um fie praktifch 
Har zu machen, in diefer Art aufzulöfen, d. h. nicht aufs 
zuheben, wie viel mehr für die Polemit! Auch können wir 
dem Berf. nicht geftatten, ohne nähere Beflimmung Strs 
thum und Lüge zu identifiziren-, wie er thut. Die Füge 
ift immer etwas Abfichtliches und Bewußtes, während ber 
Irrthum auch ein Bemwußtlofes feyn kann, ja als Srrthum, 
verfchieden von der Lüge, eigentlich nie abfichtliche® Leug⸗ 
nen der erfannten Wahrheit ift. Diefes hat einen anderen 
und fchlimmeren Namen. 

Der Verf. unterfcheidet den Srrthbum vor und nad 
der in Ehrifto erfchienenen Wahrheit. Jenen nennt er freis 
lc gleihfam nur Unwiffenheit, welche Gott nad 


Apoftelgefch. 17, 30. überfehen wolle. Darin ift Wahres, 


aber es muß näher ſo beſtimmt werden, daß die Schuld 


des Irrthums naturlich geringer und größer iſt, je nach⸗ 


Theol. Stud. Jahrg. 1839. 18 


— 


274 Sad 


dem die Wahrheit erft noch gefucht wird oder fchon gegeben 
ift. Sonft gerathen wir in Widerfpruch mit Röm. 1,18 ff. 
Nach diefen allgemeinen Sägen zeigt der Berf., daß 
der kirchliche Irrthum als folcher freilich erft mit der 
Kirche entitanden, feinen Grund nicht in der Kirche felbft, 
als der Gemeinfchaft der fchlechthin wahren Religion, fons 
dern in ihrem Zufammenfeyn und Zufammenhange mit der 
Welt habe. In diefem Zufammenhange bringe ein Jeder 
aus der Welt, worin er zunächft geboren werde, ein Res 


ſiduum von religiöfem Irrthume mit. Allein dieß Mitges 


brachte würde dem Wefen der Kirche zufolge nur in.bes 
ftändigem Berfchwinden begriffen feyn, wenn die Kirche 
völlig treu in ihrem Bleiben bei Ehrifto wäre. . Aber eben 
dieß ſey nicht der Fall, und fo gefchehe ed, daß der Irr⸗ 


thum ſich wie von Neuem innerhalb der Kirche organifire. 


Man habe ſich dieß aber weiter fo zu denken, daß die 
Welt, infofern fie nad) dem Erfchienenfeyn der göttlichen 
Wahrheit in Ehrifto fi mit mehr und minder Bewußts 
feyn in die Macht der Rüge begebe und mit ihrem Fürften, 
dem Teufel, ein geiftiged Ganzes bilde, die Wahrheit 
haffe, verfolge u. f. w. In diefer Art wirfe die Welt 
fortwährend verfuchend, ängſtigend, geifttöptend, wie 
früher auch leibtödtend, auf die Kirche, Indem num dieſe 
noch nicht Mar und wader genug fey, um die Rüge ber 
Welt jedesmal vollftändig ald Füge zu erkennen und abzus 
weifen, erhalte der in ihr von ihrem alten Zuftande ‘a) her 


noch nicht gänzlich ausgetriebene Irrthum Kraft, ſich fcheins 


bar ald Wahrheit dem Firchlichen Bewußtſeyn einzupflans 
zen, beizumifchen, au die Seite zu fielen, und diefer 
Schein, der durch die Lüge auf den religiöfen Irrthum 


geworfen werde, fey eben der Firchliche Srrthum. So 


feyen in jedem Firchlichen Srethume zufammenwirfend die 


a) Welcher ift dieß? Doc, wohl nur das Unmiebergeborene in ben 
| Ginzelnen? — Dann aber ift der Ausbrud nicht genau, 


CEhriſtliche Polemit. 275 


- : beiden Factoren, bie Lüge der Welt und die Schwäche 
der Kirche. — 

Den Inhalt diefer Sätze im Wefentlichen anzuerfennen, 
kann ich mid) nicht weigern. Allein mir fcheint einfacher 
und Elarer, erſtlich ftatt des Begriffs der Lüge den ber 
Täuſchung zu feßen, aus den oben angeführten Gründen; 
zweitens die Beziehung auf den Satan ald Fürften der 
Melt um fo mehr aufzugeben, weil Dadurch die Betrachs 
tung in eine Symbolif des Ausdrudd und eine Specula⸗ 
‚ tion ded Gedankens hineingeräth, welche mehr verbuntelt 
und verwidelt, als wahrhaft begründet und aufklärt. 
Drittend aber fcheint mir nicht nur klarer, fondern auch 
richtiger, die ganze Erfcheinung des kirchlichen Irrthums 
zunächft von dem Individuum aus, weldes irrt, zu ers 
Hären, und zwar fo, Daß gezeigt wird, wie, weil die 
Wiedergeburt und Heiligung ald menfchliche Action eine wers 
dende ſey, alfo immer noch inirgend einer Art die Sündean 
fi habe, auch mehr und.weniger Unvollkommenheit der 





Erfenntniß und Wahrheitsliebe im fich fchließe, ed fey nun, - 


daß der chriftliche Wahrheitdtrieb momentan nicht intenſiv, 
ober nicht continnirlich genug ſey. Go kommt die Irr⸗ 
thumsfähigkeit Jedem und Allen in der Kirche, alfo auch 
der gefammten Kirche mehr und weniger zu. Darin liegt 
Feine Entfchuldiäung des Irrthums, derfelbe wirddadurch 
in der Kirche fein Raturproceß, aber eine hiftorifch, d. h. 
fittlich natürliche und erflärbare Erfcheinung Selbſt 
was man etwa geneigt feyn Eönnte dad. Dämonifche im 
kirchlichen Irrthume zu nennen, die bunfle Naturs und 
Geſammtmacht, womit ganze Zeitalter und Gefchledhter 
der Kirche vom Irrthum in einer beflimmten Richtung ers 
griffen werden, würde auf die Weife feine hiftorifche Er⸗ 
Härung forbern und finden. Da nun in jedem Firdhlichen 
Irrthum eine Bermifhung und Verwirrung bed Ehriſtlichen 
und Richtchriftlichen ift, fo kommt dieſes legtere. immer 
als fchon vorhandener Irrthum aus der nichtchriftllichen 
18* 


276° Sad | 
Welt, jene Vermifchung und Verwirrung aber entflcht 
auf dem Boden der Kirche felbft aus Unklarheit, aus Man⸗ 


gel an Scheidungskraft, Aufmerkſamkeit, Treue und Eifer 


n.f.w. Es liegt. aber darin immer eine Art von Täus 
ſchung, die freilich. hie und da, wenn fie hartnädig wird, 


ſich bis zur Lüge fteigern kann, aber nicht eigentlich von der 


Lüge, als folcher, ausgeht. Sobald der Irrthum als fols 
cher erfannt wird, der eitle Wahrheitsfchein, die Blendung 
verfchwindet, ift auch der Irrthum in den chriftlichen Ges 
müthern gehoben, durch die Macht der in der Wurzel des 
chriftlichen Lebens liegenden Wahrheit und ihrer Dialeftik. 

Am Schluffe der Erörterung fügt der Verf. eine nähere 
Beftimmung; des Firchlichen Irrthums hinzu, welche in 
dem Hanptfage nicht ausgedrückt, auch gar nicht anges 
deutet ift. 

Er fagt, der Firchliche Srrthbum ſey dann erft weſent⸗ 
lich ein folcyer oder eine wahre Härefie, wenn er gegen 
einen Fundamentalartikel des chriftfichen Glaubens gerich⸗ 
tet fey. Kine Lehre nämlich, von welcher die Kirche eins 
fähe, daß fie der Fefthaltung des wefentlichen Inhalts des 
Glaubens gar nicht im Wege ftehe, könnte ihr auch nicht 
als falfch erjcheinen, fondern etwa nur Einzelnen ihrer 
Glieder in wiffenfchaftlicher ober praktiſcher Beziehung. 

Dieſe nähere Beſtimmung ift gewiß ebenfo nothwendig, 
als richtig, um zu verhüten, daß nicht jede auch worübers 
gehende Differenz der Meinungen polemifch behandelt, und 
nicht jeder Schulftreit oder jede wiffenfchaftliche Disputation 
Sirchlich beargwöhnt und verbittert wird. 

Allein wenn der Verf., nachdem er die FZundamentals 


| artifel richtig definirt hat als die durch einen Act der Kirche 


artienlirten und firirten Hauptmomente des chriftlichen 
Glaubens, hinzufügt, daß dieß aus göttlicher Weisheit 
und Fürforge in der Taufformel fo vollftändig und volls 
kommen gefchehen fey, daß es Beine andere Fundamentals 


-avtifel geben könne, als jene drei vom Vater, Sohn und 


Chriſtliche Polemit. 977 


heiligem Geifte, und daß eben das, was bamit in Wider⸗ 
ſpruch fey, als kirchlicher Srrthum zu begreifen fey, — fo 
vermiffen wir zu viel, um beiftimmen zu können. 

Zuvörderft ift gewiß wahr, daß die Tauffprmel das 

Schema ber chriftlichen Fundamentalartikel enthält, aber 

nur das Schema, ohne näher beflimmten Inhalt. Liegt 
biefer etwa angedeutet in ber Verbindung der drei Glaus 
bensobjecte? ‚Aber diefe werden doch hier nur aneinanders 
gereihet;- die innere Verbindung kann auf mannichfaltige 

Weiſe geſchehen, felbft die anerfannt häretifche ift durch 
die Formel nicht unmittelbar ausgefchloffen. Der Verf. 

.. will auch, wie es ſcheint, nur ein Zundamentalfchema in 
ber Formel finden... Aber reicht dad hier aus? Iudem er 
ben Satz ausführt, daß jede Lehre ihr Maß an der Schrifts 
und Kirchenlehre vom Bater, Sohn und Geiſt findet, geht 
er wenigftene bei dem Begriffe Sohn in eine nähere Bes 
ftimmung des Inhalte ein und gibt fo felbft zu, daß bie 

Conſtruction der Fundamentalartifel ihrem Inhalte nach 
‚von etwas Anderemiausgehen mäffe, ale von der Taufs 
formel. Um es kurz zu fagen, nicht die Taufformel, fons 
dern die apologetifche, fchriftgemäße Conftruction der 
hriftlichen Erlöfungsidee und der darin wefentlich liegen» 
den Momente gibt Die rechte Baſis für die Beflimmung der 

Fundamentalartikel. Hier war alfo von dem h. Schrifts 
kanon, beſonders des N. T., zu handeln, ald dem eigents 
lich Suhaltigen der Taufformel. 

Sodann aber fcheint mir, um den Firchlichen Irrthum 
auch feinem wefentlihen Umfange nach zu beſtimmen, 
nothwendig, zwifchen dem Irrthume, der einen unmittels 
baren Widerfpruch gegen die Fundamentalartifel enthält, 
und demjenigen, der nur mittelbar, aber confequent den⸗ 
felben widerfpricht, zu unterfcheiden. Diefe lebtere Art 
bes Eirchlichen Irrthums ift bei Weitem die häufigere, Pos 
lemiſch fchwerere, und erfordert recht eigentlich die poles 
mifche Kunft, weil im Irrthume felbft nichts häufiger il, 


‚278 Sack 


als den conſequenten Zuſammenhang zu verbergen oder 
nicht zu bemerken, in der Beſtreitung des Irrthums aber 
‚oft falſche, übertriebene Conſequenzen gemacht werden. 
Dieſe Seite der Sache war genauer zu erörtern. Auch 
konnte von dieſem Punkte aus ſehr gut gezeigt werden, 
wie die erſtere Art des kirchlichen Irrthums an das Anti⸗ 
chriſtliche, die letztere mehr an die an ſich unſchuldige, ja 
in der Kirche nothwendige Heterodoxie angrenze. Die 
häufige Verwechſelung der Härefie, Heterodoxie und des 
Antichriftenthums, die Lebertretung der oft’ ſehr feinen 
Orenzen forderten eine genauere Erörterung an biefer 
Stelle. J Er 

Bon dem abfolnten Urfprunge des firchlichen Irrthums, 
der das Wefen deffelben felbft ift, unterfcheidet der Verf. 
$. 2. die gefchichtliche Eutftehung der kirchlichen Srrthümer, 
und erklärt Diefelbe aus dem Zufammenmwirfen der 
Berworrenheit ded Ganzen mit der Bermefs 
fenheit Einzelner. Unter der VBerworrenheit des 


Ganzen der chriftlichen Kirche verftcht er aber die Unklars 


heit, die Verworrenheit der chriftlichen Denkweiſe übers 
haupt in einer gegebenen Zeit. Daraus allein erzenge fich, 
. wie er zeigt, noch kein beflimmter Irrthum. Diefer 
entfiche erft, wenn aus der Maſſe eines über einen Haupts 
punkt des Glaubens verworrenen Gebietd der Kirche ein 
Einzelner mit der Bermeffenheit hervortrete, das von der 
Maffe unbewußt gewollte und fchon geheim geliebte Uns 
wahre in beſtimmter begrifflicher Lehrform auszufprechen. 
So bilde ſich dann von jenem Einzelnen aus durch Ans 
ſchließung des Verwandten in der Maffe eine Irrthums⸗ 
gemeinfchaft, welche fich der rechten Lehre gegenüberftelle 
als Härefie und der Gemeinfchaft der Kirche als Secte. 
Jene Berworrenheit ded Ganzen aber könne fo groß feyn, 
fo feuerfangend für Die Härefie, daß auf Seiten des Eins 
zelnen oft nur Eitelfeit, weltliche Unruhe, Uebergefchäftigs 
keit, Selbfiweisheit hinreiche, um einen Firchlichen Irr⸗ 





Chriſtliche Polemit. 279 


fthum zu Stande zu Bringen. Dabei aber ſey immer feſt⸗ 
zuhalten, daß im Firchlichen Irrthum eine relative Wahrs 
heit fey, daß derfelbe oft eine bisher mit Unrecht vernach⸗ 
käffigte Richtung des Denkens hervorbringe, daß ber 
Eifer der Härefiarchen nicht felten aufs Befte gemeint fey 
u. ſ. w. 
Auf die Weiſe wird die Schärfe des Hauptſatzes, wo⸗ 
von der Berf. ausging, allerdingd fehr gemildert, was 
auch nothwendig war, um nicht die Wahrheit durch jene 
Schärfe leiden zu laffen. Ich bin aber geneigt, den Haupts 
fag auch noch von einer andern Seite zu befchränfen. 
Wie, wenn der Einzelne in der Kirche rein für fich irrt 
über einen Hauptpunft ded Glaubens, in guter Meinung, 
ohne beftimmte Abficht der Verbreitung, — ift dieß nicht 
ſchon der firchliche Irrthum felbft, oder wird er es erft 
dadurch, daß Andere ihn theilen? Der Verf. wird nicht 
feugnen wollen, daß die polemifche Behandlung fchon bei 
dem Einzelnen, der irrt, eintreten fönne und müffe, nicht 
bloß, damit der Irrthum fich nicht weiter verbreite, fons 
dern auch, damit ber Einzelne felbft geheilt und ein gefuns 
des Glied der Kirche werde. Der Einzelne fann in Irr⸗ 
thum gerathen, während die ganze übrige Kirche ohne 
wefentlichen Irrthum ift. Der Fall ift denkbar und muß 
es feyn, weil fonft herausfäme, was offenbar falfch ift, 
daß der Irrthum eben nur von der Kirche als einem 
Ganzen audginge, und ber Einzelne nur verführt von 
Allen daran Theil nähme. Gewiß ift die Kirche immer im 
gewiffen Sinne Schuld, wenn der Einzelne in ihr irrt, 
aber doch nur infofern, weil fie noch nicht die vollkommene 
Kirche, fondern noch die irrthumsfähige ift, d. h. aber 
nichts Anderes, als weil das chriftliche Kebengprincip noch 
nicht in Allen, die zur Kirche gehören, zur vollen Pau 
ſchaft gelangt iſt. 
Der Satz des Verf. erklärt alſo nur den kirchlichen 
- Serthum in der Geſtalt der ſectireriſchen Ketzerei; die tier 


280 Sak 


fer liegenden, feineren, vielleicht auch unvollkommneren 
Geſtalten deſſelben läßt er unerklärt. 
Der Verf. behauptet F. 3, daß die Wirkung des 


kirchlichen Irrthums bis zu einem unberechen⸗ 


baren Grade zum Verderben der Kirche ges 
reiche, fügt aber befchränfend hinzu, daß fie aber den 
Kortfchritt der Kirdhe zur Bollendung nicht 
aufzuheben vermöge. Allein eben dieſe Befchränfung 
fchließt fie nicht das Unberechenbare wieder aus? Wenn 
ber Berf. die Kategorien ber verderblichen Wirfung an— 
zugeben vermag, fo ift Dieß auch inımer. etwas yon Berech⸗ 
nung. Sene Kategorien find nach dem Verf.: der Ber 
Iuft der hriftlihen Einfalt, die Dämpfung 
der Liebe, die Zerreißung der kirchlichen Ein, 
heit. So wäre .alfo die volle Wirkung des Irrthums die 


. Zerftörung der Kirche felbft.. Der abfolute Irrthum würbe 


auch immer die Kirche unfehlbar zerftören, von welchem 
Punfte der Lehre er auch ausgehen möchte. Allein da der 
firchliche Serthum immer noch einen Antheil an der Wahrs 
- beit hat, und die Kirche die Wahrheit nie mehr zu verlieren 
vermag, hat die gerftörende San bes Irrthums immer 
ihre Grenze, 

Indem der Berf. bie Störung der icchlichen Einheit 
Durch den Irrthum genauer erörtert, kommt er auf den 
Begriff der Spaltung oder des Schifma. Er betrachtet 
diefes einmal ald Wirkung der Häreffe, ſodann wieder als 


- unabhängig von diefer,, fofern ed fich urfprünglich auf Die 


Differenz der Sitten und Anordnungen der Kirche bezieht. 
Sn diefer Form fey es felbft Fein Irrthum, fondern ein 
Unredt, eine Sünde, eine Lieblofigfeit und als ſolche 
wieder Duelle von Irrthümern. Dieß ift im Allgemeinen 
richtig. Allein die von dem Verf. behauptete Wechſelwir⸗ 
fung der Härefie und des Schifma fcheint darauf hinzus 
weifen, daß beide in einem höheren polemifchen Begriffe 
eine gemeinfchaftliche Wurzel haben. Diefer Begriff ift 


Sheiftlihe Polemik, 281 


kein anberer, als ber der Krankheit des kirchlichen Lebens» 
organifmud. Daß der Verf. nicht hiervon ausgegangen 
ift, rächt ſich an dieſer Stelle dadurch, daß er ſich genö⸗ 
thigt ſieht, von Schwächungen und Beſchädigungen der 
tieferen und zarteren Lebenskräfte der Kirche bloß als von 
Wirkungen des firchlichen Irrthums zu fprechen, wähs 
rend diefelben doch ebenfo gut als Urfachen des kirchlichen 
Irrthums erfcheinen, ja nicht felten, noch ehe diefer ans 
. ihnen hervorgegangen ift, als Firchliche Uebel für fich po⸗ 

lemiſch behandelt werden müſſen. 

‚ Was nun die Beftreitung des kirchlichen Irrthums bes 
trifft, fo zeigt der Verf. zuerfi 9.1, daß die Nothwen, 
bigkeit der Beftreitung aus der Pflicht der 
Kirche, fih in der Wahrheit zu erhalten und 
zur Reinigung ihrer Glieder vom Irrthume 
thätig zu ſeyn, unmittelbar folge... 

Ebenſo richtig wird $.2. der polemifche Bernf in der 
Kirche nicht auf den Klerus, den Stand der Theologen, 
befhräanft, fondern überall, wo Erfenntnißs und 
Gemüthskräfte einen der Kirche erfprießlichen 
Erfolg verfpreden, ſey wahrer Berufzurpolemifchen 
Thätigfeit. Der Berf. beftimmt dann die allgemeinften 
und wichtigften Eigenfchaften des Polemikers durch eine 
dreifache Verbindung von Gegenfägen, nämlich einmal 
ein fcharffondernder Verftand, verbunden mit 
lebendiger Liebe zur Wahrheit, fodann wiffen, 
fhaftlihe Bildung, verbunden mit Sinn für 
das kirchliche Leben, endlich eigenthümlicher (27) 
Zugang zu der Wirkungsſphäre eines kirchli— 
hen Irrthums, d. h. genaue Kenntniß des Irr⸗ 
thums, in Verein mit agerfannter Unbeſchol⸗ 

tenheit von Seiten ber kirchlichen Gemeins 
ſchaft. 

Nicht weniger ſtimmen wir dem Verfaſſer von ſeinem 
Standpunkte bei, wenn er $. 3. als die Hauptformen ber 





282 Sad 

Beftreitung das Religionsgefpräd, die akade— 
mifche Disputation und die Streitfchrift dar— 
freilt. Mit Recht bringt er die beiden erften Formen, 
von denen bie erfte ganz untergegangen ift, die zweite im 
Sterben liegt, wieber zu Ehren. Jene aber feßt eine le⸗ 
bendige Synodal » und Prefbyterialform voraus, dieſe 
eine innigere Verbindung zwifchen Kirche und theologifcher 
Schule. Der Berf. verfehlt, nicht, diefe Vorausſetzungen 
hervorzuheben, aber wir hätten eine noch eindringlichere 
Erörterung diefer Lebenspunfte der Zeit gemwünfcht. Auch 
bei der afademifhen Dieputation wäre fchicklich gewefen, 
an die Geſchichte zu erinnern, wie die Reformation Lu⸗ 
ther's in diefer polemifchen Form angefangen. Man vers 
mißt ein gründliches Wort über den Gebrauch der lateis 
niſchen Sprache in der Polemik, ob und wie weit derfelbe 
noch ftatthaft fey. Dabei wäre erwünfcht gewefen, über 
die fogenannte Publicität des Firdhlichen und RR 
Streits des Verf. Urtheil zu hören. 

Was der Berf. dann am Schluffe über Die Streitfchrift 
fagt, ift Alles fehr wahr, aber es erfchöpft dieſen wichti⸗ 
gen Gegenftand nicht. So ift 3. B. eine ſchon von Ters 
tullian, nachmals von Pafcal befprochene Seite der kirch⸗ 
lichen Streitfchrift, der Gebraud, der Satyre und Ironie, 
gar nicht berührt, obwohl neuere Erfcheinungen auf diefem 
Gebiete faft dazu nöthigten. Auch. über Die neuere poles 
miſche Sournallitteratar, die fogenannten Kirchenzeituns 
gen, wäre ein werthbeflimmendes, gewiß auch warnendes 
Wort an der Zeit gewefen. Ebenfo wäre wünfchenswerth 
gewefen, das Wahre und Falfche in dem neueren Grunds 
fage von dem juste milieu in der Polemif genauer erörtert 
'zu fehen. Auch durfte wohl ein fiharfes, zlchtigendes 
, Wort über die verderbliche Praris der älteren und neueren 
Polemik, Uebel durch Uebel zu heilen, — diefe bewußts 
lofe, traumartige Pfufcherei —, nicht fehlen. Am meiften 
aber vermiffe ich an diefer Stelle eine genauere Theorie der 


f 


Chriſtliche Polemik. 283 


polemiſchen Beweisführung, das Verhältniß des Schriftbe⸗ 
weiſes zu den Übrigen Beweisformen, des Gebrauchs der 
epagogiſchen Beweiſe und der ex concessis u. ſ. w. — 

Ein Handbuch, wie dieſes, kann freilich nicht Alles 
gleich ausführlich befprechen; aber darf Wefentliches nicht 
unberührt laffen. | 

Indem ich fo am Schluffe des allgemeinen Theiles in 
das Bermiffen gerathe, werde ich veranlaßt, noch einmal 
den Inhalt dieſes Theiled zu überdenken, und mir felbft 
den Eindrud zu beflimmen, den derfelbe im Ganzen auf 
mich gemacht hat. Sch muß geftehen, daß derſelbe nicht 
durchaus befriedigend iſt. Es fcheint mir, daß, weil der 
Berf. bie Polemik bloß auf den Kirchlichen Srrthum und 
deſſen Beltreitung befchränft hat, ſtatt fie als Heiltunft 
ber Krankheit im kirchlichen Lebens organiſmus zu betrach⸗ 


ten, die Untesfuchung nicht tief genug, bis in die eigents 


lichen doyal der Wilfenfchaft und Kunft, eingegangen, 
‚eben deßhalb aber auch nicht dazu gekommen iſt, den gans 
zen Umfang des polemifchen Stoffes im allgemeinen Theile 
zu umfaffen und zu organifiren. Unter dem Gefichtöpunfte 
einer theologifchen Heilkunft des Kranken in der Kirche iſt 
. unmöglich zu überfehen, daß die polemifche Diagnofe und 


Heilung fchon mit jeder Berfiimmung, Ueberfpannung und 


Uebertreibung felbft im religiöfen Gefühl anfängt, alfo mit 
dem, wasder Verf. einmal die tieferen und zarteren Lebens 
träfte der Kirche nennt. Die von dem Berf. angegebenen 
-Urfachen und Wirkungen des Firchlichen Irrthums in den 


Zuftänden der Kirche find felbft fchon Krankheit. Je mehr: 


man fich von jener Analogie der Heilfunft beftimmen läßt, 


defto unvermeidlicher und fruchtbarer werden Unterfuchuns. 


gen, wie die über die Entwidelungsgefeße des kirchlich Kran⸗ 
fen, die Stadien, die Krifis deffelden, ferner über den 

‚Unterfchied des wahrhaft und fcheinbar Kranfen, dad Sym⸗ 
ptomatiſche darin, über Das Moment des Gegenfates im 
Sranten Leben oder den Gegenfab der Schwächung und 





284 Sad, Chriſtliche Polemik. 


Uebertreibung, ferner über den Mittelpunkt der Geſundheit, 
die abſolute und relative Geſundheit der Kirche, über die 
Correſpondenz zwiſchen Erkenntniß und Heilung der Krank⸗ 
heit u. ſ. w. Se höher und weiter dieſer Standpunkt iſt, deſto 
mehr wird ſich freilich die Tafel der kirchlichen Krankheiten 
verlängern und füllen, fo daß man zunächſt erſchrickt, 
aber man gewinnt dadurch eine organifchere Ueberſicht und 
Einfiht der kirchlichen Irrthümer-und Krankheiten von 
ihren Wurzeln an bis zu ihren weiteren Verzweigungen 
und ihren lebten Wirkungen und damit zugleid einen 
größeren Umfang und eine größere organifche Kraft von 
Heilmitteln. So rechne ich von diefem Gefichtepunfte 
aus zu den Grundformen der Beftreitung oder vielmehr 
Heilung außer den von dem Berf. angegebenen auch die 
hriftliche Zucht und Lebenginftitution, und verlange, daß, 
wenn das Neligionsgefpräd, die Disputation und bie 
GStreitfchrift wahrhaft helfen follen, fie mit dem, was wir 
oben Firdhliche Diät nannten, wefentlich verbunden werden 
müſſen. Dabei fommt man freilidy an die Grenze der 
Polemik, aber gehört es nicht zu ihrer richtigen Organs . 
ſation, daß fie ihren Zufammenhang mit ber angrenzen« 
den praftifchen Theologie, der Firchlichen Verwaltung und 
Geſetzgebung im Großen And im Einzelnen, nicht verleugs 
net, fondern anerkennt? Iſt diefer Zufammenhang rich⸗ 
tig erkannt, fo iſt auch nicht fchwer, die Örenzen, in des 
nen fich die Polemik zu halten hat, um nicht überzugreifen, 
‚ zu beftimmen und zu halten. 
Ich breche hier ab, fchließe aber nicht. Bei der Wichs 
tigfeit des Gegenftandes, da es die neue Drganifation einer 
für die Zeit fo höchft bedeutenden theologifchen Disciplin 
gilt,-wird es, hoffe ich, dem Berfaffer und auch wohl dem 
Lefern nicht unangenehm ſeyn, wenn id) in einem zweiten 
Artikel über dieſe Schrift verfuche, meine Organifation der 
Einleitung und des allgemeinen Theiles der Polemik, wie 
ich fie feit einigen Jahren in alabemifchen Borlefungen 


S 


Reuhlin, das Chtiſtenthum in Frankreich, 285 


vorgetragen habe, zur Prüfung im Zufanmenhange aus⸗ 
einander zu feßen, in einem dritten und lebten Artikel aber 
den befonderen Theil des Verfaſſers, der noch fo Bedeu⸗ 
tendes und Schwieriged und für die Gegenwart Interefs 
fautes enthält, kritiſch genauer erörtere, 


Dr. £ üde, 


2, 


Das Chriſtenthum in Frankreich, innerhalb 
und außerhalb der Kirche. Bon Dr. Hermann 
Reuchlin. Hamburg bei Fr. Perthes. 1837. VI.u.461. 


Es ift gewiß ein fehr verbienftliches Unternehmen, das 
große Nachbarvolk des Welten, deffen Einfluß auf Deutſch⸗ 
land — wenn er auch in den Religionswiffenfchaften aufs 
gehört hat — doch noch immer mittelbar durch Politif und 


focialen Ton von großer Bedeutung ift, in feiner Hei⸗ 


math im Einzelnen und Ganzen zu ‚beobachten und ein 
durch eigene Anfchauung gewonnenes Bild bes religiöfen 
Eebens dem deutſchen Baterlande mitzutheilen. Solche 
Werke, wie Gemberg’s „fchottifche NationalsKirche” und 
das vorliegende über Frankreich haben vorerſt bedeutens 
den Werth für die Statiftif, — eine Wiffenfchaft, die, 
wenn fie erft mehr principienmäßig behandelt ſeyn wird, 
für Bildung ſowohl eines firchlichen Patriotifmus, als Uni⸗ 

verſaliſmus, für Verbreitung eines gefunden Tafted und 
treffenden Urtheild über kirchl. Berhältniffe ungemein wich⸗ 


tig werden muß. Die Maffe äußerlicher Notizen, Zahlen, 


Details. u. dgl. darf Dabei nicht gering gefchäßt werden; 
ed kommt, wie Herr Reuchlin, deffen Werk reich hieran 
iſt, richtig einfleht, dabei nur auf den Beobachter an, To 
gewinnen auch geiftlos fcheinende Tabellen und Zahlen» 





— 


288 Reuchlii 


verhältniſſe Geiſt und Bedeutung. Eine noch engere Be⸗ 
ziehung aber erhalten Werke dieſer Art zur ſtrengeren 
theologiſchen Wiſſenſchaft und füllen eine weſentliche Lücke 
aus, ſofern ſie uns die Verkörperung und Entwickelung 
der verſchiedenen confeſſionellen Principien vor das Auge 
führen. Die Wiſſenſchaft der Symbolik beſchäftigt ſi ch mit 
den conſtitutiven Principien der verſchiedenen Parteien — 
aber dieſe haben alle ihre Geſchichte und Entwickelung, 
durch welche erſt ihr Weſen zu vollkommnerer Klarheit 


kommt; und fo muß die Erkenütniß der Gegenwart jeder 


Gonfefflon aufhellend für die Symbolif feyn. Aber noch 
mehr. Die Symbolif entlehnt ihr hauptfächlichftes Inte⸗ 
reffe daher, daß fie nicht bloß eine hiftorifche Wiffenfchaft 
ift, fondern mit dem Tirchlichen Charakter gezeichnet iſt, in 
die Firchlichen Gonflicte, fofern fie für das kirchliche Leben 
der Gegenwart noch von wefentlicher Bedeutung find, 
einführt; und ihr eigenthümlichfter Reiz liegt dann in der 
Berbindung allgemeinerer Geſichtspunkte für‘ die Vergleis 
chung und Kritif mit den kirchlichen Intereſſen, die noch 
Gegenwart des Lebens find. In einem getreuen, Iebends 
vollen Bilde der Gegenwart nun zu erfennen, was noch 
gilt von dem früheren, was Dagegen ausgelebt ift, welche 
neue Entwidelungsinoten ſich angefeßt haben, wie fidh 
die urfprünglichen Principien, der fchaffende Geift einer 
Kirche im Zufammenfloße mit moderneren Principien altes 
rirt oder fortgebilbet haben, wo in der Gegenwart der 


— 9JJ Schwerpunkt einer Confeſſion liegt, — die Er⸗ 


kenntniß hiervon iſt am meiſten geeignet, um die confeſſio⸗ 


nellen Principien in ihrer Kraft und in ihrer Schwäche, 


in ihrem Reichthum oder ihrer Armuth vor das Auge zu 
führen und der Polemit die gebührende Stellung in jetzi⸗ 
ger Zeit anzuweiſen. 

Monographien der vorliegenden Art, von einem Frem⸗ 
den verfaßt, haben freilich immer mit eigenthümlichen 
Schwierigkeiten zu kämpfen. Eine umfaſſende Bekannt⸗ 





dad Chriftenthum im Frankreich. 287 


Schaft mit dem chriftlichen Geifte der verfchiedenen Gegen» 
den eines Randes verlangt einen Zeit und Kraftaufwand, 
der nur in fehr feltenen, günftigen Fällen möglich iſt. 
‚ Dennod find Zeichnungen von fremder Hand, falls fie 
nur fonft eine tüchtige ift, den Selbſtſchilderungen, bie 
eine Kirche fich Durch ihre Glieder geben mag, weit vor⸗ 
zuziehen. Jede Nationalität hat etwas Bornirtes, und 
auch ihre Selbftbeurtheilung nimmt unwillfürlich immer 
wieder ihre Wirklichkeit zum Maßftabe. Dem Fremden 
Dagegen ift gerade dasjenige, was einer Nation das am 
meiften Heimifche und Gewöhnlicdhe ift, weil es ihre Ei⸗ 
genthümlichkeit bezeichnet, das Auffallendſte. Aber zus 
* gleich mit der fremden Eigenthümlichkeit fchließt fih dann 
auch dem reifenden Beobachter die eigne, vaterländifche 
auf und nicht unter die geringiten fegensreichen Wirkun⸗ 
gen folcher Beobachtungsreifen ift es zu zählen, Daß durch 
fie und ihre Mittheilung das Selbftverftändniß der Kirs 
chen mit dem Verſtändniß anderer Kirchen in gleichem 
Maße zunimmt. Es ift befannt, wie fegensreich ſchon 
mannichfach Gemberg’d Gemälde von der fchottifchen Kir⸗ 
che in Deutfchland gewirkt hat. — Das Gemälde, das ung 
Herr Dr. Reuchlin zeichnet, ift nun freilich gar anderer 
Art feinem Gegenftande nah. Während die fihottifche- 
Kirche den Eindrud eines harmonifchen Stillfebend macht 
und vielleicht das getreuefte Abbild der einfachen apoftoli- 
ſchen Zeit darftellt, fehen wir in Frankreich alle Kräfte 
menſchlicher Natur aufgeregt, ja die Grundfelten der Ges 
felfchaft immer aufs Neue aufgewühlt. Aber darum iſt 
Frankreichs Zuftand nicht minder Iehrreih. Im Ges 
gentheile, da auch in Deutfchland die geiftigen Kräfte ins⸗ 
gefammt zu einer weit reichern Entfaltung gediehen find, 
als in Schottland, hat Franfreich in diefem Betracht ets 
was Homogenered mit und. Und wenn ed fchon zur Zeit 
mehr noch ein warnendes, als ein zu edlem Wetteifer reis 
zendes Beifpiel für ung feyn kann, fo erzeugt doch auch 
ſchon jeßt der franzöfifche Nationalcharakter, wo er von 


1} 





288 Weuchlin 


chriſtlichem Geiſte beſeelt iſt, eigenthümliche Tugenden, 
feurige Beredtſamkeit, die hingebendſte Aufopferung, Muth, 
Unerſchrockenheit, Energie, geſunden praktiſchen Sinn. 
Beſonders aber, um mit Hrn. Dr. Reuchlin zu reden 
(5.463), liegt ein fo reicher, wenn auch jest vielleicht gro⸗ 
Bentheild verborgener Schaß von ebenfo zarter, ald kräf⸗ 
tiger, einer Berflärung durch das Chriftenthum fähiger 
Humanität in der franzöfifchen Nation, daß fie zum Ems 
Yfangen wie zur Mittheilung eigenthümlicher Geiſtesga⸗ 
ben ebenfo viel Reichtum als Bedürftigfeit und Ems 
pfänglichkeit verbürgt. — In der That fcheint die franzö= 
fifche Nation zum Empfangen namentlich von ber deut 
ſchen Nation weit mehr Gefchid zu haben, als bie engli- 
fche — wenigftend in der Wiffenfchaftz und die franzöft- 
fhe Schweiz fammt dem Elfaß fcheint hierin für Frank⸗ 
reich eine noch wichtigere Brüde’zu feyn, ale Norbames 
rika für England. Freilich diejenige Wirkung, welche wir, 
fey es aus Sympathie, fey es aus Seleftgefühl, folchen 
Monographien. immer befonderd wünfchen möchten, — 
bie Wirfung meine ich, welche das Urtheil des Auslan⸗ 
bes auf die Selbflerfenntniß einer Kirche ausüben kann, 
darf gewöhnlich nicht gar hoch angefchlagen werden, was 
namentlich auch der Eindruck beweift, den Fliedner’s Col⸗ 
lectenreife Durch Holland in diefem Lande gemacht hat. 
Defto mehr ift ed am Orte, daß wir Deutfche unfre viels 
gerühmte Allfeitigfeit und Fähigkeit, in fremde Charaktere 
liebend einzugehen, auch darin bemeifen, daß wir folche 
große Bilder uns nicht umfonft zur Belchrung vorgeftehlt 
feyn Taffen. . 

Treten wir num näher zu Dem vorliegenden Werte, 
‚jo beurfundet in der That der Herr Verf. einen nicht ges 
wöhnlichen Beruf für feine Arbeit. Er zeigt. eine feine 
Beobachtungsgabe, die ihn in oft unfcheinbarem Detail 
die tiefere Bedeutung erkennen. läßt, und die feinen Blid 
nach den Seiten hinlenkt, in welchen ſich die Eigenthüm⸗ 
lichkeit Diefer Nation am meiften charakteriftifch ausprägt. 


Sn 





das Chriſtenthum in Frankreich. 289 


Es unterſtützt ihn eine gründlichere theologiſche und ges 
ſchichtliche Bildung, die ihm für feine Bilder einen feſten 
Maßſtab in die Hand gibt. — Dabei hat er die Kreiheit 
und Unbefangenheit des Geifted, der allein auch Die Vor⸗ 
züge der verfchiebenen Eonfeffionen ſich erfchließen — und 


er verhält fich nicht minder Anerfennend gegen bad Schöne 


und Große, was anf katholiſchem Boden erwuchs, als 
gegen das Proteftantifche, deſſen Dogma er entfchieben 
- zugethan iſt. Beſonders aber zeichnet die Arbeit ein aus⸗ 


dauernder Fleiß im. Sammeln von Detaild aus, und Uns 


terhaltungen mit bedeutenden Männern, die Sournaliftif 
der verfchiebenften Karben, wie franzöfifche Hauptwerte 
über die einzelnen Sujets, ferner Predigten, Reden, bes 
fonderd von den Jahresfeſten Der zahlreichen, dhriftlichen 


Geſellſchaften fammt deren Rapports bilden feine Quellen, 
neben den reichen Refultaten, bie ungefucht das tägliche 


Leben in einem fremden Lande einträgt. Die Zeit feiner 
Beobachtungsreife ift das Jahr 1836. Indeß hat fich freis 
lich wieder Manches geändert — doch das Wefentliche feis 
ner Schilderungen muß der Natur ber Sache nadı noch 
Gegenwart feyn. 


in. 


Der Styl ift lebendig, pikant — und faft möchten wir - 


fagen, etwas franzöfifch. Aber der Fortgang der. Gedan⸗ 
fen ift auch oft etwas defultsrifch — Die Bilder, die ex 
ung vorführt, haben nicht genug Abrundung, fondern die 
Darftellung hat oft etwas Zerhadtes. Nicht felten wird 
anch die Sprache dem deutfchen Geſchmack etwas pretiös 
vorfommen, sbwohl fie auch auf der andern Seite nie 
leicht des Salzes entbehrt. Die Verarbeitung ded Mates 
rials it im Großen unvollftändig zu nennen — denn der 
Bau des Ganzen entbehrt einer guten Eintheilung. Diefe 
fcheint nicht felten mehr durch zufällige Ideenaſſociatio⸗ 


nen, ald durch die Sache gegeben. Zuerſt wird das Chris 


Renthum in Sranfreich außerhalb, im zweiten Abfchnitte, 

der von S. 119 — 336 die katholiſche, von S. 337— 464 

die proteftantifche Kirche behandelt, das ee in⸗ 
Theol. Stud. Jahrg. 1889. 


. 290 24% KRenchlin 


nerhalb der Kirche geſchildert. Die Abſchnitte ſelbſt zer⸗ 
fallen in viele kleinere Abtheilungen, deren Gegenſtände 
gewiß alle der beſondern Aufmerkſamkeit werth ſind, de⸗ 
ren Wahl ſchon das beobachtende Talent des Herrn Verf. 
verbürgt, wie denn jeder derſelben pikante Züge ent⸗ 
hält, deren Auordnung aber doch gar zu wenig logiſch iſt, 
daher auch dieſe einzelnen Partien ſich nicht zu einem 
Gemälde zufammenfügen, das den: Eindrud eined Gans 
zen madıte. So find im erften Abfchnitte-die Titel: Ins 
duſtrie und deren Einfluß auch auf religiöfes Leben; 
Vereine, um auf die arbeitenden Claſſen zu wirken; die 
auf Bergnügungsfucht..fpeculirende Wohlthätigkeit; Ehr⸗ 
gefühl; Napoleon; Kunftz Litteratur; Luther in Memois 
ren und Theaterlitteratur 5 Theater 5 Flugfchriften und 
Sonrnale über Religion; Sonntagsfeier; Zeittage; Ehe; 
Findelkinder; Selbſtmord; Schule, Volksunterricht, Ers 
‚siehung. — Beſſer iſt der zweite Abſchnitt geordnet, wie⸗ 
wohl auch hier noch die Einheit etwas vermißt wird. 
Diefe wird zwar angeſtrebt durch eine geſchichtliche Eins 
leitung, in welcher die Principien, die die jetzige Zeit be⸗ 
wegen, von ſelbſt in ihrem innern Zuſammenhang auf⸗ 
treten mußten, allein bei dem Uebergang auf den ge⸗ 
genwärtigen religiöſen Zuſtand der katholiſchen und der 
proteſtantiſchen Kirche vermiſſen wir die Schilderung, 
wie er geworden iſt. In beiden Kirchen iſt ein neues re⸗ 
ligiöſes Leben erwacht, die Urſachen aber werden nicht klar. 

Die deutſche theologiſche Bildung des Hrn. Verf. be⸗ 
Fähigt. ihn, bie einzelnen Erſcheinungen tiefer aufzufaſ⸗ 
fen, und wenn wir jene Eeineren Abfchnitte als Tableaux 
für fich betrachten, fo erfreuen fie uns nicht felten Durch 
den Geiſt und die Kraft der Zeichnung, wie durch bie 
Gediegenheit und Reife des Urtheils. 

Der erſte Theil.gibt und eine Schilderung bes 
religiöfen Zuftandes in Frankreich überhaupt, abgefeher 
von den beiden Confeffiouen — (dieſe Ueberſchrift wäre 
abäquater, als die des Hrn. Verf). Und hier ſtellt ſich 

1 





das Chriſtenhum in geänteich. 29 


bie daſterſte Partie, die in Dentfchland hinlanglich je⸗ 
doch zu einſeitig bekannt iſt, dar. Hier tritt vor uns auf 


jene. raſtloſe, ins Tauſendfältige verzweigte Induſtrie, 
bie Genußſucht, die unbändige Ruhmſucht, die in Napo⸗ 
leon's Apotheoſe fich felbft vergöttert, Die geſteigerte, übers 


teiste, -Gräuel und Schrecken fuchende und wie don nas 


nienlofer innerer. Unruhe in ewiger Flucht umhergetries 


bene Litteratur und Kunft, die unendliche Gottverlaffens 
heit und Dede des Herzens vieler Taufende, die ſich bald 
m den abentheuerlichſten Vorfchlägen zu Stiftung neuer 
Eulte und Religionen ansfpricht, bald in dem zum Ent 
feten häufigen Selbftmorde - die Gluth innerer Zerriffen- 
heit, wie das peinigende Gefühl eines ummwürdigen Das 
feuns auszulöſchen trachtet. Hier tritt vor und das Sams 
merbild jener Hunderttaufende, jener bemitleidenswerthen 
Gefchöpfe, die weder den Vaters, nod) den Murtternamen 
fennen, weil es dahin gefommen if, daß. der Staat, um 
noch fchauerlichere Berbrechen zu verhüten, durch Fin⸗ 
delhäufer (deren Zahl daraus abgenommen werben mag, 
daß fie in 10 Jahren ihm gegen 100 Millionen Franken ko⸗ 


fleten) die Zerreiffung des Bandes, daran das Herz ber 


Mutter und des Kindes hängt, begänftigen muß. 

Der aus feinem Gentrum gewichene Geift des franzds 
fifchen Volkes fühlt die innere Keere und Haltungsloffgs 
keit — die Edelſten der Nation fühlen gleichfam eine uns 
geheure Geſammtſchuld auf ihr laften — aber vermögen 
nicht zu helfen. -Die Maſſe vergißt fich in Arbeit und Luft, 
hofft Hälfe von politifcher Freiheit, von Induſtrie, hoff 
Ausfüllung der innern Leere von Glanz und Nationals 
ruhm Weiter Schauende fihlagen einen gründlichern 
Peg ein. Sie fehen, wie dad verwahrlofte, ohne geiftige 
Bildung anfwachfende Voͤlk allen politifchen und ſonſtigen 


- Berführern zugänglich ift — und fuchen Abhülfe in Ems 


porbringung des Schulweſens. In der That iſt für das 
ungeheure Bedürfniß (von 30 Franzoſen beſucht nach Du⸗ 


pin kaum Liter die Schule)⸗ unendlich viel zu thun. Die 


19% - 


m 


292 KRexchlin ge 


Geſetzgebung ift Träftig eingefchritten, aber Schulgeſes e 
bilden, wie wir ja auch an Bayern fehen, noch kein 
Schulweſen. Schulzwang ift.nicht eingeführt, es fcheinen 
: Dagegen ähnliche Borurtheile, wie in England, zu herr⸗ 
ſchen. Wie aber hierin zu wenig eine allgemeine Nora 
if, fo herrfcht Dagegen umgekehrt .in andern Beziehungen 
das Syftem ber Centralifation fo fehr vor, daß Pros 
vinzen, deren Schulwefen fchon höher fteht, wie das El⸗ 
faß, dadurch auf die'niebrigere Stufe der andern herabs 
gedrückt zu werden drohen. Am meiften aber fehlt eö noch 
an dem Wefentlichften, an genug tüchtigen Lehrern, und 
bad Geſetz, daß in jedem Departement (alſo etwa je für 
350,000 Seelen) ein eigned Schullehrerfeminar gegründet 
werden fol, ift nur allmählich vollziehbar. 

Außerdem ift die Stellung der Schule zu Kirche und 
Staat fchwanfend geworden. Das noch hersfchende Miß⸗ 
trauen gegen den Staat dürfte nicht fo ſchnell dem Bere 
trauen weichen. Daher wünſchen gerade bie religiös Les 
bendigeren in allen Parteien die Trennung der Kirche vom 
Staate, damit nicht jene mit dDiefem vielleicht in ein neueß , 
tragifches Schickſal verflochten werde. -Dieß hat nun den 
bedeutendften Einfluß auf die Stellung der Schule gu Kir⸗ 

: he und Staat. Beide ftreiten fich gewiſſermaßen um fie, 
die Sache fteht aber fo, daß für die Schule weber eine 
völlige Unabhängigkeit vom Staate wünfchenswerth iſt 
(denn da müßte die Einheit eines Durchgreifenden Regle⸗ 
ments dem zufälligen und ungeorbneten Thun der einzel 
nen religiöfen Parteien weichen, welche Partei» Inter 
reſſen gegen das Intereffe bed Staats zu verfolgen, nur 
zu viel Berfuchung hätten), noch eine völlige Unabhäns 
gigfeit von der Kirche —; denn das Wichtigfie, der Reli⸗ 
gionsunterricht, müßte, vom Staate allein angeorbnet, 
jene farbiofe Geſtalt aunehmen, welche die Eonfeffionen 
in das Grau eines abftracten Deifmug oder einer bloßen 
Moral.auflöfen würde. Das jeßige Schulgeſetz drängt 
bereits ben Einfluß ber Kirche zurück, jedoch bewahrt fich 


4 











das Ghriftenthum in Frankreich. 293 


die katholiſche Kirche durch ihre mannichfaltigen Eongre⸗ 
gationen, bie proteftantifhe durch ihre Affociationen — 
namentlich die evangelifche Geſellſchaft und Die Vereine für 
Kinderafyle ihren Einfluß auf die Schule; und mas unser 
anderen-Umftänden ein Uebel wäre, nämlich der Mangel 
eines gefeglichen Schulzwangs, das kommt ihnen dabei 
zu Statten. | | 

Aber bloße Schulbildung Tann ber franzöſiſchen Nas 
tion nicht gründlich helfen; die Verſoͤhnung mit dem Ewi⸗ 
gen, mit dem Göttlichen muß wieder gewonnen feyn, che 
ed Frieden geben kann in der Bruft des Einzelnen, Feſtig⸗ 
Beit und Dauer für den Bau des Staates, Eintracht uns 
ter den fich auf den Tod befämpfenden Elementen. &o 
viel Louis Philipp und die Doctrinaire für das Schul⸗ 
weſen bisher gethan haben, fo. fcheint doch ber Erfiere bes 
fonders minder klar über Das Verhältniß des Staates zur 
Religion zu ſeyn — wenigſtens werhtelt er ſich bie anf das 
Attentat von Fieschi ſelbſt gegen feine Kirche gleichgültig. 

Was nun näher den Zuftand der fatholifchen Kir⸗ 
he betrifft, fo find nach Herrn Reuchlin Kolgendes die has 
rafteriftifchen Züge ihred gegenwärtigen Zuftandes. Mit 
der gegenwärtigen Dynaftie hat ſich die Geiftlichleit im 
Ganzen noch fehr wenig befreundet ; ihre theuerften Erins 
nerungen knüpfen ſich an die ältere bourbonifche Linie, an 
Die Reftauration, dennoch dieſes nicht fo, daß fie dem 
Gallicaniſmus geneigt wäre; denn die Einficht fcheint vers 
breitet, daß die Durch ihn garantirten Freiheiten mehr dem 
Hofe ald der Kirche genügt haben. So ift die franzöfls 
fihe Kirche mit ihrer Anhänglichkeit an Rom gewieſen, 
und in der That tritt dieß fo ſtark felbft in der theologi⸗ 
ſchen Bildung durch die Seminare hervor, daß die Geiſt⸗ 
lichkeit fich dem Geifte des intelligenten Theild dev Ration 
immer mehr entfrembet und ihr Einfluß vormehmlich auf 
die niederen Claſſen beſchraͤnkt iſt. Andererſeits zieht bie 
Regierung bie Kicchengewalt möglichft an ſich; beſteht anf 
deu früheren Rechten ber Krone, und erwedt baburd nicht 





—X 


298 0 Rah © 


bloß im Klerus den lebendiger Wunſch, die Kirche vom 
Staate ganz getrennt and unabhängig zu ſehen, ſondern 
wendet auch der katholiſchen Kirche als Der leidenden jetzt 
die Sympathie der Oppoſſtion zu, die in der Zeit der Re⸗ 
ſtauration bie heftigſte Gegnerin des Katholigiſmus und 
Anwalt des Protefantimmus geweſen war. Dazu kommt, 
daß nach dem Taumel der Julitage, mit denen bie ſaugui⸗ 


niſche Hoffnung die goldene Aera angebrochen glaubte, die 


Ueberzeugung ſich ziemlich allgemein in dem intelligenten 
Theile der Nation gebildet hat, daß nicht non bloßen Staats⸗ 
formen Das Heil zu erwarten ſey, ſondern daß es einer Seele, 
eines organifirenden Princips für Die gefelligen Zuſtaͤnde be⸗ 
bärfe. Bom Proteftantifmus nun herrſcht m Frankreich dag 
Vorurtheil, daß er bloß negativer Art ſey, fomit_ber ges 
meinfchaftfiiftenden Kraft ent behre. Daher. wenden fich 
Biele wit erneuter Liebe einem freilich oft wunberlich zus 
geſchnittenen Katholiciſmus zu Die ſonderbarſten Mi⸗ 
ſchungen von Romaniſmus und veohernen Principien kom⸗ 
men hier zu Tage, an. deren unverfühnbarem oder unbe⸗ 
griffenem Widerfpruche viele graße Geiſter erlegen ˖ find, 
Diefe intereffanten Formen eined modernen Katholiciſmus 
ber Romantifer, der fogenannten fuanzäfifchen Kirche des 


Abbe Chatel, den republikaniſchen Katholiciſmus des de _ 


la Mennaie und vieler bedeutender. Talente, .w. dgl. führt 
uns ber Herr. Berf. in Iebenänoflen Bildern nor Augen 
und fie laflen uns den Gefammteindrud, Daß die chieren 
Geiſter Sehnfüchtig nach etwas Unbekanntem ringen, das 


ſie ſuchen, aber noch micht gefunden haben. Schwerlich 


‚ wird ſich einProteftant bei foldem Anblicke Des ſchmerzli⸗ 


dien Bebauernd darüber erwehren, daß nicht durch den 


Sieg des nicht bloß negativen, fondern auch pefitiven 


Reformationspringeips der. Franzöftichen Mation Diefe kasta 
gen Zuckungen, dieſes irre Suchen erfpart werden follten. 
Aber auch das Andere bleibt Als: freundlicherer Sindrudh 
daß noch religisſes Lehen, wenn auch in engen Formen, 
vorhanden iſt, was: vornehmlich au baue iaanner neu gruͤ⸗ 





daß Gpriftenthum In Ftankteich. 295 


nenden Stamme ber weiblichen und männlichen Gengres 
gationen und ihren fchönen Früchten zn fehen ift. 3a, nach 
Herrn Reuchlin müſſen wir weiter gehen: — die franzöfls 
ſche Ration hat uoch nicht den religidfen Mittelpuntt 
wieder gefunden: aber fie iſt erufber geworben durch die 
Erfahrungen der letzten Jahrzehnte, Die Frivelität und 
Polemik gegen die Religion ift ihr fremb geworden, und 
ſelbſt die Fournaliftit legt hiervon Zeugniß ad. Bollte 
wicht dieſes Sehnen und Suchen der Borbote einer fchds 
nen Erfüllung ſeyn? Gewiß ſympathiſirt der Lefer gerne 
mit dem Hrn. Verf. in feinen Hoffnungen, daß ein neues 
Pfingſtfeſt der unglüdlichen, harrenden Ration vielleicht 
bald zu Theil werde, und daß dann die neugeborne frans 
zöſiſche Kirche vielleicht berufen fey, fegensreich auch auf 
die proteftantifche Kirche zu wirken, wie denn nad fei« 
‚nem treffenden Ausdrud überall das Gebiet beider, der ka⸗ 
tholiſchen und protefantifchen Kirche, fo fehr je von ber 
andern Kirche umfchloffen ift, daß, was aus dem Katho⸗ 
lieiſmus beraustritt Cund nach des Verf. Uederzeugung 
“ Äft dieß Heraustreten die Borausfegung einer Wiederge⸗ 
burt der franzöftichen Kirche), in, die Bahn des Prote⸗ 
ſtantiſmus eintreten muß, fall ed. überhaupt den chriftlis 
hen Charakter behauptet. 

Zum Schluffe noch ein paar Worte über den Zuftand 
der proteftantifhen Kirche. So ſchwere Schläge 
in großer Zahl die alte reformirte Kirche Frankreichs 
durch Lift, Verrath, Gewalt und Mord erhielt, fo ſtand 
fie doch nach jeder Niederlage unbeflegt da, unverwüſt⸗ 
lich durch ihren weltäberwindenden Glauben. Aber was 
Bein Cannä vermochte, fagt der Here Verf., das wirkte 
ein Capua. Die edeln Hanptfamilien ber Reformirten 
‚zogen ſich an ben Hof und verlernten da bie antike Mäun⸗ 
lichkeit und Würde ihrer Vorfahren. Sie buhlten um 
Hofgunſt und wurden zuletzt großentheild abtrünnig vom 
Glauben der. Väter. Aber auch im Uebrigen verſchwand 
der uriprängliche, freie, bemolsatifche Charakter der 


⸗ 





296 | Reuchlin 


Kirche immer mehr; die Gewalt, die in der Gemeinde 
ruhte, zog ſich immer mehr in die Spitze Einer oberſten 
Behörde zuſammen; die Generalſynoden verloren ihre 
große Bedeutung und gingen zuleßt ein, und endlich mie 
dem Anfange diefes Sahrhunderts nahm der Staat audy 
von ihr und ihren Rechten Beſitz. Der Hergang ift alfo 
ganz ähnlich, wie bei der holländifchsreformirten Kirche, 
wie das überhanpt das Schicffal der reformirten Kirchen 
im Laufe der Zeiten war, nach einer Periode völlig ſelb⸗ 
Rändiger Stellung dem Staate gegenüber, die fogar einen 
theofratifchen Anftrich annahm und nicht felten in bie 
weltliche Gewalt übergriff, der Staatögewalt zu verfals 
Ien „ mochte diefe eine Republik oder eine Monarchie ſeyn; 
am früheften in England, wo die Stellung der Hochkirche 
zum Staate am meiften Achnlichkeit mit der der Iutheris 
fchen Kirche: hat; fofort in der Schweiz, Frankreich, 
Holland, und faft nur Schottland iſt jeßt noch übrig ale 
Bas einzige Land, in welchem bie firchliche Freiheit dem 
Staate gegenüber ſich felbftändig erhalten hat, wie auch 
die Öeneralfynoden allein in dieſem Lande noch blühend 
find. Und während fo die reformirten Kirchen erft fpät 
in jene innige, aber auch bie firchliche Selbſtändigkeit ges 
fährdende Berbindung der Kirche mit dem Staate traten, 
die bei uns faſt urfprünglich war, hat fi Dagegen inner» 
halb der Iutherifchen Kirche das in der reformirten all 
mählich erlöfchende Moment freier firchlicher Vertretung 
bervorgebildet — gewiß ein günftiges Zeichen für die ins 
‚wohnende Lebenskraft der Intherifchen Kirche, 

Uebrigens find gewiflermaßen die Reformirten Frauk⸗ 
reichs dem Ötaate gegenüber in einer günftigeren Lage, 
als die Fatholifche Kirche. Denn der Staat, wohl füh⸗ 
lend, daß er ihre Bebürfniffe nicht befriedigen kann, hat 
zwar überall controlirend und genehmigend die Hand mie 
im .Spiele, allein in das Innere mifcht er ſich nicht Ppoſitiv 
ein. Aber freilich, fo wenig er felbft thun kann und will, 
fo wenig will er Andere thun laſſen; er. laͤßt Leine Gene⸗ 


! 


das Chriſtenthum in Frankreich. 297 
ralſynode ober eine andere Behörbe eine durchgreifende 
organifirende Thätigkeit üben. Ja and) bie reformirte 
Kirche felbft getraut fich nicht, die höhern religiöfen. Bes - 
fellfchaftörechte zu üben, d. h. ſich mit der Beflimmung 
der kirchlichen Lehre, des Cultus, der Disciplin abzuge⸗ 
ben, und ſo haudelt es ſich nur um die niedrigeren, die 
Verwaltungsrechte, welche der Staat in der Hauptſache 
Abt, weil er die Koſten aller anerkannten Culte beſtreitet, 
die Geiftlichen befoldet u.dgl. Der Wunfch, vom Staate 
getrennt zu ſeyn, ift aber fchwerlich hinreichend gerecht 
fertigt, fo lange die Kirche felbit fich nicht für fähig hals, 
ihre höchſten Prärogative zu üben. Daß das aber wirks 
lich der Fall ift, das fprach ſich 1834 bei der jährlichen 
Saftoralconferenz in Paris aus. Zwar wurbe hier allgemein 
das Bebürfnip, der Kirche mehr Einheitund eine verbefierte 
Berfaffung, Liturgie u. dgl. zu geben, ausgefprochen, aber 
‚der Zeitpunkt als nicht geeignet erfannt, weil bie Anſich⸗ 
ten noch allzu verfchieden ſtehen. Die verfchiedenen Pars . 
teien fürchten, von einander beherrſcht zu werden und bie 
Freiheit der Bewegung in ihrer Weife durch ein flrafferes 
Anziehen des gemeinfamen kirchlichen Bandes zu verlieren. 
Diefe Partien find vornehmlich eine zum Rationalifmus 
ſich hinneigende, in Paris wohl am zahlreichiten und von 
Athanas Eoquerel und Martin befonderd repräfentirt. 
Diefen gegenüber fieht die evangelifhe Geſell⸗ 
fchaft, die in Genf undin Paris fich conflitnirt hat, in der 
Lehre Vertreterin der orthodoren Lehre (die Prädeſtina⸗ 
tiondlehre jedoch wird in Frankreich wenig premirt), in 
der Anficht Über die Stellung der. Kicche zum Staate die 
feurige Vertreterin der Freiheiten der Kirche und ber 
Trennung biefer vom Staate, auch in Beziehung auf Bes 
foldung der Geiftlichen, in Beziehung auf ihre Wirkfams 
feit aber mehr nach anßen gerichtet, als dem Aufbaue der 
eigenen Kirche zugewandt. Sie hat das Kriegerifche, Glau⸗ 
bensmuthige, Entfchloffene der altsreformirten Kirche, und 
ihre Hauptthaͤtigkeit iſt der Idee ber Evangeliſirung 


‘ 
298 2 Rauchen 


Frankreichs gewidmet. War die reformirte Kirche über⸗ 
haupt gleichfam das erobernde .Kriegäheer der Reforma⸗ 
tion, fo.:feßt die evamgelifche Geſellſchaft diefe Miffton 
berfelben fort, ohne fi jedoch hierauf zu befchränten. 
&s-tft Far, Daß dieſe beiben Partien’ nicht ben Beruf 
haben, die zeformirte Kirdye zu einem großen, mohlges 
gliederten Baue wieberzügebären. In ‚beiden terrfcht die 
Richtung auf das Einzelne, Inbividnelle zu ſehr vor. Das 
ber ift e& ein erfreuliches Zeichen, daß mun von Bordeanr 
aus: eine nambafte Zahl von Geiſtlichen einen Verein ges 
bildet hat, deſſen Tendenz auf bie Verbindung der vefors 
mirten Kirchen zu einer gefchloflenen Einheit geht. Das iſt 
hie chriſt bich⸗ proteſtantiſche Geſellſchaft von 
Fraukreich. Bon der rationaliſirenden Partie unterſcheidet 
ſie ſich durch ihre orthodoxe Lehre, von der evangeliſchen 
Geſellſchaft durch ihren entſchiedenen kirchlichen Eharakter 
— tr der. angedeuteten Weiſe, denn ſonſt iſt allerdings auch 
der evangeliſchen Geſellſchaft keinesweges eine ſectireriſche 
Tendenz nachzuſagen, wie ihre Gegner gerne thun, bie 
ihnen engliſchen und zum Theile methodiſtiſchen Einfluß 
vorwerfen. Es wird ſich nun freilich noch fragen, was 
dieſe Geſellſchaft thun wird, da ſie die ſchwere Rolle der 
Vermittlerin übernommen hat. Ungünſtig dürfte ihren 
kirchlichen Anſichten (die ſich, ähnlich wie in. Schottland 
die Moderate, an den Staat anlehnen) der jetzige Augen⸗ 
blick infofern ſeyn, ald.der Band, den die. Lulidynaſtie 
mit der katholiſchen Kirche zu ſchließen beginnt, durch die 
Intoleranz, die er gegen die. andern: Confeffionen und 
- Diffenterd veranlaßt, :den Warnſch, Die Kirche vom Stante 
getreunt zu fehen, immer allgemeiner verbreiten muß, wad 
ſich noch ‚weit: entfchiedener nach bem Erfiheinen des vor⸗ 
liegenden Bechs kundthut, beſonders durch das Organ 
des Semeur, der in mehreren Nummern bed. Jahres 1887 
über Intoleranz zu klagen hatte. Die Geſetze der Eharte, 
welche Religionsfreiheit ſicherten, ſind theils an ſich zu un⸗ 
beſtimmt, theils werden ſie von den Gerichtshöfen will⸗ 














: 


das Shriſſenthum in ·Frankreich. 209 
kurlich gedentet. Eine imponirende Macht bilden die Pros 
teftenten überhaupt in Frankreich nicht mehr durch ihre 


Zahl; Hexr Reuchlin gibt. die Zahl der Lutheraner auf 


300,000, der Reformirten anf eine Million an. Dazu 


kommt der fporadifche Zuftand. So daß die proteſtantiſche 
“ Kirche Frankreichs vorerft ganz auf. den Sieg durch das 
Uebergewicht der Intelligenz und die Macht der Wahrheit 


gewiefen ift, was freilich erft Dann gewaltiger wirfen kann, 


wenn bie Differenzen zur Gintracht gebracht find, vors 


nehmlidy aber auf gründliche theslogifche. Bildung mehr 
mit vereinten Kräften hingeftrebt wird. Montauban if 
in Zerfall gekommen ;. Strasburg hat zu wenig eine feite 
bogmatifche Haltung. Die Zukunft muß balb lehren, ob 
die theologifchen Bilduugsanftalten zu Parie dem Bedürf⸗ 
niffe beffer entfprechen. Die Einficht, ‚daß die Verbildung 
der Geiftlichen gründlich gebeſſert werden müſſe, fcheint bei 
den verfchiebenen ‚Partien verbreitet, und Anſtrengun⸗ 
gen für diefen Zweck werben gemacht, aber noch nicht ges 
nügende. Es wäre und willlommen gewefen, wenn Herr 
Reuchlin mehr Bedacht auf Schilderung des Standes bey 
theologifchen Wiffenfchaften und Anftalten hätte nehmen 
mögen. Gewiß liegt nicht darin die Kebensfrage für. die 
seformirte Kirche Frankreichs, ob fie in wohlthätigen An 
ftalten flegreich mit der Fatholifchen wetteifert, — fondern 
in der Macht de Wortes, in der Kraft des Geiftes bei 


ber reformirten Kirche, Und deßhalb ii ed überaus wichtig, _ 


daß die Wilfenfchaft in echt theologiſchem Geiſte in dieſer 
Kirche wieber. belebt werde, Die Thätigkett hierfür Tann 
auch für die verfchiedenen Partieen. einen neuen, mehr 
das innere Leben der Kirche und ihren Aufbau förbernden 
Mittelpunkt fchaffen, wie die Bibel⸗, Miſſions⸗ und ähnlis 
che Sefellfchaften fchon jet bis auf. einen gewiſſen Grad 
biefelben vermitteln. 

An bedeutenden, geifivollen und erleuchteten Männern 
fehlt es der reformirten Kirche Frankreichs nicht, und ed 
gehört zu den anziehendften Partien des Buchs, was es 


- 


V. 


300 Renchlin, das Chriſtenthum in Frankreich. 


aus dem Leben und der Thätigkeit faft aller Häupter dieſer 
Kirche erzählt. Es gewährt und ein anfchauliches Bild 
von dem edeln Gefchlechte der Mouod's, von dem ehrs 
würdigen Srandpierre und Stapfer, von Guizot's um⸗ 


ſichtiger kirchlicher Wirkfamtkeit; kurz alle reformirten No⸗ 


tabilitäten, — auch bie edeln Frauen, wie die Mallet, die 
Herzogin von Broglio u. A., nidyt ausgenommen, treten in 
dem Gemälde auf, das. und im Ganzen bie Heberzeugung 
von einer fehr großen Regſamkeit der chriftlichen Kräfte gibt. 


Diie luthe riſſche Kirche hat ihren Hauptfig im obern 


Eifaß, und felbft das Oberconfiftorium ift nicht in Paris, 


I fondern in Strasburg; unter ihm fliehen 6 Infpectionen 


mit 27 Localconfiftorien. Die einzelnen Gemeinden haben 
einen Rath von Aelteften, an deren Spige der Geiftliche 
fteht; jene werden von den Familienvätern auf 6 Sahre 
gewählt. Dieß Prefbyterium hat unter ſich das Kirchengut 
und beauffichtigt den Neligionsunterricht in den Schulen. 
Die Kirchenzucht, wie überhaupt das Firchliche Band ift 
fehlaff geworden. Die Verfaffung der Kirche ift zwar 
fehr frei, aber am kirchlichen Gemeingeifte fehlt ed. Es ift 
Daher wohl nur für ein Glück zu achten, daß Die Iutherifche 


| . Kirche in immer engere Berbindbung mit der Iebendigeren 


reformirten tritt und die Union beider mannichfach vorbe⸗ 
reitet wird. 

Es bleibt und noch übrig, dem Herrn Verf. für- feine 
Schöne, lehrreiche Arbeit unfern Dank zu fagen und unfre 
Hoffnung auszuſprechen, daß er und bald mif einem ahn⸗ 
lichen gebiegenen Werke über das Ehriftenthum in Groß⸗ 
brittanien erfreuen möge, wohin er dem Bernehmen nady 
in ähnlichen Zwecken zu reifen beabfichtigt, und wo ohne 


Zweifel der Ort feyn wird, noch umfaflender das Wefen 


der reformirten Kirchen kennen zu lernen und fo manche bis 

jest noch leer gebliebene Stelle des Rahmens auszufüllen. 

Tübingen, den 18. Mai 1838. | 

| Dorner. 
—— >> 2 22 SS — 


\ 


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demifchen Sottesdienft zu Halle gehalten. Ar Thl. 21gl. 

Die vier Sammlungen diefer Predigten find in neuer Auf⸗ 

lage erfchienen unter dem Jitel: 

— Predigten über Hauptftüde des chriftliden Glaubens 
und Lebend. 2 Theile. 3 Thlr. 12 gl. 

A Reander, Geſchichte der Pflanzung und Leitung der 
chriftlichen Kirche durch die Apoftel.‘ 2 Bände mit einer 
Landcharte. Zweite veränderte Auflage. 3 Thlr. 12 gl. 

Kran Neder de Sauffure, die Erziehung ded Mens 
fchen auf feinen verfchiedenen Alteröftufen. A. d. Franz. 
überfeßt und mit Anmerkungen begleitet von Karlvon 
Waugenheim. 2r Theil. 2Thlr. 18gl. 

©. Ullmann, Hiftorifch oder Mythiſch? Beiträge zur . 
Beantwortung der gegenwärtigen Lebensfrage der Theos 

logie. 1 Thle. 3 gl. 

Homiletiſches Magazin über die evangelifchen Xerte 
des ganzen Jahres von H.L. A. Bent. 2 Theile. Zweite 
vermehrte Auflage. 3 Th. 12 gl. 

A. D. C. Tweften, Borlefungen über die Dogmatik der 
evangelifch » Iutherifchen Kirche, Ir Theil. Bierte Aufs 
lage. 2 <hlr. 

% % 
8 

Naͤchſtens wirb verfendet werben: 

Erinnerungen an die Kurfürften von Brandenburg und 
Könige von Preußen aus dem Haufe Hohenzollern, bins 
fichtlich ihres Verhaltens in Angelegenheiten der Religion 
und der Kirche. Hamburg. 

Die Entwidelung des religiöfen und kirchlichen Lebens in dem 
preufifchen Staate, befien Regenten zu allen Zeiten, als innige Bers 
ehrer ber Religion, ihres Volkes geiftige, moralifche und religiöfe 
Wohlfahrt auf das Eraftvollfte zu befördern beftrebt waren, gefchichts 
lid) anzudeuten, ift der Zwed der vorftehenden Schrift, zu deren Her⸗ 
ausgabe unfere Gegenwart vorzugsweife geeignet zu feyn ſchien. 


Kerner 
Gefchichte von Port» Royal Der Kampf des reformirten 
und des jefuitifchen Katholicismus unter Louis XII. und 
- XIV., von Dr. Hermann Reuchlin. — Erfter Band, bis 
‚ zum Tode der Angelifa Arnauld, A. 1661. 


PortsRoyal iſt zunächft der Name eines Klofters bei Paris, 
aber noch viel mehr ift es ein geiftiged Band, ein freier Verein, wel⸗ 
cher den Kern der Männer und Frauen Frankreichs zu Schu und 
Trug zufammendielt, als Knechtſchaft und GEntfittlihung über das 
Volk hereinbrachen. Wer Eennt nicht die Namen der Arnauld, eines 
Pascal und Quesnel, eines Racine und Boileau? Sie entftammten 
meift parlamentarifhen Familien; ihre Bäter hatten gekaͤmpft für die 
guten Rechte der Nation, des Burgerftandes, der gallicanifchen Kirche 
‚wider den Abfolutismus und die Sefuiten. Während nun aber Riche⸗ 
lieu's und bald Louis XIV. ſchwere Hand auf Frankreich ruhte, die 
politiſchen Freiheiten verloren waren, da unterwanden ſich diefe unfere 
Männer in Gottes Namen, bie Kirche, bie Litteratur, das ganze ſo⸗ 
ciale Leben ihres Vaterlandes zu reformiren, durch innere Kräftigung 
far zu machen gegen das einbrechende Verderben. Diefes aber hatte 
zu ftarke innere unb Äußere Bundesgenoſſen; der Kampf mußte hart 
werden, reich an bewundernswürbiger Aufopferung, an &iegen und 
an Rieberlagen; große, ſcharfe Beifter rangen wider einander und ges 
waltige Charaktere. Die Gefchichte diefes Kampfes ift die Gefchichte 
von Ports Royal. Diefed aber wird von Vielen mit Liebe und Ehr⸗ 
furcht genannt, nur von Wenigen näher gelannt, Es ift wohl Kein 
zufällige Zufammentreffen, baß wir demnädft zwei Bearbeitungen 
feiner Geſchichte entgegenſehen; die eine, in franzöfifcher Spradye, von 
dem ruͤhmlich befannten St. Beuve, die andere von Reuchlin, dem 
Verfaſſer des Chriſtenthums in Frankreich. Jeder wird, der eine als 
Franzoſe und Katholike, der andere ald Deuticher und Proteftant, das 
no im Dunkeln ruhende. edle Metall auf feinem Wege zu Tage zu 
fördern fuchen, indem jener, wie es feheint, mehr den Einfluß auf die 
Rationallitteratur Frankreichs verfolgen wird, diefer die focialen Prins 
aipien und Elemente und die Kämpfe darum, Wir können ung aber 
ber dieſes Zufammentreffen nur freuen und die Sache ſelbſt, ihr Ein- 
fluß und Erfolg wird gewiß babei gewinnen, 


Bei E. Kummer in Leipzig ift erſchienen und in allen Buch⸗ 
Bandlungen zu haben: 

Trande, Aug. Herm., Predigten über evangelifche und 
epiftol. Terte. Aus bisher ungedrudten Handfchriften, 
mit“ einem Vorwort von A. Tholud, heransgeg. von. 
Carl Emil Frande. gr. 8. J 1Thir. 21 gl, 


Bei Unterzeichnetem ift erfchienen: 
Winer, Kirchenrath, Dr. ©. B., bibl. Realwörters 
buch. II. Bo. 2. Abthlg. (Schluß d. Werkes) gr. 8. 
33 Bog. Ladenpreis 2 —* 


Das nun complete Werl wird nicht getrennt und ko— 
ftet 7 Thlr. Ladenpreis. St — 


— 


Stein, Dr. ©. ®., der Brief an die Hebräer, 
theoretifch » praßtifch erklärt, in feinem großartigen Zus 
fammenhange bargeftelt. gr. 6. 195809. .1Chlr. 129. 

Nobbe, C. Fr. Aug., Vita Christ. Dan. Beckii, 
gr.8. 44 Bog. geh. 10 gl, 

Leipzig, im Auguft 1888. — 
C. H. Reclam. 


Sn der Gerſtenberg' ſchen Buchhandlung in Hildesheim 
in in den Iahren 1837 und 1888 erfchienen und in allen Buchs 
anblungen zu haben: 


Klinkhardt, 5: A., das Recht der hildesheimi- 


Erklärung des Sophocles und Euripides. gr.8. 12 ggl. 
Seffer, J. Re banuoverfcher Kinderfreund, 

ale dritter Th 

Auflage. 8. 


In der Schnuphaſe'ſchen Buchhandlung in Altenburg iſt 
erfchienen und burdy alle Buchhandlungen zu erhalten: 


Timotheus 
Reden an Geiſtliche. 


Eine Sammlung von Anſprachen bei der Einweihung und 
Einführung in den Beruf des Pfarrers. Beſonders 
für jüngere Amtsbrüder, Gandidaten und 
Theologie Studirende 

, von 
| Dr. Fr. Heſekiel, 
Herzogl. Saͤchſ. Conſiſtorialrath und General⸗Superint. 


8. 1837. broch. 12 gl. 


Diefe Sammlung enthält 7 Ordinations- und 11 Einführunge- 
reben und eine Skizze der Vorbereitungsrebe zum gemeinfamen Abends 
mahle für die Geiſtlichen Altenburgs mit ihren Familien, an welde 
fi) audy die Gandidaten anzuſchließen pflegen. 

Faſt alle Eritifche Journale, in weldyen obige Schrift recenfirt wurs 
de, haben ficy darüber vortheilhaft ausgeſprochen, — indeß entnehmen 
wir nur aus bem Journale f. Prediger 1837, Septbr. u. Octbr. S. 224. 





Kolgendes zur Empfehlung: „Wie wuͤnſchen, daß fie unter den (auf 
dem Titel) Genannten recht viele empfaͤngliche Lefer finden mögen. 
Doc audy den Männern, welchen biefelben amklichen Functionen, als 
dem Verf., obliegen, dürfen wir fie mit der vollen Uebergeugung em⸗ 

ehlen , daß ihnen nicht Weniges hier geboten wird, was von ihnen 

nugt zu werben verdient. Wir meinen namentlich den richtigen Takt 
für diefe ſchon an fich nicht eben leichten, befonders aber dann fdywies 
rigen Caſualreden, wenn fie häufig wieberkehren und man bie Gedan⸗ 
ten, die in ihnen nicht fehlen dürfen, doch in ein neues, paflendes Ge⸗ 
wand eintleiden will. Das ift dem Verfaſſer trefflich gelungen.” 


+ 





Bei Joh. Ambr. Barth in Leipzig iſt erſchienen und an 
alle Buchhandlungen verfandt worden: 


Zeitfchrift für die hiftorifche Theologie. In Verbindung 
mit der —— Geſellſchaft zu Leipzig. 

- herausgegeben von Dr. &. F. Illgen. Sten Bandes 
(ded 2ten Bandes der neuen Folge) 2ted Heft. gr. 8. 
geh. (Preis des Bandes von 4 Heften 4 Thir.) 

Snbalt: Der Srunddharalter ber Idee vom en der Hebräer, 
aus der Etymologie des Wortes entwidelt. Von M. G. M. Reds⸗ 
Lob. — Ueber die Urfacyen der verborbenen Latinität bei den Schrift- 
flellern nad) dem Zeitalter des Kaifers Auguftus, hauptſaͤchlich bei den 
Kirchenvätern, mit befonderer Berüdfichtigung des Zertullian. Won 
M. G. F. Leopold. — Ueher den im heidelbergiſchen Katechismus 
ausgedruͤckten Lehrbegriff. Ein hiſtoriſch — Verſuch. Von 
Dr. M. 3. H. Beckhaus. — Zuverlaͤſſige Mittheilungen über Joh. 
Heinr. Schoͤnherr's Leben und Theoſophie ‚ fo wie über die durch bie 
letztere veranlaßten ſectireriſchen Umtriebe zu Königsberg in Preußen. 


Bei J. C. B. Mohr in Heidelberg ift erfchlenen und in als 
len Buchhandlungen zu haben: 
Warum fühlt die Deutfhsevangelifhe Kirde 
gerade {m unfern ger bas Bebürfniß 
von PrebigersSeminarien? 


Dentfhrift 


der Eröffnung des Großherzogl. Badiſchen evan eliſch⸗ 
proteſtantiſchen Prediger⸗Seminariums zu Heidel 


Von 


Dr. Rihard Rothe, 
Director des Prebiger-Seminar, u. ord. Prof, d. Theol. 


Nebft 4 Beilagen: a) Großherzogl. Verordnung, die Errichtung bes 
Pred.s Sem. betreffend. b) Rebe des Prälaten Dr. Hüffel bei der 
Eröffnung. c) Rebe bes Dir. des Semin. Dr. Rothe. d) Gebet bes 
Prof. Dittenberger. F 

gr. 8. geheftet Preis 86 r. oder 8 ggl. 


DAAOTIOTDIAOZTPATOT BIOI 208ETAN 
Flavii Philostrati Vitae Sophisterum. 
‚Textum ex cod. Roman. Klorentin. Venet. Parisinis, Lon- 
dinens. Mediolanensi, Havniensi, Oxoniensi, Gudiane, Hei- 
delbergensi recensuit; epitomam Romanam et Parisimm 
' ineditas adiecit, commentariaum et Indices concinnavit 

Carolus Ludovic. Kayser, Ph.D 

Insertae sunt notae ineditae-I. Casauboni, Bentleii, Haetii, Salmasii, 
lacobsü, Th. Meysii: editae Valesii, Olearii, Iacobsii, A. Tahnli. Ac- 
oedit libellus Galeni IIEPI APIETHZ AIAAZSKAAIAZ ex Cod. 
Florentino emendatus, et qui vulgo inter Luoianeos fertur, NEPAN 


Philostrato vindicatus et ex cod. Palatino correctus. 8. mai. 
XLU. 416 pag. Preis: 2 Thlr. 12 gr. oder 4 Fl. 80 Xr. 


Bei Ludwig Oehmigke in Bertin ift erfchtenen: 
Stier, R. (Pfarrer), Hülfsbüchlein des Lehrers zu 
meinem Katechismus für den Confirmanden⸗Un⸗ 
terricht. Nebſt Probe eines verbefferten Iutherifchen 
Katechismus. 8. 14 Bogen. 12 91. 
Der von demfelben Verfafler herausgegebene Luthers Kate: 
hismus ift fchon in der dritten Auflage neu erfchienen, und 
Jedem, welcher denfelben beim Unterrichte zum Grunde gelegt, wird 
bad fo eben erfdyienene Hürfsbüchlein fehr willlommen feyn; 
es ift in allen Buchhandlungen zur haben. Be 
Lange, 3.9. (Pfarrer zu Duisbarg), Die Verfins 
ferung der Welt, dargeftellt in einem Cyklus von 
Lehrgedichten und Liedern. gr.8. cartonn. 16 gl. 
Das poetifche Talent des Herrn Verfaſſers iſt durch feine früheren 
" Erzeugniffe bereits fehr vortheilhaft bekannt; daſſelbe bewährt fich 
in diefem Werkchen aufd Neue, und ed bedarf wohl nur ber Anzeige 
von bem Erſcheinen deflelben. u 
Schweder, ©., Predigten, zum Velten ber Kins 
derwartefhulen in Berlin herausgegeben. ro 
— 1Thlr. 
Der wuͤrdige Herr Verfaſſer Hat den Ertrag dieſer Predigt⸗ Samm⸗ 
lung, wie ber Titel ausſpricht, einem wohlthaͤtigen Zwecke gewib: 
met, weßhalb um fo mehr ein vecht bedeutender Abſatz wuͤnſchens⸗ 


wer . 

eiebetrat, De. F., Ruten u. Schaden des Brannts 
weintrinkens. Eine treue, fchlichte Belehrung für 
das deutsche Ball, den vornehmften Abweg zur Verar⸗ 
mung, zum zeitlichen und ewigen Verderben zu vermeis 
den. Bierte Auflage. gr. 8. broch. 2 gl. 

Deffen, ber zug des Herrn und feine Feier. 
In Briefen. Mit biblifcher, hiftorifcher und wiflenfchafts 
licher Begründung dargeftellt, und ven chriftlichen Zeit⸗ 
und Heildgenoffen, infonderheit den ernfl gefinnten Freuns 
den und Begnern. einer wohlgeordneten Sonntagöfeler 
zur Prüfung u. Beherzigung vorgelegt. gr.8. 1Thlr. Bgl. 

5 


\ 








Baumgarten, M., Doctrina leau Christi de lege 
-  mossics ex oratione montana hausta. gr. 8. geh. Sgl. 
Deffen, die Aechtheit Der Paftoralbriefe gegen 
den neueſten Angriff des Herrn Dr. Baur ie 

rt, 8. n r. 
Ruiewel, Dr. T. F., chriſtliches Religionsbuch 
für mündige Chriſten und die es werden wollen, auch 
zum Gebräuch in Lehrerſeminarien und höheren Schuls 

. _ anftalten. 8..3 weite Auflage 16 gi. 
Deffen Leitfaden zum hriftlihen Religionss 

- unterricht. Für Eonfirmanden und confirmationdfäs 
hige Schüler, 8. Zweite Auflage. cartomnirt 4gl. 


Rational: Ver? 
für die gefammte Geiftlidteit! 
So eben ift erfhienen und in allen Buchhandlungen zu haben: 


Müller’8,Dr. Andreas, 
Domcapitular zu Bürzburg, 


Lteriton 
des 


Kirchenrechts 
und ber roͤmiſch⸗-katholiſchen Liturgie. 


Zweite umgenrbeitete und vermehrte Auflage in 5 Bänden. 
1. Band. 5tes.Heft, gr. 8. Welinp. geh. 1291. oder 54 Zr. rhein. 

Mit diefem 5ten Hefte fchließt fih der I. Band diefes einzig in 
Deutfhland vollendet ee Lexikons, welches nicht 
nur für jeden Geiftlichen, fondern auch für jeden Zuriften in feinem Ge⸗ 
ſchaͤftsleben ein unentbehrlidhes Handbuch iſt, indem ſolches ein Ars 
hiv des Kirhenrehtö und der Liturgie, fo wie ein Res 
pertorium ber in den verſchiedenen deutſchen Staas 
ten geltenden Tirhenrehtlihen Gefesge und Berord⸗ 

zung bildet. 
er leichteren Anfchaffung wegen wirb folches in Monatheſten von 


10 Bogen & 12 gl. oder 54 &u, ausgegeben. Der erſte Band tft in - 


allen guten Buchhandlungen vorräthig, die gerne bereit werden 
ihn zur Ginfiht mitzuteilen. men 


Würzburg. 
E. Etlinger’fche Buchhandlung. 


Bei Ch. Wuttig in Leipzig if erſchienen und in allen Buch⸗ 
handlungen zu haben: 


Chriftliihe Amtd-Reden, 
bei verfhiedenen Anläffen gehalten, 
jebt gefammelt und heramsgegeben 
von 
Dr. Sohann Frieder, Röhr, 


Großherz. S.⸗Weim. DOberhofprebiger, General-Buperintendenten ıc, 
91.8, Velinpap, 1 Ahlr. 12:81. 








Vorſtehende Sammlung enthält: 7 Gonftem 
5 Weihreben, 7 Binfähzunasrehen W eg j 
Gepächtnißpredigten und 2 Reden vermifhten Inhalts, 
Name des Herrn Verfaſſers bürgt allein Ynlänglic für den 
Werth biefer Reden und madıt eine weitere Empfehlung derfeiben über- 
flüffig; ſicher werben fie eine nicht minder beifällige —2 me finden, 
‚als die frühern Predigtfammlungen bes Verfaffers, und beſorders ben 
Befigern von defien „ch riſtologiſchen Predigten” eine puchfk 
willlommene Erſcheinung feyn. 
£eipaig, im Juni 1838. 


So eben iſt erſchienen und bei Unterzeichnetem zu haben: 
Der Myſtagog 


2 oder 
Deutung der Geheimlehren, Symbole und 


Feſte der grißligen Kirche 
on 


F. Nork. 
gr. 8. nebſt zwei Steindrucktafeln. Preis: 1Thlr. 18 gl. 


Nach einer die Hälfte des Buches ausfüllenden Deutung der wich⸗ 
‚tioften Dogmen bes Chriſtenthums, von welchen die Dreieinigkeitslehre 
und ber Logos ale Weltſchoͤpfer, ſchon in Indien, Perfien, Egypten, 
Griechenland und in den Schriften der Rabbinen fich vorfindend, nad» 
ewieſen werden, gebt ber Berf. zur eigentlichen Tendenz feiner Schrift 
ber, nämlich zur Beweisführung, daß, was mehrere Kirchenlehrer 
felbft eingeftanden haben, das Ehriftenthbum an die Stelle des heibnis 
Shen Sonnencultus getreten fey; und ein Reichthum bisher wenig ges 
tannter Quellen wird aufgeboten, um zu zeigen, wie in den erften Jahr⸗ 
hunderten der Kirche die heilige Zungfrau in ihren Prädicaten mit der 
Mondgoͤttin, die Edangeliften in ihren Symbolen mit jenen die Jahres 
zeiten bewirkenden 4 Zobiafalbildern, Stier, Löwe ꝛc., bie Apoftel mit 
den Monaten u. f. f. verglichen worden, ferner, daß Chriſtus in feinem 
Praͤdicat „Heiland” und „Kamm Gottes,” in feiner Geburtsgefdhichte, 
Paſſion, Höllenfahrt und Auferflehung, in der Inſigne bes Kreuzes, 
wie in den Mofterien von Zaufe und Abendmahl eine bis in die Mein 
ſten Nebenumſtaͤnde eingegangene Verwandtſchaft feines Eultus mit 
dem Sonnenbienfte der. Griechen und Römer offenbare, wie aud) daß 
ſaͤmmtliche ältere Kirchenfefte einen aftronomifchen Urfprung verrathen. 
Demungeadtet wird bie gefchichtliche Eriftenz Iefu von dem Verfafler 
nicht geleugnet, aber auch nachgewiefen, wie der hiſtoriſche Chriſtus 
im Laufe der Zeit in einen mythiſchen umgeſchmolzen wurbe; eine Bes 
weisführung,, welche vielleicht die Meinungen über die durch Dr. 
Strauß angeregte Streitfrage vermitteln helfen wird, 


eipzig, Wilh. Aler. Künzel. 





Bei Velhagen und Klafing in Bielefeld if fo eben er⸗ 
(dienen: 


| Ragel, W., Thabor; Sammlung ausgewählter Pres 
digten. 8. geh. Ä 18 gl. 


- 


\ 


Die Litterer. Biätres für Homiletit uetheilen. in Ar. 8, 
bes Jahrganges 1838 rer biefe Predigtſammlung alfo: „Wir begeg⸗ 
nen bier zum erfiemnal auf dem Felde ber Homiletit einem: jungen 
Meanne, der zu den fchönften ngen berechtigt. Eine frühere 
Sammlung vn Predigten (1883), auf welche er im Vorworte hin- 
deutet, ift „ns nicht zu Sefihte gekommen, Wir bedauern dad um fo 
mehr, d« die vorliegenden den geiftvollen, für feinen Prebigerberuf: bes 
geifterren, aus ber Tlefe eines: für Gott und Chriſtenthum warnufühlens 
den Herzens redenden Mann beurfundet. Zwar wirb die Krttik hier 
und da Manches an ber Form der Eintheilung ıc. der einzelmen Vor⸗ 
träge auszufegen wiflen; aber wären auch diefe Ausftelungen hinrei⸗ 
chend begründet, fo hält man es dem Verfafler bei den vielen unver: 
kennbaren VBorzügen feiner Predigten bei der oft deutlich hervor: 
tretenden Originalität gern zu gute. Gedankenreichthum, edle geho⸗ 
bene Sprache, oft ans Dichterifche ſtreifend, lebendige Darftellung, 
eindringenbe Anfpradje and Herz, Klarheit zc., das find hernorftechende 
Vorzüge diefer Predigten’ u. f. we ö 

—A J 


Intereſſante Neuigkeit für Theologen. 
So eben iſt erſchienen: | 

J Predigten 
we uber a 
ben erfien Brief ded Sohannes 

in feinem imern Sufammenhange. 

Von | | 
J. C. ©. Sohannfen, | a 


Doctor der Theologie und Philofophie, Hauptprebiger an ber deutſchen 
&t. Petri⸗Kirche zu Kopenhagen, Ritter des Dannebrog-Orbeng, 


2 Bände, gr. 8, Altona, Hammerich, 1838, 3 Thlr. 


Die geiftreihen Schriften des gelehrten und als Kanzekrebner _ 
hochberuͤhmten Herrn Verfaſſers baben auch in Deutfchland bie 
ehrenvollfte Anerkennung gefunden. Die vorftehende Prebigtfammlung 


wird um fo mehr dazu beitragen‘, den hohen Ruf des mit feltenem 


Geifte ausgeftatteten Herren Dr. Johannſen noch mehr in Deutfch- 
land au verbreiten und zu befeftigen, als biefes Merk den glämzenbften 
Beweis von ben außerordentlichen Zatenten deffelben liefert, wel: _ 
des wir daher nicht dringend genug allen Theologen zur gefällis 
gen Beachtung empfehlen können. u | 

Saͤmmtliche Buchhandlungen Deutfchlands, Deftreichs, ber Schweiz 


‚und Dänemarks haben Eremplare vorräthig, 


% 


— —— 





Theologiſche 
Studien und Kritiken. 


Eine Zeitſchrift 

| | für 

das gefammte Gebiet der Theologie, 
in Verbindung mit 

D. Giefee, D. Lüde und D. Nibſch, 


rauen 


von 


p. C. ullmann und B. 2. W. C. umbreit, 
— an der Univerſität zu Heidelberg. 





Jahrgang 1839 zweites Heft. 


| Samburg, | 
bei Sriebridh Perthes. 


1880. 





1. 








v 
t , 
1 — —J 
* 12 
— 


bhandlungen. 





.. 








1. 


Die Reden bed Apofteld Paulus in der Apoftel- 
geſchichte, mit feinen Briefen verglichen, 
Von 
Dr. Sholnd. 


Hat bis jeßt Die Apoftelgefchichte für denjenigen, dem 
der biftorifche Boden der evangelifchen Gefchichte wans 
fend geworben ift, noch einen feften und unerfchütters 
lichen Haltpunft barzubieten gefchienen, fo müßte auch 
biefer Haltpunkt aufgegeben werben, wenn es richtig 
wäre, was Dr. Baur neuerlich zu zeigen verfucht hat, 
daß dieſes gefchichtliche Buch des N. T. die Gefchichte zum 
Behufe gewifler dogmatifcher und apologetifcher Zwede 
zurechtegemacdht habe und aljo etwa mit den Elementinen 
in eine Reihe zu flellen fey. Cine vorläufige Entgegnung, 
die indeſſen eigentlich nur die Rechtfertigung der im Zuſam⸗ 
menhange mit dem Angriffe auf Die Apoftelgefchichte eben 
falls von jenem Gelehrten angefochtenen zwei legten Ka⸗ 
pitel des Briefes an Die Römer beabfichtigt, ift von Kling 
in den Stud. u. Kritik. 1837. 9. 2 verfucht worden. Eine 
gleich ausführliche Rechtfertigung der Apoftelgefchichte 
würbe vorzüglich bie Feftftellung der Autorfchaft des Lukas 
erfordern, denn daß eine romanhafte Behandlung der Ge⸗ 


‘ 


306 öl 


ſchichte des Apoſtels ſich nicht denken laͤßt, ſobald wirklich 
der nächſte Freund deſſelben der Verf. ſeiner Geſchichte iſt — 
ein Mann, deſſen perſönliche Frömmigkeit unter Anderm 
auch die Stelle Apg.21,14 auf rührende Weiſe ausdrückt — 
liegt am Tage. Es würde dann aber auch ferner die Ue⸗ 
bereinftimmung ber Apoftelgefchichte mit den fonft befanns 
ten Dentmälern der Gefchichte zufammenzuhalten ſeyn 
. und vorzüglich möchten auch die darin mitgetheilten Reden 
der Apoftel — in fofern in folche Reden am eheſten der 
fubjective Charakter eined mythiſtrenden Schriftftellers 
eindringt — ein wohl zu beachtendes un * die ge⸗ 
ſchichtliche Glaubwürdigkeit abgeben. 

Was die eine Rede des Jakobus Apg. 15 und bie 
Reden ded Petrus betrifft, fo find bereits Andeutuns 
‚gen in Betreff ihrer Uebereinſtimmung mit ben neuteflas 
‚mentlichen Briefen der beiden Apoftel in Geift und Sprache 
gegeben worden; Seyler, in den Stud. u. Krit. 183%, 
91853, hat eine bi6 auf die Partikeln fich erſtre⸗ 
cende Uebereinftimmung der Sprache in den Reden be6 
Detrus und in feinen Briefen annehmen zu bürfen ges 
glaubt. Ein viel weiteres Feld zur Verglelchung bietet ich 
in Betreff des Paulus dar. Doch möchte der Vergleich 
der Sprache der Apoftel in ihren Briefen und in jenen Res 
ben nm -Bieled weniger zuläffig ſeyn, als der bes Ehas 
rakters und hiftorifcher Umftände, da ja, follte 
die Sprache und ihre Eigenthümlichkeiten verglichen wers 
ben, zuvor feft fliehen müßte, daß alle mitgetheilten Res 
den in griechifcher Sprache gehalten worden, was uns 
wahrfcheinfich ift nnd wovon bei der einen Apg. 22, 1,2 
ausdrücklich das Gegentheil berichtet wird. Gern zuges 
fiehend, daß über diefen Punkt verfchiedene Anfichten zu⸗ 
„ läffig find, ſprechen wir als die Anficht, welche ſich ung 
bis hierher ergeben, bie Annahme aus, daß die von Kap. 20 
an von Paulus aufbewahrten Neben mehr in der Sprache 
des Lukas, ald in der des Paulns referirt find. Unge⸗ 


4 * 





Reden bes Apoſt. Paulus in d. Apg. ıc. 807 


führ von dem Abfchnitte an wird nämlich die Sprache.grier 
chiſcher, als fie es in dem früheren Theile des Buches iſt; 
die Reden des Apoſtels haben weniger von dem Sprach⸗ 
gebranche feiner Briefe, als von dem des Lukas, und fo. 
dürfte fih die Meinung vertkeidigen laſſen, daß kukas, 
ber in den früheren Abfchnitten theild münblicher Ueber 
Sieferung, theild fchriftlichen Documenten gefolgt war, 
von der Zeit an, wo er fortbauernd ben Apoſtel begleis 
tete a), durchaus felbftändig fowohl die Geſchichte, ald die 
Neden beffelben niedergefchrieben habe. Iſt dem fo, dann 
dürfen wir natürlich auch nicht erwarten, in Betreff der 
Sprache einer auffallenden Uebereinſtimmung zu begegnen; 
genug, wenn ſich nachweifen läßt, daß die Neben der 
Apofelgefchichte denſelben Geift und daſſelbe Herz uns 
vorführen, das die Briefe uns zeigen. 

Den Anfang dieſes Nachweifed machen wir mit ders 
jenigen Rebe, in welcher die Uebereinſtimmung aud bie 
anf die Sprache ſich erfiredit und — wie auch der Befdns 
genite und wirb zugeftehen müflen — in mehrfacher Hin⸗ 
ficht einen fchlagenden Beweis für den hiftorifchen Cha⸗ 
alter des Berichterſtatters abgibt. Es ift Die Abfchiedes 
rede, welche bet Apoſtel an bie ephefinifchen Aeltsften hält, 
bie wir dießmal einer nähern Prüfung unterwerfen. Bors 
angehen laſſen wir eine Würdigung des Bildes, welches 





a) Diefer Anſchluß an ben Apoftel fand eben in ber Periode flatt, 
von welcher an bie volllommnere griechifche Sprache bemerk⸗ 
lich wird, Apg. 20, 6. Alle Wahrfcheinlichkeit nämlich hat 
die Annahme für fi, dafs als Paulus aus Philippi ging, 
Lukas, ber Ihn eine kurze Zeit begleitet hatte, dort zurüd 
biied. Will man dieß nicht zugeftehen, fo muß man bad Ob» 
walten eines feltfamen Zufalls darin annehmen, daß ber Bes 
sichterflatter der Apoftelgefdhichte in Kap. 16, 40, wo Paulus 
‘von Philippi weggeht, aufhört, von ſich und Paulus zufams 
men im Plural zu fprechen und Kap. 20, 6, gerade wo Pau⸗ 
Ins von Philippi abfährt, wieder anfängt, ben Plural gu ges 
brauchen. 


zos Iholuk1 
dieſer Adſchnitt der Apoftelgeſchichte von dem religisſen 
Zuſtande von Epheſus gibt, auf den auch in der Rede 


| fi eine Beziehung finder 


Es iſt bekannt, daß jene Hauptſtadt bed proconfulas 
rifchen Aflens um die Zeit Ehrifti auch in religiös « philos 
fophifcher Hinficht einen fehr eigenthlinglichen Charakter 
hatte. Zu bem Tempel der Artemis, einem der fieben 
Weltwunder,, flrömten die Pilger aus ben entfernteften 


. Weltgegenden; wie an den Wallfahrtöorten der römifchen 


Kirche, war auch hier ber Eifer für die väterliche Relis 
gion befonders ſtark. War ber Pöbel von Ephefns und 
von Kleinafien überhaupt für die äußerliche Herrlichkeit . 
feiner Religion erhitzt, wie von diefer Anhänglichteit auch 
noch fpäter die heibnifchen Aufftände der kleinaſiatiſchen 
Städte unter Julian Zeugniß ablegen, jo war in den ge⸗ 
bildeten Claſſen der Enthuſiaſmus nicht geringer für mys 


‚Rifche Religionserkenntniſſe. Schon an den myſtiſchen 


Eultus der Artemis fchloß fich eine mit Magie verbundene 
Myfteriofophie an.. Eine myftifche Snfchrift prangte an 
der Krone, an bem Gürtel und an den Füßen ber Artemis, 
die von Religionsphilofophen wunderbar gedeutet wurde 
(Clem. Alex. Strom. 1. V. p. 568); nach ihr wurden Zau⸗ 
beramulete mit myftlfchen Formeln verfertigt, um Krauk⸗ 
heiten abzuwenden, die "Episıer yoduuare. Es war aber 


- auch Ephefus der Ort, wohin aus dem innern Aflen Ans 


Hänge morgenländifcher Religionsphilofophie drangen, Die 
von griechifchen und jüdifchen Philofophen mit ihren eiges 
nen Religionen in Verbindung gefeßt wurden. Befannts 
lich hat die Gnoſis hier und in Alerandrien ihre Wiege ges 
habt; der Brief an die Ephefer, vorzüglich aber der an die 
Koloffer und die Briefe an den Timotheus, der fpäter in 
Ephefus feinen Sig hatte, auch die Offenbarung Johan⸗ 
nis Kap. 2, 6 legen dafür Zeugniß ad. Ein merfwürdis 
ges Beifpiel heidnifcher Gnoſis aus diefen Gegenden 
gibt die milefifche Snfchrift, welche die fleben Bocale jedes⸗ 


t 








Reben bed Apoſt. Paulus ind. Apg. ıc. 300 


mal anders geftelt vorführt:: Asnıova, Einoboa, Hrovmuz, 
Iovoasn, Ovnasyı, einer jeden Vocalgruppe ein &yız 
voranſchickt und dem Ganzen die Schlußformel folgenläßt: 
doyayyläoıs pvidaderaı 7 rolıs Milnslov xal avreg ol 
 sazomoüvrs. Nach der Anfiht Dtfried Müllers 
in feiner Rec. von Soldan’e diss, de reb. Miles. in den 
goͤttinger Anzeigen find diefe fieben Böcale die Symbole 
der fieben Töne und dieſe wiederum die Repräfentanten 
der fieben vornehmſten Geifter, und es gehört die Infchrift 
in bie legte Zeit des Heidenthums. Merkwürdig ift e8 auch, 
daß die Priefter des Tempels zu Ephefus perfifchen Ur⸗ 
fprungs zu ſeyn fcheinen, vergl Hemfterhuts zu Lu⸗ 
cian's Timon I. ©. 383 Bipont. und Ereuzer’s Syms 
bolif IL S: 195, woſelbſt es dann ferner heißt: „Ueber⸗ 
haupt war Ephefus der Ort, wo die Einfichten bes Orients 
mit der Philofophie und Mythologie der Griechen ſich viels 
feitig vermifchten. Freilich war Diefelbe Stadt auch eine 
wahre Officin magifcher Künfte und Täufchungen.” 

Was die Apoftelgefcichte in Bezug auf den religiöfen 
Suftand von Ephefus erzählt, ſtimmt hiermit fehr zuſam⸗ 
men. Hoͤchſt charakteriftifch und ein wahres Lebensbilb 
aus der alten Welt ift die Befchreibung bed Aufruhrs, 
den Demetrius der Goldſchmied gegen Paulus erregte. 
Er fand feinen Unterhalt durch Berfertigung der Meinen 
ſilbernen Tempel (apıöpvnere), welche den Tempel der 
Artemis und ihre Bildfäule nachbildeten, und wovon bes 
greiflicher Weife eine.große Zahl auch nach ber. Ferne hin. 
Abgang finden mußte, da es gewöhnlich war, daß relis 
giöfe Perfonen dergleichen als Amulete bei fich führten und 
auch wiederum anderen Götterftatuen als Geſchenke dar⸗ 
brachten 9. Zwei Stunden lang wiederholte der Volks⸗ 
haufe denfelben Ausruf: Groß ift die Artemis der Ephe- 


a) Ein Beiſpiel dieſer Art von dem Philofophen Aſtlepiades er- 
zaͤhlt Ammian Marcellin im. 22. Bude, Kap. 18. 


' j 


310 Maotluck 


ſer! wie es der Heiden Art iſt, bieſelben Prabicate der 
Grttheit im endloſer Wiederholung herzuſchreien, vergl. 
meinen Comm. zur Bergpred., zu Matth. 6, 1 S. 0. 
Sim Theater, dem Orte, wo überhaupt öffentliche Auge⸗ 
‚legenheiten verhandelt wurben (cf. Wetſtein zu Apg. 
29,29.) , ftrömt das Volk zufammen; einige der Borftcher 
ber sacra und ber öffentlichen Spiele in ber Asia procon- 
sularis — von Lukas mit dem Amtsnamen Afiarchen 
benannt — find Paulus geneigt worden und warnen ihn, 
fih nicht in die Volksmaſſe zu begeben, und zur Begütis 
gung der Volksmaſſe nimmt der Staatsarchivar — mit 
dem Amtönamen Yyoruuerevg benannt — dad Wort und 
hält eine Rebe, fo charakteriftifch, daß nichts ferner liegt, 
als der Gedanke an Erfindung. Mit einer befünftigen- 
den und dem Volke fchmeichelhaften Anertennung beginnt 
die Nede: „Ihr Ephefer, wer wäre beun wohl, 
' der nicht wüßte, daß die Stadt der Ephefer 
vorzugsweife Verehrerin ber großen Arte 
mis und des vom Himmel gefallenen Götzen⸗ 
bildes it!” in welchen Worten die eigenthümliche Bes 
stehung auf das Prädicat venxögog (Tempellehrer), das 
anf Münzen auch von Ephefud gebraudyt ward und auch 


das hölzerne Artemisbilb im Tempel nicht zu überfehen iſt. 


Sogleich empfindet der Leſer mit bei diefen Worteh, dag 


der tobende Haufe ftil ‚geworben feyn mn. „Da nun 


dieſes gewig it — fährt die Rebe fort — fo müßt 
ihr euch ruhig verhalten und nichts Boreilis 
ges thun. Ihe habe nämlich diefe Männer 
bieher gebradht, die weder den Tempel bes 
ranbt, noch eure Goͤttin gefhmäht haben. 
Wenn nun Demetrius und feine Arbeiter ges 
gen Semand eine Klage haben: fo werden ja 
Gerichtstage gehalten und es gibt Procons 
fulu, fo mögen fie gegen einander klagenz 
find ed aber andere Dinge, über die ihr ein 


v 


— 








Beben des Apoſt. Past Ind. Aps. x. BIN 


Geſuch habt, fo gibt es geſetzliche Bolksver⸗ 
fammlungen, in denen es entſchieden werben 
mag.” Go’ werben die Leidenſchaften noch mehr befünfs 
tigt, indem die Angelegenheit mehr als eine Privatſache 
bargeftellt wird, und infofern doch noch Verlangen nad 
Hacke da wäre, wirb Gerechtigkeit verheißen. Aber auch 
ber Schredien wird zu Hülfe genommen; „denn — heißt 
ed — wir find in Gefahr, des Aufruhrs ange 
klagt zn werben Go geht ber Tumult vorüber, 
indem fich ebenfo fehr der heibuifche Fanatismus bed ges 
meinen Volks, wie feine Unbeſtändigkeit darſtellt. 
Im hoͤhſten Einflange mit dem, was bie Gefchichte 
von der Herrſchaft der Magie in Epheſus fagt, fleht der 
Kap. 19, 18. 19 gegebene Bericht über bie verbrangten 
magischen Bücher, deren Werth fogar angegeben wird — 
. aämlich 6000 Thlr. nach unſerm Gelde — eine hohe Sum 
me, beren Größe fih aus dem Werthe erklärt, ber das 
mals, wie audı noch jeßt, auf Zauberbücher gelegt warb. 
Auch das tft charakteriftifch, daß nicht nur ber frühere Tor 
hannesjünger Apollos, fondern überdieß noch zwölf ans 
bere Johannesjünger fich in diefer Stadt finden; die Ans 
weſenheit jüdifcher Beifterbdnner (19, 13 f.) hat Epheſus 
ohne Zweifel mit ben meiften Stäbten gemein gehabt, wo 
viele Inden waren. In der Rede des Paulus läßt Eine 
Stelle ſich nachweiſen, die ſich ebenfalls auf den religiöfen 
Zuſtand der Epheſer und insbeſondere der ephefinifchen 
chriſtlichen Gemeinde, wie er uns ſonſther bekannt iſt, be⸗ 
zieht, Kap. 19, 29. 30. Sogar aus ben Lehrern ſelbſt — 
fagt Paulus hier — würden Wölfe hervorgehen, die Par 
teien fliften würden; wie er zur Zeit, ald er zum zweiten 
Male bei den Balatern war, bie feimenden Härefien er⸗ 
kannt und im Boraus gewarnt hatte, Gal.1,9, fo hat 
er auch in Ephefus biefes erfannt und hat es mit einer Ges 
wißhelt auögefprochen, bie mehr als bloße Ahnung if. 
Das die Befürchtungen fich in fpäterer Zeit erfüllten, zei⸗ 


gen fchon bie Briefe an die Ephefer und Koloffer, noch 
mehr die an den Timotheus, der erite johanneifche Brief, 
der vor bem Doketiſmus Warner und das zweite Kapitel 
ber Offenbarung. 

Gehen wir nunmehr an bie Rede felbft und betrachten 
wir fie im Einzelnen. Gie ift in Milet gehalten, wohin 
er die Aelteften aus der epheſiſchen Gemeinde berufen, da 
er, — wie es Apg. 20, 16 heißt, um Pfingſten in Serus 
falem zu ſeyn, im Ephefus fich nicht aufzuhalten wünfchte. 
So markirte Charakterzüge tragen die paulinifchen Briefe, 
daß es nicht fchwer fällt, denfelben Dann anderswo wies 
ber. zu’ erfennen. Mit dem Briefe des Judas, den zwei 
Briefen des Petrus und vielleicht auch mit Jakobus vers 
hält es fich fhon anders. Sagt man, je marlirter eben 
ber Charakter eines Mannes ausgeprägt ift, defto ‚leichter 
kann derjenige, der ihm Reden in den Mund legen will, 
biefen das individuelle Gepräge aufdrüden, fo leugnen 
wir dieſes nicht, denn es verhält fi ja eben hiermit, wie 
mit den Portraits Friedrich II. und Napoleon’s, die auch 
der fchlechte Maler Leicht treffen Tann. Nur ift zu bes 
haupten, daß überhaupt apokryphiſche chriftliche Schrifte 
fteller auf Copirung der Individualitäten nicht ausgegan⸗ 
gen find; oder follte man wirklich in den altteftamentlis 
chen Pfeudepigraphen, in ben apofryphifchen Evangelien, 
in den Elementinen ein ſolches Streben, das doch immer 
mehr oder weniger ein Fünftlerifches zu nennen wäre, 
nachweiſen können? Die Charafterzüge nun des Apoftelg, 
die wir in feinen Briefen vorzüglich marfant finden, find: 
die Energie und das Feuer auf der einen, bie Befonnens 
heit und Klugheit auf der andern Seite, und beides vers 
einigt mit herzgewinnender Innigfeit und Wärme der Liebe. 
Wer könnte leugnen, daß unfrer Rebe diefer breifache 
Sharakterzug aufgeprägt iſt! Wenn es denn am Schluffe 
berfelben heißt: „umd es ward viel Weinens unter ihnen 
und fie fielen Paulo um den Hals und küſſeten ihn,” wer 





Reben bed Apoft. Patilus in d. Apg. x. 313 


findet dieſes nicht durch die vorangegangenen Worte, in 
denen das Gemüth des Apofteld in. feiner Größe wie in 
feiner Liebenswürdigkeit fich enthält hat, motivirt? 
„Ihr wiſſet — fo beginnt er B.18 — wie id 
Dom erſten Tage an, dba ih nach Afien fam, 
bei euch bie ganze Zeit über mich betrug, wie 
ih dem Herrn bienete mit aller Demuth uus 
ter vielen Thränen und Berfuhungen, bie 
mid trafen Durch die Nachſtellungen der Zur 
den; wie ih euch "nichts vorenthielt, was zu 
eurem Beten dienete, fondern euch verkün⸗ 
Dete und lehrete öffentlih.und in. den Häu— 
fern, indem ih Iuden und Griehen ermah» 
nete zur Bekehrung zu Gott und zum Glau— 
ben an unferu Herrn Jeſum Chrifum” — 
Wer erkennt hier nicht die echte Stimme jenes Apoftele, 
der 1 Thefl. 2, 10 der dortigen Gemeinde zuruft: „Des 
ſeyd ihr Zeugen.und Bott, wie heilig und ger 
recht und unfträflid wir bei euch, die ihr gläu⸗ 
big, geweſen find; wie ihr denn wiſſet, daß 
wir als ein Vater ſeine Kinder einen Jegli— 
chen unter euch ermahnet und getröftet und 
bezeuget haben, daß ihr wandeln folltet wärs 
bislih vor Gott, ber euch berufen hat zu feis 
nem Reich und zu feiner Herrlichkleit;” oder 
2 Kor. 6, 3.4: „Laffet und aber Niemand irgend 
ein Nergerniß geben, auf daß unfer Amt 
nicht verläftert werde, fondern in allen Dim 
gen laffet ung beweifen als Diener Oottes 
in großer Geduld in Trübfalen, in Röthen, ir 
Aengfien” u. f. f. Es fcheint auch zu den Eigenthüme - 
Hchleiten des Apoſtels zu gehören, Daß er vorzugsmeife 
fih fo _häyfig auf die Unfträflichkeit feines Wandels bes 
ruft; felix, ruft Bengel aus, qui sic exordiri potest, 
conseientiam auditorum testando. Zuweilen liegt die Ders 


314 Tholuck 

anlaſſung in ben Verleumdungen von Gegnern, wie wenn 
er 2 Kor. 1,12 fagt: „Unfer Ruhm ift der, näm⸗ 
lich das Zeugniß unfers Gewiſſens, dag wir . 
in Einfältigleit und göttliher Lauterkeit, 
nicht in Fleifhliher Weisheit, fondern in der 
Bnade Gottes auf der Welt gewandelt has 
ben, allermeiſt aber bei euch” — welche Widerfas 
her er bei dieſer Selbftrechtfertigung vor Augen habe, 
zeigt Kap. 11. Häufig aber quellen fie auch nur aus jener 
guten Zuverficht, mit der er auffordern kann, ihm nach⸗ 
zuahmen, wie er felber dem Herren nachahme, wie er 
2 Kor. 11, 1raft: „Seyd meine Nachfolger, gleich 
wie ich Chriſti!“ und Phil. 3, 15: „Folget min, 
liebe Brüder, und fehet auf die, die alfo wan⸗ 
Dein, die ihre uns habt zum Borbildel? In 
den andern neusefiamentlichen Briefen finden fich ſolche 
Selbſtzeugniſſe nicht und auch in ben Schriften andrer 
frommer Maͤnner möchten fie felten ſeyn, weßhalb 
wir denn anch berechtigt find, ihr Vorkommen in dieſer 
Rede als ein Kennzeichen bes hiftorifchen Charakters der⸗ 
ſelben zu betradhten. — Er babe — fagt er — dem Herr 
in Niebrigkeit, unter Thränen und Berfuchungen gedient, 
Thraänen theilnehmender Liebe erwähnt er 8. 315 
bier ift von Thränen des Schmerzes bie Nede, wie 
ber fonft gar nicht weidmäthige Mann =) folche auch 
2 Kor, 2, 4 und Phil. 3, 18 erwähnt Wie gerade bie ie 
Epheſus erbuideten Anfechtungen vor allen anbern ihm 
vor der Seele ftanden, fieht man baraus, daß er. auch 
2 Kor.15, 32 und 2 Kor. 1, 18 ihrer erwähnt — vielleicht 
eben des durch Demetrind erregten Vollstumultes — unb 
1 Kor. 16, 9 zwar von dem großen Eingange, den er im 
diefer Stadt gefunden, redet, aber auch von den vielem 
RIED U j e 

a) Bengel: lacrymae sanctae apud homines ac viros de re- 
bus naturalibus nunquam aut raro plorantes, egregium pr&s- 
bent spochuen efficaciae ot argumentum veritatis ohristianae. 


“ 


Reden ded Apofl. Paulus ind. Apg.ıc. 315 


Widerfachern. Er fpricht bier von Anfechtungen von Geis 
tem ber Juden; die Apoftelgefchichte hat davon nichts Bes 
ſtimmtes berichtet — man denke fich einen Augenblick den 
Fall, Paulus habe in feinen eigenen Briefen bes Tumuls 
tes de& Demetrius Erwähnung getan, wie würbe eine 
zweifelfüchtige Kritik fofort'zwifchen ben paulinifchen Brie⸗ 
fen und diefer Aeußerung in ber Rebe des Apoſtels einen 
fchreienden Widerfpruch nachweifen zn können glanben! 
nun, ba bie Apoftelgefchichte ſelbſt in ihrem gefchichtlichen 
Theile von jüdifchen Berfolgungen nichts eszählt und body 
der Apoftel in feiner Rebe es thut, muß man einfehen, 
daß beides neben einander beftehen Tann. Hier nämlidy 
fpricht Paulus im Hinblid auf feinen ganzen bretjährigen 
Aufenthalt in ber Stadt, während befien gewiß von den 
Inden mehr Feindſeligkeit ausgegangen war, als von ben 
Heiden, wie denn auch Kap. 19, 9 wenigſtens vorüberges 
hend die Keindfeligkeit der. Inden erwähnt und 1 Kor. 
15, 31 ee andruft: „Ich fterbe täglich,” d. h. ich bi 
töglich in Tobeögefahr, Er rähmt fich, baß er öffentlich 
und in den Privarhäufern a) das Evangelium verkündigt 
babe und nichtö von demfelben ihnen vorenthalten. Das 
Erſtere macht er dem Timothens zur Pflicht, wenn er ihn 
ermahnt, zu ber beftimmten Zeit und auch außer ber 
Zeit zu prebigen 2 Tim.4, 2, und hat e6 felbft gebt, 
auch in Theflalonich 5 von feinen Sabbathuorträgen ſpricht 
Die Apoftelgefchühte (Kap. ID, von feinen Privatvorträs. 
gen fpricht er felbft 1 Theſſ. 2, 115 das Andere, bie Pres 
digt ohne Menſchenfurcht und Gefälligkeit rühmt er öfters 
von fih (2 Kor. 4, 25 1Theſſ. 2, 4). Vielleicht Läßt ſich 
auch in Betreff der Sprache eine panlinifche Eigenthüws 
lichleit in dem zä0a taxsımoppoosvvn B. 19 nachweiſen. 
Mit befonderer Vorliebe nämlich fcheint gerade Paulus 


a) Bengel: ne apestolico quidem muneri tam late pa- 
tenti publica praedisatione satis ſiobat, quid pastoribns 
faciendum ? 











.. Y " [ a — — 
X — 
! 


diefen Gebrauch bed zäg zu lieben, auch in Fällen, wo es 


im Deutfshen weniger paſſend erfcheint a), vergl. Epheſ. 
1,3.85 4,25 6,18; 2Kor. 12, 12; 2Tim. 4,2; Tit.3,2; 
— 43 Tit. 2, 15. 

Der Apofkel fährt fort: „Und fiche, gebunden 
von Gottes Geiſt, ziehe th nach. Sernfalem, 
was mirbortgefchehen wird; wicht wiffend, ans 
Ber, daß .der heil. Greif in jeder Stabt mir 
bezeuget, daß Feffeln und Drangfalen meiner 
warten. Die Redensart: „Der Geift ſpricht, bes 
zeugt im Innern“ kommt vorzügsweile bei Lufas vor 
Luk. 2, 265 Apg. 8,29; 10, 19) und:begeichnet jene aus 
der Tiefe des Geiftes. heranffleigende Ahnungsſtimme, 
welche mit dem Eindrucke unzweifelhafter Gewißheit in 
dad Gemäth tritt und füch fomit ala Wirkung des göttlichen 
Geiſtes im: menfchlichen zu erkennen gibt. Es hat jedoch 
auch Paulus denſelben: Ausdruck 1 Tim. 4,1: „Deutlich 
fügt der Geiſt, daß in den letzten Tagen manche vom Glau⸗ 
ben abfallen werden ıc.” Die Verfolgung, welche in Ju⸗ 
bän ihm.brohete, hatte der Apoftel vom Anfang an als 
wahrfcheintich erfannt: und fchoh in dem von Korinth aus. 
gefchriebenen Briefe au die Nömer fpricht er Befürchtuns 
gen aus, Kap: 15, 31. Die innere. Gewißheit darüber ift 
ſeitdem immer ftärfer geworben ; auch andere Brüder fpres 
den: durch den Geift aus, mas er felbft vorempfand, Apg. 
23, 11, Wie .er. dort im Römerbriefe das Gebet feiner. 
Brüder erbitiet, um aus der Hand’ber verfolgungsflichtie 
gen Tuben — zu werden, ſo drnct ſich as hierin. 


a) Bekanntlich wirb ag * folgenden Artikel auch in der Be⸗ 
deutung jedmoͤglich d. i. das hoͤchſte gebraucht. Die Mei⸗ 
nung iſt nun nicht, daß dem Paulus dieſer Gebraud eigen 
gewefen, fondern nur ber Häufige und darum auch zuwei⸗ 
ten minder paſſende Gebrauch, wie z. B. Tit. 2, 15, wo Bir 
æcione dnırayis doch fo viel feyn fol wie BER, zÜOng 6RoV- 
Öjs ie dmırayis. 








Reben des Apoſt. Paulus in d. Apg.ıc. 317 


B. 22 u. 223 Wehmuth aus; allein wie er fonft in feinen 
. Briefen ald der Mann erfcheint, der Gefahren nicht wünſcht, 
aber auch nicht bor ihnen zittert, fo tritt auch hier B. 24 
Die ganze Kraft des panlinifchen Gemüths hervor, da er 
fagt: „Aber das ahte ich nicht und halte auch 
mein Leben nicht für zu thener, Daß ich meis 
nen Lauf nicht freudig vollenden follte und. 
das Amt, welhesich von dem Herrn Jeſu em 
pfangen habe, Das Evangeliumvondber®napde 
Gottes zu verfündigen.” 

Mer vernimmt nicht auch hier und Kap. 21,13 bie 
echte Stimme des Apofteld, der 2 Tim. 4, T am Ende feis 
ner Laufbahn ruft: „Sch habe einen guten Kampf ges 
kämpft, ich babe den Lauf vollendet, ich habe Gtauben 
gehalten! hinfort ift mir beigelegt die Krone der Gerech⸗ 
tigkeit, welche mir an jenem Tage der Herr, der gerechte 
Richter, geben wird, nicht mir aber allein, fondern Allen, 
die feine Erfcheinung lieb haben;” und Phil. 2,17: „Und 
ob ic) geopfert werde über dem Opfer und Gottesdienft 
eures Glaubens, fo freue ich mich und’ freue mich mit euch 
Allen.” Und wenn er des Amtes fich rühmt, das er vom 
Herrn empfangen, erfennt man barin-nidjt jenes ihn ers 
hebende Bewußtſeyn, mit.dem er am Anfange feiner mei« 
flen Briefe es ausfpricht, daß er eben ſowohl, als die 
andern Apoftel, durch Ehriftum felbft zum Apoftel ausers 
wählt worden fey ? 

Er fieht aber auch voraus, daß er mit denen, mit 
welchen er jegt fpricht, fernerhin nicht mehr aufammenkons 
men werde. „Und nun fiehe, ich weiß, Daß ihr 
nicht mehr mein Antliß fehen werdet, ihr Alle, 
durch Die ich mit der Predigt des Reiches Got 
tes hingezogen bin” Willer hiermit fagen, er wiffe, 
daß er in Sernfalen den Tod finden werde? Bom 
Tode hatten die Weißagungen, deren er vorher V. 22 u. 
23 gedachte, nicht geſprochen, auch — nicht (Kap. 

Theol, Stud. Jahrg. 1889. 








318 SIbholudk 


21, 11)5 jene Bitte an die Römer, daß fie ſeine Befreiung 
aus der Hand der Juden möchten erflehen;heifen, ſetzt 
hiermit Übereinftimmend. voraus, daß er den fchlimmften 
Ausgang der dortigen Berfolgungen nicht mit Gewißheit 
vorausſah; auch ſpricht er in Apg. 19, 212 „Nachdem ich 
in Ierufalem gewefen bin, muß ich auch Rom fehen” — 
wiewohl diefe Henßerung nicht als rin Ausfpruch des Geis 
fteß, fondern nur als ein Entfchluß, ein menfchlicher Ses 
danke erwähnt wirb (vergl. Röm. 1, 13)5 und daß foldhe 
Borfäße durch den Geift Gottes wieder gehindert werben 
tonnten, zeigt die fehr merfwirdige Stelle Apg. 16, 7, wo 
ed heißt, daß fie nach Bithynien zu gehen gebachten — 
aber es ließ fie nicht der Geift Sefa.”’ Wie ed 
in Betreff der Einficht in manche Lehrpunkte fich verhielt, 
dag fie gewiſſe Auffchläffe vom Geiſte ald unzweifelhaft 
erhielten, andere wieder nicht (vergl. 1 Kor. 7), fo fcheint 
es fich demnach auch mit dem Blicke in die Zukunft verhal⸗ 
ten zu haben, Nicht Alles, was fie wollten, fchloß ihnen 
der Geift auf; und fo wußte denn der Apoftel nur das 
mit Sicherheit, daß ihn Drangfale erwarteten; ob aber 
auch darüber hinaus der Tob verhängt feyn möchte, war 
ungewiß 9). Unter biefen Umftänden fieht man benn frei« 
lichauch nit, wieer mit Gewißheit habe verfündis 
gen können, daß er nicht mehr nach Kleinaflen kommen 
werde. Vielleicht verhält es fich num auch nur mit diefer 
Gewißheit der Furcht, wie mit jener Gewißheit der 
Hoffnung: im Briefe an die Philipper. Hat kine zweite 
römifche Sefangenfchaft flattgefanden, fo iſt ber Apoſtet 
wirklich noch einmal in.diefe Gegenden gekommen. — In 


e) Auch Phil, 1,20—26 bient dazu, fi ein Urtheil über bie 
Beſchaffenheit des Blickes des Apoftels in die Zukunft zu bils 
ben. Er weiß weder, daß er am Leben bleiben werde, noch 
von ber Hinrichtung , bie bevorftehe; er hofft aber in guter 
Zuverſicht, baß ex werbe erhalten werben. Vergl. hierüber 
die Ausführung, bie wir weiter unten geben. 





Reden des Apoſt. Paulus in d. Apg.x. 319 


phrafeologifcher Beziehung wäre zu fragen, od die Phrafe 
xnouooeiv ıhv Bacılalav rau Otoũ panlinifchfey. Sie fin, 
bet fich auch Kap. 28, 31 und in den drei erften Evangelien 
‚ ungVooav To svayyllov vg Pmcsislug. Der Ausdruck 
Baousla Gsoũõ finder fi indeß, wie bei Johannes und 
Jakobus, auch in den Briefen Pauli (Rom. 14,175 1Kor. 
4, 203 6, 9; Gal. 5, 21); mithin ift wohl: nichts Dagegen 
zu ſagen. 

„Darım bezeugeich euch am heutigen Tas 
ge, daß ich rein bin vom Blute eurer Aller, 
denn.ich habe euch nichts vorenthalten, daß 
ih euch nihtdengefammten Rathſchlag Got— 
tes verfündigen follte” Die Redensart: von dem 
Blute Aller ift proverbiel und daher nicht im eigent⸗ 
lihen Sinne zu nehmen (vgl. Apg. 18,6); fie fteht hier 
zur "Bezeichnung des geiftlichen Verderbens. Paulinifch 
tft der Berubigungsgrund, daß wenigfiens von Seiten 
des Predigers nichts verfehen fey und daß alfo, wer ins 
Berderben gehe, durch eigne Schuld verderbe, 2Kor. 4, 
2. 3. Der Ausdrud BovAn Tod Gsoö für den Inbegriff 
des Evangeliums ift zwar dem Paulus nicht eigenthumlich 
(nur Lukas hat ihn Luc. 7, 30, obwohl auch in etwas ans 
derer Beziehung); Die Idee ift jedoch panlinifch. 

„So habet denn auf euch ſelbſt Adht uub 
anfdie ganze Heerde, in welcher euch der heil, 
"Beift. zu Bifchöfen gefeht hat, zu weiden bie 
Kirche Gottes, die er mit feinem eignen 
Blute erworben hat.” Panlinifch ift hier zuvörderſt 
die Ermahnung an die Aelteſten, zuerft auf fi, dann auf 
bie Heerde zu ſehen; 1 Tim. 4,165 ferner, daß der heil, 
Geiſt ed ift, der für die Kirchenämter die Fähigkeit gibt ; 
1Ror. 12, 8). Die Lesart Kirche Gottes ſtimmt — 


a) Wird das geiſtliche Amt von der Seite betrachtet, daß es ein 
befiimmtes Glied im Organiimus der Kirche iſt, fo wird es 
gi» 





320 Tholud 

wenn fie bie echte ift — mit dem fiehenden pauliniſchen 
Sprachgebrauche überein; daß der Herr durch feinen 
Tod feine Gemeinde fich zum Eigenthum erworben, findet 
ſich auch Tit. 2, 14 ausgefprochen.. 

"„Dennich weiß dieß, daß nach meinem Weg⸗ 
gange reißende Wölfe unter euch eindringen 
werden, welche der Heerde nicht ſchonen, auch 
ans eurer eignen Mitte werden Männer anf⸗ 
fliehen, die Verkehrtes reden, um fid Jünger 
zu gewinnen. Darum wachet, eingedent, daß 
ih drei Jahr lang Nacht und Tag nicht auf—⸗ 
gehört habe, jeden Einzelnen unter euch mit 
Thränen zu ermahnen” Schon oben wurbe ers 
wähnt, daß bie in diefen Worten vorausgefehene Ge⸗ 
fahr wirklich eingetreten ift, und daß der Epheferbrief, 
bie Briefe an den Timotheus und die Offenbarung Sohans 
nis damit zufammenftimmen; vergl. vorzüglid; 1 Tim.4,1; 
Offenb. 2, 2. Der 31. Vers hat die größte Achnlichteit 
mit ber. vorher angeführten Stelle 1Theſſ. 2, 11. Be 
_ welchem andern Apoftel fände fich dieſes inftändige und 
inbrünftige Dringen in jeden Einzelnen, jene Seligkeit 
zu ſchaffen! 

„Und nun befehl' ich euch, — Gott 
und ſeiner Gnade Wort, der euch auferbauen 
kann und euch das Erbe unter allen Heiligen 
‚ geben.” Aehnlich, wie der Schluß eines panlinifchen 
Briefe; vergl. 3. B.: „dem aber, der euch befefligen 
kann nad; meinem Evangelium und ber Verfündigung 
Sefu,” Röm. 16, 25. Aufbauen, ein Ausorud, ber 
an Ephef. 2, 20 erinnert und auch nur im Sinne jener 





nad) paulinifcher Anſchauung auf den Herrn zurüdgeführt; 

_ wird es aber von Geiten ber dazu erforberlichen Befähigung 
betrachtet, fo macht ber @eift dazu nn 1Kor. Be 
2 Zim. 1, 6. 








Reben des Apoſt. Paulus ind, Apg.ıc. 321 


Stelle genommen werden kann. Merkwürbig ift feriter 
der Ausdrud sAngovoule Ev rois nyıaduzvors. ‚Schon das 
aavrsg ol nyınouivor, die Hervorhebung des Moments 
einer großen Gefammtheit derfelben erinnert an Ephef. 
3,18; der Ausdrud „das Erbe unter den Heiligen,” d. i. 
die Theilnahme an den. Gnadengütern, Die unter ihnen 
walten, ift ebenfalls eigenthümlich paulinifch und findet 
fih nur noch in Pauli Worten Apg. 26, 18 und Ephef. 
1,18. Sind wir berechtigt, die Zweifel an der Echtheit 
‚des Epheferbriefd als nichtig anzufehen, fo müflen wir in 
der Wahl dieſes Ausdruds in den zwei Stellen der Apoftels 
gefchichte entweder directer ober indirecter Weife die eigen» 
thümliche Phrafe auf Paulus zurückführen. 
„Silber und Gold und Kleidung hab’ ich 
keines vegehret; ihr felber wiffet, daß mei— 
nen Bedürfniſſen und derer mit mir dieſe 
meine Hände gedient haben. In allen Stüs 
den hab’ich euch gezeigt, daß man alfo arbeis 
tend der Shwadhen fih annehmen müffe und. 
der Worte des Herrn Jeſu gedenken, denn er 
hat feldft gefagt: Geben ift feliger denn Neb» 
men.” Hier tritt nun wieder ein dem Paulus ganz eis 
genthümlicher Zug hervor, fowohl in dem Kactum, daß 
er wirflid Handarbeit verrichtet hat, ale auch in ber Art 
und Weife, wie er dieſes Factum motivirt. Daß der Apos 
ftel gearbeitet habe und in welchem Handwerke, berührt 
Die Apg. Kap. 18. Seine Motive dafür lernen wir aber nur 
aus. feinen Briefen kennen, in denen er mehrmald auf bies 
. fen Punkt zurüdfommt, woraus erhellt, daß er ihm eine 
gewiſſe Bedeutung beigelegt habe, 1Theſſ. 2, 95 2 Chefl. - 
3, 7—9; 18or.4,12; 9,125 2 Kor. 11,8. Dabei bemerfe 
man noch den Dem Apoftel eigenthümlichen Sprachgebrauch 
von aodevng, wodurch er die im Glauben Unbefeftigten 
bezeichnet, wie Röm. 14,15 1Kor. 9, 225 1Theſſ. 5, MM. 
Zwar iſt von Mehreren bier dem Worte die Bedeutung: 


« 


322. hu 


die Armen gegeben worden; allen ber Apoſtel hat ja 
gar nicht bloß, damit den Armen Ausgaben erſpart wärs 
den, fondern, wie LKor. 9, 12 zeigt, nur um ben Bers 
dacht des Eigennutzes zu vermeiden — dem er auch bei 
Ueberlisferung der Gollecte für die Paläftinenfer vorbengt 
2Kor. 8, 20 — die Unterftiigung von Seiten der Gemeinden 
"abgelehnt. Noch machen wir aufmerkſam auf das ösırrıns 
gebrauchte al yeipss auraı, welches als urfprüngliche Res 
lation anzufehen feyn dürfte. — Auch das Citat eines 
fonfther nicht befarmten und doch den Stempel der Echt⸗ 


heit fo ganz an fich tragenden Audfprisches Ehriſti im - 


Munde des Apoftels ift bemerkenswerth ald ein unzweis 
deutiges Zeichen der Echtheit ber überlieferten Rede. 

Jeder Unhefangene wird eingeftehen müffen, daß der 
Schriftfteller, deffen HAberlieferte Reden im Ganzen und 
Einzelnen fo überaus treu dem Charakter, den fonftigen 
Henßernngen, ja mitunter auch der Ausdrucksweiſe des 
Mannes, den er rebend einführt, entfprechen, bie gute 
Zuverficht verdient, ein gewiffenhafter Berichterftatter zu 
feyn. 

Allein ganz anders lautet das Urtheil, welches eben 
in Bezug auf biefe Rede Hr. Dr. Baur fält. „Diefer 
ganzen Abfchiebsrede” — fagt er in feiner Schrift über bie 
Paftoralbriefe S. 93 — „ſieht man ed doch, wie ich wes 
nigftend urtheilen muß, gar zu beutlih an, baß fie 
post eventum geſchrieben if? — „Mit welder 
Beftimmtheit” — fo führt Baur diefen Nachweis ein — 
„seht der Apoftel fchon jeßt fein ganzes Fünftiges Schickſal 
voraus, feinen in Banden und Gefangenfchaft endenben 


apoftolifhen Lauf! Es [Er] ift ſchon jetzt dedeutvog co 


avevuori, ſieht fich ſchon jeßt im Geifte gebunden, iſt 
ſchon jegt im Begriffe, reAsısonı rov Öpouov, weiß ſchon 
jeßt, daß er von allen damals Anwefenden künftig feinen 
mehr fehen werde. Und doch war von jenem Zeitpunfte 
bis gu feinem wirfichen Ende immer noch eine Zeit von 





Heben bes Apoft Paulus ind, Apg.ıc. 323 


— vier Jahren, in welcher wir den Apoſtel, wenn 
wir, wie natürlich, den zweiten Brief an den Timotheus hier 


nicht in Betracht ziehen, nie mehr eine ſolche beſtimmte Er⸗ 
wartung ſeines endlichen Schickſals, vielmehr die gerade 
entgegengeſetzte Phil. 2, 24 ausſprechen ſehen. Wie kommt 
es, daß er gerade nur in jenem Momente, welcher doch der 
endlichen Kataſtrophe ˖noch am fernften lag, ſich anf dieſe 
Weiſe ausfprah? Wollte man aber auch, um Alles dieß 
begreiflich zu finden und in dieſem ganzen Abfchnitte ber 
Apoftelgefchichte nichts Anderes, als die volllommen treue 
Relation Des damals Gefprachenen und Gefchehenen zu 


fehen, in dem feierlihen Momente jener Abſchiedsſcene 


eine ganz außerordentliche Erleuchtung des Hinausblicks des 
Apoſtels auf fein künftiges Schickſal annehmen, fo entfieht 
ja dadurch gerade der größte Wiberfpruch zwifchen biefer 
Rede und den Paftoralbriefen. Kann die Echtheit biefer 
Briefe, wie die gründlichften DBertheidiger derfelben ans 
nehmen, nur durch Die Borausfebung einer zweiten römis 
ſchen Sefangenfchaft des Apoſtels Paulus gerettet werden, 
fo gefchah ja das gerade Gegentheil von demjenigen, was 
die prophetifche Abfchiederede ankündigt. Der Apoftel 
kam ja, wie bei diefer Anficht angenommen werden muß, 
wirklich zwifchen ber erften und zweiten Gefangenfcaft 
wieder eben in dieſe Gegenden u. f.w.? _ 

| Es iſt ein breifadyes Bedenken, welches dieſe Worte 
gegen die Echtheit der betreffenden Rede der Apoſtelge⸗ 
ſchichte ausſprechen: daß der Apoſtel mit ſolcher Beſtimmt⸗ 
heit die Zukunft vorausgeſagt haben ſollte, daß er ſie auf 
eine ſolche Weiſe vorausgeſagt haben ſollte, die mit Phil. 
2, 34 in Widerſpruch ſteht, und daß, wenn ja in dieſer 
Abfchiedsfcene eine ganz außerordentliche Erleuchtung des 
Apofteld angenommen würde, gerade dadurch, die Echt« 
heit der Paftoralbriefe, nach welchen ein abermaliger Ber 
ſuch Diefer Gegenden von Paulus angenommen werben 
müßte, am meiften gefährdet erfcheinen müßte. — Rück⸗ 


324 Tholuck 


ſichtlich des er ſten Bedenkens fragen wir nun im Gegen⸗ 

theile: haben wir denn in dieſen Worten des Apoſtels eine 
fo ungewöhnliche Beftimmtheit der Weißagung? hat er 
etwa ausgeſprochen, daß man im heiligen Tempel ihn ers 
greifen, vor das Synedrium in Terufalem und vor ben 
Landpfleger in Eäfarea führen würde u. dgl.? Gerade im 
Gegentheile find gar Feine Detaild angegeben, ift einzig und 
allein von Trübſal der Sefangenfhaft die Rede — 
hält fich alfo diefe Verkündigung in dem Gebiete ber Ah⸗ 
nung, wie fi diefelbe wohl auch im gewöhnlichen 
Gange des Lebens findet, fo daß gerade in diefer Hinficht 
jeder Berbacht fpäterer Unterfchiebung die höchfte Unwahr⸗ 
fcheinlichkeit‘ befommt. Freilich fpricht der Apoftel mit eis 
ner ganz zweifellofen Gewißheit von ber bevors 
fiehenden Gefangenfchaft und bezeichnet dieſe Gewißheit 
ihrem Quell nach als eine Offenbarung des Geh 
ſtes Gottes, und boch fol diefer fo znverläffig gethane 
Ausfpruch in directem Widerfpruche mit Phil. 2, 24 fies 


“ ben! Denn während in diefer. Stelle und Phil. 1, 25 der 


Apoftel, feinem letzten Ziele fo nahe, bie freudige Zuvers 
fit der Errettung ausfpreche, mache er fich dort in der 
viel früheren Rede auf feinen Tod gefaßt. Allein ift dies - 
ſes richtig? Liegt denn in Apg. 20, 24 eine Weißagung 
bes Todes, oder nicht vielmehr bloß die Bereitwils 
ligkeit, ihn zu übernehmen? Liegt etwas Anderes darin, 
als in Apg. 21, 13, wo &toluog Eyo fteht? Mir haben 
ſchon oben bemerkt, daß diefe dem Apoftel geworbene Of⸗ 
fenbarung fih bloß auf die Gefangenfhaft bes 
- fchränte und vom Tode hier fo wenig die Rede fey, ale 
in der verwandten Stelle Röm. 15, 31. Und auch wenn 
er ausfpricht, er würde die Gemeinde nicht mehr wiebers 
- fehen, deutet denn das mit Nothwendigkeit auf feinen Tod? 
Wenn er bis nach Spanien hin gegen Weiten reifen wollte, 
konute nicht auch diefes eine Rückkehr nach Kleinaſien vers 


Reben bes Apofl. Paulus in d. Apg. x. 325 


binden? — Allein Paulus erflärt, daß er nicht wieder 
nach Kleinaflen kommen werde, und doch ift er — bie 
Echtheit der Paftoralbriefe vorausgefegt — wieder das 
hingefommen. Wie nun aber? Haben diejenigen Kritis 
fer Recht, welche eine zweite Sefangenfchaft beflreiten, 
werden fie nicht dann darin, daß diefe Rede eine folche 
nicht vorauszufegen fcheint, einen Beweis ihrer Echts 
beit finden müflen? Darüber indeß, daß V. 25 nicht noth⸗ 
wendig als ein ans Offenbarung geflofiener Ausfpruch zu 
faffen fey, haben wir und fchon oben erflärt. Warum 
hat der Apoftel nicht auch hier, wie V. 23, gefagt, daß 
der Geift es ihm bezeuge, er werde dieſe Gegenden nicht 
wieberfehen? warum hat auch die Prophetie des Agabus 
Kay: 21,11 davon gefchwiegen? Wir kommen noch eins 
mal auf Phil.2, 24.1, 25 zurüd. Hier fpricht der Mann 
Gottes mit einem nenodog oda und ntzoıde iv auglo 
aus, daß er am Leben bleiben werde, und nichts befto 
weniger erklärt er 2, 23, daß er erſt abwarten wolle, was 
mit ihm gefchehen werde, und 1, 20, daß er noch nicht 


wiffe, ob Ehriftus durch feinen Tod oder fein Leben vers 
herrlicht werben folle. Enthalten nun diefe überaus ſtar⸗ 
Ben Aeußerungen der Zuverficht Doch noch nicht abfolute 


Gewißheit, wie kann man diefelbe aus dem old« in unſe⸗ 
ver Stelle folgern? Mit welchem Rechte will man den 
Bertheidigern einer dopelten Gefangenfchaft zum Vorwurfe 
machen, daß fie das old« als ein unerfülltes anfehen, wenn 
die Vertheidiger Einer Sefangenfchaft es als ein unerfülltes 
anfehen müffen I? Hat die Einfprache bed Geiſtes dem 
Apoftel fund gethan, daß große Drangfal und Bande 
feiner warten, was war natürlicher, als daß im Augens 





a) „Auch darf man” — fagt Winer im Realwoͤrterbuch s.v. Pau- 
Ius — „bad zaroıdag old« bei einem fo lebhaften Geiſte, als 


der des Paulus war, nicht in feiner ganzen Strenge nehmen.” 





3236 Tholuck 
blicke des Scheidens die Wehmuth ihm eingab, er werde 
dieſe Gemeinde nicht mehr wiederſehen? Es wurde ſchon 
bemerkt, daß auch auf dem Gebiete der Lehre die Stelle 
1Kor. 7, 40 und einen hohen Grab der Gewißheit beim 
Apoftel zeigt, und daß doch auch dieſe Gewißheit für ihn 
feine abfolute, nur eine Meinung if. | 
Es find indeß die erwähnten Gründe aud, nicht bie 
eigentliche Veranlaſſung gemwefen, aus welcher vom Hrn. 
Dr. Baur die Echtheit unferer Rede in Zweifel gezogen 
worden ifl. Der eigentliche Grund ift dieſer. Die Stur 
dien der Älteften Firchenhifterifcden Denkmäler, vorzüglich 
ber Glementinen, haben dieſen Hiſtoriker zu einer folhen 
Binfchauung der hiſtoriſchen Verhältniffe des zweiten Sahrs 
hundertö geleitet, nach welcher er fich gedrungen fühlt, 
den Urfprung der Paftoralbriefe in das Eude des zweiten 
Jahrhunderts zu feten. Er findet, daß diefe Rede der 
Üpoftelgefchichte dieſelben hiſtoriſchen Verhältniffe voraus⸗ 
ſetzt, wie die Paſtoralbriefe: ſo muß ja denn auch ſie un⸗ 
hiſtoriſch und unecht ſeyn. Allein es iſt dieſes nicht das 
einzige Opfer, welches er der von ihm gewonnenen An⸗ 
ſicht von den hiſtoriſchen Verhältniſſen des zweiten Jahr⸗ 
hunderts bringt. Die Stelle Phil. 1, 1 will ſich ebenfalls 
nicht in jene Anſicht fügen, und ſo muß auch dieſer Brief 
in die Elaſſe der un echt en Briefe des N. T. geſetzt wer⸗ 
den (uber die Paſtoralbriefe S. 86). Er hat ferner ges 
funden, daß mehrere Stellen der Paſtoralbriefe uns in 
eine Zeit verfeßen, „in welcher Chriftenverfolgungen nichts 
Ungewöhnliched waren;” Aehnliches ‚findet er auch im 
erften Briefe Petri, Kap. 4, 14, und da er ohne Zweifel 
auch noch andere Bedenken gegen diefen Brief hat, fo 
läßt er die Echtheit auch diefer neuteftamentlichen Schrift 
fallen (S. 127). Aber auch der Brief an die Koloffer 
iſt jenen Anfichten, welche Hr. Dr. Baur über die Pas 
ftoralbriefe gefaßt hat, entgegen, und nad ber Auſicht, 


4 








Reben des Apoſt. Paulus in d. Apg.ıc. 327 


bie er in feiner neueſten Schrift „Aber den Urfyrung 
Des hriftl. Epiflopats” aufgeftelt, ift auch die 
Edytheit dieſes Briefes zurüczumeifen (S. 36). Anch ber 
Brief an die Ephefer und das 16. Kap. des Briefs an 
die Römer hat jenen Anfichten ſich nicht gefügt, und bie 
Echtheit dieſes Kapitels wie jenes Briefes ift gleichfalls 
benfelben zum Opfer gebracht worden. Was follen wir 
nun hierzu ſagen? Aus wie gründlichen Korfchungen and) 
immerhin die Anfichten dieſes gelehrten Hiſtorikers über 
bie hiftorifchen Berhältmiffe der zwei erften Sahrhunderte 
hervorgegangen ſeyn mögen, immer find es nur finnreiche, 
and einer Anzahl einzelner Notizen und Detaild aus dem 
Alterthume abgeleitete Gombinationen, welche auch bie 
. jeßt diefem Kritiker allein eigenthämlich find, von andern 
Seiten her aber bie verfchiebenartigften Gegner finden, 
Gredner, Rothe, Neander, Baumgarten, Bött⸗ 
gern. A.: fo muß ed und denn geftattet feyn, jenem Ket⸗ 
tenfchluffe gegenüber, deſſen erſtes Glied die Anfchauung 
des Hrn. Dr. Baur von ben hiftorifchen Berhältniffen 
bed erften und zweiten Sahrhunderts ift, das legte, die 
Unechtheit von Briefen von fo burch und durch panlinis 
fchem Geifte, wie der Brief an die Philipper und Kolofler, 
einen andern Kettenfchluß aufzuftellen, in welchem das 
erftie Glied die Echtheit der noch von Niemand außer Dr. 
Banr angefochtenen Briefe an die Philipper und Kolofs 
fer, und deren letztes Glied dann freilich die Uinrichtigfeit 
feiner Sombination der Berhältniffe der erften beiden Sahrs 
hunderte feyn würde. Muthen wir auch dem hiftorifchen . 
Forfcher nicht an, Anfichten, welche von verfchiedenen 
Seiten her fid, ihm ergeben und zu einem Ganzen zuſam⸗ 
mengefügt haben, folchen biftorifchen Autoritäten gegens 
über, wie die erwähnten paulinifchen Briefe, ohne Weis 
teres aufzugeben, fo wird man body mit allem Rechte 
bie Selbftverleugnung yon ihm fordern müſſen, nicht eher 


* 


— 


328 Tholuck, Reden d. Ap. Paulus Ind. Apg. zc. 


in feine eigenen Combinationen ein unbebingted Zutrauen 
zu feßen, als bis noch von.vielen andern Seiten her we⸗ 
fentliche Gründe ſich ergeben haben, in die Echtheit fo 
unbeftrittener Documente, wie die erwähnten Briefe, efs 
nen Zweifel zu feßen. Hierbei bleiben wir jedoch nicht ſte⸗ 
hen, fondern haben noch Eines hinzuzufügen. Auch uns 
hat fich eine Anfchauung der hiftorifchen Verhältniffe des 
zweiten Jahrhunderts gebildet, eine folche, nach der es 
ung ganz undenkbar erfcheint,, bag Leute aud der hriftlis 
chen Gemeinde jener Zeiten den Tact befeffen haben follten, _ 
untergefchobene Schriften zu verfertigen, welche nach Gef 
und Charakter fo den echten panlinifchen entfprechen, wie 
die Briefe an die Ephefer, Kolofier, Philipper und and 
bie hier behandelte Rebe bed Apoftels an die ephefinifchen 
Aelteſten. Auch ift unfere Anfchauung nicht bloß aus einer 
Combination vieler vereinzelter und disputabler Des 
taild hervorgegangen, fie gründet fich vielmehr auf bie 
große Anzahl anerfannter, apofrpphifcher und pſeud⸗ 
epigraphifcher Schriften jener Zeit. Kann unfere Anficht 
nicht aus dieſen widerlegt werden, fo müffen wir Die 
Vermwerfung der Echtheit der erwähnten FOREN: 
Briefe für einen — — halten. 





329 
2. 


Noch ein Wort 
über ; 
die Stelle in Juſtinus des Märtyrers Apologie 1,p.56: 


— air Eueivov ve (dE0v) Hal Tov zag avrod vlöv &- 

Hövra vol Ödcdkevrn Nuig Taüra xal Tov av Allov. 

Eroutvav xal Ekouosovulvov dyadav ayylimv oroc- 

rôvu RVEeÜünd 75 TO RE0pnTınoV "VEßousde Kal E00- 
KUVOUUEV, — 


Vom 
Director Haſſelbach in Stettin. 


Sn den theologifchen Studien und Krititen ift vor 
einiger Zeit ©) zweimal, Sahrg. 1833. H. 3. ©. 772 ff. und 
H. 4. ©. 1163 f., von der vorfiehenden Stelle des 
Suftinus Die Rede gewefen, ohne daß damit meines Er⸗ 
achteng Alles abgetban und ein volllommen richtiges Ver⸗ 
ftändniß derfelben zu Wege gebracht worden. Ed mag 
darum vergönnt ſeyn, hier noch einmal auf fie zurückzu⸗ 
fommen, wenn fie gleich friher-fchon zu ben vielbefproche- 
sen auf dem Gebiete der Patriftit gehörte. Katholiken 
nämlich und Proteftanten, Antitrinitarier von mancherlet 
Farben und ihre Gegner haben zum Theile mit der eifernd> 
fien Polemik an ihr hin und her gebentet und ihr eine 
Dogmatifche Wichtigkeit verliehen, an welche ihr fchlichter 
Berfafler, zumal in feinem pornicänifchen Sahrhunderte, 
wo a das Ehriftenthum mehr in freier Unmittelbarfeit 


a) Aus einiger Zeit find einige Sabre geworben burch zufällig vers 
fpätete Einſendung des lange entworfenen Aufſatzes. 
D. Ber. 


330 Saſſelbach 


des Lebens, als in dem einengenden Buchſtaben abge⸗ 
meſſener Satzungen wirkſam erwies, ſicherlich nicht dachte. 
Ich befinde mich, hauptſächlich durch Voranſtalten zu einer 
ehemals beabſichtigten neuen Bearbeitung und Herausgabe 
der unbeſtreitbar echten juſtiniſchen Schriften, d. h. der 
ſogenannten beiden Apologien und des Geſpräches mit 
dem Trypho, in dem Falle, eine Ueberſicht von den er⸗ 
heblichſten Erflärungsverfuchen, die man mit unſrer Stelle 
vorgenommen, geben zu können, wie fie zur Einleitung 
des eigenen bier nicht ungehörig erfcheinen dürfte. 

Zuvörderft hatte Joh. Dall äus in feiner Disput. adv. 
Latin. de cult. relig. obi. tradit. 1, 8. p. 38 — 39, zur Bes 
tampfung der dellarminifchen Parermenie, wie er fie 
nennt, bie in unfrer Stelle eine Autorität für den katho⸗ 
lifchen Engeldienft habe ‚ausfindig machen wollen, Die 
Engel als parallelen Accufativ zu Nuüs genommen unb 
dadurd; zu belehrten, nicht verehrten Weſen gemacht, ins 
dem er ſich dabei theils aufdie bald nachfolgende Stellep.60, 
wo lediglich von: der Anbetung Gottes, des Sohnes und/ 
des Geifted ohne alle Ermähnung der Engel gefprochen 
werde, theild auf Ephef. 3, 10 berief und nicht unterlieg, 
zu bemerken, baß bereitd Joh. Lange in feiner lateiniſchen 
Uebertragung bes Juftinus CBasil: 1565 f.), obgleich ſelbſt 
ein Römifchlatholifcher, dennoch die Stelle mit der ges 
fliſſentlichſten Verwahrung gegen alle Zweidentigkeit nicht 
Anders, als er, verftanden habe. 

Darauf fand fid) der befaunte Vorfechter der engli⸗ 
ſchen Epiſcopalkirche, Georg Bull, durch das Aufkom⸗ 
men unitarifcher Lehrmeinungen zu feiner defensio fidel 
Nieaenae veramlaßt, in welcher er der fchreienpften Miß⸗ 
helligkeiten ungeachtet fich bemühte zu zeigen, daß bie im. 
dem nicänifhen Symbole enthaltenen Beftimmungen mit 
bem angeblich allgemeinkirchlichen Lehrbegriffe der drei 
.erften Jahrhunderte im vollften Einklange fländen, und 
seot.2, c.4,.5.8 auch die fragliche Stelle bes Juſtinus feis 





Noch ein Wort üb. Juſt. d. Märt. Apol. 1, p. 56. 331 


ner Behandlung unterwarf. Er wiederholt faſt buchftäb- 
lich Lange's Verſion nur mit der unfcheinbaren Umftellung 
des ista nos in nos ista, wodurch er jedoch, wie fich bald 
näher ergeben wird, eine von der des Langer Dalläud vers 
ſchiedene Conftruction dee Engelheeres andentete, und 
mit der feinem Zwede entiprechenden nneigentlichen Abs 
änderung, daß er die Worte atque nos ista bis docuit eins 
Hammert, wodurch er ben anflößigen Eugeldienft am bes 
quemften und angenfälligften aus dem Wege zu räumen 
und zugleich mit den erwähnten Vorgängern dem h. Geifte 
einen würdigeren Plag zunächlt dem Sohne anuzumelfen 
gedachte. Sein einige Jahre fpäter gegen den Remon⸗ 
firanten Simon Episcopius und beffen Anhänger in Engs 
land abgefaßtes Indicium ecclesise catholicae trium primor. 
saecc. etc. Amstel. 1696, 8, das laut der Borrebe als eine 
Eoronis zu feiner defensio fid. Nie. fol betrachtet werden 
können, und in welchem er insbefondere die Behauptung 
zu beftreiten fucht, daß in den erften drei Sahrhunderten 


der Kirche eine genauere Auffaffung des Berhältniffes der 


Gottheit des Sohnes zu ber des Vaters für nicht noth⸗ 
wendig zum Heile der Gläubigen gehalten, und die Ges 
meinfchaft auch mit folchen Ehriften nicht aufgehoben wors 
den, die Ehriftus für einen bloßen Menfchen hätten gelten 
laffen, diefe Schrift fann hier übergangen werden, da fie 
nnfre Stelle zwar abermals in aller Unbefangenheit als 
Zengniß der Vebereinftimmung ihres Verfaſſers mit dem 
nicaniſchen Glaubensbekenntniſſe benutzen möchte, das 
Recht dazu aber nicht weiter begründet, vielmehr anch jene 
andre, einer nähern Beleuchtung hier vorzubehaltende ju⸗ 
finifche Stelle aus dem Gefpräche mit Trypho p. 267, auf 
weldye Der Gegner fi) vornehmlich ſtützte, um dieſe Stütze 
ibm wo möglidy ganz zu entziehn, Durch eine grundlofe 
Eonjectur entftellt und außer dem Einfchwärzen von 
Juden ˖ſtatt an auch fonft ſchwerlich Aberall richtig 
auslegt. 





32. 0° Haffelbadh 


Inzwischen fchrieb Gilbert Clerke, wie ſich nach Baum⸗ 
garten Hall. Bibl. Th.3, S. 544—548 und Bock Hist. anfitrin. 
Th. 1, p. 192 ss., der feiner Heterodoxie wegen übel bes 
rufene und hinter falfchem Namen ſich veritedende Samuel 
Crell genannt haben fol, feine ohne Angabe des Druds 
ortes 1695, 8. erfchienenen Tractatus tres, von denen ber 
Ießte per Anonymum, wie der Titel befagt, gegen Bull's 
Indicium eccl. cath. gerichtet war. Schon in dem eriten, 
dem. Anute- Nicaenismus ,, in welchem er den ihm gleichges 
finnten Bidell gegen Eftwid in Schuß nimmt, bemerft er 
p. 5 zu unfrer im Wefentlichen richtig von ihm überfeßten 
Stelle, daß Juſtinus den h. Geift wohl nicht als den höch- 
ften Gott gedacht haben werde, da er ihn fo fohlechtweg 
mit den Engeln zufammenftelle, im zweiten aber, in wels 
chem er die num erſt erwogenen Hauptpunfte der defensio 
fid. Nic. ſämmtlich zu widerlegen unternimmt, beurtheilt 
er p. 104—106 die bul’fche Erklärung der Stelle ausführs 
licher. Was er indeffen an der verfchrobenen, durch Die 
Parentheſe nichtsweniger als ausgeglichenen Wortfolge ber 
Heberfegung rügt, trifft mehr den Soh. Lange, von wel 
chem, wie gefagt, Bull diefelbe bis auf die Feine Umſtel⸗ 
lung und. die Klammern entlehnt hatte. Den b. Geiſt, 
meint er, verbinde Juſtinus fo mit den Engeln, ald ob . 
er einer aus. ihrer Mitte, wiewohl ein Häuptling unter 
ihnen, ein nysuovınog, wäre, der er denn auch, wie immer 
Juſtinus ihn fich vorgeftellt Haben möge, wirklich fey, and 
es fireite hiermit die Wortftellung, wie allbefannt, nicht 
(„neque repugnat ordo verborum, ut omnes norint”, bei 
welchen Worten Clerke freilich nicht ahndete, daß man 
bis in die neuefte Zeit Anftoß nehmen würde an einer vers 
leßten Etifette, wodurd in der Aufzählung des Juſtinus 
die Engel ungebührlic, den Bortritt vor dem Geifte ers 
hielten), da ja auch Ehriftus in dem Ausfpruche: Sch und 
der Vater find Eins, fich zuerft nenne, ohne darum grös 
‚ Ber als der Vater feyn zu wollen. Auch laſſe fich aus ben 








Noch ein Wort üb. Zufl. d. Märt. Apol. 1, p. 56. 833 


voranfgehenden Worten bed Berfafferd, wonach Die Chris 
ſten ihrer Lehre gemäß die heibnifchen Götter ald böfe 
Dämonen verwürfen, fein zureichenber Grund für die bes 
ftrittene Erklärung bernehmen, weil hier fein unmittels 
barer Gegenſatz zwifchen dem Belehren über die böfen 
. und Über, die guten Engel hervortrete Es nöthige ja 
aber überhaupt nichts, den Worten des Juſtinus Gewalt 
anzuthum. Denn die Spololatrie ſey nun einmal in bie 
Ehriftenheit allmählich eingedrungen, nicht ohne alle Schuld 
der befier benfenden Chriften. Ta es habe Zuftinus zu 
weit geführt werden können durch fein Beſtreben, bem 
heibnifchen Vorwurfe, daß die Chriſten Atheiſten ſeyen, 
oder nicht Götter genug hätten, zu begegnen. Der hier⸗ 
nach zu erachtende Sinn der Stelle ſcheine wie von ſelber 
zu fließen aus dem Zwecke der ganzen Apologie, welchen 
ohnehin Athenagoras durch eine ähnliche aus ähnlicher 
Abſicht entſprungene Aufführung der Engel außer Zwei⸗ 
fel ſetze. 

Um nun die Einwürfe des Gegners, wenn es gelingen 
wollte, zu entkräften, ließ Bull es an einer Erwiderung 
“nicht fehlen in feinen Breves animadverss. in traetat. Gilberti 
Clerke etc, (©. Some important points of primitive Christia- 
aity maintained and defended; in several sernions and other 
discoursesby G. Bull. sec.ed. Lond. 1714. V. III. p.996—1064). 
Er erinnert hier in Bezug auf unfre Stelle zuerft, daß im 
Borhergehenden Gott der wahrfte heiße, nicht, wie Clerke 
- gemeint, zum Unterfchiede von Sohn und Geift, fondern 
den fo eben gedachten Wahngöttern der Heiden gegenüber, 
fchließt dann aber weiter, wofern Sohn und Geift nicht 
- auch wahrer Gott wären, fo würde bie Schnutzrede für 
die Chriften bed Nervs entbehren, da fich diefe Durch Ans . 
betung jener Weſen der nämlichen Schuld der Abgötterei, 
deren fie die Heiden bezichtigten, theilhaftig machen wärs 
den, und bringt für die, wie ihn bedünkt, nothwendige 
Verknüpfung des dsdakavrz mit bem Engelheere, ald dem 

Theol. Stud. Jahrg. 1839. 2 


f 


334 Haſſelbach 
Gegenſtande der Belehrung, einen Beweis bei, den er 
ſelbſt unbekümmert um den wohl gar darin ſich abrundens 
den Zirkel für ein irrefragabile argumentum ausgibt. Wenn 
man nämlich conftruire, wie Clerke wolle, fo folge auf 
das Augenfcheinlichfte, daß nicht bloß Tuftinus den Ens 
geldienfk gebilligt, ſondern die Kirche feiner Zeit ihn auch 
geübt haben müſſe. Nun ſtehe aber feft, daß ein ſolcher 
während der drei erften Jahrhunderte und fpäter noch im 
ber allgemeinen Kirche völlig unbekannt geweſen; es bleibe 
alſo nichte weiter übrig, ald daß man fich zu der einzig 
richtigen, von ihm (Bull) nachgewieſenen Eonftruction 
bequeme. Die andern Engel ſähen offenbar auf bie 
vorher erwähnten böfen zurück, über welche die Chriften, 
vobgleich die Heiden in ihnen ihre Götter verehrten, durch 
Ehriftus (dsdakavre) eines Beflern belehrt worden. Ebenfo 
feyen die Ehriften auch über die andern Engel unters 
richtet, nämlich daß fie gute wären und an Heiligkeit 
ihrem heiligften Schöpfer zwar ähnlich, aber nur Eropevos 
worin die Metapher a pedisequis, qui dominos suos a 
tergo sequi solent, hergenommen) und darum nicht göttlich 
zu verehren. Was den abgefhmadten Einfall, in dem 
h. Geiſte felbft einen Engel entdecken zu wollen, anbelange, 
fo bebürfe. derſelbe keiner mühfamen Widerlegung, ba es 
nur allzu gewiß ſey, baß weder Juſtinus noch feine chriſt⸗ 
lichen Zeitgenoffen den h. Geiſt den Engeln beigezählt hätten, 
Nunmehr nimmt Joh. Ernft Grabe in feiner Aus⸗ 
gabe ber erfien Apologie bed Juſtinus Oxon. (1700. 8) übex 
anfre Stelle das Wort mit der Miene, Eigenes und Neues 
vorzubringen, obgleich er doch eigentlich nur burch einem 
Widerhall der Auslegung des freilich von ihm verfchwies 
genen Daläus Andere meifternd zurückweiſen möchte. Er 
mißbilligt die Erklärung des Perionins und andrer Katho⸗ 
liken, die varsa von zul durch ein Komma trennten und 
eine Engelvercehrung ausgeſagt fänden, als der Meinung 
des Schriftſtellers gänglich wiberfirebend, ba biefer p. 60 nur 


L) 


Rod ein Wort üb. Juſt. d. min, Apol. 1, p. 56. 335 


von der Verehrung des Vaters, Sohnes und h. Geiſtes, 
ja p. 63 von der alleinigen Anbetung des Vaters ſpreche, 
ohne der Engel weiter zu gedenken. Deßhalb hätten die 
‚ Proteftanten in ihren Controverſe gegen ben Engeldienft, 
fowie Bull in feiner def. fid. Nic, mit Recht zwar der Bers 
drehung ber Worte (prevae verborum detorsioni) inhalt 

gethan, den echten Sinn derfelben aber freilich nicht ges 
troffen. Juſtinus wolle nämlich fagen, Ehriſtus habe jenes 
(reine, ista) von dem wahren Gott, dem Bater aller 
Tugenden, beiden, den Menfchen ſowohl ald den Engeln, 
geoffenbaretz und für letztere beruft er fich auf Cpheſ.8, 10 
und Irenaͤus 2, 55. 

Dan. Whitby fobann, der ſchon in feiner diaserta- 
tio de Scripturarım interpretatione seeundum Patrum com- 
mentarios, Load. 1714. 8. ſich darüber ald über ben dritten 
Hauptpunft feiner Schrift yerbreitet hatte, daß Streitigs 
feiten, die fich Über die Trinität erhöben, nicht burch 
Kirchenväter, Goncilien oder katholiſche Tradition ges 
fchlichtet werden könnten, unterwirft zwar in feinen dis- 
quisitianes modestae in elariss. Bulli defena. fid. Nic, Lond. 
1718.8.— worin er ausführlicher noch, als vorihm Elerte, 
die Nichtigkeit der angeblichen Uebereinftimmung aller vor⸗ 
nicänifchen Väter mit den nichnifchen darthut — von p. 23 
an fammtliche zur Lehre von der Trinität gehörige Stellen 
des Juſtinus einer genaueren Prüfung. Da er inbeflen 
p. 37 nicht den ganzen Inhalt unfeer Stelle, namentlich 
nicht foweit er die Engel angeht, in den Kreis feiner befcheir 
denen Unterſuchungen zieht, fo brauchen wir uns hier nicht 
länger bei ihm aufzuhalten. 

Bald nachher nennt Styan Thirlby in feiner Aus⸗ 
gabe der Apologien und des Geſpräches mit dem Trypho 
(Lond. 1722. £,) die nad) saure nicht interpungirende pror 
Keftantifche Erflärung hart unb meint, was Grabe gebe, 
wohl fchon bei Range, deſſen weitzugefchnittene Berfion ſich 
allerdings auch ber grabefchen Auslegung aubequemen 

22 * 


330 Hafkiba 


möchte, anzutreffen, fügt dann aber, ohne felbft etwas 
zum Beften zu geben, wunderlich genug, wie er mitunter 
pflegt, hinzu, er für feine Perfon habe nun einmal be⸗ 
fchloffen, in dem vorliegenden Werke mit theologifchen 
Streitfragen fich nicht zu bemengen ; — als ob ein folcher 


= Beichluß ohne: Weiteres einen Herausgeber, der feines 


weges auf dad Gefchäft des Interpreten verzichtet, von 
der Pflicht entbinden könnte, in zweifelhaften oder dunkeln 
Stellen feines Autors wenigftend den Wortverſtand zu 
ermitteln und zu erläutern. 
Demnächſt tadelt mit einem ziemlich bunten Gemiſche 
Yon Wahrem und Falfchem der Benebictinee Maran in 
der Borrede zu feiner Ausgabe von 1742. L. P. I. c. 4 
die Deutungen Bull’8 und Grabe's, weil beide die 
eng verknüpften Worte des Juſtinus gewaltfam auseins 
ander riffen. Auch würde bei erfterer immer die Verehrung 
der guten Engel fiehen bleiben. Denn wenn Chriftus ges 
Yehrt hätte, daß die böfen nicht zu verehren ſeyen, wie 
follte daraus nicht folgen, daß dann Doch dem guten, die 
dem Sohne Gottes anhingen und fein Ebenbild an fich 
trügen, Verehrung gebühre? Bei der letzteren Deutung 
aber werde fehr ungereimt angenommen (perabsurde sta- 
tuitar), daß Chriftus von der den böfen Engeln nicht zus 
fommenden Berehrung, was raur« hier allein bebeute, 
außer und auch den guten Engeln Kunde gebracht habe. 
Seder, der da wifle, daß Juſtinus die Abficht hege, darzu⸗ 
thun, die Chriften feyen Feine Gottesleugner, werde ein⸗ 
geftehen müffen, daß in der That-der Engeldienft hier mit 
aufgeftellt werde, weil fo am wirkſamſten der den Chriften 
gemachte Vorwurf des Atheifmus abzumweifen gewefen. 
Auch hätten die Kaifer, an welche die Apologie gerichtet 
fey, die fraglichen Worte nicht anders nehmen können, 
zumal da (cum praesertim) die Eonftruction derfelben nicht® 
Anderes an die Hand gebe, Außerdem (praeteres) würs 
den den böfen Engeln die. guten entgegengefegt, und es 


\ 








Noch ein Wort Kb. Juſt. d. Mäkt. Apo h p. 56. 337 


heiße von ihnen, daß ſie dem Sohne gleich Dienern nach⸗ 
folgten und ihn nachahmten, damit erhelle, wie man 
nach Verdienſt jene verwerfe und dieſe verehre, wenngleich 
nur als Geſchöpfe, was ſich in dem allein auf ſie bezüg⸗ 
lichen und mit dem lediglich für den Schöpfer geeigneten 
oocxuvsivu nicht nothwendig zufammenhängenden oößs- 
od kund thue. In Juſtinus Kußtapfen trete Athenagorag, 
der Legat. pr. Christ. $.10 fein HsoAopıxov ufpos auch auf 
Die Engel auspehne, aber freilich ebenfalls nicht bis zu 
dem Umfange, daß er ihnen gleiche Verehrung mit bem 
Vater zuertennenwolle. Denn Theologie heiße auch doctrine 
divinitus revelata, oder wenn fie divinae naturae cultum 
bedeute, werbe doch auf Gott bezogen, was wir an Ehre 
den Engeln erwiefen! 

Thalemann ferner pflihtet in feiner Ausgabe der 
Apologien (Lips. 17256.8.) der grabefchen Erklaͤrung bei 
und hält, vornehmlich wohl durch Scultetus bewogen, 
über weldhen Semler an dem fogleid) zu bezeichnenden 
Drte nachzufehn, die Interpunction Fatholifcher Herauss 
geber nad zadre für um fo unſchicklicher, als die Engel 
dadurch dem h. Geiſte vorgeordnet würden. "Exteodaı fey 
dienen (apparere, ministrare), wie $. 8 (p. 5), und bie 
auch auf die Engel ftch erfiredende Belehrung leuchte ein 
ans 1 Petr. 1, 12. Ä 

Dagegen hält e8 Se mler in der hiftor. Einleitung zu 
Baumgarten’s Unterſuch. theol. Streit. 3.2. ©. 45—46 
der Hauptſache nad) mit den katholischen Auslegern, einem 
Bellarmin, Petauꝛc. Rurfegt er bie andern Engel, 
die fonft gar feine Relation hätten, in Beziehung auf den 
Sohn, welcher anderswo auch Engel heiße. Auf diefen 
folgten fie Dem niedern Range nach und müßten auch gut 
heißen, weil fie ihm oder auch Gott dem Vater ahnlich wären. 
Sie machten aber Feine befondere Slaffe über dem h. Geifte 
aus, fonbern weil Zuftinus den Sohn Gottes Engel - 
nenne, gedenke er auch der andern guten Engel zum 
Unterfchiede von den Dämonen. 


338 Haſſelbach 

Ram laͤßt ſich Keil (Opusce. aead., herausſsgeg. von 
BGoldhorn, Lips. 1821. 8. p. 558 ss.) nicht ohne gewohnte 
Breite über unfre Stelle vernehmen. Ex faßt dabei vor⸗ 
zugsweiſe ben Engeldienft ind Auge und meint, was man 
Aber die Stelle auch urtheilen möge, fo viel bürfe man 
breift verſichern, daß fie den Engeln nicht die nämliche 
Verehrung, wie dem Vater, Sohn und Geifte, zufchreibe. 
Das könne fir einmal darum nicht, weil bie Engel aus⸗ 
drüucklich genannt würden äousvor, sc. bi, ministrantes 
Alio vel ipsum colentes, in welchem Sinne, wie dem nicht 
genannten Thalemann nachgeſprochen wird, das Vers 
bum Exressder ja and) $. 8 vorfomme. Mit diefem Worte 
habe Juſtinus andenten wollen, daß auch die Engel ben 
Sohn Gottes nicht minder verehrten, als die Chriſten 
Ihn zufammt dem Bater und dem Geiſte anbeteten, und auf 
Ghnliche Weife (similique modo) ſchienen auch mit dem hin⸗ 
zugefügten &AAov jene Engel ald andere Diener und 
Verehrer des Sohnes außer den Chriften bezeichnet zu 
werben; womit denn die ſemlerſche Erklärung, rad 
welcher die andern Engel mit Nüdficht auf Chriftus, 
der auch Engel heiße, geſagt feyn ſollten, über ben Haus 
fen falle! - | 

Zweitens aber ftehe einer folchen Gleichheit auch die 
ſehr ähnliche Stelle F. 16 (p. 60) entgegen, wo die Engel 
unter den Werfen, welchen die Ehriften göttliche Berehrung 
wibderfahren laffen, nicht mit aufgeführt ſeyen; was ber 
unſrigen offenbar zumwiderlaufen würde, wenn fie hier den⸗ 
felben nicht bloß beigezählt, fondern dem h. Geifte fogar 
noch übergeordnet werben follten. Daher fey kaum zu zwei⸗ 
fein, daß biefe leßtere Stelle entweder anders gebeutet, 
dder werm man durch paßliche Deutung nicht zu helfen 
vermöge, der Tert in ihr geändert werden mäffe Von 
den mancherlei Erklärungsarten, die man in Vorſchlag 
gebracht, habe nun freilich feine feinen Beifall. Alle (7) 
kamen darin überein, Daß die Worte xaulrov — drparov nicht 


Moch ein Wort &b. Juſt. d. Met. Apol. 1, p. 56. 839 


weit dem nachfolgenden oeßöusd« zu confirniren, fonbern 
anf das vorangehende x. diudakevse nu. r. zu beziehen 
feyen, indem einige fie an Yuds, andere an raüra enger 
anfchlöffen: Fur die erfiere Verknüpfung fprächen nicht 
fowohl bie von Grabe und Thalemann angezogenen 
Stellen des N. T., als die Ähnlich Iautenbe bed Ir e⸗ 
näus, wiewohl dabei Niemand recht abfehe, warum 
Juſtinus gerade jeßt dergleichen vorbringe. Biel weniger 
jedoch könne die zweite Beziehung gebilligt werben, wonach 


Ehriſtus nicht bloß Über Die Berehrung des einigen Gotted, . 


fonbern andy. Über die guten Engel Belchrung ertheilt 
habe. Denn «8 fcheine Leicht zu begreifen (facide videtur 
äintelligi posse), daß wie fie zu fpiefindig und mi deu 
Morten bed Schriftftellers ſchwerlich vereinbar, fo auch 
mit dem Gonteste der Stelle ebenfo wenig als jene in 
Einklang. zu bringen ſey. Setler’d Bermuthung aber, 
der Sinn fey: wir Ehriften und die guten Engel beten 
den Bater ıc. an, werde (ale ob nicht Keil felbft unge 
fähr das Nämliche der Stelle unterlegte) von Der Wort⸗ 
ſtructur gänzlich zurückgewieſen. 

Deßhalb ſey Die Anficht derer bei Weitem berlin 
melde, wie zuerſt Gruner, durch eine Tertverbeflerung, 
die ihm ſelbſt, uoch ehe er von Bergängern hierin gewußt, 
in den Sinn gekommen, ber Stelle aufhelfen und orou- 
gnyov für orgarov lefen zu müflen geglaubt. hätten, 
Denn da Chriſtus von den Schriftftellern jener Zeit der 
Schöpfer auch der Engel genaunt werbe, warum follie 
ee nicht auch ihe Auführer heißen können? Er Tege fish 
aber in der That felber auch den Namen Kpyörodinyag, 
And zwar Suudusws xvolov, in einer Stelle des Gefprä 
es mit Trypho (p. 284. 6. 8.61 Mar. nach Jeſa. RZ 13) 
bei, und Drigenes bezeichne ihn ähnlich als zov Zwi 
wirrov ayyllev. 

Seßt ergreift Braun, freilicd) etwas unberufen, das 
Wort in feiner Ausgabe der Apologien bed Juſtinus 


30 Haffelbach a 


(Bonn, 1830. 8.), in welcher für Berichtigung des Terted und 
genauere Auslegung gar wenig gefchehen if. Das “Alov 
in unfrer Stelle fey, fagt er p. 84-85, ein bei den Grier 
hen ſehr üblicher Pleonafmus, über deflen Weſen nad 
Heinborf zu Plato’s Gorgias Mehrere gefprochen, ohne 
es jedoch genügend zu erflären. (Das klingt vornehm ge . 
nug. Ob aber B. wirklich wohl die z. B. in Kneb el's 
Ausgabe von Plat. dial. tres p. 30 citirten Bemerkungen 
gekannt und gemeint haben follte?) Wenn man, fühet er 
fort, mit Thalemann und Andern das Komma hinter 
ræũræ löfche und ayy. orger.. mit Öuöak. verbinde, fo 
möge man fehn, wie übel man daran the, quum illud 
dıöckevra relinguatur inepte;s was ich nicht zu verfichn 
befenue.. Nachdem er dann einige dem Daran reichhaltigen 
Keil abgeborgte Fitterarnotizen ungenau wiedergegeben, 
erwähnt er fchließlich der Gonjectur orgarnyorv, die 
allerdings einen paßlichen Sinn gewähre, dammodo Iusti- 
mis ita scripsit! — was ja eben, nur mit.einer etwas 
corresteren Ausdrucksweiſe, zu unterfuchen und zur Ents 
fheidung zu bringen war. j 
Darauf tritt Schultheß mit feiner „Engelmelt ıc. 
Zürich 1833. 8.” in die Schranfen und verlennt ©. 179 ff. 
den von Juſtinus befundeten Engeldienftnicht, will auch von 
dem vorgefchlagenen orgarnyov nichts wiffen, weil danız 
das xul nach raüse geftrichen werden müßte und ohnehin 
Athenagoras für die Richtigkeit ded Textes zeuge, verftcht 
aber die andern Engel von den andern neben Chriftug, 
ber felbft von Suftinus öfters a@yyslog genannt werbe, und 
überfebt Exouevog durch folgfam. Grabe fcheint ihm der 
Syutar unleidlihen Zwang anzuthun, dagegen Maran 
die gewöhnliche Lesart durch Anführung der Stelle des 
Athenagoras hinreichend in Schub zu nehmen, wiewohl 
er auch an ihm das fprachwidrige Zerreißen der beiden 
ſynonym verbundenen Verben sEßeodu. und zgo0xuveiv 
mit Grund tadelt und eined auffallenden Irrthums ihn 





Noch ein Wort üb. Juſt. d. Mäst. Apol. 1, p. 56. 344 


zeiht, wenn er erfiered für weniger fagend old letzteres 


balte, da nach dem biblifchen Sprachgebrauche Niemanp 
außer Gott Gegenftaub des aeßeodu: fey, und nirgends, 
weder in den heiligen Schriften, noch bei den Klaflifern, 
osßeopos, wohl aber zoooxuryas auch Ereaturen zu 
Theil werde. So erhalte man bei Juſtinus unmiderfprech- 
lich eine von den Chriften verehrte Viereinigfeit, wie er 
fie etwas unpaffend bezeichnet, und eben Diefelbe ſtelle fich 
aud) im Athenagoras dar, deſſen HsoAoyınov uEgog, „cuiexr 
“ıdversus Graecorum sive Ethnicorum portio cogitari debet”, 
auch die Anbetung der Engel umfafle. 

Herr Dr. Neander nun hatte Allgem. Gefch. d. hriftk 
Relig. und Kirche, B. J. Abth.3. S. 1040, in der Meinung, 
Juſtinus nenne im Trypho p. 344 (8.16 Mar.) den h. Geift 
Den Engel Gottes, der die Chriften gegen die Aufech⸗ 
tungen des Widerſachers vertrete, unfre Stelle mit Vers 
weifung auf jene erflären wollen und ihren Sinn fo anger 
geben: „Wir verehren den Sohn Gottes und fowohl die 


, Gcaar der übrigen ihm nachfolgenden Engel, als ind« 


befondere den h. Geiftz” wodurch diefer zwar in bie 
Glaffe der Engel gefeßt, doch erhaben über alle übrigen 
gedacht würde. Hiermit unzufrieden, leugnet Herr Dr, 
Möhler Tübing. theol. Quartalfchr. 1833. H. 1. S. 49 die 
intenfive Kraft der Partikel ve, behauptet, die neanders 
fhe Auffaſſung freite mit der Analogie der Ideen des 
Juſtinus, wie denn überhaupt eine eigentliche Anbetung 
. der Engel aller Analogie ded Glaubens und der Lehre der 
katholiſchen Schriftfteller aus den drei erften Sahrhunderr 
ten zuwider fey, bezieht adra auf den Unterricht von den 
böfen Engeln und ihren Thätigfeiten, macht zov — orpasov 
ald den zweiten Punkt, über welchen bie, Shriften belehrt 


worden, von Ödakavro abhängig und bekennt ſich fomit, 


im MWiberfpruche mit den orthoboren Theologen feiner 
Kirche, eigentlich ganz zu den Anfichten Bull's. Mit 


welchen Gründen dagegen Herr Dr. Neander feine Aus⸗ 


— 


342 Gaſſelbach 


legung zn rechtfertigen gefucht, braucht hier nicht mieber- 
holt zu werden; Herr Dr. Gieſeler aber fpricht ſich 
endlich bei Gelegenheit einer Anzeige bes möhler’fchen 
Auffabes dahin and, baß er Thalemann's Erfilärnng, 
welche eigentlich die .grabefche iſt, für richtig halte. 

Indem ich nadı Allem diefen mich anfchidle, einen eiges 
gen Beitrag zum richtigen Berfländniffe ber Stelle hier zu 
Kiefern, bemerte ich zum voraus, baß es mir. hauptſäch⸗ 
lich nar einer unbefangenen Betrachtung zu beblirfen ſcheint, 
um an dem einfachen Sinne berfelben nicht irre zu werd 
den. Die mannichfachen Mißverftändnifie und Mißden⸗ 
tungen nämlid, die man ſich hinſichtlich ihrer hat zu 
Schniden kommen laffen, rühren offenkundig meiſtens aus 
dorgefaßten, in einmal angenommenen firchlichen Dogmen 
einer fpäteren Zeit wurzeluden Meinungen her. Wer aber . 
durch dergleichen fein hermenentifches Verfahren leiten 
laͤßt, verrückt fich freilich von vorne herein ben rechten 
Geſichtspunkt und wird feined Zieles verfehlen müſſen, 
mag er nun wie Bull darauf ansgehn, den Glaubens 
artikeln einer anglitanifhen Kirche, oder wie Möhler 
einem Phantome von Latholifcher mit Accommobdationen 
Vorſchub zn than. 

Im Allgemeinen kann ed nad, meinem Dafürhalten 
feinem Zweifel unterliegen, daß Juſtinus in ber That 
Hier Begenftände göttlicher Verehrung den Ehriften vin⸗ 
dicire, und zwar zunächſt aus fprachlichen Gründen. Win 
man nämlich neben vaura auch vv — orocröu als parals 
Selen Accuſativ der Sache von.dıdakavra regiert feyn laſ⸗ 
fen, fo kommt man, wie fi bad erfahrungsmäßig immer 
ſo ergeben, in den Fall, raüra auf das weiter nach oben 
Yon den böfen Engeln Gefagte zu bezichn, was willfürlich 
and mit den Regeln einer richtigen Gonfiraction unvers 
täglich it, wie diefe Juſtinus ja auch fonft überall wohl 
zu beobadyten weiß. Man vergleiche nur, wenn es nicht 
genügend fcheinen follte, anf, das ganz nahe radıa — 


Noch ein Wort Ab. Juſt. d. Bärt. Apol. 1, p. 56. 383 


"  derpäro ploem, Hllyydg raürz, rods Tadra wodker- 
vos zuruck zu fehen, p. 60: cov dsddasıdov — oder, 
p-68: raüra nnöüg ddldaksv, und p. 86: raüra 2öldaken. 
Sodann wäre aber auch radra mit vov — drpar. etwas 
ungefüge zufammengeftellt, de man eher zdv rovrmv 
wel iv BAAy — Orper. zu erwarten berechtigt wäre, zu⸗ 
gegeben auch, daß der Ansdruck dıddausır zov orgar. mit 
der angenommenen Bebeutung des Belchrend Aber €. 
zwar nicht in dem adesınru Midadev p. 55, wohl aber in 
Yen duddaxsıv Aoyoy ber LXX. und in Sprechweifen wie 
Yıöaox. vv Önnovorlar, v. BiAdßnv, v. aleiev n. a. bei 
Theodoretus Copp. ed. Schulze, T. I. p. 724. 1190. 1198. 
T. HH. p. 489) feine Analogie fände. "Wollte man aber 
ov Orpar. dem Nuss ald zweiten perfönlichen, von duö«k. 
abhängigen Accufativ beigefellen, fo dürfte dieß gegen 
dad Princip des Gegenſatzes verſtoßen, weiches, nachdem 
einmal geſagt worden, daß bie Ehriften die heidniſchen 
Götter, die nichts anders als böfe Engel ober Dämonen 
wären, nicht verehrten, und nan die Begenftände ber 
chriftlichen Berehrung aufgeführt werden follen, verlangen 
möchte, daß die mitten unter dieſen erwähnten guten 
Engel auch nur als wirklich verehrte Wefen den äbrigen 
derſelben Claſſe gteichgeftellt ſeyn könnten. Auch verbietet 
Das beiordnende re in dem unmittelbar folgenden nveun« 
re, die Reitienfolge der Satzglieder fo zu trennen, daß 
fich dadurch die Edordination des prophetifchen Geiftes 
verbunfelte, wie benn Juſtinus felbft fo eben nur bon der 
eng anfchließenden Kraft diefer Partikel in dem avem- 
ulxtov ve ein Beifpiel gegeben, obgleich dort nicht ohne 
den Anftrich einer Folgerung, ber jedoch anderswo und 
namentlich in ber ganz ähnlichen Aufzählung p. 60: zov 
dıödaxardv TE vodrav, und zVeüpd TE NEOPMEIXOV Vers 
ſchwindet. 

Hierzu kommen dann aber auch Sachgründe von eben 
nicht nnerheblichem Gewichte und zwar einmal negativer 


⁊ 


za44 Haſſelbach 


Art. Gegen die bulPfche Conſtruction naͤmlich wirft fi 
gleichfam von felbft die mid) von Neander gethane Frage 
auf, wo doch Chriſtus den vermeintlichen Unterricht über 
die böfen und guten Engel ertheilt habe, eine Frage, für 
deren auch nur theilmeife Beantwortung Niemand fich auf 
bie vorhergehenden Worte des Juſtinus, @ reusdävreg, und 
am Ende gar auf ein Hirngefpink von traditioneller Lehre 
wird berufen wollen. Denn felbfi wenn man fich beigehen 
ließe, die mythiſche Erzählung, um nur bieß Eine hervors 
zubeben, von dem Berfehre der Engel mit irbifchen Weis 
bern, die fi außer in unferm Apologeten noch bei man 
chem andern Kirchenvater ber vier erften Sahrhunderte 
findet (ſ. DieRote in Grabe’3 Spicil. patr. I. p. 359—360) 
und aus einem urfprünglich jüdiſchen Mißverfländniffe 
von Genef. 6, 2 gefloffen ift (vergl. Keil's opuscc. acad. 
p. 566 ff.), für die Form einer chriftlichen Idee auszuge⸗ 
ben, fo würde man dafür doch immer nur den durch Mor 
ſes vorgeblich fo redenden Logos allenfalls, nicht aber 
. den die Ehriften belehrenden Fleifch gewordenen Chriſtus 
zum Gewährsmanne erhalten. Wie indeffen jene erfte 
Frage, fo möchte wohl auch diefe zweite unbeantwortet 
bleiben, warum doch gerade hier, wo Suftiuus nur die 
von ben Chriften angebeteten Wefen namhaft machen wolle, 
zugleich des Unterrichteö liber die Befchaffenheit der guten 
Engel gebadyt werbe, da diefe Erwähnung, auch wen 
man fich in Teure die Andentung eined Gegenfages der 
böfen gefallen ließe, an diefer Stelle immer nicht hinläng» 
lid) begründet erfcheinen würde. 

Gegen die Conftruction des Dalläus ſodann, bie 
Grabe ſich zueignet, find gleichfalls mehrere Einwen- 
dungen zu machen. Erftend nämlich wird Chriftus, der 
Menſch gewordene Sohn Gottes, von dem bier allein die 
Rede ift, nirgend fonft im Juftinus als Lehrer der Engel 
dargeftellt, und die auch yon Grabe und Thalemann 
angezogenen Stellen des N. X. Eönnen, infofern fie theile 








Noch ein Wort üb, Juſt. d. Mick. Apol.1,p.56. 345 . 


ein bloßes Verlangen der Engel nach dem Einfchauen in 
bie Geheimniffe der Erlöfung, theild ein fchon durch Die 
Erfcheinung des Herrn und beren Erfolge an -fie gelans 
gendes wirkliches Kundwerden der Weisheit Gottes bezens 
gen, unmögkich eine folche Darftellung zu beftätigen fchei« 
‚nen. Bielmehr bezeichnet unfer Verfaſſer das menfchlich 
geftaltete und Jeſus Chriftus genannte Wort, wie ed nur 
fern von der hier fraglichen Stelle heißt, überall nur ale 
den eigenthümlichen Lehrer derMenfchen, die fich mit gläu⸗ 
biger Empfänglichkeit zu ihm wenden, und ausbrüdlid 
auch als für fie zu dieſem Zwecke nur in die Welt gefoms 
men. ©. in unferer Apol. p. 60: 30V Öudaoxalov — YE- 
vousvov nuiv xal els roũro yevundivra’Inooüv Xguorov, 
und in Apol.2, p. 45: Avdgmmog — yEyoys — Unto rav 
Kuorsvövrov AvdgWnzov; p. 48: rövu Yavivra di NMäs 
Xoorov; p. 51: Ör-nuds Kvdgmnos yeyove. Wollte man 
aber zweitens auch auf einen Augenblid einräumen, daß — 
wunderlich genug — Chriftus für die Chriften zwar als 
folcher , für die Engel jedoch als Logos zu denken fey, und 
er diefe fomit vor feiner Menſchwerdung von Gott unters 
richtet haben könne, ja nach der Borftellung des Juſtinus 
von ihm ald abfolutem Lehrer aller Wahrheit überhaupt, 
felbft wenn: fo etwas nicht buchftäblich audgefprochen wor» 
den, unterrichtet haben müſſe, fo wäre Doch aldbald nicht 
wohl begreiflihh, warum er feine Lehre nur den guten En⸗ 
geln mitgetheilt haben follte, da ja aud die böfen eben 
nur dadurch böfe geworben, daß fie, ihre wahre, Durch Die 
göttliche Vernunft, den Logos, ihnen zum Bewußtſeyn 
gebrachte Stellung verlaffend, aus. freien Stüden von Gott 
abgefallen und auf alle mögliche Weife, durch fehlechte 
Geſetze, Irrlehren u. ſ. w., die Menfchen zu einem ähnlis 
chen Abfalle zu verleiten und fo die Wirkungen des Logos 
vor und nach feiner Offenbarung im Fleifche zu vereiteln 
beftrebt feyn follen. Suftinus fegt, wie andere Kirchen» 
väter, auf das Beftimmtefte das Gefammtgefchlecht der: 


— 


za0 agßlbach 

Engel dem der Menſchen in der Freiheit des Willens, 
dem aurskoucov, urfprünglich gleich (Apol. p. 45).und uns 
terwirft beide Damit der Möglichkeit gleihmäßiger Strafe, 
die beide durch Schuld der Alogie verwirken; und Darans 
erhellt denn, daß die von Grabe zur Vertheibigung feiner 
Conſtruction beigebrachte Stelle des Trenäus 2, 30 n.9 
Mass, , indem fie eine uranfängliche Offenbarung bes Bar 
ters durch deu Sohn an alle Engel und Erzengel ohne 
Unterfchied ergehen läßt, mehr wider ihn, als für dhe 
fpreche. Endlich aber würbe diefe Eonfruction and) einen 
bier fo müßigen Beifaß einfchwärzen, daß ein folcher yon 
feiner fonft etwa bemerfbaren Styinadjläffigkeit unſers 
Berfaflers eine genügende Beglaubigung zu gewärtigen 


haben möchte. 


Was nun den Vorfchlag, für rgasow zu lefen arex- 
znyov, anbetrifft, fo mag auch diefer hier. nur fogleich 
durch befondere Gegengründe belämpft und befeitigt wers 
den, obwohl der demnächſt für die Anbetung ber Engel zu 
führende pofitive Beweis an ſich ſchon dazu angethan ſeyn 
möchte, diefe Gonjectur wenigſtens als unnü zu erweifen 
und fomit, wenn auch fonft ihe nichts im Wege ftände, 
wirkſam abzumweifen. Man fieht nicht recht, wie Keil Die 
öuvanıg zuplov des Jeſaias im Trypho yon einen Inbe⸗ 
griffe aller aus Gott hervorgegangenen Wefen (omnium 
entium a Deo profectorum) mißverſtehen kounte, da eines 
Heerführer nichts näher als eine Heeresmacht zu ſtehen 
fiheint, und ihm Stellen der LXX. und bed. N. T., bergleis 
deu Schleusner im Lex. in LXX. v. övvanıg P. II. p.205 
und in N. T. ead. v.n. 10 geſammelt hat, oder die Um⸗ 
fchreibung jenes Archiftrategen bei Euſebius (H. e.1,2) durch 
dg dv viv ovgavlav Aypyilam xul agyayylimv züv re 
Uxsgrooulov Övvapsov nyovusvov ſchwerlich unbefannt 
war. Zugegebeu hiernach, baß ber Logos ſich im Jeſaias 
ale Dberbefehlähaber der Heeresmacht des Herrn bara 
ſtelte, fo müßte es bach augenblidlich auffallen, daß Ins 


\ 


Noch ein Wort üb. Juſt. d. Miet, Apol. 1, p.56. 347 


inne, ber überall den Buchſtaben der Schriftbegeichnuns 
gen genau zu beachten und beisubchalten pflegt, bier freier. 
bamit umgegangen und Chriſtus nur den orgarnyog, nicht 
Goyaro. genannt haben ſollte. Außer bem befchränkteren 
Titel aber möchte auch die Gewalt eines Keldheren ber 
guten Engel an Umfang einzubüßen fcheinen in Vergleich. 
mit der des Archiftrategen, die Enfebius unzweifelhaft in 
einem umfaffenderen Sinne nahm, und. es wlirde in bem 
domysins ov wuxöv Öcıuovov p. 71 ein etwas feltfas 
med Gegenftüd zu unferm Strategen zum Borfcheine kom⸗ 
men, auch nicht leicht ein haftbarer Grund ſich auffinden 
Iafien, warum Chriſtus gerade hier in der Eigenfchaft eis 
nes folchen eingeführt werden folte, da man ja, nach⸗ 
dem er einmal als Lehrer der Chriften aufgetreten, eher 
irgend einen Zufag über fein anderweitiges Berhältniß zu 
ben Schülern, als über feine Feldherrnwürde erwarten 
durfte. Dazu kömmt endlich der ſchon von Schultheß 
gerligte fprachliche Uebelſtand, dem indeſſen nicht bloß 
durch Streichen bed xal nach reüra, fondern auch etwa 
mit Beibehaltung des Bindeworted durch Tilgen bes zo» 
vor rav adv möchte abzuhelfen gewefen feyn, wiewohl 
freilich in dieſem Kalle das Participium orgernyoürra 
ſymmetriſch befjer fih würde ausgenommen haben. Daß 
aber, wie es wohl das Anfehen gewinnen möchte, dem 
vernmtheten Anführer auch die nachfolgenden (Exouevo:) 
Engel keinen Rüdenhalt gewähren können, wirb weiter 
unten zus Genüge Mar werden. 

So wären wir denn bis zu dem Punkte gelangt, we 
ber angekündigte pofitive Beweis für bie Anbetung der 
Engel feine Stelle wird finden müflen. Es würde näm⸗ 
lich allerdings ein bedenklicher Umftand feyn, wenn der 
Belag, den uns Juſtinus dafür zu gewähren fcheint, fo 
vereinzelt daſtäude, daß im ganzen chriftlichen Alterthume 
. wicht bloß Feine Spur von etwas Achnlichem, fondern 
wohl gar überall nur das Gegentheil anzutreffen wäre, 


348 Haſſelbach 


obgleich auch dann noch zu ſagen bliebe, daß die auf guten 
Gründen beruhende Richtigkeit einer Spracherklärung 
durch den Mangel eines entſprechenden Sachnachweiſes 
nicht aufgehoben werde, und, wenn ſonſt Niemand, we⸗ 
nigſtens Juſtinus für den ihm befannten Kirchengebrauch 
feiner Zeit eine Engelverehrung befunde. Nun aber vers 
hält ſich die Sache ganz andere. Es bietet ſich und eine 
Anzahl authentifcher Stellen auch bei andern Kirchenväs 
tern dar, aus denen meines Bedünkens unmwiberleglich hers 
vorgeht, daß in der Kirche des zweiten bis zum fünften 
Sahrhunderte, wobei wir fr unfern Zweck ftehen bleiben 
und dahin geftellt feyn Laffen, ob allenthalben gleichmäßig, 
jene Berehrung im Schwange gegangen. Wie es aber hier 
‚nicht die Abficht feyn kann, diefelbe von ihrem erften Urs 
fprunge an, den wir fhon Kol. 2,18 und wohl auch Offenb. 
1, 4 (wo Hammond zu vergl, befonders auch über bie 
Stellung der Geifter vor Chriftus) angedeutet finden, 
aufzunehmen und in ihrem weiteren Berlaufe gefchichtlich zu 
verfolgen, fo kann ich auch der näheren Angabe aller hiers 
her gehörigen Stellen um fo eher überhoben jeyn, als ans 
dereder Neueren bereitd, wieKeilp. 55088., Münfcher, Lehrb: 
ber Dogmengefch. $. 38, Schultheß, Engelm. S. 170 ff., fie 
zufammengetragen und zum SCheile- zu erörtern verfucht 
haben. Man hat im Allgemeinen bei den fcheinbaren Wis _ 
derfprüchen, die dadurch entftehen, daß vielleicht von dem 
nämlichen Schriftftellee einmal die Anbetung des Einigen 
Gottes eingefchärft, ein ander Mal der chriftliche Eultus 
auch ‚auf eine Berehrung der Engel audgebehnt wird, zu 
bedenfen, daß das eine wie das andere feine befonbern, 
wohl neben einander beftchenden Gründe haben könne, daß 
hier der Monotheifmus dem Polytheiſmus auf das Streng» 
fte und Schrofffte entgegengeftellt, dort, ohne jenem zu nahe 
zu treten oder ihn gar ganz zu verdrängen, ein Engels 
dienft danebengeftellt werden folle, wie er aus den ih der 
chriftlichen Kirche der erfien Jahrhunderte gangbaren Bors 








x x 


Noch ein Wort üb. Juſt. d. Maͤrt. Apol.1,p.56. 349 


Kellungen von den Eugeln ald übermenfchlichen, mit einer 
Specialaufſicht über einzelne Theile der Schöpfung unb 
einer eigenthämlichen Kürforge für die Menfchen beauf⸗ 
tasten Weſen notwendig ſich geitalten mußte, Sind nun 
freilich dieſe Borftellungen felbft fo wenig ale ber Auspdrud 
dafuͤr nach allen Seiten hin fo abgemeſſen, wie es bie dogs 
matifche Subtikität fpäterer Jahrhunderte erheiſchen moͤchte, 
fo: darf das in der That Niemanden Wunder nehmen, ber 
überhaupt auf gefchichtlidde Entwidelung und Bilbung 
von Lchrmeinungen etwas zu geben gewohnt ift und nicht 
die ſtarren Formen eines abgeſchloſſenen Syſtemes wie ben 
geharnifchten Leib einer Minerva wo möglich aus dem 
Kopfe des erſten Kirchenlehrers möchte hervorſpringen 
laſſen. 45 
Athenagoras guvörberft fagt, nachdem er Gott 
Bater, Sohn und ben h. Geiſt als Gegenſtände göttlis 
cher Verehrung bei den Ehriſten genannt hat, Legat. pr. 
Christ. p. 11: xal 00x dnl rovrois co DsoAoyınov yudv 
tararaı nigog, ala xul zAjdog ayyskov xal Aurovpyov 
guusv x.r.4. Damit bezeugt er die Verehrung auch ber 
ben genannten Weſen an die Seite gefebten Engel fo uns 
zweibeutig, baß man fich wundern mnß, wie nod Keil 
p. 550 n. 5 bad Anerkenntniß einer folchen bei Barbeyrac, 
der ſich nur zu feinem Widerrufe hätte bewegen Laffen 


ſollen, wölliger Grunblofigteit fonute zeihen wollen, Schon 


Suffridus verfehlte den Sinn der Worte des Athenages 
sad nicht, . wenngleich das Abfchreiberwerfehen Aoyızav 
mehr Beifall als Die gemeine Lesart DeoAoyızov ihm abges 
waun, sub Maran änpert ſich über dieſe Stelle in praef.p. IL 
e. 4 befonnuener, als in der Anmerkung zu berfelben, die 
- Gchultheß, Engelw. ©. 184, nicht mit Unrecht in ihr Ger 
gentheil umſtellen möchte. Das BeoA. zu. uigos jedoch 
fcheint eben diefer unrichtig auf einen burdh Graecerum s. " 
Zthnicorum portio zu ergänzenden Gegenfaß zu beziehen, _ 
ba es vielmehr, wofür auch in der Wortfielung ein Mies 
Theol, Stud, Jahrg. 1889. 23 


ee =. Ze 


meut liegt, als derjenige Theil ber chriſtlichen Lehre, weis 
her Aber das göttliche Weſen und was: Darunter begriſ⸗ 
fen ſey, Auskunft gibt, den zunächſt folgenden aura va 
Böpuası. voramfgefihidlt wird‘, und zwar bergefinit, daß 
der: Apologet nicht bloß wie Inſtinus mit dem Dargelegten 
taubendartitel den. Vorwurf bes: Atheismus abmeifen 
wi, fondern and burch unmittelbare Beibringung ein⸗ 
zelner chriſtlicher Sittenvorfchriften, deren. Beobachtung 
durch den Glauben aa einen. Bott als Waltſchopfer, Wels 
regierer und WWeltrichter bedingt werde. Sein Theologie 
ſches ftelkt er theils der heidniſchen Bergäötterung der Mas 
terte, der Elemente, theild dem Phyfiſchen, den Acoboyi- 
nos Aoyog dem Yvomog (p. 13; vergl. 'Plut. Periel. T. E 
p. 154; de orac. def. T. II. p. 436) gegenüber, d. h. einer 
gewiffen Kenntniß von natürlicdyen Dingen, wvermöge bes 
sen die Götter der Fabel auf Naturkrüfte oder Elemente 
zurückgeführt werben (p. 22) und bie fomit zwar den Irr⸗ 
thum dDichterifcher Fictionen vermeibes, nichts deſto weni⸗ 
ger aber von ber theolegifchen Weisheit weſentlich eben fo 
weit entfernt bleibt, als bie kosmiſche der Dichter, durch 
welche dieſe fonft mancherlei, namentlich von ber Geſchichte 
der Giganten, zu erzählen wiffen. Auch dürfte Die Losmi⸗ 
ſche Weisheit freilich mit.der phyfifchen, deren Object bie 
Welt als Mäterie ift, ziemlich zufammenfallen, da Athe⸗ 
nagorad Welt und Macerie hin und wieder gleichbeden⸗ 
tend braucht, wenn er z. B. die Dämonen als Seelen dee 
Giganten bald ap! zov dauov niavmpivoug, bald rang 
æsol vie DAnv (p. 305 vergl. p. 7.15) nennt; fie verhält 
fid) zur. theologifchen aber wie Wahrſcheinlichkeit zur Wahr⸗ 
beit, welche himmliſch, wie jene irdifch.ift, p. 28. 
Erſcheint nun hiernach die chriftliche Lehre von Deu - 
Engeln ald eine theologifche Wahrheit und bie Engel felbſt 
als zum Bereiche des Göttlichen gehörig, weiches ben Ges 
genſtand ber eigentlich ſogenannten Theologie ausmacht, 
fo lag ed dennoch wohl in der Natur ber. Sache, dag 


⸗ 


Noch ein Wort üb. Sufh d. Märt. Apol. 1, p. 56. 351 


Athenagoras einem Unterichiebe Raum gab zwiſchen ber 
Anbetung Gottes und der Berehrung der Engel, wiemohl 
er ſich über die Befchaffewheit dieſer letzteren nirgends bes 
ſtimmter ausläßt. Beine Auficht nämlich von deu Engeln 
iſt kürzlich folgende: Sowie ſchon griechifche Dichter und 
Philoſophen, ein Thales, Plato und andere, einen ober» 
ffien Bott anerkannten und unterfchieden von den ihm. un⸗ 
tergeordneten Dämonen (Gefirnen, Elementen) und Her 
ron, fo ift den Ehriften verfündet worden, Daß ed außer 
dem Einen höchften unerfchaffenen Gott, dem Schöpfer 
aller Dinge, der ald Bater mit dem Sohme und Beifte dy⸗ 
namiſch vereinigt.ift, noch andere Kräfte (duvansıs) gebe, 
Boten und Diener Gottes, deren Wirkungskreis ſich über 
die Materie verbreitet. Sie find erfchaffene, mit Willens⸗ 
freiheit begabte Weſen und von ‚Bott vermittelk des Los 
gos über das ganze Univerfam vertheilt und gejeht, bar 
mit das Ganze durch fie in alten feinen Theiten — beun 
wie Gott vi navrshunv nu ‚yaseııv ov OAmv ROOVOLES, 
fo haben fie nv — uſfoug — wohlgeordnet bleibe, p. 11. 
MB. 

Nadı. der fo ſich heraueſtellenden Analogie des Ehriſt⸗ 
ichs Theologifchen zu der Abſtafung göttlicher Weſen m 
griechtfchen Theogemien, ber Athenagoras felbft noch amf 
feine Trinitätslehre Einfluß verſtattet, wärbe den Engeln 
eine dem Cultus griechifcher Götter ähnliche Verehrung 
zutommen, nur mit dem Unterſchiede, daß was die Gries 
hen: über ihre Götter zweiten Ranges bloß ahndeten und 
darch allerlei Erbichtung verunflalteten, ben Chriſten durch 
wahrhafte Offenbarung über die Engel zur Gewißheit ge 
werben, und man wäürbe einen Keblichiuß machen, wenn 
man mit einem Dringen anf Conſequenz, da. Athenagoras 
eiumal Bott von ber Materie, den Schöpfer von dem Ges 
fchöpfe ſtrenge fondere und gegen bie Vielgötterei als Ver⸗ 
götterung der Materie ober. ber Greatur kümpfe, voreilig 
felgen wollte, er mäffe ſonach fälecitin anch jeglichen 

t j * 





352 Haffelbach 


Engeldienſt verworfen haben. Meint man nun aber voll⸗ 
ends für eine ſolche Verwerfung fi noch mit Keil (p. 551 
n. 6) auf eine ausdrüdliche Aeußerung des Athenageras 
ftügen zu können, fo beruht diefe Stütze auf der Grundlo⸗ 
figkeit eines feltfamen Mißverflindniffee. Denn die zum 
Belege angeführte Stelle p. 15 (c. 13 deCh.15 Mar.): eis 
Övvansıg Tod Mod Ta ion Tod x6Guov voei Tıg x. T. ä 
handelt gar nicht von ben Engeln, fondern bezeichnet die 
ſtoiſche Weltanficht, was bei etwas genauerer Erwägung 
der Worte nicht im minbdeften zweifelhaft feyn fan. Schon 
p. 14 nimmt ber Apologet die Chriften gegen die Anfordes 
rung, den heidnifchen Göttern die gebührende Anbetung 
nicht zu verfagen, mit dem von ihm auch anderöwo mans 
nichfach. emtwidelten und geltend gemachten Hauptgedan⸗ 
fen in Schuß, daß, da fie wohl zu unterfcheiden gelernt 
zwifchen dem Uinerfchaffenen und dem Gefchaffenen, zwifchen 
Bott und der Welt, man nicht von ihnen verlangen könne, 
daß fie der Welt oder ihren Theilen, dem Geſchoͤpfe ftatt 
des Scäpfers göttliche Ehre erweifen follten, wie man 
ja auch bei menfchlichen Hervorbringungen nicht das Werk, 
fondern den Werkmeifter ehre und preiſe. Möge die Welt 
nun von pythagoräiſchem oder platonifchem, von peripas 
tetifchem oder ftoifchem Standpunkte aus betrachtet fo oder 
anders erfcheinen, immer bleibe fie Creatur, welche Die Chri⸗ 
ſten fich nicht entfchließen könnten göttlich zu verehren. Ss 
wieberholt. denn unfer Berfaffer eine Reihenfolge philofor 
phiſcher Anfichten Über Die Welt, dergleichen er bereits 
p 6 und 7 über Gott gegeben, in der Uebergengung, daß 
die ‚Einheit deſſelben klar aus ihnen hervorleuchte. Was 
die hierher gehörtge fkoifche Lehre von Gott und Welt ins⸗ 
beſondere betrifft, fo kann darüber Mosheim nachgefe« 
ben werben, zu Cudworth. Syst. intell p.‘507 n. 18, vergl, 
mitp.414 n.158. Wie nun in dem sure — vos ug nur 
die Meinung eines einzelnen Repräfentanten der ſtoiſchen 
Schule an andere koemologiſche Philoſopheme ſich auſchließt, 








Noch ein Wort Ab. Juſt. d. Miet. Apol. 1, p. 56; 358 


nicht aber diefen bie hriftliche Sefammtlchre von ben Ens 
geln gegenübertritt, fo darf auch Niemand etwa p. 27 das 
Gegentheil beftätigt finden wollen. Denn die duvanzsıg 
gl zyv Ölnv Eyovoaı zal di evrijg find ja dort jebenfalls 
von der Materie gefchtebene, perſönlich felbftändige We⸗ 
fen, wiewohl das di aurijis noch ein wenig zu ſchmecken 
fcheint nach Der ſtoiſch⸗ pantheiftifchen Vorſtellung von dem 
Geiſte Gottes oder der Gottheit felbft, die in den Theilen 
der Welt ihre einzelnen Blieder verfichtbart und zugleich 
als Weltgeift die ganze Materie oder Welt durchdringt 
(xopei oder diması dia vis VAng, Os 0Aov Toü xöduon, 
p: 7.23, wie nach phyfifchen Erfläenngen die Athene ohne 
perfönliche Subftanz die ppovnaız dic nevrov Öınxovca - 
ift, p. 20). Man wird indeffen den Ausdrud mit ziemlich _ 

fiherem Erfolge von dem falfchen Beifchmade reinigen 
. Fönnen, wenn man deſſen Gebrauch fich beflinmen läßt . 
nach der Stelle p. 24, wo eine Anficht von Phyffölogen 
Aber die Iſis als Göttermutter zur Sprache fommt, 7% 
gu alovos, &E 5 waves (nämlich Götter, um deren 
Eniſtehung es fich handelt, alfo nicht zavre mit Eonr. 
Gesner) Epvoav xal di ng navreg slol, Alyovanv. Hier⸗ 
nad würden die Engel der Vorſtellung des Athenagoras 
volllommen gemäß ein durch die Materie vermittelte® und 
an fie gebundenes Dafeyn erhalten, wofern man dad dr 
evens nicht vielleicht noch lieber dem dıa navrov Ephef. 
4, 6 analog nehmen möchte, fo daß wie Gott gläubige 
Chriſten als in ihnen lebend und webend, fo die Engel die 
Materie befeelten. In dem einen wie in dem andern Falle 
würde es nicht allaufehr Hefremden dürfen, daß bag zu ers 
gänzende Erzıv nad) der einmal angehobenen Eonftruction 
ftatt eivaı fände, da wenigftend mit einiger Achnlichkeit 
für zeol tijv DAnv Ereiv gefagt wird (p. 11) zsgl re Ta oror- 
vsin Eivaı xal Tovg oUpavoog xal TOV x00u0V x. T. A 
Maran freilich konnte ſich bei den das Verbältniß der En⸗ 
gel zur Materie näher angebenden Worten, die ihm andh 


354% | | Haſſelbach 


in Lange's verſtäͤndiger Verſton circa materiam versantes 
et per eam oonsistentes feinen erträglichen Sten barzubies 
ten ſchienen, fo wenig beruhigen, baß er auf den unglück⸗ 
lichen Einfall gerieth, für das Zyovans des Terted apyow- 
sus zu empfehlen, durch welche, wie er meint, durchaus 
unbedeutende Verändernng (levissima mutatio) wir bie 
ganze Lehre des Athenagorad von den Engeln in ber Küärge 
dargeſtellt erhielten. Diefer Conjectur aber wiberfiteben 
ebenſo entfchieben Die Gefehe der Sprache ald die wah⸗ 
ren Gebanfen des Verfaſſers. Denn ben auch fanfl ges 
nugfam befannten neutralen Gebraud; bes Eye zug ri 
belegt zwar Athenagoras felbft mit dem zunächſt folgenden 
sol ııv UV Eyov zvsüga und den üpyeloı wepl son 
dipa Eyovrsg xal ryv yiv (p. 20; ein Koysıv nepl ci bins 
gegen im Sinne des Herrfchens Aber etwas möchte ſewohl 
Aberhaupt beifpiellos ſeyn, ald auch infonberheit bei mus 
ferm Schriftfieler , der fich vielmehr der üblichen Syntax 
fügt mit dem freilich faft fubftantivifchen Koxov vrjs YAng 
and zov dv aurjeldav, p. 27.28. Die in diefen Ausdruͤ⸗ 
en liegende Bezeichnung führt und dann aber zugleich 
zur näheren Kenntniß der eigentlichen Meinung bed Bers 
faffers. Nicht alle Engel nennt er Beherrfcher der Mar 
terie und der Formen derfelben, fondern er unterfcheidet 
nach dem neuteflamentlichen &oyev Toü xosuov. ausdräds 
lih von den übrigen duvansıg den Fürſten als die Eine 
gegen Gott gerichtete Gewalt (ulav — rijv aveldsov), bie 
jeboch nicht in der Art fich Gott widerfeße (ovy drt avra- 
dofodv rı — ro De), wie des Empebofles Streit (veixog) 
ber Frenndfchaft (Qılla), oder wie in der Erfcheinungss 
welt die Nacht dem Tage (denn Gott würde bad Dafeyn 
von etwas ihm fo (poſitiv) feindlich Entgegenſtehenden 
vermöge feiner Allmacht anflöfen und vernichten), fondern 
weil zu dem Guten, das mit dem Weſen Gottes nicht wie 
ein Theil deffelben, fondern wie mit dem Körper bie Farbe, 
unmittelbar nothwenbig Cucra uußsßnxög) verbunden 


! 





Noch ein Wort äb. Fufki d. Maͤrt. Apol.1,p.56. 335 _ 


fey, der über die Materie hersfchende Geiſt durch die ihm 
verliehene Willengfreiheit einen Gegenfag bilde, Indem er 
in Gemeinſchaft mit den ihm naxhfolgenden Dämonen Dad 
ihm anvertraute Befckäft anf eine dem Guten in Gott mir 
derfprechende, alſo ſchlechte Weiſe verwalte. Man ſieht, 
wie ſchon Athenagaras den überall aufüringlicgen Dualis⸗ 
wind an.feinem Theile abzuwehren und bie Natur bes Bes 
fen als eines bloß Negativen, das jedoch dem göstlichen 
Weſen fremd und nur in das Der Ertatur nit der Wahl 
freiheit, dem avurekoucıov, gefett fey, zu begreifen ver 
ſucht. — 
Von Athenagoras, bei dem ich vielleicht nur ſchon zu 
lange verweilt habe, gehe ich zu Drigenes über. Wen 
die früheren Apologeten, um gu beweifen, wie wenig‘ der 
Borwurf bed. Atheismus die Ehriften treffe, fich veranlaßt 
fanden, außer ber Trinität noch auf die ganze Schagr bes 
Engel ald Gegenftände einer gewiflen göttlichen Berehruug 
bei ihnen hinzuweifen, fo.hatte die Sache bald die Wen 
dung genommen, daß die Heiden, um ihren Polytheismus 
gegen die Angriffe der. Chriften, die ihrerfeitd mit den ſieg⸗ 
reichen Waffen der Bernunft und Offenbarung ihn zu ber _ 
kämpfen nicht läffig waren, zu deden, in Ermangelung 
eigener beſſerer Bertheidigungsmittel allmählich Anflası 
machten, bie Gefchoffe des Angriffes zurüdzufchleudern 
und die Ehriften felbft des Polytheismus zu bezüchtigen: 
Zu folhem Schußmittel hatte nun and) Celſus gegriffen: 
Wenn die Chriften felbft, jagt er Orig. c. Cels. 8, 12. 13, 
feinen anderen außer Einen Gott verehrten, fo hätte viels 
leicht ihre Reden ‚gegen die Andersdenkenden baltbaren 
Grund. Nun aber verchren fie neben ihrem Gott auch 
deffen jüngft erfchienenen Sohn, ber ja doch nur ein Die 
ner Deffelben fey, und daraus folge, daß bei ihnen auch 
Die Diener Gottes verehrt würben. Origenes entgegnet 
hierauf, daß, wenn Celſus die wahren Diener Gottes nadı 
Dem eingebornen Sohne (der alfo nicht in ihre Elaffe zu 


356 0 Bhf - 


fegen), den Gabriel, Michdel und die übrigen Engel und 
‚Erzengel, meinte und behauptete, daß biefe verehrt werben 
müßten, fo würde er vielleicht, nachdem er deſſen Begriff 
von Verehrung und den Tchätigfeiten des Berehrenbenjger 
läntert, hinſichtlich dieſes Puuktes, da eimmal von fo hos 
ben Dingen die Rede fey, ausfprechen, weiche Meinung 
darüber er für ftatthaft hielt. Su den Worten axsp 
Egwmpodusv. ug} aurav vorsm nahm man das ywgeiv bis- 
ber in der Bedeutung bes geiftigen Auffaſſens aber Berites 
hend, welches Verſtündniß Mosheim freilich durch fein 
„was ung hat einfallen wollen” noch wunderlicher trübte. 
Es würde aber in biefer Auffaffung mit dem vosiw fo in 
‚Eins verfchmelgen, wie denn beides 3.8. in der von Gros 
tind zu Matth, 19, 11 angeführten Stelle bes Phocylides 
fynonym gebraucht wird, Daß beide Ansbrüde nicht ges 
hörig auseinander gehalten oder grammatifch gar der eine 
von bem andern durch eine Infinitiofiruetur abhängig ges 
macht werben könnte. Ohnehin aber fordert das obige 
Evosı eine Beziehung des vozoas hierauf um fo dringender, 
als, wenn eine chriftliche Vorftellung der bes Celſus hätte 
entgegentreten follen, bafür ein nueig bei Zympoüusr nicht 
füglidy würde zu entbehren gewefen feyn. Was aber volls 
ende der Sache den Ausfchlag gibt, ift Die gänzlidhe Uns 
‚ Ratthaftigkeit eines hypothetifchen Abhängigkeitsverhälts 
niſſes zwifchen jener und dieſer ‚Vorftellung. Denn wie 
kounte man doch jene Durch dieſe ungefähr fo bebingt ſeyn 
laffen wollen: Wenn Gelfus bei feinen Dienern fich die 
rechten dächte, was aber nicht der Fall ift, fo würden 
wir ihm fagen, was wir dann etwa zu faflen vermöchten ? 
Anders aber fteht ed mit dem Einräumen einer Meinung, 
beren vorgängige Berichtigung die Bedingung diefed Zu⸗ 
geſtändniſſes ift. 

Der Inhalt nun ber’ origenifchen Erwiderung, über 
ben fich ſelbſt Dalläus (adv. Latin. tradit. 3, 38) nicht täus 
ſchen Tonnte, fcheint in der Hauptſache fo fonuenklar, daß 


Rod ein Wort üb. Juſt. d. Wirt, Apol. 1, p. 56. 357 


man nicht recht begreift, wie berfelbe Hat mißverſtanden und 
in einen Streitpunft verkehrt werben koͤnnen. Origenes 
gibt zu, was Celſus wohl mehr auf feine Weife gefchloffen, 
Denn ale Thatfache gewußt hatte, Daß die Ehriften allerdings 
den Engeln eine gewifle Verehrung erwiefen, will aber 
Diefe nicht mit der dem einigen Gott und dem Gottesſohne, 
die der Hypoſtaſe nach zwei, in ber Uebereinftimmung 
und dem Einflange bed Willens jedoch Eins ſeyen, ges 
bübhrenden Anbetung verwecjelt und fie rein erhalten 
wiffen von Opfern und andern Geremonien, womit bie 
Heiden den Dämonen, ihren Gößen, dienten. Den uns 
zweibentigen Sinn ber Worte hatte, wie ihn ein Grotins 
leicht erfannte in decalogi explicat, zu Exod. 20. Opp. 
theol. Basil. 4732. f. T. I. p. 37—38, vergl. mit Rivetiani 
apolog. discuss. T. IV. p. 705706 (wo er freilich feiner 
Sache zu Liebe hie und da ein wenig zu weit geht), fo 
auch Huet mit folhem Nachdrucke geltend gemacht gegen 
Bochart, daß diefer (vergl. Mosheim's Rote zu Orig. 
wid. Gelf. ©. 823) fidy gezwungen fah, einzugeftehn, in eo 
loco aliquod Hzgaxsiag genus concedi veris dei ministris, 
quales sunt Gabriel et Michael. Der nämliche Huet aber 
batte auch fchon Origen. 2, 5, 36 auf das @inleuchtendfte, 
wie man glauben follte, nachgewiefen, daß Drigenes mit 
nichten es bei einer bloßen Chrerbietung gegen die Engel 
wollte bewenden laflen, fondern daß er durch fein eigenes 
Beifpiel auch eine Anrufung derfelben beftätigt habe, wie 
fie die Gegner umfonft verfucht mit leeren Einreben zu 
befchwichtigen oder zu übertäuben. 

Es könnte hiernach überflüffig fcheinen, und nod mit 
einzelnen Stellen zu befaffen, in denen Origenes einer 
ſolchen Anrufung mehr oder minder ausbrüdlic das Wort 
geredet, wenn fie nicht zum Theile ſchon früher fo in den 
Kreis der Unterfuchung hereingezogen wären, baß ihre 
Erörterung nicht wohl zu umgehn feyn möchte. In Ho- 
mil, 23 in Luc. beziehn fich die Worte: Invenies in pluri- 


388 Bahelbach 


mis locis et maxime in psalmis ei ad angelos sermenem Sieri 
data komini petestate, ei tamen. qui spirtum sanctum habet, 
nt et angeles alloquatur, dem Zufammenhange nad, um 
diefen mit den Ausbräden ber Homilie felbft angngeben, 
zunächft freilich auf ein praedicare etiam’angelis, erudire 
angeles quoque humanis vocikus. Subefjen leiden fie auch 
eine Erweiterung ihres Sinnes, Durch weiche fie ein Ges 
bet an bie Engel mit einfchließen, und ein folches fand 
ſchon Dalläus 3, 10 in dem alloqui augebeutet, nicht etwa, 
um es defhalb in einer gewiffen Allgemeinheit für dem 
Drigened gelten zu laſſen, ſondern vielmehr, um ed, auch 
auf feine Autorität geſtützt, möge es nadı der Fatholifchen 
Erfindemg eines Unterſchiedes Yon dem abfeluten ſelbſt 
nur als relatived an Engel oder Heilige gerichtet werden 
follen, gleichſam mit Einem Schlage defto ficherer zu ver⸗ 
nichten. Er meint nämlich, dad spiritum sanctum kabere 
könne doch allein denen zufommen, bie mit einer. eigens 
thümlichen und außerorbentlichen Gabe bes göttlichen 
Geiſtes, mit der prophetiſchen Gnadengabe, ausgerüſtet 
wären, und er hat in Beziehung auf die vorliegende 
Stelle des Origenes Recht, inſofern dort zunächſt nur 
von einer Propheten und Apoſteln als Menſchen verliehe⸗ 
nen Gewalt die Rede iſt. Unrecht aber hat er, wenn er 
das Aureden zwar in dieſer Stelle, nicht aber die An⸗ 
zebenbeu verallgemeinern will, denn die ben Geiſt haben, 
find darum noch nicht im Befige Der axaxgyn Tod Rveunn- 
sog Röm. 8, 23, welche nach der von Origenes in ep. ad 
Rom. lib. 7,5 am meiften gebilligten. Erflärung den Ins 
begriff aller höchſten unb vorzüglichften nur den Apofteln 
inwohnenden Geiſtesgaben bezeichnet. Vielmehr meint 
Drigened mit ibnen in weiterer Bedeutung jeben zveupe- 
sırog, Über deſſen Eigenthümlichleit er fich in Joann. 
T. 2, 15 folgendermaßen ausläßt: xgeirrov 7 avdomxog 
ö avevperixög Tod dvdgcszov Arcor uxü ij iv daperı 
7 iv ovvaugporigos zupaxınarkoulvov, our db zul &v 


eo 


Noch ein Wort kb. Juſt. d. Mitt. Apol. 1,p. 56. 859 


2 rovᷣroy Deroriop weigert, DU sard neroyıv iuinge- 
rodsav yomuarlies 6 wweumermoög. Daß nun ein ſolcher 
Pneumuatiſcher das Vermögen habe, die Engel anzurufen, 
erhellt:außer der ſchon behandelten Stelle c. Ceis. 8, 13 — 
wo ja Origenes, am feinen Widerfacher über den wahren 
Engeldienft zurechtweifen zu fönnen, fich felbft die Kennts 
wiß deffelben und mithin jenes Vermögen zufchreiben muß — 
noch. aus 5, 5 Die Worte lauten hier: "Apyllovg ya 
wohlanı um ———— nv Orig ufnckroug pl at 
xy Imorenmmv, oöx ebAoyov. Sie enthalten einen Grund, 
warum Ghriften an Bott, dem Gebet und Dankſagung 
eigentlich allein gebühre, uud, recht verſtandettſ auch an 
den Logos, mit Anrufungen, nicht aber an bie Engel fi 
wenbeten, weil dieß, wofern fie nicht das Willen von 
thnen in fid aufgenommen, nicht wernänftig gethan ſeyn 
würde, Dalluus verlannte bad Hypothetifche in der Pat⸗ 
titel un und Äberfegt daraım unrichtig: angelos enim a no- 
'bis, qui eorum seientiam sive notitiam, rem seilicet supra 
homines constitutam, minime secepimus, invocari etc. Of⸗ 
fendar indeflen verwirft Origenes die Engelanrufung nicht 
an fi, fondern nur infofern fie gefchehe, ohne daß man 
zuvor die rechte Kenntniß von den Engeln erlangt habe. 
Nennt er nun diefe Kenutniß fir Menfchen zu hoch, fo 
wif er damit nach Kol. 2, 18 nur fagen, daß fie über bie 
Sphäre des and Leib und Serle beftchenden, des pſychi⸗ 
fhen Menfchen freilich hinaudliege, von dem Prreumas 
tifchen aber, ber etwas Beſſeres ald jener bloße Menſch 
(zosirrov 7 &vdgmzos) ſey, wohl gefaßt werden koͤnne. 
| Daß dieß allein als Die richtige Deutung bes Ueber» 
menfchlichen in dem Willen um die Engel fidy ausweiten 
müfle, geht nicht bloß ans der mitgetheilten Beſchreibung 
des pneuwmatiſchen Ehriften und aus dem Umftande hervor, 
daß Drigened fa felbft, ber 5,1 um den vovs Xpıarov und 
um bad wunderkräftige Wort ber sünpyelıßduevos bittet, 
ohne Zweifel in bem Glauben, bes Erbetenen theilhaftig 


\ 


300 Haffelbad 


werben zu fönnen, auf Beranlaffung irriger. Vorflellangen 
: feines Gegners ed übernimmt, näheren Aufichluß über 
. bad wirklich Statthafte in dem Engeldienfte zu geben, 
ſondern unmittelbar auch ans der’ hier noch fraglichen 


Stelle. Dem in den ſogleich folgenden Worten derfelben 
mird ein folches Wiffen zufurddecıv, alfo als an ſich möglich 


für Ehriften angenommen, ja ed wird ſogar, was denn 


doch nur von dem vermeintlichen eigenen Innehaben deſ⸗ 
felben ausgehn konnte, mit Beftimmtheit hinzugefügt, 
worin es beftehe, in der Kunde nämlich von der Natur 
(Yvoıs) ver Engel, und worüber ein jeder von ihnen ges 
feßt fey ui Ep ols slcım Exaaroı Terayukvoı). 
Gleichwohl, entgegnet Daläus, möge man hieraus 
nicht abnehmen wollen, non esse nefas angelos invocare, 
Denn either Folgerung der Art beuge Drigened dadurch 
vor, daß er bezenge, id a vero usque adeo procul esse, 
ut angelicae naturae notitia, si qnis ea praeditus esse fin- 
gatur, kunc ipsa prohibitura sit, ne quem alium praeter 


- deum summum per filium precgri audeat vel sustineat. Als 


lein ein foldyed Zeugniß legt nicht Origenes ab, ſondern 
legt Dalläus ihm in den Mund, der zunächft wieder das 
Boddeirv mißdentet in den Worten des Origened: aury 
7 Zmornum (bie fo eben erflärte Kenntniß. von den En⸗ 
geln) oix dos addon Habbsiv zürsadeı 7) oO Xo0g 
warca ÖLapxsi iu) zädı Heu dia Tod Corijgos Aucv vlod 
tod Heod. Der ganze Anfang. bed fünften Buches wider 
den Celſus beftreitet die Meinung, daß die Engel Götter 
ſeyen ader Dämonen, bei denen fich ber Gegner keines⸗ 
weges, wie bereits die Chriften, bloß böfe Geifter dachte, 
hauptſaͤchlich in der Hinficht, daß durch die aus einer ſol⸗ 
chen leicht herzuleitenden Folgerungen der Anbetung des 
Einigen Gottes Fein Abbruch gethan, Dem Ehriftenthume 
fein fremdartiges heibnifches Element beigemifcht werde, 
nnd ſtellt das monotheiftifche Princip mit ſolchem Nach⸗ 
drucke in ben Vordergrund, daß felbft bad Gebet an ben 











ı 


Noch ein Wort üb. Juſt. d. Raͤrt. Apol. 1, p. 56. 361 


Sohn Gotted davor zurucktreten muß und ſich nur in un⸗ 


eigentlichem Sinne, nur katachreſtiſch, nicht kyriolvgiſch 
(G. ſoll vernehmen laſſen dürfen; was an andern Orten 
weniger ausdrücklich zu erkennen, als dadurch zu verſtehn 
gegeben wird, daß der Sohn dort für das Gebet nur als 
Mittelsperſon, als der wahre Hoheprieſter des Chriſten 
hervortritt, und deßwegen bie an ihn gerichtete Bitte 
eigentlich. nur die um Verwaltung, feines Mittlers oder 
SHohenpriefteramtes ſeyn kann, damit dad Gebet ’auf die⸗ 
fem Wege zum Bater als zu feiner einzig rechten Behörbe 
gelanger Bergl.c. Cels, 8,26. Wenn ed nun fchon une 
verftändig ſeyn würde, ohne tiefere Einficht in das Weſen 
der Engel, die aber, Iavudoıog rıg 0008 zul dnodontog, 
nicht Jedermanns Ding ift, fich mit Gebet an diefelden 
zu wenden, fo wird eben biefe Einficht, wenn man ihrer 
theilhaftig geworben, Ichren, daß man im eigentlichen 
Sinne mit Vertrauen zu feinem Andern ald zu beme 
aligenügenden höchften Gotte (76 zg05 zavra dapxei iul 
wäoı Deo) beten könne, da die Engel’ihrer Natur nach 
Bloß Boten und Diener find, denen befondere und eben 
darum beſchränkte Wirkungsfreife angewiefen worden. 
Wer würde ſich nun an diefe und nicht vielmehr an ben fie 
fendenden und anflellenden Gebieter mit feinem Gebete 


- wenden wollen? Bergl. 5, 12; 8, 60. 


Und dennoch lehnen die Engel dad Gebet mit nichten 
ſchlechthin ab, fondern fie wollen nur ebenfo wenig als 
Gott felbft., daß ihnen damit die Gott gebührende Ehre 
widerfahre, d. h. daß man fie ald Götter neben ihm, bie 
etwa gleihe Macht mit ihm theilten, anbete und bas 
durdy die dem Gotte Über Alles zukommende untheilbare 
Ehre (env elg Tov BEoVv rav Ölmv &oyıwrov xal adıclpk- 
rov rıumv) zeritüdele, 8, 657. 58. (Das od BovAssdar dort 
entfpricht dem ovx div 5, 5). Durch die Bergleichung 
mit diefer Stelle erhält dann auch bie frühere 5,11. das 

‚nöthige Licht. Origenes ustheilt hier, man folle.in ber 


—8 
— 


— 





Ueberzengung, daß Sonne, Mond und Sterne, die ſo⸗ 
nadı offenbar, wie 8. 10. gleich zu Anfange, mit dem 
Engeln in Eine Kategorie gefebt werben, ſelbſt zu dem 
oberſten Gotte beteten, nicht beten zu ben Betenden, da 
dieſe ſelbſt auch Lieber wollten — man überfehe das uällon 
nicht, womit hier wie anderwärtd dad Gebet zu den Eins 
geln nicht abfolut verworfen, fondern In gewiflen Maaße 
überall gebilligt wird — daß wir unfre Betkraft zu Bott 
erheben, als zu ihnen herabziehn und theilen follten. In 
wiefern dieß aber ihr Wille ſeyn könne, bag erläutert er 
mit dem Beifpiele des Heilandes, der den ibn „Guter . 
Meifter” Nennenden an den Vater ald ben allein Guten 
verweife. Wie nun darum bie Blüte auch dem Sohne 
nicht, als dem Ebenbilde der Güte des Baterd (vergl: 
Huet. Origen. 2, 2. 15) abzufprecdgen ift, und wie. die 
Sonne auffordert, obwohl man Gott beu Herrn anbeten 
und ihm allein bienen folle, auch zum Sohne zu beten, 
wenngleich um Bieled mehr (zoAAG zAtor) zum Bater, fo 
wird man gerabe aus dem erläuternben Beifpiele mit Zug 
und Recht fchließen dürfen, daß man auch an die anf den 
Einigen Gott verweifenben Engel, wiewohl um Bieled 
weniger, ald an ben Sohn, fein Gebet richten könne. 

Nimmt man hierzu Die Meinung, baß von Gott felbft 
den Heiden, ehe fie fich zu dem Unfichtbaren erheben 
tonnten, Sonne, Mond und Sterne zu füchtbaren Gegen⸗ 
Bänden göttlicher Berehrung gegeben feyen, eine Mei⸗ 
nung, bie ſchon ältere Kirchenlehrer aus Deuteron. 4, 19 
nach ihrer Auslegung ber Stelle Cög rwsg cuv ng0 Nucv; 
fagt' Origenes in Ioh. T. IE 8. 3; dunyijoavro) geſchopft 
hasten, nud welcher außer dem von Huet und Mosheim 
nahmhaft gemachten Glemens Afer. (Btrom,6.p. 669) ſchon 
Juſtinus (Tryph. p. 274. 349; vergl. Whitby’s Strictur. 
Petr. in denteron. p. 35—37, wo auch Euſebius dem. ev. 
4, 8. nicht übergangen wird) und Origenes felbft beis 
pflichtete, etwas minber beſtimmt a. a. D., ale, c. Cels, 














Noch ein Wort üb, Juſt. d. Mär. Apol. 1, p. 56. 363 


5, 10.; fo wird man hieran noch einen Beweis mehr haben 
für Die Ueberzeugung, daß eben biefer, der den Sternen, 
oder Eugeldienft nicht an und für ſich als Abgötterei vers 
dammte, fonbern ihn wielmehr ale eine von Gott eingefeßte 
Vorſtufe gleichfam des wahren Gotteddienſtes achtete,, in⸗ 
dem ja die ſichtbaren Gegenſtände jenes ein Bild des durch 
fie ds dic: rıwog. äaorspov, um mit Euſebins zn reden, 
- zu erfennenden unfichtbaren Gottedgeifted zurückſtralten, 
‚aud bie Engelanrufung. felbft den Chriſten nicht gänzlich 
babe Pönnen unterfagen wollen - Und in biefer Ueberzen⸗ 
gung werben wir nicht wankend werden, wenn wir an 
unfrer Stelle c. Cels. 5, 5. lefen, um bie Gunft der Engel 
zu erlangen, fo daß fie Altes für uns thäten, genüge unfer 
Berhalten gegen Gott, worin wir ihnen, wie fie Gott 
ſelbſt — für unovaivor aürov 107 Deov wirb man u. 
zurov Tv. 9. zu verbefiern haben — aͤhnlich zu werben 
trachteten; oder (8,64) man müſſe eingig das Wohlwollen 
bes höchften Gottes ſich zu erwerben ſuchen durch Fröm⸗ 
migfeit und jegliche andere Tugend; wolle man banadı 
auch noch Andere ſich wohlwollend machen, fo möge man 
bedenken, daß dem Wohlmollen Gottes dad der Engel und 
Geiſter von felbit, wie der Schatten dem ’fich bewegenden 
Körper, folge; Tauſende von biefen beteten auch unges 
rufen mit dem Betenden und wirkten und dienten mit bei 
jeder gotteödienftlichen Hanblung. Hier wird ja unleng⸗ 
Bar die Engelansufung in den Willen. des Ehriften geftelft 
und ihm nur zu Gemüthe geführt, daß fie unnöthig fern 
. würde, wenn er die Huld und Gnade bed Höchiten fich 
beveitö zu eigen gemacht hätte; nicht aber wirb es als 
unchriſtlich Dargeftellt, wenn er vielleicht, um diefer ſich 
allererſt zu verfichern, dazu den Beiftand der Engel müchte 
erſtehn wollen. | 

Es dürfte jetzt kaum noch ber Mühe lohnen, zu ers 
wähnen, daß &. Bull in feinem eilften Sermone The 
ezistence of angels and their natare p. 465 ff. mitberanihm 











3006 Haſſelbach 


bekannten reſoluten Beharrlichkeit an denjenigen Stellen 
des Origenes, die ihm, wie dem Dalläus, lediglich bie 
Anrufung des Einen Gottes auszuſagen fcheinen, feft hält, 
und es ſich nicht verdrießen läßt, um nur den unmittelbar 
felbft widerfprechenden Gegenbeweis bed Gebeted an die 
Engel in Hom. L in Ezech. nadı Möglichkeit zu entkräften, 
die :alten Gründe auf Neue aufzuwärmen. Schen Spen⸗ 
cer hatte fich zu c. Cels. 5, p. 233, anf diefen factifhen 
Belag berufen, den dort angerufenen Eugel aber, weil 
ihm wohl, wie dem Dalläus 1, 8. p. 50., der freilich eben 
daraus mit Bochart gegen die Echtheit der ganzen Apo⸗ 
firophe argumentirt, der senex repuerasoens Fein anderer 
als Origenes ſelbſt fehien feyn zu können, für den Schutz⸗ 

‚ engel des Origenes genommen. Letzteres nennt Bul einen 
gröblihen Mißgriff (a gross mistake). Denn Drigenes, 
wenn er ed anders wirklich fey und nicht fein Tateinifcher 
Dolmetfcher, wende fich mit feinen Worten an einen zum 
Ehriftenthume Belehrten, führe dann Durch eine rhetorifche 
Figur die Engel mit einander fprechend ein und fete dieſes 
rebnerifche Schema (rhetorical scheme) fort mit Dem veni 
angele, fo daß er offenbar nicht zu bem eigenen Schußs 
engel bete, fonbern in Einem Zuge von Nhetorif (strain 
of rhetoric) den Engel des Neubelehrten herbeilabe. Uud 
in diefem Nebenpunkte, in ber Angabe bed eigentlich ges 
meinten Engeld, möchte Bull, wie. wenig bündig er «6 
auch zu erweifen vermag, allerdings Recht haben. Des 
in der fraglichen Homiltenftelle 8.7. ift den Umftänben ges 
mäß nur bie Rede von Engeln, die som Himmel,herabs 
fteigen ad eos, qui salvandi sunt, die von Chriftus vertheilt 
werden als custodes feiner Gläubigen, die ſich dienſtbar 
bezeigen zum Helle des zu Belchrenden (obsequuntur salutz 
eius), und zu einem folchen fleht Origenes, daß er komme 
und feines wieder Kind werdenden Schugbefohlenen 
fid; annehme, daß er ihm unterweife und das Bad ber 
Wiedergeburt ihm angebeihen Laffe, daß er auch andre 








Noch ein Wort Ab. Juſt. d. Maͤrt. Apol. 1, p. 56. 365 


Genoſſen feines Amtes (soclos ministerit) herbeirufe, bas 
mit fie indgefammt auf gleiche Weife die einft Verführten 
zum Glauben heranbildeten. Wie diefed Gebet feinem 
Inhalte nach mit dem, was auch ſonſt Origenes in ben 
Geſchäftskreis der Engel zieht, in vollem Einklange fteht, 
ergibt ‚fi, and Huet. Origen. 2, 5, 26 —28. Borzugweife 
find Stellen zu vergleichen, wie Hom. in Gen.8, 8: (Angeli) 
procurationem ahimardm nostrerum tenent, quibus, dum 
adhuc parvuli sumus, velut tutoribus et actoribus committi- 
mur; in Num. 11, 3: ager — non terrae solum, sed corda 
intelligunfur humana, quem agrum angeli dei susceperint 
excolendum; $. 4: offert unusquisque angelorum primitiss 
vel ecclesise vel gentis snae, quae ei dispensanda eommissa 
est. Aut forte et alii extrinseeus angeli sunt, qui ex omnihus 
gentibus fideles quosque congregent ete.,; $. 5: offerant 
angeli.ex nobis primitias et exoolit umusquisque eos, quos 
studio et diligentia sua ab erroribus gentium convertit ad 
deum, et est unusquisque in portione vel cura illius angeli, 

Der inneren. Beglaubigung, weldhe das Gebet auch 
"durch biefe Vergleichung erhält, wird nichts abgehen 
durch bie Unentfchiedenheit des Drigened Über den in 
Matth. T. 13, 27. 28. erft nod) wieder in Frage geftellten 
Punkt, ob die Schugengel bei den von bem Heilande bes 
zeichneten Kleinen, unter denen nneigentlich auch Reubes 
Tehrte verftanden werden können, fogleich von der Geburt 
oder dem Augenblide ber Belehrung an, oder ob fie erft 
wach ber Taufe ihr Amt übernähmen. Denn wie ungewiß 
dem Origenes audy manches Einzelne in ber Lehre von ben 
Engeln, die er fchon de prince. 1, 5, 4. und nachher überall 
fehr fchwierig und dunkel nennt, geblieben feyn mag, nirs 
gend ſchwankt er über die vornehmſten Eigenfchaften und 
Thatigkeiten diefer von ihm angebeteten Wefen im dem 
Maße, daß bie Grundbedingungen ihrer Anrufbarkeit 
dadurch erſchüttert würden. Ja man dürfte gerade aus 
der angezogenen Stelle des Commentars aber ben Mats 

Theol. Stud. Jahrg, 1839. 24 


thäus berechtigt ſeyn zu folgern, daß Origenes bet der 
Engelaurufung um ſo weniger Bedenken getragen haben 
könne, als er ja in den dort and den Pfalmen beigebrach⸗ 
ten Zeugniffen für die Meinung, baß die Schußengel gleich 
von Mutterleibe an ihre Schüglinge entgegennähmen, biefe 
-Engel nicht füglich anders ale, zur Richtſchnur gleichſam 
feines eigenen Verhaltens, ſchon angeredet finden mußte, 

Bull freilidy läßt fich dieß Alles fo wenig anfechten, 
dag er auch den Grotius des Irrthums meint zeihen umb 
widerlegen zu können aug e.-Cels. 8, 57, wo die den En⸗ 
geln zugebilligte. Verehrung auf ein bloßes eugpmusiv xad " 
unrxmgltem befdränft werde. Man argwöhnt ſogleich, 
daß er auch hierin wohl nur bem vielbelefenen und felbft 
den Schein zum Bortheile feiner Suche verwenbenden Dals 
läus werde nachgefprochen haben. Und jo iſt es in ‚der 
That. Man fehe bei biefem nur nad p. 310— 312. 496. 
542. 580. Dalläus will p. 426— 427. 580. einen Unter⸗ 
fchied feftfeben zwiſchen deu angegebenen Ausprüden und 
dem Uuvovg Adysıv.oder Uuveiv, da Drigened 8, 67. letz⸗ 
teres ausſchließlich dem Mövog dal mäcı Des und feinem 
@ingebornen vorbehalte. Ich kann mit dieſer Unterſchei⸗ 
dung nicht einnerftanben feyn. Denn wie Gregorius non 
Nyſſa bei Suiser v. Uuwog biefen Hymnus durch sögzude, 
Heſychius wusäung durch sugmulaes und Uuveus eig Gscn . 
erklärt, ſo braucht Celſus bei Drigenes 8, 66. bad aupr- 
 u8v uud uere elod zasävog eiipyusiv mit üuveiv gleiche 
‚bedentend, und Drigenes hat nicht fowohl gegen eine ſolche 
Synonymik, deren Kreis er $.67. noch durch das parallele 
Övoud wog wg BEoö &dzıv und ds Beov Öofatem rıwa 
erweitert, etwas einzumwenben, als vielmehr gegen die 
von Gelfus behauptete Sache, daß, wem man auch den 
Sonnengott und bie Athene lobpreife, man um fo mehr 
den großen Gott werde zu verehren fcheinen. Das fan 
er benn freilid, fo nicht zugeben, inbem ja eines feiner 
Hanptaugenmerke immer baranf gerichtet ift, dem Gegner 


— 


[4 
D 


Noch ein Wort üb. Juſt. d. Märt. Apol. 1, p. 56. 367 


alle Zugänge zu verfperren, burch welche ed ihm gelingen 
möchte, unter irgend einer einfchmeidhelnden Form Ele⸗ 
mente des polytheiftifchen Sauerteiges in den reinen Süß, 
teig des chriftlihen Monotheismus einzumifchen. Deßhalb 
räumt er ein Lobpreifen der Sonne zwar ale eines fchönen 
Gefchöpfes, wozu indeffen Gelfus die Chriften nicht erſt 
aufzufordern brauche, nicht aber der Athene ein. Dieſes 
Lobpreiſen jedoch fey Feine Anbetung der Art, wie fie dem 
Einigen Gott allein zukomme, und damit bildet er einen 
Gegenfat zwifchen dem zupmusiv und wgooxvveiv, nicht 
zwifchen eupnusiv und duveiv, welcher Sachgegenfab auch 
dadurch feine Beftätigung erhält, Daß $. 66. die irrige, Alles 
vermengende Anficht bes Celſus aus einer Unkunde ber 
chriftlichen Lehre (&yvorz zegl Tod nusztgov Aöyov), nicht 
etwa des hriftlichen Sprachgebrauches hergeleitet wirb. 
Der nämliche Gegenfaß tritt nun auch, wie fhon oben 
bemerft worden, 8. 57. hervor. Origenes geftattet, was 
Gelfus für feine Dämonen, die ihm zu Engeln umgedentet 
werben, verlangt hatte, Fein var, fondern nur ein 
ebpnusiv xal uaxaplkeıv. Da es jedoch das Anfehn haben 
fonnte, als würde hiermit den Engeln noch eine über, 
mäßige, göttliche Ehre erwiefen, fo findet er für nöthig, 
feine Meinung bier, wie anderswo, näher zu beflimmen 
durch den Zufab: od umv ınv Öpslouiunv oo Deov 
ruunv Tovroıs axovinous. Das Gebet indeſſen wirb 
Durch supnusiv feinesweges ausgeſchloſſen, fondern viel 
mehr eingefchloffen, infofern Origenes das Wort mit 
Öuvsiv vertaufcht und diefes wieberum bem zuyscha: ald 
ſinnverwandt gleichfeßt (8, 37: zdreodaı ro Heu xal oᷣ- 
pwaiv adrov), fowte ber fpätere Zacharias Schol. in feiner 
der tarin’fchen Ausg. von Origenis Philocalis angehängten 
disputatio p. 537, nachdem er den Sinn als zugnv ger 
wandt, mit dem einfachen Öuvsiv con Toüds Toü navrög 
zomenv das fogleich folgende profaifche Schlußgebet be 
zeichnet. Und ein ſolcher Sprachgebrauch Fönnte den Zwei⸗ 
j 2 * 


368 Haſſelbach 


fel, zu weichem ſich noch der neueſte Herausgeber der Kir⸗ 
chengeſchichte des Euſebius hat verleiten laſſen, ob naͤmlich 
dort 3, 33. zov Xpuorov Osoõ dlx ouvsr von einem 
wirklichen Preifen durch dichterifche Lobgefänge, oder von 
einfachen Gebetöformeln zu verftehen fey, zu rechtfertigen 
fcheinen, wenn nicht ber Umſtand, daß Eufebius nicht for 
wohl des Plinius carmen dicere, ald vielmehr das gleich, 
fam erllärende canere Christo ut (nidyt et) deo des Ter⸗ 
tullianus in das Griechifche überträgt, das richtige Vers 
ftändnig von Hymnen auf Ehriftus, von weldhen und Cle⸗ 
mens Aler, am Schluffe feines Pädagogen zuerft eine Probe 
überliefert, außer Zweifel feßte; wie denn auch anderswo 
Eufebius fein duvsiv, 3.3. praep. ev. 7,15, vom Pſalmen⸗ 
fingen braucht. - Uebrigend verweife ich für die hier emts 
wictelte Bedeutung des zdpnusiv noch auf Ruhnken zu 
Hefychius v. eupnulav, wo nur zu bemerken, daß Küfter 
die Stelle aud dem zweiten Alcibiades des angeblichen 
Mato ſchon zu Suidas v. söpnule anführt,. und anf 
Schleusner's Lex. in N. T. v. süpnpos. 

Ebenſo wenig aber flellt das uaxxel£eıv die Engel fo 
niedrig, daß ein Gebet an fie dadurch unzuläffig würde, 
Nennt Doch Paulus 1 Tim. 1, 11; 6,15. Gott felbft nexd- 
gog, was den Gregorius von Nyffa in einer bei Suicer 
h. v. befindlichen Stelle veranlaßt, zu fagen: ro unxegıorow 
Eindüg euro To Heiov Zorıv. Und wer fennte die paxe- 
osonol als Koblieder zum Gedächtniffe der Heiligen in den 
alten griechifchen Liturgien nicht? Daß aber dergleichen 
Lieder auch zum Lobe der Engel gefungen werden konnten, 
möchte ſich, felbft wenn nicht aus andern Gründen, fchon 
durch das unxaglfev bed Drigenes erweifen laflen, wos 
mit eine chriftliche Sitte angedeutet zu feyn ſcheint, die 
fpäterhin nur eine feftere Pirchliche Form angenommen. 
Wenn ed nun unzweifelyaft ift, daß in die Makarismen 
auch Gebete eingeflochten worben (vergl. du Fresne, Glos- 
sar. med. et inf. Graec. h. v.), und wenn man aus Stellen 


Noch ein Wort üb, Juſt. d. Märt. Apol, 1, p. 56. 869 


des Ehryſoſtomus, wie fie bei Bingham (Orig. ecol. V. 6, 
p. 550 — 551) zu finden, weiß, daß nad liturgifchem Ges 
brauche infonderheit der Engel des Friedens erfleht wurde, 
follte es dadurch nicht an Wahrfcheinlichfeit gewinnen, daß 
ſchon bie unxaplfovreg ded Origenes ſich wohl mit unmits 
telbarem Gebete an einen foldhen Engel gewandt haben 
bärften? 
Was nämlich — in neuerer Zeit noch Keil (Opusce. 
p. 557 es.) gegen die Unmittelbarkeit einer Engelanrufung 
vorgebradt hat, bedarf um fo weniger einer ausführ⸗ 
licheren Wiberlegung, ald dad Meifte davon Vorgängern, 
wie befonderd dem Dalläus, nachgefprochen worden. Er 
verfucht mit diefem aufs Neue, gegen die Authenticität bes 
Gebetes Hom. in Ezech. 1. Zweifel zu erregen, gerabe ale 
ob von Huet noch fo gar nichtd gefchehn fey, diefe Zweifel 
zu heben, und den Zweiflern wenigftend bemerklich zu 
machen, baß für fie nicht viel gewonnen feyn würbe, wenn 
fie ftatt der Autorität des Drigenes die bed Hieronymus ' 
eintaufchen müßten. Was aber den von Keil vermißten 
- Zufammenhang des Gebetes mit bem in ber Homilie Vor⸗ 
hergehenden, den allerdings die Iateinifche Verfion durch 
ihre Abkürzungen etwas verdunkelt haben könnte, betrifft, 
fo moͤchte er fi) folgendermaßen nachweifen laſſen. Nach⸗ 
dem Drigened die Worte des Ezechiel 1, 1: „und der 
Himmel that fich auf”, von der Zeit ber Erfcheinung des 
Herrn ‚gedeutet, von welcher an auch die Engel ale die 
ihm Kolge leiftenden Diener durch die nun geöffneten Him⸗ 
melspforten zum Schuge der an feinen Namen Slaubenden 
auf die Erde herabgefommen, redet er einen bejahrten 
— bejahrt, weil fo vielleicht der Gegenſatz zu dem chriſt⸗ 
lichen Werden wie die Kinder, dem repuerascere, mehr 
in die Augen fallen follte — unb einen folchen Heiden, den 
er fih, wie denn das mitunter fich wirklich fo begeben 
mochte, unter feinen Zuhörern von feiner Rebe ergriffen 
und zum Chriftenthume ſchon innerlich bekehrt, ale ser-" 


“ 


er "7:77 55 


mone conversum, denkt, mit ben Torten au: Tu heri sub 
dsemenio eras, hodie sub angelo: — obsequuntur salutä 
tnse angeli. Denn die Engel, die dem Sohne Gottes zum 


' Dienfte gegeben, fprechen zu einander: Wenn biefer hinab- 


Hefiiegen und den Kreuzestod für die Menfchen gelitten 
bat, was ruhen wir und fchonen unſrer? Auf, laßt nus 
alle von Himmel hinabfteigen! Darum iſt nunmehr auf 
Erden Allee voll von Engeln, und jo möge anch dein 
Schugengel fommen, veni angele etc. 

Wenn man nun freilich, vielleicht meniger durch 
Schuld bes Redners, als feines Interpreten, einigen Au⸗ 


ſtoß an der Anrede eines Zuhörers nehmen möchte, wit 


deffen Perfönlichfeit wir erft weiterhin etwad nähere Bes 
Bauntfchaft machen, wiewohl man diefen unter dem tu 
noch immer fhidlicher, als einen Chriften überhaupt fich vor⸗ 
ftellen dürfte, fo könne es in ber That doch ſchwerlich einen 
ungereimteren Einfall geben, ald auf welchen ebenfalls 


ſchon Dalläus, obgleich niit einem unficheren videtur de 
‘se dicere, gerathen, und den Keil fchmeichelhaft geung 


allen Lefern ber Homilie haud dubie zutraut, daß nämlich 
Drigened mit Dem senex repuerascens- ſich felbft meine; 
was denn aber, da er ja befanntlich fchon ald Knabe 
Ehrift geworden, mit diefer Thatfache in einem fo grellen 
Widerfpruche ſtehe, daß fchon darum die fragliche Homis 
lienftelle nicht ihn zum Berfaffer haben fünne. Wo man 
zu folchen Einfällen feine Zuflucht nimmt, um bavon eine 
Waffe zur Beftreitung der Echtheit einer Stelle zu erbors 
gen, ba verräch fich bittere Armuth an befferem Rüſtzenge. 
Denn wie konnte man doch überhaupt nur fo etwas bei 
fih aufkommen laffen, als wäre es fo undenkbar eben 
nicht, daß ber vor einer Gemeinde auslegende chriftliche 
Homilet, und wenn es auch nicht der Presbyter Drigenes 
ſelbſt, fondern ein fälfchender Interpolator feyn follte, fich 
felbft als einen Neuling apoftrophire, der allererft noch bes 
Katechumenenunterrichteö und der Tanfe bebärfe? Diefe 





Noch ein Wort üb. Juſt. d. Märt. Apol. 1,p. 56. 371 


Kaufe heißt baptkımus seeundne regenerationis wohl nicht, 
infofern fie ald Bad der Wiedergeburt an fich ſchon win 
zweites ift und fomit das. Beiwort secundus einen übers 
flüſſigen Zufag bildete, fonbern infofera der Anfang der 
Belehrung durch die Predigt bed Wortes für die erfie re- 
generatio .deö senex, der dadurch ſchon za einem repuere- 
soens geworben, die Tanfe aber für die zweite gelten farm, 

Wie ſonach aud) dererneuerte Verſuch, die Glaubwärs 
digkeit eines thatfächlichen Documentes zu verbädtigen, 
erfolglos geblieben, fo wirb ein ähnliches Unternehnen, 
gegen die Gewaͤhrleiſtung, mit welcher fi ein andrer un⸗ 
verbächtiger Zeuge für die Engelanbetung verbürget, Miß⸗ 
trauen zu erregen, faft noch entfchiedener In die Kategoriu 
der eitelen Berzweifelungöftreiche gehören. Denn wenn 
zwar gegen die Echtheit der vrigenifchen Stelle das etwas 
Lädenhafte und Unvermittelte des Zufammenhanges im 
derſelben wenigftens einen Scheingrund hergeben mochte, 
fd redet gerade der Zufammenhang in der Schrift bes Am⸗ 
. brofins de viduis (Opp. ed. Bas. T. I. p. 183.) der Stelle: 
obseerandi sunt angeli, qui nobis ad praesidium dati sunt, 
auf das Nachdrücklichſte das Wort. Es wird nämlich jene 
Stelle eingeleitet durch das Beifpiel von Kranken, die 
durch Leibesfchwäche anvermögend, ben Arzt zur Heilung 
ſich felbft herbeizuholen, ihn durch bie Kürbitten Andrer 
zu fich einladen müßten. Ebenfo müßten auch die an der 
Sünde Siechenden ſich andrer Fürbitter bedienen, bie 
Engel anrufen ꝛc. Gegen diefe Tegten Worte nun, bie 
ihren Pla in dem Gebanfengange ber ganzen Stelle mit 
einer Art folgerechter, wiewwohl den Gegnern der fo alter 
Engelanbetung unwillfommener Nothwendigkeit behaupten, 
möchte nach Keil und feinem Forbefins wohl Niemand 
weiter im Ernſte ein kritiſches Bedenken. erheben wollen, 
auch wenn Ambrofind den Vorwurf einer gewiflen Incons - 
fequenz, ben er dadurch fich zugezogen, daß er auderswo 
in derfelben Schrift zu unmittelbaren Gebeten an den Hei⸗ 


— 


Iand auffordert, nicht infofern von fich ſollte abwälzen 
koͤnnen, als er die Wittwe zwar, die von Lüften und Bes 
gierden der Welt beunruhigt werde, quae variis mundi 
sestuat copiditatibus, an den heilenben Herrn felbft, jene 
anbre magno peccato obnoxia aber ald minus idenea, 
quae pro se precetur, certe quae pro se impetret, an Mits 
teleperfonen, die Engel, verweife. Man möge dabei ists 
Deffen auch erwägen, baß ein folcher Vorwurf überhaupt 
an Bedeutung ba verliere, wo, wie man doch nun einmal‘ 
nicht wird in Abrede ftellen können, die den Engeln im 
Unterfchiebe von ihrem Schöpfer gebührende Ehre noch 
nicht auf bie dogmatiſche Goldwage gelegt und eine Au⸗ 
zufung derfelben für orbnungsmäßig gehalten wurde. 

Aus den bisherigen Entwidelungen .ergibt ſich eine 
Art von Stufenfolge in den patrififchen Aeußerungen 
über ben Engeldienft. Er wird zuerft einfach als Thatfache 
hingeftellt, dann begriffsmäßig etwas näher beſtimmt und 
durch eine wirkliche Anrufung wie mit einem -Beifpiele bes 
legt, endlich fogar unter Umſtänden geboten. Daß in 
dieſer genetifchen Entfaltung die einzelnen Momente ſich 
gegenfeitig unterftügen und aufrecht halten, und darum 
auch der Berfuch, ein einzelnes unter ihnen umzuftoßen 
oder auszumerzen, nur um fo fruchtlofer ausfallen muß, 
erachtet Jeder leicht von felbft. Eingewirkt aber hatte auf 
eine folche Geftaltung ber Engellehre eine von außen her 
fih analog bildende Stufenleiter in ben Angriffen. der 
Heiden auf das Chriftenthbum, wie das fohon oben anges 
deutet worden, 

Nachdem nun die Sache fo weit gediehen war, blieb. 
den Heiden nichts weiter übrig, ald die Blöße ihrer Abs 
götterei wo möglich noch mit Dem Feigenblatte einer Erems 
plification zu bevedlen und dem immer nnausweichlicheren 
Andrange ber fiegreichen neuen Lehre zu letzter Schutzwehr 
Die Frage entgegenzuftellen, wie ihnen doch bie Ehriften 
bie Anbetung von Göttern untergeordneten Ranges ſo 


Noch ein Wort kb, Juſt. d. Mäzt. Apol. 1, p. 56. 373 


fehr verargen koͤnnten, da fie es ja felbft mit ihren Engeln 
und Erzengeln nicht anders hielten? Eine folche Frage, 
‚mit welcher ſich die gefchichtliche Reihe der hierher gehöris 
gen Gegenfäge abfchließt, wirft fi) denn zuleßt noch 
Theodoretus zur Beantwortung auf in feiner Graec. affect. 
curat. p. 52. Sylb., p. 784— 785. Schulze. Er nennt bie 
Engel dort zwar zugsorsgos ale die Menfchen, will ihnen 
jedoch Tein Dsiov alßag zugeftehn und die Hela zgooxv- . 
vnoig nicht getheilt wiffen sis Tov Ovre Is0V xl zovrovg. - 
Vergl. Haeret. fab. comp. 5, 7. Wie aber Theodoretus, 
fo billigen ihnen gleichfalls andre Kirchenväter, infofern 
fie auf das Lehrſtück von den Engeln näher eingehn, die 
gebührende Ehre zu mit dem Vorbehalte, daß dadurch Die 
Anbetung des allein wahren Gottes nicht gefährdet ober 
gefchmälert werde. 

Es ftand indeffen nicht u erwarten, dag man biefe 
Bedingung immer hätte halten unb die Verehrung ber 
Engel nirgends in ein Uebermaß ausarten laffen follen, 
Geben ſich doch ſchon Koloff. 2,18. deutliche Spuren einer 
Uebertreibung kund, die von einer nicht ganz audgerotteten 
judaiſirenden Wurzel aus felbft wider bie unmittelbare 
Gegenwirkung apoftolifcher Predigt hervorkeimte und forts 
wucherte. So geſchah es denn, baß bie laobicenifche 
Kirchenverfammlung vom 3. 363 fich veranlaßt fand, in 
ihrem Kanon 35. eine folche Lebertreibung, die fie ein Vers 
laſſen der Kirche und des Herrn, einen verftedten Gößens 
dienſt (xexevuusen eldwAoirrgela) nennt, zu verdammen. 
Es würde fchon an fich eine große Wahrfcheinlichkeithaben, 
daß dieſe Art von Idololatrie befonders in ber Nähe bes 
Synodalfißed, alfo wohl immer noch auch in Koloffä, _ 
einheimifch gewefen, felbft wenn es Theodoretus nicht 
ausdrüdlih T. III. p. 490. 496 Sch. berichtete, und bis 
anf feine Zeit, meldet er, feyen Tempel bes heil. Michael 
in jenen Gegenden zu fehn gewefen; womit er denn zus 
gleich bezeuget, daß das Eoncilienverbot nicht minder, 


374 Doagfflbach 


als die apoſtoliſche Ruge, feine Wirkung verfehlt habe. 
Daraus aber wird wiederum begreiflich, Daß, wie Schult⸗ 
heß a.0.0. 5.116. nachweift, Ricetas fogar im 13. Jahrs 
hunderte einen Damals noch vorhandenen archangekfchen 
Tempel in feiner Baterftabt Ehonä,. dem alten Koleflä, 
als fehr groß und ſchön rühmen kaun. Wenn bie Iaobices 
nifche Synode übrigend nur das Abgöttifche in der Cugel⸗ 
verehrung mit dem Anathema belegt, fo gibt fie eben Das 
durch zu erkennen, daß fie das gehörige Maß Derfelben 
nicht verwerfe, und damit fein Zweifel hierüber entſtehe, 
verſaͤumt Zonaras zu: dem angezogenen Kanon nicht, dies 
uoch beſonders hervorzuheben mit den Worten: gu 6 
| Em dgnonelav tov dyyllav,; 6 zavev se 
Aoinroeluv dxdisaev ovᷣ og ig CEO roðg dyyuovs 72 
wis elöwAoAcrpslag oVang x. T. A. | . 





Ich glaube hiermit fattfam bargethan zu haben, daß 
in den erften chriftlichen Sahrhunderten wenigftens hie 
und da allerbings nicht bloß eine gewifle Verehrung, fons 
dern auch eine Anbetung der Engel thatfächlich ſtattge⸗ 
funden, und daß es mithin keineswegs gegen alle Analogie 
des Glaubens und der Lehre der Fatholifchen Schriftfieller 
jener Zeit ftreite, wenn man ſchon im Juſtinus eine ſolche 
Anbetung, wie feine Worte fie befagen, anerfennt. Nur 
an eine Aeßerung Semler’s möchte ich noch eriuneen, der 
in feiner ſchon erwähnten hiftor. Einleitung zum zweiten 
Bande von Baumgarten’d theol. Streit. S©.184. Rot. 189, 
wo er es bei der Unbefangenheit feiner Unterfuchung fi 
nicht verhehlt, daß anch Origenes wohl an Engel, denen 
er fo vielerlei Befchäftigung zutrane, ein Hein Gebetchen 
gerichtet habe, hinzufügt, bie Proteftanter hätten wirklich 
nicht nöthig, dieß mit fo großem Eifer zu leugnen. 

Und fo wende ich mich denn fchlieglich noch zur Erklä⸗ 
rung einiger Einzelnheiten unfrer iuftinifchen Stelle. Daß 
rccõra nicht auf Das von ben böfen Engeln Geſagte bezogen 





N 


Noch ein Wort ib. Juſt. d. Maͤrt. Apol. 1, p. 56. 375 


werben kann, darf ald ausgemacht gelten. Gbenfo wenig 
aber wird man babei mit Neander an die ganze chriftliche 
Lehre zu denken haben, die ja weder unmittelbar vorher, 
noch unmittelbar nachher fo erwähnt ober dargeſtellt wor⸗ 
den, daß das Pronomen mit einiger Beſtimmtheit dDaranf 
binzeigen könnte. Sol jene gange Lehre in der Apologie 
bezeichnet werden, fo fehlt ed dafür nicht an verallgemeis 
nernden Ausdräden, wie p. 60: ra dedideyuivu dx avroH 
zuvre; p. 66: radıa, 00a 0 Heog din Tod Xpiesoüd 2dl- 
&ats; p. 83: dedıdaerivus, & yauzv ddakar aurov. Es 
bletbt denmach ſprachlich nichts Anderes übrig, als ee, 
was Grabe ſchon that, in nähere Beziehung zu fegen mit 
dem foeben von dem Gotte der Ehriften Gefagten ale 
dem wahrhaftigftien, dem Vater aller Tugenden (vergl. 
Sac. 1, IN, dem nichts Böfes. beigemifcht fey. Weiter 
nnten (p. 59) heißen die Tugenden nur npoodvza aura 
dyaddk und olxein Hei; übereinftimmenper aber mit den 
Worten unfrer Stelle nennt Origenes c. Cels. 5, 29. d. |, 
h. die Ehriften dsdaoxopevor — znv — dpsınv alßev ed 
riuẽvu sg UNO Toü ſcoũ Yysyevunutvm xol — wie er freis 
lich perſonificirend im Sinne feiner Logoslehre fogleich 
binzufügt — ovsav viov Hsod. ‚Man vergleiche 8, 12: 
Hondussousv — rov zarkon rag dAndelaz xal vov vion 
vv aid, wo Höfchel’d t. v. ig dAndelas offenbar 
- den Text verberben würde; und ber Bater der Tugend und 
Wahrheit ift nach 8, 26. zugleich der Vater rov Brovvrow 
. ara Tor Aoyov avrod. Andere Kirchenfchriftfteller bes 
dienen: fich dafür der platonifchen Spredyweife aoyn al 
snyn (ſ. Aſt zu Plat. Phädr. p. 245. d.), die als folche 
bei den Neuplatonitern und den ihre Darftelungsform 
nachahmenden Bätern befonders Eingang gefunden. Eins 
ſebius bezeichnet d. eceles. theol, 2, 7. Gott ald zavrnv — 
&orn xal any xal 6lka rov ayadav. Vergl. Crenzer zu 
‚Plotin. d. pulerit. p. 393. und SKrabinger zu Syneſins 
Aegypt. Erzähl. S. 206. 


370 Ba 


Wenn Neander ferner Heft3. ©. 776. mit Recht zwar 
darauf hinweift, daß die übrigen guten Engel den von 
Suftinus vorher erwähnten böfen entgegengefeßt wärs 
den, fo ift dabei doch nicht wohl einzufehn, wie diefe 
Entgegenfegung mit der nur foeben noch S. 773. behanptes 
ten Beziehung bed Zuſatzes &Arov auf ben prophetifchen 
Geift, der dadurch felbft zu einem Engel gemacht würde, 
fih vereinbaren laſſen, ober gar zur Beſtätigung berfelben 
dienen folle. Denn jebe von beiden Beziehungen oder Ents 
gegenfegungen fchließt die andere fo unverträglich von fich 
aus, daß man fat auf die Bermuchung kommen möchte, 
bie früher entwidelte folle durch bie fpätere ſtillſchweigend 
zurüdgenommen werben, wenn diefe nicht fo bloß beilänfig 
noch in der letzten Note eingebracht wäre, ber Tert das 
gegen doch eigentlich die Rechtfertigung jener früheren fich 
zur Aufgabe machte und für die Meinung, Juſtinus rechne 
den h. Geift in gewiffer Hinſicht zu den Engeln, zeichne 
ihn aber „ald gewiffermaßen einen dpyayyslog” vor allen 
Abrigen aus, fogar ein anderweitiges Zeugniß des näm⸗ 
lichen Verfaſſers citirte, 

Es möchte nun-allerbings fchon ber Sprachgebraudy 
nicht zugeben, daß xal zov tiv AAlam — ayysimv Gron- 
zov zvevun 5 fände für x. 7. r. red. d. 06. al av. 
und fomit über bad von Neander vertheidigte Verhältniß 
des Geiſtes zu den übrigen Engeln den Stab brechen. Ins 
defien wäre Damit Die Annahme eines folchen Verhältniſſes 
überhaupt, für weldyes, wenn nicht unfre, doch die an« 
geführte andere Stelle des Juſtinus vielleicht nur mit deſto 
unzweidentigerer Ausfage fprechen könnte, immer noch 
nicht widerlegt, und es fcheint baher für die gründlichere 
Nealbehandlung der unfrigen unvermeidlich, Die angeregte 
Borftelungsweife etwas allgemeiner in Erwägung zu ziehen, 
zumal da fie ja auch von andrer Seite her in den hier 
— Gegenſtand der Erklärung lee ein⸗ 
grei 








Noch ein Wort üb. Juſt. d. Märt. Apol.1,p.56. 377 


Schon Clerke nämlich hält es in feiner Brevis respon- 
sio ad Bulli defens. synodi Nicaen. p. 36, für am meiften der 
h. Schrift angemeffen (maxime consentaneum), wenn man 
den Geift Gottes nehme in genere für jegliche virtus divinaz 
werbe er aber personaliter.und nicht ald deus patergedadht, 
fo fcheine er referendus ad angelos tanquam eorum unus et 
'praecipuus. Auch Elemend Aler. habe vielleicht Strom. 7. 
p: 701 — 702, wo er von den Engeln unmittelbar zu dem 
Logos auffteige, den h. Geift den Engeln beigezählt, wie 
er denn in feiner Schrift quis div. salvetur p. 19. wohl 
eben darum Ehriftus den Herren (xvgros) alles prophetis 
ſchen Geifted nenne, Suflinus, bemerkt Glerfe dann weis 
ter p. 105, (des Zufammenhanged wegen wiederhole ich 
dieſe oben ſchon mitgetheilte Bemerkung) bringe mit def 
Engeln den Geift ebenfalls in eine Verbindung, quasi unus 
eorum esset et praecipaus, was er, welche Meinung Ju⸗ 
ftinus immerhin gehegt haben möge, in der That auch fey. 

Dagegen fchilt Bull in feinen Brev. animadv. p. 1044, 

dieſe Anficht, die nur von Bidell (einem nicht minder vers 
rufenen engliſchen Antitrinitarier) entlehnt ſey, ein insul- 
8um atque impium commentum in Beziehung auf den Juſti⸗ 
nus und die Kirche feiner Zeit, 
Und Bull dürfte hier in der Sache wenigſtens Recht 
haben. Ja er hätte wohl noch etwas weiter gehen und, 
was ſich als nicht grundlos ausweiſen möchte, ſogar be⸗ 
haupten können, der h. Geiſt ſey von keinem der älteren 
Kirchenlehrer und zu keiner Zeit für einen Engel gehalten 
oder Engel geheißen worden. Denn wie langſam auch 
der Begriff der Trias zum volleren kirchlichen Bewußts 
feyn hindurchdrang, und wie unklar und unbeftimmt bie 
Vorftellungen von dem Geiſte in den erfien chriftlichen Jahr⸗ 
hunderten auch ſchwanken mochten, fo feheint man doch 
überall an der h. Schrift, die ja über Engel»Art oder 
Namen befjelben Feinerlei Andeutung geben Fonnte, ald an 
einer negativen Rorm für feine Benennung fo lange feſt⸗ 





378 7 Baffebah 


gehalten zu haben, bis in der fletigen Entwidelnng ber 

Idee des Dreieinigen andy das dritte pofitive Moment, 
Gott ale Geift, gereifter an das Licht, nämlich in das Bes 
wußtfeyn trat. Die Frage über Natur und Wefen des 5. 
Geiſtes, welche nur im Allgemeinen das nicänifche, im 
deutlicher abgemefienen und umfaflenderen Satzungen, 
wie man glauben barf, das alerandrinifche Concil vom 
J. 362 auf Betrieb des Athanaflus zu erledigen verſucht 
hatte, war nadı dem Ausdrude Bafllius des Gr. (ep. 387. 
Par. 1638) ein fyrmua zagacımandtv vois zalaı, dem 
vornicänifchen Vätern, oder es hatten fich dieſe uch hiers 
über dergeftalt geäußert, daß Hieronymus in der bekann⸗ 
ten Stelle der zweiten Apologie c. Ruffin. ohne Bedenken 
tinräumt, fieri potuisse, ut hi patres vel simplieiter erra- 
verint, — vel ante Arii ortum Innocenter quaedam et minus 
caute locuti sint, quae non possunt perversorum huminum 
calgımniam declinare, Insbeſondere tritt bei ihnen bie Pers 
fünlichkeit bes Geiſtes, der von Ehriftus ſchon Hebr. 1,3. 
prädicirte Charakter ber göttlichen Subftanz, nur wenig 
und keineswegs in den feften Umriffen einer gleichfam abs 
gerundeten Hypoftafe hervor. Man faßte ihn in einer ges 
wiffen Abftraction ald den die Propheten, Apoftel und 
frommen Ehriften befeelenden Geift auf, oder wenn mehr ins 
bioidualifirt zwar, doch wohl ale mit Ehriftus, dem Los 
906, der Weisheit, und was von ähnlich bezeichneten Bors 
fiellungen das Buch der Weisheit fonft noch an die Hand 
sab, zufammenfallend, Ein folches Nichtauseinanderhals 
ten nimmt fich namentlich bei unferm Juftinus p. 75, welche 
Stelle Clerke a. a. O. p. 162. fo wenig ale die hierher ges 
hörigen des Theophilus und Cyprianus p. 159. überficht, 
um fo feltfamer aus, als in ebenderfelbigen Schrift, der 
Apologie, nicht allein an unferm, fondern auch an au⸗ 
dern Orten der Geift doch auch wieder von Chriftus un⸗ 
terfchieden wird. Wo er nun aber einmal als unterfchie» 
denes Snbject Geftalt gewinnt, da wird er nirgends mit _ 








Moch ein Wort üb. Juſt. d. Bärt. Apol. 1, p. 56. 379 


den Gugeln vermengt, felbft bei denen nicht, die biefe Ges . 
ftalt mit Origenes für anerfchaffen, den Geiſt für ein xrlona 
halten, — eine Meinung, welche Baflliud in der angezo⸗ 
genen Epiftel nicht fo glimpflich, wie etwa Hieronymus, - 
für einen unfchuldigen Irrthum, fonbern für eine verge⸗ 
buugelofe Sünde ber Läfterung wider den h. Geiſt erklärt. 
Die Befugniß, ihn, in welchem Range ed fey, unter die 
Engel einzureihen, wird man nur Durch eine Kolgerung 
denken ſich erwirfen zu können. Wenn nämlich durch den 
Logos alles Sichtbare und Unſichtbare, außer dem uner⸗ 
ſchaffenen Vater, und ſonach auch der Geiſt hervorge⸗ 
bracht worden, ſo werde man ihn immer nur, wie hoch 
man auch mit ihm hinauswollen moͤge, als den übrigen 
gleichfalls erſchaffenen Geiſtern, den Engeln, homogen” 
an die Spitze dieſer ſtellen können. Will man ibm nun 
demgemäß eine Stelle anmeifen, welche bie vorherrfchende, 
im 3. X. ihre -Beflätigung findende Logoslehre dem Logos 
zutheilt, wie biefen z.B. Novatianus (d. trinit. c. IL) ange- 
lorım omnium principem und ber von Jadfon dazu anges 
führte Methobius in dem Sympos. Virgin. p. 33. zoGrov 
say apzayyiiav betitelt, fo möchte man ſich gleichwohl 
mit diefer Collifion noch eher befreunden, als mit einer 
andern vollends unausgleichbaren, die fich fofort heraus» 
fkelen würde, wenn man wohl gar ben mehrerwähnten 
Baſilius felbft, der, wie fcharf er fonft auch auf die wen 
fentliche Anterfcheidung zwifchen dem Richtereatürlidyen 
des Geiſtes und dem Sreatürlichen der Thronenherrfchafe 
ten ıc. dringen mag, Doch d. spirit. sanct. 16. dag Verhaͤlt⸗ 
nis des erfteren zu lebteren vergleicht mit der Stellung 
eine® Tariarchen, ohne welchen ein Heer nicht Entarie, 
and eines Koryphäen, ohne welchen ein Chor nicht Har⸗ 
monie zu bewahren vermöge, ja dem Beifte ohne Gleichniß 
über bie Engel ein Borfieheramt (dsssraolav) zuerkennt, 
wen man dieſen Bafllins, fage ic, zum Zeugen für Cler⸗ 
te Behauptung aufrufen wollte, 


m rar — — — gr u ne a en — re m um 


380 — Haffelbach 


Clerke ſelbſt gründet feine Vermuthung hinſichtlich der 
erſten clementiniſchen Stelle auf eine Conſequenz der obigen 
Art. Dort claſſiſicirt nämlich Clemens die Weſen nach 
ihrer Gotteserkenntniß und der Bethätigung derſelben 
dergeſtalt, daß auf Erden der gottesfürchtigſte Menſch 
das xodriorov ſey, im Himmel der Engel, ber örtlich 
näher und geiflig reiner an dem ewigen und feligen Lebens 
Theilnehme. Die volltommenfte, reinfte, heiligfte Natur 
aber fey die bed Sohnes, 7 To uov@ Navroxgarogı 7000- 


: ysoraın; und hiernach könnte ed allerdings fo ausfehn, 


als ob, wie unter den Menfchen der Hsodsßloraros, fo 
unter den Engeln wieberum der Sohn infofern obenan⸗ 
ſtehn folle, als der nicht namentlich erwähnte Seift hier- 
"felbft in der Eigenfchaft eines niederen Engels ihm unter« 
geordnet werde. Daß dieß aber nur ein trüglicher Schein 


‚ fey, erweift ſich mit binlänglicher Klarheit, ohne Daß man 


allgemeinere Beweismittel weiter herbeizuholen brauchte, 
faft anſchaulich aus der alsbald p. 704. nachfolgenden 


- Stelle. Hier erbliden wir eine nad) dem VBorbilde der 


Dichterifchen in dem platonifch genannten Ion p. 533. fi 
geftaltende gnoftifche Kette, deren Glieder nach Maßgabe 
der ihnen inwohnenden mehr oder minder vollfommenen 
Erkenntniß von dem Fleinften und mangelhafteften Ringe 
bis zu dem großen Hohenpriefter hinauf fich an einander 


Inüpfen, fo, baß an der oberften Spitze des Sichtbaren 
"(al reis Tod Yawonkvov TO Axgo, was Potter mit 


Lowth und Hervet unrichtig. auf den Himmel deutet) die 
felige Engelfhaft (7 uexaple ayysiodscle) ihren Platz 
erhält. Mit dem eigengemachten Worte Engelfchaft folge 
id) der Analogie der Kindfchaft, der viodeole, auf welche 


ſchon Syiburg im Inder verweift. Die ayysrodtsale fehlt 


zwar in ben vermehrten Auflagen bed "Thesaurus Stephani 


nicht, wird aber noch in der neueften parifer mit der hers 


tömmlichen Iateinifchen Verſion fülfchlich für den Inbegriff 
der Engel felbft genommen. Diefe gehören jedoch, obs 


De 





Noch ein Wort üb, Juſt. d. Maͤrt. Apol. 1, p. 56. 381 


gleich nicht ohne Leib, ihrer eigentlichen Natur nadı nicht 
in das Gebiet des ſinnlich Wahrnehmbaren oder Erfcheis 
nenden (Tod paswvousvov) ; wohl aber ift derjenige, deſ⸗ 


‚ fen Seele fich über die Schranke des Srdifchen erhoben 


und in der Sphäre der Ideen ober Gottes einheimifch 
gemacht hat, Engel ähnlich geworden, olov Ayyslog non ' 
Ysvousvog, Strom. 4. p. 537, und zur geiffigen Angelothefie 
aufgeltiegen, von welcher and er dann auch, wie die 
Excerpt. ex Theod. p. 808— 809 lehren, zur leibhaften,/ 
vũᷓ olnsig Tod omuarog ayyerodscig, wiebergebracht wers 
den kann. 

- Da nan unfre gnoftifche Kette unmittelbar bis zu dem 
göttlihen Logos als ihrem Ausgangspunkte hinanreicht 
(Erd uiäs yap Evmdev apyis d. I. roü Helov Auyov, ber 
ein wenig vorher To sg dAndag agyov ra xl nysuovodv - 
heißt, Nerntas rd npora xal Ögvrsga «al volce), fo fins 
det ſich in der Gliederung derfelben für den h. Geift abers 
mals Fein Raum übrig gelaffen. Allein er bedarf hier 
‚ beffen auch ebenfo wenig, als in der vorangehenden Claſ⸗ 
fification. Denn fo wie felbft der geringfte Theil des 
Eifens ergriffen wird von dem Geifte des Magneten, der 
ſich durch wiele-eiferne Ringe hindurchzieht (xresvouivo, 
nicht &uresvoutun, welcher Schreibfehler der florentiner ed, 
- prince. Sylburg's Scharffichtigfeit entgangen), fo werden 
alle Ehriften von dem Vollkommenſten bie zu dem Unvoll⸗ 
Tommenften hinab burch den h. Geift angezogen und ber 
für fie geeigneten Stelle in ber Stufenleiter der Erkennt⸗ 
niß eingefügt. Demzufolge ift derfelbe bei biefer Abſtu⸗ 
fung fo wenig als bei der früheren in perfönlicher Hy⸗ 
poſtaſe betheiligt,, fondern al& eine Der magnetifchen anas 
Inge, innerlich wirtende, die guofliihe Bolllommenheit 
bis zu dem oberſten Haltpunfte der ganzen Kette fleigernbe. 
Kraft, und zwar, fofern das Zerfließende der clementini⸗ 
ſchen Vorftellung eine etwas beftimmtere Faflung zuläßt, 
nicht ohne einige Wahrfcheinlichkeit ‚ald eine Kraft des 

Theol. Stud. Jahrg. 1889. 28 





32 BVaſſelbach 


kogos, weicher ber comeowppög zıuvfucng iſt und, was 
nur Sache der Övvauıs ueylorn ſeyn kann, fi wirkſam 
bezeigt in der zavrmv. dv usgiw wel weygı Toü XRO- 
tdrov xgo0NYx0vV0R (Ch. n00nx.) di axngıßelag dfiracıg. 
Eine den dargelegten ähnliche Stufenfolge findet ſich fos 
gleich noch p. 708, wo der Eingeborne als Ebenbild bes 
Vaters ein Abbild von ſich wiederum in dem Gnoftifer 
ausprägt, fo daß diefer ſchon ohne andres Mittelglied 
zum dritten göttlichen Bilde (reley 77 ci; Oelg six) 
fi geftaltet. 

Wie wir demnach in der erften Stelle unfers Clemens 
den h. Geift nicht unter den Engeln als feines Gleichen 
antreffen, fo kommt er noch weniger zum Vorſchein in Der 
zweiten, Quis div. satv. 9.6, auf deren Zeugniß Elerke feine 
Behauptung gründen möchte. Nachdem Clemens nämlich 
die evangelifche Erzählung aus Mark. 10, 17.ff. mitgetheilt 
bat, über welche er beabfichtigt, erläuternde und beruhi⸗ 
gende Betrachtungen anzuftellen, bemerkt er, daß ber 
Herr ale Gott vorausgeſehn, wonach man ihn fragen 
und was man ihm antworten würde, und fügt dann hinzu, 
wer dieß doch auch mehr vermocht Hütte, y 0 zpopyeng 
zgopmsäv xal XURIOg NaVTOg MIOPYTIKOÜ FVsULETOR. 
Hier verbietet nun aber, auch wenn man auf Anderes fein 
Gewicht Tegen wollte, ſchon das verallgemeinernde zuwwög, 
an eine perfönliche Individualität des h. Geiſtes zu denken, 
und weift anf eine prophetifche Kraft hin, die Clemens 
auch ſouſt hin and wieder. von dem Logos ausgegangen. 
und ben. Propheten verlichn feyn läßt. Denn Strom. 1, 
p. 309 nennt er biefe: dmosraltvreg zel dnwvevsdiorg 
dd coö auplov, und 5,P- 665 iſt ihm o aurdg Aoyog o ze0- 
Ymsvov, xelvov va &pm x. T. A.3 woraus ſich dann leicht 
ertlärt, inwiefern ihm der Herr, ber die Kraftder Wei⸗ 
ßagung befigt und. Andern. eindauchen konnte, aud ber 
Herr diefer Kraft heißt. Er ficht für diefe Anficht im 
Eknklange mit Juſtinus, welcher in unſrer Apologie p. 35, 





Noch ein Wort üb. Juſt. d. Maͤrt. Apol. 1, p. 56. 383 


einer Stelle, deren richtiges Verſtändniß Clerke'n nicht 
immer gegenwärtig blieb, zur Auslegung von Luk. 1, 35 
fagt: ro wveöun ovv (kurz vorher so zgopmxdv av, 
und mit noch vollerem Namen p. 73 To Hsiov ayıov xp. 
av.) — ovölv Klo vofcar Diws 7 cov Aoyov, und et⸗ 
was weiter unten meint, auch fe, an welche er feine 
Schutzrede richtet, würden fagen, Ozı ovösvi din Heo- 
Hopoüvzaı ol agopmrevorrsg sl un Aoyo deln, und p. 76° 
erinnert, daß man die @s And mposanov gegebenen 
Ausſprüche der Propheten nicht für a’ aurav rav duste- 
zvsvausvov herrührend halten folle, fondern für dxo rod 
xıvoüvros adrovg Belov Aöyov. Damit ſtimmt denn auch die 
Stelle der zweiten Apologie p. 49.($. 11. Hutchins. 10 Mar.) 
vollkommen überein, wo Shriftus zum Theile von Sokrates 
erfannt worden; Aoyog yap nv zul darıv o dv zavıl av. 
sal dia zov ngpTTÄV zoosınav & uellovre yivssdas, 
Mie ungegründet hiernach bie Bemerlung Maran's, ber 
mit andern feiner Glaubensgenoſſen unferm Kirchenvater 
die Zwangsjacke chriftfatholifiher Satzung anlegen möchte, 
zu der zweiten Stelle der erften Apologie erfcheinen müffe, 
daß man nämlich den Hsiog Aoypg nicht de verbo dei fillo 
zunehmen habe, fondern de eloquiis dei, quae inflanımant 
prophetas, bedarf wohl faum eines Fingerzeiges. 

Neander aber beruft fich auf unfern Juſtinus ſelbſt im 
Trypho p. 344 A. Der h. Geiſt fey, fagt er, das erfte 
unter ben von dem Logos hervorgebrachten Wefen, baher 
diefem am nächſten verwandt und erhaben Über die übris 
gen von dem Logos hervorgebrachten höheren Geifter. 
Allerdings habe er ihn daher vorzugsweife den Engel 
Gottes, bie Macht Gottes nennen Fönnen, welde der 
Logos den Glaäubigen zur Hülfe im Kampfe mit dem Satane 
fende. Wir finden hierin fo ungefähr eine Schlußfolge ber 
oben bezeichneten Art, koͤnnen dDerfelben jeboch um fo wes 
niger Beweistraft zuertennen, als bie Prämiffe, daß auch 
Suftinns fchon ein Erfchaffen des Geiftes Durch den Logos 

B » 


384 | Hofelbad 


gelehrt habe, was Euſebius freilich als firchliche Theo⸗ 
logie barftellt, auf einer bloßen unerweislichen Vorauss 
fegung beruhen dürfte. Eine nähere Beleuchtung der ans 
geführten Stelle ergibt indeſſen an ſich auch, daß Juſtinus 
den h. Geift in der That weder Engel noch Macht Gottes 
genannt habe. Er "beeifert fi nämlich fhon von p. 842 
an, den Trypho gu Überzeugen, daß bie Juden doch auch 
dem Sacharja Glauben beimeflen müßten, ber (2, 10 bie 
8, 2) das Myſterium von Chriſtus wie andre Propheten 
paraboliſch verfündige; und da der Prophet Dort von - 
dem Hohenpriefter Sofua redet, der ihm in feiner Viſſon 
gezeigt worden „fichend vor dem Engel ded Herren und 

Satan zu beffen Rechten, daß er ihm widerftände, zu 
welchem ber Herr dann gefprochen: der Herr flrafe 
dich” ꝛc. — , fo bezieht Juſtinus diefe Apokalypfe auf die 
Chriften, von denen Chriſtus :alle unreinen Kleider der 
Sünde hinweggenommen. Der Wiberfacher bedränge fie 
zwar ftetd und fuche Alle an fich zu ziehn; der Engel Gots 
tes aber, das heiße die ihnen durch Jeſus Chriſtus ges 
fandte Kraft Gottes (rouréoriu 7 Övvanıg Tod Heod 7 
zeupdeise yuiv dic "Inogü Xgusrod), ſtrafe ihn, und er 
weiche von ihnen. Sacharja erblidt in feinem Offenbar 
rungsgeſichte den fohügenden Engel Gottes, bei welchem 
die Ausleger wohl nicht mit Unrecht fogleich an den gros 
Ben Engelfürften Michael, den befonderen Schußpatron 
des ifraelitifchen Volkes (Dan. 10, 13; 12,1) denken, ber 
nach jlidifcher Tradition (Sud. 9 auch Über den Leib des 
Moſes mit dem Teufel rechtete. Hätte nun Juſtinns auch 
wirklich in dem jüdifchen Engel etwas von einem Vorbilde 
oder Symbole des h. Geiſtes zu erkennen gemeint, fo würde 
ſich doch daraus immer noch nicht ſchließen laſſen, daß er 
dieſem deßhalb auch im eigentlichen Sinne den Engelnamen 
beigelegt und ihn damit den Engeln ale gleichartig beiges 
fellt habe; wie er ja auch nicht, wenn er 3. B. in der von 
Mofes in der Wüfte anfgerichteten ehernen Schlange 








Noch ein Wort Ab. Juſt. d. Märt. Apol. 1, p. 56. 385 


(Tryph. p. 322) einen Typus des Gekreuzigten fieht, darum 
‚irgend etwas von Ramen und Natur der Schlange auf ben 
. Herrn übertragen fehn möchte. Ebenfo wenig aber nennt ex 
den h. Geift jemals Kraft Gottes. Vielmehr ift eö feine aus⸗ 
drückliche Lehre, daß Gott im Anfange vor aller Ereatur aug 
fich erzeugt habe Öuvaulv rıva Aoyızıv, die in der Schrift 
bald Sohn ıc., bald Herr und Logos und eben auch duve- 
wg fchlechtweg heiße (Tryph. p. 284), daß der eingeborene 
Sohn Gottes ſey lölos &E avroü Aoyog xal Övvanız yE- 
yernutvog Tr. p. 332, und daß dieſe Övvanıs nicht zu 
halten für ein &rumtov xal dyueıorov tod uroòoge, ſon⸗- 
dern für agıduo Eregov Ti x. 7.4. (p. 358). Vergl. Apol. 1, 
p. 68.74 (die zoom Övvanıs were Tov narega aavrov x.T.A. 
hier tft p.93 die dvvauız uera TOoVv np@tov dev); Apol. 2, 
p- 39. Es darf daher nicht Wunder nehmen, daß er 
Apol. 1, p. 75 es für gebührend achtet‘, ſelbſt unter der 
mit-dem Geifte gleichbedeutenden duvanıs Heod oder magd 
tod Deod, welche nach Luk. 1, 35 die Jungfrau über 
fchattete, nichts Anderes fich vorzuftellen, ale den Logos, 
Der auch der Erfigeborene Gottes ſey. Wohl aber bes 
fremdet ed, wie Maran den daßdos dvvdusog Tryph. 
6. 83 (p. 309) aud Pf. 109, welchen Juſtinus felbft durch 
‘den Aoyog xAndswg xal usravoleg oder ben loyvaog Adyog 
des Herrn erflärt, der Viele zum Glauben an den allein 


wahren Gott vermocht, und den Apol. 1, p. 83 die Apoftel 


allenthalben verfünbdigt, durch das donum spiritus s. apo- 
stolis immissum habe mißdeuten können. Mehr noch würde 
er für fich gehabt haben, wenn er barunter den perfönlichen 
80908 verftanden hätte, da daßdos — freilich nur mit Bes 
ziehung auf die Ruthe aus dem Stamme fat, Jeſ. 11 — 
Tr. p.327 unter den prophetifchen Benennungen des Mefs 
ſias aufgeführt wird. 

Bon einer Wirkſamkeit ferner, wie fie Neander's Er⸗ 
klaͤrung dem hypoſtaſirten Geiſte zuſchreibt, möchte ſich 
innerhalb des Ideenkreiſes unſers Juſtinus ſonſt ſchwerlich 


386 . FGaſſelbach 


irgend eine Spur auffinden laſſen, uud wenn man zwar 
gegen eine Sendung noch außer der des Paralleten, den 
Ehriftus freilich nur feinen unmittelbaren Süngern ver⸗ 
heißt, und von welchem Juſtinus eben auch nichts weiß, 
man müßte denn etwa den vorerwähnten Aoyog xAndeng 

“in einige Beziehung mit demfelben zu feßen gedenfen, der 
Sache nach nichts einwenden wollte, fo würde doch die 
Sprache Einſpruch thun, die durch dur mit dem Genitiv 
der Perfon, abgefehn von Raums und Zeitverhältniffen, 
überall nur eine mehr oder minder thätige Bermittelung, 
nirgends den Ausgangspunkt einer Thätigkeit bezeichnet 
und fomit eine Berwechfelung biefer Präpofition mit Uxo, 
06 oder apa unterfagt. Vergl. Winer’d Gramm. bes 
neuteft. Sprachid. Aufl. 2. Ch. 1. ©. 1575 Th. 2. ©. 185, 
Man begchtenur, um ung hier mit Beifpielen nicht allzu weit 
zu verthun, Stellen wie Ayol.1,p.73: xci rıvag (Apoftel) 
zunontvovg Ur aurod (Ehriftus) und wswgoegstdn Üx6 
roũ Yelov — aveduurog 61a Tod Mwüolos; p. 74 (u. 83): 
Shriftud dca napdsvov ijs ano Toü onkouarog’ Iexaß — 
dıa Övvausag desod anexvndn; p-7T: Tadıdaszousva did 
rõv mIopnEäv An0 Tod Peoö; p.80: Ta zap wurroddıd: 
zöv dnooröAov angvrdivie; ſo daßp.69 dd’ Indoü Xor- 
od — avsßnxanev, zumal da p. 85 dia Tod Xguorod 
Ervrovg avidnxev wiederholt wird, für unzweifelhaft 
richtig gelten muß und man nicht mit Sylburg meinen 
darf, ed könne dort Hua mit dem Accufatio non minus apte 
gelefen werben. Die Worte Tryph. p. 256 ($. 38 Mar.) 
aber äme) od va dia Tod Heoü YxO TOD NIOPNTIXOU MVEV- 
uteroę &ikyyovras voziv Övvagevoı, aAld vd Töne uällov 
dödoxsıv zpomıpovusvor verrathen ſich befonders durch 
das völlig unſchickliche dia als verborben, und 28 fan 
daffelbe nicht einmal nad Thiriby’8 Vermuthung ben 
Platz von vao einnehmen, da der prophetifche Geift im 
Trypho felbftändig durch die Propheten wirken darges 
ſtollt zu werben pflegt. Statt es jedoch zu dinrayuası ober 








! 


Noch ein Wort Ab, Fuß d: Miet. Apol. 1,p. 56. 887 


Bıöcyuara anssubehnen, wovon das erflere nicht gu we. 
Töre, daß feßtere nicht recht gu ou Bsov paflenwärbe, thut 
man befier daran, das anſtößige Wörtlein ganz zu tigen 
und dadurch einen mit Parallelkellen zu belegenden 
Sprachgebrand des Juſtinus in fein. Recht. einzufegen. 
Eine von foldhen Stellen hatte fchon Thirlby aus p. 267 
zur Hand und ließ ſich, wie billig, dadurch beſtimmen, 
auf feinen Einfall, in den Worten p. 245 iölag dıdacxer 
Alas xal un a ixelvov (Gottes) Ssöninavisg das ra in 
züs zu verwandeln, felbit nicht viel zu geben. Man vers 
gleiche aber noch. p. 305 — dymvlischea:, va Uubraga di- 
Öcyucra xparuverv,. aruuatovrss ta toü Deod, und etwas 
weiter unten za uv Toü dsod &yıa Zar, al Öb Uusrsons 
BEnynoag tersyvaopivos elaiv. Es füllt faſt ins Poſſir⸗ 
Sihe, wenn Maran den Anftoß in den obigen Worten zu 
befeitigen fich einbildet durch die Entbedung, daß Uno F. 
wo. nv., was nämlich weber ber gelehrte Engelländer, 
noch andre Interpreten gefehn, — auf ZAspyyovraı zu bes 
ziehn ſey. 
So ergibt ſich denn die allen Chriſten durch Chriſtus 
zu Theil gewordene Gotteskraft, vermoͤge deren ſie den 
Anfechtungen des Boͤſen ſiegreichen Widerſtand leiſten, als 
die des ihnen inwohnenden Logos, Apol. 1, p. 74, deſſen 
Mede nicht ſophiſtiſch, ſondern Svvagız Dsod war (p. 61) 
und feine eigene Öuvauıs, Durch welche er, was Plato für 
fchwer und mißlich erflärte, eine Verfündigung des Bar 
ters und Schöpfers aller Dinge an Jedermann erfolgreid) 
ausrichtete, Apol. 2, p. 48, ald Inbegriff der Gaben, 
weiche Eheiftud, nachdem mit feiner Erfcheinung die Wirk⸗ 
famfeit der einzelnen duvansıs in den Propheten aufges 
hört hatte, ao.rijg yiigırog vg Övvanueng Tod AVsuur- 
zog xtivou d. i. feined.eigenen Geiſtes den an ihn Glau⸗ 
benden nach der Wärdigfeit eines jeglichen verleiht, Tryph. 
p.315, vergl. p.258, als jene dung don Aoyov slg darge 
Ödvovusvn, weldye nach der freilich nicht iuftintfchen Rede 


4 


. 388 Fanpfelbach 


ad.Graec, p. 40 (vergl. Maran in den Addend. p. 602) 
nicht gewaltige Dichter, Philofophen oder Redner, ſon⸗ 
dern durch Belehrung Sterbliche zu Unfterblichen macht, ale 
- jene oople Bedadorog, Övvanız odc« Toü xarpdg, bie 
den freien Willen des Chriften lenkt ıc. bei Clemens Aler. 
(Strom. 5, p. 588; vergl. 6, p.69%), ale jene Övvauıs Tod 
Osoũ N dia Toü Xgssroö yoonyovuiın, die ber Gnoftifer 
des Clemens (Strom. 7. p. 746) in ber Gemeinfchaft mit 
Chriſtus xcerd dvaxgadın befigen kann. Ja man wirb dem 
Weſen der Logoslehre, wie fie fich bei Juſtinus geflaltet, 
zufolge ſelbſt in Stellen ald Apol. 1, p. 78, wo bie Apoftel 
nach Sdiotenart, der Gabe der Rede ermangelnb, nur dıa 
Ocoũõ Övvausog, ober p. 86, nachdem fie Övvanıv xzidew 
(dx oUgavoO) adroig neupPeisev zap adrov (von Chris 
ſtus) empfangen, allem Volke das Evangelium predigen, 
lediglich an die fle dazu befähigende Gotteskraft des Logos 
zu denken haben, zumal da fie im Tryph. p. 260 nadı dem 
Symbole der goldenen Schellen an dem Saume des feides 
nen Priefterrodes amMof. 28, 33) ausdrädlich bezeichnet 
werben als updkvrsg axd ig Övvausag tod almviov 
Isolog Xgiszoü, und in etwas weiterem Verfolge der 
Morte fie felbft in der mit dem Rechte juftinifcher Pros 
phetendeutung ihnen in ben Mund gelegten Anrede as 
den Herten, Jeſd. 53, 1, bekennen, örı ougl ri dxog av- 
..EÖV RIOTEVOVAV, GAAR Ti auTod Tod miudavrog aurovg 
Ovvausı. z 

Dem b. Geifte .wurbe, wie und Euſebius d. eccl. 
theol. 3, 5 unterrichtet, nicht bloß zum Unterfchiede von 
dem Vater und dem Sohne, welche ebenfalls Geifter find, 
der eigenthümliche Name des Parakleten von Chriſtus bei⸗ 
gelegt, ſondern auch um ihn von den Engeln zu ſondern, da 
‚zwar auch die englifchen Mächte Geifter ſeyn möchten, aber 
"Leine derfelben dem ‚Parakleten gleichfonimen (£Eıcovcde 
To .nugaximp xvevuarı) lönne; und wenn nadı Theo⸗ 
doretus (Graec. affect. cur. 3, p. 790 Sch., p. 55 Sylb.) bie 


Noch ein Wort Ab, Juſt. d. Märt. Apol.1,p.56. 389 


Shriften fagen, ro zavayıoy wveüuae — Wuvar xal xu- 
Bsovay zal üyıdlew ooð uovov ayyliovg xal dpyapys- 
Aovg x. %. A, fo wird ihm eben auch hiermit nicht als 
etwa dem Vornehmſten unter den höheren Geiftern, 
Engeln und Erzengeln eine Herrfchaft über fie im Alls 
‚gemeinen zugefprochen, fendern nur ein Leiten und Lens 
Ten, infofern dieß mit feinem Gefchäfte der Heiligung,. : 
das Eufebins a.a.D. c.6 mit einem weniger entfchiedenen 
sixög 5 auch auf diefe xgslrrovg — Buvdusis ausbehnt, 
in Zufammenbang fteht. 

Endlich ift noch übrig, auch Über das mannichfach mißs 
verſtandene Exousvaov in unfrer Stelle ein Wort hinzuzus 
fügen. Das Heer der Engel könnte zunächſt darauf fühs 
ren, die Enouevos in dem Sinne von Kriegern zu nehmen, 
welche einem Heerführer, in unferm Kalle dem xvgrog 
Zaßrod ,; Kolge leiften, und daß das fragliche Verbum 
allerdings gerade in dieſer befonderen Bedeutung nicht 
felten vorkommt, darf ald fattfam befannt vorausgefegt 
werden. Der Kürze halber verweife ich auf Sturz Lex. 
Xenoph. h.v. Man könnte aber auch an Diener denken 
wollen, bie ihrem Herrn nachfolgen, Diener, wie etwa, 
die Asızovgyol Hebr. 1, 7 nad Pf. 104, insbefondere an 
ſolche, die das Gefolge eines Fürften bilden, eine gleich» 
falls fo gangbare Bedeutung des Wortes, daß ausführs 
lichere Belege hier wohl erläßlich fcheinen.: Sa man könnte 
ein Rangverhältniß bezeichnet glauben in der Art, wie bie 
- Dümonen und Herven bei Plato legg. 5, p. 726 Erousvos 
roig Dsoig, früher 4, p. 717. 724 ol uerd Deodg heißen. 
Indeſſen wird man anftehn müſſen, irgend eine dieſer Bedeus 
tungen in unfrer Stelle flattfinden zu laſſen. Schon der 
Beiſatz xal ZEouosovusvov, bem kurz vorhergehenden oddF 
— rag zorkes Öuolas Eyovdı gegenübergeftellt, weilt auf 


einen andern uneigentlichen Gebrauch hin, der fich inder _ 


ganzen Apologie beftätigt und erflärt. So lejen wir p.53: 
u) Ensoder voig dölnog zı wgdkası (etwas weiter oben 


300 Hagßfelbach 


Ödknıg nernv dinxokovdsiv); p. 57: voup.row Beiv U 
Eoyav, entgegen den Namendhriften (p.63) elsavrug, Gr 
euro sizovso (wo Thalemann dem Worte fälfchlich Die 
Bebeutung von apparere alicui, ministrare unterlegt); p. 61: 
per TO To .Aoya zuchiwar — Yen — did Tod viod 
&xousda; p. 70: Os (Menander) xal Tovg.adre iwons- 
vovg — Erece (gleich darauf Marcion dıdaoxev zodg 
xsdoutvovg); p. Tl: 0v (den Fürften der böfen Geiſter) 
sig‘ TO zug rEUPÄNGEdeE Hera tig abrod Orpareäg ze 
iv Enoutvov vdganav, welche letzteren nach Erwäh⸗ 

nung der zovngol apysloı Apol. 2, p. 48. gleichſam er» 
läuternd ol -Ouewı ysvöusvor Kvdonxoı, genannt werden. 
Hiernach wird das fragliche Verbum von einer Nachfolge 
zu verftehn ſeyn, dergleichen ſich in der Stellung bed Schüs 
lerd zum Lehrer, des Jüngers zum Meifter zu erfennen 
gibt, und zu vergleichen baher mitbem axoAovdsiv des N. T. 
(2at, sectari) in diefem Sinne, von einer. Rachfolge, Die 
fich auf Uebergeugung von der Wahrheit der mitgetheilten 
Lehre gründet, weßhalb ed in einigen ber. angeführten 
Stellen mit mel9scHaı verbunden, ja anderswo mit biefem 
orte als abweichender Lesart vertaufcht wird (ſ. Sturg 
a. a. O. n. 6, wo von einer varietas lect. die Rede ift, 
über die auch für Plato nachzufehn Buttmann zum Meno 
c. 15, Ed. Leo z. Erito c. D; von einer Nachfolge endlich, 
die fich durch Werke, durch ein der Lehre gemäßes Leben 
bethätigt, auf welchem Wege denn ald höchfted auch den 
Engeln aufgeftecfted Ziel ber Bolllommenheit eine &oolw- 
Sig mit Gott erreicht wird, die Suftinug feiner vorwaltens 
den Richtung nach praktifcher aufzufaffen gewohnt ift, als 
ein Glemend Alex. und Drigened, wiewohl auch -diefe ihre 
platoniſtiſche Gottähnlichkeit keineswegs in eine todte, uns 
tbätig verharrende Gnoſis ſetzen. Darum erfcheint das 
Exs0deı und ZEonosovekar bei Juſtinus wefentlich gleiche 
bedentend mit Ausdrüden in unfrer Apologie wie pupsi- 
Du va xgo00rra He dyada, Afıov — Sauren Äl &g- 








Noch An Wort Ab, Juſt. d. Mart. Apol. 1, p. 36. 891 


yav Ösıxwövan, alosicden vd eur) ügeord, EErxoAovdsiv 
ols pliov adre p. 58; xurd Tas Tod Xopıoroü ads 
Uxodmuoovvag Bıoöv p. Gl (entgegen dem 0Ux dxoAoudeng 
rois didayuccıy adrod Brodv p. 61); 6olws zul Evapkıog 
Zyyög Heü Bıodv p.67. Was aber von den-Menfchen gilt, 
die ja nach Clemens (Strom. 7, p. 750) bis zu einer 7a- 
Aslmoız dEouosovulen Yec loapyekog heranreifen können, 
Das findet mit geziemender Modification in der Haupt⸗ 
fache auch auf die Engel Anwenbung, die mit Kreiheit des 
Willens begabt find, wie der Menfch, und eben darum, 
wie er, der Heiligung fähig und bedürftig. 

Fragt man nun noch, ob der fo entwickelte Spradger | 
brauch dem ˖ Juſtinus; bei welchem er fich auch fonft findet, 
wie Tryph. p: 363, wo das neodnı Yen dem Befolgen 
von Vorfchriften unverftändiger und blinder jüdifcher Lehr 
rer entgegengefeßt wird, eigenthümlich angehöre, oder ob 
er ihn anderöwoher entlehnt Habe, fo koͤnnte man verfucht 
werden, ihn aus dem hebraifirenden Omlan mogevschu 
der LXX. und des diefe Sprechweife herübernehmenden 

T. (ſ. Schleusner’s Lex. in LXX. undinN.T. v. 07/00) 
wie aus der nächften Quelle herzuleiten, infonderheit da 
Clemens Aler. Strom. 2, p. 403. vergl. mit p. 418, A. (wo 
nebenbei der Unterfchieb zwifchen To xar’ slxovx und rd 
x” Ouoimdıv, den „einige der Chriften” machten, — kei⸗ 
nesweges alle, wie 3.23. nicht der Verfaſſer der Cohort. 
ad Graec. p. 36. und überhaupt diejenigen nicht, welche 


Geneſ.1, 26. nicht mit Clemens Paed.p.133 d. und p. 132d. 


von dem vollfommenenMenfchen Chriftus, fondern von 
dem Menfchen im Allgemeinen verftehn, vergl. Suic. Thes. 
ecel. T. I. v. &ixuv — am Flarften auseinander gefegt wird, 
was Gegaar zu qu. div. salv. 36. nicht gehörig beachtete) 
und ebenfo 5, p. 591. für die platonifche Öuolwaıg to JEh 
xcerc To Övvarov oder die 2Eouolwaısnrg05 Feov ald Gipfel 
aller Vollfommenheit nur einen andern Namen erkennt in 
der dxoAovdia oder. Hela dx. des Geſetzes nach der mo⸗ 


J 


392 Haſſelbach, Ab. Juſt. d. Märt. Apol. 1, p. 56. 


faifchen Stelle öxlon xuplov voö Heoü Uucv HopsVCohe, 
welche Nachfolge denn xara dvvanıv Zkouoroi. Gleidys 
wohl aber wird man in Betracht der philofophifchen Bil⸗ 
dung des Juſtinus und feiner durch fie beftimmten Denk⸗ 
und Darftellungsart boch Fein Bedenken tragen, fi dafür 
zu entfcheiden, daß unjer Apologet feinen Ausdrud nicht 
.. ans biefer Quelle, fondern unmittelbarer aus der damals 
gäng und geben, vornehmlich durch yplatonifche Schulen 
überlieferten Philofophenfprache gefchöpft habe. Ich führe 
bier nur an aus Plato Phaedr. p. 248 A. al Ös aAlaı Yv- 
qel, ubv ügıora Deo Exoukun xal elxaouivn, Pol. 3, 
p- 400 C. 76 zugvßuov yE — rij war Alkeı Emeras OuoLov- 
pevov, aus Philo Migr. Abr. V. 1,-p. 463. Mang. 6 2 
Exdusvog HE — Ovvodoındpoıg zoijraı tois dxoAovdov- 
cv curoũ Adyoıs, ovs- Ovouakev Edog Ayyilovg, and 
Plutarch audit. p. 37.d. — Orts ravrov darı TO Exreodns 
Ocũß xcœl To neldeode Aoyo, und verweife für alles Uebrige 
auf Wyttenbach zu Plutarch d. ser. num. vind. p. 27— 28, 
auf welchen fich auch Aft beruft in feinen Annott. in Plat. 
opp- T. I. p. 420, 





393 


3. en 
Unter welcher Dynaſtie haben die Zftaeliten 
Aegypten verlafien? 
Beantwortet von 


Dr. J. Ch. C. Hofman n, 
Repetenten des theologiſchen Ephorats in Erlangen. 


Die Erzählung von der Mißhandlung der Iſraeliten 
in Yegypten wird Er. 1, 8 mit ben Worten eingeführt: 
gear-na spend Sön am-by Urea on. Man fand 
es unbegreiflic, wie ein inländifcher König, wenn auch 
Sahrbhunderte nach Sofeph, von deffen ungemeinen Bers 
Dienften um Aegypten und die Pharaonen nicht gewußt 
haben follte, und vermuthete, ed möchte etwa ein audläns 
diſches Gefchlecht oder gar. ein ausländifches Volk zur Herrs 
fchaft gelangt feyn, was mit.jenen Worten Yır- 7a oa 
angedeutet würde. Wäre dann vielleicht 129 (B. 9) nicht 
das Ägpptifche, fondern das fremde Bolt, von welchem 
eher gefagt werden fonnte, es fey fchwächer an Zahl, als 
das ifraelitifhe? Dann würde die Befürchtung da nein 
neo-dy air (B.10) für den Kal eines Aufftandes ges - 
gen die verhaßten Fremden fehr gegründet ſeyn. Nun fins 
det fich bei Manetho (Ioseph. c. Ap. I, 14— 165 Euseb, 
praep. evang. X, 13; Euseb. chron. p. 99 ed. Ang. Mai., 
ef. Scholiast. Plat. ad Timaeum p. 202 ed. Ruhnken.; Sync. 
ehron. I, p. 113—114 ed. Dindorf) die Nachricht, Aegyp⸗ 
ten ſey, der Berechnung nach um die Zeit des Aufenthalts 
der Iſraeliten dafelbft, von einem aus Oſten gefommenen 
Hirtenvolfe unteriocht und übel behandelt worden. : Kein 
Wunder „ wenn man auf den Gedanken fam, in ben Hyk⸗ 
fo8, den Königen dieſes Hirtenvolkes, jene nene Dynaſtie 

- gefunden zu haben, Uber für welches Bolt follte man jene. 








394 Hofmann 


Hirten halten? Denn die Angaben Manetho’s fand man 
zu unbeftimmt, um aus ihnen allein zu einem fichern Ers 
gebniffe zu fommen. Man rieth auf die Jsmaeliter, Edos 
miter, Horiter, Kanaaniter, Amaleliter. Nur die leßte 
unter diefen Vermuthungen hat fich in unfere Zeit herüber 
gerettet:. alle übrigen waren zu ungegründet, um nidyt, 
fo wie fie aufgeftelt waren, in fich felbfi zufammenzufals 
Ien. Aber auch Amalefiter Fönnen die Hykſos nicht gewes 
fen feyn. Wie fommt ed denn, daß nirgends, auch Er. 
I, 8 nicht, erwähnt wird, aus dem befannten Bolfe der 
Analefiter ſeyen die neuen Könige gewefen; was um fo 
nöthiger ‚gewefen wäre, wenn man mit Recht behauptete, 
nur bei jener Annahme laffe fich völlig begreifen, warum 
die Sfraeliten gleich nach ihrem Durchzuge burd; daß rothe 
Meer von.den Amalefitern angegriffen, und warum wies 
derum die Amalefiter von den Iſraeliten bis zur Vernich⸗ 
tung befriegt worden find. Uber dieſes ift um jenes, und 
jenes um der. Beute willen gefchehen. Ueberhaupt aber, 
wenn nicht eine ägyptiſche, fondern eine fremde, den Ae⸗ 
gyptern felbft aufgezwungene Dynaſtie die Sfraeliten bes 
drückt hat, warum ift es nicht gefagt? Aus allen Stellen, 
wo von jener Bebrädung die Rede ift, kann Niemand ets 
was Anderes erfehen, als Daß Aegppter und ägyptiſche 
Könige ſich fo verfündigt haben und fo beftraft worden 
find. * 

So haben vielleicht Jene Recht, welche meinen, viel⸗ 
mehr die Dynaſtie, unter welcher Jakob nad) Aegypten 
gezogen ift, fey eine ausländifche, fey die Dynaſtie der 
Hirten gewefen. Dann hätten etwa die Könige von The⸗ 
ben Niederägypten zugleich befreit und fich unterworfen. 
Nicht übel würde auf dieſe Weiſe fich erklären, wie bie 
Kinder Sfrael, auch Biehhirten, fo gut aufgenommen, 
- von den thebanifchen Königen aber als von echten Aegyp⸗ 
tern, in welchen durch die Hykſos gerade der Haß gegen 
Hirten und Hirtenleben gefleigert worden war, bebrüdt, - 


Unt. welcher Dynaſtie haben d. Iſcaeliten Xeg. ver. 395 


ja mit Vertilgung bedroht werden konnten. Sehr begreif- 
lich wäre die Furt, Die-Sfraeliten möchten bei einem 
ähnlichen Angriffe, wie der der Hykſos geweſen wäre, fich 
zum Feinde fchlagen und, wenn auch jener Angriff mißs 
glückte, doch unbeftraft aus dem Lande ziehen. Aber der 
König, welchem Jakob vorgeſtellt wird, ſcheint doch Fein 
Hirtenkönig geweſen zu feyn. Er wird, ganz wie andere 
Könige Aegyptend, Pharao genannt, was gewiß nicht 
gefchähe, wenn ein fo folgenreicher Unterfchied zwifchen 
der damaligen Dynaftie und ber fpätern gewefen wäre, 
Er nimmt ihn freilich wohl auf; aber wie hätte er audy 
den Vater feines vornehmften Dieners, deffen Alter und 
Geftalt fchon Ehrfurcht gebot, anders aufnehmen, wie 
hätte er ihn bloß deßwegen, weil er dad Haupt eines Hir⸗ 
tenftanmed war, übel aufnehmen follen?. Daß aber die 
70 Seelen der Kinder Sfrael vorzüglich deßhalb ind Land 
gerufen worden feyen, um dem Großvezier Sofeph und 
feinem Könige ihre Plane durchjegen zu helfen, ift eine 
ebenfo lächerliche Bermuthung, wie jene, ber König 
habe, um volle Souverainität zu erlangen, eine Reihe 
von Sahren hindurch Die Nilüberſchwemmungen in Yethios 
pien zurüdhalten laffen. Hätte damals ein Hirtenvolk 
über Aegypten geherricht, wo hätten in dieſem Lande des 
Aderbaues neben deſſen Herden auch die der. Kinder Iſrael 
Platz finden follen? Denn daß Jakob feine Herden in 
Kanaan gelaſſen habe, ift freilich vermuthet worden, aber, 
wie fo vieles Andere, eine bloße Vermuthung. Würden 
nicht die Hykſos das Land, welches Sofeph und der Kö⸗ 
nig ald das beßte MWeideland Aegyptens bezeichnen, für 
ſich felbf in Befig genommen haben? Auch ſetzt Manetho 
die Wohnfige der Hyffos in Aegypten öſtlich vom bubas 
ftifchen Nilarme, alſo ungefähr in die Gegend, mo Go⸗ 
fen am wahrfcheinlichfien vermuthet wird. Alles dieß gilt 
aber faft ebenfo Fark gegen die Meinung, welde bie 
Iſraeliten unter den Hykſos Aeghpten verlafien läßt. 


396 | Hofmann 


Was follen wir nun von ben Hykſos halten? Daß ſie 
fhon vor Joſeph's Erhöhung. aus Aegypten vertrieben 
worden waren? Oder daß fie erft nach dem Auszuge der 
Iſraeliten dahin gekommen find? Wie Newton fie für Kas 
naaniter hält, welche vor Joſua nach Aegypten geflohen 
find. Aber Feine von biefen beiden Annahmen flimmt mit 
der ägyptifchen und ifraelitifchen Zeitrechnung. ' Dieß au 
beweifen, werben wir etwas weit ausholen müflen. 

Wir nehmen zum Ausgangspunkte für unfere rüdz 
wärts gehende Berechnung am ficherften die Schlacht bei 
Megiddo, welche in das Todesjahr des Zoflad und wahrs 
fcheinlich in das erfte Jahr Nechao’s, 609 oder 611 v.Chr., 
fänt. Daß diefe Schlacht mit der bei Magbolus (Herodt. 
H, 159) eine und diefelbe ift, glaubt man jet wohl ziems 
"lich allgemein, und man würde überhaupt aufhören, dar⸗ 
anzu zweifeln, wenn man einfähe, daß Kadytis nur Je⸗ 
zufalem ſeyn fönne, was ans Herodt. II, 5 fidherer, als 
man bisher gemeint hat, bewiefen werben kann. Denn 
welche Seehandelöorte follen zwifhen Gaza, wofür man 
Kadytis noch am wahrfcheinlichften gehalten hat, und 
Senyfus liegen? Wohl aber liegen von Joppe bie Jeuy⸗ 
fus Adfalon, Asdod, Jamnia und Gaza; Joppe aber ift 
gleihfam der Hafen Serufalemd. Zieht man eine Linie 
von Serufalem nach Joppe, fo fann man verftehen, wie 
Herodotus von Grenzen der Stadt Kadytid fprechen 
Bonute. Er will die Grenzen der paläftinenfifchen Syrer, 
worunter er nach IL, 104 die Philifter nicht meinen konnte, 
an ber Küfte, um beren Befchreibung. es ihm II, 5 zu 
thun it, angeben. Nun findet er von Joppe oder Jam⸗ 
nia an, was ihm in gleicher Richtung mit Serufalem liegt, 
eine andere Bevölkerung, welche er für arabifch hält; 
alfo gibt er dort die Grenze der Stabt Kadytis oder Je⸗ 
ruſalem an. Auch iſt ganz überfehen worden, daß fchon 
Pſammitich Asdod, noͤrdlich von Gaza, eingenommen 
hatte. | 





unt. welcher Dynaſtie b, d. Iſtaeliten Aeg. ver. 397 


Wir ſetzen ferner als ziemlich geſichert voraus, daß 
vom Anfange des ſalomoniſchen Tempelbaues oder vom 
Vierten Sahre der Regierung Salomo's bis auf die Schlacht 
bei Megiddo 400 Sahre verfloffen find. Vom Anfange bed ' 
Tempelbaues aber zurüd bis auf den Auszug aus Aegyp⸗ 
ten werden 1 Kön. VI, 1480 Jahre gerechnet. Doc, biefe 
- Angabe ift zu angefochten, um ohne Beweis angenommen 
werden zu dürfen. In der Hoffnung, daß man und nicht 
binterbrein Die Rechnung des Joſephus (Antiqq. VI, 3, 1) 
oder die Lesart der chinefifchen Juden als beffere Autoris 
täten entgegenhalten werde, verfuchen wir ed, biefen 
Beweis aus den Angaben der heiligen Schrift zu führen. 

Wir haben vor Allem zwei Reihen BAIEMNEnDEN BEN? 
der Zeitangaben, die Sahre der Könige: 

Salomo bid zum Anfange des Tempelbaned. 3 

David 2 2 ee er ee 0.0.40 

Sauull. ee > 5 40 

; Fa 83 
und die Zeiten ber Knechtſchaft ober Ruhe von Kuſchau 
Rifchataim bis auf Gideon's Top: 
Nuhe durch Gideon 40 
Herrſchaft der Midianiter . 7 
Ruhe durch Baral . . © 40 
Herrfchaft bed Satin . . . 30 
Ruhe durch Ehud .. 80 
- SHerrfchaft des Eglon . . . 18 
Ruhe durch Athril . . 40 
Herrſchaft des Kuſchan Riſchataim 8 
253 
oder, da hier wohl mehrmals Jahre in einander fol 
len, 250. 
Samgar bedarf Feiner befondern Zeitangabe, ba er, 
nach der Weife, wie Richt. II, 31, vgl. IV, 1, von ihm ers 
zählt wird, offenbar in die Zeit der Ruhe durch Ehud 
gehört. 
Theol, Stud, Jahrg. 1889. 26 


3... VGOpfmann 


Eudlich wiffen wir auch die Dauer bed Zuge durch 
die Wüfte: 49 Sahre. Nicht genau zu beflimmen ift Das 
gegen die Zeit von Joſug's Uehernahme des Oberbefehle 
big auf Die Untgrjochung der Ssfraeliten durch Kuſchan Ris 
ſchataim und die von dem Ende Des Ruhe durch Gideon 
bis auf Saul’s Erhebung zum Könige. Für letztere haben 
wig zwar eine Menge von Angaben, wie es aber Damit 
zu halten ift, wird folgendes Beifpiel zeigen. Richt. X, 7 
heißt ed, Jehova habe die Ifraeliten in die Hand, der Phi⸗ 
liter und Ammoniter gegeben; es folgt aber bloß eine 
Erzählung von, dem Siege Jephtha's Über die Ammoniter, 
und danach die Aufzählung von mehrern Richtern. Erſt 
XIII. 1 wird wiederholt, der Herr habe-die Sfraeliter in 
der Philifter Hand gegeben, und zwar 40 Jahre lang, unb 
dann folgt die Erzählung von Simfon’s Geburt, Leben, 
Thaten und Tod. Dieß kann aber weder fo verftanden 
werden, als feyen die 40 Jahre der Herrfchaft der Phili⸗ 
fter nur bie zu Simſon's Empfängniß und Geburt gerech⸗ 
net, noch auch, als ſeyen fie mit feinem Auftreten wider 
diefe Feinde zu Ende gegangen; denn jene Herrfchaft der 
Philifter dauerte fort, durch Simfon nur hier und da ger 
ftört, und überbauerte diefen felbf; daher ed auch XV, 20 
heißt, er habe Iſrael gerichtet ad os. Mit Sims 
ſon's Tode fchließt aber die fortlaufende Gefchichte Des 
Buche der Richter, ohne daß das erfte Buch Samuelid 
die Geſchichte Eli's an die Simfon’s irgend anknüpft. Wir 
fehen nur auch unter Eli die Philifter gefährlich und über» 
mächtig: fie rühmen fi ihrer Herrfchaft über Die Sfraelis 
ten (1 Sam. IV, 9). Erft 1Sam. VII. fiegen die Sfraelis 
ten unter Samuel in einer großen Zeldfchlacht über fie und 
gewinnen alle Städte wieder; worauf es V. 14 heißt: 
or ar dan pa Sb Sn, fo daß nun erft Sfrael vor 
allen feinen Feinden Ruhe hatte. Bon dem Siege aber, 
welchen die Philifter über Eli's Söhne davon getragen _ 
hatten, bis auf jenen des Samuel, waren inzwifchen 20 


Unt. welcher Dynaftie h. d. Araeliten eg. ver. 399 


Jahre (VN, 2) verfloffen. Sonach fallen die letzten 20 
Jahre von Eli's Richteramt und die nächſten 20 nach feis 
nem Tode mit den 40 Jahren der Herrfchaft der Philiſter 
md mit dem Leben Simfon’d zufammen. Daß im Budje 
ber Richter noch nichts von Eli. gefagt if, kommt daher, 
weil das Leben Simfon?’s Leite Beranlaffung gab, ihn zu 
nennen. ‚Dagegen war im erften Buche Samuelis keiire 
Beranlaffeng, Simfen zu nennen. Wie Simfon und Sa» 
muel ganz verfchieden neben einander fichen, ohne Berlhs 
rung, fo auch ihre Gefchichten. Simſon'ſteht nur der Aus 
feren Bebrängniß feined Volkes gegenüber, Samuel vors . 
zugsweife der innern Verderbniß. So gehört jener in das 
Buch der Richter, diefer in Zufammenhang mit Davib. 
- Denn die Gefchichten diefer Bücher find großentheils nicht 
chroniftifch, fondern, wenn man dad Wort fo brauchen 
darf, ypragmatifch geordnet. Iſt num aber Obiges rich⸗ 
tig, fo waren in ber Zeit ber Philifter zwei Richter zugleich 
in Sfrael, Eli und Simfon. Ga, ed hat wohl ihrer noch 
mehr zu gleicher Zeit gegeben. Wo gerade Roth war, ers 
bob ſich einer, half und blieb von da an fein Leben lang 
geehrt, aber zunädyft nur da, wo er geholfen hatte. Ale 
die Gileaditer fi von den Ammonitern bebrängt fahen, 
machten fle Jephtha zu ihrem Haupte, und er blieb es bie 
an feinen Tod; aber mit ben Ephraimitern mußte er Krieg 
führen, und wie haben feine Spur,’ daß er feinen Sieg 
über fie zu ihrer Unterwerfung benußgt hätte. Abimelech 
war Herr über Sichem, deffen Bürger ihn gewählt hats 
gen; von einer weiteren Herrfchaft Iefen wir nichts, unb 
Dennoch Heißt es, er habe Ifrael 3 Jahre lang gerichtet. 
Richten heißt alfo nicht? weiter, als ein vorwiegendes Ans 
fehen befigen, und wer diefes bei irgend einem Stamme 
befaß, der richtete Ifrael. Es war ja die ganze Zeit, da 
Iſrael ohne König war, nicht eine Zeit geordneter Negies 
rung, daß etwa nach dem Tode eined Richters von feinen 


Stamme ein neuer für dad ganze Bolf gewählt wurde, 
26 


400 Hofmann 


fondern es that ein jeder Stamm, was ihm gut bünfte, 
Da nun bald diefer, bald jener Stamm von Feinden bes 
drängt wurde, fo erhob ſich nun hier, nun dort einer, zu 
helfen. Daher find die Richter in der Zeit der Bedräng⸗ 
niß nach Gideon's Tode aus fo verfchiedenen Stämmen, 
Wenn ed aber heißt "ma vun, fo bedentet dieß nicht eine 
Nachfolge, fondern daffelbe, was Richt. X, 1 send pn. 
Hiernad, hat die Zeit von Gideon's Tode bis auf 
Saul's Erhebung zum Könige etwa folgende Geftalt: 
Abimelech 3 Jahre 
Thola 35% Eli 40 J. Zar 2% 
Ammoniter 18 J. 
Philiſter 40 J. 


| | Sephtha 6 J. 
Ebzon - Simfon 20 J. 
Elon | 
Samuel 
Abdon. 


Das Richteramt Samuel's beginnt aber nicht erſt mit 
ber Verſammlung ber Iſraeliten in Mizpa, welche 1Sam. 
VI, 6 erzählt iſt, ſondern bier erfahren wir nur eine bes 
ſonders wichtige Aeußerung feines richterlichen Anfehens, 
welches fid) von jegt an über ganz Sfrael verbreitet. 
Schon vor Eli's Tode war Samuel ein dem ganzen Volke 
befannter Prophet gewefen; ed beburfte alfo wohl; nadys 
dem auch jene 20 Jahre nad Eli's Tode verfloffen. waren, 
nicht mehr langer Zeit, bis er alt war und dem Volke eis 
nen König geben mußte. Setzen wir nun die 18 Jahre ber 
Ammoniter gleichzeitig mit den 40 der Philifter und dag 
Leben Simfon’d gleichzeitig mit den legten Fahren Eli's 
und dem Anfange bed Richteramts Samuel’s, fo find von 
Gideon bis auf Sauletwa 60 Jahre verfloffen. Denn bie 
Sahre der Ammoniter und Philifter beginnen gleich nach 
jenen 40, von welchen ed Richt. VII. 28 heißt, dag fie in 
Gideon's Tagen Jahre ber Ruhe gewefen ſeyen; die Jahre 





x Unt. welcher Dynaftie b. d. Span Aeg. ver, 408 


der Ruhe find aber immer bid u Wiederanfange ber’ 
Roth gerechnet. Ueberhaupt find die eigentlichen chrono⸗ 
‚Sogifchen Angaben im Buche der Richter nicht die Jahre 
der Richter, fondern die der fremden Herrfchaft und der 
Ruhe des Landes. Nach Richt. VIII, 28 kommt aber Feine 
"Angabe mehr von Jahren der Ruhe, weil eben bie 40 
Jahre der Philifter erſt Sam. VIL zu Ende gehen. Fin⸗ 
det man endlich barin eine Schwierigkeit, daß nach unfes 
rer Berechnung die 40 Jahre Eli's zur Hälfte in jene 40 
der Ruhe durch Gideon fallen, fo iſt fie theils fo zu bes 
ben, daß man aus VIII, 28 und 33 erkennt, die Jahre der 
Ruhe haben über Gideon’d Tod hinaus gedauert, theils 
fo, daß man annimmt, ein Richteramt, wie das Eli's, 
ein mehr priefterliches, habe neben dem des Gideon wohl 
eine Zeit lang beftehen können. R 
Es ift nun noch bie Zeit vom Uebergange Aber den 
Jordan bis zur Unterjochung des Volkes durch Kuſchan 
Nifchataim zu ermeflen. Als Kundfchafter, ald eines ber 
Häupter der Kinder: Iſrael (Rum. XIU, 3) konnte Joſua 
gewiß nicht unter 40 Jahre: alt feyn. Dann war er bei 
Uebernahme des Oberbefehls faft 80 alt; er lebte alfo von 
da an noch etwa 30 Jahre. Nach feinem Tode aber war 
ed nur fo lange ruhig, bis die Aelteften Iſraels, welche 
mit Joſua ind Land gezogen waren und ihn noch überlebs 
ten, auch geftorben waren Diefe Zeit kann nicht fehr 
Fange gedauert haben, da Athniel, der nachherige Errets 
ter Ifraeld aus der Knechtichaft unter Kufchan Rifchas 
taim, bald nad Joſua's Tode zur Belohnung für die 
Eroberung von Kiriath Sepher, Ealeb’s jüngfte Tochter 
zum Weibe befam (Richt. I, 13). Um fo fehr viel ift demz . 
nad) die Berechnung des Joſephus (Antigg. V, 1, 29; VI, 
5,4) auf 43 Jahre nicht zu gering. . 
Die ganze Zeit vom Auszuge and Aegypten bis zum 
Anfange des Tempelbaues wird alſo folgendermaßen zu 
derechnen ſeyn: 


402 | . Hofmann 


Zug durch Die Wäfle . . 40 Jahre 
bis-auf die Unterwerfung durch Kuſchan 


Riſchataim etwa . . 5 „ 
bis zum Aufhören der Ruhe der 
Bien .». . , 20 „ 


- bi6 gur Erhebung Saul's etwa. . 92 „ 
bis zum Anfange des Tempelbaues. 83 „ 
480 Jahre. 
Hiermit find die 450 Sabre, welche Paulus Apg. XI, 20 
auf die Zeit der Richter rechnet, fo wenig im Widerfpruche, 
ald, wie wir fehen werden, Gal. IH, 1T mit Er. XH, 40. 

Die Dauer des Aufenthalts der Ifraeliten in Aegyp⸗ 
ten tft Er. XII, 40 mit ausbrädlichen, deutlichen Worten, 
die eine anbere. Erflärung unmöglich zufaflen, auf 430 
Fahre angegeben. Die Autorität der Septuaginta ober 
bed famaritanifchen Textes oder des Joſephus (Antigg. 
I, 15, 2) ift in folchem Zalle, wo die Verlegenheit Aendes 
sungen fchafft, gar feine. Gen. XV, 13 offenbart Schova 
bem Abraham: ame num ayzayı or mo ya at mm O8 
mo nam sum. Sollte ihm Gott hier etwas vorherſa⸗ 
gen, was zum heile fchen an ihm felbit erfüllt iſt ober 
noch erfüllt werben foll, den Aufenthalt in Kanaan? 
Denn das müffen diejenigen annehmen, ivelche meinen, 
Die 430 Jahre feyen von der Berufung Abraham’s an zu 
rechnen. - Kerner war Kanaan für Ubraham’d Samen 
nicht ad ab Yan, ein Ausdrud, womit biefed Land dem 
Lande des Eigenthums entgegengefeßt wird; Kanaan war 
aber ſchon damals Kigenthum des Samens Abraham's 
durch die Verheißung, obwohl noch nicht Durch den Beſitz. 
Vollends aber von Knechtſchaft und Bedrüdung war ja 
in Kanaan feine Rede. Es muß dabei bleiben, daß Gott an 
jener Stelle von der Dienftbarfeit in Aegypten fpricht, 
wo bie Sfraeliten auch in der günftigfien Zeit ihres Aufs 
enthalts doch Unterthanen eines fremden Könige, balb 
aber auch Knechte eines fremden Volles waren, Es muß 
babei bleiben, obgleich es gleich hernach (V. 16) heißt: 


Unt. welcher Dynaftie b,-dr Swäeliten Aeg. verl. 403 


ya Aare ya Fr, fü gerade weil es hier'fo heißt. Denn 
Sn ift dem Hebräer nicht eine künſtlich bereihnete Yaveık, 
deren drei ein Jahrhundert fühlen, ſondern, wie Gen. VILA 
‚allein beweifen Tann, die Gefammtheit aller gleichzeitig 
lebender Menſchen, was nach damaliger Kebensdauer für 
jedes Geſchlecht ein Jahrhundert gibt, To dag, mit Ai >=N 
und mit uU rind sure eins. und daſſelbe geſagt - if. 
Aber gibt nicht Paulus (Gali M. 17 im Einklange mit den 
LXX. 430 Sahre an von der Berheißung bis zur Geſetz⸗ 
gebung? Wie ſollte o auch anders? Es kommt ihm weder 
Apg. XII, 20, noch hier darauf an, eine genaue chronolo⸗ 
giſche Beſtimmung zu geben, was aber wohl die Abſicht 
von Ex. XII, 40 iſt; ſondern nur bemerklich will er machen, 
dort, wie lange Gott dasimmer wieder abgöttifche frael 
mit Richtern begnadigt hat, hier, wie fpäf’erft aıf-die 
Verheißung bad Geſetz gegeben ift. Er hätte erſt eine Bes 
rechnung anftellen müffen, um die Sahre bie zur Wanbde: 
rung nach Aegypten zu finden oder darzulegen , zumal da 
feine Leſer wohl großentheils. bie Deutung der dB0 Jahre 
bei den LXX. Bannten; die. Zahl a00 fund er ſchon vor and 
brauchte ſie bloß ‚feinen Leferw:ind Geduchtniß zu rufen: 
Es fragt ſich alfe nur, wir eg zu erklaäͤten iſt, daß in denñ 
Geueal ogien uns. ber agyptiſchen Zeit ſich gewoͤhnlich nu 
4 Glieder finden. Aber wie foll um es Denn: ertlären, 
daß ſich aus derſelben Zeit G⸗, at ———— — 
logien finden? | Au 
Rum. XXV, 29-83: 1 &hron. 1l. Löhren. vn,2> 26 


— — =: Ephraim 


ae Bas Bin 
achir ezron ... ephah un 
Gilead Caleb | — ne 
Hepher Hur Zhaban Ä 
Zelaphehad Urt Lardiin 
— Betezßaleel Ammihud 
ESEliſama 


ws un 
a Joſua. 


‚Die Erklaͤrung gibt ſich am einfachfen aus den mans 
cherlei Geftalten, in welchen diefelbe Genealogie Levi's, anf 


welche man ſich beruft, an verfchiebenen Orten fi ſin⸗ 
Det: 


— th Kahath 
* Amminadab Jezehar 
orah Korah rah 
Aſſir Abiaſſaph 
ir 


—————— — 
Ex. VI. Levi 1Chron. VI.evi 
Merari Merari 
Maheli u. Muſi Muſi 
Maheli 


Se 
Er. VI. Levi 1Chron. VI Levi 1Chron. VL Levi 
Gerſon Gerſon G 


erſon 

Libei Jahath Libei 
Simei Jahath 

Sima Sima 


Es find alſo theils einzelue Glieder weggelaſſen, theils 
mehrere zuſammengefaßt worden; die gewöhnlich. vorkom⸗ 
menden vier Glieder follen nur die vier Geſchlechter dar⸗ 
ftellen, welche in Aegypten gewohnt haben. Eben deßhalb 
ft auch das Alter von Levi, Kahath, Amram und Mofes 
angegeben, nicht aber, damit man daraus berechnen follte, 
wie lange die Sfraeliten in Aegypten see —— id 
man ja doch nicht Tönnte. 

Nachdem wir: fo bie Nichtigkeit: der — 

@r. XII, 40 und Kön. VI, 1 nachgewieſen haben, kennen 
wir ben Umfang des Zeitraums von der Wanderung der 
Kinder Iſraels nad) Aegypten bis zur Schlacht bei Mes 
giddo folgender Geftält: 

Aufenthalt in Aegypten 40 Sahre 

bie zum Anfange bed Tempelbaues 480 „- 

bis zur Schlacht bei Megiddo 0 „ 
1310 Sahre. 


Unt. welcher Dynaſtle h. d. Iſraeliten Aeg. ver. 405 


Hiermit haben wir nun die Ägyptifchen Zeitangaben 
von Necho’d Regierungsantritt zurüd bie auf den Tod bes 
Tethmoſis, welcher die Hykſos vertrieben haben fol, in 
ber dreifachen Geftalt, in welcher fie und erhalten find, 
zu vergleichen. 


Nach Euſebius: Nach Julins Africanus: 
Pſammitich 54 (45) Jahre Pſammitich 54 Jahre 
Necho J. 8 (6) Necho 1. 8 
Nekepſus 6 Nerepſus 6 
Stephinathis 7 | Stephinated 7 
Ameres 12 (18) 

23. Dynafiied 25. Dynaftie.40 
PT u 44 Hk „u 68 
23. * 44 23. 2 89 
2. 49 2 „1290 
2. „ 230 21. „10 
2. „ 192 20. „135 
19, „19 19. „209 
Amenophis 40 Amenoph 19 
Rameſſes 68 Rammeſſes 1 
Armais 5 Armeſes 5 
Cherres 15 Acherres 12 
Andere. 8 Chebres 12 
Achencheres 16 Rathos 6 
Orus 26 Acherres 32 
Amnofis 31 Horus 31 

Amenoph 41 

935 Jahre. 959 Jahre. 


Nach Syncellus: 
Pſammitichus geſtorben 4876 n. E. d. W. 
Tuthmoſis „3879 

997 Jahre, 


Nach Joſephus Cc. Apion. I, 15—16) zählt Manetho 
von der Austreibung der Hykſos bis auf Die Vertreibung 


Br 


806 obxfmann 


bed Armais Durch Sethofſis 308 oder, wie es nad den 
einzelnen Zahlenaugaben heißen muß, 203 Jahre. Uns 
reicht es bin, daß allen dieſen verſchiedenen Angaben zu⸗ 
folge die Iſraeliten mit den Hykſos längere oder kürzere 
Zeit zufammengewefen feyn müßten. Und doch hat ung 
eben.dieß oben unmöglich gefchienen. Betrachten wir bie 
ägpptifchen. Zeitangaben von ber Herrfchaft der Hykſos, 


fo fält und zunächſt ihre große Verfchiedendeit auf. 


| Nah Enfebins: 
17. Dyn. Saites 19% 
Beon 43 lat.: 40 
Aphophis 14 Tat.: Archles 30 
Archles 30 lat.: Aphophis 14 


106 (103) J. 
Nah Julius Africanus: Nach Joſephus (c. Ap.): 
15. Dyn. (Hirten) ' Salatis 19% 
Saites 195. Beon 45 
Beon 44 Apachnas 36 J. T M. 
Pachnan 61 Apophis 61 J. 
Staan 50 Janias 50 J. 1M. 
Archles 49 Aſſis 49 J. 2M. 
Aphobis 61 ꝛc. ꝛc. 


281 9. Sm Ganzen 511 Jahre. 
16. Dyn. 32 Hirtenkönige 
318 Jahre 


17. Dyn. 43 Hirtenkönige, 


43 thebaniſche Koͤ⸗ 
nige daneben. 
153 Jahre. 


Nach Syncellus ſind vom Regierungsanfange des 
Salatis oder Silites bis zum Tode des Tuthmoſis 
3879 — 3477 —= 402 Jahre verfloſſen. Hiervon find aber 
235 abzurechnen, welche Tuthmoſis nach Austreibung der 
Hykſos noch regiert haben fol; alfe bleiben 377. Bei 





Unt, welcher Dynaftie h. d. Heneliten Weg. ver. 407° 


Enfebius find die 15. und 16, Dynpftie, welche deide In⸗ 
lius Africanus den Hirten zutheilt, jene eine diospolita⸗ 
niſche von 280, dieſe eine thebanifche von 150 Sahren, 
und bie Könige der 18., einer Diospolitanifchen, haben 
bis zum Tode des Tuthmoſis, weicher bei ihm nur9 Jahre 
bat, 106 Sahre regiert. Daß die Hirten 955 Jahre in 
Aegypten gewefen find, wie ed bei Julius Africannd ıers 
fheint, wird wohl Niemand glauben. Auffallen muß, 
wie nahe bie 518 Sahre feiner 16. Dynaftie mit ven 511 
der Hykſos bei Joſephus zufammentreffen; ferner, daß die 
Sabre feiner 15. Dynaftie denen der biospolitanifchen 1 . 
bei Eufebiug, Die feiner 17., neben welcher thebanifche Könige 
regiert haben follen, denen der thebanifchen 16. bei Euſebius 
entfprechen. Man flieht, wie er zwei verfchiebene Ans 
gaben zufammengeworfen hat. Neben der 15. Diynafie 
des Julius Africanus follen nach Syncellus (p. 191) vier 
tanitifche Könige 254 Jahre, neben der 17, nah Julins 
Africanus 43 thebanifche 153 Jahre regiert haben. 43 Kö⸗ 
nige auf 153 Jahre wären jedenfallö zu viel. Bergleichen 
wir aber die 88thebanifchen Könige des Eratofthenes, welche 
die erfte Periode feiner ägyptiſchen Gefchichte ausfüllen, 
und die 5 thebanifchen Könige, weiche bei Enfebius bie 
16. Dynaſtie ausmachen und 150 (bei Julius Africanns 
153) Sahreregierthaben, fo finden wir, Daß jene 43 ſaͤmmt⸗ 
liche Könige ded Eratofthenes find vom Anfange fehres 
agyptiſchen Reichs bie zum Ende der Hirtendynaftieen. 
So haben fich uns. die Äbergroßen Verfchiedenheiten ets 
was anggeglichen; und die 518 Jahre bei Julius Africas 
nus, bie 511 Jahre bei Joſephus, Die 437 bei Julius Afris 
eanus und die 377 bei Syncellus, unter-welchen 437 die 
mittlere Zahl ift, erinnern leicht an die 430 Jahre des 
Aufenthalts der Sfraeliten in Aegypten. 

Pie? wenn die Sfraeliten eben felbft die Hykſos wä⸗ 
ren? Wir wollen im Hinblicke auf diefe ſchon oͤfters aus⸗ 


408 - Hofmann 
gefprochene Vermuthung bie Nachrichten über bie Hykſos 
"näher betrachten. 

„Unter Der Regierung des Timaus kam unerwartet auß 
Oſten unbekänntes Volk (Avdgmzoı TO yEvog Konuoı) und 
eroberten ohne Kampf jenen (den öftlichen) Theil Aegyp⸗ 
tens unter vielen Grauſamkeiten. Einen aus ihrer Witte, 
Salatis, machten file zum Könige. Diefer brandichagte 
yon Memphis aus Unter⸗ und Oberägypten. Gegen die 
Aſſyrer befeftigte er Die Oftgrenze. : So befeftigte und bes 
feste er öftlich vom bubaftifchen Nilarme die Stadt Anaris 
und machte fie zu feinem Waffenplaße, wo feine Leute 
Setraide und Sold empfingen.”. Wenn man bei biefer 
Erzählung einen Augenblick vergeflen will, daß die Ifraes 
liten nicht mit Waffengewalt nadı Aegypten gefommen 
find und das Land nicht erobert haben, jo paßt das Uebrige 
ganz gut auf fle. Sie waren allerdings den Aegyptern 
vdgmnoı To ylvos Aanuou Ohne Kampf find fie nach 
Yegypten gekommen... Auaris liegt öftlid vom bubaftifchen 
Nilarme, alfo ungefähr in der Kandfchaft, wo am wahrs 
ſcheinlichſten Goſen zu fuchen if. Die Befefligung ber 
DOftgrenze könnte man in ber. freilich erzwungenen Erbaus 
ung der Waffenpläge Pitom und Ramfes finden, wenn 
“ anders diefe Städte im nordöftlichen Aegypten lagen. Die 
Erzählung fährt fort: „Nach mehreren Sahrhunderten 
empörte fich zuerft. die Thebais, dann das Übrige Aegyp⸗ 
ten. Alisphragmuthofis Cein Schreibfehler ftatt Misphrag⸗ 
muthofis) fchlug die Hykſos und ſchloß fie in Auaris ein, 
Sein Sohn Thummofid oder Tethmoſis belagerte fie hier, 
und da er fie nicht bezwingen fonnte, gewährte er ihnen, 
ed waren 200,000 Mann, freien Abzug mit aller ihrer 
Habe. Sie zogen durch die Wüfte nad; Syrien, wo fie 
Serufalem bauten.” Zwei Könige waren ed, welche bie 
Sfraeliten bedrängten, welche die Hykſos befriegten. Der 
zweite kann fie Doch nidyt bezwingen, er muß fie mit aller 








Unt. welcher Dynaftie h. d. Iſraeliten Aeg. verl. 409 


ihrer Habe aus Auaris (Goſen) abziehen laſſen. Der 


Name Jeruſalem iſt bedeutſamer, als alles Uebrige. 

Aber die Hykſos werden noch einmal genannt, bei der 
Empörung und dem Auszuge der Ausſätzigen. „Amenos 
phis, welchen Manetho nach Rampfes nennt, wollte gerne 


bie Götter fehen. Ein Priefter fagte ihm, e& würde ihm _ 


verftattet ſeyn, wie es fchon einem feiner Vorfahren vers 
flattet gewefen, wenn er das Land von’ allen Unreinen 
und Ausfägigen faubern wollte. Man bradıte fie, 80,000 
an der Zahl, darunter auch Priefter, in die Steinbrüche 


öftlih vom Nil, wo auch ſchon andere Aegyptier arbeites - 


‚ten. Nach einiger Zeit brachte fich jener Priefter ums 
Leben und hinterließ eine Weißagung, die Ausfäßigen 
würden Hülfe befommen und Aegypten beherrfchen. Nun 
gefhah ed, daß ihnen der König auf ihr Bitten die feit 
dem Auszuge der Hirten leere Stadt Auarid gab. Hier 
machten fie Ofarfiph, einen Briefter aus Heliopolig, zu 
ihrem Haupte, welcher ſich von da an Moſes nannte, 
Diefer gebot ihnen, keine Götter anzubeten, jederlei Thiere, 
heilige und unheilige, zu fchlachten und zu verzehren, und 
nur mit ihres Gleichen Verkehr zu haben, - Dann rüftete 


er fich gegen Amenophis und rief die Hirten von Serufar - 


lem zu Hülfe. Sie kamen. Amenophis, eingedent jener 
Weißagung, ließ ſich in kein Treffen ein, fondern fchaffte 
feinen Sohn zu einem Freunde, ließ die Götterbilder vers 
graben, die heiligen Thiere nahm er mit ſich, und fo zog 
er mit bem beßten Theile feines Volks nach Aethiopien, 
wo er 13 Jahre blieb. Dann kam er wieder mit feinem 
Sohne und jagte jene, welche inzwifchen Aegypten bes 


berrfcht nnd -mißhandelt hatten, bis an die Gränzen von 


Syrien.” So erzählt Manetho (loseph. c. Apion. I, 26.). 


n 


Die Abgeſchmacktheiten und Widerfprücde in dieſer Ers 


zählung hat bereits Joſephus hinreichend nachgewiefen. 
Wir heben nur heraus, was und wichtig if. Bor Allem 


ift eö Doch feltfam, daß Manetho diefen König nennt, ohne 


7 





MO - Hofmann 


beftimmt zu fagen, in weldye Zeit er gehört; denn er gibt 
ihm feine Negierungsjahre, Oder follte er wirklid der 
Rachfolger des Ramſes geweien feyn, welchen Manetho 
nach Sofephus Angabe 518 Jahre nady dem Andzuge Der 
Hokſos ſterben läßt? So lange wäre Auaris gewiß nicht 
leer geblieben. Daß der König die Gstter fehen wollte, 
mas, wie Manetho hinzufügt, ſchon einem fliner Vor⸗ 
gänger vergönnt gewefen war, erinnert an Heredt, II, 122, . 
mo von NRhampfinitus, dem Erbauer des. großen Schaßs 
baufes, erzählt wird, er ſey Iebendig in die Unterwelt 
geftiegen und habe mit Iſis Würfel gefpieltz bald gewann 
er, bald fie; endlich entließ fle ihn reich beſchenkt. An diefe 
Geſchichte ift Dort Die Befchreihung einer ſymboliſchen Hands 
lung geknüpft, weldye alljährlich zum Andenken daran 
beim Tempel der Iſis gefchieht., Die Ausfähigen find 
offenbar die Iſraeliten. Bei Der Arbeit in den Steinbräs 
chen denkt man fogleid; an Ex. 1, 14 und Herodt. IL, 126— 128. 
Ebenſo erinnert Auarid, Die typhonifche Stabt, wie fie 
Manetho neust, miederun an Gofen. Ofarfiph wird von 
Manetho ſelbſt Moſes geuannt. Seine Gefege find augens 
fcheinlich boshafte Verdrehungen der mofaifchen. Zulegt 
mäffen auch wirklich Die vertriebenen Hirten zu Hülfe ges 
nommen werden, um die Sefchichte zu Ende und auch die 
Ausfäßigen zu dem Hirten nach Serufalem zu bringen. 
Und dieſes Mal ift die Sage anfrichtiger, als bei der Vers 
treibung der Hirten; fie läßt Amenoph unterliegen. Ob 
ber Kreund, bei welchem er feinen Sohn. unterbringt, nicht 
vielleicht ein unterirdifcher: iſt? Ob nicht Amenoph felbft, 
ftatt nach Aethiopien zu gehen, die Göttin wirklich gefehen 
unb mit ihr gewürfelt hat, aber ohne Gewinn, und dar« 
um ohne Rückkehr? = 

Die Sage von ben Ausfägigen erfcheint in etwas ans 
derer und zwar in noch erfenntlicherer Geftalt bei Chaeres 
mon (loseph. co. Apion. I, 32). „Iſis erfchien dem Amenos 
phis im Tranme und fchalt ihn, Daß ihr Tempel im Kriege 





Unt. welcher Dynaftie h. d. Iſraeliten Weg. ver. #11 


zerftört worden war. Phririphanses, der Kenner heiliger 
Miffenfchaft, rieth ihm, um von dem fchredeuden Traum⸗ 
gefichte befreit zu werden, alle Unreinen aus bem Lande 
zu fchaffen. Unter Anführung des Schriftgelehrten Moſes 
Cägsptifh Tiſithen) und Joſeph's (agpptiſch Petefeph), 
des Kenners heiliger Wilfenfcheft, zogen fie aus.. Aber 
bei Pelufium trafen fie 350,000 Krieger, welche Amenophis 
dert geloffen hatte, weil ar fie. nicht nach Aegypten brin⸗ 
gen wollte. Mit ihnen vereinigt, zogen fie gegen Aegypten, 
Amenophis wid nad) Nethiopien. Sein Weib blieb ſchwau⸗ 
ger zurüd und gebar in einer Höhle einen Sohn, welcher, 
als er herangewachfen war, die Juden nach Syrien trieb 
und feinen Bater zurückrief.“ 

Endlich Lyſimachus, und Diodorus (bibl. U.542 -543 
ed. Wesseling.) und Tacitus (Hist. V, 3) ihm ähnlich, er⸗ 
zählt Folgendes: „Bocchoris ſandte zu Ammon um ein 
Orakel, denn das Land war mit Unfruchtbarkeit geplagt. 
Er bekam zur Antwort, die Plage werde aufhören, wenn 
die Tempel von den Unreinen und Gottloſen gefäubert 
wärben. Da wurden diefe in die Wüfte gejagt, bie 
Krätzigen und Ausſätzigen zwifchen Bleitafeln gebunden 
und fo ind Meer geworfen. Jene in der Wüſte beriethen 
ſich, was fie anfangen follten. Als es Nacht wurde, zün⸗ 
deten fie Feuer und Lichter au und waren fo Auf ihrer 
Hut, falteten und riefen die Götter um Hülfe an. Am 
folgenden Zage rieth Mofes, weiter zu ziehen und neue 
Wohnſitze zu fuchen, forthin aber feinem Menfchen wohls 
zuwollen und alle. Zempel und Altäre zu zerſtören. Se 
kamen fie in. das jetzige Judäa und bauten Ispoovi«; denn 
ſo sannten fie ihre Stadt zum Andenken an ihre Thaten 
der Zerftörung; fpäter änderten fie den Ramen in Teoo- 
onAvuo.” Bei Meanstho treibt ben König das Verlangen, 
die Götter zu fehen, zur Säuberung des. Landes von den 
Unreinen, bei Chaeremon ein fchrediended Traumgeficht der 
Iſis, bei Lyſimachus eine Landplage, welche eben um ihrets 


412 Ä Hofmann 


willen Aegypten heimfucht: Unter ben 350,000 Manz, 
welche Shaeremon bei Pelufium zurücgeblieben feyn läßt, 
ift wahrfcheinlich Die in Gofen befindliche Menge des ifraes 
Kitifchen Volks zu verſtehen. Das Erfäufen der Gotts 
Iofen bei Lyſimachus erinnert an das Gebot Pharao’s 
Er. I, 225 fogar die Feuerſäule meint man beiihm zu fins. 
den, wobei ed. ung jetzt gleichgültig ſeyn kann, ob ed aͤgyp⸗ 
tifche Ueberlieferung oder DVerbgehung der biblifchen Xach⸗ 
richten ift. So viel fehen wir deutlich genug, daß Die Ers 
zählung von ben Hykſos und die von den Ausfägigen nur 
zwei verfchiedene Geftalten derfelben Leberlieferung find, 
welche Manetho auf irgend eine Weiſe in Verbindung 
feßen zu müflen glaubte. In jener fuchen Die. Aegypter 
die Siraeliten, um beren willen fie fo viel hatten leiden 
"müffen, furchtbar, in Diefer verächtlich, in beiden haſſens⸗ 
würdig darzuftellen. Vielleicht ift ed der Beachtung werth, 
baß die von Joſephus aus Manetho namentlich angefährs 
ten Hirtenlönige 259 Fahre regiert haben „ bie übrigen bie 
zur Vertreibung der Hirten wieber 259 (denn die Lesart 
518 bei Julius Africanus ift wohl die richtige); von dieſer 
Austreibung aber bis auf Amenophis find ebenfo viele 
Sahre, wie während ber Hirtendynaftie, nämlid 518. 
Ferner ift es gewiß auffallend, daß, ed mag nun Amofid 
Cethmoſis) I. oder Amofid (Tethmoſis) I. die Hykſos 
vertrieben haben, ber tabula Bankesia zufolge auf jeden von 
diefen ein Amenophis gefolgt ift, aufjenen Amenophis I. 
(Chebron), auf diefen Amenophis IV. Sener Amenopbis 
"aber, welcher die Ausfäßigen verjagt haben fol, ift einem 
Ramſes nachgefolgt, der ungefähr ebenfo lange regiert - 
bat, als einer feiner Vorgänger gleiches Namens, welchem 
and ein Amenophid mit ebenfo langer Regierungszeit, 
als dem Bertreiber der Ausfügigen, beigelegt wirb, gefolgt 
- feyn fol. Gewiß die günftigften —— für Verwechs⸗ 
lungen und Uebertragungen! 


1 


Unt. welcher Dynaftie h. d. Iſraeliten Xeg. ver, 413 


Wenn nun aber die Sfraeliten felbft die Hykfos find, 
wie erklären fi) die. Namen, welche diefen gegeben wers 
ben? Der Name Hhyffos felbft „Hirtenfönige” paßt für 
die Sfraeliten freilich nicht in der Weife, wie für eine 
herrfchende Dynaſtie eines Hirtenvolks, da die Iſraeliten 
feine Könige hatten. Aber der Name ift wahrfcheinlich 
unrichtig überfegt. worben; denn ZA bedeutet zugeftans 
bener Maßen ebenfalls Hirte, und die Bedeutung „Fürk” 
ift eine abgeleitete. Auch erklärt ihn, wie Joſephus (ec. 
Ap. I, 16) bezeugt, Manetho felbft an einer-andern Stelle 
fo, daß ZRZ feine Bedeutung „Hirte” behält, und "Tx 
Gefangener bedeutet. Bei Eufebius heißt die 17. Dynaftie: 
zouusves adsApol Dolvixes Evo BacılEis. Die Benens 
nung BaouRsis war nothwendig, fobald aus den Hirten 
- eine Dynaftie gebildet werden follte. Dolvıxes konnten die 
Iſraeliten wegen der VBerwandtfchaft ihrer Sprache mit 
der phönicifchen wohl heißen: an phönicifhe Hirten wäre 
ja auch ohnehin nicht zu deuten. Dagegen paßt die Bes 
“ nennung mousveg adeApol unftreitig beffer auf die Kinder 
Iſrael, als auf bie Könige eines zahlreichen Volks. An 

die Lesart "EAAnveg bei Julius Africanus wird wohl Ries 
mand mehr glauben. Wenn aber Mametho bei Iofephus 
fagt, einige hielten die Hykfos für Araber, fo paßt auch 
Diefer Name ganz gut auf die Sfraeliten, die Verwandten 
fo vieler arabifcher Stämme. Schwieriger ift Die Deutung 
der Worte woıunv Bliss (Herodt. 11,128) oder, wie wohl 
richtiger zu leſen ift, Didzlov. Denn daß hier die Hykſos 
des Manetho gemeint find, feheint außer Zweifel zu feyn. 
Die irrige Meinung Zoega’d, worunv Dir fey Oſiris 
Dhilenfid, hat Ereuzer (Commentatt. Herodt. p. 192—194) 
fchlagend widerlegt. Sind aber die Hykſos darunter zu 
verftehen, fo heißt dieß für uns bie Sfraeliten. Auch 
haben wir biefe in ber Erzählung Manetho’d von bem 

Theol. Stub, Jahrg. 1839. em 


4 


/ 


418 ee Hofmann‘ 


Ausſätzigen in Die Steinbrüche verurtbeilt gefehen, und 
Ex. 1,14 kann mit ber fchweren Arbeit erasbar ara (ogl. 
' Er. V, 7—8) ſehr gut der Bau der Pyramiden gemeint 
feyn. Wenn man freilich erwartet, die Schrift würde mit 


ausdrücklichen Worten gefagt haben, daß jene erftauns 


chen Banten durch den Dienft der Ifraeliten zu Staude 
gebracht worden feyen, fo traut man Gott zu viel Achtung 
vor folhen Menfchenwerten zu, deren Thorheit bei aller 
Broßartigkeit ſchon Diodorus gerügt hat. Gewaltthätis 
ges Wefen wird dem Cheops, Chembes, Chemmis, und 
dem Chephren, Chebron, Kephren, Chabryis, von Dior 


dorus elib. I,c. 68 — 64), wie von Herobotus zugefchries 


ben; womit auch die Nachricht Manetho’s ſtimmt, im dem 
Steinbrücdhen, in weldye die Ausfägigen verurtheilt wurs 
den, hätten fchon vorher andere Negyptier gearbeitet 
Bielleicht haben die Aegpptier diefen beiden Königen and 
deshalb fo viel Schlimmeg nachgefagt, um das durch fie 
über das Land.gebrachte Unglüd ala Strafe ihrer Sünden 
anfehen zu können. Suchen wir freilich in den ägyptiſchen 
Königsreihen nach einem Cheops, fo finden wir nirgends 
einen ſolchen Namen. Am ähnlichiten ift der Name Suphie 
Nofellini will einen Schiufo gelefen. haben), welder der 
gweite.in der vierten Dynaſtie ift. Bon ihm wird merk 
wärdiger Weife auch erzählt, wie von Cheops, daß er 
bie größte Pyramide gebaut habe und daß er ein Ber 
Bichter der Götter gewesen ſey; zulest aber foll-er ſich bes 
kehrt und ein heiliges Budj-gefchrieben haben. Den Ras 
men Chephren finden wir etwa in Chebron oder Chebres 
wieder. Einen Ehebres hat Julius Africanus ale 11. Kir 
nig der 18. Dynaftie; aber bei Eufebius heißt er entweder 
Therres oder fehlt ganz, und Die tahula Baukesia weiß 
nichts von ihm. Chebron aber, nad) der tabula Bankesis 
Amenophis J., ift der Nachfolger Amofis J.; und. doch fols 
Ien die beiden Erbauer der größten Ppramiden auf eins 


unt. welcher Dynaſtie h. d. Ifeaeliten Aeg. verl. 15 


ander gefolgt ſeyn. Indeſſen auch hierfür ſcheint ſich Nach 
zu finden. Diodorus gibt zwar Chembis, Kephren und 
Mecherinus als die Erbaner ber drei großen Pyramiden 
an, geſteht aber, daß die Aegyptier ſtatt jener auch Ar⸗ 
mais, Amaſis (Amoſis, Ammoſis) und Inaros nennen 
ci, 64). Bon Amaſls hatte er aber ſchon zuvor (I. 60) ers 
zählt, er habe feine Gewalt fehr fehlimm gemißbraucht; 
weßhalb auch die Aegyptier, ale er von dem äthiopiſchen 
Könige Altifaned angegriffen wurde, alle vom ihm ab und 
diefem zufielen. Diefes Aktiſanes und feiner Eroberung 
Aegyptend gedenkt uur noch Strabo (XVI, p. 1102). line 
gebt hier nur dieß an, daß von Amoſis ganz daſſelbe ers 
zählt wird, wie von Cheops, und daß der Nachfolger 
Amoſis I. Amenophis I. (Chebron) if. So hätten wir alſo 
zwei aufeinander folgende Könige, unter welchen ber Hirt 
Philition die Pyramiden gebaut haben Tann. Daß Amos 
ſis I: und Amenophis I: zufammen nicht 106 Jahre regiert 
haben, wie Cheops und Ehephren, fondern nur 43, koͤn⸗ 
nen wir fürd Erſte um fo getrofter übergehen, je wandels 
barer die Angaben der Regierungszeit fat aller biefer 
früheren Könige find. Wenn nun aber jener Hirte in den . 
Hykſos oder in den Iſraeliten fich wiederfindet, wie fol 
man feinen Ramen deuten? Jablonski (Voec. Acgyptt. 346) 
meint, Diiszlov fey Dilısraiog sive Hoalsıorivos, wos 
gegen Creuzer (Commentt. Herodt. p. 195) mit Recht ber _ 
merkt, Herodotus felbft kenne ja den Namen Tædciorivos 
und würde, wenn er aus äguptifchen Munde DrAoratog 
gehört hätte, auf feinen Fall Bilızlov barand gemacht 
haben. Aber könnte nicht die Korm und» zu Grunde fies 
gen? Denn dag Srier die Philiſter oder doch ein phikiftät 
fer Stamm find, ergibt ſich aus der Bergleichung der 
GStellen 3 Sam. VIIL 18; 2 Sam, XV, 18; 1 Sag. XIX, - 
14; Ezech. XXV, 16 und Zeph. II, 5 unwiderfprechlich. 
Der Fin \ NM »* : 


416 vVofmann 


Aus wende oder vey hätte gewiß Olurig oder Busrlow 
fehr natürlich entfliehen können. Auffallend bleibt aber dies 
ſes Zufammenmwerfen ber Ifraeliten und Philifter bei dem 
ihnen benachbarten Aegyptern, wenn man bei diefen eine 
deutliche Erinnerung an den Aufenthalt des ihnen unter 
dem Namen der Sfraeliten wohlbelannten Volks in ihrem 
eigenen Lande vorausſetzt. Bedeunkt man jebod, daß dem 
Aegyptiern die Abflammung der Ifraeliten unbekannt war, 
ſo baß fie für Araber und Phönicier gelten konnten, und 
daß wahrfcheinlich um diefelbe Zeit, wie die Sfraeliten 
nach Aegypten Famen, bie Philiſter fich in ihrem Lande 
niederließen (1 Chron. VII, 21), fo daß dadurch wahre 
fareinlich die Sage entflanden ift, die Juden ſeyen ans 
Kreta, (en) ausgewandert, ald Saturnus von Snpiter, 
die alte Religion von der neuen, die pelasgifche von der 
bellenifchen vertrieben wurde (Tacit. hist. V,2), fo erflärt 
fich vieleicht jene Vermifchung der Ifraeliten und Phil 
fter, weldye ung bei Griechen und Römern nicht verwuns 
derlich ift, auch bei den kundigeren Aegyptiern. 

So wären wir alfo zu dem Ergebniffe gekommen, 
daß, da die Hirten Manetho's eind find mit den Ifraelis 
ten, nichts von einer fremden Dynaftie befannt ift, welche 
Aegypten fi unterworfen und die Sfraeliten bebrüdt habe. 
Gehen wir uns die Stelle Er. I, 8 darauf an, fo finden 
wir ed auch zur Erklärung derfelben. nicht unumgänglich 
nothwendig, daß bie Bebrüdung von einem fremden Bolke 
oder von einer fremden Dynaftie ausgegangen if. In 
dem Worte zip braucht es hicht zu liegen; von einem Eins 
gebornen, ber etwa durch Gewalt zur Herrfchaft gelangt 
wäre, ließe ed fich ebenfo gut verfichen. Daß er. un u, 
nicht "aa on heißt, möchte baher kommen, daß man "re 
falfch verftehen könnte, ald wäre ed der unmittelbare 
Nachfolger des Pharao gewefen, von welchem Joſeph er⸗ 
höht worden war, Endlich die Worte notmne v7 nb oe 


Unt, welcher Dynaftie h. d. Sfraeliten Aeg. ver. 417 


"heißen nichts anders, als: „welcher Joſeph nicht perſoͤnlich 
gekannt hatte”, Bienen alfo nur, daflelbe zu bezeichnen, 
was ſchon B. 6 gefagt war. „Os oUx Tide zov ’Inonmp” _ 
überſetzt Stephanus (Apg. VII, 18) die Worte, mit dem⸗ 
felben Gebrauche ded Wortes elötvar, welcher ſich Matti 
XXVI, 72; 1 Petr. I, 8 findet. Unter or (V. 9) wäre 
ohnehin nur fehr geswungener Weife ein anderes, als das 
‚ägyptifche Volk zu verftehen (vgl. B. 13). 
Aber unter welchem einheimifchen Könige, oder, wenn 
dieß zu viel gefragt feyn follte, unter welcher einheimis 
ſchen Dynaſtie haben die Sfraeliten Aegypten verlaffen? 
Wir haben oben vorläufig an die Richtigkeit der gewöhn⸗ 
lichen Annahme geglaubt, wonach bie Hykſos durch den 
ſiebenten König der 18. Dynaſtie, Thutmoſis, vertrieben 
worden ſind. Aber nicht nur ſind uns inzwiſchen durch 
die Entdeckung ſo vieler Uebertragungen und Verwechs⸗ 
lungen die oben angenommenen chronologiſchen Beſtim⸗ 
mungen unſicher geworden, ſondern wir haben auch aus 
unſerer Vergleichung der Nachrichten des Herodotus und 
Diodorus hervorgehen ſehen, daß Amoſis (Tethmoſis) L 
und Amenophis (Chebron), die beiden erſten Könige der 
18. Dynaftie, ed waren, unter welchen ber Hirt Philition 
bie beiden großen Pyramiden gebaut haben fol. Nun 
fallt und auf, daß Julius Africanus die Sfraeliten unter 
Amofis L and Aegypten ausziehen läßt, was Syncellus 
für die Folge einer Verwechslung von Amoſis J. und Amos 
ſis II: hält; und noch mehr, daß Joſephus nach Misphrag⸗ 
muthoſis, dem Beſieger, und Tuthmoſis, dem Vertreiber 
der Hykſos, folgende Königsreihe aufführt, welche wir 
gleich mit den entſprechenden bei Julius Africanus, Euſe⸗ 
bins, Syncellus und auf der tabula Malen oder Ban- 
kesia vergleichen wollen: | 


Hofmann 


418 


07 

11 

°C 

srgAan ang oꝛ 
—RRòCIX 


15 
p2a20puↄq ↄ 


ELTA 
RIPWPR IH 


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nuıgdonsur lg 
gyowmging ie 
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snıgziee 
sgdoumgite 
gyomgınzig 


gyoginmungagxcioz 


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usaqoqð oi 


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Unt, welcher Dynaftie h. d. Ifeneliten Aeg. ver. 419 


: Wir fehen hier. bie hinab auf Ramfes Meiamun große 
Einſtimmigkeit zwifchen ber tabula Abydica, Infephus und 
Julius Africanus, wogegen fih Euſebius und Syncellus 
durch die willfürlichen Veränderungen, welche fie vor⸗ 
nehmen, des Vertrauens fehr unmürdig Zeigen. Dariu 
aber flimmen fie alle überein, daß fowohl der erfte, als 
ber fiebente, bei Eufebius der fechöte, und der erſte König 
Diefer Dynaſtie denfelben Namen tragen; deuu Amoſis 
and Tuthmoſis ift Derfelbe Name. Sofephus läßt die Hyk⸗ 
08 durch den erfien vertreiben, deſſen Sahre er nicht ane . 
gibt, von dem er aber erzählt, er babe nadh-der Bertreis 
bung der Hykſos noch 25 Jahre lang gelebt, Dagegen hat 
der fiebente, Thmoſis, bei ihm, auf der tabula Abydica, 
bei Sulius Africanus und bei Enfebius nur 9 Jahre im 
Ganzen. Nur Syncellus, welcher faft Feine Zahl unvers 


> ändert gelaffen bat, gibt ihm 39 Sahre. Aber mit Amo⸗ 


fi$ J. (Tethmoſis 1.) fol ja nach Manetho eine neue Dynas 
ftie anfangen, während in der Erzählung des Sofephug 
Misphragmuthofis der Vater und Vorgänger deffelben ift. 
Ferner find, wie man aus der Bergleichung oben fieht, 
Chebron und Amenophisl. offenbar eine und. diefelbe Pers 
fon. Sft aber Chebron Chephren, fo muß AmofisI. Cheops 
feyn; denn unter Cheops und Chephren hat der Hirte 
Philition die Pyramiden gebaut. Dann kann aber, wenn 


- anders diefer Hirte die Hykſos, d. h. die Sfraeliten, bedeus 


tet, nicht unter (Cheops) Amoſis, fondern unter (Chephren) 
Amenophis die Vertreibung der Hykſos gefchehen ſeyn. 
Auch heißt ja der König, welcher die Ausſätzigen, d. h. die 
Ssfraeliten, vertreibt, nicht Amofld, fondern Amenophis. 
Aber dann paßt wiederum die Regierungszeit des Chebron 
nicht, der nur 13 Sahre regiert hat: nicht nur aus dem 
Grunde, weil der Vertreiber ber Hyffos noch 25 Jahre 
nach der Bertreibung regiert haben foll; denn, wenn bie 
Hykſos eins find mit ‚den Sfraeliten, fo wiflen wir, daß 


dem nicht fo war; fondern vielmehr, weil die beiden Kö« 


420 hi Hofmann 
nige, welche die Iraeliten bebrängt haben, fehr lange, 
und zwar ber erfte weit über 40 Sabre, regiert haben 
müſſen. So lange Regierungen finden fich aber in der 
ganzen Dynaſtie nicht, Die des Rameſſes Meiamun aus⸗ 
genonmen, welcher 61 oder, richtiger 66 Jahre regiert hat. 
Bon Misphragmuthpfis, dem Bater Amoſis (Tethmoſis) I., 
findet fich bei Joſephus Feine Regierungszeit angegeben; 
und da mir Die tabula Bankesia nur fo weitzur Hand ift, ale 
fie in Seyffarth’d Beiträgen 5. Kenntn. Aeg. abgedrudt if, 
nämlich von Amofis I. an, fo kann ich nur vermuthen,. daß 
Misphragmuthofls dort Afeth heißt, welchen Syneellus 
den Bater bed Tethmoſis nennt und 24 Jahre lang regies 
ren läßt. | 
Fragen wir die Zeitrechnung um Rath, fo finden wir, 
wenn wir dem glaubwärbdigften Zeugen, dem Julius Afris 
canus, folgen, 804 Sahre von der Schlacht bei Megiddo 
bis auf Das Ende der 18. Dynaftie. Diefe felbft nimmt 
259 Jahre ein, wenn ed wahr ift, daß die Jahre der ta- 
bula Bankesia , welche feine Namen haben, gleichzeitig mit 
den benannten verftrichen find; was allerdings daraus 
hervorzugehen fcheint, daß man fich offenbar bemüht hat, 
.. bie Sahre des Acherres und Rathos mit denen bes Horus 
in Einftimmung zu bringen (f. oben bei Julius Africanus). 
Dann find alfo von der Schlacht bei Megiddo bis auf den 
Anfang-der 18. Dynaftie 1063 Jahre zu rechnen; wobei es 
uns auffällt, daB wir wieder mit der feltfamen Zahl 259 
zu thun haben. Aber 804 ift eine zu Meine, 1063 eine zu 
große Zahl für unfere Rechnung. Die Chronologie fcheint 
uns alfo nicht zum erwünfchten Ziele führen zu wollen. 
Woher fol und Kicht kommen? Bielleiht von ben 
freilich fehr verfchiedenen Ergebniffen der hierogIyphifchen 
Studien? NRofellini laßt auf Ramſes I. Menephtah I, auf 
Diefen Ramſes IL, dann Menephtah II., hierauf Meneph⸗ 
tab III, endlich Ramſes IH. folgen, und unter Ramſes III. 
der nach ihn zur 18. Dynaſtie gehört, find die Ifraeliten, 





d 


Unt. welcher Dynaftie h. d. Sfraeliten Xeg. ve. 421 


welche er von den Hykſos unterfcheidet, aus Aegypten 

andgezogen. Dann ift Ramfes II. ein-großer Kriegsfürft 
und Sethus ebenfalld. Sener ift ihm Sefoftris; diefer hat, 
während die Sfraeliten in der Wüfte waren, feine großen ' 
Kriegszüge gethan. Wir fehen, daß jene Ergebniffe feiner 
Kenntniß der hierogipphifchen Denkmale in ftarfe Willkür⸗ 
lichkeiten ausgehen; ed möchte daher nicht gerathen feyn, 
bei ihm Hülfe zu ſuchen. Seyffarth Lebt der feiten Ueber⸗ 
zeugung, daß Amoſis J. 1908 v. Ehr. zur Regierung ger 
fommen ift, nnd daß unter ihm Die Sfraeliten Aegypten 


verlaffen haben (Beiträge z. Kenntn. Aeg. ©. 342). Aber 


daraus, daß Zulins Africanıs den Auszug unter Amofisl. 
fegt, weil eö feine Berechnung und bag Beifpiel des Jos 
fephus, welchem bie Hykſos und die Ifraeliten eins find, 
fo fordern, folgt für und noch nicht, daß er auch wirklich 
damals gefchehen if. Denn er hatte Fein anderes Mittel, 
den König zu finden, unter welchem er gefchehen ift, als 
wir, nämlidy dad der Gombination. Ob Seyffarth die 
Nativitäten richtig gelefen hat, weiß ich nicht zu benrtheis 
len, aber daß die Sonftellationen nicht fo ganz mit denen, 
für welche er fie erklärt, zufanmenftimmen, gefteht er doch 
ſelbſt (S. 283. 253). Und von feiner hiftorifchschronologis 
fchen Combinationsgabe können wir unmöglich viel halten, 
wenn wir fehen, daß er Sethos oder Sefoftris für Menelans 
hält, ihn zum trojanifchen Kriege helfen läßt und den Nas 
men Agamemnon aus dem Aegyptifchen erflärt (S. 340). 
Uebrigend wenn wir und ihm anvertrauen wollten, fo ges 
zeichte es unferer Berechnung ber ifraelitifchen Chronologie 
keineswegs zum Nachtheil. Denn daß die Sfraeliten unter 
Amoſis I. ausgezogen find, brauchen wir weder ihm, noch 
dem Julius Africanus zu glauben. Wir würden dann ben 
Auszug unter dem Könige gefchehen laffen, welcher bie 
Ausfägigen vertrieben hat, unter Amenophis, dem Nachs 
folger Ramefjed UL Nach Seyffarth’d Nativitätsberechs 
nungen ift er. 1474 v. Chr. geftorben, eine Zahl, welche 


422 Hofmann, 


und (609 880 — 1489) nur um 15 Sahre zu Hein wäre. 
Aber womit follten wir Die Jahrhunderte ausfüllen, welche 
dann in ber ägyptifchen Chronologie leer ſtünden ?- Dem 
ed kann und nicht helfen, wenn und Herr Seyffarth, ein 
Law der Chronologie, eine Wüfte von Sahrhunderten 
ſchenkt, wenn er und nicht auch anweifen Tann, fie urbar 
zu machen und zu bevölkern. 

- Unter diefen Umftänden ift ed am rathſamſten, zu dem 
uns überlieferten Königsreihen zurückzukehren. Wir haben 
bei denen. des Manetho eine befondere Schwierigkeit im 
threr Vertheilung unter Dynaftien gefunden. -Aber hat es 
denn auch mit diefen Dynaftien feine volle Richtigkeit ? 
Seyffarth Geitr. S. 89) ftreicht die 12 erften ale Dynas 
ftien der Götter. Aber wenn wir auch nicht mit foldher 


Kuühnheit uns befreien wollen, fo ift Doch jedenfalls merk, 


würdig, daß der Jahre feiner verfchiedenen diospolitante 
fhen Dynaftien bis zum Anfange der 18. ungefähr ebens 
fo viele find, als die thebanifche Königsreihe des Eras 
toſthenes ausfüllt, welche mit dem 38. Könige nach einer 
Herrfchaft von 1076 Jahren ihr Ende erreicht (Syncelli 
chron., ed. Dindorf., p-279). Mo bleiben dann die übrigen 
Dynaftien? 

Nach Allen, was wir von dem älteften Aegypten wiſ⸗ 


ſen, insbeſondere nach der Geſchichte Joſeph's, will es 


gar nicht ſcheinen, als ob in den erſten Jahrhunderten 
mehrere Reiche neben einander beſtanden hätten. An den 


Hirtendynaſtien find wir bereitd oben zweifelhaft geworden; 


unſere Zweifel werden um fo ftärfer, je länger wir dabei 
gerweilen. Unter den Namen, weldye und darans erhal⸗ 
gen worben find, findet fich ein Brjwv, ein” Anagpıs CApœo- 
gig) , letzteres befanntlic, ein Name des Typhon, jenes 
wahrfcheinlich nichts anderes als Bißov, Beßrwrv, ebens 


falls ein Name deffelben Gottes der Nomaden (Plutareh. 


de Iside atque Osiride, c. 62). Nach dem erften diefer Kö⸗ 
nige (Salatis, Silites, Saites) fol der fethroitifche Nomos 








Unt. welcher Dynaſtie h. d. Mroeliten Aeg. verl. 423 


beanunt feye (Euseb. zur 17. Dynaſtie; Inl. Afric. zur 16). 
Run umfaßte diefer Romos die Gegend von Peluſium 
und bie zum See Sirbonis, in welchem Typhon verborgen 
- liegt (Herodt. IIL. 5); daher Marfham (canon. chrun. ad 
Sec. VII, p. 108) vermuthet hat, er fey nadı Seth, d. h. 
Typhon cf. obige Stelle des Pintarhus) benannt. Jeden⸗ 
falls ift der Name unmöglidy von Saites, Silited, Salas 
tie herzufeiten, und ich vermuthe bewegen, jener angebs 
liche König habe Seth geheißen. Der Name Saites ſcheint 
nur dadurch entflanden zu feyn, Daß bei Sofephus ber öſt⸗ 
"Kid, vom bubaftifchen: Nilarme gelegene Nomos fälſchlich 
der fattifche heißt. So hätten wir unter den Ramen jener 
Hirtenfönige fhon drei Namen Typhon's gefunden, und 
die ganze Dynaftie kann wahrfeheinlich ohne Schaden ger 
ſtrichen werden. Endlich verfichert ung Syncellus (p. 199), 
anf Konchoris feyen vier tanitifche Könige gefolgt, welche 
zur Zeit der 17. Dymaftie 254 Sahre regierten. Aber dan 
folgen bei ihm Silites mit 19, Bäon mit 44, Apachnas 
mit 36, Apophis mit 61 Jahren. Daß jene Taniten fos 
wohl bei ihm, ale bei Eufebius und Zulius Africanue fehr 
Ien, ift um fo auffallender, da wir aus Pf. 78, 12 willen, 
daß die Wunder Mofis in Zoan, d.h. Tanis, gefchehen find. 

Gehen. wir bei folcher linfiherheit der Dynaſtien 
Manetho’s zu Eratofthene® über, welcher, unzufrieden 
mit defien Werke, aus den heiligen Schriftdenfmalen zu 
Theben eine Reihe von Königenamen abgefchrieben hat, 
welche fehr ftark gräcifirt aus Apollodorus bei Syncellus 
wenigftens zum Theile erhalten iſt. Syncellus fchließt fie 
mit Amuthantänd, dem 38. Könige, mit welchen, nad 
feiner Berechnung im Jahre der Welt 3976, das thebanifche 
Neich nad) 1016jährigem Beſtehen ein Ende hat, jedoch 
fein völliged; denn Syncellus bemerkt gleich dazu, es 
folgten bei Apollodorus noch 53 andere Königenamen, 
welche er, da fie ebenfo unnüß feyn würden, als die vor, 
‚ bergehenden 38, nicht weiter abfchreiben wolle (Sync. 1, 


+ 


424 Hofmann 


p. 279), Te weniger er fie zu feinen. Berechnungen hat 
brauchen Tönnen, um fo ficherer dürfen wir fie ald unver⸗ 
ändert.benugen. Bei näherer Bergleichung mit des Syn⸗ 
celus mizraimitifcher Königsreihe fällt und auf, daß ım 
Demfelben Sahre, in welchem Amuthantäud zur Regies 
rung fam, 3913 n. E. d. W., auch der migratmitifche Kö⸗ 
nig Horus zur Regierung gelommen feyn fol. Nicht als 
- wollten wir hieraus folgern, Horus und Amuthantäus 
feyen eine Perfon; denn das thebanifche Reid läßt Syn⸗ 
cellus erft 2900. n. E. d. W., 124 Jahre nad) dem mizrais 
mitifchen beginnen, ba fie doch beide mit Menes anheben. 
Wir müſſen alfo, wenn wir uns nicht von dem’ chronos 
Iogifchen Syfteme des Syncellus gefangen nehmen laſſen 
wollen, von der thebanifchen Zahl immer 124 abziehen. 
Alſo Fällt dad Ende jened thebanifchen Reichs in das 
Jahr 3352 der mizraimitifchen Zeitrechnung des Syncellus, 
in das 12. Jahr des Tuthmoſis, des fiebenten Könige ber 
18. Dynaftie Manetho’d. Wir haben-aber oben gefehen, 
daß Syncellus den erften 7 Königen biefer Dynaſtie viel 
zu lange Regierungen beilegt, während er fpäter Sethoß, 
Rampſes und Amenophis mit ihren langen Negiernngen 
ausläßt. Er rechnet von Chebron’s Negierungsantritte bis 
auf den Tod des Tethmofis 117 Jahre, Zofephus nur 83. 
Mir find alfo berechtigt, 34 Jahre von den 3852 abzu⸗ 
rechnen, wodurd das Ende jenes thebanifchen Reichs mit 
bem Regierungsantritte des Misphres nadı der Rechnung 
bes Syncellus faft zuſammenfiele. Nun ift es höchft ſelt⸗ 
fam, daß Syncellus zwifchen Amenophthis Memnon 
(Amenophis IV.) und Horus folgende an diefem Orte ganz 
ungehörig fcheinende Worte einfchaltet: Teol Aldıczav 
n0dv 700 xal Noü wuncav. Aldlgnes duo Ivdoo zo- 
Teuod Avaoravreg apög ri Alyvaıo Oxnoev. Man weiß 
durchaus nicht, wozu in Mitten der ägyptifchen Königes 
reihe diefe ethnographifche Bemerkung dienen fol. Ver⸗ 
gleicht man aber das Jahr 3913, vor welchem ald vor 








Unt. welcher Dynaftie h. d. Sfraeliten Aeg. ver. 425 


dem Sahre des Regierungsantrittes bed Horus diefe Bes 
merkung ſteht, mit bem Jahre, in welchem der lebte Kös 
nig jener thebanifchen Königsreihe zur Regierung gefoms 
men ſeyn fol, nämlich 3913, fo kommt man anf bie 
Bermuthung, ob nicht jene Worte zu Amuthantäug ges 
hören und nur durch die Jahreszahl gu Horus gekommen 
find, da diefer feheinbar in derfelben Zeit lebte. Dann 
würben fie richtiger zum Jahre 3789 gehören, welches mit 
dem Regierungsantritte des Amenfes nad) der Berechnung 
des Syncellus faft zufammenfällt. Wie? wenn wir hier 
eine Spur von einer Eroberung Aegyptens durch bie 
Aethiopier gefunden hätten? Denn anders läßt es ſich 
kaum begreifen, wie jene Worte zwifchen die Aufzählung 
der ägyptifchen Könige hineingerathen find. Wir wollen 
verfuchen, ob wir noch weitere Spuren davon finden. 
Bon Theben läßt Manetho die Erhebung gegen bie 
Hirten ausgehen. Da wir gefehen haben, baß die Hirten 
von den friedlichen Sfraeliten nicht verfchieden find, fo ift 
jene Nachricht entweder bloße Ausfchmüdung oder fie 
muß von einer Eroberung Niederägyptens von Theben 
aus verftanden werden. Nun ift aber, wie fchon oben 
bemerkt worden, die Annahme von einer frühern Zer⸗ 
fpaltung Aegyptens in zwei oder mehr Theile fehr unbe 
gründet. Es läge alfo am nächſten, an eine Eroberung 
durch die Yethiopier zu denken. Nach Aethiopien fol ſich 
Amenophis vor den Ausſätzigen zurückgezogen haben. 
Schon oben ift vorgefommen, daß jener Amaſis des Dio⸗ 
dorus, den wir in Eheops wiedergefunden haben, vor 
‚ einem Äthiopifchen Könige Altifanesd beflegt worden iſt; 
an welche Nachricht Lyfimachus ung wieder erinnert, wenn 
er ben Amenophis des Manetho Bocchoris nennt, wahrs 
fcheinlich eine durch Aehnlichkeit der Umſtände herbeiges 
führte Verwechslung mit dem befannten von Sabako, dem 
Aethiopier, befiegten Bocchoris. Tacitus, welcher dem. 
Lyſimachus nacherzählt, hat noch eine andere Sage, "die 


426 Hofmann’ 


Juden feyen ansgewanberte Aethiopier. Vielleicht darf 
. and die ſeltſame Nachricht noch verglichen werben, welche 
Diodorud an jene von der Belegung des Amafis durch 
Aktiſanes anfchließt; diefer ließ nämlid, allen ebelthätern 
Aegyptens die Nafen abfihneiden und ſchickte fie fo im 
Maſſe nadı Rhinokolura, defien Namen er davon herleitet. 
Sollten diefe nach Rhinokolura, der Grenzftadt Syriens, 
gebrachten -Lebeithäter nicht etwa wiederum bie Iſraeli⸗ 
ten ſeyn? | 
Beim Uebergange von der 18. zur 19. Dynaftie iſt eine 
feltſame Verwirrung. Die tabala Abydena hat vier Zahlen 
ohne Namen, woraus man auf gemeinfchaftliche oder doch 
gleichzeitige” Regierungen gefchloffen hat; allerdings mit 
großer Wahrfcheinlichkeit, da neben Horus feine Tochter 
und fein Sohn genannt find. Sollte aber nicht mit eben⸗ 
vieler Wahrfcheinlichkeit vermuthet werben können, daß - 
Amenophis und feine Schweiter Amefles (Amenemes) zu 
gleicher Zeit regiert haben? Die tabulg Abydena. fchlieft 
mit Rameſſes Meiamun, dem Nachfolger des Oſimanthyas 
(Rameſſes), gibt ihm aber nicht die 61 Negierungsjahre, 
welche er bei Joſephus hat, fondern 66, wie fie bei dieſem 
Kampfes, der Nachfolger des Sethofig, hat. Julius Afri⸗ 
canus hat einen Raphaces mit den 61 Jahren, welche 
Rameſſes Meiamun bei Sofephus hat, als Nachfolger des 
Sethos, aber den Ramſes Meiamun felbft hat dr gar 
nicht. Derfelbe Nachfolger des Sethos hat bei Enfebins 
unter dem Namen Nampfes die 66 Sahre, welche auf der 
tabula Abydena Rameſſes Meiamun hat. Der Rameſſes 
aber, welchen Eufebius an der Stelle Des Rameſſes Meins 
mun hat, zählt 68 NRegierungsjahre. Endlich Syncellus 
hat dieſen Rameſſes des Enfebius, aber keinen Sethos 
und feinen Rampſes. Dabei ift auffallend, daß beide 
Amenophid, welche auf Kampfes, Rameſſes, Raphaced 
folgen, gleich viel. Sahre haben. Gibt Julius Africanus 
dem einen 20 (eigentlich 19 Jahre 6 Monate), fo gibt er 





Unt. weicher Dynaſtie h. d. Sfrarliten Aeg. ver. 427 


fie auch Dem andern. Gibt Eufebius dem erften 40, fo 
befommt fie auch der zweite. Wobei wohl zu bemerken tft, 
daß nach. der Verficherung des Joſephus Manetho feibft 
gar feine Regierungszeit Diefes zweiten Amenophis angibt, 
woraus er. eben fchließt, es fey ein erbichteter und fälfchlich 
dort eingefchobener König. Den meiften Glauben unter 
allen verglichenen Ueberlieferungen verdient jedenfalls Die 
tabula Abydena und fie fcheint, wenn man aus der Zahl 
der Regierungsiahre fchließen darf, zwifchen Oſimanthyas 
(Rameffed) und Ramſes Meiamun (Rampfed, Raphaces), 
der 66 Jahre regiert hat, Feine andern Könige zu kennen; 

wie denn auch Julius Africanus nur einen Raphaceg, 
*— des Sethos, Syncellus nur einen Rameſes, 
Nachfolger des Armäus, kennt. 

Ich zweifle ſehr, daß dieſe Verwirrung ſich loͤſen 
wird, ehe man mit dem Verſtändniſſe der hieroglyphiſchen 
Denkmale zu größerer Sicherheit gelangt ift, als bisher. 
Uns genügt es fürs Erfte, gezeigt zu haben, daß der mas 
nethonifchen Vertheilung der Könige in Dynaftien- nicht 
zu trauen ift, und daß insbefondere Anfang und Ende 
der 18. weder Anfang noch Ende zu feyn fcheinen. Wir - 
können alfo unbedenklicd; dad Ende des thebanifchen Reiche 
bei Eratoſthenes ald eine ficherere Epoche zum Anfangs⸗ 
punfte unferer Berechnung machen. Zählen wir zu dem 
3852. ober 3818. Jahre, in welchem ed ein Ende genommen 
bat, die 153 Jahre hingu, während welcher, nad) Julius 
Africanus, wie wir oben gefehen haben, 5 Nachfolger 
jener 38 thebanifchen Könige ‚gleichzeitig mit der zweiten 
(nach Julius Africanus der dritten) Hirtendynaſtie regiert 
haben, ſo erhalten wir das Jahr 4005 oder 3971 als das 
Sahr, in welchem die Hirten Aegypten verlaffen haben. 
Nun ift nad) der Berechnung bes Syncellus Necho II. 4876 
zur Regierung gefommen. Ziehen wir davon die 880 Jahre 
unferer ifraelitifchen- Zeitrechnung ab, fo erhalten wir das 

‚Sehr 3996 ald das des Auszugs. Gewiß eine unter folchen 


423 Hofmann, Unt. weicher Dyn. h. d. Ifeael, Aeg. verl. 


Umftänben fehr befriebigenbe Uebereiufimmung! Will man 
unfere obige VBermuthung einer Eroberung Aegyptens 
Durch die Yethiopier annehmbar finden, fo wäre etwa 
. 153 Jahre vor dem Auszuge Oberägypten, bann von dort 
aus auch Niederägypten mit der Hauptftadt der damaligen 
Könige, Tanis, erobert worden. Vielleicht dürften wir 
‚uns auch darauf berufen,.daß noch auf feinem Monumente 
ein früherer Name gelefen worden ift, als der dee Amos 
ſis I. Amenoph), mit welchem nach unferer Bermuthung 
die äthiopifche Dynaftie begonnen hätte. Denn dann 
möchte man vermuthen, daß jene Aethiopier erft, deren 
Verbindung mit Indien außer Zweifel ift, die an die indis 
ſchen Baudenkmale erinnernden Pyramiden, Oheliöfen, 
Katafomben zu bauen angefangen haben. Der Haß gegen 
bad Andenten des Amofid und Ehebron one dann um fo 
erflärlicher, 

Sollte fi) unfere Vermuthung — fo wäre 
vuaren doc ein König einer neuen, fremden Dpnaftie, 
der fich über. Aegypten erhoben hat (era Ts za), und 
die Worte zornx »7> 85 Sen wären im firengften Sinne 
wahr. Daß der neue König nicht ale ein äthiopifcher bes 
. zeichnet wird, würde fich aus der engen Berbindung und 

dem vielfachen Berfehre erflären, worin Aegypten und 

Aethiopien von da an geblieben find. Jedenfalls aber teifft 
das Yahr des Auszugs der Sfraeliten, wie wir ed aus 
den biblifchen Angaben gefunden haben, zufammen mit 
dent Ende des 43, thebanifchen Königs nad) Eratofthenes 
und Manetho, alfo mit dem Ende der gemnnen Hirten⸗ 
——— 





Gedanken und Bemerkungen. 


Tbeol. Stud. Jahrg. 1889. 23 


1. 
Bibliſch⸗theologiſche Erörterungen ‚uber einige 
Abſchnitte der Korintherbriefe, 
: Con 
Dr. 8 Ling 


2 ——— Menſchengeiſt; — 
Urtheil. 
1 Kor. 2, 10 — 16. 


| Dieſer von jeher als wichtig anerkannte Abſchnitt ſchließt 


die pauliniſche Expoſition über die ber Weisheit des za- 


ouog eutgegenftehende apoftolifche Sottesmweisheit ab, ins 
dem als Prineip ber Ichteren der Gotteögeift ſelbſt darge⸗ 
fiellt, und die Methode des Apofteld als die demſelben ent⸗ 
" fprechende und eben darum den Geiltlofen nicht zufagende, 
aber auch ihrem Uirtheile nicht anheimfallende bezeichnet 
wird. Im Borkergehenden fagte er: „Wir tragen vor 
das den Machthabern dieſes Zeitlaufs a), ja allen Mens 





a) Unter ägyoveeg os alavos Tovson verfieht eu ohne Zweifel 
biejenigen, welche im außerchriſtlichen Lebensgebiete bie Maffe 
durch ihr Anjehen, ihre Wiſſenſchaft und Beredtſamkeit beherr- 
fchen, die Häupter der verkehrten gottentfrembeten Menge uns 
ter ben Hellenen wie unter ben Juden; fo jedoch, daß er fo- 

faort bie jüblfchen insbeſondere herverhebt (desavgmenr). 
28 * ' 


— 


432 Kling 


ſchen Unbekannte,“ womit er die Hineinführung in den Er⸗ 
Iöfungdplan nach allen feinen Beziehungen und Entwicke⸗ 
Iungsmomenten meint, deflen Aufdelung ihm eine Ents 
hüllung der fich darin bethätigenden Weisheit Gottes ſelbſt 
it. Dem fonftigen Unbefanntfeyn diefer Sache ftellt er 
entgegen die ihm (und feinesgleichen) gewordene göttliche 
Dffenbarung: „Uns aber hat. ed Gott geoffenbart durch 
den Geift.” — Mag man hier adzod feßen oder ben Als 
teren Zeugen zufolge mit Lachmann und Rückert ausftoßen, 
jedenfalls ift der göttliche Geift gemeint. Diefer erfcheint 
hier zuvörderſt als das göttliche Princip menfchlicher Eins 
fiht in den Plan Gottes oder als das die fubfective Ents 
hüllung diefes Plans vermittelnde Agens. — Der Apoftel 
gibt aber weitere Winfe über dieſes zveüuun. Zunächft bes 
gründet er die Ausſage näher, daß Gott durch den (feinen) 
Geift das geoffenbart, was zu Feines Menfchen Kunde 
gelangte: „Denn der Geift — dieſes göttliche Princip 
menfchlicher Erfenntniß der Offenbarungen Gottes — ers 
forfcht Alles, auch die Ziefen Gottes, d. h. er fennt Feine 
Schranken feines Wiffens, auch in bie tiefften , innerften 
Gedanken oder Rathfchlüffe Gottes, die aller menfchlichen 
Wahrnehmung und Ahndung entgehen, dringt er ein. — 
Db man unter Badn To Dsoö Tiefen des göttlichen We⸗ 
ſens oder der göttlichen Gedanken verfteht, kommt auf eins 
hinaus, da Gottes Wefen Geiſt ift, der denkend ſchafft 
und fchaffend denkt. Hier führt der Gontert jedenfalls auf 
Tiefen der göttlichen Gedanken; ber Ausdruck Badn ſelbſt 
ift durch &psvvav herbeigeführt. Wenn man hierin noch 


‚ ben Nebengebanfen finden will, daß der Geift ſich in ber 


Beſchauung ber göttlichen Geheimniffe vergnüge, fo möchte 
dieß doch nur den Werth eines geiftreichen Einfalls haben. — 
Daß aber der Geift auch bie Tiefen Gottes vollfommen ers 
kenne und demnach die Offenbarung derfelben zu vermit⸗ 
teln geeignet ſey, das zeigt er nun auf dem Wege der Ana⸗ 
logie, und zwar fo, daß dieß als etwas dem Geiſte aus⸗ 





Bibl.» theol, Erörterungen üb, d. Korintherbriefe, 433 


ſchließlich Zukommendes erſcheint, alſo das zuvor Behaup⸗ 
tete in ſeiner ganzen Schärfe genommen wird; was übri⸗ 
gend auch im Zuſammenhange mit dem Vorhergehenden 
begründet ift. Der zu beweifende Saß lautet eigentlich fo: 
„Der Geiſt, und nur er, erfennt ganz die innerfien Ger 
danken Gottes”; der beweifende Satz aber: Wie, was des 
Menfchen ift, nur der Geiſt des Menfchen weiß, 19, was 
Gottes ift, nur der Geiſt Gottes. Statt.zu fügen: D0REP 
Yag ra Tod avdgmnov ovösl; oldev, 8 un TO zvsüua tod 
avdonnov obumg x. T. A., hat er feiner lebhaften Darftels 
Iungsweife gemäß die Protaſis der Vergleichung in eine 
Frage verwandelt. Er fagt, das, was zum Menfchen ges 
hört, d. h. feine von ihm noch nicht nach außen fundgeges 
benen innern Bewegungen, Gedanken und Willensbeftim, 
mungen wiffe keines der menfchlichen Subjecte, fonbern 

nur der Geiſt des Menfchen in ihm, fein innerfted Princip 
des Selbfibewußtfeyng, des Denkens und Wollend. Eben⸗ 
fo fey es nun auch bei Gott, nur fein Geiſt erkenne feine 
"Gedanken. — Wenn man hier aus der Bergleichung weis 
tere Folgerungen zu ziehen berechtigt wäre, fo würbe hier» 
nach der Geiſt Gottes fih zu Gott verhalten, wie der 
Geift im Menfchen zum Menſchen. Es wäre dasjenige in 
Gott, worin fein Wiſſen um ſich felbft beruht, das Princip 
feines Lebens als eines ſelbſtbewußten, umterfchieden von 
feiner Weſenheit, aber doch identifch Damit, dasjenige, wor 
durch Gott er felbft ift, perfönliches ſelbſtbewußtes, freies 
Leben, was aber ja eben feine wahre und ganze Wefenheit 
ift, da er ald ewig und abfolut dDurchfichtig, als die Eins 
heit des Seyns und Miffend gedacht werben muß, woger 
gen im Menfchen unbewußte Subſtanz ift, die erſt im Selbſt⸗ 
bewußtfeyn verklärt, vom nveüue in ihm burchdrungen 
und durchleuchtet werben muß. — in unferer Stelle iſt 
jedoch Feine directe Belehrung über ſolche Beftimmungen 
zu fuchen, und diefe lagen auch nicht im apoftolifchen Lehr⸗ 
kreiſe. Der Grundgedanke ift hier nur der, daß Gott mit feis 


434 King 
nen Gedanken fich allein befaunt ſey, wie es fich ja auch 
‚beim Menfihen verhalte. — Nachdem er fo darauf hin⸗ 
gewiefen und per amalogiem dargethan hat, daß der Seift 
der göttlichen Rathſchlüffe ausſchließlich Fundig ſey, fo 
tommt er anf bad zuräd, wovon er ausgegangen, anf Die 
ihm gewordene Offenbarung der ſonſt unerlannten göttlis 
den Rathfchlüffe Durch den Geiſt. Der einfache Gedan- 
kengang wäre nun: Rur Gottes Geift weiß, was Gottes if. 
Wir aber haben diefen Geiſt empfangen, damit wir erken⸗ 
nen das und von Gott Geſchenkte. Er Eomumtaber in bie 
antithetifche Darftellungsweife hinein, wohl veranlaßt 
durch den Rackblick anf Die Weisheit und Die Häupter bie 
ſes Aeon (B. 6. 8). Bei zveine Tod xosuov würbe ed nun 
am nächften liegen, an die „Sinnedart der Welt” zu bens 
ten, aber wir müflen daven abfiehen, da dem Conterte 
aufelge zvsüne auf der andern Seite nicht fo erllärt wer⸗ 
den Tann. So ſteht denn zveöu« hier wohl auf ähnliche 
Weiſe wie Eph. 2, 3 (tod aysuuarog Tod viv dvapyodvrog 
&u voig vlois dnsıdslac). Es iſt das bie Welt beſtimmende 
Princip, woraus ihr Denken und Wollen hervorgeht ober 
was ihren ganzen habitus hervorbringt; Das zyzuuz ro 
6x Tod 8800 dagegen ift das aus Gott flammende Princip 
des göttlichen Denkens und Wollens der Menfchen. Wie 
verhält Ai aber uun bad avsüna 2x Tod Otoõ gu dem 
zusdue Tod dEoür Wenn jenes nicht bloß ein geiftiger 
Zuftand ift, fondern innerfted wirffames Princip, fo faun 
es von diefem nicht verfchieden feyn. Daß er aber nicht 
soo toũ, fondern vo &x Toü HEoU gefekt, das ift nicht, 
wie Rüdert meint, burd das dAaßouev herbeigeführt, 
zu welchem vielmehr wvsdue voü Otoũ befler paſſen würbe, 
da das dx roö Beoo felbft ſchon die Vorftellung des von 
Gott Empfangenen ausdrückt; fondern der Grund davon 
{ft ohne Zweifel in dem gegenüberftehenden: zvsöun cod x0- 
6uov zu ſuchen. Da hier der Genitiv bag durch das zywzupe 
Beſtimmte .einführt, fo war es ſchicklich, auf der andern 


Bibl.⸗ theol, Grörterungen üb, d. Korintherbriefe, 435 


Seite co in Too Dsoo zu fehen, bamit auch nicht der ent⸗ 
ferntefte Schein entſtände, als wäre biefed mueüne bad 
Bott beftimmende Princip. — MUebrigens wird diefes 
Drincip der Erfenntniß der göttlihen Of 
fenbarungen oder Mittheilungen von Paulus wohl 
unterfhieden von dem Principe des menfchlis 
hen Denkens und Wollens oder des vermünftigs 
fittlichen Lebens der Menfchheit, dem nveuun od dv- 
Soozov. Das letztere wirb als ein ber Erneuerung bes 
. bürftiges bargeftellt (Eph. 4,23), und als etwas, deſſen 
Bewahrung ſammt der der Seele. und bed Leibes von Gott 
erbeten wird (1 Theſſ. 5, 23); das and ihm hervorgehende 
Denken und Wollen als ein unkräftiges (vgl. Röm. 7,22 ff.).. 
Jenes dagegen, baß heilige urträftige Princip reiner. Ges 


. banken und Willensbefiimmungen, die den Charakter bed 


göttlichen Lebens an ſich tragen, iſt ibentifch mit dem Geiſte 
Gottes und Ehrifti, nicht urfpränglich im Menſchen, fonts 
bern ein Eraft göttlicher durch Chriſtus und feine Erlöfnng 
vermittelter Mittheilung Empfangened, womit Gott und 
Ehriftus im Menfchen wohnend,, der Menfch Gottes Tem⸗ 
pel wird Cogl.5, 165 Roöm.5,55 8,9 ff. 14 ff. Joh. 15,26; 
16, 7.13 f.) — Freilich ift das menfchliche zvsöue bem 
göttlichen verwandt, der Menſch vorzugeweife in biefer 
. Beziehung Yivos OAcoũ (Apg. 17, 29), und daher ift denn 
auch eine wefentliche Beziehung zwifchen dem göttlichen 
und menfchlichen zveüne, fo zwar, daß einerfeits bey 
menſchliche Geift durchaus abhängig ift vom göttlichen 
and bei gehemmter Gemeinſchaft des reinen Lichts und der 
reinen Kräftigleit ermangelt, weder wiflend, noch wols- 
lend die Natur wahrhaft beherrfchen kann, andrerfeitd aber 

der göttlihe Geift nur den menſchlichen Geift zu feinem 

unmittelbaren Organ im Menfchenleben hat, alfo nur nach⸗ 

dem er diefen mit fich geeinigt hat, fid den ganzen Mens 

ſchen aneiguen kann. — Wil man diefe Verwandtſchaft 

und wefentliche Beziehung Identität nennen, fo laſſen wir 


- 


Ba Kling 


und das gefallen, wen babei ber Unterſchied des urſprüug⸗ 
lichen fchöpferifchen und des abgeleiteten anerlannt würbe. 
Bon einer Pantheiftifchen Identität des göttlihen und 
menfchlichen Geiftes aber weiß Paulus und das Chriften> 
thum nichts, 

Nachdem der Apoftel gefagt, ex habe diefen Geift em⸗ 
Yfangen, um zu verfiehen das von Gott aus. reiner Huld 
ibm Cund allen Gläubigen) Berlichene, d. h. das Heil 
Chriſti, das man glaubend und hoffend jetzt ſchon hat; fo _ 
kömmt er mit B. 13-auf feinen Vortrag dieſes Heils zurüd 
(2. 6 f.) und begründet weiter feine Lehrweiſe (B. &). 
„Und diefes tragen wir auch vor, niht in Wors 
ten, die menſchliche Weisheit gelehrt — alfo 
nicht in einer fünftlichen, philoſophiſch⸗ rhetoriſchen Dars 
ſtellungsweiſe —, fonbern in Worten, die Geifk 
gelehrt” — — Calvin ſ. v. a. in reinem, einfas 
dem, der Majeftät des Geiftes entfprechenden Style, — 
das aylov bei zvevperog iſt hier wenigftend- unficher ; 
zvsvuarog über fieht ohne Artikel, wie V. 4, weil der 
Geiſt hier ald dem Subjecte inwohnend und fo eine ſub⸗ 
jective Qualität conftitutrendb gedacht it (vgl Harleß zu 
Eph. 2, 22). — Wenn er nun hinzufegt: wvevuerixoig 
zvevuarıxa Suyxglvovrss, fo ift wohl nicht zu bezweifeln, 
daß er mit zvsvuarına basjenige meint, wad er B. 7 
durch soplav Deo, B. 9 durch & nroluesev 6 Deög roig 
Eyanacıv avıov, V. 12 durch za Uno Toü Otoõ apı- 
od cvre nwiv bezeichnet hatte, Er nennt dieß fo als etwas, 
das den Charakter ded Geiſtes an ſich trägt, dem Geifte 
angehört, von ihn ſtammt. . Weniger ficher ift die Bedens 
tung des ouyxolvsıv, wovon bie weitere Erklärung 
abhängt. Es fcheint hier nur die Grundbedeutung: vers 
binden, ober die abgeleitete: erklären (eigentlich: Durch Zus 
fammenhaltung der verfchiedenen Montente eined Vorgangs 
denfelben deuten, vgl. 1Mof. 40, 41; Daniel 5, 13) in 
Betracht zu fonımen. Denn bie Bedeutung: vergleichen, 








Bibl.⸗theol. Crörterungen Ab. d. Korintherbriefe. 437 


die 2Ror. 10, 12 ſich findet, paßt in feinem Falle. Ges 
wöhnlid; geht man nun von ber Bedeutung „erflären” aus; 
und zwar entweder fo, daß man fie firenger feithält: 
Geiſtiges durch Geiſtiges, den prophetifchen Ausſpruch 
durch die vom Geifte Ehrifti gegebenen Auffchlüffe, oder 
auch ſchwierige Punkte der chriftlichen Lehre durch alttes 
flamentliche Typen erflärend, oder fo, daß man das 
Wort in weiterem Sinne nimmt — lehren, vortragen: 
den Drneumatifchen, d.h. Solchen, deren Sinnesweiſe vom 
Geiſte beſtimmt iſt, Pneumatiſches, jene aoplav Oeoũ vor 
tragend. Die erſtere Auffaſſungsweiſe liegt offenbar dem 
Contexte zu ferne; die letztere, die Rückert vorzieht, wird 
durch den Zuſammenhang mit dem Folgenden begünſtigt; 
und auch dem Zufammenhange mit dem unmittelbar Bors 
angehenden Eönnte dabei noch fein Recht werden, wein 
man zvevuarıxa nicht bloß auf den Inhalt, fondern auch 
auf die Darftelungsweife bezöge. Aber immer Blebt dies 
fer Erklaͤrungsweiſe ein wefentlicher Fehler an: die. Wills 
Lürlichkeit jener Erweiterung der Bedeutung, wobei bie 
Analogie mit dem Deuten der Träume ganz verfchwindet, 
and damit aller fichere Anhalt an den wirklichen Gebrauch 
Des Wortes nach diefer Seite hin verloren geht. — Wir 
halten uns daher am beßten an die Grundbedeutung von 
ovyxolvav, die zwar im N. T. nicht vorfommt, wohl 
aber bei Plato und Ariftoteled, ‚und erklären demnach: 
Geiſtliches, d. h. geiftlihen Inhalt (das Object des 
Acroöuev) mit Geiftlihem, d. h. geiftlicher Form, 
(dıidaxroig zveuuarog Aöyoıg) verbindend a).” Hier 
mit wird die Angemeflenheit feiner unmittelbar vorher ans 
gedeuteten Darſtellungsweiſe noch beftimmt hervorgebos 





a) So im Weſentlichen ſchon Calvin: „Dicit sese aptare spiri- 
toalia spiritualibus, dum verba rei accommodat: hoc est 
eoelestem illam spiritus sapientiam temperat oratione sim- 
plici, et quae nativam spiritus energiam prae se ferat. 


⸗ 


: 438 Ä ling. | 


ben. — Auch fo ergibt fidy nun ein guter Zufammenhang 
mit dem Folgenden. In „Ta vod zysuueros” (8.14) if 
zuſammengefaßt, was in zwsuuearıxa und AVsvuarssoig 
uunterfchieden if. Er fagt: Ein pſychiſcher Menſch 
aber nimmt nicht auf das, was vom Geiſte Got 
tes kommt — jenen geiftlihen Inhalt in der entfpre: 
chenden Form. Ein pſychiſcher Menſch ift.im Allge⸗ 
meinen ein „avsöne un Exrov” (vgl. Sud, V. 19), nicht 
gerade ein grober Sinnenluſt hingegebener. Die Yu iR 
die Totalität vnorftellender und bildender, empfinbender 
und begehrender Thätigfeiten, die ebenfo auf Materielles, 
Sinnliches, wie auf Geiftiged gerichtet feyn Fönnen. So 
lange nın das Gottverwandte, das avsüue, im Menfchen 
bloß in unkräftigen Idealen und Willensacten fich bewegt, 
Das eigentlich herrfchende alfo das niedere Princip ift, fo 
lange das menfchliche Ich noch nicht mit dem höheren Les 
bensprincipe geeinigt, in feinem Fürſichſeyn beharrt, und 
fo nur das Gentrum niederer, irdiſcher, finnlicher, ber 
fchräntter Vorftelungen, Reflexionen, Begehrungen if, 
fo lange ift der Menfch duzıxos, fey ed nun, daß das Grob, 
finnliche oder die feinere verftändige Selbftfucht vorwalte. 
An unferer Stelle ift fein Grund vorhanden, das Eine oder ' 
das Andere befonbers hervorzuheben. Bei 00 Ösyeras 
aber hat man an Ungeneigtheit zu benfen CBengel: 
,‚ quamvis oblata sint, non vult admittere. Vgl. ötyeodaı Jacob. 
1,21). Der Ungeneigtheit, Dad, was des Geiftes Gottes iſt, 
anzunehmen, weil man es für Thorheit achtet (ogl.1,18.23), 
geht aber zur Seite ein Unvermögen zu erkennen, fo 
daß das Urtheil, das der pſychiſche Menfch über das Pen» 
matifche hegt (es fey umpla), auf ihn felbft zurüdfällt. Das. 
Object des yvavar muß das Pneumatiſche felbft feyn, und 
ber folgende Sa enthält den Grund des Unvermögeng a): 


a) Anders Rüdert. Nach ihm begreift das ou Ödzerar, was 
er von Unempfänglichleit überhaupt verfteht, die Unfähigkeit 


Ka 





Bibl. theol. Erörterungen kb, d. Korintherbriefe. 439 


( s 

weil es pneumatifch, d. h. anf eine dem Beifte und 
Dem, was von ihm herfommt, entfprechende Weiſe, alfo 
vom prenmatifchen Staubpunfte, ſomit nur von dem, ber 
diefen einnimmt, benrtheilt wird, nämlid, wenn es richtig 
beurtheilt werben fol (Luther: denn es muß geiftlich ges 
richtet werden). — Hierin lag ein ſtarker Winffür die Tadler 
der Lehrweife ded Paulus. Denn ohne Zweifel hat er biefe im 
Auge, fo wie er im Kolgenden unter dem zveuparızdg 
ſich felbft begreift. Er fagt aber vom Pneumatifchen, _ 
d. h. von demjenigen, deſſen Denken und Wollen das Ger 
präge des göttlihen Geiſtes an fi trägt: „Er beur⸗ 
theilt Alles und wird ſelbſt von Keinem bes 
urtheilt” Er will fagen, ein foldher habe den rechten 
Mapftab für die Beurtheilung alles deflen, was in den 
Bereich feiner Erfahrung und feined Denkens falle, alfe 
auch der Menfchen, fo daß in dem „Alles“ auch das „Alle” 
begriffen tft (Bengel: omnia omnium, itaque omnes). Es 
verfteht ſich won felbft, daß hier der Pneumatiſche in ſei⸗ 
ner Bolltommenheit gedacht, alfo die Befchränttheit und 


Irrthumsfähigkeit der empirisch gegebenen Pneumatifchen 


nicht ausgefchloffen ift. Seber wird in dem Maße, als 
er ein Prreumatifcher ifl, das, was vom Geifte fommt, auf 

Die gehörige Weife beurtheilen, nad). feinem wahren Werthe 
zu fchägen wiflen, ebenfo aber auch andererfeite bad, was 
dem «lv odros, dem Gebiete des Irrthums und der Sände, 
angehört. Wenn ed aber heißt: er felbft wirb von Kei⸗ 





und die Abgeneigtheit in ſich; basov duraraı yraras Tnüpft ex 
als zweiten Grund der Unempfänglidkeit an umgl« yag £arır 
an. Aber fo wäre das ov dvvaraı yvavaı in dem ov d£- 
ysras Schon begriffen; ed koͤnnte alfo.nicht zugleich ben Grund 
davon enthalten. Das Richtigere ift demnach, bad od dfyeras 
und av Övvaraı yroösaı ald die gwei einander parallellaufens 
ben Geiten ber Sache anzufehen und jedem feine befondere 
Begründung zu laffen. Als nady feiner Anficht Wiberfinniges 
will er e8 nicht annehmen; als eine geiftliche Beurtheilung Er; 
fordernbes Tann er es nicht verftehen. 


440 F Kling 

nem beurtheilt, fo iſt oddevög natürlich auf den Kreis der 
Nichtpneumatifchen zu befchränten. Dieje haben für ihn 
feinen Mapftab der Beurtheilung; er ift alfo auch ihrem 
Urtheile nicht unterworfen. Daß avaxoiveıv hier im 
emphatifhem Sinne genommen werde, von gehöriger, 
gültiger Beurtheilung, weldye ein Begreifen der wahren 
Befchaffenheit des Objects vorausſetzt, ergibt ſich aus Dem 
Zufammenhange. — Der 16. B. enthält uun noch die Bes 
gründung der zweiten Hälfte des Isten. Niemand, d. h. 
fein Nichtpneumatifcher hat ein gültiges Urtheil über dem 
Pnreumatifchen. Niemand hat je den Sinn (den 
Berftand und fomit die Gedanken) des Herrn erfannt, 
ber ihn (fo daß er ihn) unterweifen wird; wir 
aber haben Ehrifti Sinn, d. h. feine Gedanken find 
in unfern Befig übergegangen, und eigen geworden. Alſo 
gilt auch in Bezug auf und, was in Anfehung Chriſti Als 
len (Nichtpneumatifchen) abgefprochen wird: Keiner vers 
fteht unfern Sinn, fo daß er ung belehren Cmeiftern, zus 
rechtweifen), fomit ein gültiges Urtheil über und fällen 
dürfte =). 

Sm. Bisherigen bat der Ayoftel Momente genug zur 
Beurtheilung der Gegner und Tadler feiner Lehrmweife und 
fonady auch der hiermit zufammenhängenden Parteifucht 
hingeftellt. So fann er denn jebt geradezu an bie korin⸗ 
thiſchen Chriften fidh wenden und unumwunden erklären, 
auf einem wie niedrigen Standpunkte dieſes Parteimefen 
fie erfcheinen laffee — Wir mollen aber, da dieß weniger 
Ichwierig und von Andern hinreichend beleuchtet ift, hier» 
bei nicht verweilen und einem andern Abſchnitt unfere 
Aufmerkſamkeit zuwenden. 


a) Was bier als Folgerung fidy ergibt, wollten Ginige im dem 
Texte unmittelbar finden, indem fie coroͤy auf den Pneuma⸗ 
tiſchen bezogen. Aber 1) ift die Beziehung des avuroy auf 
xvglov ber jefajan. Stelle, die der Ap. einflidht (40, 13), als 
lein gemäß; 2) würbe fi) dann das Mittelglied (nasig ob — 
Eronse)) nicht gut ausnehmen. 





Bibl.⸗ ie Grörterungen üb, d. orintperbriee M 


2. Ehe 1Kor. 7. 

In diefem Kapitel ertheilt der Apoftel einen gutachts 
lichen Befcheid auf gewiffe Anfragen der forinthifchen Chris 
ften, betreffend: 1) die Fortfegung oder Aufhebung vors 
handener ehelicher Verbindung und Gemeinfchaft, 2) die 
Eingehung des ehelichen Verhältniſſes von Seiten Solcher, 
die entweder noch im jungfräulichen Stande oder verwitts 
wet waren. Seine ganze Erpofition erflärt fi) wohl am 
beßten daraus, wenn wir ihn in der Mitte zweier in Kos 
rinth hervorgetretenen Richtungen ung vorftellen: einer 
ſeits einer firengen, auf Enthaltung und Gölibat under 
dingt hinarbeitenden, andererfeits einer laren, die gefchlechte 
lichen Verhältniſſe mit Forinthifcher Keichtfertigkeit behan⸗ 
delnden. Er felbft hält eine gewiſſe Mitte zwifchen beiden, 
indem er der Enthaltung von der Gefchlechtögemeinfchaft 
zwar den Vorzug zugefteht, aber fein zwingended Gebot 
hieraus gemacht wiffen will. Der Inhalt diefed Kapitels 
bietet nun Vieles dar, was der afcetifchen Richtung, wie 
fie bis zur Reformation in der chriftlichen Kirche faft all 
gemeine Geltung hatte, nicht wenig Borfchub zu thun 
ſcheint. So finden denn ſowohl die römifch » Fatholifchen, 
als die in proteftantifchen Secten auftauchenden Vertheidi⸗ 
ger bed Eölibats oder der gefchlechtlichen Enthaltfamkeit 
überhaupt hier eine bedeutende Handhabe ihrer Anficht 
und Gefinnung. Dagegen haben die proteftantifch s firch« 
lichen Augleger von den Reformatoren an ſich viele Mühe 
gegeben, bie betreffenden Stellen fo auszulegen, daß kei⸗ 
nerlei Begünftigung jener. Anficht in den paulinifchen Ers 
HMärungen liegen, und Allee, was er in diefer Beziehung 
fagt, auf eine Abmahnung von der Ehe aud Gründen, bie 
in den damaligen Umftänden gelegen, hinauslaufen. fol. 
Neuerlich aber hat Rüdert unummunden erllärt, baß 
hier eine Befangenheit bei Paulus felbft wahrzunehmen 
fey;. und wir glauben, daß er in der Hauptſache nicht 
Unrecht hat, müſſen uns aber die Aufgabe flellen, welche 


442 Lling 


diefem Erklärer feinem Standpunkte nach ganz ferne liegt, 
dieß mit dem apoſtoliſchen Charakter des Paulus und mit 
der Idee bed Kanon, zu deffen wichtigften Beftandtheifen 
wir dieſes apoftolifche Sendfchreiben rechnen, zu vereiits 
baren. Die Löfung diefer Aufgabe wollen wir auch fofort 
verfichen, am ſodann defto ruhiger auf die Sache felbft, 
von ber es fish hier handelt, eingehen zu können. Wir ges 
ben dabei zuvörberfi von einem andern Punfte aus, von 
demjenigen Theile bes neuteftainentlichen Kanon, ber in 
neueſter Zeit vornehmlich in Frage geſtellt ift, nämlidy von 
den Evangelien. Setzen wir hier den günftigften Fall — 
. and wir glauben, im Blicke auf die neueſten Verhandlungen 
dieß wagen zu dürfen — dag ber hiftorifche Eharafter der 
Evangelien gegen die concentrirten Angriffe der ſchärfſten 
Kritik vollkommen feitgeftellt werde, fo wird es doch nims 
mermehr delingen, alles Einzelne, fo wie es daſteht, zu 
retten und eine hieranf beruhende Harmonie. der evanges 
lifchen Berichte zu gewinnen. Dennoch aber wird bie chrifts 
liche Kirche den Fanonifchen Charakter unferer Evangelien 
mit berfelben Zuverficht zu behaupten fortfahren, mit wels 
cher unfere Väter bei der firengen Borausfegung der gött⸗ 
lichen. Eingebung alles Einzelnen benfelben behauptet has 
ben; ja wir möchten noch weiter gehen und behaupten, 
diefe Zuverſicht könne eine noch höhere ſeyn, da das Ge⸗ 
fühl des Peinlichen und Künftlichen der alten Harmoniſtik 
von une hinweggenommen ift. Sie beruht aber im Wefents 
lichen darauf, daß aus biefen Berichten die chriftliche For⸗ 
fchung und die denkende chrifttiche Gemeinfchaft überhaupt 
ein ſolches Totalbild des Lehend unſers Erlöfers zu geſtal⸗ 
ten vermag, an welchem die chriftliche Wilfenfchaft und 
das praktiſche chriftlicheLeben ſich auf eine genügende Weiſe 
ortentiren können, fo daß es fich immerfort bewährt, daß 
der Herr Ehriftus, wie er in den Evangelien dargeſtellt 
ift, der Weg, die Wahrheit und das Leben fey. Wenden 
wir nun dieß auf bie apofkolifchen Sendfchreiben, zunachſt 








Bibl.= theol. Erörterungen üb. d. Korintherbriefe, 443 


die panlinifchen, an, fo werden wir deren kanoniſchen Chas 
rafter mit voller Ueberzeugung fefthalten können, wenn 
wir erfennen, daß fie, als Sanzes betrachtet, in ihrer ges 
genfeitigen Ergänzung hinreichen, un dad ganze chriftliche 
Glaubensleben nad feinen beiden wefentlichen Entwides 
Iungsfeiten der Yraocıs und der zpadıs danach zu normi⸗ 
ren; und ed wird: und dann nicht fiören, wenn eine eins 
zelne Stelle, für fich betrachtet, ſich Dazu nicht eignet, fon» 
dern vielmehr der Ergänzung und Berichtigung durch ans 
dere bedarf, um wahrhaft maßgebend für ung fegn zu kön⸗ 
nen. Geſetzt nun auch, Daß wir wirklich finden follten, 
daß der Apoftel Paulus in unferem Kapitel ale befangen 
in einer Vorliebe für dad ehelofe Leben fich darſtelle, welche 
auf eine unvollkommene Anficht von. ber Ehe, auf einen 
Mangel der Einficht in ihre chriſtliche Heiligkeit hinwiefe, 
fo mag und dieß wohl momentan afficiren, aber es kann 
ans nicht-irre machen, wenn nur die apoftolifche Schrift 
anderwärtd Solches enthält, wodurch Diefer Fehler berichs 
tigt, dieſer Mangel ausgefüllt wird, Und in Bezug auf 
den apoftolifchen Charakter des Paulus felbft werden mir 
binlänglich. beruhigt ſeyn, wenn wir finden, baß feine eis 
genen. Schriften diefe Ergänzung darbieten. Diefe bietet 
aber unferd Erachtens die wichtige Stelle Eph. 5, 22 — 33 
wirklich dar. Che wir jedoch hierauf näher eingehen, fafs 
fen wir die Hauptpunfte der Erörterung unfers Kap. felbft 
näher ins Auge. Der Anfang des apoftolifchen Gutach⸗ 
tens besrifft die ſchon beftehende eheliche Verbindung und 
deren Kortfeßung; und davon handelt ber ganze Abfchnitt 
V. 1- 24. Nur beiläufig fonımen B,& f. Die linverheiras 
theten zur Sprache; bie eigentliche Verhandlung in Bes 
treff diefer begiunt V. 25. — Sener erfte Abfchnitt theilt 
fih aber wieder in Anweiſungen, welche reins hriftlidye, 
und in folche, welche gemifchte Ehen (zwifchen Ehris 
ften und Richtchriften) betreffen; der zweite in Anweifuns 
gen in Bezug auf Sungfränliche und in Bezug anf Verwitts 





444 7 King 


wete. GChriftlichen Eheleuten ertheilt er zuvorderſt eine 
Anweifung wegen ber Kortfeßung der Geſchlechtsgemein⸗ 
fchaft (®. 1-6) und fodann ein Gebot wegen der Nichtauflös 
fung der ehelichen Verbindungen zwifchen Chriften (10. 11). 
Das legtere ift Har, und man kann nur darüber in Zweis 
fel feyn, wie in B. 10 das „toig yeyaunzoow” im Bers 
hältniffe zu roig Aoımoig (B. 12) zunehmen fey. Das Rich⸗ 
tige hat hier Rückert getroffen, indem er ed von neuters 
lich, erſt feit ihrer Befehrung zum Chriftenthum in die Ehe 
Getretenen, alfo von neugefchloffenen chriftlichen Ehen ver, 
fteht, wo beide Theile der Ordnung Ehrifti unterthan fiud, 
während von den Uebrigen, wofern fie in gemifchter Ehe 
lebten, nur der hriftliche Theil in Anfpruch genommen wers 
den konnte. Ob er bei jenen beftimmte Fälle imAuge habe, 
wie Rüdert annimmt, laffen wir dabingeftellt, da uns 
diefe Borausfegung nicht eben nothwendig fcheint. — Was 
aber nun den erfteren Punkt betrifft, worüber er V. 1—6 
fih ausſpricht, fo fagt er: es fey fchön, fich des ehelichen 
Umgangs zu enthalten, aber wegen ded im Schwange ges 
benden vielfachen und unftäten Geſchlechtsverkehrs, von 
dem die Ehriften in Korinth umgeben waren, und ber für 
fie in ihrem noch fehr mangelhaften und unbefefligten Zus 
Rande foviel Berführerifches haben mußte, dringt er anf 
fortwährende Befriedigung des Gefchlechtätriebes” in ber 
Verbindung mit dem eigenen Ehegatten; und darüber fügt 
er dann noch weitere Beflimmungen bei (V. 4 f.). — Rüs 
dert hat gewiß Recht, wenn er nicht zugibt, daß bier 
vom Eingehen ehelicher Verbindungen die Rede fey, 
und Axrsodaı yuvaızög auf bie angegebene Weife ers 
klärt. Wir möchten aber nod) etwaß weiter gehen und 
auch das Eysıv (B.2) in dieſem fpecielleren Sinne neh» 
men, nicht wie Rüdert in der Bedeutung „behalten,” 
fo daß er dad fernere Haben bes Weibes im Gegenfage 
gegen die Aufhebung der Verbindung überhaupt geftattete 
(dieß würbe er ja auch nicht bloß geltatten, fondern ges 


Bibl.⸗theol. Erörterungen &b, d. Korintherbriefe, 445 


bieten, V. 11. Daß Exew fo vorkomme, baräber fehe 
man nah Schleuöner b. d. W. nr. 19 und befonder® 
Dent. 28, 30. Alfo: Seder habe fein Weib, wie man in 
ber Ehe es hat, er feße den ehelichen Umgang mit ihre 
fort. So fchließt fih denn V. 3 ff. genau an V. 2 anz 
Das durch Zxero kurz Angebeutete wird nur weiter ausge⸗ 
führe. — Das xaA0v (B. 1) verftchen nun Biele von dem 
Zuträghichen, d. h. Nüsglichen , ;dieß würde aber nur dann 
paſſen und in B.26, vgl. 28, eine Stüge finden, wenn von 
bem Eingehen ehelicher Verbindung die Rede wäre, mas 
aber nicht zuläffig iſt. Es ift Bezeichnung des Sittlich« 
Schönen; -uud ber Apoftel jcheint demnach die Enthaltung 
in diefer Beziehung, ein keuſches gefchwißterliches Leben _ 
der Ehegatten einem zarteren fistlichen Gefühle angemeffes 
ner zu finden, er iſt aber fo befonnen, daß er die Unans 
wenbbarfeit dieſer Heberzeugung auf die vorliegenden Ders 
hältniffe klar einfiehbt und demnach gerade das Gegentheil 
anräth. Die Enthaltung: möge hei ihnen nur etwa als eine 
temporäre vorfommen, zum Behufe anhaltenderer Gebets⸗ 
übung, dann aber der abgebrochene eheliche Umgang wies 
ber erneuert werben, bamit nicht der Satan fle zur Sünde 
(nämlich zur zogval«) verleite, eine Verfuchung, der fie 
ausgefebt feyen wegen ihtes Mangels an Kraft der Euts 
haltung a). — Ausbrüdlich fügt er noch bei, daß die letz⸗ 
tere Aufforderung (zai zaAım &zl co adro rs) nur in der 
Weiſe einer Erlaubniß gefihehe, oder daß dieß etwas fey, 
was er ihrer Schwachheit zugeftehe (ouyyvaum == venia, 
Bergunft und daraus hervorgehenbed Zugeſtändniß). — 





a) Die Vermuthung Rüdert’s, ob nicht auguele von ber ches 

lichen Enthaltung felbft (Nichtvermilchung) verflanden werben 

koͤnne, iſt durchaus unbegründet, und es kommt wohl auch 

negayvugs gar nicht In dieſer Beziehung vor, wie wiyvunı; bie 

Bedeutung intemperantia aber geht wohl zurüd auf ben Bes 

oriff bes Mangels an rechter Miſchung, eines unorbentlidyen 

- BVerhältniffes der höheren und niederen Lebensfunetionen, 

Theol, Stud. Jahrg. 1889. 2 | 


446 5 Kling: 


Eine Art Gegenſat gegen die V. 2 —5 gegebenen Anwei 
fungen liegt nut, wenn man nach den älteren Autoritäten 
Van dr lief, in V. 7. Lieſt man yde, fo wird bier B. 6 
erläutert, Er wünfct, dag Alle ſeyn möchten wie er 
felbit, das heißt nicht nur unverheirathet, fondern aud 
tüchtig zum Cölibat und überhaupt zur Enthaltung vom 
Geſchlechtsgenuſſe. Diefen Wunſch ſtellt er aber fofort als 
einen ‚nicht realifirbarensdar: „doch Jeder bat eine 
eigenthümliche Gabe:von Butt, der Eine fo, 
bier Anderefo;” hier: der Eine die Gabe der Enthalt 
ſamkeit, die zum Cölibate geeignete Seelen» und Leibe 
dispofltion, der Andere eine andere (etwa bie Tüichtigfeit, 
eine Familie chriſtlich zu regieren). — Hieran reiht ſich 
nun eine Bemerkung in-Betreff des Cintretens in Die 
ehelihe Verbindung Er erflärt ee für.gut, d.h. 
ſittlich⸗ zuträglich (vergl. V. 32: 39), wenn man es nicht 


chue, jebody nur im Falle vorhandener Kraft der Gelbfk 


beherrfchung in Bezug auf den Gefchlechtätrieb. Indem 
er num hinzufügt, es ſey deſſer heirathen, als brennen 
cd. h. in Folge unbefriebigten Trieds in einen peinlichen 
Zuſtand Innerer Aufgeregtheit ſeyn, fo. daß man wenigſtens 
nerlich überwälfigt wird), fo iM damit der Ehe eine ſehr 
untergeordnete Stellung (als das. Meinere Hebel) anges 
wieſen. Wenn aber. au) hier ein Mangel an evangelis 
ſcher Freiheit in feiner Denkweiſe nicht zu verkeunnen iſt, 
ſo iſt anbererfeits die zarte Wahrnehmung der in göttlicher 
Anordnung (xciaconc) beruhenden Rechte: ber Individuen 
und des durch die Individualitat bedingsen fittliden Ber, 
haltens (DB. 9) hervorzuheben. — Nachdem er bieranf 
(8.30 f.) chriſtlichen Ehepaaren bie Nichtauflöfung der Vers 
Bindung ald Gebot des Heren- vergl. Matth. 5, 32 f.; 
19, 41 f.; Mark. 10, 12) vorgefchrieben, für den Fall ſchon 
gefchehener Auflöfung aber Unverbeirathet bleiben ober 
Bemühen um Wiederausſohnung eingefchärft bat, fo ers 
theilt er noch apoftolifchen Rath in Bezug anf gemifchte 


x 3 — 


Bibl.theol. Eroͤrterungen 55. d. Korintherbriefe. 447 


Ehen. Hierüber lag fein Gebot Chrifti vor; dieß gehörte 
zu den der Erleuchtung bes h. Geiſtes vorbehaltenen Fäls 
ien, wie denn der Geiſt die Jünger Alles Ichren nnd na⸗ 
türlich auch daräber ihnen Auffchluß geben follte, wie die 
Gebote Ehrifti nad den Umfländen zu modificiren feyen. 
Er drädt fich fo aus, daß man ſieht, was nun folgt, if 
nicht unbedingtes Gedot, fondern feine Meinung und 


ſein Rath, (vergl. B. 25). Zwar follten fie diefen nicht 


Teicht nehmen (V. 25. 40), aber doch betrachtet er feine 


Erleuchtung nicht als eine abfolute. Bei dem hriftlihen 


Theile nun fegt er ald der hriftlichen Geſinnung gemäß 
die Geneigtheit zue Fortfebung der einmal geſchloſſenen 
Berbindang voraus, fo daß aller Grund zur Auflöſung 
wegfalle, wenn auch ber nicht schriftliche Theil hiermit 
einverftanden fey. Die Aufforderung zur Fortſetzung bes 
ehelichen Lebens in diefem Falle begründet er CB.14) noch 
weiter durch Wegränmung eines judaiftifchen Vorurtheils, 
als 0b das innige Zuſammenleben mit einer unglänbigen 
cheidnifchen) Derfon etwas Verunreinigendes hätte Er 
fagt, der ungläubige Wann fey im der (gkänbie 
gen) Fran geheiligt, und umgebehrt. Damit meint er 
nicht geradezu fittlihen Einfluß‘, noch weniger fpricht er 
damit die Hoffnung der Belehrung aus, obwohl beides 
nahe lag, fondern wegen des perf. „nylaocas” ift dieſer 
Ausſpruch in objectivem Sinne zu nehmen: „Weit ges 
fehlt, daß biefer innige Umgang etwas Berunreinigendes 
für den chriſtlichen Theil haben müßte, iſt vielmehr ver⸗ 
möge der Uebermacht des chriftlichen Geifte® die Sache fo 
anzufehen, daß diefe Gemeinfchaft dem anbern Theile 
eine Weihe gebe, fo daß alſo die Ehe als eine chriftliche, 
Gott geweihte und Gott genehme zu betrachten ift, oder 
diefer Charakter des chriflichen Theild auf den zu einer 
ocgE mit ihm gewordenen nichtchriftlichen übergeht. — 
Der apagsgifche Beweis für dieſen Sag wird von ben 
29 + 


448 Kling = 


Kinder chriftlicher Eltern hergenommen a), und er ſchließt 
von bem Geweihtfeyn nermöge der Lebensgemeinſchaft mit 
den Eltern auf bad Geweihtſeyn nichtchriftlicher Ehegatten 
durch die Lebendgemeinfchaft mit den chriftlichen, ober 
daraus, daß die Eltern diefe nicht ald unrein anfehen kön⸗ 
sen, auf die Befugniß zu gleichem Urtheil im Betreff- der 
Ehegatten. Es ift dieß ein tief aus dem elterlichen Herzen 
herausgegriffener Ueberzeugungsgrund, der freilich, wie 
de Wette u. A. mit Recht bemerkt haben, das Vorhan⸗ 
denfeyn der Kindertaufe in jener Zeit außfchließt. — Für 
den Fall aber, daß der nichtchriftliche Theil die Scheibung 
vornehme, heißt er den chriftlichen das ruhig a 
(nicht auf der Fortfegung der Verbindung beftehen), in⸗ 
dem er bemerkt, daß Chriften in Der Verbindung mit folchen 
(oder: in folchen Umftänden) nicht wie ‚Leibeigene unauf⸗ 
löslich angekettet ſeyen, legt ed aber bemfelben nochmals 
‚ and Herz, doch ja feinerfeitd Alles anzumenden, um dieſes 
Aenßerfte zu verhüten: „In Frieden aber hat uns 
Gott berufen”; das heißt: die allen Zwiefpalt für ins 
mer aufhebende göttliche xAncıg follte wo möglich in dass 
jenige Berhältniß feine Störung bringen, in welchem bie 
genauefte Verbindung der Menſchen ſtattfindet. Das, wos 
zu er durch diefe Erinnerung auffordert, motivirt er dan 
noch, indem er bemerkt, ed fey ja noch Hoffnung vorhans 

den, daß der. hriftliche Theil (als Werkzeug der göttlichen 
Gnade) den nidjthriftlichen zur Theilnahme am Heil in 
Ghrifto bringe. 

Ä Was nun zunächft folge (V. 17 29, fcheint eine Abs 
fhweifung ind Allgemeinere zu feyn, hängt aber eines⸗ 
theild mit dem Vorhergehenden genau zufammen, inbem 


a) Bol, de Wette in den Stud. unb Krit. 1830 ©, 669 |. 
Gegen die Beziehung auf Kinder aus gemifchten Ehen fpridht 
außer dem plöglichen Eintreten ber zweiten Perfon (dur) die 
Sinftellung bes Satzes sur 52 Ayın darın als eines duoloyov- 
LEVOY. 





Bibl, « theol. Grörterungen Ab. d. Korintherbrlefe. 49 


es eine Abmahnnng chriſtlicher Ehegatten von willkür⸗ 
lichem Heraudtreten aud dem ihnen läſtigen oder bedenkt, 
Sich fcheinenden Verhältniffe einer gemifchten Ehe in fich 
fchließt; anderntheils Teitet ed das Folgende ein, wo er 
vor allem eigenwilligen Benehmen in Bezug auf die Eins 
gehung des chelihen Berhältniffes warnen will 
(B. 25 ff). Hier hat er ednun vornehmlich mit Jungs 
frauen zu thun, die in ihrer Stellung eines väterlichen apos 
ftolifchen Rath am bedürftigften waren; denn daß zao- 
D:vog hier auch männliche Perfonen in ſich begreife, ift, 
auch abgefehen vom fonftigen neuteftamentlichen Gebrauche, 
nicht wahrfcheinlich, da Paulus DB. 28. 34. 36 f. dad Wort 
durchaus nur vom weiblichen Gefchlechte ſetzt. Daß er auch 
das männliche Sefchlecht ind Auge faßt und feinen Rath⸗ 
fchlag auf daſſelbe ausdehnt CB. 27 f. 32 f.), das 


bringt die Natur ber Sache mit fih; ein Beweis für bie - 


Erweiterung des Sinnes von zagdtvog liegt aber nicht 
darin. Jene Ausdehnung feines Raths erleichterte, wenn 
fie Eingang fand, auch die Befolgung des den Jungfrauen 
gegebenen Raths, welche natürlich durch ernftliche Bewer⸗ 
bungen erfchwert wurde. Dem Streben nad Auflöfung 
beftehender Verbindungen ftellt er hier dag Bemühen um 
bie Knüpfung neuer Bande entgegen, wobei offenbar der 
Accent auf dem leteren liegt.. Der Abmahnung fügt er- 
aber, naheliegenden Bonfequenzen vorbeugend, die Ber 
merkung bei, daß für Feines von beiden Gefchlechtern eine 
Derfündigung darin liege, und daß er ihnen nur äußere 
Bedrängniß, welche das eheliche Leben mit fich führen 
werde, erfparen möchte. Dabei hat er die „bevor- 
ftehende Noch” im Sinne, auf dieer in B.26 ald Grund 
der Zuträglichkeit des Ledigſeyns hingewiefen.: Daß er 
‚aber damit die Bedrängniffe meint, weldye der Parnfie 
Chriſti vorangehen (vergl. Matth.24; Mark. 13; Auf. 21), 
ift wohl nicht zu bezweifeln (vergl. V. 31 extr.); und diefe 
Erwartung der Nähe der Parufie if ein fehr wichtiges 


I 


Moment diefed ganzen apoftotifchen Rathfchlage. Stand Dies 
ſes Die ganze jegige Eriftenzweife aufhebenbe Ereigniß nahe 
bevor, fo war befondere für noch wenig befeftigte Ehriften Das 
Eingehen. von Berbindungen, die bei einer folhen innern 
Berfafiung fo viel Zerſtreuendes, von ber Einen Haupt⸗ 
forge Abziehendes hatten, nicht rathſam. ebenfalls war 
gu erwarten, daß fie alsdann nur Durch ſchwere Züchti⸗ 
gung und Ränterung zu derjenigen Gemüthsfaflung, welche 
zur Theilnahme am Reiche Ehrifli erfordert wirb, gelam 
gen würden. Davon handeln bie folgenden Berfe (29 — 31), 
deren Sinn und Zufammenhang folgendermaßen zu be 
Rimmen feyn dürfte: . Bas aber auch gefchehen mag, ihr 
mögt heirathen oder nicht, das fage ich, dad muß ich am 


“ Hinbigen (ogl. 15, 50): die Zeitumflände find forthie 


drangvoll, damit and, diejenigen, welche Krauen haben, 
feyen wie nicht Habende u. ſ. w. — Dieß ift’der Inhalt 


der Ankündigung, welche etwas Factifches und die gött 
liche Abficht dabei in fich faßt. Er will fagen, die gött⸗ 
liche Abſicht bei Berhängung der bevorfichenden Drang 


vollen Zeit gehe dahin, daß die Chriſten alles felbftifchen 
Weſens, aller Eigenheit, wie in der ehelichen Verbindung, 
fo-in den verfchiedenen Gemüthszufänden und im Befis 
und Genuß der Dinge los und ledig werden, daß fie im 
allen dieſen Beziehungen es zu einer ganz gelaffenen Er⸗ 
gebung in Gottes Willen und Fügung bringen. Er fchil 
dert die chriftliche Selbfiverlengnung und Unabhängigkeit, 
wo man durch die Verbindung mit einer Frau fich nicht 
einnehmen läßt, in Feine Freude nnd kein Leid fich verfentt, 
kein Befisthum firirt, in feinen Gebrauch und Genuß ber 


.. Dinge ſich verliert, fondern Alles ald von Gott für höhere 
Zwecke Geliehenes, Gefügtes, Befchiedenes hinnimmt und 


von biefent Zeitlichen zu ihm, ald zu dem allein befsiebigenden 
ewigen Ginte, ſich richtet. Dazu jolen bie Bebrängnife, 
Berfolgungen u. dgl. die Gläubigen führen; dieſe follen 


. Dadurch von Allem, was in ber Welt iſt, gelöfl, dem Haften 


ur mr | _ 1 — — 
‘ 


⸗ 


Bibl.⸗ theol. Eroͤrterungen kb.id. Korintherbrleſe. 451 


des Ich daran und allem Selbſtgeſuche darin ſoll ein Ende 
gemacht werden. ‚Unter Trennungen, Verluſten und Mech⸗ 


ſeln der augreifendſten Urt, unter welchen fie allein auf 


Gott gewiefen find,-foll es bei ihnen dazu fommen, daß 
fie durch nichts von ihrem Herrn und Gott fich trennen, 
ja Alles fahren laſſen, um mit ihm in Bemeinfhaft zu 
leiden. — Zulebt gibt er nody den Grund an, warum 
Bett durch die drangfaluohle Zeit. hierauf binarbeite: ex 
wolle fie von der Welt und Allem, was zu ihr gehört, innerlich 
löfen, weil die ganze jetzige Gefaltung oder 
Verfaffung des irdifchen Weltganzen, alfo biefes mit feis 
nen Berhältniffen und Befisthümern zu ſeyn aufhöre, 
weil dag Ende’diefer Form des Daſeyns nahe bevorfiche. — 
Nach diefer wichtigen Belehrung über die göttliche Abficht 
bei den bdrangfalvollen Umfländen und beren Gruude 
wendet er fich wieber Direct an die Korintbier und fagt 
ihuen, er wünfche, daß fie kummerfrei ſeyen. Er möchte 
fie von der dad Gemüth einnehmenden Sorge um das, was 
zum xoouog gehört, frei haben, fo baß ihr Dichten. und 
Trachten ungetheilt auf die Sache Ehrifi. (va rod xuplov) 
ginge. Und darum glaube er ihnen die Ehe abrathen zu 
müffen, weil hierdurch das Gemuͤth getheilt a), von allerlei 


) Dieß fagt er ausbrüdiih nach ber von Lahhmann unb 
NRüdert aufgenommenen Lesart der Alteften Handſchriften: 
zog dgson si yvvanl, nal nepfgrorae. Kür dieſe Lesart, 
wonach das „was peuegeoraee” zum Worhergehenden gehört, 

ſpricht audy ber innese Grund, daß nur fo wepigsaraı eine 
wohl erweisliche Bedeutung erhält, wogegen es bei ber Verbin 
dung mit dem Folgenden (nad) ber gewöhnlichen Abtheitung) 
eine Teineswegs geficherte Bedeutung hat, indem dann ber Ginn 
it: „Auch beim weiblihen Gefchledhte ift ein Unterſchied 
in diefer Beziehung.” Ob aber im Kolgenden den ältern Hands 
ſchriften unbedingt zu folgen und demnach „au lefen ſey: „xcel 
rvyvn 7 Äyauog xal 7 wagdivog 7) Ayapas (uegurg)” 
möchte zweifelhaft feyn, und die Vermuthung liegt nahe, daß 
urfprünglich nur das Eine ober bas Andere geftanden, und 
wenn bas erſtere, 7) wagdivog zunähft als Randgloſſe ge 


— 


R 


452 Aling 


irdiſchen Sorgen eingenommen und namentlich darauf ge⸗ 
richtet werde, wie der eine Theil dem andern gefallen 
möge, wogegen der Unverheirathete feine ganze Sorge 
Daranf richte, wie er Ehrifto gefallen möge. Der Zuſam⸗ 
menhang biefer Säge (7. 32 ff.) mit dem Vorhergehenden 
ftellt fih nun fo: Die bevorftehenden drangſalvollen Um⸗ 
fände haben den Zwed, alled Befangenfeyn in folcher 
piguuve aufzuheben. Je mehr nun Einer darin befangen 
ift, deſto größere Trübfal wird über ihn kommen müſſen, 
wenn jener Zwederreicht werben ſoll. Das aber möchte 
er ihnen erfparen (V. 285 vgl. 2. 35). 

Bei dem, was Paulus hier von den ayauoıg fagt, ihre 
Sorge gehe auf die Angelegenheiten bed Herrn, wie fie ihm 
gefallen, daß fie heilig feyen an Seele und Leib, drängt fi 
wohl Jedem der Gedanke auf, daß dieß felbft im Bereiche 
chriftlicher Gemeinden und beider Vorausſetzung chriſtlicher 
Gefinnung ebenfo wenig abfolnt richtig fey, ald das gegen, 
überftehendelirtheilüber Die Verheiratheten bei gleicher Vor⸗ 
ausfegung ber Wahrheit ganz gemäß fey. Die ältere evan⸗ 
geliſche Drthodorie, welcher die apoftolifhe Kanonicität 
durch die vollfommene Richtigkeit alles Einzelnen bedingt 
war, mußte ſich dadurch helfen, daß fie die paulinifchen 
Süße relativ faßte: „Der (die) yauos forget mehr und 


fegt und hernach dem für weniger paflend gehaltenen 7} yorı 
fubftituirt, von Andern aber beide Lesarten verbunden worben, 
was in den vorhandenen Handfchriften fat durchaus fich dar⸗ 
ſtellt. Hieß es aber urſpruͤnglich xal 7 zagdevos 7 &yapos, 
fo Tonnte wegen bed Auffallenden biefer nähern Beſtimmung 
zu nagd vos von Einigen hierfür yorn gefeht werben, u. ſ. f. 
Indeß ift die äußerlich fehr geficherte längere Lesart keineswegs 
unhaltbar, ba yvan 7) &yanos eine pafiende Bezeichnung ber 
zrie« ift, die nähere Beſtimmung bes zagdEvog durch 7 Aya- 
wog aber, bie freilih an fi überflüflig ift, daraus ſich ers 
klaͤrt, daß er den Begriff Ayauog bier ausdruͤcklich hervor 

heben wollte im Gegenfage gegen 7j yauncaca, weldes ebenfo 
die yuon wie die zugPivog, bie aus bem Wittwenftand aufs 
Neue und bie aus dem Zungfrauenflande zum erflenmal in 
bie Ehe Getretene bezeichnet. 


Bibl.theol. Erörterungen &b. d. Korintherbriefe. 453 


Tann mehr forgen für die Sache des Herrn; der (did 
Berheirathete forget mehr und muß mehr forgen ober 
pflegt mehr zu forgen für die Aiigelegenheiten der Welt” 


(Flatt). Aber daß dieß eregetifche MWilltür und bloßer 


Rothbehelf fey, wird nicht wohl geleugnet werben können. 
Der Apoftel ftellt hier offenbar die Ehelofigkeit ald das in 
chriftlichsfittlicher Beziehung Vorzüglichere dar. Die Quelle 
Diefes Urtheils ift wohl feine bisherige Wahrnehmung 
chriſtlich⸗ unvollkommener Zuftände des. ehelichen Lebens 
und namentlich die Erwägung der Befchaffenheit der ko⸗ 
rinthifchen Chriften (oagxıxol, 3 1 ff). Man könnte in 
Bezug auf das Ganze fagen: den ayagos hat er nicht 
fowohl idealifirt, als vielmehr and feinem eigenen Bes 
wußtfeyn heraus und aus der Anfchauung ausgezeichneter 
Chriften und Chriftinnen dargeftellt, und damit fugleich 
ein Mufterbild hingezeichnetz fein Urtheil Über das Vers 
halten der Verheiratheten im Allgemeinen aber ift beſtimmt 
durch eine Menge von Beobachtungen, zu denen naments 
lich die PBorinthifche Gemeinde reichen Stoff barbieten 
mochte. Bei weiter entwideltem chriftlichen Leben aber 
mußte fich die Frage erheben: Kann nicht der Mann auch 
dem Weibe auf gottgefällige Weife (xar& Heov) zu gefallen 
fuchend, Gott danken? Kann er nicht aud) mit der Gattin 
auf Die Sache ded Herrn feine Sorge richten? Kann nicht 
die Frau ebenfo wie die Jungfrau dem Herrn geweiht 
feyn? — So hören wir auch wirflich den alerandrinifchen 


Elemend (Stromat. 3, 12, $. 88) fragen. — Daß dieß mögs _ 


lich fey, durfte auch Paulus nicht leugnen, ohne den 
Principien feined Glaubens zuwider Die Ehe für ein fitts 


liches Uebel zu erklären, eine Anficht, die er in der Folge 


ausdrüdlich beftritt (Kol. 2, 215 vgl. 1 Tim. 4, 1—5), 
Dem empirifch gegebenen Zuftande alfo entfprach das hier 
vorliegende ungünftige Urtheil, dem aber freilidy und zwar 
eben darum Allgemeingültigkeit abgeht. Es ftellt fich darin 
gleichfam der Reflex jened Zuftandes im Geifte des Paulus 
bar, und ſonach ift ed ein Urtheil won relativem, temporels 


⸗ 


⸗⸗ 


> 


454 Kling 

lem und fubjechvem Werthe. In ber ganzen Auseinan⸗ 
derſetzung aber gibt ſich ebenfo eine treue. und zarte Liebe 
fund, welche die fchwachen Kinder in Chrifte großer und 
vieler Läuterungstrübfale Überheben möchte, wie eine feine 
Mäßigung, welche nur Rath gibt, ‚ohne die Gewiſſen 
durch Gebote binden zu wollen. Diefe Mäßigung trite 
befonbers in V. 35 hervor, wo ber Sinn ifi, er wolle 
fie feinee Meinung nicht Inechtifch unterwerfen, fondern 
es fey ihm nur darum zu thun, daß fie eine gute chriftliche 
Haltung in ihrem ganzen Leben behaupten mögen, un⸗ 
eingenommen von Sorge, Verdruß und dergleichen, was 
das eheliche Leben mit ſich führt, daß fie wohlanftändig 
leben und bem Herrn unverrüdt dienen. — Nun bringt 
er noch Fälle entgegengefeßter Art zur Sprade, wo es 
denn recht fühlbar wird, wie er einerfeits nur mit wider⸗ 


ſtrebendem Herzen die Verheirathung zugibt, um nur im 


einer an fich nicht fündlichen Sache der Freiheit nicht Eins 
trag zu thun, andererfeitd mit innigem Wohlgefallen die 


. auf Nichtverheirathung gehende unerfchütterliche Ueber, 
zeugung und Entfchließuig gutheißt. Er fagt V. 36: 
. „Wenn Einer (ein Vater) unanftändiggegen feine 


Sungfrau (noch unverheirathete Tochter) zu hans. 
dein“) meint, wofern fie überreif it — d. h. 
wenn er der Meinung ift, er würde Durch Nichtverheiras 
thung feiner über die Blüthe der Mannbarkeit hinauskom⸗ 
menden Tochter ihrem Rufe zu nahe treten (3: B. durch ' 


Beranlaffung der Meinung, daß fie von den Männern 


verfehmäht werde) und infofern dad, was ihm als Bater 
gegen fie gezieme, verlegen — und fonadı gefchehen 
muß — d.h. eine Verpflichtung, eine pflichtmäßige Noth⸗ 
wendigleit da ift, daß gefchehe — was er wünfcht, fo 


-. a) Die Erklärung: Schande zu erleben an feiner Tochter (etwa, 


indem fie eher zu Kalle kaͤme, ober auch ale eine Verfchmähte . 


erichiene), ift ber Bebeutung bes asznueveiv wie des dal nicht 
gemaͤß. 


% 





Bibl.⸗theol. Erörterungen kb, d. Korintherbriefe. 455 


thue er's (nämlich daß, was er wunſcht); er fündigt 
nicht; fie (die Tochter oder die zapdivog und ihr 
Freier). mögen heirathen. — Diefe Erflärung läßt 
fih auch gegen Rüdert a) ohne Mühe behaupten. Gr 
meint, dad opelisı könne nicht von al abhängen, ba, wenn 
fo die Nothwendigkeit der Berheirathung vorausgeſetzt 
würde, Paulus nicht mehr fagen fönnte: 0 DERzı zosslzw. 
Aber das „o Dia” will uur fagen: was er wünſcht, 
was er geneigt ift, zu thun; und dieß zu thun, kann ex 
wohl aufgefordert werben, wenn bad, wovon es fi 
handelt, .in einem gewiflen Sinn unumgänglich ift. Der 
Einwurf aber, daß Opellss vor ovrog ftehen follte, füllt 
weg, wenn man ovrag nicht mit Yylveodeı. verbindet, fo 
daß’ dieß Bezeichnung der Berheirathung wäre, fondern 
ed als eine folgernde Zufammenfaffung bed Vorhergehen« 
den betradytet, wie ovrag oft vorfömmt: und demnach 
— weil er diefer Meinung ift — bie Berpflihtung 
vorhanden iftz das yivschas aber befommt fein paſſen⸗ 
ded Subject in dem 9 Däizı, welches einen feinen Wink 
enthält, daß jenes vonlgem mit ben eigenen Wünfchen bes 
Baters in Zufammenhang ftehe oder darin beruhe — 
Daulus hat wohl einen Fall im Auge, wo geheime, viele 
leicht mehr unbewußte Wünſche Des Vaters der eigentliche 
Grund feines Betreibend der Berheirarhung der Tochter 
waren, während er den Berfechtern des Eölibatd in Korinth 
jene Meinung entgegenhalten mochte. — Faſſen wir kun 
noch Alles kurz zufammen, fo find einerfeitd Elemente von 
bloß relativer Geltung in biefer ganzen Erpofition des 
Apoftels nicht zu verkennen. Wir rechnen bahin: I) die 
bie Schließung neuer ehelicher Verbindungen nicht bes 
günftigende Erwartung der Nähe der Parufie; 2) bie eins 


a) Rüdert’s eigene Erklaͤrung, wonach opsilss von dar abs 
bangen und oürmg ylvscdaı — „ehelos bleiben fein” ſoll, ift 
ebenfo grammatifch, wie Logifch unhaltbar, was aber hier nicht 
näher auseinandergefegt werben kann, 


456 | Kling 


feitige empirifche Betrachtungsweife der Unverheiratheten 
und der Verheirathetenz; 3) die einfeitigenegative und ges 
ringe Anfiht von der Ehe als einem in fittliher Hin ſicht 
niedrig ftehenden Verhältniffe, wodurch nur die ungehörige 
Befriedigung des Gefchlechtötriebd verhütet werden ſoll; 
endlich 4) den aus dem allen hervorgehenden, immer wieders 
kehrenden Wunfch und Rath des Apofteld, daß die Chris 
fien wo möglidy in die Ehe nicht eintreten möchten. Ans 
bererfeitd aber, ift auch anzuerkennen, daß burch Dad Ganze 
Allgemeingültiges fi hindurchzieht, und daß aud das 
Unvollkommene nichtd Irrthümliches in ſich fchließt, viel⸗ 
mehr in praktiſcher Beziehung dem vorliegenden Zuſtande 
Angemeſſenes, ja für alle Zeiten Anwendbares enthält 
und in anderweitigen Erklärungen des Apoſtels feine voll 
endende Ergänzung findet. Jenes Allgemeingültige mit 
‚Abwefenheit alles Srrthämlichen aber finden wir: Din der 
Behauptung der Bedingtheit des Cölibats durch die indi⸗ 
viduelle Dispoſition; 2) in dem Fefthalten der eberzeus 
gung, daß die Ehe und die Schließung derſelben an fich 
. nicht fündlich fey; 3) in der Bekämpfung alles willfürs 
lichen Strebens, die eingegangene Ehe wieder aufzulöfen, 
und 4) in der Anerkennung des Geheiligtſeyns auch ber 
gemifchten Ehen Durch das Uebergewicht des chriftlichen 
Principe in dem chriftlichen Ehegatten, und der Weihe, 
welche den Kindern die Abflammung von chriftlichen Eitern 
gibt: Im letzteren liegt ohne Zweifel ſchon der Keim jener 
. " böhern Anſicht vom Weſen und Zwede der Ehe in Eph. 5, 
wodurch die Erflärungen des Apoftels in unferem Kapitel 
ihre wefentliche Ergänzung erhalten. Und wir möchten 
keineswegs mit Rüdert annehmen, daß das Abftrahiren 
von beflimmten concreten Berhältniffen, die Befchäftigung 
mit einemsunbeftimmten idealen Leferkreife ber Grund jener 
höheren Betrachtungsweife ſey, fondern die in jener fpäs 
tern Zeit und gerade in jenen Kleinafiatifchen Gemeinden 
auftauchenden und um fich greifenden theofophifchsadtes 





Bibl.⸗theol. Erörterungen Ab, b. Korintherbriefe. 457 


tifchen Lehren, welche. die Ehe ald etwas Ungoͤttliches, 
fittlich Verunreinigendes erfcheinen ließen, führten den 
das Widerchriftliche diefer Richtung durchſchauenden Apos 
ftel zu tieferer Würdigung ber Ehe; es entfaltete ſich im 
ihm jener Keim höherer Anficht, den wir fchon in ber 
früheren Zeit bei ihm finden. Wenn er nun Eph. 5, 30 ff. 
die innigfte Bereinigung der Geſchlechter (Esovzaı zig ocioxe 
ulev) ald Bild der geheimnißvollen Vereinigung Ehrifti 
und der Gemeinde hinftellt, fo wird das „xaAov ardgaze 
yuvamnog un anrsoda” für bie chriftliche Ehe negirt und 
kann nur noch eine relative Gültigkeit behalten. Hat 
überhaupt die eheliche Liebe und Gemeinfchaft der Gläu⸗ 
digen eine fo hohe Bedeutung, Abbild der volllommenften 
Bemeinfchaft zu feyn, fo ift Die Schließung der Ehe nicht 
nur nichts Sündliched, fondern, wo Gottes Fügung dazu 
hinführt, pflichtmäßiges Eingehen in die Löfung der höch⸗ 
ſten Aufgabe des chriftlichen Lebens in der jegigen Korm 
der Eriftenz. — So bietet Demnach die apoftolifche Schrift 
und zwar namentlich die paulinifche Die. Fundamente ber 
vollfommenen chriftlichen Lehre von der Ehe; und es Tann 
ung nicht irre machen, daß die pauliniſchen Schriften in 
dDiefer Beziehung einen Kortichritt vom Unvollkommenen 
zum Bolllommenen aufweifen, vielmehr leuchtet ung bie 
Göttlichkeit, oder die Geiftedeingebung am fo mehr ein, 
wenn wir fehen, wie fie in der Form fucceffiver Mittheis 
Iung gemäß ber menſchlichen Entwidlung gefhah, und 
wie dem Apoftel in dem Maße das Licht der Wahrheit aufs 
ging, als das Bebürfniß der Gemeinde, als fein Beruf 
der Kirchenleitung es erforderte. Für die Bepürfniffe der 
forinthifchen Gemeinde reichte dad hin, was 1 Kor. 7 
dargeboten iſt; mit diefem Maße von Erfenntniß konnte 
er den hier vorfommenden oder drohenden Abirrungen 
hinreichend begegnen. Um aber die theoſophiſch⸗asketiſche 
Abweichung zu belümpfen, beburfte er der vollen Einficht 
in das Weſen der chrifflichen Ehe, und diefe finden wir 


1.1) Kling. 


and wirkicch bei ihm in der Epoche des Rampfed gegen 
jene Richtung. 

Wir würden aber fehr irren, wenn wir meinten, daß 
das al& bloß relativsgältig Bezeichnete auch eine blo$ 
Iocale und temporelle. Geltung habe und demnach von 
und als nicht mehr anmendbar bei Seite gelegt werden 
könne. Sind wir doch mit unferem chriftlichen Leben kei⸗ 
neswegs auf dem Standpunkte abfolnter Vollkommenheit 
angelangt, und das ben forinthifchen Chriften Gefagte 
gilt auch noch den Chriſten unferer Tage, und zwar nicht 
etwa den bJoßen Namendyriften, fondern den immer noch 
mit fündlichen-Gebrechen behafteten wahren Gliedern der 
Gemeinde des Herrn. So ift in dem, was der Apoftel 
V. 32 ff. fagt, ein Prüfftein für Die coelibes beider Ges 
ſchlechter, und ebenfo ein Spiegel, in dem fle fich ſelbſt be⸗ 
ſchauen Sollen, für die Verheiratheten. Je weniger jene 
in dem vom Apoſtel anfgeftellten Bilde bed Ayauog ſich 
wieberfinden, je mehr diefe dieß bei fich finden, was er 
von der Gemüthsſtellung der Verheiratheten fagt, befto 
mehr Urfache haben beide, fich ihres Mangels an dyriftlts 
&hem eben zu ſchämen, deſto mächtiger müflen fie zur 
Reinigung ihred Hergend und Lebens fich angetrieben füh⸗ 
In. Sonach bietet diefe Stelle auch für die populäre 
Unterweiſung, in welche die Nachweifung der bloß refas 
tiven Bültigfeit dieſer Ausfprüche keineswegs gehört, einen 
wohl zu beachtenden Stoff der Belehrung und der beicht⸗ 
— Unterſuchung und Rüge, 


3. Mahl des Herrn. 
1 Kor. 10, 16,17; 11, 23 —- 29. 
Wenn wir mit der ganzen evangeliſchen Kirche und 
“mit der chriſtlichen Kirche überhaupt ded Glaubens find, 
daß die h. Schrift neuen Teſtaments die abſolute göttliche 
Dffenbarung enthalte, indem fie das fleifchgeworbene Wort 
‚oder bie Wahrheit in ihrer reiner und ganzen menfchlichen 


\ 


Bibl.-theol. Erörterungen üb. b. Korintherbriefe, 459 


Wirklichkeit darſtellt, wie im perfönlichen Leben des Herrn, fo 
im Leben feines Geiftes in den urfprünglichen Trägern defs 
felben , die der Beift in die ganze Wahrheit hineinführen 
follte, fo können wir auch nicht anders ale dafür halten, 
daß diefe Schrift in urfprünglicher Fülle und wefentlicher 
Vollſtändigkeit in fich falle, was in der Reihe der chrifts 
lichen Jahrhunderte im Bereiche der chriftlichen Kirche, 
zunächft ald Dogma, zu altmählicher Ausbildung gekom⸗ 
men if. Erfennen wir hierin eine Entwidlung an, fo ik 
der Inhalt diefer Entwidlung dem Keime nad) dort gang 
zu finden, es iſt dort Aoyog Omspnarixög aller Dogmen» 
geftaltung. In der Schrift ift die ganze Wahrheit, welche 
nur nach ihren einzelnen Momenten ſich mehr und mehr 
herausſtellt und näher beflimmt. Da dieß nicht ohne Ein⸗ 
feitigteit abgeht, da bei der der empirifchen Firchlichen Ents 
widlung anhaftenden Sünde und Irrthümlichkeit eigene 
finniger Streit der Begenfäße und Fixirung der einen nnd 
ber andern Seite die Dogmenandbildung immerfort vers 
unreinigt nnd entfiellt, fo muß das den Streit löfende 
Wort, die alle Verunreinigung und Entftelung wieder 
aufhebende Kraft in der Schrift zu finden ſeyn; und Darin 
beruht: das proteftantifche Zurückgehen auf diefe, das Bes 
- ftreben, auf dem Wege treuer Schriftforſchung das relativ 
Audgebildete und entwidelte Firchlihe Dogma von Aus⸗ 
wüchfen zu reinigen und der vollkommenen Geftaltung 
näher zu führen. Auf diefe Weife vermittelt Die Schrift⸗ 
forfchung die Ausbildung des Dogma. Aber ebenfo wird 
auch andererfeitd die wifenfchaftliche Einficht in den Lehr⸗ 
inhaft der Schrift durch die Erkenntniß der Entwidlung . 
des Dogma vermittelt, oder fie iſt dadurch bedingt, daß 
man in diefe mit dem denkenden Geifte wahrhaft einges 
sangen iſt, ihre wefehtlichen Deomente oder ihren Gang 
in feiner Gefepmäßigfeit und Nothwendigkeit verftcht 
und in ihren relativen Zielpunkte fich mit befindet. Dieß 
iſt die Wahrheit der Tatholifchen Tradition als weſent⸗ 


460 Kling 


Jicher Vermittlung des Schriftwerfändniffee. Daß aber 
biefe Bermittlung Feine ftarrsäüßerliche, daß dieſes Ob⸗ 
jective zugleich ein Subjectives iff, oder daß wir es hier 
nicht mit einem unabänderlich firirten Buchflaben, ſondern 
mit einer freisnothwendigen Geifteöbewegung zu thun 
haben, die felbft ihr Maß im Schriftworte hat, das if 
die wefentlich evangelifche Anficht von der Sache. 

Diefe allgemeinen Bemerkungen finden ihre Anwen 
dung namentlid auch auf denjenigen Beltandtheil: des 
chriftlichen Dogma, auf welchen die oben genannten Stel⸗ 
len des 1Br. an d. Kor, fich beziehen, auf bad Dogma 
som Mahle des Herrn, deffen Sefchichte freilich ein 
genthümlichen Schwierigfeiten unterliegt, da über die bes 
griffliche Fixirung des. chriftlichden Bewußtſeyns und Über 
die Auslegung des Scriftworts, worin. biefes wurzelt, 
bie großen Abtheilungen der Kirche gefpalten find, fo daß 
eine wahrhaft freie und unbefangene hiftorifche wie exege⸗ 
tiſche Forſchung nicht wenig erſchwert iſt. Schon ſeit ei⸗ 
ner Reihe von Jahrhunderten befchäftigt chriſtliche Denker 
die Frage, in welchem Sinne Chriſtus jene einfad) » erhas 
benen: Worte der Stiftung dieſes Mahls gefprochen habe. 
Die. alte. Kirche kam darüber nie zu einer feſtbeſtimmten 
Anficht. Sie hielt ſich an die chriftliche Erfahrung einer 
mächtigen Gnabenwirkung bed Erlöfers in feinem Mahle, 
fie glaubte an feine belebende Gegenwart und Mittheilung 
in demfelben, ſchwankte aber in Betreff des Verhältniffes 
der fichtbaren Elemente zu der unfichtbaren Gnade. und 
nannte fie bald Symbole, Figuren, Antitypen des Leibes 
und Blutes des Herren, bald bezeichnete und verehrte fie 
biefelben geradezu als Leib und Blut Chrifti, ohne daß 
durch das erftere die Wahrheit des Dargebotenwerdens 
der Sache in den Figuren, durch das zweite die Realität 
des fichtbaren Elements und fein Unterfchiebenfeyn von 
der unfichtbaren Gabe bed Leibes Chriftt beftimmt negirt 
worben wäre. Erſt in ber mittelalterlichen Periode ſehen 











I 
1 


Bihl,stheol. Eroͤrterungen Abd, d. Korintherbriefe. 461 


wir in dieſer Beziehung zwei Richtungen, die wir als die 
der inbrünſtigen Gefühlsdläubigkeit und als bie der beſon⸗ 
nenen Verſtändigkeit bezeichnen könnten, entſchieden aus⸗ 
und gegeneinander treten. Jene hält die Wahrheit des 
durch die. Kraft der Weihung gefebten wirklichen. Leibes 
Khriftirin einfacher Unmittelbarkeit fell; die Subftanz bes 
Irdiſchen ift nach ihr vernichtet; nur noch die Geftalt deſ⸗ 
felben erfcheint den Sinnen gur Uebung des Glaubens und 
sur Dermeidung des Grauens vor Fleifch und Blut; Doch 
erfcheint dieſes zuweilen auch in feiner eigentlichen Geſtalt 
zur Stärfung und Freude des Glaubend. Die andere 
Richtung dagegen läßt die irdifche Subſtanz fortbeftchen 
and, unter derfelben verhüllt, Chrifti Lebenskraft den Gläu⸗ 
bigen ſich mittheilen,, diefe Kraft oder den Leib Ehrifti im 
uneigentlichen Sinne von dem wirklichen, aus ber Jungfrau 
gebornen u. f. w. Leibe unterfcheidend. Hiernach befoms 
wien bloß die Gläubigen Chriſti Leib zu genießen, die An 
dern bloß die irdifche Subſtanz; der wahre- Genuß jenes 
Leibes ift ein rein geiftiger, die Darbringung oder Opfes 
- zung aber ein bloßes Symbol oder eine bloße Erinnerung 
an jene eigentlihe Opferung des wirklichen Leibed. Nach 
ber eriteren Anficht dagegen empfahen alle den wirklichen 
Leib des Heren, die wahrhaft Gläubigen jedoch ausſchließ⸗ 
lich die heilfame Wirkung deffelben;. der Genuß ift ein leibs 
“licher, bei den wahrhaft Gläubigen ein Leiblich » geiftlicher, 
die Opferung aber die wirkliche Wiederholung des ur⸗ 
fprünglichen Opfers. Diefe Anficht trieb die kirchlich⸗ or» 
thodore Scholaſtik auf die Spige bie zu der Gonfegueng, 
daß felbit unvernänftige Thiere Ehrifti Leib in fich aufneh⸗ 
men können. Die gegenüberftehende machte, confequent 
verfolgt, das Mahl des Herrn überflüffig, da derfelbe geis 
ftige Genuß bei den Gläubigen immerfort ftattfindet, die 
Andern aber Doch nur zum Scheine an bed Herrn Mahle 
Theil nehmen. Eine die Extreme der äußerlichen Objecti- 
vität, wie ber abftracten Ssnnerlichkeit vermeibende mitts 
Theol. Stud. Jahrg. 1889. 80 


462 Aling 


lere Anficht wurde vielfach geſucht und unter mauncherlei 
Formeln, z. B. der Impangation, der Bereinigung von 
Brod und Leib (Analogie der menſchlichen und göttlichen 
Natur Chriſti) hingeſtellt. Aber erft die Reformationspe⸗ 
riode kam um einen bedeutenden Schritt vorwärts. Lu⸗ 
therifcherfeits hielt man am überlieferten Dogma:von-ber 
realen Gegenwart des wirklichen Leibes Chriſti im Mahle 
des Herrn feſt, nur mit Abweifung der Transfubftantias 
tionstheorie und mit Beziehnng jener Gegenwart bloß auf 
den Genuß. Bon Seiten der Refornirten wurde anfangs 
eine bloß fombolifche Auffaffung behauptet: Brod und Wein 
ſollten bloß bedeutfame Zeichen oder Bilder des aufges 
öpferten Leibes amd vergoffenen Blutes ſeyn, erinnermd 
an Ehriſti Verfähnendes Leiden, und fo die gläubigen Ges 
nießer im Glauben an die Verföhnung ſtärkend und ihre 
Theilnahme daran fördernd ; woraus denn leicht bag Mo⸗ 
ment des Unterpfands und der Verfiegelung fich ergab. In 
der Folgewurbe cine wirkſame Gegenwart für die Öläubigen 
gelehrt, einegehaimnißvolleträftige Wirkung des Leibes Chris 
Ri vom Simmel her, welche gleichzeitig mit der Darreichung 
der fichtbaren Elemente erfolge oder biefe begleite. Beftimnst 
geleugnet aber wurde Die Gegenwart bed Leibes Chriſti um 
Brode and für dad Brod, umd daher der mündliche Ges 
nuß beffelben und der Genuß auch der Ungläubigen. Ber» 
mittelnde Theorien fuchten eine Ausgleichung: theild dars 
in, daß fie zwiſchen Unglänbtgen und Unwürdigen unters 


fhieden und nur jenen den Genuß des Leibes Chriſti ab⸗ 


ſprachen, da ber Glaube weſentliches öpyavov Anseızoy 
des unfihtbaren Leibes Ehriſti ſey; theils dadurch, daß fie am 
die. Stelle menfchlicher Theorien von Ubiquität und Idio⸗ 
mencominunication die einfache Schriftformel fegten, Daß 
bad Brod die Gemeinſchaft des Leibes Chriſti 
ſey, d. h. dasjenige, wodurch dieſer mitgetheilt werde. 
In diefer von Melandıthon fefigehaltenen Formel fehlen das 
gewahrt, worum es der Intherifchen Rechtglaͤubigkeit ges 








Bibl. «theol. Erörterungen ab. d. Korintherbriefe. 462 


genüber jedem auch noch. fo verſteckten Idealismus und 
Spiritnalismus zu thun war; es war darin eine reelle Ge⸗ 
genwart des Leibes Chriſti und ein reelles und inneres =) 
Verhältniß deſſelben zum ſichtbaren Elemente angedeutet. 
Und es iſt dieß andy dasjenige, was die lutheriſche Theo« 
Iogie nicht fahren laſſen darf und was fie als von ihr be⸗ 
hauptetes Moment der Wahrheit zur Union hinzubringt, 
wenn fie auch bie Unvollkommenheit der Art und Weiſe 
ihrer Behauptung amerfennen muß. Anch jene Unterfcheis 
dang der Unwürdigen und Umngläubigen, fo zweibeutig fie 
in ihrem erſten Hervortreten fir: darſtellt Gurer), bärfte 
doch keineswegs abzuweiſen ſeyn und ein wahres Mo⸗ 
ment der Bermittlung darbieten b). Andererſeité aber hät 


Die reformirte Kirche, als deren .fchwache Seite biegen 


liche und ideelle Auffaffung des Verhältniſſes zwifchen den 
fiihtbaren Elementen und der unfihtbaren Subſtanz bes 
Mahls ded Herrn und eben damit zwifchen dem Genuſſe 
diefer und jener. anzufehen ik, darin der Wahrheit ger 
dient, daß ſie das Vermitteltſeyn der Gegenwart des Leis 
beé Ehrifi durch den Geiſt in der Kirche und burch den 
Sauben hervorhob. Es verhält fich damit wohl ſo: Chriſti 
verſöhnendes Leben, deſſen Wirklichkeit ſein Leib, deſſen 
unmittelbarſtes Element fein Blut iſt, iſt himmliſch gewor⸗ 
den und im Himmel; der irdiſchen Räumlichkrit entuom⸗ 
men, kann es auf Erden nur inſofern ſeyn, als der Him⸗ 


a) Richt bloß das Ideelle ber Verficherung unb das Aeußere ber 
Gleichzeitigkeit. 

b) Man kann ſagen: Wo Glaube iſt, if Genuß bes Leibes Chrifti, 
Ift- aber dieſer Glaube nicht lauter, bat die Selbſtſucht nodj 
fo viel Mack, daß fie in Hochmuth und Liebloſigkeit jenen 
Genuß verunseinigt, fo wirkt die Macht bes aufgenommenen 
verföhnenden Lebens eben fo verderblich, wie bie Kraft bes 
Lichts bei krankhaftem Zuflande ber baffelbe aufnehmenden Geh! 
organe. Dieß ift der unwuͤrdige Genuß mit feinen ſchlim⸗ 
men Folgen. . 

80 * 


‘ 464 Kling 


mel auf derfelben ift, biefer aber ift hier nur durch Chriſti 
Geift, den er gefandt hat vom Bater, alfo nur in dem Bes 
reiche des Geiſteslebens, fomit des Glaubens. Hier aber 
wird es nidyt bloß zugleich mit dem irdifchen Elemente ger 
noffen, fo daß dieſes und fein Genuß bloß ein bedeutfas 
mes Bild und kraft des Wortes Chrifti ein Pfand und 
Siegel jened Lebens und feiner Mittheilung würde, fons 
dern das irbifche Element ift Träger jencd Lebens gewor⸗ 
den, dasjenige, wodurch baflelbe als ein darin geſetztes 
mitgetheilt wird. Die Beſtimmung Chriſti iR ja, Alles zu 
erfüllen oder mit feinem reinen göttlichen Lichtleben zu 
durchdringen (Eph. 4, 10). Iſt dieß einmal vollbracht, fo 


{ft nach dem kühnen Ausdrude des ahndungsvollen Rovas 


lis das AU fein Leib, aller Nahrungsgenuß Effen feines 


Leibes, Trinken feines Blutes. Vor diefer Umwandlung 


und Erneneriäng (neuer Himmel, neue Erde) bie zu dem 
Zeitpuntte der Zukunft des Herrn ift dieß auf eine dem 
Standpunfterdes chriftlichen Lebens im jeßigen Acon (dem 
Wandeln im Glauben) entfprechende Weife vorweggeges 
ben im Mable des Herrn. Der Geift Ehrifti in der Ges 
meinde macht kraft feines Worts, deffen Bollbringer er iſt, 
die fihtbaren Elemente für die Gläubigen zu Trägern bes 
verföhnenden und in Kraft der Berfühnung heiligenden und 
endlich verflärenden Lebens Chrifti zu feinem Leib und 
Blut. Der Slaube aber erkennt diefe Elemente als geeis 
nigt mit jenem Leben, als davon erfüllt und durchdrungen, 
als Organe. der Mittheilung deffelben. Wo nun Glaube, 
d. h. eine entfprechende Aufnehmungskraft ift, da wird mit 
und in den Elementen jenes Leben empfangen, der Genuß 
des Brodes und bes Leibes ift Ein ungetheilter; jaber Glau⸗ 


bensbetrachtung verfchwinbet vor dem im Brode darges . 
reichten Leben Chriſti die irdiſche Subftang; der Gläubige - 


‚ genießt vermöge des Wortes Chrifti, das er erfaßt hat, 
das durch den Glauben ihm immanent geworben ift, Chrifti 
Leib and Blut, der irbifche Stoff ift als irdiſch⸗ materiche 


Bibl.⸗theol. Erörterungen uͤb. d. Korintherbrief. 465 ° | 


Subftanz für ihm aufgehoben. Die irdifchen Orgäne zwar 
nehmen biefen auf, aber der neue Menfch, dem auch diefe 
Drgane dienen müflen, empfängt nur jenes Leben, und 
zwar der ganze Menfch das ganze Leben. Es ift kein bloß 
inuerliches Genießen eines Geifttgen, bloß zur Nahrung 
des Geiſtes; es ift leiblichsgeiftige Aufnahme des durch 
Ehrifti Wort fein Leib gewordenen Aeugeren in das durch 
Chriſti Wort hervorgebradjte neue Leben des Menfchen, 
welches ein Geiſtesleben aus Ehrifto iſt mit der Macht ber 
Berleiblihung. So lange Ehrifti Leben verborgen ift, wird 
dieſes kuarngı0ov oder sacramentum fortbeftehen, wenn er 
aber offenbart wird in Herrlichkeit, fo hört Das uvorngo» 


auf; denn dad menfchliche Geiftesleben aus ihm kat fich 


aledann wirklich verleiblicht, und die jeßige Außenwelt iſt 


alsdann von Ehrifti Leben durchleuchtet oder verflärt; je⸗ 


ned hat in biefer feine .entfprechende Nahrung. So if 
denn dad Mahl des Herrn eine zgoAmyıs bes Zuſtandes 
der Bollendung, worin biefer ebenfo vorgegeichitet wie 
vorbereitet wird. Es ift ein ad6rßav (Angeld) der Ver⸗ 
Härung der Erbe und des Menfchen und eine vorbild- 
liche Darftellung der Zufammengehörigkeit der verflärten 
Natur des Menfchen und der übrigen irdifchen Schöpfung, . 
und zwar gemäß dem gegenwärtigen Zuflande &v uucınzolo 
and nur für den Glauben. 

Faffen wir noch einmal Alles zufammen, fo werben 
wir erfennen, daß die Kirche Chrifti zu allen Zeiten die 


Wahrheit dieſes Dogma hatte, nur in der alten Zeit fo, 


4 


Daß die verfchiedenen Momente derfelben noch auf eine 
unklare Weiſe fich ineinander verliefen; in der mittleren 
Zeit fo, daß die innige Glaubendbetrachtung, welcher “ 
der Leib Chriſti hier Alles tft, welcher das Irdiſche ald in 
und für fich Beftehendes verfchwindet und welche die Iden⸗ 
tität des Leibes des Herrn im Abendmahle mit dem wirkli⸗ 
hen Organe der Verführung fich nicht nehmen läßt, fich in 
finnlich » vergröberter Form firirte und Dadurch in Abfurs 


ditäten ausging ; die verſtaͤndige Auseinanberhaltung aber, 
welche den .linterfchied in der Einheit und die Reali⸗ 
tät der Sinnenwahrsehmung gegen.eine phantaſiaſtiſche My⸗ 
ſtik zu retten ſuchte, im eine verletzende Sonderung und im 
eine fpiritualiftifche Berflüchtigung des Sacraments aus⸗ 
artete; in ber nestern Zeit endlich fo, daß einerſeits die 
bis dahin nicht gehörig. hervorgetretene Bermittelung ber 
ganzen Sache durch den Geiſt und Glauben ind Licht ges 
ftellt, andererfeitd der Zufammenhaug bes irbifchen Ele⸗ 
ments und ber himmlifchen Gabe genauer beftimmt wurde, 
nicht ohne VBerirrungen und Mängel. auf: beiden Seiten. 
Diefe beiden Seiten num zu einerhöheren Einheit’ zu vermits 
teln und überhaupt die audeinandergetretenen Momente ale 
- ein zufammengehäriges Ganzes zu erfennen, iſt Die Nufgabe ' 
unferer Zeit. Ju allen den verfchiebenen Auffaffungsmeifen ift 
Wahrheit, und diefe fefthaltend, Die durch einfeitige Firirung 
entfiandenen Irrthümer aber abfchneidend, Die verfchiedes 
‚nen Betrachtungsmweifen in eind zu bilden, das liegt und 
ob, und daraus refultiet dann das wahrhaft Aatholifdye 
Dogma, in. weldhem alle Kirchenabtheilungen ihre von 
Irrthum befreit? Wahrheitwieberfinden fünnen. Wir wärs 
den ed ungefähr fo faffen: das gottmenfchliche Leben des 
Erlöſers, das wefentlich verleiblichter Geift iſt und fidh 
als verfühnendes durch Leibesanfopferung und Blutver⸗ 
gießundg verwirklicht hat, theilt fih im Mahle des Herrn 
mittelft irdifcher, durch menfchliche Thätigfeit bereiteter 
Rahrungsftoffe mit, welche der Geift des Herrn Eraft des 
Wortes Ehriftifür Die Gläubigen zu etwas Anderem macht, 
als fie an fich find, fo daß fie, mit jenem Leben geeinigt, 
felbft Leib und Blut Ehrifti find, und ihre irdifche Mater 
rialität gar nicht mehr in Betracht fommt. — Dad Wahre 
der fogenannten Fatholifchen Anficht aber ift die Feſtſtel⸗ 
lung des wahrhaften Dafeyns des Leibes Chrifti mit Vers 
neinung ber irdifchen Weſenheit ald eines noch in ſich Ber 
Rand habenden; das Wahre der evangelifchen die Bezies 











Bibl.⸗ theol. Eroͤrterungen &b.-d. Korintherbriefe, “67 


hung biefer Gegenwart anf ben Genuß mit Ausfchließung 
falfcher Objectivität derfelben und Die Aufhebung jener 
abftracten Berneinung und pofitive Beflimmung der irdi⸗ 
fchen Elemente ald Träger Des Verfühnungslebend, was 
deun die tiefere Iutherifche Lehre in einem inyerlichen Sinne 
als eine unio ded Tragenden und Getragenen faßt, mogegen 
die reformirte ihrer Eirchlichen und. geiftigen Richtung ger 
mäß darauf dringt, daß Alles im Geifte heruhe und dar⸗ 
um nur für den Glauben und die Gläubigen fey. — ©» 
ſtellt ſich das Reſultat der Entwidelung bed Dogma her, 
and. Uber wie verhält ed fi nun mit dem Schrifte 
worte, als dem.vollen Keime beffelben? Wir können 
uns hier ganz an die panlinifche Darftelung halten. Denn 
was die Einſetzungsworte betrifft, fo ift Die pauli⸗ 
nifche und fynoptifche Ueberlieferung wefentlich digfelbe, 
mit faft wörtlicher Uebereinfiimmung des Paulus and Eus 
kas. Beidegehen von den übrigen Spnoptifern ab: 1) inder 
näheren Beſtimmung des o@ux, die aber der auch bei je» 
nen vorliegenden des alux analog ift; 2) in ber unmittels 
baren Verknüpfung der xaıvn duadnsen mit Dem morngiov, 
wodurch aber der Sinft im Ganzen nicht wefentlich verän« 
bert wird 0). Daß aber nun hier ein Tropus ftattfinde, 
ft nicht zu leugnen. Der Wein ift der neue Bund nur in 


a) Wir verbinden nämlich 1 Kor. 11, 25 dv ro alars unmittele . 

bar mit N xaımn dıadnnn, ba der hierbei flattfindenbe Dan» 
gel des Artikels viel eher zu ertragen iſt, als die jene Worte 
zu Zors ziehende Erklärung: der Kelch ift der neue Bund dur 
mein Blut (fofern er dieſes bedeutet oder auch mittheilt). Nun 
fagt Chriftus nad) Matth. und Markus: der Kelch (feinem 
Snhalte nad), der Wein im Keldhe) ift mein Blut, dag Blut 
des neuen Bundes, d. h. das biefen ftiftende, vermittelnde 
Blut; nad Lukas und Paulus: biefer Kelch ift der in meis 
nem Blute beruhende, d. h. dadurch geftiftete neue Bund, bas 
neue Verhältniß zu Gott, welches begründet wird durch mein 
für Viele zur Vergebung der Sünden vergoſſenes Blut (vgl. 
Matth.). N 


468 ling | 

. dem Sinne, baß er benfelben Darftellt als eine That⸗ 
fache, welche die ſolchen Wein Genießenden beftimmt an⸗ 
geht, fo daß fie an dem neuen religiöfen Verhältniſſe, am 
der durch Ehrifti Blut vermittelten Verfühnung, fomit an 
dem Aufgehobenfeyn der Schuld vor Gott, an der Süns 
denvergebung Theil haben. Daraus folgt jedoch nicht, 
daß auch bei der directen Verknüpfung bes alu mit dem 
zorhgrov und in dem Satze: zoüsd nov dorlv TO Owue, 
das gleiche ſtattfinde. Kaum wird man fich entfchließen 
können, das äoriv hier durch „bebeutet” zu überfegen, da 
Bas, was man hierfür anzuführen pflegt [rovräszv, ya 
sluı 7) &usslog 7 dAndıvn, 0.9.) keineswegs ganz analog iſt. 
Eherfönnteman, wenn ntcht Anderes (B.25) im Wege flände, 
rodro ald Prädicat betrachten (mein Leib ift Brod; vgl. 
Joh. 6, 55). Der Ausdrud ift, wie die Sache felbft, eins 
zig in feiner Art. An eine eigentliche unmittelbare Identi⸗ 
tät ober Einheit zwifchen Subject und Prädicat kann nicht 
gedacht werden, da das Prädicat feine Ausfage über das 
"Subject enthält, welche als einenatürliche Beſtimmung befs 
felben ſich erwiefe; eher an bie Einheit von Bild und Sache, 
- obwohl der Fall nicht der gleiche ift, wie in der ErNärung 
einer Parabel oder eines Gleichniffes (Matth. 13,37). Das 
Brod kann zunächſt nur in dem Sinne Ehrifti Leib feyn, ald es 
denfelben Darftellt, und zwar infofern, als ed zum Beßten 
ber Genießenden gebrochen. (angegriffen), ein Sinnbild 
ift des zum Beßten Bieler in den Tod gegebenen Leibeg 
Ehrifti, und. ebenfo der Kelh (Mein) Chriſti Blut, ſofern 
er, ausgegoſſen zum Beßten der Trinfenden, ein Symbol 
ift des zum Beßten Vieler vergoffenen Blut, Aber nun 
fragt es fi, ob dieſes Darftellen ein bloß ide elles ift, 
fo daß das Brod bloß bedeutfames Bild wäre, oder ob es 
- eine reelle Mittheilung, wodurch man der Sadıe 
ſelbſt (des Leibes) theilhaftig wird, im fich fchließt. Hier 
ift befanntlich der Punkt, wo Calvin über bie zwinglis 
ſche Auffaffung hinausgeht; das Brod ift nach ihm sym- 
bolum, quo res exhibetur, was er näher fo beftimmt, 


Bibl. = theol. Erdrterungen Ab. d, Korintherbriefe. 469 


ed fey Chriſti Leib, fofeen er ſicher begeuge, daß uns 
jener Leib, den es darftellt, dargereicht werbe, oder fofern 
der Herr, das fihtbare Symbol darreichend, und zugleich 
feinen Leib darreiche, fo daß wir ebenfo gewiß diefen em» 
pfangen, als wir das Brod effen. — Ob man hierzu, 


oder gar zu der Annahme eines noch innigeren Berhälts " 


niſſes zwifchen Brod und Leib Ehrifti, als welches in der 
Bleichzeitigkeit des Genuſſes und in der Vorftellung des 
verfichernden Unterpfands angezeigt ift, berechtigt fey, 
Darüber läßt fi) aus den Einfeßungsworten felbit feine 
Entfcheidung gewinnen. Momente zu einer folchen fcheis 
nen in 1Kor. 11, 27.29 zuliegen. In V. 27 zieht der 
Apoftel aus der Erpofition über das Wefen und den Zwed 


jenes Mahles die Folgerung, daß Jeder, der Brod und 


Wein auf eine unwürdige, dem Wefen und Zwede bes 
Mahles ımangemeffene Weiſe a) genieße, für einen Solchen 
"gelten werde, ber am Leibe und Blute des Herren fid) vers 
fündige. Das bezieht ſich nun unftreitig auf den Leib und 
Das Blut des Herrn im Abendmahle; denn was An⸗ 
dere darin finden wollten: ein Solcher werde angefehen 
werben ald Einer, ber in Jeſu Tod eingeflimmt, Das wärbe 
gewiß anders ausgedrüdtfeyn. Hieraus folgt aber weder mit 
Sicherheit,. daß auch der unwürdig Genießende Chriſti 
Leib und Blut wirklich in fich aufnehme, da es ja auch 
eine Berfündigung am Leibe und Blute des Herrn ift, wenn 
- er burch verfehrtes Verhalten diefed hohe Gut von fich 


ſtoͤßt, noch kann man zuverfichtlich behaupten, daß die 


rein fombolifche Anficht dadurch ausgefchloffen werbe, ba 
man ja mit Recht fagen Fönnte, wer die Symbole des Leis 


‚a) Er meint hiermit ohne Zweifel das in ©. 21 gerügte ungehös 


rige und lieblofe Benehmen , welches in unverfennbarem Wis 
derfpruche fland mit‘ dem von Chrifto felbft ausgefprochenen 
Zwecke ber Feier, da man bei folcher Selbſtſucht unfähig war, 
Chriftum in feiner Liebe und Selbftaufopferung ſich zu verges 
genwärtigen, und von biefer Liebe en — Tod zu 
preiſen. 


479 er | 1: BEN 


bes: und Blutes Chriſti auf eine unmwärbige Meiſe geuirhe, 
verfündige fich an feinem Leibe und Blute felbfl, Stände 
freilich fonft feſt, daß wifhen dem Brod und Wein im 
Abendmahle für die Gemeinde eine noch innerlichere. und 
reellere Beziehung ftatsfinde, als bie bloß ſymboliſche 
oder Die des gleichzeitigen Genuſſes und bes verfiegelnden 
Pfandes, fo würde unfer Ausdruck noch niel bezeichnen⸗ 
der ſeyn. — In V. 29. motivirt er die Aufforberung 
(B. 28) , um nad) gehöriger Selbfiprüfung von dem Brode 
zu een und aus dem Kelche zu trinten. Er fagt nadı der 
Lesart ber älteften Zeugen, welche avaklaos und roü xvplov 
weglaffen: „Denn der Ejfende und Trinkende 
ißt fi felbft ein Gericht, wenn er niht unten 
fheidet den Leib (des Herrn)” — Auch hierin liegt 
nichts Eutfcheidendes. Er will fagen, wenn Einer nicht 
durch die Selbfiprüfung und das hierdurch gewedte Bes 
mwußtfenn feines innern Bedürfnifjes verlangen nach der 
Gemeinſchaft des verföhnenden und heiligenden Lebens 
Jeſu geworden, fo fey ihm das Mahl des Herrn leicht wie 
ein anderes Mahl, er unterfcheide nicht den Leib, d. h. er 
bedenke beim Genuffe Des Brobes nicht recht, baß er nicht 
gemeine Nahrung zu fidy nehme, fondern bagjenige, wor 
durch der Leib Chriſti Dargeftellt oder mitgetheilt werde, 
und wenn Einer dad nicht thue, fo ziehe er ſich ein Gericht 
(Strafe) zu. Die Strafwürdigkeit beruht hier offenbar. 
in der Unangemeffenheit der. Gemäthsfaffung und des Bes 
nehmens zur Bedeutung und zun Zwecke der Handlung des 
Mahls, mag nun das Brod bloßed Symbol oder realer 
Träger des Leibes feyn, und der Furzgefaßte Ausdrud 
oöua legt in die Wagfchale der letzteren Anficht durchaus fein 
entfcheidendes Gewicht. — Wenn irgend eine Stelle dieß 
thut, fo ift ed gewiß die Erflärung, welche Der Apoftel Kap. 
10, 16 von fich gibt. Er redet hier nicht ex professo vom 
Mahle des Herrn, fondern er will den korinthifchen Chris 
fen das Unchriftliche der Theilnahme an den heidnifchen 





Bibl.⸗theol. Erdrterungen üb. d. Korintherbriefe. 471 


Opfermahlzeiten zum Bewußtſeyn bringen und weift fie 
gu dem Ende zunäci auf bie Bedentung des h. Mahls der 
Shriften hin, um ihnen. das fühlbar zu machen, mas er 
8.21 ausfpricht, Daß mit der Theilnahme an diefem Mahle 
die Theilnahme an jenen Opfermahlen fich nicht vertrage, 
da man nicht mit dem Herrn und mit den böfen Geiſtern zu⸗ 
gleich in Gemeinfchaft ftchen könne; daß aber Die Theilnahme 
an jenen Wahlen einereligiöfe Gemeinſchaft in:fich fchließe, 
das macht er einleuchtend an den ifraelitifchen Opfermabr . 
ten, deren religiöfer Charakter nicht in Abrede geftellt wer» 
den konnte 0). In Bezug auf bad Mahl des Herrn fagt 
er nun: „Der Kelch des Segend, den wir fegs 
zen, ift er nicht zoıvovia bes Blutes Ehriftif? 
und ſodann Entfprecheuded vom Brode, es fey.xowania 
des Leibes Chriſti. Hier fragt fich vorerfi, was das sv- 
Aoyeiv ii? Da es and) Ioben, banken bedeutet und.in 
den Berichten von ber Stiftung Diefes Mahle das zuyapı- 
sreiv als ein dem Genuſſe worangegangener, benfelben 
weihender Aet vorfommt, fo ift man auch hier verfircht, 
es fo zu nehmen; daher die Erflärung: „den wir mit 
Dankſagung empfahen.” — Aber die erwähnten Stellen 
geben doch feinen fichern Beweis hierfür ab, und daraus, 
daß euloysiv mit bem Accufative der Perfon (Tv dsov) in 
jener Bedeutung vorkommt, folgt nichts für Stellen, wo 
ed einen Accufativ Der Sache bei fih hat. Beruft man fich 
aber auf Luk. 9, 16, fo ergibt fich ‚gerade aus dieſer Stelle 
eine andere Bedentung: fegnen, durch Gebet und Wort 
Gottes weihen, wodurch denn hier der Genuß ein relis 
giöfer Act und eine Vermittlung geiftlicher Wohlthat wird. 
Das Segnen bes Kelchs ift ein Anflehen Gottes, daß der 





a) Für gänzlich verfehlt mäffen wir es halten, wenn Dlshbaus 
fen aus 8. 18 die Kolgerung giebt, daß der Apoftel bas Abends 
mahl felbft als ein Opfermahl betrachte. Auf diefe in ber 
Schrift nirgends begründete Meinung Tann man bier nur kom⸗ 
men, wenn man ben Gang der Argumentation völlig verkennt. 


— 





472 Klin - 


Wein im Kelche ein Anderes als bloßer irdifcher Tran, ein 
Mittel höherer Mittheilung werde, und eine zuverfichts 
liche gläubige Erklärung, daß er kraft des göttlichen Wor⸗ 
tes dieß fey. Und dieß erfcheint hier ale ein gemeinfamer 
Act der Öläubigen (vgl. Zoutv, B.17), als ein Act Der 
priefterlihen Gemeinde, deſſen Princip der Geift Ehrifti 
. An bee Gemeinde ift, ber. vermöge. des göttlichen Wortes 
das Irbifche weiht und. zum Träger geiftlicher Wohlthat 
macht. In Folge diefer Weihung heißt nun der Kelch 
feld zorngıov rs svAoylas. Man könnte: dieß 
mit Luther Überfegen: „Der gefegnete Kelch“, fo 
daß der Relativfag als eine paffende Erläuterung dazu 
erfchiene, aber beffer nimmt man ed wohl analog. dem 
&prog rs foig (Joh. 6, 355 vgl. V. 33) —= Segen brins 
gender. Keldy, Keldy, der Mittel des göttlichen Segens 
ift. Don dieſem Kelche nun fagt er, und zwar fo, daß 
er dieß als ein von ben Lehrern Anerfanntes vorausſetzt, 
er fey xoıvoavla des Blutes Chrifti. Hier ift num 
vor Allem unzweifelhaft, daß das Blut Ehrifti das am 
Kreuze vergoffene ift, worin der neue Bund beruht CI, 
25). Sn einem andern Sinne fommt «iu Xgıoroö bei 
Paulus nirgends vor, und die Erklärung: Blutsverwandt⸗ 
fchaft, Geſchlecht (nad; homerifchem Sprachgebraudhe) 
entbehrt alles fihern Grundes a). Die xoıwvovia dieſes 


a) Auf eine fcheinbare Weiſe fpricht der Zuſammenhang bafür, 
fofern in V. 17 oona ben Gemeinde» Organismus bezeichnet, 
und hieraus gefchlofien werben koͤnnte, bag in V. 16 rO com« 
zod Xgıoroü gleichfalls die Gemeinde fey, und fomit auch das 
parallele alua zoü Xoıcrov das Geſchlecht Chriſti. So wäre 
ber Sinn: „Der Kelch ift Cftellt bar) die Gemeinſchaft des 
Gebluͤts (Geſchlechts) Chrifti, das Brod die Gemeinſchaft bes 
Leibes Ehriſti. Weil es ein Brod iſt, fo find wir, die Vie⸗ 
len, ein Leib; denn alleſammt haben wir Theil an dem eis 
nen Brode.“ Diefer auf den erſten Blick fo anfprechende Zus 
fammenhang entfcheibet nicht gegen den conftanten Gebrauch 
des alu Xgsorov bei Paulus, wozu noch kommt, daß der 


Ip 


Bibl.-theol. Erörterungen &b. d. Rorintperbriefe. 473 


Bluts aber-ift entweder Theilnahme daran ober Mits 
theilung deffelden. (An ſich zwar könnte ed auch heißen 
eine im Blute Ehrifti wurzelnde Gemeinfchaft, aber dieß 
iſt weder dem Conterte gemäß, noch will es recht zum 
Subjecte des Satzes paflen.) Dem gewöhnlicheren pauli⸗ 
nifchen Gebrauche von xoıvovta iſt das Erftere entfpres 
chender, aber auch Die tranfitive Bedeutung fommt bei 
ihm vor (Rom. 15, 26). — Geht man von jenem aus, fo 
bat der Satz etwaß fehr Auffallendes, und man ift fehr 
geneigt, dem Lorly den tropifchen Siun zu geben: der 
Kelch bedeutet die Theilnahme am Blute Chriſti. Aber 
auf diefe Art das Abftractum „Theilnafme” mit dem 
Concretum „Kelch“ in Beziehung zu feßen, gebt nicht, 
und wir find wohl genöthigt in xoıwmwla eine Metonymie - 
anzunehmen, baß ed Dad.medium oder die vermittelnde 
Urfache der Theilnahme bezeichne. Hiefür fönnte man als 
Analogien Joh. 11,25 (dyd avassacıs xal’n u) 
und Röm. 7, 13 (ròô Ayadov Zuol yeyovs &dvaros) anführ 
ren. Aber leichter und ficherer fcheint es doch, von ber 
tranfitiven Bedeutung auszugehen, wobei der Sinn herz 
ausfömmt: der Kelch ift eine Mittheilung des Blutd 
Chrifti, d. h. er theilt daſſelbe mit; und wir gewinnen for 
fort nu Sinn, wie bei der intranfitiven Bedeutung: 
er bermittelt die Theilnahme am Blute Chriſti; und dieß 
ift denn eben die zudoyle, die der Kelch fpendet. Hier 
ift nun freilich mehr als eine Theorie in Betreff des Wie? 





Sontert nicht auf Hervorhebung der Gemeinſchaft der Glaͤubi⸗ 
gen unter einander, fondern der Gemeinfhaft mit Chrifto hins 
führt. ®. 17 kann ſonach nicht als wefentliches Glied ber 
Argumentation betrachtet werben , fonberh ift eine logiſche Pa⸗ 
rentheſe, eine beiläufige Bemerkung, welche fich dem Apoſtel 
bei der Erwägung ber Abenbmahlsfeier im Blick auf die Ger 
fpaltenheit ber: korinthiſchen Gemeinde aufdbrängte, bier um 
fo bedeutfamer, da biefes Bewußtſeyn der Einheit auch einen 
mächtigen Beflimmungsgrund zur Schonung ber eg 
enthält. 


AT atling 


wand Wiefern? möglich, aber das Verhältniß der Imma⸗ 
nenz und Einheit, welches die lutheriſche Theorie ſetzt, 
iſt doch wohl die einfachſte und richtigſte Beſtiumung, 
wodurch der Ausdruck Segenskelch und der Satz, daß 
dieſer Chriſti Blut mittheile, und die Andeutungen LI, 27, 
29 die genügendfte Erklärung erhalten. Aber auch das 
Hecht der reformirten Lehrweife ift in unferer Stelle info» 
fern gewahrt, ale diefe Bedeutung und. Macht des zorr- 
orov auf das svAoyeiv, einen Act der Gemeinde oder bes 
in ihr wohnenden Beifted und Glaubens, surüdgeführt 
eder dieſes ale Vorausſetzung derſelben bezeichnet wird, 
fo daß alle Realität. ber Mittheilung als eine im Geiſte 
und Glauben beruhende erſcheint. 
Soo hat der Apoſtel hier, we er die Sache nur ges 
legentlich berührt, eine weitgreifende Erklärung von ſich 
gegeben, in welcher das Wort der Löfung für den Streit 
der Theorien und eine authentifchsapoftolifcye Iuterpres 
tation der. Einſetzungsworte niedergelegt: tft, fo dag wir 
auch. in diefen mehr finden dürfen, als die nächſte obers 
ſtaͤchliche Betrachtung darbietet. Das kirchliche Bewußt⸗ 
ſeyn nun hat nach 800jährigem Genuſſe bed Abendmahl⸗ 
ſegens und einzelnen Privatverſuchen, darüber zu einer 
theoretiſchen Verſtändigung zu kommen (Gregor von 
Nofſa), zuerſt auf eine kühne und. ſchroffe Weiſe den 
Glauben an die Wahrheit. der Stiftungsworte fund ges 
geben, indem ed, Die. irdifche Subftantialität ber ſichtbaren 
- Elemente negirend, nur von Chrifti Leib und Blut ale der 
Subſtanz des Mahl ded Herrn wiffen weilte (Paſcha⸗ 
fing Radbertus). Diefe Glaubensfühnheit, welche 
über die empirifche Wirklichkeig fi in überfchmenglichens 
Fluge erhob, ſchlug aber in ihr Grgentheil, in rohe 
Aeußerlichkeit, um und-bedurfte fofort eines Gorreetivs, das 
fr in der RatramnussBerengar’fhen Nidjtung 
wurde. Zur höheren Entwidlung des firchlichen Bewußt⸗ 
ſeyns gehörte «ed aber, daß einestheild mit -Negirung 


Bibl.⸗theol. Erdrterungen uͤb. d. Korintherbriefe. 475 


jener Negation die Wahrheit derfelben, die Realität des 
Leib und Bluts Chriſti im Mahle des Herrn, auf eine por 
fitive, die Einheit wie den Unterfchieb anerfennende Weife 
feftgeftellt, anderntheile da® Verniitteltfegn des uuorngiow 
Durch den Geiſt und Glauben beſtimmt geltend gemacht 
wurde. So erft ift dem Schriftworte fein ganzes Recht 
geworden, und wir erkennen ebenfo das urfprängliche 
Befaßtfegn der Momente des Dogma im Worte, wie bie 
Entfaltung des Worts im Dogmaz die Schrift wirb uns 
Har vermittelt der gefchichtlichen Entwicklung, und für 
dieſe zeigt und der Geiſt den rechten Maßſtab im der 
Schrift. Diefe, und zwar hier die Einſetzungsworte, faßte 
das Firchliche Bewußtſeyn zuerft in der unmittelbarften 
Wörtlichteit; das Abſurde der. Eonfegnenzen diefer Aufs 
faſſung trieb zur entgegengefeßten tropiſch⸗ſymboliſchen; 
die Wahrheit von beiden in einem Dritten, fchon durch 
das apoftolifche Wort Vorgezeichneten, zu finden, war 
das Ringen des firdhlichen Geiſtes; und diefes ‚Dritte ift 


die Anerkennung der Realität ober reellen Gegenwart des 


verföhnenden Lebens Ehrifti ale einer geiftig vermittelten. — 
Darin liegt die wahre Einigung der Parteien, die. aber 
fo lange unmöglich ift, als der fogemannte Katholioismus 
feinen römifchen Charakter äußerticher Bermittelung feſt⸗ 
hält, das Lutherthum feine Hinneigung nad; der Seite 
äußerer Objectivitüt nicht ganz überwunden hat umd ber 
Calvinismus feine Neigung zum Spiritnalidmud und 
feine fchroffe, auch im Prädeſtinationismus hervortretende 
Sonderungstendenz nicht völlig ‚Iosgeworden ift. ‚Denn 
fe tiefer-wir der Sache nachgehen , deſto mehr werben wir 
zu ber. Einficht gelangen, Daß die Anficht vom Abendmahle 
mit der ganzen Anſchauungsweiſe der chriftlicyen Parteien 
wie einzelner Denker zufammenhängt, und daß fonach die 
volle Einigung in dieſem Punkte mit der anderweitigen 
Ausgleichung der Denkweiſen, ober mit der nur allmählich 
und durch viel Kampf ber Begenfäte zu verwirklichenben 


Harmonie der Geifter im Großen und Ganzen. gleihen 
Schritt halten muß. Ein foldher Entwurf der Concordie, 
wie hier dorgelegt worden, kann nichts weiter ſeyn wollen 
als ein ſchwacher Privatverfuch, dem theologifchen Publi⸗ 
cum zur weiteren Prüfung vorgehalten, zunächft als eine 
Probe, wie das Schriftwort und die Entwicklung des 

Dogqgma einander gegenfeitig Licht geben können. 

Aus der bisherigen Auseinanderſetzung erhellt zu⸗ 
gleich, worauf die wahre Union hinſtrebt: nicht auf Ver⸗ 
wiſchung der bisherigen Gegenſätze, ſondern auf Jneins⸗ 
bildung des Wahren barin, indem man ausgeht von 
ebenfo offener Anerkennung der Wahrheit auf verfchiebes 

uen Seiten, ald,der noch auszugleichenden Differenz, die 
äber nur durch fortgehende Geiftedarbeit in der Liebe und - 
Wahrheit ausgeglichen werden mag. 


4. Geiſtesgaben. 1 Kor. 12- 14. 


Zu den ſchwierigeren Punkten dieſes großartigen Briefs, 
in welchem der Zuſtand, der apoſtoliſchen Gemeinden auf 
eine ſo vielſeitige Weiſe, wie ſonſt nirgends, geſchildert 
and angedentet wird, gehört anerkanntermaßen basjenige, 
was der Apoftel von den Charismen, indbefondere von 
dem Charisma des yAmasaız Andeiv fagt. Die Schwierigs 
keit des Verſtändniſſes beruht hier vornehmlich darin, daß 
wir hier eine den Anfängen bes Chriſtenthums eigenthüns 
liche, Durch den erſten Eintritt beffelben in die Welt bedingte 
Wirfungsweife des Geiftes vor uns haben, welche in dem 
Maße aus dem Leben der Gemeinden und eben damit aus 

dem Bewußtfeyn fich verlor, als das in der Menfchheit 
xun fellgewurzelte-Chriftenthum ſich der menfchlichen Nas 
tur und ihrer Fähigkeiten auf dem Wege allmählicher 
organischer Aneignung bemächtigte. "Das menfchliche Les 
ben in allen feinen Beziehungen vom ungöttliden Princip 
and deffen intelectuelsmoralifchen wie phyſiſchen Wirkun⸗ 
gen zu befreien und mit göttlichem Leben zu durchdringen, 


y 


* 
J 





Bibl.stheol. Erörterungen üb. d. Korintherbriefe. 477 
das iſt die Aufgabe des Chriſtenthums in allen Stadien 


feiner Entwidlung in der Menfchheit, der eigenthümliche 


Chargfter des Chriſtenthums aber ift, daß dieß in der 
Form des Wunders gefchieht. Wir haben hier die Ans 
fänge einer neuen höhern Lebensftufe vor und, deren wer 
fentlicher Charakter Aufhebung der Schranken und Gebres . 
chen der durch Sünde getrübten Entwidlung und pofltive 
Meiterbildung der Menfchheit nad) allen Seiten hin iſt. 
Dad hriftliche Princip beurfundete nun zuvörderſt feihe 
Neuheit und Urfprünglichkeit wie feine Erneuerungsmacht 
und feine Beſtimmung, alle Bande der Sünde, des Irr⸗ 
thums und des Berderbniffes aller Art zu löfen, durch 


. Wirkungen, beren Ableitung aus dem alten Naturprincip 


und deſſen Bermögen unmöglich war. Zudiefen Wirkuns 
gen befähigte es zunächft innerlich. Es fchuf eine mannich⸗ 
faltige Tüichtigfeit zu Thätigleitdäußerungen, die jene Bes 
flimmung zu offenbaren und zu verwirklichen geeignet was 
ren; und biefe fo gewordene Tüchtigkeit ift das zaeıoue, 
eine Wirfung der göttlichen zapıs, der in Chrifto offenbar 


gewordenen erlöfenden Liebe Gottes. Als innere Tüchtigs 


keit wird aber dieſes auf den h. Geift, das die Erlöfung 
mit ihren Wirkungen innerlich realifirende göttliche Prin⸗ 
cip, zurüdgeführt (12,4), wogegen bie Aemter (diaxovlas), 
in weldyen die geordneten Wirkungskreiſe der Eharismen 


ſich darftellen, auf den Herrn der Gemeinde (V. 5), die 


Zvepynnare, d. h. die Kraftäußerungen oder Thätigfeiten, 
worin die. wirkliche Ausübung jener Tüchtigleiten zu Tage 
fommt, auf Gott ald den Urgrund aller Kraft und Krafts 
äußerung bezogen werben (2. 6). Einestheilg in der Eins 
heit -diefed Princips (DB. 11), anderntheils in der Einheit 
des Zweds (V. D beruht die Harmonie in diefer Mannich⸗ 
faltigkeitz. und entfprechend dem ganzen Leben der Ges 
meinde, greifen die Charismen organifch ineinander (B. 
12 ff.) — Die Mannichfaltigkeit der Charismen, bie 12, 
8—10. 28 aufgezählt werden, hat man nun auch Iogifch 
Theol. Stud. Jahrg. 1839. 81 


i * 


478 Ming 


zu arbnen verfuct, woraus verfchiehene Eintheilnns 
gen hervorgegangen find. Sieht man auf ihre Gaufalität 
und ihr Berhältniß zum gewöhnlichen Lebensverlauf und 
fomit. auf ihre Begreiflichkeit oder Verſtändlichkeit für uns, 
welche im Allgemeinen darin beruht, daß unter uns noch 
Analoges vorlommt, oder daß fie Anfänge und befannter 
Fähigkeiten der vom chriftlichen Princip ergriffenen Menſch⸗ 
beit find, fo ift man verfucht, zweierlei Arten von Cha⸗ 
rismen anzunehmen: foldye, die im ordentlichen Verlaufe 
ber chriftlichen Entwicklung ſich fortwährend und barftellen, 
unb folche, die außerhalb deffelben liegen, und zwar im 
ben Anfängen bes Ehriftenthums häufig find, aber in der 
Kolge mehr und mehr zurücktreten und etwa nur noch 
auf eine fporadifche und untergeordnete Weiſe zum Vor⸗ 
fcheine fommen. Dieß wären denn ordentliche und 

außerordentliche Geiftedgaben, und man könnte jene 
auch natürliche, diefe übernatürliche nennen, for 
fern in jenen conflante Kähigfeiten der menfchlichen Natur 
hervortreten, denen das chriftliche Princip nur eine neue 
und höhere Richtung für den Dienft des Reichs Gotteß ges 
geben, auf die es jedenfalls, wenn ed auch — zufälligers 
weife — die erfie Anregung zu ihrer Entwidlung gab, nur 
umbildend, heiligend wirfte, in biefen Dagegen die menſch⸗ 
liche Natur mit. Kräften oder Fähigkeiten ausgerüſtet 
wurde, die nicht im ihr ſelbſt oder ihrer natürlichen Ent⸗ 
wicklung liegen, fondern Durch eine unmittelbare fchöpfes 
rifche Thätigkeit göttlicher Kraft in ihr hervorgerufen wer» 
den. Zur erfteren Elaſſe würden nun 3. B. bie yuacıg 
und sople 12, 8, und bie dudcdaxaloı, zu gig, AVER- 
Aypsıs (eigentlich die diefen Thätigkeiten zu Grunde lies 
genden Tüchtigkeiten) B.28 gehören, zur zweiten Dagegen 
die übrigen B. 9 f. genannten Chariemen. — Aber diefe- 
Eintheilung läßt fidy durchaus nicht fefihalten. Denn alle 
Eharismen haben den Charakter des MWunderbaren; der 
Begriff dieſer urchriftlichen Tüchtigkeiten fchließt das in 








t 
* 


Bibl.⸗theol. Erörterungen üb. d. Korintherbriefe. 479 


Ah, daß fle nicht in der natürlichen Entwicklung liegen, 
ſondern durch das göttlide Lebensprincip, das nvsüue 
&yıov, neuhervorgerufen werben, wie benn auch der Apoftel 
29, 11 ausbrüdlich fagt: „alles biefes wirft der eine und 
ſelbige Geift”. Waren auch vorher analoge Tächtigkeiten 
vorhanden: als chriftlicye, in welchen fidy der h. &eift 
manifeflirte, und welche zur Förberung bed Gemeinde 
lebens fich eigneten, waren fie ein Neues; andererſeits aber 
tft auch wohlanzunehmen, daß der Geift, der einem Jeden bes 
ſonders zutheilt, wie er will, dabei nicht willfürkich verfahren, 
fondern zu jedem epıoue Solche auserſehen habe, Die Durch 
ihre natürliche Anlage gerade hierzu präbisponirt was 
ven“). Der Geiſt war es, der z. 3. Gläubige zu Bors 
trägen befählgte, bie durch Zweckmäßigkeit ber Darftels 
lungsweiſe, treffende Berüdfihtigung der mancherlei Bes 
. bürfniffe der Zuhörer und darin beruhende Beredtſamkeit 
oder Kunft ſich auszeichneten (Aoyog ooplag); der Geift 
machte Andere tlichtig zu. Vorträgen, worin eine tiefere Eins 
fiht in dad Wefen der chriftlichen Wahrheit unb in ihren 
Zufammenhang mit dem vordhriftlichen Gebiete, befonders 
der altteftamentlichen Dekonsmie, namentlich durch Aus 
mittehung ber Typen und Weißagungen, oder des ganzen 
Borgezeichnetfegnd des Neuen im Alten, fi fundgab 
(Aoyos yvacsms). In beiden iſt eine göttliche Erhebung 
and Stärkung ded Denke und Sprachvermoͤgens anzuers 
tennen, was jedoch die freie Selbfibewegung nicht außer, 
fondern als Folge in ſich fchließt. Ebenſo verhält es ſich 
mit den übrigen Charismen, die zur erfteren Slaffe gerech« 
net werden möchten, und es ift eine ganz unrichtige Ans 
fiat Rüdert’s, wenn er (u 14, 6) das dıödaazxsım, 
die Tlichtigkeit zu einer ruhig⸗verſtaͤndigen Darlegung der 


a) Das xadms Bovisrar foll nur bie Vorftellung eigenmädhtigen 
ober verbienftlichen Anfichbringene der Charismen von Seiten 
der Menſchen befeitigen. | 

2 öl * 


chriſtlichen Wahrheit, ald etwas durchaus Menſchlices 
betrachtet und nur das vaooocuig Aalziv und TEopnTEÜEE® 
unter den Einfluß des göttlichen Geiſtes ftelt. Der Unter 
fchied kann in diefer Beziehung nur ein relativer ſeyn, in⸗ 
dem die menfdhliche Selbfithätigkeit als eine hier mehr, 
Dort weniger hervortretende zu denken ift. — Die Tüch⸗ 
tigfeit zu Hülfleiftungen aber, zu chriftlicher Fürforge für 
Arme, Kranke u. dgl. Cavrıanyeıg) und die Fähigkeit, 
Gemeinden oder kleinere Kreife barin zuleiten(xvßsov7- 
‚65:57 konnte Einer mur haben in Kraft der chriftlichen Er⸗ 
neuerung und vermöge des Beſtimmtſeyns feiner natürs 
lichen Diepofition für folche Functionen durch den h. Geik. 
Das zapıoua ift alfo durchaus eine Tüchtigkeit zum Wirken 
für das Reich Gottes in einer gewiffen Beziehung, welche 
als folche Werk der Önade oder vom h. Geiſte hervorges 
bracht if. — Auf der andern Seite aber hat der Geik 
die Tüchtigkeit, den allmächtigen Willen Gottes zur Bols 
bringung hoher Kraftthaten zu erfaffen (rlarıs, 13,2), wohl 
nur in willensträftigen Menfchen hervorgernfen. Gleiches 
gilt von der hiermit zufammenhängenden Befähigung zu 
Heilungen und zu andern Erweifungen der Macht bes 
Geiftes über die Natur (12,9 f); fo wie auch die Kähig» 
keit, Berborgenes, ſey ed nun Zufünftiges, beſonders Ents 
wiclungen des Reiche Gottes, oder geheime Gedanken 
und Öefinnungen Anderer, zu: fchauen und in feurigebegeis 
fierter Rede kundzuthun Crgopnrela), wohl poetiſch⸗di⸗ 
pinatorifchen Naturen, Dad Vermögen aber, zu erfennen 
und darzuthun, ob der angeblich auf Geiftesantrieb Res 
dende vom göttlichen oder: von einem andern Geifte ges 
trieben fey, oder ob die Reden bed vom Geifte Gottes 
Angeregten durchgängig aus diefer reinen Quelle kommen, 
ob nicht Erzeugniffe ungöttliher Anregungen und Einges 
dungen eingemifcht feyen (dudxpıioıg zvsvuceov), fcharfs 
finnigen Menfchen verliehen wurde. Diefelbe Voraus⸗ 
feßung wird auch von dem yAmaonıg Anksiv und ber &p- 


Bibl.«theol, Erörterungen üb. d. Korintherbriefe. 481 


pipvelee yAmoscv-gelten, obwohl wir das Weſen biefer 
Fähigkeiten hier noch unbeftimmt laſſen müffen. 

Der Unterfchieb dee Natürlichen und Lebernatürlichen, 
oder wie man dieß fonft ausdrüden mag, läßt fi alfo 
nicht recht Durchführen. — Und wenn wir nicht die fporas 
bifch vorfommenden außerordentlihen Gaben der Weis 
Bagung, der Heilung. u. a. als die wahren Fortfeßungen 
‘der urchriftlichen Ehariömen anzufehen haben, wenn viels 
mehr die Charismen die wunderbaren Anfänge chriftlicher 
Tüchtigkeiten find, welche hernach in dem mannicdhfaltigen 
Wiſſen und Können der chriftlichwerbenden Menfchheit 
als natürlich-vermittelte und organifirte fich darftellen a), 
fo fällt auch der Unterfchieb des Ordentlichen und Außer, 
ordentlichen hinmweg.. Alles diefes iſt von vorne herein 
außerordentlich, aus der vorhandenen Ordnung hers 
ausgehend, Element einer neuen Ordnung des Lebens, 


a) Hierin iſt die hoͤchſte Aufgabe des mannichfachen Wiſſens und 
Könnens ausgefprochen, deren Loͤſung freilich nicht in allen 
Gebieten mit gleicher Klarheit vollbradyt wird. Wie wenig 
Bewußtſeyn hierüber ift z. B. im Gebiete der Heilkunde. Die 
Verſuche aber, biefes Bemwußtfeyn, hervorzurufen, find mitunter 
fo wenig vermittelt und haben fo fehr den Charakter bes 


Boreiligen und Einfeitigen, daß man fich nicht wohl darauf 


berufen Tann, Daraus folgt jedoch gar nichts gegen bie Rich⸗ 
tigkeit der ganzen Behauptung, welche weiter auszuführen aber 
hier nicht der Ort if und auch Sachkundigeren überlaflen wers 
den muß. Nur fo viel möchten wir im Allgemeinen noch bes 
merlen, baß die Schöpfungsölonomie mit allen darin liegenden 
Kräften gerabe auch, infofern. als fie im menſchlichen Wiffen 
und Können ſich reflectirt, ber Erloͤſungsoͤkonomie bienftbar 
werben muß, wenn Chriſto alle Gewalt gegeben ift im Himmel 
und auf Erben, und daß das GChriftentbum, wie es im Ganzen 
die Menſchheit ummwanbelt und. auf eine höhere Lebengftufe ers 
hebt, fo auch der einzelnen Gebiete des Wiſſens und Könnens 
fi mehr und mehr bemächtigen fol, fo daß Alles, in welchem 
Sinne es auch betrieben und gefördert werben mag, zus 
letzt der Erloͤſungsoͤkonomie dienen und als ein Glied des Or⸗ 
ganismus ber chriſtlichen Menfchheit erfcheinen muß. 


482 Kling 


. fortan aber wird ed nun ein ordentliches, ein Beſtaud⸗ 
theil der fich ihren inwohnenden Geſetze gemäß entwidelss 
den chriklichen Ordnung . ded Menfchenlebend. — Ein 
fichrerer Eintheilungsgrund fcheint fich aus dem pfych o» 
logiſchen Subfirate der Charismen zu ergeben, wonach 
Die einen auf die Vernunft oder das höchſte Erfenuntniß« 
vermögen (sopla, yvacıs), andere auf ben Willen (bie 
slerıs und die daran fich fchließenden), andere auf bie 
Phantafle und das intuitive Vermögen und das Gefühl 
(Reopnreie, yAmooaız Auısiv), andere endlich (duduesase 
Avsvucıov, Spounvsle yAoccav) anf den Verſtand ſich 
beziehen. Es ift auch wicht zu leugnen, daß hierin eine 
gewiffe Wahrheit ift, aber einen zureichenden Eintheilungss 

grund möchten wir nicht darin finden, da man doch höch⸗ 
ſtens nur an ein Borherrfchen des Einen oder Andern den⸗ 
Ten kaun, abgefehen von den Bedenken, die ſich diefen Bes 
fimmungen im Einzelnen entgegenftellen dürften. — Auf 
eine fehr anfprechende Urt verbindet Neander (Gefchichte 
der Pflanzung und Leitung der chriftlichen Kirche durch 
die Apoftel I, 167 ff.) eine Art pſychologiſcher Eintheilung 
mit einer teleologifchen, von der Beftimmung der Cha⸗ 
riömen hergenommen, und zwar ſo, baß jene dieſer fub- 
orbinirt if. So unterfcheidet er denn Eharismen, welche 
fich auf die Erbauung der Gemeinde durch dad Wort, und 
foiche, welche fich auf. die Förderung des Reichs Gottes 
durdy andere Arten der Außerlichen Thätigkeit beziehen. 
Die erfteren unterfcheidet er dann weiter nach der Art und 
Weiſe, wie ſich die entwicelte geiflige Selbftthätigfeit im 


- Beziehung auf die verfchiebenen Seelenträfte und deren 


Berrichtungen zu der Einwirkung des göttlichen Geiftes 
verhielt, je nachdem das Unmittelbare der Begeifterung 
in dem höhern Selbfibewußtfeyn vorwaltete und bas 
niedere zeitliche, den Zufammenhang der Seele mit der 
Außenwelt vermittelnde Selbitbewußtfeyn mehr zurücktrat, 
ober dad von bem göttlichen Geifte Mitgetheilte unter dem 


Bibl.=theol. Erörterungen Kb, d. Korintherbriefe. 483 


harmonifchen Zufammenmwirken aller Seelenfräfte aufger 
nommen und bie mitwirtende befonnene Verſtandesthätig⸗ 
keit entwickelt und verarbeitet wurde (dıdaoxuilet — 60- 
pla — yrücıg, Vorherrſchen des begrifflichen Bermögeng ; 


soopmslea — axoxeivıg, Borherrfchen der Gefühlds 


richtung und des intuitiven Vermögens; YyAmoaaız Ankeiv, 
Bormalten des gefteigerten Gottesbewußtſeyns allein mit 
gänzlichem Zurüdereten des Weltbewußtſeyns). — An 
diefe Unterfcheidung fnüpft er noch eine andere durch das 
Vorherrſchen des fchöpferifchen oder receptiven und Fritis 


ſchen Vermögens beftimmte, und bezeichnet ale Charismen 


der lebteren Art die Epunvele yAmocav und die didapicıg 


‚ avevuacov. — Die zweite Hauptclaffe aber theilt er 


Wiederum in folche, ‚bei welchen die den Geſetzen ber 
menfchlihen Natur gemäß entwidelte rein menſchliche 
Thätigkeit als eine von dem göttlichen Lebensprincipe be⸗ 
feelte wirkt (wußlovnsıs und avrlimbıs oder Ösaxovle, 
analog der ÖudaoxaAale), und in folche, bei welchen jene 
Entwidlung mehr zurüds und das unmittelbar Göttliche 
mehr hervortritt (xlorig mit den dazu gehörigen befondern 
Eharismen, analog dem zgopyrevev und yAoodaıg Au- 
Asiv).— Diefer Verſuch, dem Ols hauſen fich anfchließt, 
ift unftreitig der befte unter ben vorhandenen, aber er lets 
det am einer. Unbeflimmtheir, ber durch das von einem 
Andern gefertigte Inhaltsverzeichniß keineswegs recht abs 
gehslfen wird, da diefes mit offenbarer Willkür die nad 
dem Terte an die erfte ſich anſchließen de zweite Uner⸗ 
abtheilung der erften Hauptclaffe jener überorbnet, wos 
durch num freilich ein Mangel der neander’fchen Erpofis 
tion gehoben wird, als welche ungewiß läßt, welches die 
Sharismen feyen, in denen das fchöpferifche Bermögen 
vorherrfcht. Mit ähnliher Willkür ift im Inhaltsver⸗ 
zeichniß eine zweite Unbeflimmtheit des Textes befeitigt, 
wonach nicht recht Har werben will, ob’ die zgopmzal« 
auf die Seite ber dudaaxnAle ober des YAmaoaıg Aukeiv. zu 


484 Ä Kling - 


ftellen fey ober. auch eine mittlere Stelle eiunchiue, wie 
denn von einer Abftufung die Rebe ift, was der Verfertis 
ger des Inhaltöverzeichniffes nicht, gehörig beachtet hat. 

Wir möchten nun zwar wegen ſolcher Feiner Mängel 
dem Werthe diefes Einthellungsverfuched nicht zu nahe 
treten, aber es dürfte body auch hierburch das Urtheil, 
deffen wir uns nicht. erwehren fönnen, beftätigt werden, 
dag ein folcher Verſuch, je mehr er int Einzelne eingeht, 
deſto fchwieriger und bedenklicher werden muß. Soll aber 
der Berfuch gemacht werden, wozu allerdings unfer Trieb 
nach logifcher Gliederung eines vorliegenden Mannichfalti⸗ 
gen und immer wieber hinführt, fo fcheint das Einfachfte 
und der Sache Bemäßelte das zu feyn, daß wir Die Ehas 
rismen in folche eintheilen, welche die erlöfende und bib 
dende Kraft des chriftlichen Geiftes im Gebiete der Vor⸗ 
ftelung und des Gedankens oder der Erfenntniß, und ie 
folche, welche biefe Kraft im Bereiche des realen Lebens bes 
‚währen follten. Sn die erftere Claſſe gehören diejenigen, 
welche Dlshaufen — nicht ganz paſſend — Charismen 
des Worte, in die zweite diejenigen, welche er Charismen 
der That nennt. Daß Beides wieder ineinandergreift 
oder in Wechfelwirkung fleht und der Unterfchieb nur eim 
relativer ift, das bringt der organifche und einheitliche 
Charakter des Menfchenlebend mit fih. Durch die Cha⸗ 
riömen der zweiten Claſſe, die man kurzweg die praftis 
fchen nennen könnte, und deren Bafis die chriftlichsreligiöfe 
Willendkräftigleit, die zlorıs war, follte phyfifche und 
ethiſche Lebenshemmung entfernt, phyſiſche und ethifche 
Lebensförberung erzielt werden. Durch die ber erſten 
Glaffe aber follte das chriftliche Denken und Sinnen von 
Umnebelung der Borurtheile und Irrthümer zu höherer 
Freiheit und Klarheit erhoben werden. Darin beruhte der 
Werth der Ehariömen für das Gemeindeleben. Ihr Beſitz 
gab aber an fihh feinen perfönlichen fittlihen 
Werth. ‚Denn jebed Charisma febte nur eine partielle 








Bibl.⸗theol. Erdrterungen üb. d. Korintherbriefe. 485 | 


Diepofition im Menfchen vorans, die vom chriftfichen 
Princip affimilirt und für Die Förberung des Zwecks bes 
Chſiſtenthums ansgebildet wurde Dieß ſchloß nicht 
nothwenbig ein totales Ergriffenfeyn von Gott und eine 
kautere Hergenshingabe an ihn in ſich, oder es Fonnte 
Einer dabei immer noch lieblos ſeyn. Ohne Liebe aber, 
ohne reines, alles Selbftgefuch ausfchließendes Wohlmols 
len, diefes Leben Gottes im Herzen bed an Chriſtum 
Gläubigen, diefe Wirkung ber Liebe Gottes in Ehrifto, 
ohne Liebe zu den Brüdern, welche die zu Gott wefentlich 
einfchließt, da fie nur die Richtung der dankbaren Liebe 
. gegen Gott auf die Miterlöften und Mitgeliebten und bie - 
Darftellung der Liebe Gottes felbft im menfcjlichen Leben ift, . 
ohne diefe Liebe geben nach 8.13 auch die ausgezeichnetſten 
Gaben feinen Werth und helfen auch dem Befiter nichte, 
Liebe aber und Anwendung der Gaben — feyen fie auch 
noch. fo gering — in Liebe, das ift nach 12, 31 befler, als 
Streben nach den hoͤchſten Gaben. In diefer Selbfients 
äußerung und. Hingabe der Perfönlidykeit an eine andere, 
bie nun nicht mehr eine fremde tft, in diefer Gefinnung, 
welche die Einwohnung bes göttlichen Weſens felbft im . 
Menfchenherzen ift, beruht der abfolnte und ewige Werth 
des Menfchen. Und in dem Maße, als fie Fräftig waltet, 
greifen auch die mannichfaltigen chriftlichen Tüchtigkeiten 
auf eine wahrhaft gedeihliche Weife in einander, fo daß 
fie auch dasjenige iſt, wodurch das Gemeindeleben frei 
und lieblich fich entfaltet und zu immer höherer Boll 
fommenbeit ſich erhebt. | 
Unter den mandherlei Charismen aber war in Korinth 
dasjenige vornehmlich hoch gefchäßt, welches der Apoſtel 
buch yAmadaıs Anksiv bezeichnet, und der Haupts 
zwed feiner ganzen Auseinanderſetzung fcheint von vorne 
herein darauf zu gehen, bdiefer mit hellenifcher Eitelkeit 
zufammenhängenden Ueberfhäßung entgegenzuarbeiten. 
Zwar möchten wir nicht — wenigftend nicht mit Zuvers 


336. 0:07 Kling 


fit — behaupten, daß 12, 1 bei zvsuparuir — ſey «6 
nun masc. oder neutrum — an das yAusdaıg Anisiv felbft 
zu denken fey, und finden diefen Gebrauch des Works, 
der allerdings, eben in Folge jener Ueberſchätzung, is 
Korinth ftattfinden und auch von Paulus anbequemungd 
weife aboptirt werden Fonnte, in Kap. 14, 1. 37 jebew 
falls nicht ficher begründet, aber Die Art, wie er in Kap. 14 
von der ganzen Sache handelt, und Kap. 13, 1 das YAnss- 
Hass Auhsiv voranftellt, Taßt au auf Kap. 12 zurũckſchlie 
Ben. Schon in den einleitenden Sägen (B.2f.) fcheint ber 
Apoſtel jene Ueberfchäßung im Auge zu haben. Der Zu⸗ 
fammenhang berfelben ift wohl fo zu faffen: Da ihr euch, 
wie ihr wohl wißt, ald Heiden blindlings zur Anbetung 
fummer Sögen binführen ließt, fo gebe ih, damit ihr 
nicht abermals zu einer blinden Verehrung (einer auffals 
lenden, glänzenden, aber für euch gleichfam ſprachloſen, 
weil unverftändlichen Erfcheinung) euch hinreißen Taf 
fet, euch als Kennzeichen bes Redens im Geifte Das au, 
„daß Einer Jeſum als Herrn bekennt” a). Der Nachdruck 
Ttegt auf ber zweiten Hälfte ded. 8.3. Er will hier fofert 
‚alles zur Berherrlihung Jeſu dienende ober darauf ab⸗ 
zweckende Neben ale ein ſolches bezeichnen, defien Grund 
das zvsüue &yıov fei, und dadurch der einfeitigen Ueber⸗ 
fhägung einer befondern Form bed Auteiv Zv zvsuuars, 
bed yAmosaıs Audziv, vorbeugen: Der Sinn dieſes Verſes 
dt: wie kein im Geifte Gottes Nedender Jeſum vers 
wäünfcht, fo preift ihn Keiner, ohne vom h. Geifte erleuch⸗ 
* tet und getrieben zu feyn. — Durch bie Hervorhebung 
der Einheit in der Mannichfaltigkeit wird ſodaun die wes 
fentliche Gleichſetzung aller EChariemen angedeutet; indem 
er aber hierauf das ovupegov als Zwed oder Maßſtab 


a) Bei der Art, wie Rüdert den Zufammenhang zwiſchen B. 2 
und V. 8 beftimmt, ift 1) das dıö nicht gehörig beachtet, 2) in 
V. 2 etwas hineingelegt, was nicht beſtimmt darin Liegt (die 
Borftellung einer fremden bunleln Gewalt, die fie getrieben), 


| 


| 
| 


_ Bibl, «theol. Grörterungen db. d. Korintherbriefe. 467 
der Mittheilung bezeichnet, wird wohl ſchon darauf bins 


gewiefen, daß das yAmaaaız Anisiv eher andern nachitehe 
als vorgehe; und auf eine bedeutungsvolle Art weilt er 
Ddiefem Charisma in V. 10 und V. 28. 30 die unterfte 
Stelle an (die Epunvsle ift ja nur eineergänzende Gabe). — 


Aus drucklich aber zeigt er in K. 14 den untergeorbneten 


Werth: derfelben in Vergleihung zunächſt mit der Pros 
phetie. — Immer unabmweislicher aber drängt fich hier die 
Frage auf, was er unter dem yAwodaıg Auksiv 
verftehe? 

"Auf eine merkwürdige Weife treffen hier bie neneften 
exegetifchen Unterfuchungen mit der altherkömmlichen Ass 


ſicht zufammen, indem fowohl Rüdert cin ber zweiten 


Beilage zu feinem Eommentare), als Bäumlein Cin den 
Studien der evangelifchen Geiftlichleit Würtembergs B. 6. 


9 2 an ein Reden in fremden Spracden gebacht willen 


wollen ©). Der erftere nur mit der, wie es ung fcheint, 
grundlofen Nebenanficht, daß Paulus Feine genaue Vor⸗ 


Rellung von den Forinthifchen Zuftänden gehabt habe. — — 


Eu 


Es ift aber wohl zu umterfcheiden zwiſchen ber innern Seite | 


bed Charisma oder dem pſychiſchen Zuftande des yAdsanız 
kelöv und zwifchen der Erfcheinungsform deſſelben. In 
ber Beitimmung des erfleren hat die neuere Forfchung 
faft durchaus der alten Anficht ſich entfchlagen, während 
in Unfehung des zweiten bis auf den heutigen Tag Streit 
if. Und gewiß haben in der erfteren Hinficht die Alten 





a) Auch der Rec. bes billroth'ſchen Commentars in den berl. Jahrb. 
(1833. Aug.), Matthies, faßt das yAmccwıg Andeiv als ein 
aus verfchtedenen fremdartigen, vielleicht etwas modiſt⸗ 
citten, Spradhbeftandtheilen zufammengefehtes begeis 
flertes Reden, welches ſich bald vorzüglich einer einzelnen, 
batd mehreren fremben Sprachen anfdhloß, je nachdem 
dem Redenden mehr oder weniger fremde Sprachelemente bes 
kannt und während feiner durch ben göttlichen Geiſt gehobenen 
Gemuͤthsſtimmung In lebendiger Erinnerung waren. 


488 Kling 

das Rechte verfehlt, während es in ber andern Begiehung 
fehr in Frage fteht, ob fie nicht mehr Recht haben, als alle 

. diejenigen , welche, die herfömmliche Anficht bekämpfend, 
Diefe und jene andern Bermuthungen aufgeftellt haben. — 
Mas nun das Erftere betrifft, fo dachten fich die älteren 
Theologen den Zuftand ded yAaacaıs AaAov al 

"den Zuftand voller Befonnenheit. Aber bei 
Diefer Vorausſetzung wirb es unbegreiflih, warum der 
kraft göttlicher Geifteswirlung in fremder Sprache Mes 
dende nicht auch immer im Stande gewefen feyn follte, Den 
Inhalt jener Rebe hernach in die Allen verftändliche, ihm 
felbft geläufige Sprache zu Übertragen (dpunvevawv). Auch 
fagt der Apoftel ausdrädlich (14,2), daß ed ein Neben 
mit dem zvsüua oder durch bad zveüue gewefen, ein 
Neben, deffen Grund ber Geift oder das Bewußtfeyn im 
feiner unmittelbaren Innerlichleit war, wobei alfo eine 
völlige Einkehr ind Innere und ein Beharren in ben ums 
mittelbaren Geifteöregungen ftattfand, fo baß die Innern 
Bewegungen nicht auf die Außenwelt und auf Anderer Fä⸗ 
higkeit und Bedürfniß bezogen wurben. Daß dieß feine 
Meinung fey, erhellt befonderd aus B. 14, wo et ro 
zvevud uov ald Subject des meossdysodeaı und 6 vous 
pov einander entgegenfeßt. Denn daß hier zo zveüne 
Bov— To nveüue To dv duolfey, der Beift Gottes, fofern er 
den Menfchen gefaßt hat und aus ihm redet, wie Bleek 
u. A. behaupten, das können wir nicht zugeben, wenn wir 

. gleich infoweit mit jenen einverftanden find, daß hier der 
göttliche Geift das Princip der Erregtheit bed Innerſten 
des Menfchen ift. Diefem aber in feiner unmittelbaren 
Erregtheit (dem zveöua) fteht hier entgegen der voos, 
der Verſtand, das Innere in feiner Vermittlung mit ber 
Außenwelt, im Zuftande der freien Maren Befonnenheit, 

_ wo man bie innern Regungen in Beziehung bringt mit 
dem Bedürfniß und der Faſſungskraft Anderer und ſo zu 
Gedanken erhebt, die auch für Andere klar und verftändlich 





Bihl, =theol. Eroͤrterungen uͤb. d. Korintherbriefe. 480 


ſind c). — Wenn aber gleich das in ſich gekehrte Sub⸗ 
ject mit dem objectiven Dafeyn durch verftändige Beſin⸗ 
‚nung nicht vermittelt war, fo erhellt doch and 14, 28, daß 
der yAwooaıg Aniov nicht in einem bemußtlofen mantir 
ſchen Zuftande, fondern feiner felbft mädjtig war, fo baß 
.er die Innern Regungen zurüdzuhalten vermochte. Es 
war alfo -ein mittlerer Zuftand zwifchen dem der verfläns 
digen Befonnenheit und dem aller Befinnung und Selbfts 
macht ermangelnben Zuftande, dergleichen die griechifchen 
ucvreg, die Schamanen und ähnliche Erfcheinungen bes 
Heidenthums darbieten. 

Wenn fonad) den Neueren das Verdienſt zuzuerkennen 
ift, die innere Seite dieſes Charisma beifer ind Kicht geſett 
zu haben, fo fragt es fih nun auch, ob ihrer Anfiht von 
der Erfheinungsform deſſelben ebenfo entichieden 
der Borzug vor der älteren gebühre oder nicht. Nach.ber 
älteren Anficht ift yAucca hier in der Bedeutung Spras 
che zu nehmen, und bad yAmsoaız Arksiv ein zufammens 
hängendes Reden in fremden, nicht erlernten Sprachen. 
Das letztere Merkmal haben Neuere aufgegeben, wodurch 
denn dad Ganze begreiflicher für und wird. Und es 
würde auch dabei der Begriff des zagıspe feſtgehalten 
und das Bedürfniß einer befondern göttlichen Befähigung 
des fo Nedenden zur Zpunvel« (B. 13) anerfannt werben 
fönnen. Das yagıspa würde dann darin beflauden haben, 
baß aus einer oder mehreren fremden, dem Redenden 
mehr oder weniger befannten Sprachen ihm während jener 
‚tiefen Erregung bed Gemüths das zu einem längeren oder 
fürgeren Gebet oder Gefang oder fonftigen Vortrag Ers 
forderliche auf eine Weife wie fonft nie gu Gebote ftand, 





a) Zm Weſentlichen richtig bat ſchon Bengel diefen Unterfchieb 
aufgefaßt. Nach ihm ift „spiritus = facultas animae, quum 
ea spiritus divini operationem suaviter patitur, mens = 
facultas animae foras progredientis et cum proximo agentis, 
attendentia ad obiecta extra se posita, res ot personas alias.’ 

/ 


390 Aling | 
fo daß er in Sprachen, in weichen er fonft wohl gar wicht 
oder nur in bürftiger, gebrochener Weife fih ausfprechen 
tonnte, nun fließend Cungehemmt) zu reden im Stande 
war. War aber diefer ganze Bortrag nad Inhalt und 
Form durch die tiefe Erregtheit bedingt, fo beburfte er, 
um das Gefprochene mit verfländiger Befinnung wieder 
in ſich hervorzurufen und in ber eigenen: Landesfpracdie 
allverſtaäͤndlich zu wiederholen, einer neuen göttlihen Be 
fühigung. — Wie es ſich aber auch mit diefem Merkmale vers 
balten möge — wir fünnen dieß fürs Erße dahingeſtellt 
feyn laffen —, fo fragt ed fih nun, ob dieſe ganze Auſicht 
2) mit den verfchiedenen Modiftcationen der Bezeichnunges 
weite, 2) mit den Erklärungen und Andeutungen beö 
Apoſtels Über die Sache felbft wohl vereinbar fey oder 
nicht. — Gehen wir, was dad Erfiere betrifft, von dem 
gewöhnlichien Ausdrude, yAmooaıg Aukziv, aus, fo kann 
dieſer keineswegs für umpaffend (bei jener Vorausſetzung) 
gehalten werben, ba ber pluralis ſelbſt eine Mehrheit oder 
Mannichfaltigkeit anzeigt, fo daß man nicht einmal anzus 
nehmen braucht, die urfprüngliche Bezeichnung fey ge 
weſen Erkgug oder xamwais yAdoscıs (Apg. 2, 4; Mark. 
36,17), wodurch das Fremde jener Sprachen, ihre Ber; 
fhiedenheit von ber gewohnten, oder ihre (relative) Nen⸗ 
beit, fofern die Redenden fich derfelben vorher nicht bes 
dient hatten, angezeigt würde. Die yvr YAmsoav aber 
find nun die mancherlei Arten foldyer Sprachen, indem 
der Eine in dieſer, der Andere in jener Sprache redete, 
wodurch Abtheilungen des einen zapısum fich bildeten. 
Selbſt der Ausdrud yAmasy Anısiv läßt fich bei jener Vor⸗ 
ausfeßung wohl begreifen. Es ift natürlich hier nicht Bes 
zeichnung Des Redens in einer Sprache überhaupt; denn 
das findet ja Überhaupt im menfchlichen Reden Statt, fons. 
bern fo viel als: reden in einer ber mannichfaltigen Spras 
hen, in denen die yAmsomıg Ankoüvreg redeten. Da der 
Apoftel au eine Gemeinde fehreibt,, bie mit ber Sache vers 


Bibl.⸗theol. Erdrterungen Ab, d. Körintherbriefe. 491 


traut war und ohne Zweifel für diefe befammte und viels 
befprochene Erfcheinung fich einer kurzen Bezeichnung bes 
- diente, welche eben megen dieſes Sachverhalts Jedermann 
Leicht verſtehen konnte; fo kann ed nicht im mindeften aufs 
fallen, daß er fid fo ausdrädt. Und wenn er auch vom 
Einzelnen fagt, er rede yAussaıs, fo liegt darin nichts 
Unangemeffenes, da ja Einer und der Andere, namentlich 
er felbft, der in fo vorzüglihden Maße Begabte (V. 18), 
wohl in mehr als einer Sprache redete, fey ed nun zu 
verfchiedenen Zeiten, oder fo, daß er irgendwie Beſtand⸗ 
- theile verfchiedener Sprachen in einem und demfelben Bors 
trage verband. Aber auch wenn dieß nicht ftattgefunden 
hätte, würde dieſe Ausdrucksweiſe Doch nicht vermwerflich 
oder mit der in Frage ftehenden Anficht im Widerfpruche 
feyn, da das Charisma im Allgemeinen fo bezeichnet 
wurde, und diefe Bezeichnung auch da beibehalten werden 
Sonnie, wo von einem einzelnen Sinhaber deffelben die 
Mede if. Endlich paßt auch die Nedendart: yAcsav 
Eysıv (V. 26) gar. wohl zu jener Auffoffungsweife. Es 
heißt: eine Sprache haben, d. h. tüchtig zum Vortrag im 
einer jener Sprachen ſeyn. — Jene Anfidht wird aber auch 
noch entfchieden begünftigt durch Stellen wie 13, 15 14, 
21 f., wo ohne Zweifel von Sprachen die Rebe ift, 








und wenn man auch bie Ueberſetzung „Zungen? Iugeben . 


wollte, Doch diefe ald Organe fremder oder verfchiedener 
Sprachen betrachtet werden müßten, fo daß wieder bers 
felbe Sinn herauskommen würde. — allen wir aber nun 
die weiteren Erklärungen des Apofteld ind Auge, fo fcheis 
nen ſich muncherlei Bedenken gegen jene Auffafjung zu ers 
heben. Man könnte fagen, mit derfelben fey nicht wohl 
vereinbar das „ovdsls axoveı” 14,2, da ja doch in einer 
Stadt wie Korinth leicht Solche in der Ehriftenverfamms 
lung ſich einfinden konnten, die jener fremden Sprache 
fundig waren. — Allein dieß waren Ausnahmen, auf 
bie der Apoftel, dem zunächft Die Gemeindeverſammlung 


492 ER. 7:5 


in ihrem gewöhnlichen Beftande am Herzen liegt, nicht 
Rücdfiht nehmen kann und noch weniger muß. Daß aber 
unter den Einheimifchen folche Kunde vorhanden geweſen, 
alfo auch wohl ordentliche Gemeindeglieder diefelbe hat⸗ 
ten, oder doch ficher auf Zuhörer diefer Art zu rechnen 
war, das ift bei der Eigenthümlichkeit des helleniſchen 
Sharafters fehr unmwahrfcheinlich, da die Hellenen, deren 
Sprache die Welt» und Berlehrefprade war, um fremde 
Spraden fich nicht befümmerten. — „Wie kann aber”, 
könnte man weiter fragen, „das YAmosaıg Anksiv ein Re 
den in verfchiebenen Sprachen bezeichnen, da 14, 10f. 
Die Sprachenverfchiedenheit zum Behufe der Erläuterung 
des über das yAmaouuıs Ankeiv Gefagten eingeführt wirb”? 
Diefer Einwurf ift fcheinbar, aber keineswegs entfcheibend. 
Der Apoftel fonnte gar wohl fagen: Wie in dem gemeinen 
menfchlichen Verkehre die Verfchiedenheit der Sprachen cin 
Beftreben mit fich führe, das darin liegende Hinderniß des 
Verkehrs zu befeitigen, fo müſſen auch die Chriften darauf 
bedacht feyn, jenes charismatifche Reden in fremden Spras 
chen fein Hinderniß der Gemeinfchaft und des Durch. vers 
ftändliche Rebe bedingten Gewinn für die. Gemeinde wers 
den zu laffen. Und das ift, genau betradıtet, der Gius 
diefer Berfe. — Man möchte aber endlich noch deu Eins 
wurf erheben: „Wie konnten Idioten a) und Nichtchriften, 
wenn fle in fremden Sprachen reden hörten, auf den Ge 
danken des Wahnfinns kommen (V. 23)”% — Dieß lag 
‚aber doch fehr nahe, wenn fie in einer Verſammlung 
nichts als Vorträge in fremden Sprachen hörten, zus 
mal wenn dieß mit ben Anzeichen ber mächtigften Gemüths⸗ 


a) Darunter verfteht man wohl am beften mit Olshauſen Xu 
fänger im Chriſtenthume, Katechumenen, benen foldye Erſchei⸗ 
nungen neu und fremd waren, wenn. man nicht etwa an Ges 
meinbeglieder denken will, die durch Fein ſolches Ghariöma zum 
Reben befähigt find und daher bloß zuhören, fich bloß em⸗ 
pfänglich ‚verhalten koͤnnen. 


\ 


Bibl.»theol. Erdrterungen üb, d. Korintherbriefe. 493 


bewegung, mit heftigem Gebärbenfpiel gefchah, und wenn 
mehrere zugleich und Durcheinander redeten. NHielten doch 
auch leichtfertige Leute die in fremden Sprachen redenden 
Jünger am Pfingfifefte für Betrunkene. 

Mit den Ausdrücden und Ausfagen des Apofteld iR 
alfo jene Anficht wohl vereinbar, und halten wir das feſt, 
was aus 14,14 f. fich ergibt, daß hier ein mächtiges Er⸗ 
regtfeyn im tieflten Lebensgrunde flattfand, wo die Res 
flerion fid, des Inhalts der Erregungen nicht bemächtigen - 
fonnte, wo der Zufammenhang zwifchen den innerften Em⸗ 
pfindungen und dent gewöhnlichen Selbfls und Weltbes 
wußtſeyn unterbrochen war, fo iſt auch natürlich, daß dem fo 
Redenden hernach der Inhalt der Rede nicht mehr gegens 
wärtig war, wie ja Aehnliches in Zuftänden unter geord⸗ 
neter Art vorkömmt; und fo war ein weiteres zapıoua 
nöthig, um. denfelben in gemeinverfländlicher Nede wieder 
vorzutragen. 

Dem Ekſtatiſchen dieſes Zuſtandes ent⸗ 
ſpricht nun auch dieſe Form ſeiner Erſcheinung: das 
Reden in fremden Sprachen. Denn es iſt hierin ein 
momentanes Hinausgerücktſeyn aus dem eigenen gewohn⸗ 


. ten Gebiete des Redens in das fremde Sprachgebiet, eine 


momentane Eintauchung in die fremde Nationalität. Durch 
eine unmittelbare Geiſteswirkung, welche im allgemeinen 
innern Lebensgrunde eine anderweitige individuelle Be⸗ 
ſtimmtheit des menſchlichen Bewußtſeyns und ſeines Sprach⸗ 
ausdrucks hervorbrachte, geſchah hier, was durch ſelbſt⸗ 
thätige Verſenkung in eine fremde Volksthümlichkeit und 
Sprache immerfort in der Chriſtenheit gefchieht, indem 
man im Geifte und in der Weiſe eines andern Bolld ems 
pfindet und denkt, redet und fchreibt. In diefem Charisma 
aber prägt fich die Beflimmung des Chriſtenthums aus, 


“die in der Sprachenverfchiedenheit Dargeftellte und dadurch 


befeftigte Trennung innerhalb des ae aufs 
Theol. Stud. Jahrg. 1889. 











\ 
— 


zuheben oder die dadurch geſchehene Verneinung der Ge⸗ 
meinſchaft zu negiren. Dieſe Hemmung wird hier als eine 
durch den Geiſt bed Chriſtenthums im innerſten Lebens; 
grunde überwundene bezeichnet, ſey es nun, daß ein umb 
derſelbe Chriſt in mehreren fremden Sprachen zu reden 
‚fähig war, oder ber eine in diefer, der audere in eister 
andern =). Beine volle Bedeutung aber konnte das Cha⸗ 
risma bed yAuoaaıg Awdeiv freilich nur mit-einer Ergäns 
zung, der Zopmvele, haben, ba,hierdurch eben die Som 
berung der Sprachen vollends als eine aufgehobene ers 
ſchien. — Was nun aber dadurch gewirkt worden, bas 
kaßt fich bei dem Mangel an Nachrichten nicht wohl mit 
Beftimmtheit fagen. Doc, wird man unbedenllich anche 
men ‚dürfen, Daß. dadurch die uninerfaliftifche Geſinnung 
in ben lebendigen Chriften befördert worden fey, wem 
auch meift mehr auf unbewußtere Weiſe, als mittelft klarer 
KReflerion über das Wefen dieſes Charisma. So war « 
denn gewiß nicht zwecklos und nicht ungeeignet zur 
Selbfterbauung der es Befigenden und zum einfanen 
Gebete, Ein inniges Gefühl des Aufgehobenſeyns einer 
geoße Theile der Menfchheit trennenden Schranke wurde 
dadurch hervorgerufen und genährt. Mißbrauch. aber, 
wie in Korinth, fonnte wie bei allen Charismen, fo aud 
bei diefem fattfinden, was feinem Werthe und feiner Be 
dentung nicht im geringften Eintrag thut. Bei dem El⸗ 
ftatifchen und daher auch Vorübergehenden des ganzen 
. Gemüthözuftandg, in welchem das yAnaoaız Aukzin beruhte, 
eignete es fich natürlich nicht dazu, den Apofteln die Nichts 
"tenntniß fremder Sprachen in ihrer Rehrverfündigung zu 
erfegen. Sie reichten ja auch bier zunächft faft überall 


mit dem Griechifchen aus, und nirgends finden wir eine 
—— EEE 
a) Es verfteht ſich wohl von felbft, dag man hierbei nur an bie 
Spraden der damals befannteren und Im Gefichtsfreife der 
jungen Ghriftenheit liegenden Voͤlker 'zu denken hat. Für die 
fombolifche Darftellung reichten auch wenige Sprachen bin, 


Bibl.⸗theol. Erörterungen Ab. d. Korintherbriefe. 405 


hiſtoriſche Spur, wodurch eine. folche die lie, bes. 
Rätigt würde. 
Dasß aber das Reben in fremden Sprachen durch die 
leibliche Anweſenheit von Gliedern der Völker, in 
deren Sprache geredet wurde, bedingt geweſen, wie Ols⸗ 
kaufen annimmt, Das paßt anf keinen Fall zu der paulini⸗ 
fehen Erpofitien, in welcher woraudgefeht wird, daß fein 
Derftehender auweſend ift (14, 2), weßhalb denn auch 
Dlshanfen inder korinthiſchen Gemeinde ein ſolches Neben 
gar nicht annimmt, fondern diefe hochſte Aeußerung beb 
Charisma auf den Borgang Apg. 2 befchräntt. Mit diefer 
ganzen Annahme aber würde man bdiefe Wirkung des 
göttlichen Geiftes noch unter die Doch fo viel tiefer ſtehen⸗ 
den, einem niedern, natürlichen Gebiete angehörigen Er⸗ 
fcheinungen bed Somnambulismus fteflen, wo ja zu einem 
Napporte die leibliche Gegenwart nicht durchaus erfors 
beit wird. ' 
Werfen. wir num nec, einen Blid auf die hierher ges 
hörigen Stellen der Apoftelgefhicdte, fo ift leicht 
einzufehen, daß die bisher vorgelegte Auffaſſung dieſes 
Charisma beſonders zu Apg. 2 fehr. gut paßt a). Es liegt 
etwas höchſt Angemeſſenes darin, daß der Geiſt bei der 
erften Ausftrömung feiner Kräfte, bei der Gründung ber 
Gemeinde, welche die Menſchheit umfaflen follte, eine 
ſymboliſche Darftelung ihrer Beſitzuahme der verfshiedenen 
Sprachgebiete gab. Und. wenn. auch Petrus, der ohne 
Zweifel ſelbſt noch nidyt zu beftimmten Bewußtſeyn ber 
Bedeutung des Vorgangs gefonmmen war, biefed Neben 
in fremden Sprachen nicht ausdrücklich erwähnt, fo blickt 
doch wohl die Wirkung dieſer Thatſache auf fein Gemüth 





a) An ber Identität der Erfcheinungen,. bie nod) immer. von Eine 
zelnen bezweifelt oder geleugnet wird, Zönnen wir durchaus 
nicht zweifeln, ſchon weil der Pauliner Lukas den Vorgang 

Apg. 10, der offenbar dem K. 2 gleichgeftellt wird, ebenfo bes 
zeichnet, wie Paulus bie korinthiſche Erſcheinung. 

82 = 


496 Kling 


‚ in bem aus bem prophetifchen Worte angeführten Zul 
zaoav oaox« (B. 17) und in feinem roig eig pa- 
xocv (DB. 3% einigermaßen durch. Damit ftreitet Das 
nicht, daß über den Univerfaliömus des Chriftenthume 
noch weitere Belehrung nöthig war, wobei es füch ja aber 
anch mehr von der Art und Weife der Zulaffung ber Hei⸗ 
den, ald von der Aufnahme felbft handelte. — Nur bei 
willfürlicher Abweichung vom Sprachgebraudhe aber und 
Berfennung des Zufammenhangs Tann man behaupten, 
Daß Apg. 2, 8 duaksxrog. nicht Die Sprache oder die nas 
tionelle Spracdheigenthümlichkeit, fondern die Sprachweiſe 
als Ausdrud des Gemüths bezeichne. Die Relation B.8 
bis 12 aber ift doch wohl fo zu verftehen, daß Anwefende 
aus verfchiedenen Ländern, jeder feine Matterfprache aus 
der Menge ber Lob fingenden Jünger heraus vernahm, 
indem der eine in Diefer, der andere in jener Sprade 
redete. In der Relation find bie einzelnen Aeußerungen 
unter Felthaltung der directen Rede fo zufammengefaßt, 
daß der Schein entfteht, als hätte Jeder alle Redenden in 
ben verfchiedenen Sprachen reden gehört und fich hierüber 
geäußert. Der Spott Anderer — wer diefe auch ſeyn 
mochten, Bürger von Terufalem oder Andere — erflärt 
fich hinreichend aus ihrer Frivolität, 

Die Nichtigkeit derjenigen Erklärung, welche das 
yAmooaız Andziv anf die angegebene Weiſe verftanden wife 
fen will, wird noch beftätigt durch die Unhaltbarkeit der 
übrigen Erflärungsverfuche. Als Tängft widerlegt können 
wir die befannte eihhorn’fche Meinung betrachten, 
wonad) ed ein Zungenreben, d. h. Lallen in nnarticulirten 
Tönen, feyn fol; es fpricht dagegen in demjenigen Ab» 
fohnitte felbft, auf den Eichhorn fih fügt (8.7 — 9, 
der Ausdruck Eevonuov Aöyov, und dazu kommt Die 
Aeußerung V. 18 und die Hinweifung auf YEvn yAwo- 
ocv und auf eine Epunvele, fo daß diefe Anficht als eine 
durchaus nichtige leicht zu erfennen if. Wenn aber. 


| Bibl.⸗theol. Erörterungen Ab, d. Korintherbriefe. 497 


7 Bleela), der nah Storr jene Meinung fiegreich bes 
| Tampft hat, unter den YAmooaı veraltete Ausdrüde, bes 
fonderd Spiotismen und Provincialiömen, in der gewöhns 
lichen Sprache nicht mehr vorkommende und daher unvers 
ftändliche Worte verfteht, die eine gewiffe, der gemeinen, 
Allen verftändlichen entgegenftehende Geheimſprache bilden, 
fo will dazu die Formel’ yAucay Anksiv und yloccar . 
&ysıv nicht wohl paflen, noch weniger aber der Beiſatz 
Zrigpaig und xawais und die pacca av avdouinwv 
und rov Aayy&iov (13, D. Hätte aber auch Bleek über 
alles diefes fich befriedigender erklärt, ald er vermochte, 
fo fann doch das yAmadaıs Anisiv nicht wohl Bezeichnung 
einer hochpoetifchen Darftellungsweife feyn, was ed nadı 
Bleek, der hier an Herder fi anfchließt, zulegt ſeyn 
fol, Denn wenn auch in der poetifchen Darftellung yAoe- 
0x vorkommen, fo machen fie Doch keineswegs das Weſen 
derfelben aus, fo daß diefelbe danach charakterifirt wer, 
den könnte — Können wir nun nicht anders, als den 
Bemerkungen Dr. Baur’s gegen Bleek infoweit Beifall 
geben, fo vermögen wir Dagegen nicht ebenfo feiner pofitiven 
Anſicht beizutreten. Nad ihm, der hier auch Neander 
und Steudel auf feiher Seite hat, find Die yAmcoaı bie 
neuen Sprachorgane oder auch Sprachweifen des chriſt⸗ 
lichen Geiftes, die lebendige Aeußerungsweife der neuen 
Begeifterung. — Die würde am beften durch xawval 
yAaocaı audgedrüdt, oder auch durch Sregaı YAmooaı, 
wodurch ihre Verfchiedenheit von der gemeinen herkömm⸗ 
lichen Sprachweife angezeigt wäre; man koͤnnte aber audy 
wohl abkürzend bloß yAmocaıs Andsiv feßen, zur Noth 
auch yAuooy Amisiv. — Aber war diefe Sprache nicht 
auch in ber Prophetie? Und wie konnte fie fo unverfländs 


a) Bol. deſſen Abhandlung in den Stud. u. Krit, 1829. 1. nebft 
Erwiderung auf Dlshaufen’s Bemerkungen (1829. 8.) im fols 
genden Jahrgange, 9. 3. | 


Ming 


lich feyn, wie 1 Kor. 14, 2 ausſagt? Waren denn die ko⸗ 
rinthifchen Chriften durchaud unempfünglicher dafür, als 
jene Juden Apg. 2° Und mas foll man dann unter yAs- 
ex Tov drhpzav nad TV apyiinev verfichen? — Bant 
weiß fich nicht anders zu helfen, als daß er in der Apoſtel⸗ 
geichichte eine totale Entftellung bes Borgangs in der Re 
lation annimmt, im 1. Kor.⸗Briefe aber gu dem eichhorn' ſchen 
Lalten, alfo zu dee fchlechteften “Meinung, die fidy erden, 
ten läßt, zurückkehrt. Stendel, dermit gutem Rechte 
das eine wie bad andere Auskunftömittel verfgmäht, 
weiß Seinen andern Rath, als daß er Apg. 2,8 der Zöle 
Öralexrog eine ganz unerweisliche Bedeutung gibt, bei 
den Forinthifchen Ehriften aber ein Map von Unempfäng 
Kichleit.vorausfeßt, welches über alle Grenzen des I 
läffigen hinauszugehen ſcheint. Neander endlich ſieht 
fih in der Apoftelgefchichte ‘genöthigt, etwas von deu 
fremden Sprachen gleichfam durch eine Hinterthlire wieder 
bereinzulaffen, was er denn für zufällige Beiwerk des 
efftatifchen Redens erflärt; im Kor. «Briefe aber fest er 
das Unverflänbliche in eine eigenthämliche Gefühlßfpradge 
und in den Mangel verftändiger Entwidlung; was jedoch 
fein völliges Nichtverſtehen begründet, wie er denn auch 
nur von einer Unverſtändlichkeit für die Mehrzahl fpricht, 
womit aber dem ovöslg axovss 14, 2 nicht Genüge gethan 
if — Was enblih Billroth's Anſicht betrifft, wor 
nah unfer Charisma die Fähigkeit ſeyn fol, in einer 
Sprache zu reden, weiche gewiffermaßen die Elemente der 
verſchiedenen Sprachen in fich befaßte, fo hat diefelbe of⸗ 

. fenbar etwas Abenteuerliches and will ſich auch weder zu 
dem Eripaıg yAdasaıg Ackeiv, noch zu dem sing. yAocay, 
noch zu der Redensart yAssacav. Eyssv recht ſchicken. Uebri⸗ 
gend hat Billroth das richtig erkannt, daß Diefed Charisma 
ber ſinnlich⸗ wahrnehmbare Typus der Allgemeinheit des 
Chriſtenthums ift, welches alle Bölfer durchbringen und 
vereinigen ſollte. 


— — — — — — 


Ba theol. Erörterungen üb, d. Korinterbriefe. 809 


Die Wahrheit liegt, das ergibt ſich uns als Reſultat vie⸗ 
ſer ganzen Unterſuchung, in der Vereinigung des Richtigen 
der älterenund der neueren Anſicht mit Aufgebung einerſeits 
der mangelhaften Vorſtellungsweiſe, welche die Alten ˖über 


den pſychiſchen Zuſtand der yAocsaız Auroüvres hegten, 


andererſeits der unhaltbaren Hypotheſen über die Erſchei⸗ 
nungsform des Eharisma, welche die Neueren mit ihrer 
wahren Entdeckung des pſychiſchen Zuſtandes der Reden⸗ 
den verknüpften. — Wie nahe übrigens dieſe der Wahr⸗ 
heit gekommen, ſieht man. daraus, daß Bleek ein ekſta⸗ 


tiſches Reden in fremden Sprachen an ſich nicht verwerflich 


findet, Baur abereine Aeußerung thut, bei der man nicht 
wohl begreift, wie er dennoch in einer fo negativen und 
ſchlechten Anſicht hangen bleiben Tonnte, indem er fagt 


c(ccũb. theol. Zeitfchrift 1830. 3. S. 101: „Die Vollkom⸗ 


menheit des höhern Organs, deſſen ſich der Geiſt be⸗ 
dient, beſteht, ſobald es concret und in ſeiner wirklichen 
Aeußerung gedacht wird, darin, daß die mit demſelben 
Begabten ſich nicht bloß in einer Sprache, der angebor⸗ 
nen Landesſprache, ſondern in mehreren, ihnen barch den⸗ 
ſelben Act des Geiſtes, durch welchen überhaupt ein neues 
Bewußtſeyn in ihnen erwachte, mitgetheilten Sprachen 
aussprechen können.“ 


5. Auferſtehung. 1Kor. 16; 2 Kor. 5. 

Bon jeher haben die efehatologifchen Fragen das 
hriftliche Denken Iebhaft in Anfpruch genommen, und es 
war theil® das Verhältniß des Endzuſtands zum Mittels 
suftande, theild das Verhältniß des gegenwärtigen Leibs 
zum Auferftehungsleibe, woranf die Speculation immer 
mit großem Eifer fi; warf. In der neueren Zeit bemers 
fen wir ein vielfaches Schwanfen zwifchen einer den Zus 
ftand unmittelbar nach dem Tode hervorhebenden Anficht 


und einer folhen, welche diefen zurüctreten läßt und vors 


zugsweife auf den Endzuftand gerichtet if. Während bie 


500 N ging ; 


letztere eine Abbrechang bes Lebens im Tode ſtatuirt, fo 
dag nach einem langen Todesſchlafe . die Auferfichung 
gleichſam da wieder anlnüpft, wo der Tod den Faden 
zerriffen hat, fo behanptet die erftere die Continuität Des 
Lebens, und zwar bald fo, daß fie.einen feligen Zuſtand 
. eintreten läßt, indem der Tod alles fittliche und phyfifche 

‚Uebel wegnehme, bald fo, daß fie eine Fortentwidlung 
-in andern Negionen des Daſeyns ſtatuirt; und diefe Les 
bensfortfeßung wird nun bald-ald eine rein geiftige Dar» 
geftellt, bald wird. eine neue Umhüllung oder Eorporifas 
tion angenommen. Der irdifche Körper aber wird entwes 
ber ganz fallen gelaffen, und wenn man noch eine Vers 
änderung in eine Bollendungsepoche — die fogenannte 
Auferſtehung — gelten läßt, fo verfteht man darunter 
eine dem eintretenden Bollendungezuftand entfprechende 
weitere Berwandlung bed nach dem irdifchen Tode gewor⸗ 
benen Leibes, oder man nimmt auch an, baß in jener 
Epoche der Geift die Grundbeftandtheile feines chemalis 
gen keibes wieder an fich ziehe, fey ed num nach Ablegung der 
Zwifchenzuftandshülle oder gleichfam als eine Ueberklei⸗ 
dung. — Was aber das Verhältniß des Auferſtehungs⸗ 
leibs zum gegenwärtigen irdifchen betrifft, fo ift von Als 
terö her ein Gegenfab zwifchen der. Hervorhebung der 
Identität oder des Unterſchieds; und wenn jene bi zur 
Behauptung völliger Einerleiheit des Stoffe und der Bes 
fandtheile ging, fo jedoch, daß- eine volllommnere Bes 
fehaffenheit des Auferfiehungsleibs angenommen wurde a), 
fo trieb dagegen diefe den Unterfchied bis an die Grenze 
der völligen Neuheit, und felbft diefe Grenze wurde, freis 
lich anf einem häretifchen Gebiete, überfchritten. Das 
überwiegende Intereſſe für die Identität verbrängte die 


a) Beiden Chiliaſten zunaͤchſt Herftellung für ein nur volllommne- 
res irdiſches Daſeyn, zulest aber weitere Verwandlung in 
himmliſches Wefen. 


Bibl, : theol. Grörterungen üb, d. Korintherbriefe. 8901 


nach der andern Seite hin neigenbe origeniſtiſche Thes⸗ 
vie. Die vergröberte und nicht gehörig ‚vermittelte Vor⸗ 
. Stellung von der Anferftehung aber und das Schwanten 
Der efchatologifchen Anfichten reizte natürlich zu einer 
ftarfen Skepſis, die bald auch Die Lehre von ber Unſterblich⸗ 
keit der Seele ergriff, welche ohnehin, Losgeriffen von der 
vollkommenen Leiblichkeit, etwasgar Schwebendes und. Uns 
fihered, ja völlig Haltungslofes if. Die Stepiis ging 
endlich in eine entfchiedene Leugnung aus, die bald ein 
materialiftifches, bald ein fpiritualiftifches Gepräge hatte, 
aber, auf ihrem Höhepunfte angelangt, an der Macht dei . 
gläubigen Denkens fich brechen muß. 

Auch bier wird. das Bewußtfeyn und Berftändniß der 
im Berlaufe der chriftlichen Gefchichte hervorgetretenen 
Probleme und ihrer Löfungsverfuche die Schriftaugfprüche 
für uns aufhellen helfen, andererfeitö aber wirb dag tier 
fere Eindringen in die Schrift in der Löfung ber Probleme 
und weiter führen. Und vorzugsweife find es die Briefe 
an die KRorinther, welche hier in Betracht fommen. Bor 
Allem aber müffen wir hier darauf verzichten, . fiber den 
Zwifchenzuftand irgend Näheres zu erfahren. Der Gew 
banfe an diefen war für den Apoftel uud die bamaligen 
Shriften von geringem Belange, da fie Die Zukunft Ehriftt, 
Das Ende der jeßigen Weltverfaffung und den Eintritt in 
ben Zuftand ber Vollendung ald fo nahe bevorftehend ers 
warteten, daß fie felbft dieß noch zu erleben hofften (vgl. 
1 Theff. 4, 15.175, 1Kor. 7, 29.31; 15, 52) a), Das 


a) Man hält zwar Stellen wie 1 Kor. 6, 14; 2 Kor. &, 14 entges 
gen, als woraus erhellen foll, daß der Apoftel für ſich und feine 
chriſtlichen Beitgenofien eine Auferftehung von den Todten, alfo 
ein früberes Sterben erwartet babe, Aber beide Stellen find 
von der Art, daß fie dieß nicht beweiſen, da ‚Eyeigsıv ebenfo in 
weiterem Sinne die Erhebung zu unvergänglichem Leben be: 
zeichnen kann, welche aud) die Verwanblung ber zur Zeit ber 
Parufie lebenden Gläubigen in fich befaßt, wie 15, 51 allayzsuı, 


s02 Aung 


Leben in Chriſto, das wahre ewige Leben konnten fie frei⸗ 
lich durch den Tod nicht zerſtoört denken; denen, Die im: 
Chriſto ſind, kann ja als ſolchen der Tod nichts anhabem. | 
„Ir auch der Leib tobt der Sünde wegen, fo ift der Geiſt 
Leben um ber Gerechtigkeit willen.” (Röm. 8, 103 — Aber 
ſchon der Ausdrud zosamdtvess fcheint Darauf hin zu wei⸗ 
fen, daß das Leben nach dem Tode nicht ald ein im vol 
len Sinne wirkliches, nicht als eine wirkſame Criftenz, ſon⸗ 
bern vielmehr als ein ruhiges Verharren in der erquicken⸗ 
den, aber auch wohl, foweit bieß noch erforderlich, län⸗ 
ternden und heiligenden oder bad Heiligungswert vollen 
denden Gemeinfchaft. Cheiftt auzuſehen if. Es iſt wohl 
ein Zuſtand, wodurch fie zur hoͤchſten Wirkſamkeit, zum 
Regieren mit dem ſich offenbarenden Herrn, zuvörderſ 
aber zur vollkommenſten Lebensmanifeſtation, zum Anziehen 
des unvergänglichen himmliſchen Leibs vollends tüchtig 
werden ſollen. Nur in der Auferſtehung ſieht 
der Apoſtel die rechte Lebenswirklichkeit. Per 
ſönliche Unſterblichkeit ohnehin, abgeſehen von ihr, ſcheint 
ihm ein Unding zu ſeyn. Dieß geht wohl daraus hervor, 
daß er 15, 12 ff. offenbar die Leugnung beider identificirt. 
Das Menfchenleben tft ja auch ungetheilte Einheit des 
Inneren und Aeußeren, ber Yduyn und ed our; ein 
Fortbeftehen des Subjecte in bloßer Innerlichleit ©) ift alfe 











was gleich darauf von biefer Verwandlung vorkoͤmmt, tin wei 
texem Sinne ſteht, ſo daß e8 auch bie Auſerſtehung ber Dodten 
in ſich begreift. 

Man koͤnnte vielleicht richtiger ſagen: ohne ſein Aeußeres. Dies 
wuͤrde ein gewiſſes Schema von leibaͤhnlicher uUmhuͤllung nicht 
ausſchließen und nur fo viel ſagen, daß es basfenige Organ 
nicht Habe, durch weldyes feine ganze wirkliche und wirkfame 
Erifteng bebingt if. Der Zähnen, fo geiſtreich durchgefuͤhrten 
Hypotheſe Lange’3 (Stud. u. Krit. 1886. 3. 201 F.) vermoͤ⸗ 
gen wir uns nicht anzufchließen, da weber die Schrift, noch die 
in der Schrift wurzelnde chriſtliche Weltanſicht hinreichende 
Berechtigung dazu zu geben ſcheint | 


— 


Wibl.«theol. Erörterungen üb. d. Koriatherbriefe. 303 


N 


Rein volles Leben. Das Leben erfcheint da als gehemmt 


oder gebunden; erft in der fich bethätigenden Macht der 


Wiederbeleibung wird e8 wieder frei und wirklich. Nur 
fofern die Seele dieſe Macht, oder fofern fie der. Potenz 
nad) die Leiblichkeit hat, Tann von ihrem Fortleben nach 
dem Tode die Rede feyn, das aber bis zur Auferfichung . 


. ein verhülltes, auf die Offenbarung und Verwitkli⸗ 


ehung harrendes tft. Hierin Kegt die Vorausſetzung, daß 
das Leben Ehrifti in den Gläubigen, das ein unzerflörs 
bares ift, auch die Macht der vollkommenen Leidlichteit 
in ſich oder die Anferflehung zur nothwendigen Kolge 
habe, worauf auch Röm. 8, 113 Joh. 6, 54 hingewieſen 
wird. Dieß bernht aber daranf, daß Chriſtus in wahr, 
haft menfchlicher Eriftenz durd ben Tod zum Leben hin⸗ 
Brurchgedrungen, fomit in der Menſchheit bie Negation des 
Lebens thatſächlich negirt ift. Auferweckt von den Todten 
tft er die Annex der Entfchlafenen, der Anfänger der 


“ ganzen Reihe derer, die aus dem Tode zum Leben erftchen 


ſollen, bie Erftiingdfeucht der Auferftehung‘, anf welche 
die ganze Erndte folgt. Gr vermittelt nämlich ebenfo 
Auferſtehung von den Todten, wie Adam den Tod. Ye 
ned wie dieſes follte ein Menfch vermitteln; was ein 
Menſch zerftört, follte auch ein Menſch herſtellen. Bei⸗ 
derlei Bermittlung aber beruht: in der Gemeinfchaßt zwi⸗ 
fchen den Bermittelnden und den Uebrigen (15, 21 f.% 
welche Gemeinſchaft auf beiden Seiten ebenfo eine ethi⸗ 
fche wie eine phufifche if. Das Sterben in Adam einer 
feit beruht darin, daß die adamitifche Abwendung von 
Gott und die dadurch herbeigeflihrte Zerrüttung des phy⸗ 
fiihen Lebens auf die Nachkommen Abergeht; das Les 
bendiggemachtwerden (die vollkommene Lebensverwirk⸗ 
lihung) in Chrifto andererfeitd darin, daß die That 
Chrifti, fein Bleiben in Gott und in Gotted Willen und 
die damit zufammenhängende Unanflöslichkeit feines Les 
bens in das ganze Cethifche und phyſiſche) Leben der Gläu⸗ 


ling: 


bigen übergeht... Die Allheit.aber, von welcher beides. 
anusgefagt wird, ift hier nicht nothwendig bie der Men⸗ 
fhen überhaupt; vielmehr führt der Contert auf eine 
engere Beziehung. Es find die Chrifto Angehörigen. 
(2. 23), die xoıundivreg dv Xgusro B.18, wofür er her⸗ 
nach Furgweg ol xexoumutvor ſetzt. Sonach iſt hi er we 
nigſtens ‘von feiner mit der Grundvorftellung bed N. X. 
fireitenden allgemeinen Wiederbringung die 
Rede. Der Apoftel fagt: die Gläubigen alle fterben (fort⸗ 
während) vermöge ihres Lebendzufammenhangs mit Adam, 
fie werden aber alle lebendig gemacht werden vermöge 
ihres Zufammenhangs mit Chriſto. Bon‘ einer. Auferftes 
hung der Ungläubigen ift hier gar nicht die Rede, obwohl 
dieſe in Joh. 5, 29 audgefprodyene Erwartung auch dem 
Apoftel nicht fremd ift (Apg- 24, 15), der fid aber hier 
nur mit dem Looſe der Gläubigen befchäftigt. — Aber ob 
nicht im Folgenden jene Meinung einen Halt finder? Bon 
B.23 an fpricht fich der Apoſtel über die zeitlihde Orbs 
nung der vorher hinfichtlich ihres innern Zufammen 
hangs befprochenen Neubelebung aus: „jeder wird in 
das volle Leben eingeführt in der ihm zufommenden Ords 
nung. Erftling ift Chriftus, hernach (kommen an die 
Keihe) die Chrifto Angehörigen.” Bon diefen fagt-er noch, 
die Reihe komme an fie, fie werden lebendig gemacht 
werden bei. feiner Zufunft, feinem gavegadnzvan 
Cogl. Kol. 3, 4; Phil. 3, 20 f.; 1 TCh.4, 15 f.; 2 Th. 1,7. 
10). — Er führt aber die efchatologifche Betrachtung 
nod weiter, und zwar fo, daß dadurch die vorher aus⸗ 
gefprochene Beſtimmung der Zeit der Belebung der Gläus 
bigen ihr volles Licht erhält, was wohl aud als der eis 
gentliche Zwed dieſer Erpofition zu betrachten ift: „for - 
dann das Ende” d.h. der Schluß des Weltlaufd, die 
“ Svvriisıe Tod alövog tovrov, der Moment des Bollens 
detſeyns des göttlichen Erlöfungsplans, des Erfülltfeyne 
aller Weißagung (vgl. Apg. 3, 215 Offenb. 10, 7). Diefe 


4 
— 


Bibl,ztheol. Erörterungen uͤb. d. Korintherbriefe. 505 


‚Epoche, welche er hier als das an bie Parufie Ehrifti und 
Die dabei erfolgende Auferftehung fich unmittelbar =) Ans 
reihende darzuftellen fcheint, wird fofort näher beftimmt: 
„wann er übergibt (Lachmann: zagadıda) daß. 
Reich Gott dem Bater.” Das Ziel des Mittlers 
reichs, der Chrifto zur Vollziehung des Erloͤſungswerks 
übergebenen göttlichen Herrfchaft ift die abfolute Gotteds 
herrſchaft. Jetzt ift alle Macht concentrirt im Sohne, 
den Berföhner und Erlöfer der Menſchheit; die väterlis 
che Majeftät fteht gleichfam im Hintergrunde, die Herrs 
lichkeit des erlöfenden Mittlers tritt zunächft ind Bewußts 
feyn. Indem aber das befondere Reid, feinen Zwed er 
reicht, tritt die durch die Vermittlung hindurchgegangene 
abfolute Gottesherrfchaft in unmittelbarer Herrlichkeit 
hervor. Die eigenthümlihe Mittlerherrlichleit verfchwins 
det nun in der alles erfüllenden ganz offenbar gewordenen 
Macht und Liebe; das Befondere geht in das Allgemeine 
zurüd, fo jedoch, daß es nicht vernichtet, fondern in dem⸗ 
felben aufgenommen ift, und infofern auch wiederum 
Ehrifti Herrfchaft eine unvergängliche und ewige if. — 
. Diefer Uebergabe des Reichs an Gott und fomit dem 
Ende geht aber voran und muß vorangehen dad Abthun 
aller das Heil hemmenden, ber Ausführung der Erlöfung 
entgegenftehenden Mächte — ein Werk bed Sohnes vers 
möge der Fräftigen Willensbeflimmung Gottes b)y. Die 
legte Potenz diefer Art, welche abgethan wird, ift der 
Hoavaros. Diefe Potenz ber Berneinung der ganzen uns 
getheilten wirffamen Eriftenz, welche ald Widerfacher 
Ehrifti und feines Reichs dargeftellt, fofern Durch fie bie 
vollfommene Berwirklichung bed durch den Glauben in . 


a) Die Annahme eines zwifchen die Parufie und das rerog fallens 
den 1000 jährigen Reiche laͤßt fich nicht als pauliniſch rechtfer⸗ 
tigen. 

b) Der Sohn iſt der xaragya» zäsas duranıy, indem der Vater 
ihm Alles unterwirft, 


306 Kling - 


den Kindern Gottes gefehten ewigen Lebens gehememms 
wind, wird durch ‚die Auferfichung ber Gläubigen für die 
Gottesfamilie oder das Gottesreich vollig abgethan ober 
unwirkſam gemacht. So wird ed Har, warum die Auf⸗ 
erſtehung erft bei der Zukunft Chrifti gegen das Ende ‚bed 
Weltlaufs oder der Zeit des befondern Reichs Ehrifti ers 
folgt. Sie ift die Bollendung des Siege Ehrifti über bie 
feindlichen Mächte, der lebte und höchſte Act feiner befoms 
dern Herrfchaft, worauf Diefelbe in die des Vaters übers 
geht, da num aller Widerſtand gegen den göttlichen Wil⸗ 
len gebrochen, Gotted Reich als abfolutes erwiefen. if. 
Dieß gibt der Apoftel B.28 als Zwed der freiwilligen Unters 

ordnung Ehrifti unter Gntt.an: „iva 9 6 Bedgrandvre dw 
sösıv”, ein Ausdrud, der erweislihdermaßen Bezeichnung 

abfoluter Herrfchaft ift cf. Raphel. ex Polyb. et Arrisne 

d.h. L) Ob man bier m&äcıv ald masc. oder neutr. 

nimmt, kommt zulegt auf eins hinaus. Aber zu voreilig 

iſt es, hier eine allgemeine Wiederbringung in dem Sinne 

zu finden, daß nun Alles in. reiner freier Willigkeit mit 

Gott vereinigt und ſemit felig wäre. Es kann und muß 

immer noch ein Unterfchied feyn zwiſchen Soldyen, welche 

obfiegende Liebe zur Wahrheit Ehrifto zugeführt, und 

zwifchen Solchen, welche nur aus Ohnmacht ben Widers 

fand aufgegeben. Diefe bleiben der göttlichen Ordnung 

gemäß vom himmlifchen Erbe, vom Reiche Gottes, vom 

der Herrlichkeit der Kinder Gottes ansgefchloffen, was 

nicht ohne ein peinliched Gefühl der Entbehrung gedacht 

werden kann. 

Nachdem der Apoftel 1 Kor. 15, 1—238 durd; die 
für das chriftliche Leben, Glauben und Hoffen fo wefents 
liche Thatfache der Auferftehung Chrifti die Nothwendig⸗ 
keit der Auferfichung der Gläubigen ins Licht gefebt und 
durch Andeutungen über die Vollendung der Erlöfungss 
Öfonomie den Eintritt derfelben bey ber Parufie Ehrifti ers 
läutert hat, fo fommt er nad) Aufführung einiger bier zu 


BibL. «theol, Erörterungen db, d. Korintherbriefe. 507 


übergehenden indireeten Argumente für die Unumgänglich» 
keit der Anerkennung diefer Hoffnung der Chriſten auf 
 gweigragen, deren Schwierigkeit oder auch Beantwortung 
aus einer: grobsjüdifchen Vorſtellungsweiſe heraus bie 
Zweifel an der Sache ſelbſt wenigſtens verſtärken mochte, 
Die erfte, betreffend das Wie? des Vorgangs der Aufers 
ftehung der Todten, beantwortet er durch Hinweiſung 
auf die Analogie das Pflanzenlebens, welches eine Beles 
bung des Anegefäeten zeigt, Die durch vorangehendes 
Sterben durch einen Auflöfungs » oder Verweſungspro⸗ 
ceß bedingt iſt. So erfcheint die Berwefung, welche nad 
oberflächlicher, Betrachtungsweife die neue Belebung uns 
denkbar macht, bei einer richtigen, ein allgemeineres Ges 
feß, alfo die gättliche Ordnung irdifcher Lebensentwidlung 
beachtenden Erwägung als wefentlihe Vermittlung des 
neuen Lebens. Nur wenn. der Menfch ale irdifchlebender 
zerſtört iſt, kann ein neues Leben entftehen. — Hiermit 
hängt denn bad Andere zufammen, wobdurd die Beants 
wortung der Frage über die Befchaffenheit des Aufs 
erfiehbungsleibeg eingeleitet wird. Es ift jener Aua⸗ 
logie zufolge nicht der von Gott nach feinem Willen geges 
bene irdifche Organismus, welcher durch Die Auferweckung 
hergefiellt wird, Der Auferftehungsleib verhält füch zu 
dem ‚gegenwärtigen, wie die Pflanze zu dem bloßen Korn, 
was ausgeſäet wird. Und obwohl das Product des 
Auferwedung ein Leib if, und zwar, entfprechend dem 
Keime, dem.Aoyog onsguarixos (Drigenes), ein menfchlis 
: her Organismus (Exasro av Hrsgudtwov ro [dı0v Hüue), 
fo ift er doch von anderer Qualität, als der jegige Leib, 
und gehört einer höheren Stufe des Dafeyns anz wofür 
dad Naturleben gleichfalls Analogien darbietet, wie denn 
eine Folge von Stufen und Arten im animalifchen Leben 
fich zeigt, oder die Gattungseinheit der oapk doch eine 
Menge von Differenzen in fid trägt, und wie zwiſchen 
himmlifchen und irbifchen Körpern, ja unter den Hims - 


308 “Kling 


melskoörpern ſelbſt eine. qualitative Verſchiedendeit Chin 
fihtlich bed Glanzes, der Schönheid) fich zeigt, obwohl 
Alles Körper, organifche Ganze find. Auf ähnliche Weife, 
will er fagen, Täßt fidh nun auch ein menſchlicher Organis⸗ 
mus niederer und höherer Art annehmen. ' Worin aber 
der Unterfchied zwifchen beiden beftehe, zeigt er von 8. 
42 an. Die Ausſaat erfolgt in Verwefung, Unehre und 
Schwachheit. Dieß ift der Zuftand, werin fid dag menſch⸗ 
liche Leben befindet, wenn e8 in denjenigen Proceß einges 
führt wird, wodurch die Neubelebung vermittelt werben 
fol. Einen entgegengefesten Zuftand bringt bie Aufer⸗ 
weckung mit fih. Dem entfpricht bie entgegengefeßte Ber 
fchaffenheit des in den Proceß eingehenden Leib und 
desjenigen, der durch die Auferwedung entfteht. Jener 
iſt pſychiſch, dem Menfchengeifte in feiner Endlichkeit 
entfprechend, wo er (als Princip finnlichen Borftelleng, 
Empfindens und Begehrens) vom Aeußeren abhängig und 
allerlei Verderbniſſen, Demüthigungen und Schwadhheis 
ten unterworfen if. Diefer aber ift pneumatiſch; 
feine Befchaffenheit entfpricht dem Geifte in feiner göttkis 
chen Freiheit und Selbſtändigkeit, in feiner unvergänge 
lichen Reinheit, Majeftät und Kräftigkeitz; er ift das den 
Charakter des Geifted ausdrüdende, feine Thätigkeit vers 
mittelnde wahre Organ deffelben a). — Nachdem er nun 
noch angedeutet, Daß mit Dem einen nothmendig auch da® 
andere anzunehmen fey, daß, wenn dad pfochifche Leben 
fein entfprechendes Darſtellungs⸗ und Wirkſamkeits⸗Or⸗ 
gan habe, wie ja vor Augen liege, auch das pneumatifche 


a) Man koͤnnte wohl fagen, mit-bem Eintritte des Menfchen in bie 
göttliche Lebensgemeinfhhaft (mit der Wiedergeburt) beginne bie 
Bildung des pneumatifchen Leibs, aber ausgebildet und als fols 
her in offenbarer Wirklichkeit bervorgetreten wird er erft in 


der NDR ſeyn. 





Bibl.⸗ theol. Erörterungen üb, d. Aorintherbriefe. | 509 


eben fo gut ein folched haben mräffe »), fo weil er noch 
darauf hin, daß auch die h. Schrift auf diefen Gegenfaß 
hinführe. Ste zeige die eigenthümliche Befchaffenheit des⸗ 
-jenigen, von dem bie erſte menfchliche Entwicklungsreihe 
ausgegangen, damit an, daß fie fage, er ſey zu einer 
Yvrn köca geworden, worin die Abhängigkeit von einem 
hoͤhern Principe, die durch eine höhere Cauſalität bedingte 
Lebendigkeit: angedeutet iſt (er wurde ja dieß durch die 
göttliche Anhauchung). Den Gegenfaß hierzu bildet bie 
Beftimmtheit des letzten Adam (oder bedjenigen, in wels 
chem die zur Bollendung führende zweite Entwicklungsreihe 
als in ihrem perfönlichen Principe gefegt fey) als lebendige 
machenden Geifted, als reiner, über creatürliche Bedingts 
heit erhabener, zur Lebendmittheilung geeigneter. göttlis 
cher Lebensmacht, — Dem naheliegenden Einwurfe, dag 
doch das Vollkommene lieber von vorne herein ba ſeyn 
möchte, tritt er mit der einfachen Hinweifung auf die eine 
Stufenfolge fetende göttliche Ordnung der Lebensentwick⸗ 
lung entgegen; und gibt dann noch zu verfichen, wie Ur⸗ 
fprung und demfelben entfprechende Befchaffenheit des ers 
fien und des zweiten Menfchenftammvaters nichts Anderes 
erwarten laffe, indem jener, aus der Erde ſtammend, irdi⸗ 
- chen Stoffes fey , diefer vom Himmel ſtamme, alfo natürs 
Sich jener pſychiſch, einer niedern und befchränften, dieſer 
pneumatiſch, der höchflen volfommenften Stufe des geis 
fligen Lebens entfprechend feyn müfle Und dieß gelte 
denn ebenfo von den beiden zugehörigen Menfchenreihen, 
bie als Irdiſche und Himmlifche einander gegenübergeftellt 
werden. — Die große Umwandlung aber, daß fie flatt 


a) Wir lefen mit Lachmann: „el Eorıy canua yuzınöov, Earı xal 
zvevpazındyv,. ‚und glauben den Urfprung der gemeinen Lesart 
aus der Ruͤckſicht auf V. 45 erflären zu koͤnnen, wo man einen 
Doppelbeweis fand und demgemaͤß aud zwei entfprechenbe 
coorbinirte Behauptungen in einfad). aflertorifchen Sägen im 
Vorhergehenden fuchte. 8 

Theol. Stud. Jahrg. 1839. 83 


10 Bing: | 

des pſychiſchen Leibe einen :pnenmatlfchen erhalten, bes 
trifft nach der weiteren beitimmten Erklärung des Apoſtels 
alle Angehörige Chriſti und ift wefentliche Bedingung ber 
Theilnahme am Gottedreiche, da das menfchliche Leben 

in feiner jetzigen finnlichen Qualität, als etwas Aeußeres, 
das dem Geiſte nicht angeeignet oder affimilirt werden 
kann, zu. dem Zuftande des durchgängigen Beſtimmtſeyns 
durch den Geiſt, ber. Gott ift, nicht paßt, und als etwas 
Hinfähliges fich. nicht dazu eignet, von dem Beſitz zu neh» 
men, deffen Weſen dpdagelu ift. So wird and) mit denen, 
welche vor der Erfcheinung bed Herrn nicht entfchlafen 
find, eine fehnelle Berwandlung vorgeben a). 

Aus dem Bisherigen ergibt ſich nun, daß ber jegige 
Leib fi zum Auferſtehungsleibe verhält, wie das Same 
torn zum neuen Pflanzenleben und wie Pſychiſches zu 
Pneumatiſchem, daß alfo einerfeits eine Identität flatts 
findet, andererfeitö aber ein qualitativer Unterfchied , wie 
zwiſchen der niedern, unvollkommenen und der höchften ke 
bensſtufe. Beides iſt unch moch fehr bezeiduend ausge 
drücdt durch das aAlayivus V. 51 und burd die Erffärung 
V. 53, daß das Vergängliche Unvergänglichkeit anziehen 
müſſe. Diefer legtere Ausbrud, in welchem der Leib unter 
dem Bilde eines Gewandes bargefiellt wird, ehrt and 
wieder in der für unfer Dogma fo wichtigen Stelle 2 Kor.5, 


a) Wir halten in V. 51 bie wohl begeugte recepta für dieurfprüng: 
liche Lesart und bie Inconvenienz des veränderten Gebraudys 
von Allaynoousde (B. 51. 52) zunaͤchſt der Ungleichheit des 
‚Umfangs bes Subjects für unbedeutend gegen die Inconvenien⸗ 
zen der lachmann'ſchen Lesart, bei ber 1) 8.52 an B. 51 
ſich nicht füglic anknüpfen läßt, 2) auch die Nichtglaͤubigen 
mit bereingezogen werben (in zavreg xoıundnoouede und ol 

 vengol avacıjoorea.), ba doch im ganzen Conterte nur bie 
Glaͤubigen in Betracht gezogen werben, Theils jene, uns min- 
der bedeutend ſcheinende Inconvenienz, theils das Auffallende 
der Stellung des ov, theild befonbers bie Ankünbfgung, baf 
ein Theil der Beitgenoffen bes Apoftels die Parufie Chriſti erleben 
werde, was doch nicht eintraf, fcheint die Aenderung ber ur- 
fprünglichen Lesart veranlaßt zu haben. 


vv. — — — 


Bibl.=theol. Eroͤrterungen Ab d. Korintherbriefe. 511 


wo der Apoftel V. 2.4 von ber; Sehnfucht der Gläubigen 
fpricht, die Behaufung vom Himmel ‚darüber (über, die 
jeßige Behanfung) anzuzichen,.d. h. ohne den Scheidungs⸗ 
proceß des Todes, ohne Ablegung ‚ber. irbifchen Behau⸗ 
fung in die hiemlifche Lebenswohnung eingehen: zu. Dürfen, 
.obfchon fie, wie er hinzuflgt, auch wenn.eine Cup . 
kleidung erfolgt.ik, nicht werben bloß erfune 
den werden a), womit er fagen will, auch wenn ber 
Scheidungsproceß bes Todes erfolgt fey, werden doch 
die Gläubigen nicht körperlos ericheinen am Tage daß 
Herrn, vor dem Pina Xgısrod (V. 10), wenn fie ihm 
Dargeftellt werden (4, 14), was natürlick darauf, bes 
ruht, daß ihnen Gott hen Auferſtehungsleib gibt. — Den 
vollkommenen Leib aber — fey ed nım,:daß eine, Ueberklei⸗ 
bung oder einfache Belleidung, Verwandlung oder Aufex- 
ftehung ftattfindet — nennt. er eine vom Himmel fLams 
mende Wohnnng, wie er ja auch im 1. V. fagt: „wir 
haben einen Ban aus Gott, ein.nicht. mit Händen gemadhr 


a)‘ Dieß ſcheint mir die einzig richtige Erklärung biefer viel befpros 
chenen Etelle zu feyn. Ich folge dabei der gut bezeugten lach⸗ 
mann’fchen Lesart sineg nal dnövoauevos, wiewohl zulett 
derjelbe Stun herauskommen würbe „ wenn man flatt dx dugk- 
usvor läfe: Zv övonnevor, was im Gegenfage gegen dztvrövadus- 
vor Bezeichnung ber einfachen Bekleidung in ber Auferftehung 
feyn würde. — Sn diefer Auffaffung ber Stelle ift im Wefentlis 
hen Flatt vorangegangen, nur daß er bie recepta sdya fefl 
hält unb infofern willkürlich verfährt, da die Bedeutung „obs 
‚wohl? hier durchaus unerweislich ift. Lieft man aber zizeg, 
fo fällt in biefer Hinficht alle Schwierigkeit weg. Denn biefe 

"Partikel kommt in derfelben Bedeutung ohne Zweifel aud) 1 Kor. 
8,5 vor, Wie die Partikel eo in Participialfäsen in ber 
Bedeutung „immerhin” gebraucht wird, wo es dann — quamvis 
tft, fo auch elmeo. Bol. Riemer und Paffow sh. v, 
Wie gefuht die ruͤckert'ſche Auffaſſung der Gtelle ift, 
braudyt nur bemerkt zu werden. Daß aber Dlöhaufen bei 
dvövoausvor und yvuvoi an den Rod der Gerechtigkeit Chrifti 
denkt, darüber fann man fi) nur verwundern, wiewohl in 
einer anbern Form Ufteri denfelben Einfall vorgebradht hat, 
3 * | 


bi © 


7 u \'*", 


tes, ewiges Haus im Himmel”, was auf den Auferſte⸗ 
hungsleib zu beziehen ift a)y. Wie reimt fih nun beides, 
dieſe VBorftellung und die ber Ausfaat und des Auferwedts 
werdens? In folgender Anficht feheint und. die Vermitts 
tung der verfchiedenen Ausdrucks⸗ und Borftellungsmeis 
ſen zu’ liegen. Die irdifche Maffe, die nur in einer niebe 
ten Sriftenzweife des Geiftes (Yyvr7) ein Organ deſſel⸗ 
ben feyn fonnte, wird abgelegt. Es bleibt der Kern des 
Menfchenwefens, ver koc audgmmos, der die Form ber Leib 
lichkeit und damit die Potenz der Verleiblichung an fich has 
bende Geift, der fchon im gegenwärtigen Leben unter als 
{er Aufreibung des äußeren Menfchen oder des unter bem 
Binfluffe der Außenwelt fiehenden, ja zu ihr gehörigen 
finnlich «materiellen Lebens, fort und fort verjüngt ober 
aufgefrifcht wird (4, 16), im Mittelzuftand aber wohl 
für die neue vollkommene Verleiblichung reift und erflarft. 
Dieter hat in Kolge der Wiedergeburt und Lebensgemein⸗ 
ſchaft mit dem verherrlichten Erlöfer feine Heimath im 
“ Bereiche des reinen, heiligen Lebens, in den Himmeln, 
Dort find gleichfam die Elemente feines wahren, ihm ges 
mäßen Leibeslebens; dort baut ihm Gott diefe feine Wohh⸗ 
nung; in dem Maße, als er felbft zunimmt, wird fein 
Haus im Himmel ausgebaut, die Auferwedung aber ift 
nicht8 Anderes, al die Erhebung des Zum Kvdowmog zu 
feinem vollen Leben durch Einführung in Diefen Leib, durch 
a) Die auf den Mittelzuftand zu beziehen, gibt das dar —. 

xaraAvdn Fein Recht, da ja dav nicht = Orav ift, fo daß 

der Sinn wäre: „Tobalb wir geftorben find, haben wir eine 

ſolche Behauſung.“ Auch bier muß man bie hypothetiſche Be⸗ 

deutung des Eu» feſthalten: „wenn der Fall der Zerſtoͤrung 

des irdiſchen Zelthauſes eintreten ſollte.“ Cr will fagen: für 

diefen Fall — das Aeußerfle des dıaypPeigesdu: des Eon Tune 

&rßgonog (4, 16) — wiffen wir uns geborgen ober haben 

wir guten Muth, da wir im Himmel eine ewige Wohnung 

zu haben gewiß find. Als einen Beleg für dieſe Gewißheit 

gibt er die Sehnſuchtsſeufzer der Gläubigen nach ber Ueberkiei= 


dung mit jenem Leibe an, was nad) der Bemerkung ©. 3 in 
V. 4 wieber aufgenommen wirb, 





Bibl.⸗theol. Eroͤrterungen üb, d. Korintherbriefe. 413 


Bekleidung, d.h. Vereinigung mit demſelben. Indem Chris 
ſtus mit feinem herrlichen Leibe vom Himmel kommt, 

bringt er diefe himmlifchen TBohnungen der Gläubigen mit, 
und die aud dem Mittelzuftande herausgerufenen Entfchlar 
fenen fo wie die noch im irdischen Leben Befindlichen gehen 
in. diefelben ein, jene fich Damit befleidend, dieſe fich das 


. mit überfleidend, fofern fie nicht erft ſterbend des irdifchen 
Leibes fich zu entäußern nöthig haben, fondern das Sterbs 


liche von der Lebensmacht, die jebt ummandelnd fie ers 
greift, verfchlungen wird (V. 4). 

Indem ic; diefe Andeutungen zur weiteren Prüfung 
bingebe, bemerfe ich noch, was Kundige auch leicht von 
felbft erfennen werden, daß ich die Iehrreichen Erörterungen 
meines lieben Collegen J. Müller und der Herren Lange 
und Weizelin diefer Zeitfchrift nicht aus den Augen ger 
fest und in mehr als einem Punkte daraus gelernt habe, 
am meiften aber zu meiner Freude mit dem erfteren mich 
einverftanden weiß. Möchten die hier vorgelegten efchas 
tologifchen Bemerkungen zur Förderung der Einficht in 
Diefed Dogma einen Fleinen Beitrag geben und jenen 
Erbofitionen zu einiger Ergänzung dienen! 


2. | 
Ueber die Stelle Prediger 8, 11. 


Dom 


. Prof. Dr. Hitzig in Zürid. 


„Alles hat Gott gut zu feiner Zeit gemacht; auch die 
Welt hat er in der Menfchen Herz gegeben; außer 
daß der Menfch die That, welche Gott 2 nicht von. 
Anfang bis zu Ende findet.” 


Wie ald befannt vorausgefeßt werden dar dreht ſich 
die Meinungsverfchiedenheit der Ausleger faft einzig um 
das Wort des, das dur; Welt, oder Zukunft, oder 


Br) Hitzig 
auch Ewigkeit wiedergegeben. wird; und die voran⸗ 
ſtehende Ueberſetzung drückt diefenige Auffaſſung der Stelle 
aus, welche, unter den vorhandenen die wahrſcheinlichſte, 
auch Bon den neueſten Erflärern, Ewald und Knobel, 
befolgt wird. Es fey mir vergönht, meine Bedenklichkei⸗ 
ten gegen die bisherige Eregefe des Verfes überhaupf au 
eben biefe Auslegung anzufnüpfen, und damit einen nemen 
Berfuch vorläufig zu rechtfertigen. 

Der Gedanke des einfchräntenden Satzes kehrt K. 8, 17 
mit ähnlichen Worten wieder. Dort ſteht er in feinem 
guten Zufammenhange; ob er dagegen hier nicht etwas 
ſtöre, darüber verſchmäh' ich zu rechten. Ich begttüge 
mich ‚mit der Bemerkung, daß bie Worte x> or "ben 
durch: Außer daß nicht, oder: nur Daß nicht zu 
Aberfegen, ſich fprachlich kaum rechtfertigen laſſe. Ein 
ſolcher Gebrauch von er "beo für "> ter (Am. 9, 83 
EMof. 13, 285; 5 Mof. 15, 4) kommt fonft nirgends ver 
and läßt fich auch gar nicht dedueiren. "mo dedeutet, wie 
To allein, fonft wohl ohne, 3. B. Sef. 5, 12, indem fi 
bie Negätion da dem negativen Sinne von yo unter⸗ 
ordnet und, gleichwie yr in zur Io (Gef. 5, 9), infos 
fern überflüffig erfcheint. Noch eine Negation aber, das 
folgende obendrein durch Tax getrennte n>, dem negativen 
a zu fubfumiren, ift unftatthaftl. xD enus Zeph. 2, 23 
tft wohl für ">30, aber nicht für > "520 eine Analogie, 
xD OR 9 Pred. 12,1 gänzlich anderer Art; und fo ers 
gibt fich der gerade entgegengefeßte. Sinn, welchen freilich 
Niemand, zumal in diefer Verbindung, alfo ausdrüden 
wird: ohne daß der Menfch nicht findet — fo daß er 
findet. Vol. 5 Mof. 28, 55 >> > non »oaa, ſoviel ale 
2 ran, fo daß er ihm mnidt übrig lafs 
fen wird etwas. Die Eregeten haben hier der Bes 
deutung ohne den Begriff außer untergefchoben. reis 
lich kann nach einer Negation ſo auch außer bedeuten (K. 3, 





Leber die Stelle. Pred. 3, 11. 515. 


22); und bad Gleiche ift mit "nos der Fall; allein hier 
haben wir "Sau, und keine Negation geht voraus. 

Auch der Hauptſatz felbft hat etwas. Befremdeubes, 
Richtig legt Ewald die Ausfage, daß Gott den Menfchen 


die Welt in ihr Herz gegeben habe, dahin aus, Herz 


oder Sinn und Geift des Einzelnen fey ein Mikrolosmus, 
in dem fich die große Welt fpiegelt. Diefer Gedanke nun 
begegnet ung im U. T. nicht wieder, was ald unerheblich 
gelten mag, allein ich bezweifle, daß ein Hebräer ihn alfo 
ausgedrüdt haben wärde. Die Befchaffenheit der Dinge 
nach dem Sinne oder Bebünten Jemandes ift ihnen ein 


Seyn in den Augen, nicht im Herzen ded Subjectes; 


und fo follte man auch hier für eada vielmehr Sry ers 
warten, wie benn auch K. 1,8 Auge und Ohr, nicht das 
Herz, die Außenwelt in ſich aufnimmt. '. Ä 

Endlich ftoße ich noch an der Schreibung 05> ohne 
Fulcrum an. Bei Erweiterung bed Wortes am Ende (ogl. 
oby Pred. 12,5, wnbs K. 1, 10 ift fie ganz in der Ord⸗ 


nung, und auch außerhalb dieſes Falles: zeigt fie ſich noch 


häufig cf. 3. B. 21 Mof. 3,225 6, 35.2 Mof. 21, 6; 31,17; 
32,135 5Mof. 5,26; 1 Fön. 1,315 2,3353 10,95 91.7,165 
Pf. 75,105 92, 9; allein zehnmal gegen eines und gerade 
im Prediger fonft immer ſteht =b1 gefchrieben, f. K. 1, 4. 
2,16; 3,14; 9, 16. Um fo ftärfer wird der Verdacht, daß 
die Yunctation 259 , welche ‚nur Schwierigkeiten bereitet, 
eine falfche fey. 

Ich erfläre daher nicht mit Spohn. und Gagb cb> 


V 
nach is, fondern Iefe fofort das entfprechende zbs, in 
ber Meinung, daß jenes arabifche Wort felber und eins 
zeln in den Hebraismus eingewandert ſey. Bon „Ac, 


wiffen, erfennen, abgeleitet, bedeutet es nicht, wie 
im Arabifchen, scientia, doctrina, fondern, wie Wib von 
Wiſſen fommt, wäre es vielmehr dad Erfenntnißvers 
mögen, Berftand, Weisheit, wie auch die beiden 


316 Vitzig 

erſt genannten Gelehrten => deuteten, indem das Wort 
“dei feiner Aufnahme in das Hebräiſche feinen Begriff um 
ein Geringes modificirte. Ich überjeße demnach: 

„Alles hat er gut zu feiner Zeit gemacht; auch den 
VBerftand hat er in ihr Herz gelegt, ohne welchen 
der Menfch nicht erreichen würbe bie That, weldye Gott 
thut, von Anfang bis zum Ende.” 

Man wird dieſe Auffaflung der Worte non ben ber 
anftanden; allein ur cs 1 Mof. 31, 32 fichert ihre grams 5 
matifche Zuläfligkeit. Hier fleht nicht msndn — bei 
welchem, weil dad Subject, auf welches das Suffr 
ſich bezöge, erft nachfolgt; dort nicht rbao "un, weil Sn 
kein Suffir duldet. Zugleich läßt fid) in diefem Zufammens 
hange ein anderer Sinn der Worte "or an gar nicht 
abſehn. Nun leuchtet aber auch ein, daß mx fich auf 
Bbsr beziehe, und ner wirklich das Erfenntnißvermögen 
bezeichnen muß, wofern Kohelet nicht eine wiberfinnige 
oder thatſachlich falſche Behauptung geſtellt hat. Höch⸗ 
ſtens ließe ſich Nox noch auf anb beziehen (vgl. K. 10, 3), 
das Herz, ohne welches, aber eben inſofern es mit dem 
obs ausgeftattet iſt, der Menſch nicht fände u. ſ. w. ubs 
wäre alfo ungefähr daſſelbe, was Aoysouog (vgl. Xenoph. 
memor. Socr. IV, 3, 8.11: — ro ö& xul Aoyıouoy Yuiw 
 Iupöser, ©, negl av alodavdusde, Aoyıkousvol te xal 
BAmuoVEVoVrTeg Xarauavdavouev %.1.4.), was ratio (z. B. 
Cic. de offic. I, 4: Homo autem, quod rationis est par- 
ticeps, per quam. consequentia cernit etc., facile totius 
vitae carsum. videt), und die Stelle, nun vollkommen 
Har, fagt vom religiöfen Standpunkte des Hebräers ans 
wefentlich daſſelbe, was auf dem heidnifchen Kenophon 
mid Cicero auf dem philofophifchen. 

Noch iſt uͤbrig „das Wort css auch anderswo, wenig⸗ 
ſtens im fpätern Hebraismug nachzuweiſen; und ich glaube 
mich nicht zu täuſchen, wenn ich es Sir. 6, 22 verſteckt 
finde. Die Stelle lautet: Zopla yag nard vo Övoue 











Ueber die Stelle Pred. 3, 11. 517 


eurig dort, zul od moAAolg &orı gavıyc. Daß man, um 
die Meimung Sir ach's zu begreifen, hier, wie in. ber 
ädnlichen Stelle 8. 43, 8, auf den hebräifchen Grunbtert . 
zurücgehen müffe, wird allgemein anerkannt und verfteht 
fih von felber. Sicherlich ferner fol der Zufag: und 
fie it nicht Dielen offenbar, bie Sentenz bahin 
erläutern, daß die Weishelt eben, fofern fie etwad Ge 
heimes, Wenigen Offenbares fey, ihrem Namen entfpreche. 
Stand nun als diefer im Originale man, fo ſcheint eine 
befriedigende Löfung des Räthfeld unmöglich. Man könnte 
glauben, Sir ach fpiele auf>an, Dunkel, trübe feyn, 
an. Aehnlich wird mm im en en debre LXX ———— — 


umi iſt arab. Kr mbiba — und Daın a> pP Allein 


esn behält feinen dritten Radikal in allen Dialekten unver 
"ändert, und Sirach fpielt nicht auf ein verwandteg 
Mort der gleichen oder einer ähnlichen Wurzel an, fons 
dern findet den Begriff des Geheimen in feinem Worte 
felbft, welches Weisheit bedeutet. Deßhalb ift auch die 
Bergleichung von Kaacl, ſchwarz, abzulehnen; und 
wenn Drufius in masr eine Hindentung auf „Ast, zu) 

fand, fo iſt ber unnöthige Umweg zugleich der ärgfte 
Irrweg. Die Worte Sirach's lauteten unzweifelhaft: 
wrı min E59 95, oder win 2 —. ddr auf ben hebräifchen 
MWurzelbegriff zurücdgeführt, würde etwas Verhälls 
tes bezeichnen; und dem Spruche hier parallel heißt es 
Hi. 28, 21 von der Weisheit: r->a ra masse Gleiche 
wie Pred. 3, 11 für mar ber nämlichen Formel 1 Kön. 
10, 24 >59 gefchrieben wurbe, fo gibt hier der Ueberfeßer 
e59 durch Zopla wieder, welches eigentlich die Uebertra⸗ 
gung von rear wäre; und fo erhält bie Pred. .3, 11 nöthig 


befundene Modificirung des Begriffes von de ihre tradi⸗ 
tionelle Beftätigung. Genauer würbe eby — durch 


/ 


510 Mcrchenhiſt. Actenſtuͤck 


Abpog ober Aoyıonög undzubrüden: feyno Wenn aber ders 
geftalt 5*0 allmählich an. die Stelle von am trat, und 


die Logoslehre des N: Teſt. wirklich im.alten wurzelt, 


fo gewinnen wir in dem Masculinum 253 ein Zwiſchen⸗ 
glied, das den Uebergang von der mas des Buches Hiob 

und ber SProverbien. zu dem Aoyog ded N..T.. vermittelt, 
welcher: in bem dr Jef. 9,5 = El Sam. 17, 56) 


Fleifch geworben iſt. 


a? 3; 
Eirchenhiſtorifces Actenſt uͤck 


aus dem 


J en zu Bern. N. XV. 


Mitgetheilt 
vom 
Prof. Zyro in Bern. 


'Apographum 

Gratiam, pacem et omnia bona ab eo qui fons est 
omnium bonorum, 

Reverendi, clarissimi ac doctissimi viri, mihique quon- 
dam praeceptores dilectissimi. 

Ego qui abhinc tribus et quatuor annis sub vestra cura 
‚et diligenti institutione 'Theologiae et Linguae S. operam 
dedi, mox redux in patriam, ibidem elapso semestri spa- 
tio, Deo per Ecclesiam me vocante, sacrum. ministerium 


suscepi, at brevi fatis divinis ita volentibus, ministerium 


Domini mei etiam adversorum perpessione confirmare de- 
bui. Nam anno 1674, mense fehruar. et-martio, eitati zunt 
Posonium (paucis comitatibus exceptis) omnes fere 


4 


aus dem Wonventsarchwe zu Bern. ” . 819 


Hungerine pastores Helv, et Augustanae ‚confessimis uma 
cam personis scholasticis, praetextu quidem rebelliosee 
eomplicitatis, at principaliter propter religionem ,. uti ex 
eventu patuit. 

Comparuimus: Posonii plerique, ex utraque reilgione, 


praecipue qui prope’ praesidie eramus, conflsi innocentieg _ 


nustrae, tum vero volentes decharare nostram erga regem 
nostrum 'elementiseimum obedientiam: At ubi ‘pro’ voto 


Dominorum Praelstorum neo offitiam sacrum cum subscri+ 


ptione deponere, nec sponte sine causa regno egredi, 'nee 
ipsorum religionem amplecti voluissemus, mox traditi 
sumus in captivitätem in diversas arces regni Hungariae, 
et postquam in iisdem post annum fere carceribus durissi- 
misque laboribus vexati fuissemus, e patria nowtra de nocte 
educti, jam ab octavo die Maii anni praesentis patimur in 
Galeris, sive triremibus Neapolitanis in Italia. Antequam 
tamen 'nos ‚Inc deduxissent milites germanict, prius in ci- 
vitate Tergestina nos ad vertinm militariuin armoremque as- 
“ımtionem non solum minis, sed et verberibus co@gerunt, 
hic tamen Deo Iuvante ne unus quidem in iste proba oeci- 
dit, Sumus hic Neapoli numero 29 adhuc superstites, un- 
decim Augustanae coufessionis, reliqyui veronostrates. Itidem 
nostrates pastores numero sex propter suninram infirmitatern 
relfeti 'sunt in civitate Catina, quae etiam est ih Italia prope 
. Piscariam. Tres propteritineris difficultatem multaque verbe- 
ra animam Deo tradiderint; tres vero effugerunt, si ubique 
Italorum manus feliciter evadere potuerunt. Relicti sunt 
etiam in Hungarla tempore nostrae exportationis in diver- 
sis carceribus circiter 10 nostrates, Lutherani vero, uti au- 
ditum, 6 vel 7. Usque ad hoc tempus summas atque in- 
gentes pertulimus angustias, a tempore captivitatis nostrae, 
quibus vix similes.leguntur, quas enarrare mihi non est 
possibile. @Quapropter ut ad propositum redeam, clarissimi 
ac doctissimi viri, ex consensu etiam aliorum fratrum ple- 
cuit scribere confidenter vestris clarissimis Dominationibus, 


| 520 Hiſt. Actenſtuͤcka. d. Conventsarchiv zu Bern. 


humillime rogando nomine omnium consociorum, ut cum 
aliis doctissimis pasteribusque et professoribus instent mo- 
stro nomine apud illustrissimos et potentissimos Ordines 
foederati Belgii, quatenus suam sinceram et indesinentem 
operam per suos legatos pro nostra liberatione coram au- 
gustissimo nostro Imperatore interponere, nosque satis ege- 
nos et afflictissimos, dum in hac misera captivitate patimur, 
aliquo beneficio sublevare ne dedignentur, a Deo exspe- 
ctantes gratuitem remunerationem. De caetero sub Dei 
protectiene «it reposita vita, vestrarum Claritatum. 

Datae Neapeli in Triremibus die 6 Junii 1675. Vestris 
Clariesimis Dominationibus quondam obediens discipulus, 
nunc vero cum aliis fratribus captivis pro sua religione et 
pro suo Domino 

Franciscus Foris Otrocoksi. 
. Die Adrefle diefed Briefe war:  ' 
Reverendis, Clarissimis ac doctissimis viris D. Francisco 
Burmanno at D. Joh. Leusden, illiin Acad, Ultras 
jectina SS. theologiae professori meritissimo itidemque in 
ecclesia pastori vigilantissimo, huic ibidem linguae s. pro- 
fessori diligentissimo. | 

Auf dem Manuferipte fteht in lateinifcher Sprache 
das Zeugniß beigefchrieben, wodurch Die beiden genannten 
Profeſſoren die Echtheit und Genauigkeit diefer Abfchrift 
befcheinigen. 


in 


Recenſionen. 


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4 

4 . 











Ueber Ratur und Werth, des efftatifchen 
Hellfehene fowohlin pfpychologifcher, rer 
ligionsphilofophifcher und exregetifcher, 
als auch dogmatiſcher Hinficht. Mit fleter Ber 
ziehung auf des Dr. I. &, Paffavant Unterfuchungen 
über den Lebensmagnetismus und dag 
Hellfehen. Zweite umgearcheitete Auflage. Frank⸗ 
furt a. M. 1837, 


Eine noch immer fehr Iefenswerthe Recenſion der erften, 
1821 erfchienenen Auflage. dieſes fehr gediegenen und ger 
Icehrten, auch für Theologen höchſt intereffanten Werkes 
findet ſich in des Dr. Fr. v. Meyer Blättern für höhere Wahr⸗ 
heit, 3. Sammlung S. 238 ff. Es wirb darin nicht nur 
die hohe Wichtigkeit des in unferer Zeit zuerft näher unters 
fuchten Somnambulismus im Allgemeinen erwogen, fons 
dern auch unſerm Verfaffer wegen feiner durchaus voll 
baltigen, fchaxffinnigen, umfichtigen und unbefangenen 
Unterfuchung über den. befprochenen Gegenftand das ger 
bährende Lob ertheilt; welche® dann auch auf dieſe zweite 
Auflage in noch erhöhten Maße Anwendung leidet. jene 
Recenſion fchließt mit den Worten: „Dan erfenne an dies 
fem Buche, welch ein wichtiges Erflärungsmittel uns 
im Magnetismus nicht nur für die Weltgefchichte, für bie 
Gefchichte der Philosophie und. für die. Heilkunde, ſondern 
auch für Wiffenfchaft überhaupt und ganz befonders für 
die Ölaubensiehre geworden: ift, obwohl baffelbe ſtets in 


524 Ueber Natur und Werth 


den Schranken der Befcheibenheit bleiben muß, welche 
ber Unterfchied der Dinge erfordert.” Einzelne Fleine 
eregetifche Mißgriffe waren dem Verfaſſer nachgewiefen, 
weldye. in diefer zweiten Auflage Cauf weldhe überhaupt 
jene Recenfion nicht unbedentenden Einfluß gehabt zu 
haben fcheint) glücklich vermieden find. Sie, ift durdy viele 
fehr ſchätzbare Zufäte bereichert, Manches hat auch eine 
ganz andere Ordnung' ımd Verbindung erhalten, fo daß 
wirflich eine große Umbildung unverkennbar ſich Darlegt. 
Jedoch fann Referent auch nicht verbergen, daß er Eins 
zelnes hier vermißt hat, was ihm werth geworden war 
und wovon der Grund ber Auslaffung ihm noch immer 
"nicht recht klar geworben ift. Da fich aber dieſes befonders 
nur auf den Rapport und den Mesmerismus bezieht, bürs 
fen wir, um nicht in ein fremdes Gebiet und zu verfleigen, 
ung nicht dabei verweilen. 

In Diefer neuen Geftaltung nun ift ald dad eigentliche 
Gentrum und bes wahre Nerv der ganzen Unterfuschung 
Die unter gewiffen Verhältniſſen möglide Ekſtaſe bei 
menfchlichen Geiftes zu betrachten, welche auf fehr vers 
fihiedenen Stufen und unter mannichfaltigen Modificativ⸗ 
wen fich einftellt und felbft bis zum Flarften Hellfehen ges 
fteigert werden fann. Zur Erläuterung oder Beleuchtung 
diefer höchſt wichtigen Erſcheinung hat der Berfafler, mit 
ber umfaflendften Gelehrſamkeit ausgerüftet, auf firemg 
wiffenfchaftliche Weiſe nicht nur. die verfchiedenen Disci⸗ 
plinen der Naturkunde, fondern. auch die hifforifchen und 
philofophifchen Werke des Alterthums und felbft die biblis 
fhen Urkunden aufs forgfältigfte und fcharffinnigfte im 
Anſpruch genommen. So hat er einerfeits die Ana 
Iogien der Naturweſen auf niederen Stufen mit Angabe bes 
betreffenden naturgemäßen Entwicklungsgeſetzes aufgefucht, 
bei welcher Gelegenheit fehr treffliche biologifche Bemer- 
tungen namentlich über den thierifchen Inſtinct beiges 
bracht werben; doch Dürfen wir diefe Bemerkungen ber 


| 





bes efatifchen Heuſchens. 925 


Kürze halber mur mit einem legiase iuvabit bezeichnen. 
Andererfeits aber fam es bem Verf. befonders baranf 
an, den Menfchen (bad Ziel und ben Gipfel der gefamms 
ten Naturbildung) als Mikrokoſsmus und vorzüglich 
nach feinem geiftigen Weſen zu begreifen, wobei er neben 
Den genannten Doctrinen (Biologie, Phoſiologie 
und Kosmologie) eben die Öefhichte der Philo— 
fophie, die Pfychologie und Theologie als Hülfs⸗ 
mittel oder Quellen der Begründung und Erllärung bes 
nußte a). Hier ergibt fi dann leicht, Daß auch wieber 
dieſe gefammten Disciplinen manche Bereicherung durch 
die tiefeindringende und prägnante Eombinatioudgabe des 
Berfaffers erhalten mußten. Ans freilich darf es, wach 


unſerm Zwede und nach ber Tendenz. diefer Zeitfchrift, nur 


um nühere Bezeichnung defien zu thun ſeyn, was die in 
unſrer Ueberfchrift genannten Wiffenfchaften zur Beftäti« 
gung einzelner ihrer fchwierigen Lehren durch dieſes ges 
Iehrte und inhaltreiche Werk gewonnen haben möchten. Die 
erfien breit dort angegebenen Beziehungen (Pſychologie, 


Religionsphilofophie und Exegeſe) glanben wir bei einer _ 


allgemeinen, rubricirenden Ueberficht des Ges 
fammtinhalts berädfichtigen zu können, Dagegen werben 
wir den eingefireuten dogmatiſchen Elementen, um 
deren Auffaffung es und befonders zu thun ift, einen bes 
fondern zweiten Abfchnitt. dieſes Aufſatzes widmen 
müſſen. 


I. Allgemeine Angabe bes Inhalts. 


Diefed ganze reich ausgeſtattete Werk von nur maͤßi⸗ 
gem Umfange zerfält eigentlich — ohne daß dieß äußerlich 





a) Zwar ift in neuerer Zeit auch befonders bie Geologie zur 
Befeftigung des Schriftglaubene — namentlich in altteft. Hins 
fiht — angewandt worden, wie von Yudland, Steffens u. 
%., aber dazu fehlte unferm Verfaſſer bei feinem Ipeciellen 
Swede die nähere Veranlaſſung. 

Theol, Stud. Jahrg. 1889. 5 


526 Aeber NRatur und Merch 

gende arffalleud bezeichnet wicre in 2 Hanptabt hei⸗ 
lungen, davon die erſter e deu ſynthetiſch doctrinel⸗ 
les, die zweite den gefchishtlichen (ober vielmeht 
ethnographiſch geordneten) Stoff umfaßt, wiewohl 
auch ſchon in jener erſteren alle auf das Hauptthema be 
zogenen Reflexionen dis Verfaffers durch Geſchichte, 
d. h. durch Beiſpiele, aus dem jetzigen Leben und Der ans 
toptiſchen Erfahrung des Verfaſſers ſowohl, als auch aus 
der frühern Voͤlkerſitte und der Entwicklung der Menſchen⸗ 
welt, ‘gehörig begründet und erörtert ſind. 

A. Der doctrinelle Inhalt hat einige vorau⸗ 
ſtehende Kapitel, welche als einleitende Betrachtungen 
gelten: können; zuerſt wird nümlich gehandelt von den 
allgemeinen Naturträften, befonders vom Gefege 
der Schwere ober, der Maflenanziehung, welche in der 
Einheit oder Zufammengehärigfeit der geſammten 
Körperwelt begründet if, Sie wirkt, nad Anficht des 
Verfaſſers, auch da noch fort, wo fie durch die quali» 
tativen @igenfchaften der Körper aufgehoben fcheint. 

Bei diefen letztern, als mittelk der inponberabeln 
Stoffe oder der Naturpotenzen — Licht, Wärme, 
Slectricttät — eiftgetretenen Mobificationen biste 
(nach des Neferenten Erachten) das allgemeine 
Polaritätsgeſetz, weldes bei allen Naturerfcheinuns 
gen, auch in organifchen und felbft geiftigen Ber 
hältniffen, namentlich auch in dem magnetifchen Rapporke, 
fich kund gibt, noch mehr hervorgehoben werben follen, 
welches hier vielleicht nur darum unterblieben ift, weil 
der Berfaffer von feinem Standpunfte aus nur das befon- 
ders ind Auge faßt und näher entwidelt, was mit ben 
efftatifchen Erfcheinungen Cder activen Seite des 

Hellſehens) in Verbindung ſteht. Unleugbar aber find 
fchon der äfteften Weltanficht gemäß Anziehung und 
Abſtoßung (Sympathie und Antipathie, Liebe 
und Haß) die noch immer Alles beherrfchenden (und fos 


ded efltififen Hellſehens. 327 


nach fon urſprünglich auf den ätherifchen Urſtoff ein⸗ 
wirkenden) Grundkräfte der Nätur, ‚welche überall als 
Begenfäge, befreundete oder feindliche Pole, bald mit 
vereinigendem und belebendem Erfolge, bald mit trennen, 
der und auflöfender Wirkung hervortreten und fonach als 
bie ſchöpferiſche Urquelle, aus der zunächft die alls 
gemeinen Potenzen hervorgingen, Betrachtet werben 
müffen. — Hieran fchließt ſich im Buche eine Betrachtung 
der organifhen Kräfte, welche wohl mit Necht für 
identifch mit den fogenannten Naturpotenzena), 
erflärt werden, obgleich fie durch die Lebenskraft auf 
fo eigenthümliche Weife modiſicirt und potencirt find, daß 
fie nicht bloß hemifch, fondern felbft alchem iſch zu 
wirken vermögen. Was aber nun diefed Lebensprins 
cip felbft betrifft, wodurch die organifchen ‘Kräfte ober 
der negative Lebensftoff — ſey es als Aus⸗ und Eins 
frömung oder als Action und Meaction — in’ 
Thätigfeit gefett werbeit, fo hat ſich ver Verfäffer auf 
diefen fo fehmwierigen Gegenftand nicht weiter eingelaffen, 
dbgleic man nicht ungern'wenigften Die vornehmſten bios 
topifchen Theorien erwähnt und gewürdigt gefehen haben 
würde. 

Die eigentlidre Tebensfonne, dad pofitive Les 
bensyrincip it doch gewiß der Seift des Men: 
ſchen, welcher fi aus den allgemeinen. Naturpotenzen 
(der Weltfeele) mittelft der darin fchon enthaltenen lebens 
digen Keime oder Urbilder Ideen) den Rervens 


a) Man fieht leicht, daB bier befonders das Licht gemeint iſt, 
wie denn überhaupt der DVerfaffer alles Leben als Licht 
aufzufaflen geneigt iſt. Die Natur bes Lichts anbelangenb, bes 

. Hönftigt er fehe die neuere Undulationstheorie, doch 
muß Referent‘ befennen, daß ihm bie bekannte oFen’ che 
Theorie (von einer Spannung des Aethers) wenigftens hin⸗ 
ſichtlich des firablenden Sonnenlichts weit vorzuziehen zu feyn 

u Doch haec obiter. 
84 * 


ne 


528 Ueber Natur und Werth 


Aather oder Die Pſyche zum unmittelbaren Organ au⸗ 
bildet. Er felbft aber ift aus der wahren Fülle des Unſicht⸗ 
baren, aus der Tiefe des Schöpfermillend unnittelbar 
hervorgegangen. Dod; aud; jene Anbildung felbft kaun 
(wie gefagt) nur zu Folge des ideellen Urbildes gefchehen, 
welches (mit Soh. H. Fichte zu reden) in der Möglichkeit 
ſchon umfaßt hält, was in der Wirklichkeit erſt allmählich 
hervortritt. 

Ungemein wichtig jebod; für Pfochologie und zumächk 
für die Aufgabe des Berfaffers ift, was derfelbe über die 
Nervenkraft — Nervenäther oder Nervenpotenz — hier 


ſchon beibringt, indem er zum Voraus flatuirt, daß der 


Geift in gewiffen Zuftänden mittelft dieſes innern Aethers 
auch ohne Vermittlung der materiellen Organe (als 
welche jenem Aether nur ald Gefäß und ald normale 
Leiter dienen) auch in Die Ferne zu wirken vermöge. 
Diefe Wirkung gefchieht dann entweder von einen gewiß 
fen pſychiſchen Centro aus, welches ald Gentralfiun 
oder Gemeingefühl bezeichnet wird (wohin bei aw 
gemeflener Dispofition eine Zurüdzgiehung, Berti 
fung oder Goncentration der Seele flattfinden kauu), 
oder aber fie erfolgt in höheren Zuftänden der Efftafe 
vielmehr fo, daß fie mehr unmittelbar, von dem dens 
kenden Geifte felbft ihre Richtung erhält. — Wir 
burften dieß hier nicht unbemerkt laffen, weil es gleichfam 
bie Bafis der ganzen Erklärung des efftatifchen Hell 
ſehens ift. Nicht weniger merfwürbig ift, was hier über 
bieß unmittelbare Lebenswirken Cald eine fogenannte mas 
giſche Lebensweife), Deßgleichen über die Berührung 
und Wechſelwirkung verfchiedener Lebendfreife als mas 
gifhes Band (gewöhnlid nur magnetifher Raps 
port genannt), zwar kurz und gedrängt, aber body Mar 
und anfprechend beigebracht wird. 

Seite 33 ff. wird eine fpecielle Erwähnung des Les 
bensmagnetismus als Heilmittel eingefchaltet, 





des ekſtatiſchen Hellſehens. 529 


nebſt Angabe der bekannten Operationen und der erforder⸗ 
lichen Vorſichtsmaßregeln, inſofern dieſelben, obgleich hier 
"nicht eigentlich zur Sache gehörend, die Beachtung des 
Magnetifeurs erheifchen, um unheilbaren Uebeln und Sees 
Venftörungen möglichft auszuweichen. Ob nun gleich alle 
.diefe Bemerkungen einer vollftändigen Ausführung erman⸗ 
geln, fo find fie doch um fo bedeutender, weil fie auf die 
geprüfte Erfahrung Anderer und auf eigene Anfchauung 
fi lügen. — Bon diefen den Magnetismus Überhaupt 
betreffenden. Neflerionen geht der Berfaffer S. 50 zum 
Hauptgegenflande der ganzen Uinterfuchung, nämlidy 
zur Betrachtung bes Weſens der Efftafe über, welche 
als ein momentanes Heraustreten des Geifted oder viels' 


. mehr der Pſyche (des Innern Hetherleibes) aus Dem normas: 


len Zuftande der Wahrnehmung und Wirkung definirt 


. wird. Diefe Efftafe bewirkt dann gerade das Hellfehen 


oder das durch die Sinne niht mehr vermit— 
telte Innewerden der Seele, wie dieß vorzüglich freilich: 
im magnetifhen Schlafe ftattfindet, aber doch auch 
als eine manchen. Individuen eigenthümliche Natur» 
gabe zu betrachten ift, welche fchon durch ihre Beharrs 
Tichkeit von dem gewöhnlihden Somnambulismus 
fpont. unterfchieden. werden muß. Als ausgezeichnete 
Beifpiele werden hier die Jungfrau non Orleans, 
die heilige Hildegardis und die yortugtefffche 
Donna Pedegache ıc. ausführlich und mit Angabe ans 
thentifcher Quellen aufgeftellt. Sm befchränfteren Sinne iſt 
diefed Vermögen wegen der Durchfchauung dichter Körper 
ach den fogenannten Metall» und Mafferfühlern 
eigen, deren Talent der Verfaſſer nach forgfältiger Prüs 
fung der Quellen durchaus nicht für leeres Phantafiefpiel 
oder für Lug und Trug erachtet wiffen will. Jedoch 
räumt er ein, daß mitunter auch Betrug dabei flattgefuns 
den, erflärt auch überhaupt die bei dieſer Kunft oft bes 
nutzten Inſtrumente — fogenannte TWünfchelruthe ıc. — 


50 eher Natur und Werth 


bloß für Auß ere Huͤlfsmittel, die nur zur Fixirung ber Auf⸗ 
merkſamkeit dienen können, weil die ganze Sache lediglich 
auf imere geiſtige Naturanlage oder Dispoſition zur mehr⸗ 
benannten Ekſtaſe beruht. [Die Glaubwürdigkeit ſolcher 
Nachrichten vorausgeſetzt, dürfte doch auch hier das Po⸗ 
laritätsgeſetz nach Analogie des Mineralmagneten, bei Dem 
bev eine Poldem andern ald Ergänzung entgegenflrebt, nicht 
außer Acht gelaffen werben. Wo ein fülcher innerer Trieb 
gleich dem thierifchen Inſtinkt erwacht, da find die Zwi⸗ 
ſchenkörper gleichſam nicht vorhanden, Daß ſich andere 
Analogien bei den Wanderungen verfchiebener Thierarten, 
deßgleichen in den Organismen felbft. dur; Sympathien 
(die duch zwifchenliegende Glieder oder Körper nicht ums 
terbrochen werden) in Menge beibringen Iafien, braucht 
hier nur angedeutet, nicht aber: weiter ausgeführt zu wers 
den] — 

Um nun die höhere Ekſtaſe gehörig ins Licht zu ſtellen, 
werben (von Seite 63 an) die vornehmſten Erſcheinungen 
des eigentlichen magnetiſchen Hellſehens hervorgehoben. 
Dahin gehören beſonders die veränderte Empfins 
dung und bad Berfchloffenfeyn der Sinne für 
bie Außenwelt, fo daß ber Hellfehende dieſelbe nur 
durch ben Magnetifeur zu appercipiven ſcheint, was je 
Doch. (nach des Referenten Anficht) grade auf eine Pafs 
finität, mittelft des Rapports und der dadurch bewirk⸗ 


ten, Abhängigkeit, nicht aber durchaus auf-eine gefteigerte 
etftatifche Activität hindentet. Eben bieß gilt and 


" von bes auf den Magnetifeur und die von biefem im 
Rapport gefehten Perfonen beſchränkten Mitleis 
denſchaft, dem Errathen ihrer Gedanken u. 
m ders dürfte es fich verhalten mit der gefleigers 
ten @rinnerung, melde felbft längft vergeffene Dinge 
wieder ing: Harfe Bewußtſeyn bringt, deßgleichen mit dem 
Borausfehen.ensfernter gleichzeitiger anderer 
noch unbelanater Borfälle was fih etwa nad 


des elatifcen Oeltſehens. 531 


Art bed Fernfehend durch eine momentane Diaſtaſe ber 
Seele erllären ließe), befonders aber mit bem Divinas 
tionsnermögen, wo noch wirklich zukünftige zufallige 
und felbft van freier Entfchließung abhängende Ereignifie 
beftimmt vorandgefagt werben, fo daß and) eine Erfläs 
rung, die auf fchnelle Eombination des Gucceffiven hin⸗ 
weifet, oder auf Ueberfchauung des natwegemäßen Zus 
fammenhangs (gleichfam das Wahrnehmen des Baums im. 
Keime) nicht augreichen kann. Was der Verfafler zur Er« 
Härung biefer höchft merkwürdigen Phänomene hinzufebt, 
hat eim wichtiges pſychologiſches und auch eregetifches In⸗ 
tereſſe, Tann aber erſt weiter unten. von und. näher erwo⸗ 
gen werden. Wir gedenken hier zunächſt nur noch bed 
Seite122f. erwähnten höheren Bewußtſeyns, durch 
welchen Ramen nicht bloß ein erhähted Weltbewußta 
feyn, fondern auch eine Steigerung des Selbftbe- 
wußtfeyns und zugleich des Gottesbewußtſeyns 
angebentet werden foll, indem in dieſem Zuftande, bei.ers 


höhtem moralifchen Gefühle, ein inniger religiöfer Glaube 


und überhaupt eine Richtung anf göttliche Dinge fich Fund 
gibt, and dieß nicht felten bei Menſchen, denen ähnliche 


"Betrachtungen im Wachen ziemlich fremd waren — „Bei 


der größeren Abgezogenheit von der Außenwelt,” (ſagt 
der Berfafler) „entfteht begreiflic; eine größere Vertiefung 
der Seele in ihr eigenes Weſen. Der Geift hat aber nur 
ein völliged Bewußtſeyn feiner felbfi, indem er ſich als 
Wert und Bild des abfoluten Geiftes erkennt. In dieſem 
Bersußtjegn” (ſetzt er hinzu) „weiß ſich der Menfch ebenfo - 
abhängig von. Gott, ald geiftig- frei, alfo beftimmt und 


: fich: felbft beſtimmend, daher mit dem Gefühle der Unter⸗ 


werfung zugleich. das Der Berantwortlichkeit und. damit oft 
ber Reue und guter Entfchlüffe verbimbden ift.” — Sehr 


ſchön äußert fich derfelbe bald darauf (S. 127) über ben 


förperlichen, Veredelten und verflärten Aus⸗ 
druck dieſes erhöhten, an ein kunftiges Daſeyn ſchon au» 


52 Ueber Natur und Verth 


grenzenden und daſſelbe gleichfam anticipirenden Seelen⸗ 
zuftanded. Hier kommen Bemerkungen vor, welche für bie 
Pſychologie und auch für die biblifche Eregefe nicht ohne Bes 
bentung feyn möchten. So 3. B., baß jede geiflige Thätig⸗ 
keit fich eine äußere Form erzeugt, die ihr angemeffen und 
entfprechend ift, wie denn auch in der Mimi und in 
der Sprache befonders fich alle Serlenzuftände offen 
barem. „Das Wefen bes verflärten Ausdrucks“ Cheißt es 
wörtlich) „ift das Durchfcheinen des Geiftes durch ben 
- Leib und alfo dad Durchleudhtetwerden deſſelben 
vom lichten Geifte. Auf beſtimmte Weife kann ſich aber 
der Geift nur durch die Sprache offenbaren. Der Menſch 
verförpert feine Gedanken burh Klangfiguren, indem 
er feine-innern Bewegungen in äußere umwandelt, in bie 
nämlich des Elemented, in dem er auf Erden lebt. Die 
Sprade ſſt eine erweiterte Mimik. Der Menſch 
macht die Luft, die er athmet, zu feinem Organe, zu ſei⸗ 
nem Leibe, und dieſer Zuftleib macht fein Inneres vn 
nehmlicher, als der eigene, der Seele unmittelbar unter⸗ 

worfene Muskelleid. Wie daher in der Efftafe fich bie 
Züge verebeln, fo auch die Sprache; fie befommt mehr 
Ausdrud und Würde” u, f. w. 

Es bedarf wohl faum einer Erinnerung, daß fich Diefe 
Bemerkungen auch auf die Sprache hoher Begeifterung 
des neuteftamentlichen fogenannten Zungenredeng ans 
wenden laffen, obgleich der Verf. Diefe Anwendung zu mas 
hen unterläßt. Denn daß das Auffallende und Unvers 
Rändliche dabei weder in lauten Subeltönen, nod 
auch in leifem, unvernehmlihen Murmeln (neues 
rer Auffaffungsweife zu Folge), fondern in ber ekſtatiſch⸗ 
belebten, ans Poetifche angrenzenden, alfo mit Bildern 
aus ber Natur befeelten Sprachweiſe zu fuchen fey, if 
wenigfiend gewiß. — Unfer Berf. erwähnt bei anderer 
Gelegenheit, wie im magnetifchen Hellfeben oft, bei. ges 
ſteigerter Erinnerung, wieber in läugf verleruter 


des ekſtatiſchen Hellfehend. 333 
Sprache mit Kraft und Fertigkeit geredet werde, doch ſo, 
dag nur die erhöhte Anſchauungsweiſe (in welcher 
bie Natur Symbolik des Geiſtes wird) und die höchft 
merkwürdige Belebung des Gedächtniſſes, darin 
nichts gänzlich verloren geht, ſich kund gibt. Er erklaͤrt 
Diefe Sprache der Hellfehenden nur für die der efftatifchen 
Begeifterung, wie wir fie bei allen Sehern und fo auch 
bei den älteften Dichtern wiederfinden, welche urfprüngs 
lich auch Seher waren, indem die Dichtkunft felbft der Ek⸗ 
ftafe ihren Urfprung verdankt. Der Verf. geht dann (S.129), 
yon dem eigentlichen magnetifhen Hellfehen ſich abwen⸗ 
dend, zur Darftelung anderweitiger Modiftcationen bes 
efftatifchen Hellfehens über, davon die nähere Deutung 
der Pfychologie anheimfält. a) Das Hellfehen im 
Traume, davon mehrere intereffante DBeifpiele älterer 
uud neuerer Zeit angeführt werden; b) in Krankhei⸗ 
ten, namentlich der Ratalepfie und dem Wahnfinne; c) in 
der Nähe des Todes, wenn fon eine größere Loss 
windung oder Befreiung bed Geifted vom Körper nebft 
völligerer Entwidlung und Ausbildung des innern Aethers 
leibes eintritt; d) in der Contemplation (vergl. 
&. 171 f.), wenn die Seele und der Seelgeift, befonders 
in der Einſamkeit und Abgezogenheit von der Welt, durch 
Sammlung, Betradytung und Erhebung ein geſteigertes 
inneres Leben führt, fo daB fich dadurch, auch in einer 
fonft vom wachen Leben nicht grade durchaus verfchies 
denen Eriftenzform, ekftatifche Zuftände erzeugen, in bes 
nen Die Seele die Richtung nimmt, weldye ihr die geiftige 
Eigenthümlichkeit und ber innere Gehalt des Menfchen 
geben; e) endlich in der Prophetie, worin jedoch 
nicht bloß ein eftatifches Erheben des Geiftes auf eine 
höhere Stufe des Dafeyns, ftattfindet, fondern zugleich 
ein Empfangen eines höheren Lichtes. (Bergl. 
Pſ. 36, 10: Du durchleuchteſt meine Leuchte, bein 
Licht erleuchtet mein Licht), wobei jeboch allerbings 


4 


534 eher Ratur and Bertt ; 


auch die beſtiumte Form eines angemeſſenen Seelenzu⸗ 
ſtandes vorausgeſetzt wird. „Diefed Durchleuchtetwerden 
bes menſchlichen Geiſtes“ (bemerkt der Verf.) „findet fein 
wollftändiges Berftändnig allein in der urſprüuglichen Be⸗ 
. siehung des Geſchäpfs zum Schöpfer. Der geichaffene 
Geiſt exiſtirt üͤberhaupt nicht an und für ſich, fondern nur 
in Bezug zum nabfoluten Weſen. Je volllommmer bas 
Geſchoͤpf iſt, je inniger und zugleich freier ift Die Gemeir⸗ 
ſchaft zwiſchen ihm und dem Schöpfer, und je mehr iR 
alfe der Menſch das freie Organ, der Mitarbeiter Gottes.” 
B. In der zweiten, Abtheilung, welde im Werke 
ſelbſt nur als hHikorifcher Ueberblick bezeichnet wird, 
ergibt: fich überall das Beſtreben des Verfaſſers, die ver 
ſchiedenen Stufen des efftatifchen Hellſehens und deſſen 
durch die Individualität bedingten ſehr uugleichen Werth 
hervorzuheben. Er hatte an Dr. Ennemofer (Geſchichte 
des Magnetismus) einen. fehr wadern, jedoch niegend es 
wähnten, Vorgänger. Er geht hier mit Benußung ie 
älteften biblifchen, in diſchen und nerfifchen I 
kunden auf die rgefchichte der Menſchheit zuräd 
und ſpricht mit Joh. von Müller die Ueberzeugang 
ans, daß im Anfange die unmittelbaren Innern 
Anfhaunngen allgemeiner verbreitet und zugleich vom 
wachen. bewußten Leben weniger gefchieben waren. „dm 
folches. urfprüngliches der älteften Menfchheit einwoh- 
nendes Seelenvermögen”. (heißt ed ©. 193). „Eonnnte fi 
sur allmählich verlieren oder vielmehr in andere Form 
übergehen.” Die Seelenfräfte, welche im Berlaufe der 
Geſchichte fich, auf wannichfaltige Weife entfalten, auch 
weht einfeitig ausbilden, waren urfprünglidh mehr 
geeinet, doch fo, Daß die Contemplation ale wer, 
herrſchend zu betrachten ift, dagegen die Neflerion zus 
rücktrat. Die in ſolchem contemplativen Zuſtande Iebens 
den, Priefter, Scher, Gefeßgeber, fomit auch die 
Propheten Iſraels, wie in, veränderter Geſtalt Die 


bes einigen Gellfehene, 535 


Bramanen, die Magier und die Prieſter des 
Buddha werden als geiſtige Nachkommen jener Ur⸗ 


jeher betrachtet, die wie Enos den Namen Jehova's prea 


digten (1 Moſ. 4, 26) oder wie Henoch in einem gött⸗ 
lichen Leben wandelten. Auch wird es für annehmlich er⸗ 
klärt, daß in den früheren Epochen der Geſchichte, wo 
der Racenunterſchied noch ſtärker hervortrat, die Anlage 
zu einem intuitiven Erkennen erblich war, und dieß 
eine Urſache der Prieſterkaſten wurde. Dieſe Bemerkung 
wird nachher auch auf die Juſtitution der Orakel ange⸗ 


wandt, ald welche nicht Durch das zufällige Sehervermös 


gen einzelnes Perfonen, 3. B. der Pythia, zu erflären 
find, fondern überall mit den älteften Traditionen und mit 
dem uralten. Cultus der Völker gufammenhängen. — Am 
ausführlichen werden aus der Gefchichte der Sfraelis 
sen. Diejenigen Data, welche nach dem Lirtheile des Verf, 
auf ein ekſtatiſches Schauen hinweifen, mit großer Umſicht 
und. tiefblickendem Scharffinne- hervorgehoben, Alles zu 
dem Zwede, um darzuthun, wie verfchiedene Formen bes 
magifchen Wirfens. und. Erfennens durch die ganze Ges 
fehichte gehen, Es ift leicht zu erachten, daß hierbei mandhe 
als unbedeutende Nebenfachen betrachtete oder der My⸗ 
thik überwiefene Stellen in bucyfläblicher Bedeutung auf⸗ 


- gefaßt und in ein gang eigenthümliches Licht geitellt wer⸗ 


den. Auch verfteht es fich von felbft, daß hieraus die Eres 
gefe mandyen Gewinn ziehen fönne, wiewohl diefelbe auch 


‚ hier und da noch fchärfere Kritit ald Bedingung folcher Ans 


eignung in Anfprud; nehmen wird. Beifpielöweife nur: 
Folgendes, Schon Abraham thut, wie nach ihm die 


. andern Patriarchen; efftatifche Blicke in Die Fünftige Welt⸗ 


gefchichte. _Mofes hatte eine Reihe innerer Anſchaunn⸗ 
gen, deren Inhalt er ald Prophet und Gefekgeber feinem. 
Volke mittheilt. Seine Gefchichte, wie die des Sofun ' 
und Sammel, wird dann and dem angegebenen Geſichts⸗ 
punkte genauer erwogen, ohne daß wir jedoch dem Verf. 


N 


536 ueber Natur und Werth 


ins Detail folgen dürften, vielmehr diefe Auffaffungd weis 
fen der diblifchen Kritik überweifen müffen. Nur fey ed 
dem Ref. vergännt, and der Gefchichte des Elias und 
feines Nachfolgers Elifa eine Probe herauszuheben, 
2 Köonig. 11, 9 u. 10. | 
Die große Bitte nämlich des Elifa, daß ihm eis 
zweifältiges Theil an des Elias Geiſte werbe 
daß dein Geiſt bei mir fey zwiefältig), wir 
auf die Doppelte Gabe ded magifchen Schauen unb 
Wirkens bezogen, zu Folge der cabbaliftifchen Unterfcheis 
dung der beiden Arten der Propheten, Nabi roeh und Nabi 
poel. Auf andere Erflärungsweifen nimmt der Berf. (ſtets 
auf feinem Standpunkte beharrend) nie Rüdficht, fo aud 
bier nicht auf die fehr nahe Fliegende und gewöhnliche, bag 
bei diefer Zwiefältigfeit auf das Recht der erfigebornen 
Söhne hingedeutet werde, als welche gefeglich von dem 
Nachlaſſe des Vaters das Doppelte erben follten 
Mehr fchließt fich die Dentung des Verf. an eine ante 
weitige Erklärung an, nad welcher fich jene Gedop⸗ 
pelte theild auf das Fräftige, aber altteftament 
lihe Wirken, und theils auf Das helle Hinfhauen 
in das zufünftige Evangelifche beziehen fol, 
wodurch alfo Elifa die Lieblichkeit des neuen Bundes 
gleichfam anticipiren wollte. (Vergl. Dr. Krummacher, 
Elias, 3ter Bd. 5.109), Die Antwort des Elias: „fo du 
mich fehen wirft 2c.” ift dann nicht unpaffend und hat den 
Sinn, daß aus diefem Merkmale fidy ergeben werde, ob 
Elifa Anlage und Würbigkeit habe, auf diefen Standpuntt 
des Schauens erhoben zu werden, als‘ worüber Elias 
felbft nichtS entfcheiden Fonnte. — Uebrigens legte Elifa 
3. 3. in der Gefchichte der Auferwedung bes Kin 
des der Sunamitin von ber Gabe fowohl des mas 
gifchen Schauens, ald des magischen Wirkens eine Probe 
ab. Nach S. 208 (oder nach ber erften Aufl. 299) werben 
die zu dem Diener Gehaſi gefrrochenen Worte: „gärte 


* — — — — — — - — 
⸗⸗ — 


des ekſtatiſchen Hellſehens. 587 


deine Lenden, nimm meinen Stab-in deine Hand und gehe 
bin, fo dir Jemand begegnet, fo grüße ihm nicht u. ſ. f.,” 
fo erläutert: der von Elifa getragene Stab follte ber 
Eonductor feiner Geiftegmacht, gleichſam fein Amu⸗ 
let feyn; ferner aufhalten follte ſich fein Jünger nicht, 
um nicht mit Andern in ftörenden Rapport zu fommen. 
Ob nun gleich Gehaſi nach Vorfchrift ben Stab auf des 
Knaben Antlik legte, war dieß Doch ohne Erfolg, d. h. der 
bezweckte Rapport zwifchen bem Propheten und dem Kinde 

wurde baburch nicht vermittelt, weil Gehaſi und die Mut⸗ 
ter des Kindes, der ganzen Erzählung nach, eine Antis 


pathie gegen einander hatten, welche die Wirkfamteit 


hinderte, zu gefchweigen, daß dem Gehafl überhaupt Die 
rechte, dem Meifter ähnliche Geiſtesſtimmung gänzlich 
fehlte, wie er ihn denn auch nachher wegen feiner Habs 


ſucht beftrafte, da er nicht durch äußere geheime 


Kunde, fondern hellſehend die niedere That deffels 
ben inne geworden war. | 

Auf ähnliche Weife wird Seite 218f. die Gefchichte 
ber Sndier behandelt, beren Stammpäter der Tradis 
tion zufolge Seher waren, bei deren Rachfolgern, den 
Brahmanen, fi das der Urzeit angehörende Seher« 
vermögen fowohl durch erbliche Anlage, als durch geeig« 
nete befchauliche Lebensweife erhielt. Es folgt alsdann 
eine ſchätzbare Blumenlefe aus den tudifchen heiligen Schrif⸗ 
ten, benen der Verf. feine Auslegung beigefügt hat. Die 
indifchen Philofophen, bemerkt er, ohne Begriff der Ek⸗ 
ftafe und der verfchiedenen efftatifchen Zuftände verſtehen 
zu wollen, wäre unmöglich ; denn ihre Philofophie ift wes 
fentlih efftatifches Hellſehen. Wo diefes rein er⸗ 
fheint, ift e8 der Grund der Tiefe und Größe ihrer Welt 
anfchauung, wo aber getrübt, ebenfo der regellofen Phans 
tafle und bed unbegrenzten Aberglaubens, darin jedoch 
(grade wie im Wahnfinne) oft noch lichte Blicke burchs- 
fcheinen Tonnen. Daß übrigens ekftatifche Zuflände noch 


‘ 


- 


538 Ueber Natur und Werth 


immer bei den Indiern häufig vorkommen und alſo auch 
die Sehergabe bei ihnen noch jetzt einheimifch fey, Dariber 


werden inferefjante Beifpiele Cbefonderd ans J. Forbes, 
. oriental memories, London 1813) angeführt. — Der reid 


außsgeftattete Abfchnitt von den Griechen und Römerr 
(S. 231 f.) eröffitet allerdings ein fehr weites Feld, Daven 
jedoch von des Verf. Standpunkte aus iur eih ihm nahe 
kiegender Geſichtskreis überfehen wird, wiewohl auch hier 
und da auf entferntere Gegenftände fcharffichtige Blick 
geworfen werben. So wird beiläufig erwähnt, daß in 
griechifchen Schriftftellern auch magifhe Kräfte de 
Wirkens angedeutet werden; Pythagoras 3. 3. heilk 
Schmerzen durch vermeinte Bezauberung, Byrrhuß, 
König von Epirus, durch Bezauberung ꝛc., aber beſonders 
tft e8 doch die gedachte geiftige Richtung des Schauenß, bie 
ind Auge gefaßt wird. Der Religionsdphilofophie ange 

hörend, ift die allgemeine gewiß fehr richtige Bemerkung, 

daß im Ganzen ein genauer Zuſammenhäng höherer, deh. 

religiöfer Ideen Griechenlands mit dem Driente ſtattfand, 

doch fo, daß der menſchliche Geift dort auch eine nene, 
auf freiere Bewegung des Gedankens und 
auf Schönheitsfinn wohlthätig wirkende 
Entwidlungsform erreichte. Die in der Natur de 
menſchlichen Geiftes felbft gegründete doppelte ober gegen 
fätliche Thätigfeit Cded unbemußten Innern Schauens und 
des bewußten vermittelnden Erfenneng) tritt in der Ge 
ſchichte griechifcher Philofophie fehr Har hervor. Was die 
alten Weifen des Morgenlandes faft lediglih d ur ch Con⸗ 
templatioit zu gewinnen hofften, fuchten die Denker 
des Abendlandes auch durch Reflexion oder Specula⸗ 


tion zu.gewinnen; „in Neoplatoniemus”, heißt es 


©. 266, „wurbe der Verſüch gewagt, jene beiden Elemente, 
das Theofophifche und das Abftract-Philofophifche, mit 
einander zu verbinden nnd ſomit eine doppelte Aufgabe 
des menfchlichen Geiftes zu Löfen” Plato mid Ari ſt o⸗ 





— — — — — — — 


des ekſtatiſchen Balſcheuu. 320 


„teles waren die Vorbilder. dieſer beiden Geiſtesrichtun⸗ 


gen, welche auch noch in chriſtlichen Jahrhunderten als 
myftifche und ſcholaſtiſche Philoſophie, deßgleichen in 
gemiſchtern Formen als Dogmatismus und Sfeps 
ticismus Kriticismus), fo auch als Suprana⸗ 
turalismus und Rationalismus, jetzt aber als 
Idealismus und Realis mus ſich wiederholen. Bes 
treffen dieſe Bemerkungen an ſich nicht unbekannte Sachen, 
ſo wird es doch bei der eigenthümlichen Beleuchtung, die 
ſie im Werke erhalten, keinen Leſer gereuen, ſie näher er⸗ 
wogen zu haben. Sehr begreiflich aber iſt es, daß unſer Verf. 
zur Löſung ſeiner Aufgabe ſich beſonders zunächſt an Plato 
hält und darthut, wie dieſer den Sokrates aufgefaßt und 
mit eigenen Ideen bereichert hat. Auch liefert Plutarch’ 8 
Bert vom DBerfalle der Orakel und Eicero’s 
Schrift de divinatiorte ihm willfommenen Stoff, doch vers 
weilt er mit ganz befonderer Vorliebe bei ber neo plato⸗ 
nifhen Schule, welche die uralten Lehren indifcher 
Seher oft mit guter Kritif und im Gewande fcharfer Eritis 
ſcher Dialektik darftellt. „Das oberfte Princip diefer Philo⸗ 
ſophie ift, Daß das Abfolute and die ewigen Dinge durch 
ein Bermögen erkannt werden, welches höher als die Vers 
nunft in ihrem gewöhnlichen Zuftande, fo daß der menſch⸗ 
liche Geift in einer freieren Eriftengform (einem Heraus⸗ 
treten aus feiner gewohnten Dentbahn, Exaracıs) und, ſich 
anfchließend an das ewig Eine, in demſelben allein 
die Wahrheit zu erfermen vermag.” Plotin, Porphy⸗ 
rius und Jamblichus find Daher die hier am meiften 
benußten Gewährsmänner, bei der Ueberzeugung, daß 
erft die Erfcheinungen des efftatifchen Hellfehens zn einem 
ganz neuen Verftändniffe der gewiß fehr tiefen Coft mit den _ 


höchſten Wahrheiten der Offenbarung übereinſtimmenden) 


Principien diefer Denker führen, aber auch freilich zugleich 
zur Aufhellung und Würdigung ihrer fonft fchwer zu bes 
greifenden Irrthümer und Abwege. Der Berf. hegt bie 


— 


— 


540 .  Meher Ratur und Werth : 

Hoffnung, daß eine genaue Revifion ihrer Schriften wie 
ber Werke derjenigen Kirchenväter, welche ſich viele eos 
Ylatonifche Ideen aneigneten, eben Durch die Erfenntnig 
befagter Erfcheinungen manche biöher dunkle Anficht in der 
Gefchichte der Philofophie und Theologie ind Licht ſtellen 
werde Zwar waren Plotin felbft und feine numittel- 


baren Schüler noch Bertheidiger des. finfenden Heide 


thums, aber die Ideen des Ehriftenthumis hatten doch bes 
reits mächtig ihre Geifter ergriffen, baher die Grundfäge 
ihrer Philofophie den Principien des chriftlichen Glaubens 
oft wirklich. fo auffallend nahe find, daß die Annahnıe ei 
ner bloß Außerlichen Webereinftimmung nicht zureicht. Je⸗ 
doc; in ein Detail der Ausführung hier einzugehen, verbie⸗ 
tet der verftattete Raum; es fey daher nur noch bemerkt, 
daß in diefem Abfchnitte auch des Genius des Sofre 
tes, bes Tempelſchlafs und der griechifihen 
Orakel nähere Erwähnung gefchieht, fo daß auf eime 
Analogie mit magnetifchen Erfcheinungen Alled zurüdge 

führt wird. Die hier überall vorkommende unmittelbar 
Erfenntniß der Heilmittel leitet den Verf. auf Die Anficht, 
daß die Heilfunde felbft großentheils in der Sehergabe 
ihren Urfprung habe. Seite 300, — Hinfichtlich des for 
tratifhen Genius aber, fo wie des angeblichen Bers 
kehrs mancher Hellfehenden mit der Geiſter⸗ 
welt, drang fich Referenten der Wunfch-auf, daß die 
den Verfaſſer wohlbefannte plaftifhe Kraft ber ew 
höhten Phantafie und des Perfoniftcationdvermögend mehr 
hervorgehoben feyn möchte. — Der folgende Abfchnitt ift 
den nordifchen Völkern gewidmet, ©. 305. Bei ihr 
nen, wie urfprünglich bei allen Völkern, waren die Pries 
fier oder Druiden, nad ded älteren Plinius Bes 
sicht, zugleich Wahrfager und Aerzte. Die Weißagungen 
in der Edda, deren ältefter Theil von der urerſten Sehe⸗ 
rin, der Wole, Woluspa (Öeflcht der Wole) heißt, find auch 
nicht .unerwähnt geblieben. Was bie magifchen Kräfte 


bes ekſtatiſchen Hellſehens. 41 


des Wirkens und Erkennens bei den Galliern uud | 
Germanen. betrifft, fo find und die Namen mehrerer 
ihrer berühmten Seherinnen aufbewahrt, 3 B. die ber 
Beleda und Aurinia bei Tacitus. 

Im Grunde ift der ganze, noch jegt im. Volke vorhau⸗ 
dene Zauberglaube ein Ueberreſt des magiſchen Cultus 
unſerer vorchriſtlichen Väter, welcher aber fpäterhin dem 
Chriſtenthume polemifch entgegengefeßt und ald Teufels, 
werf betrachtet wurde, indem man die Priefter zu Za u⸗ 
berern und die Seher zu Heren machte. (DBergleihe 
Grimm's deutfche Miythologie.) Noch immer werden un- 
leugbare Erfcheinungen der natürlichen Magie und Efftafe, 
nebft manchen nicht unwirkfamen fompathetifchen Mitteln, 
mit offenbar heillofen Gebräuchen und aberglänbifchen 
Dingen in eine Claſſe geſetzt und ohne gehörige Unterfcheis 
dung als Werk der Finfternig verworfen. — Bei keinem 
neueren Volke des Nordens finden fich einzelne unverkenn⸗ 
bare Kormen des innern Schauens fo allgemein noch vor, 
als bei den Bergfchotten und den Bewohnern der 
Hebriden. Dieß unter dem Namen des zweiten Geſichts 
‘ (second sight) befannte Vermögen beſchränkt ſich freilich 
auf das räumliche Fernſehen und auf das Voraus⸗ 
fehben nahe bevorftehender Ereigniffe Zu ben 
im Werke angeführten gehörig beglaubigten Beifpielen 
werben fehr belehrende Bemerkungen gemacht, wohin 3. B. 
gehört (nah Martin's Befchreibung), daß, wenn ein fols 
cher ekftatifcher Seher mit Intention einen Andern berührt, 
diefer daſſelbe Geficht fieht und. alfo, mittelft ded Raps 
ports, der ſomnambule Zuftand fich zugleich contagiö® 
verbreitet. Auch ergeben andere Erfahrungen, daß das 
pfpchifche Leben der Menfchen auf einzelne Thierclaffen 
viel flärker und unmittelbarer einwirkt, ald man gewöhn⸗ 
lich glaubt: ein Umſtand, der vielleicht (nad) des Refe⸗ 
renten Anſicht) auf die bekannte Geſchichte von Bileam's 
Cheol. Stud. Jahrg. 1839. 3 


! 





si ‚Ueber Natur unb Verch 


Eſelin hätte Auwendung finder können. — Unter ben 
Lapyländern und Finnen haben ſich ganberifhe Be 
bräuche noch lange nach ihrer Belehrung, jeboch wit wies 
lerlei heidnifchem Aberglauben vermiſcht, bis auf unfere 
Zeiten trotz der firengfien Verbote erhalten. Bei den 
heidnifchen Vollern des nordböftlichen Rußland iſt 
ed ein eigener Priefterftand (die Schamanen), weicher Deu 
Seherdienſt ausubt. Unter den Thatſachen, welche der 
Verf. hier anführt, iſt die von Matiuſchkin (Wirau— 
gel's Reiſegefährte auf der Nordpolexpedition) deglau⸗ 
bigte die inkereſſanteſte (Seite 328f.). Der Zwed diefer vers 
fchiedenen Mittheilungen aus der Voͤlkergeſchichte ift (wie 
ſchon bemerkt). befonders ber, zu zeigen, wie fehr verfchie 
dene Formen, auch mitunter trübe und kraukf—⸗ 
hafte Seelenzuftände, fich in folchen efftatifchen Er⸗ 
feheinungen fund geben Fönnen. Sn einem Entrücktſeyn 
diefer Art erliegt alsdann die angeerbte oder fonft gemwen 

nene äußere Naturfreiheit felbit wieder einer anders 

fchredlicdyen Knechtſchaft, nämlich der der Sünde, uch 
ift ſomit zugleich Die größte innere oder geiftige Gebun den⸗ 
heit. „Nicht durch eine Erhebung der Seele, wie in ber 
reinen Ekſtaſe, fondern durch organifche und phyfifche Zers 
‚ fkörung, durch eine Art von Selbfimord wird in ſolchen 
Fällen die Seele von dem gewohnten Verkehre mit Dem 
Körper getrennt. S. 340, Es zeigt ſich namentlich bei 
folchen Schamanen das urfprüngliche Vermögen der Se 
hergade in feinem tieffhen Verfall oft als wilde und wahr 
ſinnaͤhnliche Begeifterung, die durch betäubende und be 
rauſchende Mittel hervorgerufen wird, baher mit dem wer, 
derblichſten Aberglauben in Verbindung tritt, fo daß zur 
Suͤhne der Götter nicht felten Menſchenopfer verlangt gu 
werben pflegen. Es ergibt fich hier der Schluß, daß je 
tiefer bie Individualität it moralifcher Hinficht finkt, deſto 
entftellter und durch Unlanterkeit verfinfterter müffen auch 


[1 


des eflatifhen Heuſchenss. 588 


die urfprünglich höheren Beifteöträfte werden, fo daß nur 
noch einzelne hellere Strahlen burchzubrechen vermoͤ⸗ 
gen. — — Das legte, vom Ehriftenthume hans 
delnde Kapitel mäflen wir, feiner fonftigen Wichtig, 
keit ohmerachtet, hier übergehen, weil ohnehin in ber nun 
folgenden Zufammenftellung der zerftremten theologiſchen 
Elemente des Werks gerade diefer Abſchnitt vorzügkich 
wird benngt werben müffen Wir bedienen uns bei Diefer 
Anffammlung einer bekannten Trichotomie, fo daß die 
Brei Worte Gott, Menſch, — unſere Rubri⸗ 
ken oder Stützpunkte ſind. 


u Sammlung der aufſchriſtliche Dogmatik 
beſondere Beziehung habenden zerfirew 
ten Elemente des Werks. 

Das hier zu unſerm Zwecke gehörende, im Werke ſelbſt 
nur gleichſam ſporadiſch Vorhandene muß zur nöthigen 
Ueberſicht oder zur Aufſtellung eines Geſammtbildes aus 
dem Zuſammenhange, worin es ſich befindet, herausgenom⸗ 
men werden, wobei unvermeidlich ſcheint, daß es etwas 
an der Klarheit, die es grade dort in ſeiner Verbindung 
Bat, verlieren werbe. Da aber die betreffenden Gegen⸗ 
ftände an fich unfern Lefern nicht unbekannt find, glauben 


‚ Wir, der nöthigen Kürze uneradhtet, Feine Unverſtändlich⸗ 


Seit beforgen zu dürfen, und werden daher umfere einzu⸗ 
flechtenden Erläuterungen nur befonderd auf Andeutungen 
jened ‚Zufammenhanges zu befcdjränfen haben. Hierbei 
wirb denn hoffentlich die bereits vorangeſchickte allgemeino⸗ 
Inhaltsangabe ihre Dienfte leiſten. 5 


A. Auf die Gotteslehre fid beziehende 
Reflexionen. 
a) Perſönliche Exiſtenz und Weſen Gottes. 
Da, dem Berfafler zufolge, alles Leben verfchieventlich. 
38* 


Ueber Natur und Werth 


mobificirte und potenzirte Wirkung bes Lihts if, 
das feinen Urquell in dee Gottheit hat, fo iſt dieſe 
felbft das rein ſte, feinkke, doch fubftantielle Licht. 
‚An eine bloß fombolifche Deutung diefer Bezeichnung 
fol nicht gedacht werden. Mit dem fchon erwähnten Auge 
ſpruche des Föniglichen Sehers Iſrael werben die Der 
Apoftel Johannes und Paulus in Vergleihung ge 
ſtellt, und zugleich auch verwandte Stellen aus den hei 
ligen Schriften der Indier und Parfen beigebradit. 
Unfer Berfaffer fommt mehrmals auf diefen Gegenſtand 
zurüf (S. 90. 92. 188. 197. 219 f.). Er vermwirft je 
Doch jede pantheiftifche Anfiht und bemerft, Daß 
das Geiſtige nicht bloß verflärte und gefleigerte ober 
hinaufgeläuterte Naturpotenz fey, fondern daß es 
zum Weſen des Geiftes gehöre, das Materielle, wer 
ches ale verfinftertes oder geronnenes Licht zu 
betrachten ift, zu burchdringen und zu beherrſchen, obue 
Daß ed dadurch in fich eine Veränderung erleide oder fe 
eigenes freies Selbft verliere. Homogenität ift nicht 
SIdentität. — So gern man nun zugibt, daß biefe 
Lichtwefenheit auf die Weltfeele, ald dad Organon 
und Senforium Gottes, auch ald nächte. Urfache 
des lebend der Welt (Weltlebendfraft) ihre Anwens 
dung finde, ebenfo auch auf die menſchliche Pſyche 
Cden früher fogenannten innern Yetherleib), weil auf dieſe 
der menfchliche Geiſt ohne eine gewiſſe Berwandtfchaft nicht 
fo harmonifc wirken fönnte, fo muß doch jene Behaups 
tung: „auch der Geiſt ift Licht und Gott felbft if 
Licht,” der angeblichen Schriftauctorität ungeachtet, nach 
des Ref. Ermefien, bildlich oder ſymboliſch aufges 
faßt werden. Daher heißt es 1 Tim. 6, 16, dag Gott im 
einem unzugänglihhen Lichte wohne; auch nadh 
der Lehre des A. Ts. ift bei Gott Licht, von ihm 
aus geht Glanz des Lichts, fein Obem und 
feine Glorie, wie feine Wohnung und fein 


S 


des efftatifchen Hellſehens. 545 


Kleid iſt Licht y. Was aber die weſentliche 
Subſtanz (ovole, auch eldog aurod, Joh. 5, 37) betrifft, 


. fo wird darüber nirgends etwas ausgefagt, fie wird 


on dem Urſtoffe des Lichts deutlich unterfchieden und wird 
für etwas erklärt, dag Niemand fehen fann, ohne 
dervon Bott ift (Joh. 6, 46). — Gott ift nicht da 8 
AI, die Subftanz, fondern er ift die abfolute, 
fubflantielle und ſelbſtbewußte Perfönlichkeit, 
welche nur als eine ſchöpferiſche, alfo in Beziehung 
auf ein Anderes (durch ihn ind Daſeyn gerufenes) ges 
dacht werden fan. Gott iſt das von diefem Anderen ſich 
indbividualifirende Princip, und fomit darf der Aus⸗ 
druck, daß er Licht (alſo Urftoff, Weltftoff) fey, 
nur ald ſymboliſch aufgefaßt werden. — Die willen 
fchaftlichen Gründe der Eriftenz des abfoluten Einen 


Geiſtes, welcher das AU durchdringt und beherrfcht, fes 


parat zu behandeln, war im Buche Feine Veranlaffung. 


"Sie wird überall als das Urgewiſſe betrachtet. Auch, Die 


göttlichen Eig enſchaften, inſofern ſie doch nur ver⸗ 


a) — Zeno und Plato unterſcheiden die Weltſeele von 
dem Weltgeiſte, nyeuovınov; erſterer hielt feine noozn Pan, 
Urmaterie, für die Hülle, darin das göttlidhe Urweſen 
wohne, Als diefer Grundſtoff der Welt galt aber auch ihm 
fo wie dem Heraklit von Ephefus und Andern das Licht 
oder der Aether, aus weldem die nachherigen Elemente 
(jedoch mittelft der eigentlihen dynamifhen Mädte, die 
auf die beiden obengenannten Srundkträfte rebucirt werben 
müffen) ſich ausgebildet haben ꝛc. — Bei ſolcher Uebereinftim- 
mung griehhifcher und orientalifcher Philofophie ift es wahrfcheins 
lich, daß dieſe urfprünglid altindifche und perſiſch⸗ch ad⸗ 
Däifche Lehre, vieleicht mittelft der jüdifchen Cabbala, zunächft 
auf Orpheus und durch diefen zu den andern occibentaliichen 
Weifen gelangt fey, infofern nicht biefe felbft den Zutritt zur 
urfprünglichen Lehrquelle fich zu verfchaffen wußten. — Daß 
aber diefer Weltengeift erſt in den fubjectiven Geiflern 
zum Selbftbewußtfegn gelange und mit dem Complexus berfelben 
identifch fey, Ik wohl nur neuer Pantheismus, 


546 Ueber Natur and Werth 


ſchiedene Auffaſſungsweiſen des einfachen göttlichen We⸗ 
ſens ausdrücken, kommen nicht beſonders in Betrachtung, 
ſondern dieſes wird überall als ens absohıtum, absolute 
bonum bezeichnet, aber als bewußte, lebendige, 
ſelbſtändige Perſönlichkeit aufgefaßt, wicht bloß 
als Idee und Begriff des ſpeculativen Denkens, auch 
nicht als Complex der geſammten, ihn erkennenden und 
im höchſten Selbſtbewußtſeyn fühlenden Weſen; vgl. S.220 
und 261. — Hierbei könnte es nun auffallend ſeyn, daß 
(auch ohne ſpecielle Erwägung der Einheit Gottes, der 
MWeltfhöpfungstheorie, des zu einem Öanzen ver 
einigenden Syſtem s der göttlichen Zwecke ⁊c. a) doch 
gerade die ſchwierige Trinitätlchre nicht unerwogen 
geblieben tft, wo man fragen dürfte, was dieſe mit dem 
Thema des ekſtatiſchen Hellfehens zu thun habe. Die Rebe 
it aber zunächfi von dem eigenthümlihen Zahlen 
maße der Heltfehenden, welches von dem gewöhnlichen 
‚fehr abweicht, dagegen dem nralten Zahlenfgfteme, be 

fonders dem ber fogenannten heiligen Zahlen &. T. 40), 
wo nicht durchaus adäquat, doch fehr analog iſt. Die 
Dreizahl findet überall in der Natur und im Menſchen⸗ 
leben ihren Ausdruck, bald als die beiden Gegenfäße ober 
Pole mit ihrer Imbifferenz, bald ald Theſe, 
Antithefe nnd Syntheſe, oder ad Gedanke, 
Wort und Sinn. Sie ift die Zahl der Grundfräfte 
der Natur, fo auch der Grundtöne des Accords, indem 
felbft die Detave nur Die potenzirte Wiederholung des ers 
fen Grundtons iſt ꝛc. Die Bierzahl dagegen tft bie 
Örundzahl der Elemente und der Himmelögegenden; fie 
if Die pythagoreifche Eins, welde nebft der drei, fie 
ben und zehn in den alten Raturfpfiemen-die Hauptrolle 


a) Die Welt wird zwar vom Verf, als Drganismus bargefiellt 
(wie weiter unten bemerkt werben wird), aber nur in Belebung - 
: auf menſchliche Entwidlung, Gingkieberung und Hortbauer. 


bes ekſtatiſchen Hellſehens. s47 


ſpielen (5 47 unb1.2.3,4 addirt ==10). Unſer Ver⸗ 
faſſer will einen Hauptgrund von ber Wichtigkeit der Sie⸗ 
benzab) auch iu der Erfcheinungswelt darin finden, daß 
fie ein Biertheil ber Zahl des Mondlaufs ift, bei weldher 
Gelegenheit davon gehandelt wird, wie biefelbe in der 
ganzen Entwicklungsgeſchichte ber organifirten Körper, fo 
and der Krankheiten, eine große Bedeutung habe. Will⸗ 

Hirlich and bloß ſubjectiv, behanptet er, könne dieſe Ein⸗ 
tbeilung der Zeit weber bei den Propheten, nodı bei ans 
bern Hellſehenden fepn, fondern fie müffe vielmehr als ein 
objectives Innewerden betrachtet werben, welches 
durch den Rhyuthmus, in dem jedes Zeitwefen lebt und fein 
Dafeyn offenbart, bedingt ſey; „Die Zeitgefebe eines Jegli⸗ 
chen find fp georbnet und beftimmt wie feine Raumgefebe, 
d. b. das Eigenthümliche eines jeden Wefens wird eben 
ſo ſehr durch feinen Zeitrhythmue, als durch feine Bil 


dungsform im Raume bedingt.” Die tiefere. Bedeu⸗ 


sung alſo auch der heiligen Zahlen Liegt darin, daß fie 
Spmbste von Verhältniffen find, bie ihren Grund in 
dem Leben der Natur, des Menfchen und vielleicht ber 
Menfchheit ſelbſt finden. Schon die fogenannten ftöchi o⸗ 
motriſchen Proportionen, nad) welchen ſich verfchiedene 
„Körper nur in ganz beftimmten Zahlenverhältniffen mit⸗ 
“einander verbinden, weifen unleugbar auf eine zwar ver⸗ 
borgene, aber doch im Hellfehen ertennbare objective Bes 
Desitung hin. Was nun aber, um hier wieder einzulens 
en, die Dreizahl und den höchſten und legten Grund 
ihrer hohen Bebentung betrifft, welche fie wie in ben Ges 
ſetzen bes Geiſtes, fo in den phyfiologifchen Syſtemen des 
Körpers, ja in. der gefammten Natur hat Cinfofern dies 
ſelbe das Abbild und Sinnbild des abfolnten Weſens if), 


ſo kiegt Diefer Grund darin, daß ber abfolute Geiſt felbit 


begriffemäßig nur ale ber dreieinige erkannt werben 
kann. Seiner Tendenz gemäß hat ber Verfafler nur auf 
analoge und propäbdentifche Weiſe die nasarphilofos 


348 Ueber Natur und Werth 


shifche oder bdiologiſch— pſychologiſche Seite 


des Dogma der Dreieinigkeit aufgefaßt, um Die innere 


Nothwendigkeit deſſelben darzuthun. Die höchſt einfade 
und zugleich praktiſche Seite der bibliſchen Darftellung 
läßt er unberückſichtigt, ebenfo die fosmologifh-phy 
fifche und bie rein fpeculative oder metaßhyfis 
fche. Auffallend war ed jedoch dem Referenten, Daß es 
dem BVerfaffer entgangen zu feyn fcheint, wiegerabe in der 
von ihm citirten Stelle ded Plotinus (Enn. VI.8, 1 
oder 9, 7) eine Ueberweltlichkeit Gottes (gerade wie im 
der Fosmologifhen Anſicht) mit der in der Welt 
wirkfamen Urfraft in Berbindimg gebradıt wird. Es heißt 
nämlich bafelöft: „fische nichts außer Gott (fo avrov), 
fondern in ihm Alles, was er nicht felbft ift ksco zuvıa 
T& usr evrov). Er ſelbſt iſt der Umfang (neolimpıs) aller 
Dinge und ihr Maß” (nach cabbaliftifcher Lehre Der 8a 
ter). Bald darauf wird ferner gefagt? „er ift Drimses 
(nämlich-in der Welt) oder in der Tiefe (dv Badsı, In m 
tro). Alles aber (nämlich v& ner «vrov) ift Der Adyos um 
der Berftand, mäv 6 Aoyog xal voög” a), Er fcheint alfo 
unter Aoyos, im Gegenfaße von aurog, nicht Theilung, 
fondern Offenbarung des einen und gleichen, entzweis 
ten, aber doch mwefentlich verbundenen Grundweſens vers 
ftanden zu haben, womit dann zugleich das Dritte in 
der Einheit Chier vodg genannt) ausgefprochen wird. (is 
war folglich fchon Anficht diefer Philofophie, daß bie 
Gottheit die Welt einfchließe, trage und durchdringe, kei⸗ 
nesweges aber mit ber Welt einerlei fey, oder ald aumma 
der einzelnen Dinge und wechfelnden Erfcheinungen zu bes 


- 0) Nach Plato gehen von der göttlichen Urkraft zwei Grunbfräfte 
aus, der göttliche Verſtand und ber göttliche Geiſt. Aus 
führliher handelt über dieſe Gegenfäge des abfoluten Geiſtes, 
fo wie über den Unterſchied von Weltfeele und Weligeiſt 
G. E. Schulze, dissertatio de cohaerentia mundi partium. Vi- 
‚temb; 1785. . 


4 


des ekſtatiſchen Hellſehens. 549 
trachten fey, ober auch erft innerhalb der denfenden We⸗ 
fen zur Eriftenz und zum Bewußtfeyn komme. Pantheis 
ftifch kann man biefe plotinifche Anficht nicht nennen, fo. 
wenig als bie andern zwar oben genannten, aber nicht weis 
ter befchriebenen Auffaffungsweifen. Dieß würden fie nur 
dann feyn, wenn etwa unter ber Zeugung ded Sohnes 
Die Entftehung der Welt oder unter Geift das erft in der 
Individualität der Menfchen erwachte Selbfibewußtfenn 
Gottes verftanden würde. Man muß folden Theoremen 
wenigftens den Werth zugeftehen, daß fie dep Einwurf eis 
ner völligen Undenkbarkeit bes befagten Dogma zur Ges 
nüge aus dem Wege räumen. 

b) Berhältniß Gottes zur Welt (als dena 
Endlichen überhaupt oder ald Kosmos, dem zur Einheit 
verbundenen Ganzen) und zur Natur Cald dem Ins 
begriffe von Kräften und Gefegen), woburd; die Formen 
und Erfcheinungen ber Welt ind Dafeyn treten. In erſte⸗ 
rer Hinficht weifen wir nur auf die wichtige Zeitfrage hin, 
ob die göttliche Immanenz. ald eine durchaus ſtets 
gleichförmige zu denken fey? Die Beantwortung geht fehr 
richtig dahin, daß zwar bie Einwirfung Gottes vermöge 
feines abfoluten Weſens ald permanent und unges 
theilt betrachtet werden müffe, daß alfo Gott in Hins 
ſicht feiner Macht überall gleich nahe und wirkfam 
fey, daß aber (ſelbſt allen Naturanalogien gemäß) diefe 
Smmanenz, ald wohlgefälliges Nahefeyn oder als 
‚ Snadenwirfung betradjtet, fich nad) der Homogenis 
tät, Reinheit und Würbdigfeit des menfchlichen Geiftes 
richte, deflen Beftimmung es fey, zum Organe bes abfoluten 
Geiftes ausgebildet zu werden 0). Wenn nun fo in ben 


a) Sole Analogien finden z. B. beim Lichte ftatt, welches 
nach der Qualität der Körper fehr ungleiche Anziehung erleidet; 
jeboch ift hier der wefentliche. Unterfchieb nicht zu überfehen, 
daß, was hier auf dynamifch= mechaniſche Weife vor ſich gebt, 
im nn Gebiete durch moraliſche Freiheit bedingt it, Gott 


1 





359 Usher Natur nah. Werth 


Gott zugewandten und nach feiner Semeinichaft fich fee 
. senden Geiftern eine größere Fülle des Göttlichen ange 
nommen wied, fo iſt dieß nicht bloß fubjectio zu ver 
fiehen, ale ob nur eine größere Aneignung oder Abſpiege⸗ 
AJung des überall Gleichen ftattfinde, davon jedes Indivi⸗ 
dunum nach den Geſetzen der Affimilation oder Jutus ſuscep- 
tion feinen Antheil herausnehme, foubern man darf aw 
nchmen, daß auch objectiv ober auf. active Weiſe 
sine größere Imtenfität diefer guädigen Wirkſamkeit zu 
denken ſey. Man darf alfo ſich dahin erflären, Daß dieſe 
Immanenz zwar in einer Hinficht ſich ſtets gleich, in an⸗ 
derer aber nadı Grad und Modiftcation fehr verfchieden 
ſey; baher kann die heilige Schrift Ichren: „nahet euch zu 
Bott, fo nahet er fich zu euch”; fo redet Paulus Epheſ. 
2, 13 von Solchen, bie weiland fern waren, nun aber 
nahegelommen find, beßgleichen vom Tempel Gottes iz 
der Menfchheit. Auch Chriftns ſelbſt Joh. 14, 23 redet 
som Kommen Gottes und Wohrungnehmen in den Sama. 
Wollte man. von dieſer Unterfcheidung abſtrahiren, fo 
würde das Abfolute zur bewußtlofen Kraft her 
abgewürdigt and die unleugbare Unwandelbars 
Seit Gottes mit Gefühlloſigkeit verwechfelt. 
Was nun aber das Iebendige Berhältniß des Göͤttli⸗ 
henundRatürlichenanbelangt, fo kommt hier befonders 
die Rehre vom coneursus in Betracht. Es iſt unleugber, baf 
ber Berfaffer überall (ohne daß es hier ber Citate bebarf) 
das endliche Seyn und die ihm zum Grunde liegende Ru 
surfraft zwar ald.ein wahres und permanent⸗wiek⸗ 
ſames, aber doch zugleich als ein ſchlechthin bes 
dingtes, d. h. von Gott georbueted und geleitetes be⸗ 
trachtet. Die Natur iſt Gottes Werk und Organ, aber 
fie ſteht in ununterbrochener. Abhängigkeit von ihm, fo 





aber, als bas allerfreiefte Weſen, wird überall durch feine eigeme 
Weisheit und feine mit Heiligkeit waltende Liebe beſtimmt. 








des: efftatiichen Hellſehens. 1 
Daß anchgewiß ber Berfaffer fich hier ein ähnliches Verhälts 
niß denkt zwifchen dem abfoluten Geiſte und der Weltfeele 
Cober der Natur im obigen Sinne), als folches zwifchen 
dem menfchlichen Geifte und feiner pfochifchen Naturpoteng 
ſtattfindet. Was alfo felbft die Wunderthaten Got» 
tes betrifft, fo erhellt zur Genüge, daß der Verfaffer fich 
Darunter Feine völlige Aufhebung ber Raturwirkung denke, 
aber fie doch ald Manifeftation göttlider Kraft 


und Gaufalität, in, mit und durch bie Natur bes: 
trachte, kurz als das Hervartreten einer höheren Natur 


oder einer und zwar unbefammten, aber doch ſchon beſtehen⸗ 
den Ordnung der Dinge. Das Wunder, heißt ed 3.2, 
Seite 348, iſt nur das Durchfcheinen eined höheren Das 
ſeyns in die niedere zeitliche, aber eben darum vergäng- 


liche/ Weltordnung; für biefe iſt es eine übernatürliche 


That, aber für eine höhere Ordnung, wo ber Geift bie 
Natur völlig beherrfcht, eine natürliche and normale. Das 
böchfte Wunder, heißt es am andern Orte, iſt eigentlich 
Die freiefte That, ed iſt der nicht mehr befchränfte 
Act bes freien Willens auf die gemöhnlichen Raturkräfte 


Endlich aber find doch alle Kräfte der Natur wie des Gets 


fied die That und das Product eines abfolnten freien 
Willens. Beſonders ſpricht fich der Berfafler hierüber 
ba aus, wo er von ber höhern Divinationsgabe 
und zugleich von dem Gegenfabe ber Zeit und ber 
Ewigkeit redet. Das zeitliche Erkennen ber Dinge bes 
zieht ſich auf ihre fucceffive Folge oder ihr Aus ein⸗ 
anderſeyn, dagegen das freie Schauen der Zukunft iſt 
bad Erkennen der Dinge in ihrer Xotalität oder 
ihrem Zugleihfenn. Dabei wird zugleich bemerkt, 
daß der Gegenſatz zwifchen Zeit und Ewigkeit doch noth⸗ 
wendig als ein irgendwie auszugleichender gedacht 
werden müſſe, weil ohne folche Ansgleichung ein Verhält⸗ 
niß gwifchen Gott. und der Welt und fomit auch die Schör 


pfnng und Erhaltung berfekben felbft nicht denkbar ſey. 


' 552 Ueber Natur und Werth 


Es Teibet wohl feinen Zweifel, daß auch unſere de 
rühmten neueren Kirchenhiftorifer und Dogmatiker, uk 
felbft Männer wie Reander, Giefeler, Hafe,Zm 
ften, Ullmann die geiftige Berwandtfchaft des Verfaſt 
gern anerkennen werben, wiewohl fie auf ganz anden 
Wege zu faft gleicher Auffaffungsweife dieſer wichtigen & 
genftände gefommen find. Man vergleiche über Die zulehtgs 
nannten Lehrpunkte 3.38. Dr. Tweften im 2. Bde. 1.AM 
feiner Borlefungen über die Dogmatik, beſonders ©. %i 
und 162 f.; deßgl. Dr. Ullmann in feinem Antwer 
{reiben au Dr. Strauß (theol. Stud. u. Krit. Jahrg. IM 
2. Heft ©. 340 f.). 


B. Zur Befätigung und Erläuterung be 
chriſtlichen Anthropologie Gehoörendes. 


Es liegt in der Natur bed Gegenſtandes, daß ii 
anthropologiſche Fach hier vorzüglich ausgeſtattet erſc 
aber eben dieſer Reichhaltigkeit wegen können wir dad 
halt nur als Skizze oder rubriciren d angeben und m 
fen uns dabei auf die hriftliche Anthropologie befhrän 
‚ten. a) Die menfhlide Natur überhaupt betrefend 
wird bemerft, daß die biblifche und indiſche Bezeichnung 
der Eintheilung ded Menfchen als Geift, Seele, tıil 
noch immer die zutreffendfte fey. 1) Der denfende Gaik al 
Abbild des göttlichen Geifted — lumen substantiale et ir 
tellectuale — ift immaterieller Natur, S. 51.18 
189. 219. 258. — Berborgene Anlagen des menfhlit 
Geiſtes, die fich zuweilen fchon in gewiffen Zuftänden, 8— 
der höheren Efftafe, auf Momente fund geben. Weberhanfl 
ift der menfchliche Geift reicher ausgeſtattet, als ma 
glaubt; auch der Befchränktefte und Dümmſte ift ein laten 
tes Genie (wobei man freilich wohl annehmen darf, deß 
bie Latenz oft fehr tief iſt). — Thatfachen, bie # 
weifen, daß bie Seele, der Seelgeift, einer innern Thi⸗ 
tigkeit fähig ſey, bie nicht zum Bewußtſeyn und aͤnßen 


— 


— — —E —— -—_ —— 


— — 2 


in 8 — un — 


— des etſtatiſchen Hellſehens. ss 


Ausdrude fommt Erfahrung an Geiſteskranken und 
ſelbſt an Wahnfinnigen, daß fie, wenn fie genaſen, auf 
einer höheren Stufe geifliger und ſittlicher Entwicklung 
fanden, als vor ihrer Krankheit. Analoge Anwendung 


Davon auf manche Zuflände des natürlichen Blöbfinne, fo 


Daß felbft diefe für eine geiftige innerliche Entwidlung nicht 
für ganz verloren zu erachten find. 2) die Pfyche CRicht« 


N 


leib, Nervenagend) ald das unmittelbare Organ des Geis 


ſtes, der nicht ohne alle Leiblichkeit eriftiren und wirken 
Tann. Unter ber gröberen, fichtbaren Hülle bes äußern 
Leibes verborgen, hat ber innere und wahre Leib ges 
wiffermaßen die Form des äußern, doch ift er beſonders 
als Licht im Gehirne concentrirt (Gemeinfinn, Gemeins 


gefühl), von da es ausftrahlen kann, wohin der Wille es 


fendet, um auch mit entfernten Gegenftänden einen Rapport 
38. vermitteln, ©. 98. 11T. 8). — Merfwürdige Ausfas 


gen Hellfehbender über das Augfirahlen bes Innern 


Lichts, ber ein Schauen im Lichte, burh die 


Seele, das noch unterfchieden tft von einem mehr unmit⸗ 
telbaren Schauen im Beifte, beßgleichen über bie fie 
and den Magnetifeur umgebenden Lichtfphären, über 
das Erkennen der Gedanfen Anderer mittelft eines ſchlaͤn⸗ 
gelnden Lichtes, dad von dem Hirne des Einen zu dem bes 
Andern überfirahlt, und über das gegenfeitige Durchdrins 
gen der Rervenfphären u. ſ. w. — Erflärung des 
zweiten Geſichts and der Erfcheinung bei Abs 
wefenden, befonderd in der Nähe des Todes. [Eine 


folhe Erklärung, wie fie der Verf. nach Art der fchon ers - 


a) Das Nähere hierüber findet fi unter dem Artikel vom Dur ch⸗ 
fhauen der Körper, Fernſehen und Fernwirken, 
deßgl. bei Angabe analoger Lihtausftrömung bei verſchie⸗ 
denen Thierclaſſen. — Auf der höchften Stufe des ekftatifchen 

Hellſehens foll aber (wie oben erwähnt ift) das ausftrahlende 
Rervenagens mehr unmittelbar vom⸗ en ſelbſt jean a 
tung empfangen, — 





384 Ueber Natur und Werth 


wähnten Diaſtaſe des pfychiſch⸗atheriſchen Inneres Leibes 
gibt und anf namhafte Sefchichten anwendet, dürfte viel⸗ 
leicht auch auf andere hier nicht erzählte Beifpiele ber Fer, 
wie z. B. das in Wieland’ SEuthanafia Mitgetheilte 
Anwendung leiden. — Indem bei Gelegenheit des prophe 
tiſchen Hellſehens, des von Mofls Antlitze auſsſtrahlende 
Lichtes gedacht wird, hätte vielleicht auch die Verklä 
rnng Chrifti auf ähnliche Weife aufgefaßt werben u% 
gen, eine Erklärung, die wenigftend der von einem vor 
außenher auffallenden Lichte oder von einer bloßen Tas 
fhung der Zünger weit vorzuzichn fegn dürfte] H Der 
fihtbare Leib ald das dem irdifchen Zeitleben ange 
mefjene Werkzeug des Seelgeifted, weldyes diefer fich für 
Die gegenwärtige Stufe des Daſeyns nach einen umſcht⸗ 
baren Urbilde Cplatonifche Idee) angebildet hat. Wiht 
dieſer fihtbare Körper, auch. nicht das Gehirn umud die 

Nervenſubſtanz, iſt das wahre und bleibende Organ ke⸗ 

Geiſtes, dieß iſt vielmehr der Nervenäther, Das 

viduelle Lebensprincip, dem jenes nur zum tempordea 

Gehäuſe dient. — Geſchichtliche Fälle, wo bald dieſe, 
bald jene Theile des Gehirns befchädigt waren oder gäuz⸗ 
Lich fehlten, ohne daß die Denkfraft des Geiftes-badurd 
unwirkfam geworben wäre, deßgleichen wo das in Krau⸗ 
heit faft ganz erlofchene Gedächtniß doch hinterher oder 
auch fchon während des franfen Zuftandes in Intervalle 
(wenigftens-im Schlafwachen) fi ale völlig vorkande 
erwiefen hat. Folgerung hieraus, daß die geiftige Wirk 
ſamkeit nicht von Außern Werkzeugen abhänge, indent eine 
Verleßung oder Zerfiörung derfelben nur die Aeußerung 
bed geiftigen Vermögens in die Welt der Erfcheinung auf 
heben, über dad Bermögen felbft aber nicht fchalten könne. 
b) Im Urzuftande des Menſchengeſchlechts 
fattfindende Harmonie ded Geiftes mit der äußern Natur. 
Das intuitive, unmittelbare, mit der Natur geeinte Wiſſen 
war das urfprüngliche, ba die Seelenfräfte erſt ſpuͤterhin 


_ 


des ekſtatiſchen Hellfehend. 858 
dc alaahlich mehr geſondert zeigten und das reſtectirende 


Erkennen mehr Raum gewann. Jedoch gab ſich jenes rein 


— - — — — — 


— — — — u zn — —— ee 


contemplative noch in allen Zeitaltern und unter verfchles 
Denen Himmelsftrichen, aber nur bei befondern Naturan⸗ 


: Jagen und vorzüglich im ekftatifchen Zuftande des Hellfes 


hens, fund. S. 119. 142. 185 f. 192. 344. — Auch das 
Bewußtfeyn der Abhängigkeit von Bott und 
Das desfreien Willens war urfprünglich ungetrennt 
und wurde erft durch Neflerion gefihieden 9. In den 
hödyften Dingen alfo befaßen die erften Menfchen durch 


jene engere Verbindung mit der Natur tiefes und heiles, 


Aber freilich nicht burchgebildetes, entwickeltes, umfaſſen⸗ 
Des und gelehrtes Wilfen, denn Cwie Joh. v. Müller 
fagt) in bürgerlichen Dingen und in Sachen ber Erfah⸗ 
rung waren fie Kinder. — Möglichkeit einer normalen 
Entwidlung der Menfchheit ohne Sünde, da letztere 
nicht in Gott oder der von ihr geordneten Sinnlichkeit, 
fondern im Mißbrauche der Freiheit ihren Grund: hat. 
c)Fortdauer individueller Perfönlihleitund. 
Herftellung oder &ntwidlung bes innern Licht» 
leibes. — Entwicklungsgeſetz der Welt ald Organidmus 
ober höheres Ganze, dazu auch der menfchliche Geift als 
Glied gehört und mit andern in lebendiger MWechfelwirs 
Bung flieht. Aus diefer Ordnung Sann er nicht hers 


9 Ueber die moraliſche Freiheit Handelt ber Verf. ſehr aus⸗ 
fuͤhrlich, wie er denn auch eine beſondere Schrift „von der 
Freiheit des Willens und dem Entwicklungsgeſetze des Menfchen” 
biefem Gegenftande gewidmet bat. In Beziehung auf den mags 
netifhen Rapport wird &. 119 und 122 bemerft, daß ber- 
felde durch einem fündhaften und unlauteren Einfluß freilich 
fehe ſcha den koͤnne, daß aber die moraliſche Freiheit dadurch 
nicht aufgeopfert werde. So lange der Menſch frei ſeyn 
will, iſt ex frei, er fey fomnambul ober wachend. Im 
höheren Bewußtſeyn gerabe findet fi ber Menſch ebenfo ab: 
a von Gott, als geiflig Be von Bott beſtimmt ſich ſelbſt 

mend 


D 1 


556... Weber Natur und MBerth. 


ans, aber wohl aus einem Syfteme berfelben in ein anderes 
gelangen. Der Menſch ift Bürger zweier Welten, hat 
Organe für beide, nur find die für die Fünftige noch ge 
bunden im finnlichen Leben. In diefem treten nur eins 
zelne Phaſen des ganzen Daſeyns hervor, nie Geſammt⸗ 
heit aller Seelenfräfte, nie der Menſch in feiner Tota—⸗ 
litaͤt. — Allgemeines Naturgefeß, daß jeder Tünftige Zu⸗ 
ſtand fchon im gegenwärtigen ald Keim präformirt enb 
halten ſey; der höhere Inhalt der nächſten Entwid 
Iungsftufe offenbart ſich fchon häufig auf der workers 
gehenden, wenn aud nur momentan und auf unvel 
tommene Weife; befonders tritt er in der Nähe der vel⸗ 
len Entwidlung oder des Uebergangs hervor. — Me 
mente der Art kommen vor in der höheren Ekſtaſe und ın 
der Nähe bes Todes, erflärbar durch innigere So nces 
tration der Seele und burh Antrcipation dei 
fünftigen Zuftandes (S. 58. 9. 99. 125. 140.19. 
— Lichtblicke des Menfchen als Organ des abfelke 
Geiſtes in der reinften Korm des Hellſehens, der Pru 
phetie, darin (wie fchon bemerkt ift) die Dinge nicht 
fowohl in ihrer Succeffion und Getrenntheit, als 
in ihrem Zufammenhange und Zugleichfeyn erkannt 
werden. — Unvollftändige und unvollendete 
Weiſe diefes Erfennens im Zeitleben, weil die Selbftäns 
digkeit nicht aufgehoben wird und die Grenzen, wo Gött 
liches und Menfchliches fich fcheiden, nicht beſtimmt ange 
geben werden Tönnen, die Möglichkeit des Irrthums alje 
nie gänzlich ceffirt. Auch im vollendeten Zuſtande iſt an 
Feine eigentlihe Allwiffenheit zu denken, indem ber 
gefchaffene Geift nur in der Totalität das klar erfennt, 
wohin gerade die volle Intention und Intuition feines 
Weſens gerichtet if. d) Einige andere ſich aw 
fhließende Bemerkungen intellectueller Art, als 
über Herftellung und Ausbildung des Lichtleibes Durch die 
Fähigkeit, neue homogene Elemente an ſich heranzuzies 


des efftatifchen Hellſehens. 587 


hen; über Srneuerung und Erhöhung ded Gedächtnif 
fe 8 beidem Untergange des jegigen materiellen Dr» 
gang; über Möglichkeit ded Wiederertennend ohne 
fichtbare Leiblichkeit; über gegenfeitige geiftige Mits 
theilung auch ohne Sprade, gleihfam durch ein Leſen 
der Gedanfen Anderer; über verfchieden modificirte geis 
tige Anlagen des Mannes und des Weibes 
(productive und receptive geiftige Richtung) und 
Bereinigung beider Richtungen in der höchſten geiftigen 
Entwicklung. — Auch praftifhe Winke werden eins 
geftreut über die große Wichtigkeit der rechten Benutung 
gegenwärtiger Lebenszeit, in welcher der Geift gerade in - 
der Sinnlichkeit eine Stüte ber Ausbildung hat, die ihm 
einft abgehen wird, und über die Wichtigkeit einer hier zu 
erftrebenden Herzensreinheit, welche. allein die Seligkeit 
des Geiftes durch Einigung mit Gott bedingt und zur 
Herrfhaft über die Natur befähigt. 

C. Das Ghriffenthbum und die Chriftolo 
gie betreffende Bemerkungen. Wir faffen diefe 
betreffenden, zwar nicht fo zahlreichen, aber doch nicht uns 
wichtigen Reflerionen bes Verfaſſers wieder aus ihrem 
organifchen Zufammenhange, worin fie aber für uns 


- fern Zweck nur ald disiecta membra erfcheinen, unter eins 


zelne gemeinfame Gefichtöpunfte zufammen. a) Borbes 
reitung aufdas Chriftenthum. Es ift fo wie der 
Wendepunkt der Individuen and der Schlußftein ber gans 
zen Weltgefchichte. Alle Naturreligionen haben Wahres 
und Treffliches in fich, aber das Wahre in jenen ift nur 
als Theil und Stufe der vollen Wahrheit, der abfoluten ° 
Religion, zu betrachten und das Irrige und Verderbliche 
jener nur ald Entftellung der UWeberrefte ber Urreligion 
und ihrer Weberlieferung zu betrachten. — Die Weifen 
der Vorzeit, in deren Gemüthe das wahrhaft Ewige und 
Göttliche Wurzel gefaßt, gelten ald Diener des ewigen 
Worts und ald Vorſchüler Ehrifti. — Es an eine merk⸗ 

Theol. Stud. Jahrg. 1889. 


358 ueber Natur u. Werth 


würdige Ahnung der vorchriſtlichen Welt von einer Fünf 
tigen Zeit, in ber der Menfchheit ein höheres Licht aufges 
ben würde, Betrifft Das gewöhnliche ekſtatiſche Hellſchen 
nur gemeiniglich unerhebliche und Hleinliche Dinge, fo 
bezogen ſich Dagegen alle Gefichte ber Propheten 
dem Wefentlichen nach auf Die Erfcheinung Chrifti zer 
Negeneration ber Menfchheit, Geite 166. 215. 
Naturanalogien ald Vorbereitungen und Andentuns 
gen des Zukünftigen. — Das Licht der Morgenröthe ik 
das Richt der Sonne, welches burch refractirende Wedien 
verfchiedene Kärbungen befommt. — Jeder neuen Epoche 
im Leben der Bölfer und der Menfchheit geht der Unter⸗ 
gang früherer Formen und Stufen voraus; wie Das po 
litiſche Daſeyn der eingelnen Bölfer, fo hatten ſich meiß 
‚auch die religiöfen Formen bei denfelben überlebt; nur auf 
der Schäbelftätte der alten Welt konnte die neue erbaut 
werden. — In jeder Religion gibt fi ein Gefühl dr 
Schwäde und Zerrättung, alfp eine Sehnſucht nad 
Hülfe und Erlöfung fund, Das ganze Opfer⸗ 
wefen gilt ald Ausdruck diefes Gefühle der Sündhaftig⸗ 
feit und Strafwürdigfeit und war zugleich Vorbild der 
sölligften Hingebung. Der: Eultus aller Bölfer bezieht 
ſich auf diefe Befreiung von allem Selbſtiſchen und Eubki 
chen auf fombolifche Weife, Das-ganze Schickſal Sfraeli 
- aber (namentlich der einzelnen ausgezeichneten Perfonn 
deffelben) ift Symbol der Menfchheit und feiner Erlöfung 
Hindentung und Wegbahnung für dad, was durch Ehri 


ftum "feine Vollendung erhielt (S. 186. 194. 198. 200. 


215). b) Der HDauptzwed bes Chriftenthumd 
wie jeber Religion ift Bereinigung mit Gott, abe 
in jenem trat erft Die abfolute und ewige Religion in ihre 
ganzen Kraft und völligen Reinheit in die Erfcheinung. 
Es begwedte einerfeits die Entwicklung und Bohlen 
dung aller noch vorhandenen guten Kräfte im Menfchen, 
und andererfeits (da die normale Entwicklung von 


— ze ı sm on — — = 
[2 
[4 


.-- m mm m. -- 0 53 — —— 


"des efftatifchen Hellſehens. 859 


einer urfpränglichen Reinheit zu höherer Vollendung ges 
flört war) bie Befreiung vom eingebrungenn Boͤ⸗ 
fen, ald Erlöfung. Diefe alfo fchließt die natürliche Ent 
widlung nicht aus, fondern ‚befördert und leitet fie durch 


. einzelne vermittelte Offenbarung, Dagegen die Mits 


theilung Gottes an die Menfchheit urfprünglich eine 
ununterbrochene und natürlide war. S. 341 f. 


©) In der Perfon Ehriftt fand eine Einigung mit der 
Gottheit auf eine abfolute Weife ftatt, indem bie seine, 


son jeder Sünde freie menſchliche Natur Chriſti von dem 
‚göttlichen Wefen, bem Aoyos, völlig durchdrungen un 
erfüllt war. Daher war er der Gottmenſch, bad abs 
folute Organ göttliher Macht und Intelligenz, das Cen⸗ 
trum der ihrer ‚ewigen Beflimmung entgegengeführten 
Menfhheit. — Mit diefer ihm eigenthümlichen Perſoͤnlich⸗ 
keit, welche ihn ald Abbild des Urbildes barftellt, hängt 
feine Wunderthätigleit aufs engfte zufammen.- Die 
Herrfchaft des Menfchen über bie Natur war urfprünglich 
in der innigeren Beziehung zur Gottheit begründet und 
ging nur durch das eingedrungene pofitive Boſe verloren, 
Je größer die Annäherung an die Gottheit, deſto mehr 
it der menfchliche Geift ald Organ ber Gottheit mit götts 
liher Macht und Einficht ausgerüftet zu werben geeignet, 
was bei Ehrifto auf die vollkommenſte Weife flattfand =). 
Er felbft verheißt, daß feine Jünger und Nachfolger dies 
felben Werke wie er thun werden. Alles, was von ihm, 
in dem die Fülle ber Gottheit wohnte, auf eine abfolnte 
Weiſe gilt, das gilt von feinen echten Jüngern auf eine 
‚relative und bedingte Gie find die Glieder des 
Leibed, er dad Haupt deſſelben. — „Der vollendete 


a) Will man biefe Auffoffung der Wunderthaͤtigkeit Chriſti eine 
bloß naturgemäße nennen, fo unterfceidet fie fich doch 
fehr von der gewöhnlich fogenannten natürlichen, bei wels 
cher die Fact a alterirt erfcheinen, ber Auslegung Gewalt 9% 
fhieht und die Wuͤrde Chriſti aefchmälert wird. 

86 + 


360° Weber Natur und Werth 


tünftige Zuſtand muß wohl ald Potenz eined reiten Ur- 
flandes gedacht werden, das Ende gleich dem Anfange, 
wie der entfaltete Organismus dem Keime’ Vergleiche 
©. 32. 57. 63. 92. 185. 189. 315. 

d) Endlide, durch Ehriftum herbeigeführte 
Bollendung der ganzen Menfchheit. 
Das Endziel des Individuums ift die ber 
geftellte und erhöhete Ebenbildlichkeit mit Gott, fo daß 
der gefchaffene Geift, unter Mitwirkung feiner Freiheit 
tllabil, durch freie Selbſtbeſtimmung ſich von Gott be⸗ 
ſtimmen laſſe. „Nur von, durch und in der abfoluten 
Perſonlichkeit hat die menfchliche ihre Wahrheit und findet 
ihre Vollendung,” Seite 123. Indem nun aber das Chris 
ftenthum fo den Menfchen als Individuum in feiner höd- 
ſten und ewigen Beziehung auffaßt, febt ed zugleich eine 
organifche Einheit des ganzen Geſchlechts, zw 
nächft freilich feiner reintegrirten Theile voraus. Es fichtale 
Glieder der chriftlichen Kirche Cdiefe fol aber ftete Dan 
und üllgemeine Ausbreitung erlangen) als einen Leh, 
einen Organismus, an. Alle Individuen der geſammten 
geheilten (geheiligten) Menfchheit find ergänzende Organe 
dieſes geiftigen Leibeg, der von einem Lebensprincipe bes 
heerfcht und burchdrungen wird (1 Kor.12,12.27). Durch 
diefe organifche Vereinigung ift auch das Räumlichges 
trennte fich nahe, fobald es in geiftiger Verwandtſchaft 
fteht, wie denn auch entferntere Glieder deſſelben Leibes 
ein enges fpmpathetifches Berhältniß verbinden fan. Der 
Geiſt aber, der eigentlich da ift, wo er mit Aller Sutention 
‚feines Weſens binftrebt und ſeyn unb wirken will, kann 
auch aus entfernten Weltkreiſen Homogenes an ſich zie⸗ 
hen. — Dieſe Idee einer geiſtigen Gemeinſchaft, die frei⸗ 
lich deſto enger ſich knüpft, je reiner und höher die geiſti⸗ 
gen Stufen ſind, auf denen die Menſchen ſtehen, ſpricht 
ſich nicht nur im Dogma von einer Gemeinſchaft 
der Heiligen aus, ſondern zeigt auch zugleich auf 


— — — — — — — — 


des ekſtatiſchen Hellſehens. 561 


einen hoͤheren Zuſtand der Menſchheit hin, in welchem 
dieſe als das Himmelreich oder als vollendeter Or⸗ 
ganismus ihr Ziel findet (Seite 121). Auch hierin jedoch 
wird ſtets ein Stufenunterſchied ſowohl der Ges 
meinſchaft, als der Seligkeit (nach dem Grade der ange⸗ 
eigneten Etlöſung und der mittels derſelben errungenen 
Reinheit) ſtattfinden, fo daß alſo Feine unterſchiedloſe 
Maſſe von Seligen, ohne ſittlichen Gegenſatz, angenom⸗ 
men werden darf. So gibt es ja in jedem Organismus 
edlere und unedlere Glieder, deren aber keines fehlen darf, 
weil ſie ein zuſammengehörendes Ganze bilden. Man 
darf daher wohl annehmen, daß auch im geiſtigen Gebiete 
eine restitutio in integrum ber ganzen Menſchheit, alfo 
andy eine anoxeraoracıs (im rechten Sinne des Worte) 
und eine enbliche Vernichtung des DB ofen in abstracto 
(ald materia peccans) zugegeben werben Tönne, wobei 
nichts Perfönliched verloren geht, wie denn auch nach ber 
Schrift durch Chriftum Alle den Bater erkennen follen, 


auf daß Gott fey Alles in Allem (1 Kor. 15, 28). 


ſEs ift zwar diefe Lehre in einem fehr gediegenen und treff- 
lichen Auffate des Lic. H. Erbkam (Stud. u, Krit. 
1838. 2. Heft: „über die Lehre von ber ewigen Verdamm⸗ 


ni” 2c.) beftritten worden, allein es ift body eine fehr 


mißliche Behauptung, daß durchaus bei Einzelnen ein 
ftetd fortgefeßted bewußtes Zurüdftoßen der vergebenden 
Gnade bleiben werde. Es ftimmt dieß nicht mit Der eiges 
nen Angabe. deö Verfaffers, daß des Organismus wegen 
feine gänzliche Gefchiedenheit fammtlicher Glieder eintres 
ten tönne, wie ed denn auch Seite 437 eingeräumt wird, 
baß jedes einzelne Glied auf irgend eine Weiſe an beiden 
erlöfenden Thätigfeiten Gottes (der Strafe und der Vers 
gebung) Theil haben werde, Seite 455 aber wird felbft 
diefen Verdammten eine geduldige Nefignation und eine 
Ergebung in ben heiligen Willen Gottes zugefchrieben, bei 
gänzlicher Tilgung aller Sünde in ihnen. Da nun die 





362 uUeber Natur und Werth 


Strafe in dad Bewußtſeyn der Schuld gefebt wird, sm 
der Keiner gänzlich frei ift, fo ift auch nicht abzufehen (fe 
bald nur das angenommene bewußte Zurädfofa 
der Gnade ceffirt), warum nicht auch Die Bergebum, 
mithin die Mittheilang eines neuen befeligenben Reben, 
princips zuleßt als allgemein wirkfam ſtatuirt werke 
follte, ohne daß Das ganze perſönliche Daſen 
(wie, der Berfaffer fich ausdrückt) im Gefühle dei 
‚Schmerzes anfzugehen braucht. Es können jaud 
völlig vernarbte Wunden wieder etwas Lebendgeik in fü 
‚aufnehmen und einen gewiſſen, obgleich geringeren Thi— 
der Kraft von fich ausgehen laffen. Jedoch darf vily 
genügen, was derfelbe Seite 460 hinzufegt, daß an 
das ganze Gefchlecht der Dienfchen auf woltfändie 
Weife von der Kraft der Erlöſung durchdrungen im 
werbe. Alsdann wird aber auch nach des Referenten 
bänfen) in der Wahrheit, obgleich unter fehr bei 
werthen Modificationen, eine aͤroxardorcoig zur st 
zo vom Berfaffer eingeräuns. Vielleicht kann br $ 
land ber ‚Vollendung, wie Herr €. ihn ſich deult, m 
der Schilderung vom tanfendjährigen Neide (M 
29. Kap. der Offenbarung) ale bes vollendeten Gott 
reiche auf Erden, verglichen werden, dagegen bad lehlt 
Endgericht oder die völlige Apokataſtaſis, als hinw 
liſche Vollendung, in ber kein Berbammted mt 
ſeyn wird, erft unter dem himmliſchen Gernfalt 
Kap. 21 u. 22 dargeſtellt wird. Es ergibt fich leicht, I) 
alsdann dad Kap. 21, 8 Genannte nur als bad Oh 

* abstracto, das gänzliche Bertilgung leidet, gelten föme)- 

%* %* 


; 8 
Blicken wir noch einmal auf dag Ganze zurüch, fo ergo 
ben ſich die immaterielle Natur des Geiſtes, die m 
valifche Freiheit und bie individuelle Kortbatt! 
auf einer höheren Stufe des Daſeyns ald vorherrſchende 
Grundgedanken. Damit flehen dann andere H 


des eRatifihen Hellſehenss. 668 
im enger Verbindung, 3. B. daß ber Geiſt (als dad Weſen) 


. einige und nur die Materie treime; daß der Menſch als gei⸗ 


fliged Weſen auf der höchſten Stufe der Gefchöpfe auf 


Erden fiehe, und daß das Hellfehen wieder ald.der Höhes 


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punkt aller Erfcheinungen des Menfchenlebend und felbft 
als Anticipation eines künftigen Daſeyns betrachtet wer, 
den könne, wobei gleichfam ein Hineinleuchten des Ewi⸗ 
gen in’ das Zeitliche flattfinde. Zwar kann ed, wie bei 
Verf. fo ausführlich dargethan, andy efftatifches Hellſehen 
niederer Art nnd ohne moralifchen Werth geben, doch 
iſt andy dieſes nicht unwichtig zur Beftätigung jener hühe⸗ 


zen Stufe, auf welcher ſich der Menſch wieder zur Ebeu⸗ 


bildlichkeit mit Gott erhebt oder vielmehr Durch die Er⸗ 
Köfung erhoben wird. — Kerner iſt es ein überall hervor⸗ 
dringender Hauptgebante, daß die uns umgebende Natur 
ſich jetzt in einem durch eigene Geſetze gebundenen, aber 
doch einer Höheren und freieren Natur unterworfenen Zu⸗ 
ſtande befinde, auch ſelbſt beſtimmt ſey, dem Geiſte bei def 
ſen erlangter voller Freiheit wieder dienſtbar zu werden, 
fo daß der Menſch (mie der Verf. ſich auszudräden liebt) 
von Gott beſtimmt ſich ſelbſt beſtimme, und 
von Gott beherrſcht die Natur beherrſche. — 

Die religiöſe Weltanſicht des Verfaſſers iſt al⸗ 
kerdings eine gläubige oder ſupernaturale und, wenn 
man wid, eine myftifche (im edelften Sinne des Worte, 
alfo frei von allen phantaftifcyen Elementen ıc.) 31 nen⸗ 
nen, aber fie iſt doch zugleich eine durchaus wiffen- 
fhaftlihe, vom Standpunkte der Naturoffenbarung 
aus aufgefaßte. Der Berfaffer hebt den hohen Werth der - 
Eontemplatton hervor und verfennt durchaus auch ben 


der Reflerion nicht, welche er jederzeit, wiewohl mit Bes 


fheidenheit, angewendet willen will, daher man ihm eine 
falſche Myſtik durchaus nicht zur Laft legen kann. — 

Wollte man fagen, daß durch die Annahme eines ekſtati⸗ 
ſchen Hellſehens der — und Apoſtel das Anſehen 


564 Ueber Natur und Werth 


der Schriftoffenbarung leide, fo darf man doch nicht vers 
kennen, daß unter ben neuteſtamentlichen Berfaffern eis 
Johannes und Paulus ganz unleugbar befondere Ans 
lagen zu dieſem Zuftande hatten, wiewohl allerdings die 
Abfaſſung ihrer Schriften, fo wie auch der bed N. Ts., 


dem Zuftande der Neflerion zugeichrieben werden müſ⸗ 


ſen. — Es gibt eine Durch die Geiftestaufe ges 
bildete (reflectirende) Blaubensanalogie, 
melche für und ald höchfte Norm immer bei Beurtheilung 
ſelbſt des gefchriebenen DOffenbarungsworts gelten muß, 
aber andy die gehörig geordnete (wiffenfhaftlidh res 
flecfirenbe). Kritif überhaupt hat zur Beurtheilung 
und Feitftelung gefchichtlicher Facta einen hohen Werth, 
Da auch die edelften und heiligiten. Menfchen ftets ihre 
Individualität behalten, bleiben fie auch immer ber Gefahr 
ausgeſetzt, bag in ihre Darftellung unmwefentlichere Dinge, 
mitunter auch Menfchliches und Unlauteres mit eindringe. 
Die Vorſehung läßt dieß zu, damit und durch gelingende 
Wahrnehnung, Sonderung und Ausfcheidung deffelben, 
als der Schale vom Kerue, das Bleibende und Wefentliche 
defto theurer werde. — Wollte man ferner behaupten, 
baß die Anleitung unferd Verfaſſers in ein Revier führe, 
barin und unheimlich zu Muthe wird, ober auf eine Höhe, 
wo Jeicht der Schwindel fich einftellt oder das freie Ath⸗ 
men erfchwert wird, fo darf man doch auch nicht übers 
fehen, daß er alle feine transcendenten Lehrſätze auf felbit- 
gemachte oder geprüfte Erfahrung gründe und burch Er⸗ 
eigniffe des wirklichen Lebens, fo wie durch mannichfache 
Raturanalogien veranſchauliche. — Der Einwurf freis 
Ich, daß doch auch viel Hypothetiſches mit unter- 
laufe (namentlich die Annahme eined innern ätherifchen 
Lichtleibed., Nervenagens, LKichtfphären, ausftrömender, 
den geiftigen Rapport bewirkender Lichtflrahlen), jo muß 
‚ man dieß freilich zugeben, Doch darf man nicht verfennen, 
daß diefe Hypotheſen auf wirkliche Facta fich fügen, eine 


des ekſtatiſchen · Hellſehens. 565 


große Menge ſchwieriger Erfcheinungen umfaffen, nichte 

- in fi Widerfprechendes enthalten, alfo einen fo hohen 
Grab der Wahrfcheinlichleit erlangen, daß fie wohl nie 
Durch befriedigendere verdrängt werben möchten. 

. Bei der Wichtigkeit, die Referent dieſem Werke auch 
für Theologen beilegen zu müffen glaubt, barf er Ents 
fhuldigung der Lefer für feine zwar ausführliche, aber 
Doch noch ‚nicht erfchöpfende recenfirende Abhandlung hof- 
fen. Es ift fchon von Andern gefagt, daß der thieris 
fhe Magnetismus, — der freilid, fo alt ift, ald Die 
Welt, — doch erſt mit feinen höheren Erfcheinungen des 
Hellfehend durch gelehrte Benutzung und Anwendung ber 
jegt fo weit vorgefchrittenen Disciplinen der Naturkunde 
in das rechte Kicht geftellt fey. Auch hat man bereits wies 
derholt darauf hingewiefen, daß in der Hand der götts 
lichen Vorſehung gerade diefer Magnetismus ein Mittel 
babe werben müflen, um den vorherrfchenden ungläubigen 
und materiellen Anfichten Grenzen zu feßen. — Da das 
Chriftenthum fich felbft als Heildanftalt für Geiftigfranfe 
ausgibt und in feinem Stifter Chrifto den verehrt, der als 
bad wahrhafte Licht in die Welt gekommen ift und 
als das wahre Leben erfchienen, durch welches alle 
Geiſtigtodten wieder lebendig werden follen, fo muß auch 
der wiſſenſchaftlich⸗ärztliche Standpunkt, auf dem 
ſich unfer Berfaffer (der überall mit durd; Erfahrung ger 
übten und Durch Offenbarung erleuchteten Augen in die 
Natur und in die Menfchenwelt hineinblidt) befindet, ale 
ein fehr fchäßbarer gelten 8). Doch völlig abgefehen vom 
thierifchen Magnetismus und der auf ihn bezüglichen fehr 
weitläuftigen Litteratur, iſt bod} gewiß neben dem Studium 


a) Diefe Erhebung auf einen folhen Standpunkt würde ihm aber 
fiher nicht gelungen feyn, wenn er nit aud mit dem In⸗ 
halte der Schriftoffenbarung fi) fo innig vertraut gemacht 
und dadurch feine Naturanfichten geläutert und zur Auffaflung 
des Höheren geweiht haͤtte. J 


566 Ueber Natur u. Werth d. elſtatiſchen Hellſehens. 


"der Phyſik und Pſychologie (dem ſich ohnehin Kei⸗ 
ner, der auf wiſſenſchaftliche Bildung Anſpruch machen 
will, entziehen kann) das der Biologie und Phyſio⸗ 
logie jungen Theologen fehr zu empfehlen, bie in ber 
gegenwärtigen, dem Anfcheine nach ihrer Entfcheidung ſich 
nähernden Krifis- biefe glüdliche Entfcheidung (d. h. die 
Verſöhnung der Miraculofttät und Rationalität, des Dogs 
matismus und Kriticömnd, des Realismus und Idea⸗ 
lismus, kurz des Glaubens und Wiſſens) gern mit beför⸗ 
dern möchten. Für ſehr ſchwierig aber kann das Studium 
der beiden letztgenannten Zweige der Naturkunde nicht 
erachtet werden, indem ſchon die betreffenden Meiſterwerke 
. eined Trevirannus und Burdach dazu ſehr ſchätzbare 
Anleitung geben. 
Dr. th. ©. Meyer, 
Superint. zu Garftebt. 


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ueberſicht 
der Litteratur der praktiſchen Theologie in ben Jahren 
1832, 1833, 1834, 1835, 1836. 
| Von 
Dr. 89 Sad. 


(Bgl. Studien ꝛc. 1832, 2, Heft.) 
——— 


A. Schriften uͤber die Principien und das Ganze. 


1. Ueber Begriffund Eintheilung der prak—⸗ 

tiſchen Theologie. Bon Alexander Schwei⸗ 
zer, a. Prof. in Zürich. Leipzig. Weidmann'ſche 
Buchhandlung. 1836. S. 60. 

Dieſe kleine Schrift hat ſchon dadurch ein wirkliches 
Verdienſt, daß ſie den bisher ſo vernachläſſigten Begriff 
der praktiſchen Theologie als eine wiſſenſchaftliche Einheit 
zu faſſen und demnach zu gliedern bemüht iſt; und da 
dieß mit gewecktem Sinne für das Daſeyn der Kirche und 
die Bedeutung der Wiſſenſchaft geſchieht, ſo wird ſie an⸗ 
regend wirken koͤnnen, geſetzt auch, man koͤnnte ſich durch 

die wichtigſten Aufſtellungen des Verfaſſers nicht befriedigt 
fühlen. 

Nach einer kurzen Erwähnung deſſen, was in den 
neueren theologiſchen Encyklopädien über die praktiſche 
Theologie vorkommt, nimmt der Verf. mit Recht ausführ⸗ 
liche Rückſicht auf das treffliche Progamm von Nitzſch Ob- 
servationes ad théologlam practicam felicius excolendam, 





570 . Weberficht: 


1831 (vgl. Studien a. a. O.). Wenn er hier die oberſte Ein- 


theilung der kirchlichen Thätigfeiten in actiones fundamen- 


tales und actiones conservatrices eben ald eine oberfte aus 


ſechs Gründen verwirft, fo muß Ref. ihm befondere wegen 


Des eriten dieſer Gründe beiftimmen, daß nämlich Stiften 


- und Erhalten in der kirchlichen Thätigfeit unmöglich fo 


* 


auseinandergehalten werden könne, daß danach alle hier 
erforderlichen Disciplinen ſich ſondern laſſen; denn eben 
weil die Kirche ein lebendiges Ganzes iſt, welches ſeinem 
inneren Weſen nach gar nicht erſt geſtiftet werden kann, 
ſcheint es auch, daß, abgeſehen von dem Gründen neuer 


Gemeinen, alle kirchliche Thätigkeiten in gleichem Maße 


erhaltend und gründend zugleich ſeyen, wie man doch ge⸗ 
wiß der homiletiſchen Thätigkeit das Gründende nicht in 


einem. höheren Maße als das Glaubenerhaltende wird 


beilegen; Die firchenregimentliche Thätigkeit, durch weldhe 
neue Gemeinen gegründet werden, aber doch nicht vorzugs⸗ 
weife, wie der Verf. des Programme, unter bie erhalten 
den Thätigfeiten wird rechnen können. — Der Berf. vers 
fircht nun den Begriff der praktifchen Theologie aus dem 
der Theologie abzuleiten, aber hier fcheint er zu irren, 
wenn er bie übrigen Theile der Theologie der praftiichen 
fo gegenüberftellt, daß in jenen das Wiffen über den Glau⸗ 
ben, in diefen ber Glaube über das Wilfen bominire 
(S. 19 u. 20). Denn wie follte der Berf. dieß wohl feſt⸗ 
halten, was er in ber That nur mit wenigen Zeilen bins 
ftelt? Oder follte in einer bogmatifchen Unterfuchung, in 
welcher die Lehre von der Verfühnung mit der ganzen Ins 
tenfität des religiöfen Bewußtſeyns, durch weiches fie ihr 


‚ren Beftreitungen gegenüber allein auch begrifflid) feſtge⸗ 
halten werden kann, dargeſtellt wird, das Wiſſen über bie 


Slanbensintereffen mehr dominiren, als in einer homile⸗ 
tifhen Behandlung ber wahren Geſetze der Dispofition ? 
Wo wirkliche, organifch verbundene Theologie if, iſt die⸗ 
ſes Ueberwiegen von Glauben oder Willen nach Discipli⸗ 














der Litteratur der praktiſchen Theologie 371 


nen immer nur Schein, und es iſt nicht einzufehen, warum 
der Berf. den Begriff des Praftifchen nicht, nadı Schleiers 
macher's vortrefflihem Vorgange, einfach aus dem von 
innen aus auf Selbftverfländigung der Kirche ausgehenden 
Weſen der Theologie abgeleitet hat, woraus ſich, da die 
Kirche auch auf fich felbft handeln muß, von felbft eine 
praktiſche Theologie ergibt, Die weder weniger wiſſenſchaft⸗ 
lich, noch mehr religiös feyn kann, als irgend ein anderer 
Zweig der Theologie. — Mit Recht beftreitet der Verf. 
zwar eine Gründung der praftifchen Theologie auf das 
felbft noch nicht begriffene Dafeyn des geiftlichen Standes, 
für den allein fie gleichfam da fey, während fie für den 
Theologen als folchen da ift; allein er ſcheint Doch. zu übers 
fehen, daß die gefammte Theologie nur auf dem Dafeyn 
von wiffenfchaftlichsreligiöfen Bedürfniffen innerhalb der 
Kirche beruht, und daß der hieraus entiiehende Gegenfaß 
wenigftend nahe verwandt ift mit dem zwifchen Klerus 
und Laien. | 

Eigen verführt unfer Berf. in der Anwendung. Des - 
von Nitzſch aufgeftellten. Gegenfaßes von clerus naturalig 
und clerus positivus, und wir möchten zweifeln, daß er 
darin feinen Vorgänger wahrhaft fortgefeßt habe. Denn 
theils nimmt er clerus naturalis ald gleichbedeutend mit 
dem allgemeinen Priefterthum aller Gläubigen, allein dies 
ſes kann gar nicht Klerus feyn, da es feinen Audg gegen» 
‚ Über bat, theild fpricht er aus, Daß der elerus naturalia 
noch vorfittlich, noch gar nicht ethifirt fey, Wie dieß 
Lebte aber von den Gliedern der chriftlichen Kirche, die 
durch den Glauben an den Heiland und die Gemeinfchaft 
- Des Geiſtes auf die höchfte ethifche Stufe erhoben worden 
find, behauptet werden koͤnne, und wie die mehr gefeßliche 
Sonftituirung bed Klerus, deren Werth auch wir fehr 
hoch ſchätzen, erfi ein Ethifchmachen bes Klerus ſeyn könne, 
ja wie dadurch erſt die Kirche fich zur Kirche erheben ſolle 
(5. 36), bekennt Ref. nicht einzufehen, ba vielmehr das 





572 | ueberſicht 


Daſeyn der Kirche es iſt, worauf ſich die Einſetzung von 
Aemtern durch Darreichung von Geiſtesgaben vom Herru 
der Kirche (Eph. 4, 11) zum Nutzen und Frommen der⸗ 
ſelben bezieht. Die Nichtberückſichtigung dieſer göttlichen 
Stiftung von Aemtern vermittelſt Gaben und Kräfte von 
Seiten des Verf. wirkt überhaupt nachtheilig auf ſeine 
ganze Behandlung des Begriffs des Klerus und gibt den 
Schein, als wenn das Daſeyn von dieſem lediglich ein 
Werk der Kirche ſey. 

In der Haupteintheilung der praktifchen Theologie 
kommt der Berf. ſehr mit Recht, wie Ref. überzeugt ift, 
auf die fchleiermacherifche Eintheilung in Lehre vom Kir: 
chenregiment und vom Kircheudienfte zurüd, allein er faßt 
den Gegenſatz nit, wie Schleiermacder, als den Der 
Wirkſamkeit auf dad Ganze der Kirche und den der Wirk: 
famteit auf das räumlich fichfbare Zufammenfeyn der Kirs 
che in der Gemeine, fondern nur ald den der conftituirens 
den und Gouftitution erhaltenden und ben der nach der Con⸗ 
ftitution verfahrenden Thätigkeit der Kirche und des Kle⸗ 
rud. Def. ift überzeugt, daß dieß Feine Verbeſſerung, fons 
dern eine Abſchwächung des fchleiermacherifchen Theilungss 
princips ift; denn einestheild wird das Kirchenregiment 
dadurch irrig ald eine bloß conftituirende oder Conſtitu⸗ 
tion erhaltende Thätigfeit angefehen, da doch noch ein 
großes Gebiet anderer und andersartiger Thätigkeiten 
‚ hierhin gehört (man denfe nur an den Linterfchied der 
Lehre de constituenda und der de administranda republica 
in der fo verwandten Politif), andererfeits entbehrt man 
für den Begriff des FKirchendienfted gerade das ihm ganz 
charafteriftifche Merkmal der Beziehung auf die Gemeine. 
Dieß holt der Berf. zwar S. 37 nach, aber.zu fpät, da 
er den Begriff des Kirchendienens ſchon vorher beftimmt 
hat. Es fcheint, ald wenn die Bemerkung Schleiermas 
cher's in der Encyflopädie $. 274, meldhe der Verf. S.28 
anführt, ihn gegen dad Theilungsprincip, als ein von 


N 








der Litteratur der praktiſchen Theologie. 573 


eqi. ſelbſt gering geachtetes, mißtrauiſch gemacht habe. 
Allerdings wird hier von Schl. behauptet, dieſe Einthei⸗ 
lung ſey nicht nothwendig die höchſte, allein der Ref. 
möchte es wohl unternehmen, Schl. gegen Schl. zu vers 
theibigen, befonders da der Selbfteinwurf Schleiermacher’s 
mit feiner Neigung zufammenhängt, die Theorie durch bie 
Nachweiſung ihres Zufammenhanges mit der Praxis zu 
rechtfertigen. Sonft wenn man auf $. 271 zurüdfieht und 
die fi immer wieder erweifende Macht des Gegenfates 
zwifchen der Kirche, die bie Bemeinfchaft der Öläubigen, 
"und der Gemeine, die die locale, Kirchendienft verlangenbe 
@rfcheinung der Kirche ift, beachtet, kann man jenen Ges 
genſatz nicht anders, als als den die oberfie Eintheilung 
Darreichenden anfehen. Die Befchränfung durd; Nationals 
kirchen, Landesfirchen und Parteien ift eigentlich immer 
nur die Befchränfung und Modiftcation durch das wirk⸗ 
liche Leben; die Theorie bleibt, genau genommen, diefelbe, 
fey fie nachher anzuwenden auf das Kirchenwefen einer 
Hanfeftadt oder auf das einer Nationalfirche, und der Blick 
auf das wirkliche volle Ganze ber chriftlichen Kirche, auf 
das Zufammenhalten der nicht räumlich zufammentreten, 
den Gemeinen, ift in beiden Fällen wefentlich. 

Die Theorie des Kirchenregiments organifirt der Vers 
faffer gar nicht weiter, und ed ift dieß um fo auffallender, 
da fein ganzes, in Bezug auf die Form ber praftifchen 
Theologie encyklopädiſches Verfahren Feinen Grund zu 
diefer Bevorzugung der Lehre vom Kirchendienfte entdeden 
läßt; wir können den Grund nur in der ſchon berührten . 
Enge des Begriffs vom Kirchenregimente fuchen, welches 
ihm faft nur auf Die Sonftituirung des Klerus hinausläuft. 

Sorgfältig behandelt Herr Schweizer die Gliederung 
ber Theorie des Kirchendienftes; aber obwohl es hier an 
einzelnen treffenden Bemerkungen nicht fehlt, fo hat er es 
in der That dem Lefer ſchwer gemacht, fich in dem eigents 
lichen Principe feiner Organifation en Denn 

Theol. Stud. Jahrg. 1839. 








ST: ieherfih 


&: 86 eerregt er offenber Die Erwartung, das Game Tolle 
ia deu nehr freien und den mehr gebundenen Kirchenbdienß 
eingetheilt werben, nud ©. 38 Icheint er auch deu-gangen 
erſten Theil, bie Thätigkeit des Klerilerd im Euktus, als 
das am wmeiften Gebundene anzufehen. Iu der Ausfühs 
zung hält er aber dieſes Princip nicht feft und fagt ade 
er zur Rechtfertigung dieſes Berfahrens (S. 45): „Ans 
Rückicht auf die Verhältniſſe im Leben der Kirche feibk 
orbueten wir den durch Alles gehenden Gegeufab des mehr 
Freien und des michr Gebundenen, welcher fonft die Ober⸗ 
«iitheilung ſeyn künnte, Den Theilungegründen (wohl rich, 
tiger: dem Theilungsgrunde) unter, bie fi im Begriffe 
der Gemeine und ihres Lebens finden.” Go entficht ibm 
folgendes Schema: 1) Wirkung auf die Gemeine ald To⸗ 
salität, Thätigleit im Cultus, Liturgik und Homiletik; 
2) Wirkung auf die Gemeine ale and Einzelnen beſtehend: 

Paſtoraltheologie, pfarramtliche und freie; 3) WBirkmg 

auf die Gemeine, infoferu dad Sterben der Mitglieder 

durch das Gewinnen neuer erfeht werden muß: Oalieuul, 

d. 6. Katechetik und Theorie des Miſſonsweſens. Achten 

wir zuerſt auf dieſe Dreitheiligkeit für ſich, fo können wir 

nicht zugeben, daß fie aus dem Begriffe Der Gemeine und 

ihres Lebens genommen ſey. Denn die klerikaliſche Wirs 
tung anf Die Einzelnen muß immer: in Bezug auf bad 
Ganze der Gemeine gefchehen, fie kann alfo ihr Eigen» 

thumliches micht Haben in der Eutgegenfebung gegen Diefe 
Wirkung auf das Ganze Im Cultus wird auch nic auf 
die Gemeine ale ein Ganges fohlechthin gewirkt, ſondern 
als ein getteöbienftlich verſammeltes Ganzes, und ſchon 
barand ergibt ich, daß bie Eintheilung Schleiermacher's, 
Wirkung auf bie Gemeine im Cultus und Wirkung auf die 
Gemeine im chriftlichen Zufammenleben, fo dag in beiden 
Gebieten Die Gemeine ald ein Ganzes fefigehalten wird, 

eine Iebexbigere Wahrheit in fich trägt. Was das Dritte 

betrifft, die Ergänzung ber zum Theil abfiesbenben Ges 








ber Litteratur bez praktiſchen Theologe. 875 


meine durch neue Mitglieder, fo möchte dirß Durch die 
allgemein menſchlichen Raturverhältniffe der Kirche Ge⸗ 
geben, was bei der Heranbübung ber Jugend zum GStaata⸗ 
Dienfte durch Die Schule gerade eben fo Kattfinber, wohl 
sicht mit Recht als einen Haupttheil begründend auzu⸗ 
fehen ſeyn, um fo weniger, da das im allgemeinſten Ginwe 
Seelſorgeriſche und Pädagogifche, was Die Katechetik in 
ſich trägt, hierdurch nicht berücdfichtigt it, und das Miſ⸗ 
RKousweſen gar nicht auf Erfetung der Geſtorbenen, ſon⸗ 
Sern auf Hinüberbringung unerleuchteter Menſchenſeelen 


um Seil in Chriſtus ausgeht. Fragen wir num, ob bie 


untergenrbuete Theilung nad) dem mehr Gebunderen ah 
dem mehr Freien in dem ſechs Unterabtheilumgen von Ges 
bundenfes zum Freieſten ſtufenweiſe fortfchreite Gvie dieß 
Doah ſeyn müßte, wenn es einen Merth haben ſellte, daß 
Leim Gebundenſten angsfaugen ift uud bei dem Freieſten 
endet wird), fo mwüflen wir auch bieß in Abrede Bellen. 


Deum ift die Homiletik gebundener, als die Katechetik? Iſt 


Sie ſogenannte pforrauttlide Serdforge freier, als Die Li⸗ 
aurgik? Bir Dürfen alfe ſagen, auch dieſes umtergemebs 
arte Theiluugsprincip ſey vam Berfaffer mehr kunſtlich ſei⸗ 

en drei Haupttheilen angepaßt, als wahrhaft in der Na⸗ 
sur der Sache gefunden worden. Denn wenns «Bd im Guys 


„sub allesdings feine Wichtigkeit hat (und es iſt ſchön, daß 


der Berfafler den Werth des kirchlich feſtgeſtellten Litur⸗ 
giſcher beſtimmt ins Auge faßt), fo iſt es in den Kbrigen 
Thatigkeitan des Kirchen dienſtes nur fo ſchwach vorhauder, 
Daß es zu einer Glieberung bar Diecipliver ganz ubrauch⸗ 
Sar iſt. 

Ebven dieß wird ſich moch mehr herausſtellen, vs 
wir. das Necht giweier der vom Verf. anfgefiellien Dis ci⸗ 
plinen, ald beſondere zu gelten, etwas näher prüfen: noͤm⸗ 
lich. pfasramtliche Seelſorge und Theorie des Miſſlons⸗ 
aweiend. Unter der erſten verfteht der Verfaſſer daB aut⸗ 
Hide Wirkes des Klexilers hei Ehefcheidumgenroceflen, An⸗ 

37 * 


576 ö Ueberſicht 

zeigen bei Behörden u. |. w., ober bie „Thätigkeiten, Die 
‚der Kleriler als Beamteter (des Staate) verrichtet.” 
Aber hierin liegt fchon, wie es fcheint, die Nichtberechti⸗ 
gung, hieraus eine eigene Disciplin zu machen. Diefe Ber 
rührungen des Kirchenbeamten fallen auch ganz unter bie 
Principien des Kirchenrechtes , oder, wenn bieß nicht der 
Kal ift, find fie von fo untergeotbneter Art, baß es eben 
fo unmöglich als unnöthig ift, fie zum Gegenftande einer 
eigenen Disciplin in der Lehre vom Kirchendienfte zu mas 
chen. Bedeutender werden die meiften diefer Berhältniffe 
ale Anordnungen oder Beziehungen des Kirchenregiments, 
deßhalb kann ihre theologifche Behandlung aber auch nur 
in der Lehre von dieſem vorkommen. 

Was die Theorie des Miffionswefens ‚betrifft (ber 
Verf. fchlägt den Namen Apoftolif vor), fo ift e8 zwar 
eine ſehr ſchöne, urfprünglid Schleiermachern angehör 
rende Idee, dafielbe auch zum Gegenftande einer theolos 
giſchen Disciplin zu machen; allein würbe- diefe Theorie 

in den Kirchendienft gehören? Der Verf. fagt zwar: „es 
wird dem Kleriter irgendwie aufgetragen, eine Gemeine 
in Hinficht auf die Theilnahme am Miffionswefen zu eis 
ten,” aber diefe Leitung follte Gegenſtand einer Theorie 
des Miſſionsweſens werden müſſen? Iſt nicht Leitung 
ber Gemeine in dieſer Beziehung und Leitung des Mifs 
ſionsweſens felbft fehr verfchieden? Diefe letztere ift nie 
Sache des einzelnen Klerikers, der den Kirchendienft an 
einer Gemeine ausübt, als folchen, fondern fie it Sache 
ber Kirche ald des Eomplerus aller oder mehrerer Gemei⸗ 
nen, Sache der Nationalfirche, der Landeskirche, der Kir- 
henpartei, und bieß führt fehr beſtimmt darauf, daß Die 
Theorie Davon auch ald Theil der Lehre vom Kirchenregis 
mente zu behandeln fey. Denn was der Einzelne, der felbft 
Miffionar ift, alfo noch nicht Paſtor einer Gemeine, dabei 
zu thun hat, was faun ed anders fein, als Predigt des 
Evangeliums und Beifpiel der Liebe? und infofern jene 








der Litteratur ber praktiſchen Theologie. 577 


nicht in ber Homiletik fchon mit behandelt ſeyn kann, dul⸗ 
bet fie gar Feine Theorie. Wenn der Verf. aber S. 50 die 
Wirkung des Klerifers auf Gonvertenden oder Eonvers 
titen hierher ziehen will, fo fällt er gewiß in ein fremdes 
Gebiet, denn fobald diefe fi im Kreife des yfarramtlichen - 
Wirkens rein und. von felbft barbietet, fällt fie entweder 
in das Gebiet der Katechetik oder das der Geelforge, ift 
aber von der Wirkung auf Heiden vermittelft der hierzu 
gehörigen Anftalten mwefentlich werfchieden. Die Behand» 
Iung der fi nad) dem Chriftenthume fehnenden Inden 
könnte allenfalls als in der Mitte ftehend zwifchen der 
Thätigkeit bes Miſſionars und des Katecheten angefehen 
werben. Allein wenigſtens in Betreff der unter und woh⸗ 
nenden ffraelitifchen Individnen nimmt fie durch die Ders 
hältniffe und felbft durch die altteftanentliche Vorbildung 
weit überwiegend den Charakter einer Fatechetifchen Thäs 
tigfeit an. 

Haben wir uns nun genöthigt gefehen, zwei Discis 
ylinen als Theile der Lehre vom Kirchendienfte, die der 


Verf. aufftellt, nicht zuzulaffen,. fo möchten wir uns eis | 


ner von ihm gar geringichäßig abgewiefenen in gewiffem 
Maße annehmen. Wenigftend ift es nicht fo ficher, ale 
der Verf. ©. 21 vorauszufegen ſcheint, daß jede Theorie 
davon, wie der Kleriker fein Verhalten in feinen allge 
meinen Lebensverhältniffen in Uebereinſtimmung mit feis 
nem großen Berufe einzurichten habe, unnüt oder zwei⸗ 
dentig ſey; und daß Roſenkranz fie fogar pfäffiſch nennt, 
dürfte am wenigſten abhalten, die Sache neu zu unterſu⸗ 
hen. Schleiermacher in ber Encyklopädie F. 308 weiſet 
mit Beſtimmtheit anf eine Behandlung der hierher geho⸗ 
rigen Hauptfragen hin und bezeichnet nur das bisher Bes 
handelte ald das Untergeorbnete. Der geiftlihe Stand 
it einmal von der einen Seite etwas fo eigenthümlich 
durch die kirchliche Gemeinfchaft Bedingtes, und von ber 
andern Seite etwas fo mächtig und zart zugleich ſich mit 


Pe Heberficht 


allen ſittlichen Leben Beruͤhrendes, daß es Bier mehr als 
anderswo Bedürfniß zu feyn fcheint, die Grundſatze ber 
allgemeinen und ber dyriftlichen Moral mit des Aufgaben 
des Tlerikalifchen Amtes in nähere Verbindung zu fee. 
Ein Mißbrauch liegt nahe, aber der vielfache Mißbrauch 
im Leben Könnte auch durch bie Theorie heilſam anfges 
deckt werden. _ 

: Wir haben dem Verf. in den meiſten Siten ſeines 
eigentlich formal enchklopaͤdiſchen Verfahrens entgegentre⸗ 
ten. zu müſſen geglaubt, allein wir verkennen nicht, wie 
nicht nur die ganze Schrift von einem fchönen Bewußtfeyn 
Ber Infammengehörigkeit von Theologie und Kirche aus⸗ 
geht, fondern auch an mehreren Punkten Bemerfungen ein 
geftrent find, Die, audy abgefehen von ihrer größeren ober 
geringeren Brauchbarkeit für der Hauptzweck ded Bearf, 
eind anregende und bildende Wirkung ansüben Pönnen. 


B. Schriften über einzelne Haupttheile der praktiſchen 
Theologie. 


IL. Ueber die Theorie bes Kirchenregiments. 


2 Veber Presbyterien und Epyhuralfyuoden; 
Ein Bedenken, offen und undefangen 
ansgeftellt von Dr. Auguf Ludwig Gott 
40b Krehl. Dresden und keipꝛig, N 
Buchhandlung. 1832, VIIL 32. 


3, Botum über dine neuerlich geforderte 
ö repräfentative Berfaffüng der evanger 
liſchen Kirche, befonders in den „Wün⸗ 
ſchen ber evangeliſchen Geiſtlichkeit Sadıs 
ſens, abgegeben von Dr. Karl Gottlieb 
Bretſchneider, Oberconſiſtorialrath und 
Generalſuperintendenten zu Bone Lea» 

zig 1832, bei Vogel. M. 5% 





— — — — — — — 
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ber Litteratur der praktiichen Theologie 370 


4. Biergehu Thefen Uber bie vorgeſchlagene 
: Errichtung von Presbyterten und Sy⸗ 
noden im Königreiche Sachſen. Ein theo⸗ 
Iogifhes Bedenken von Dr. Andreas 
Gottlob Rudelbach, Superintendenten, 
—Conſiſtorialrathe, Paſtorprim. in Glau⸗ 
cha. Leipzig, Verlag von Berger. 1832. V. 24, _ 
- Diefe drei Kleinen Schriften verdanken gleichermaßen . 


- ihren Urſprung gewiflen Firchlichen Borfchlägen, die in den 


Jahren 1830 bis 1832 im Königreiche Sachſen hervortraten. 
Im Jahre 1830 nämlich ging von der Ephorie Leipzig eine 
Vorfellung an. die hohe Staatöbehörde aus, welche Ans 
traͤge auf Entwidelung des Firchlichen Lebens durch Pres⸗ 
byterien und Synoden enthielt. Alle Ephorien unter dem 
Dpberconfifterium in Dredben traten derfelben bei. Eine 
zweite Berftellung, an der jeboch nicht ebenfo wiele Geiſt⸗ 
liche Theil nahmen, erfolgte im Sahre 1831. In demſel⸗ 
den Sahre erfchien die Schrift: „Wünfche der evangelifchen 
Geiſtlichkeit Sachſens, die Verbefferung ber Kirchenvers 
faffung betreffend”, worin die vorerwähnten Anträge vers 
öffentlicht und commentirt waren. Ein gewifler Erfolg dies 
fer Schritte zeigte ſich alsbald darin, daß das Fön. ſachſ. 
Eultusminifterium im Februar 1832 eine öffentliche Auffors 
derung an Die ſaͤchſiſche Geiftlichkeit ergehen ließ, über 
die angeregten kirchlichen Fragen, befonderd bie Errich, 
tung von Presbyterien und Synoden, gründlich und un⸗ 
befangen fich zu Außern. Diefer Aufforderung entfprechen 
nun die Berfafler der drei obengenannten Schriften, obs 
wohl nur der der erſten ein Mitglied der Geiftlichfeit bed 
Rönigreichd Sachfen ift. Offenes Votum ftand einem Jeden 
frei, hätte er auch nicht, wie die beiden anderen Berfaffer, 
Sachſen im weiteren Sinne angehört. 

Das Gemeinfchaftliche diefer drei Schriften beftcht 
darin, daß fie fich fümmtlich gegen die Einführung von 
Hresbyterien und Synoden erflärem; und da dieß nicht 


\ 


.380 Ueberſi cht 
| bloß in Bezug auf partichlare und zeitige Verhaͤltniffe er 


fchieht, fondern zum Theile mit Zurücdbeziehung auf all⸗ 
gemeine Grundfäße der Kirchenregierung,, fo ift es hier au 
ber Stelle, die von ben Berfaffern aufgeſtellten Grundfäte 
kurz anzugeben und zu prüfen. 

Da wir die volle Beziehung diefer Schriften zus den 
fächfifchen Anträgen und Wünfchen nicht darzuftellen Haben, 
fo begnügen wir und mit der Bemerkung, daß ohne Zweis 
fel das Zufammentreffen der kirchlichen Verfaffungsvors 
fchläge mit der rafchen Entftehung einer bürgerlichen Ber 
faffung für Viele etwas Beforgniß Erregendes haben und 
den Verdacht begünftigen mußte, ein gewifles Gleichſetzen 
des Kirchlichen mit dem Bürgerlichen, eine leberfchäßuug 
des Gonftitutionellen, verpflanzt auf das kirchliche Gebiet, 
möge wohl den größten Antheil an ben Wünfchen der ſäch⸗ 
ſiſchen Geiftlichkeit haben. Und daraus erklärt und rechts 
fertigt fi zum Theile der Einfpruch, den die Verfaſſer ein 


legen. Um fo mehr müffen wir bedauern, daß feiner vw 


ihnen tiefer auf Die Sache felbft eingegangen iſt, daß alle, 
obwohl mit dem Anfpruche, über den Werth des Nepräfens 
tativen in ber Kirche überhaupt zu urtheilen, dennoch bie 
Frage nadı ber eigentlich Firchlichen Bedeutung dieſes press 
byterialifchen Elements zum ‘Theil umgehen, zum Theil 
unglücklich und ganz unfirchlicd; beantworten. Den Bers 
faffer von Nr. 4, trifft diefer Tadel weniger, aber audy ex 
kann ihm nicht ganz entgehen. 

Der Hauptfehler aller drei Schriften fcheint dem Rec. 
darin zu liegen, daß fte nicht den Begriff der Kirche nad 
ihrem realen, ſich immer gleichbleibenden Wefen, wie fie 
die in ber Welt erfcheinende Gemeinfchaft der Gläubigen 
ift, zum Grunde legen, um nach ihm zu prüfen, ob Pres⸗ 
byterien und Synoden, in biefer oder jener Form, unter 
gewilfen Umftänden und auf gewiſſen Entwidelungsftufen, 
nicht mit Nothwendigkeit aus ihm hervorgehen. Run aber 
faffen fie die Kirche nur eben in gauz äußerer und unbes 


der Eitteratur der praktiſchen Theologie. 981 


ſtimmter Weife als die gerade jebt und dort vorhandene 


Bereinigung von Glaubenden und Nidhtglaubenden, von 
Wohlgefinnten und Uebelgefinnten, von Zufriedenen und 
Unzufriedenen mit dem gegenwärtigen Zuftande bes Reli⸗ 
gionsweſens, und es ift allerdings leicht zu zeigen, daß 
diefer äußeren Gefellfchaft oder Maſſe ein ebenfo äußerlich 
zufammengefeßtes, von außen ihr beigelegtes Presbyterials 
wefen nicht nur nichtd helfen, fondern ohne Zweifel ihr 
noch mehr ſchaden würde, ba eine abflracte äußere Korm 
in einem aus inneren heterogenen Elementen beftehenden 
Ganzen die Verwirrung nur größer machen ober Alles auf 
einen leeren Formalismus zurüdführen müßte. Aber jene 
Anficht von ber Kirche iſt felbft eine unwahre. Die Kirche 
ift auch in den ſchlimmſten Zeiten die Kirche Chwfti, fie iſt 
wesentlich immer die Gemeinfchaft der Slänbigen, welche 
Eins wird im Geifte Chriſti; es fehlt auch in den herab» 
gefommenften Gemeinen niemals an einem Kerne der Ges 
meinfchaft in ihnen, welcher das wefentliche Glaubens, 
leben, in welchem auch bie Liebe ift, in fich trägt, und es 
laßt fich zeigen, daß das Herunterfommen der Gemeinen, 
nächſt dem Berfchwinden der wahren evangelifchen Predigt, 
mit Dadurch bedingt ift, daß den Gemeinen nicht einmal 
zugetrant wurde, fich ald Gemeinen Chrifti zu äußern, zu 
bewegen, gemeinfam zu handeln. Hieraus folgt denn, 
daß die Entwidelung bes Presbyterialweſens als in einer 
Wechſelwirkung ftehend mit dem eigentlichen Mefen und 


wirklichen Leben der Gemeinen müffe angefehen werben, 


fo daß ed, wie es durch diefes hervorgerufen worden, auch 
auf daffelbe wohlthätig zurückwirken kann. Und nur dieß 
kann Die Meinung wahrer Freunde ber Kirche feyn, welche 
unter Umftänden die Heroorrufung des Presbyterialwe⸗ 
fens empfehlen, noch beftimmter aber die Erhaltung deſ⸗ 
jelben da, wo es befteht, fordern, nicht aber Die Conſti⸗ 


tuirung eined äußeren Gerüftes für die Firchlichen Zuftände, 


von welchem ſich freilich kein Nuten erwarten läßt. Alles 


.. 


582 Ueberſicht 
kommt darauf at, ob die Entwickelung eines größeren finds 
lichen Ganzen zu dem Punkte gediehen iſt, wored bie Ders 
vorrufung presbyterialiſcher Formen and reiner Bemegumg 
des Inneren verlangt, oder ob man vor ber Hand nur bei 
dem belebteren Gebrauche ber allgemeinften und hoͤchſten 
Mittel des kirchlichen Wohlfeyns und bei allmählicher Erzies 
hung ber Gemeinen zu einem chriftlichen Gemeinleben fichen 
bleiben muͤſſe. Die Verfaſſer hatten vieleicht ſehr Recht, 
in Bezug auf Sachſen dieſe Frage auf die zulebt angegebene 
Weiſe zu beantworten. Wenn fir aber über dieſes Recht 
hinaus das Presbyterial⸗ und Synodalweſen an ſich eis 
gentlich ald etwas Eitled und Schäbliched darzuſtellen vers 
fuchen, fo möchten fie weder die Geſchichte, noch die Theorie 
des Kirdyenregiments auf ihrer Seite haben. 

Diefe Bemerkungen werben fidy durch dad Befondere, 
was wir über jede der drei Schriften hinzuzufügen haben, 
beftätigent. 

Nr. 2. Die Schrift von Dr. Krehl if gewiß von wars 
wien Eifer für daß, was ihm als beßte Verfaflung ber Kixs 
che erfcheint, eingegeben, und er findet bie. beſtehende ſaͤch⸗ 
fifche fehr unvollfommen. Das, was er wünfdt, beſteht 
jedoch faſt nur in der Aufnahme einer Anzahl frei gewähls 
Ger Bertreter des evangelifchen Klerus in die zweite Kam⸗ 
mer bet Volksvertreter (S. 32) und in der gleichen Stineum 
berechtigung aller Mitglieder ber kirchlichen Oberbehörbe 
(8. 31). Auch verlangt er eine Generalſynode aus be 
berähmteften Geiftlichen und einer gleichen Anzahl von 
Vertretern des weltlichen Standes (S. 32), ohne anzuges 
ben, ‚wie jene als eine wahre Vertretung der Kirche zu 
Stande kommen ſolle. Bor dem Namen und der Idee eis 
ned Presbyteriums, eines citirenden vollends, hat der 
Berfafler eine Art Schauder und verfichert, er würde als 
Laie dagegen proteſtiren, fo lange noch ein Odem in ihm 
wäre (8.20). Und er thut es ja als Kleriker lebhaft ges 
ung! Immer aber fchlägt er ſich eigentlich. mit bem Ge⸗ 


— — oc — — m Et y ⏑ u De | u 


der Litteratur der praktiſchen Theologie. = 583 
ſpenſt eined Dreöbyteriums herum; denn das iſt eines, von 


dem er fragt, ob es die Leute bekehren ſolle, von dem er 


vorausſetzt, daß es auch die Ungläubigen und Unkirchlichen 
mit äußerer Gewalt werde zurechtbringen wollen, waͤh⸗ 
rend jeder echte Begriff eines Presbyteriums baranf ges 
baut ift, daß die Kirchlichen, die, welche es fenn wollen, 
fich im ihm feibft vertreten fehen, aub daß daſſelbe mit bes 


en, die fich ſelbſt aus der Kirche audfchließen, ſich nicht 
‚befaßt. Darum erwartet er auch won Dem Presbyterium 


nur Schmach ind Befchämung fr den geifllichen Stand, ' 


ohne auch nur einen Bl auf die Länder zıt werfen, im 


welchen, wie z. B. am Niederrhein, feit Sahrhunderten bie 
Presbyterien fi im Anfehen erhalten haben. Der Verfaf⸗ 


ſer fagt fogar, er getraue fich, vollkändig zu beweifen, daß 


eine ähnliche Einrichtung in dem apoſtoliſchen Zeitalter 
dar nicht ſtattgefunden habe (S. 20); er hat aber wohls 
weislich Diefen Beweis nicht unternommen. LKor. 5,9.10 
wählt er höchſt ungluückkah (5.27), um das Unnöthige eis 
ner kirchlichen Zucht durch das Presbyterium zu erweiſen, 
da ausdrücklich im Zufammenhange jener Stelle auf die 
Keinerhältung der Gemeine gedrungen wird. Ein reblichen 
Eifer gegen unpaffend neue Formen fpricht fich audz ein 
achtungswerther Sinn für die reine und gründliche Pre⸗ 
diät des Worts: aber gar Fein Vertrauen darauf, Fein 
Berftändniß davon, daß die Kirche als ein ben Klerus nur 


- in ſich tragendes, nicht im Klerus aufgehendes, Ganzes da 


ſey, welches ſich lebendig äußern ebenſo wollen möfje, als 
es dazu berechtigt ſey. 

Der Verfaſſer von Nr. 3., Dr. Bretſchneider, findet 
es feltfam, daß man eine Entwickelung bes kirchlichrn Les 
bens zu preöbpterialifchen Formen anrathen könne, da fa 
ein Conſiſtorium Das befte und ganz genligende Oberpres⸗ 
byterium fey, und da die Rationalrepräfentation ja am ſich 


‚bie trefflichfte Vertretung der Firchlichen Intereffen fey. Es 


fey gar nicht denkbar, daß ber Staat jemate eim Intoreſſe 


584 Ueberficht 

gegen bie Kirche haben könne, da er ja Fein Individnum, 
fondern eben dad Ganze fey (5.26), dagegen eine Reprär 
fentation der Kirche doch im Grunde nur darauf ausgehe, 
„bie Geiftlichleit vom Staate mehr unabhängig zu machen 
und ihre Nepräfentanten und Beamten (2) in eine von ber 
golitifchen Repräfentation unabhängige Verbindung wit 
dem Staatdoberhaupte zu bringen” (S.28). Auch fey Das 
allgemeine Petittonsrecht im ſächſiſchen Staate vorhanden, 
und „wenn nur einige der vornehmſten Geiftlichen vermöge 
ihrer Aemter ſtets mit zur Nationalrepräfentation gehören, 
und dann allen Geiftlichen nicht nur dad Wahlrecht, fons 
dern auch bie Wählbarfeit gegeben wird,” fofeyen „Kirs 
he und Geiftlichfeit in evangelifchen Ländern hinlaͤnglich 
vertreten.’ Aber wie flieht, fragen wir, bie Sache nun, 
nach des Verfaffers Anficht, in denjenigen evangelifchen 
Ländern, wo feine NRationalrepräfentation vorhanden if? 
Soll die Kirche, ehe fie in einen würdigen, organifirteren 

Zuftand fommt, darauf warten, daB eine foldhe hervortte⸗ 

te? Oder ſoll fie vieleicht felbft, ganz wider ihre Ratur 

und Beltimmung, auf die Entwicdelung bürgerlicher Vers 
faſſungs formen hinwirten? Da dieß der Verfaffer ſchwer⸗ 
lich wollen wird, fo hat er doch mit biefer Lehre von dem 

Aufgehen aller Kirchlichen Vertretung in der Nationalres 
präfentation die Kirche nur. fehr dürftig berathen. Und 
dann, welche Bürgfchaft ift denn vorhanden, daß alle tuch⸗ 
tigen Nationalrepräfentanten die Intereffen der Kirche wahr⸗ 
haft im Herzen tragen, und lehrt nicht die Erfahrung, daß 
Männer, denen man jene Eigenfchaft nicht abfprechen Tann, 
‘oft auf das Meitefte davon entfernt find, die inneren Aus 
gelegenheiten der auf das Bekenntniß des chriftlichen Glau⸗ 
bens zu gegenfeitiger Erbauung im Geiſte verbundenen 
Gemeinen zu verfiehen? Der Verf. denkt fich eine jede 
Spnodalverfaſſung ald eine Repräfentation der Kirche, na⸗ 
mentlich der Geiftlichleit, dem Staatsoberhaupte gegen⸗ 
Über. Mit Unrecht. Diefe Eoorbination mit einer bürgers - 


— — — — —⏑ TI MOTOR OT oo u FE er or 


der Litteratur der praßtifchen Theologie. 383 


lichen Repräfentation foll gar nicht ſeyn, vielmehr will bie 
Kirche ald ein Ganzes einer völlig verfchiedenen Sphäre 
ſich ihrer felbft bewußt werben durch Vertreter, nicht dem 
Staate ober feinem Oberhaupte gegenüber, fondern gegens 
über der Welt, infofern fie das chriftliche Leben beftreitet, 
ignoriert ober verderbt. 

Gleich im erften Abfchnitte der Schrift bemüht fich der 
Verf., die Behauptung, daß die jeßt beabfichtigte Presby⸗ 
terialverfaffung bie eigentlich urfprünglich chriftliche der 
apoftolifchen Zeit, alfo die der Kirche eigentlich gebührens 
de und darum wiederherzuftellende ſey (dieß war in ben 
Wünfchen ber evangelifchen Geiftlichleit Sachfend behaup⸗ 
tet worben) als falfch darzuftellen (S. D. Aber dabei 
verfährt er aufeine Weiſe, wodurch er mit biblifchen und 
gefchichtlichen Zengniſſen in nicht geringen Eonflict kommt. 
Die Presbyter fenen nicht von-ben Gemeinen gewählt wors 
den, noch viel weniger hätten fie bie Gemeinen repräfens 
tirt cebend.). Apg. 14, 23 (reigorovgoavreg db avroig 
xosoßurigovs zur Ixxinslav) wird dabei fo gefaßt, als 
wenn von einer Einfeßung der Presbyter bloß durch Pau⸗ 
Ius (fol heißen: Paulus und Barnabas) die Rebe ſey, 
während theild die Bedeutung ded Wortes yagorovsin 
(duch Hanbaufhebung feine Stimme abgeben), theils das 
Beifpiel der Diakonenwahl, bei welcher bie Apoſtel das 
Wahlrecht der Gemeine durchaus refpectirten, theild das 
Vorbild der die jüdifchen Synagogen wirklich vertretenden 
erspt das Gegentheil, die Wahl der Presbyter durch bie 
Gemeine, fat gewiß macht (vergl. Rothe, Anfänge ber 


achriſtl. Kirche und ihrer Verfaſſung, S. 148 f.). Ebenfo 


unhaltbar iſt die Vermuthung, die 1 Tim. 5,7 erwähnten 
zgsoßvrspo: feyen „Bejahrte, die ihrem Haufe wohl vor« 
fiehen, befonders die, welche fich (ohne Kirchenamt) mit 
dem Unterrichte Anderer befaſſen.“ Auch legt ber Verf. 
daranf ein Gewicht zur Beftreitung des apoftolifchen Urs 
fprungs des Presbyterialweſens, daß die apoftolifchen 


5. Weberficht 
‘ Sredbyterien ja doch nicht aus Geiſtlichen uud Laien bes 
landen haben, da biefer Unterfcied in der apoſoliſchen 
Beit in noch gar nicht Kattgefunden habe. - Aber andy 
menu man ed unentfchieden läßt, ob nicht LTim,5,17- (u- 
Ausın ol.nenuävssg dv Aoya zul Ödaozcile) deH Fir ei⸗ 
nen frühen Uinterfchieb zweier Arten von Presbytern gels 
tend gemacht werden Fönnte, bemerken wir, wie ja gerabe 
das nuerlaunte Berhältuiß der apoftolifchen Zeit, daß fein 
ſcharfer Unterfchieb von Lehrern und Laien war, für ben 
opoftolifchen Charakter der Bresbpterien, nicht gegen den⸗ 
ſelben fpricht. Deun dieſe follen ja eben den in der Ents 
. widelung der Kirche nur allzu fharf ausgeprägten Uster 
ſchied mülbern und vermittdn. Wie es folche Mitglieder 
berfelben wirb geben können, die von Zeit zu Zeit Ichrem, 
ja prebigen, ohne angefiehte Prediger zu ſeyn, 3. B. ordis 
nirte Lehrer der Theologie, fo follen auch Die, welche bie 
eigentliche Lehrgabe nicht haben, als lixchliche Beamten, 
Hirten im weiteren Sinne des Worts, bie das Recht ver 
Privptermahuung durch Das Wort haben, anerkannt werben. 
Die Theſen vom Dr. Rudelbach (R. 4.) gehes, außer 
bem Kikkorifchen, was ber erfte Theil berfelben mittheikt, - 
gang vonder Borausfegung aus, die Borkhläge zur Eine 
führung won Predbpterien und Synoden ſeyen aus einer 
Abneigung gegen das mahre Mittel, die Kirche zu veleben, 
Die reine Predigt des Wortes Gottes, hervorgegangen, 
es ſpreche ſich Darin das eitle Beftreben aus, durch äußere 
Formen zu helfen. Bon biefer Borausfekung aus fügen 
fie vieled Wahre, obwohl dem chriſtlichen Leſer Belamute, 
mb zeugen von einem hoͤchſt achtungsewerthen Eifer für 
Belebung des chriſtlichen Glaubens. Aber daß deme Bors 
ausſetzung in Dem befandieren Falle der ſächſiſchen Anträge 
richtig fen, iſt nicht nachgewieſen; daß fie für jedes Gebiet 
aub jede Zeit der Kirche gelte, erfcheint dem Rec. entſchie⸗ 
den falfh. Der Schluß: Weil Presbyterien und Sy⸗ 
oben am ſich Fein Leben ſchaffen Tönen, ſo ift Das leb⸗ 


\ 


der Litteratur her pracktiſchen Theologie. 887 


hafte Beantragen von Presbyterien und Synoden ein Zei⸗ 
hen von Unbekauntſchaft mit der Duelle des Lebend, iſt 
Kogifch falſch und fcheint zum Theil aus Mißtrauen in ehr 
lere chriftliche Antriebe gu fommen. Daß die Reformatos 
ren (die ſachſiſchen) die Verfaſſung als inbifferent bei Seite 
liegen ließen, darf ihnen vielleicht nicht zum großen Bor» 
wurfe, abex eö follte ihuen wenigkens nie zur Gerechtig⸗ 
Beit angerechnet werben. Daß Kurfürst Auguſt II. im Sabre 
A560 die Synoden als unzweckmäßig aufgehoben hat, ſoll 
nach dem Verf. ein Beweis feyn, dag das Spnobalmefen 
einen Anknupfungspunkt im fädhfifchen Bolfe habe. ber 
um dieſen Beweis zuführen, ift jene Thatfache zu ſchwach; 
deunn es müßte zuvor gezeigt werden, 1) daß jene Aufhes 
. kung felbft im Sinne des ſüchſiſchen Volls⸗ und Kirchen, 
lebens gewefen fey, und 2) daß jene aufgehobenen Sy⸗ 
noden nicht durch jebt zu vermeidende Fehler ihr Schickſal 
ſelbſt verſchuldet hatten. Auch diefer Verfaſſer, fo wie 
bie beiden vorigen, nimmt won der Geſchichte des Syno⸗ 
dalweſens im nordwefllichen Deutſchland (unter sum Theile 
Intherifchen Gemeinen) gar feine Notiz und fthrft alfo auch 
feine Beweisthümer micht einmal durch einen Berfach, zu 
zeigen, bie Berhältuiffe der Kirdyen im Rheinland und 
Weſtphalen ſeyen fo ganz abfenderliche, daß Pie Äbrige 
eonugelifche Kirche, Deutſchlands gar nichts ven ihnen 
anzunehmen im Stande fey. 
. 5, Einige Bewertungen über Synodalver, 
- faffung mit Bezug auf die Aeugerungen 
der evangelifhen Kirchenzeitung über 
biefen Gregeufland, von Dr. 8.9. Sad, 
ord. Prof. der Cheologie in Bonn Daum 

bei Weber, 1632. ©. 22. 

Dieſe Bemerkungen, vom Necenfenten verfaßt, ſind 
gagen deu iu Rro. 2-3 des Tahrgangs 1832 der evange⸗ 
liſchen Eirchenzeituug enthaltenen Angriff auf alle Vor⸗ 
ſchlge zur Einführung einer Presbyterialverſaſſung ge⸗ 


5 Ueberfiht 


richtet. Ste fuchen die Idee derfelben im Weſentlichen 
mit denfelben Gründen, welche wir. foeben in Beurtheis 
fung der brei vorher genannten Schriften entwidelt bar 
ben, zu vertheidigen. Sie verwahren ſich ausdrücklich ges 
den die Behandlung des Firchlichen Verfaſſungsweſens auf 
politifchreonftitutionelle Weife und erklären fi ausführs 
licher über die Bedeutung ber Belenntnißfchriften, indem 
fie unter Unterfcheidung ihrer eigentlich befennenden 
rein kirchlichen Subſtanz von ihrer theologifchen Form 
ihre Tirchliche Geltung fefthalten. Hier finde denn auch 
die Bemerkung Pla, daß die rheinländifch-weitphälifche 
Synodalverfaſſung, deren Schidfal im Jahre 1832 noch 


‚nicht entfchieden war, feitdem durch die vom Könige von 


Preußen erlaffene „Kirchenordnung für die evangelifchen 
Gemeinden der Provinz Weltphalen und ber Rheinpro⸗ 
yinz (5. März 1835) ” erneuert worden iſt. 

6 Einige Bemerkungen über bie neue Orts 
ganifation der evangelifchen Kirche des 
Großherzogthums Heffen Ein Gends 
fhreiben an des großherz. heſſiſch. Bir. 
Staatsminifters Hn. Freih. du Thil Ere. 
vonDr Johann Chriftian Wilhelm Aus 
gufti, Fön. preuß. EonfiflorialsDirecs 

tor, Profeffor u. f. w. Bonn, bei 9. Marcus 
1833. ©. 47, 

Der größte Theil diefer Heinen Schrift befteht in eis 
ner beifälligen Kritif derjenigen Mobification der Conſi⸗ 
ftorialverfaffung, welche durch das großherzoglich heſſi⸗ 
ſche Edict, die Organifation der Behörden für die evangelis 
[hen Kirchenangelegenheiten betreffend, vom 15. Juni 1832, 
eingeführt worden if. Im Anfange findet fich eine lehr⸗ 
reiche Skizze der Gefchichte der Entftehung bed weimaris 
fchen Oberconfiftoriums im Sahre 1561. Beide Gegen 
flände gehören überwiegend ber Kirchengefchichte und kirch⸗ 
lichen Statiftit an. Was aber für unferen Zwed bemers 
kenswerther ift, befteht darin, Daß der Verf. fich ald einen 


Pe 





- der Literatur der praßtifchen Theologie. 989 


entfchiebenen Gegner der Presbyterial⸗ und Synobalvers 
faffung erflärt (S. 11), freilich „in der Form und Art, 
wie fie jegt von fo vielen Wortführern in der theologis 
ſchen und politifchen Welt gefodert wird.” Schon durd 
diefe Bezeichnung einer in jenen Jahren herrfchenden allzu 
conftitutionsartigen Weife, fich die Kirchenverfaffung zu 
denken, werden die Bemerkungen des Verfaſſers einigers 


maßen gemildert. Auch erklärt er (S. 40), daß er mit der 


Errichtungvon Kirchenvorftänden, wodurch die Idee Ernft 
des Frommen von Disciplinar-Infpectoren neu aufgefaßt 
werde, ganz einverflanden fey, und fo fommt er denn felbft 
gu der Erklärung (5.41): „Eine zweckmäßig eingerichtete 
und in ihren Schranken fi) haltende Presbyterials und 


Synodalverfaflung if eine für Kirche und Staat heilfame- - 


Anflalt und am beßten Dazu geeignet, dad religiößsfirchliche 
Leben zu fördern.” Da nun eine weife ernenerte Kirchens 
bisciplin innerhalb der Gemeinen das iſt, worauf bie 
Kreunde der Presbpterialverfaffung ganz vorzüglich den 


Werth diefer kirchlichen Form zu gründen pflegen, und. 


Herr Dr. Augufti die Anfänge von diefer in Heffen billigt, 
fo wird man zu der Frage verfucht, ob wohl ber ganze 
ftarfe Ausdrud von entfchiedener Feindfchaft gegen bie 
Presbyterialverfaffung (vgl. ©. Il u. 12) nöthig gewes 
fen fey, um den Sinn des Verfafferd auszudrücken. Allein 
fo ganz friedlich ftehen die Sachen zwifchen diefem Vers 
faffer und den BVertheidigern der Idee der Presbpterials 
verfaflung doch nicht, ald es hiernach fcheinen könnte. 
Denn ber Berf. erflärt (S.42), daß das Conſiſtorinm übers 
all die permanente Generalfynode feyn, und daß die Kreis⸗ 
und Provinzialfynoden demfelben untergeordnet feyn müfs 
fen. Nimmt man dieß in dem firengen Sinne, in welchem 
ed ohne Zweifel gemeint ift, daß auch alle interna des 
Kirchenwefens in letter Inſtanz einem Iandesherrlichen 
Confiftorium oder geiftlichen Departement (dieß ift gleich) 
unterworfen feyn — bildet dieß — den eigent⸗ 
Theol. Stud. Jahrg. 1839 








590 Ä Ueberficht 


lich entfcheidenden Punkt, wo bie Gegner und bie Freunde 
der Presbpterialverfaffung auseinandergehen. Denn ed 
iſt Teicht einzufehen, daß diejenige vom Ganzen ausge⸗ 
hende, gegliederte, durd; Repräfentanten im Wechfelvers 
kehre bleibende Lebendigkeit des Firchlichen Gemeingeiſtes, 
welche eigentlich der innerfte Geift ber Spynodalverfaflung 
ift, fih nicht entwideln könne, folange eine kirchliche 
Staatöbehörde Alles, auch Lehre, Eultus und Disciplim, 
in Ießter Inſtanz entfcheidet. Hiermit ift nicht behauptet, 
daß nicht für gewiffe Zuftände und Stufen des evangelis 
fchen Kirchenwefens eine Eonfiftorialverfaflung, wie der 
Verfaſſer fie will, vor der Hand das Beflere fey, aber es 
wird behauptet, daß dieß nicht an ſich und. nicht allgemein 
gelte; es wird behauptet, daß Diejenigen Gründe, welde, 
wie dieß auch in diefer Schrift (S. 19 faft die einzigen 
find, von der Undentbarkeit hergenommen find, „daß ſich 

der Liberalismus unferer Tage, welcher alle Schranfen 

der richterlihen Gewalt und der bürgerlichen Polizeiges 

feße zu durchbrechen droht, mit dem Firchlichen Rigories 

mus vertragen werbe”, die Hauptfache gar nicht treffen. 
Denn (es kann nicht oft und nachdrücklich genug gefagt 
werden) bie bee der Presbpterialverfaflung, wie fie als 
kein der Auffaffung zu unferer Zeit würdig feyn faun, if 
unzertrennlidy von der Idee einer ruhigen Scheidung der 
entfchieden weltlichen Elemente von den entfchieden kirch⸗ 
lichen in dem bisherigen Kirchenwefen, einer freien Ents 
laſſung der entjchieden dem Chriftentbume Abgeneigten 
aus ber Kirche, eines ruhigen Gefchehenlaffens von Sets 
ten des Staats, daß die Kirche als wirkliche Kirche, d. h 
als Gemeinfchaft der Glaubenden und dem Glauben ges 
mäß Lebenden, fich geftalte, obwohl nie im feindlichen Ges 
genfaße, vielmehr in Bezug auf ihre allgemeinen Grunds 
lagen in innerer Befreundung mit der Idee feiner. Dies 
ienigen, welche glauben, daß dieß fchon deßhalb gefchehen 
werbe, weil eö nothwendig im Gange ber Welt- und Kir, 


der Litteratur ber praßtifchen Theologie 591 


chengefchichte liege, haben ohne Zweifel Recht, die Idee 
der Presbyterialverfaffung auszubilden, denn diefer wür⸗ 
be, wie auch verfeßt mit reineren bifchöflichen Formen, 
die Kirche dann unfehlbar entgegengehen. Der firenge 


Conſiſtoriale alfo, derjenige, welchem das landesherrliche 


Confiftorium die fchlechthin höchfte und beßte Form kirch⸗ 
licher Entfcheidung ift (und ein ſolcher muß auch glauben, 
die bifchöfliche Verfaffung Englands und Schwedens müffe 
fich eigentlich in dieſe Form hineinbilden), würde nur Recht 
behalten, wenn Theorie und Gefchichte jenen Gedanfen 
von einer Mareren Scheidung der Kirche von der Welt, 
und zu diefem Ende einer relativen von dem Staate, gleich» 
mäßig widerlegen follten. Der Rec. glaubt, diefe Wibders 
legung fey weder bis jetzt geliefert worden, noch fey fie 
je von ber Zukunft zu erwarten. 


CGortſetzung folgt.) 


Deut ehler 
in den theolog. Stud. und Kritik, Jahrg. 1839. Heftl 


©. 265. 3 10. v. o. flatt kirchlich dogmatiſchen 
| lies kirchlich dogmiſchen. 


— — 3. 21. — ſtatt Kirche l. Theologie. 
— 213.312. — — wiewohl l. einmal. 


. Anzeige - Blatt. 


Am Verlage von Friedrich Perthes ift erſchienen: 


Dr’ C. Ullmann, Hiftorifch ober Mythiſch? — Bei⸗ 
träge zur Beantwortung ber —— Lebens⸗ 
frage der Theologie. Preis 1Thlr. 3 gl. 
Inhalt: 1) Was fegt die Stiftung der chriſtlichen Kirche durch 

einen Selreuzigten voraus? . — 


2) Kritik des Lebens Jeſu von Strauß, 
3) Sendſchreiben an Strauß Über die Perſönlichkeit und MWunder “ 


Jeſu. | 
4) Bur Gharakteriftit des Kanonifhen und. Apokryphiſchen, in 
Beziehung auf die evangelifche Geſchichet. | 


Acta historico-ecclesiastica seculi XIX, Sets 
ausgegeben von Rheinwald. Jahrg. 1836. Preis 
2 Thlr. 12 gl. Zu 


Gefhichte von Ports Royal. Der Kampf des reformirs 
ten und des jefuitifchen Katholicismus unter Louis XII. 
und XIV. von H. Reuchlin. 1.20. 4 Thlr. 


Gy pei — Lehre von der Kirche, von J. Ed. Hu ther. 
r. 


Dr. Chr. Fr. Bellermann 

| über - — 

die aͤlteſten chriſtlichen Begraͤbnißſtaͤtten 
und beſonders 
die Katakomben zu Neapel mit ihren 
Wandgemaͤlden. 
Ein Beitrag zum chriſtlichen Alterthum. 
Mit 12 illumin. u. 3 ſchwarzen Tafeln. gr. Quart. 5 Thlr. 


Die unter dem Namen der Katakomben in Italien und Sici⸗ 
lien nod vorhandenen alten Begräbnißftätten nehmen das Ins 


* 


tereffe des Geſchichts⸗ und Kunftfreundes, fo wie desienigen, dem 
die Erfheinungen des älteften kirchlichen Lebens nicht gleihgüls 
tig find, in Anſpruch. Denn dem Urfprunge nad) gehören fie 
großentheild einem hohen Alterthume an und tragen in ihren 
großartigen Anlagen das Bepesge von Werken jener Zeit. Aber 
aud) ihr fpäterer Gebraudy feit den erften chriſtlichen Jahrhunder⸗ 
ten ift ſehr beachtenswerth, indem fie dadurch die Sundgruben 
der aͤlteſten Denfmähler der chriſtlichen Kuuft, namentlich der 
Malerei und Sculptur aude find und zugleih ein Zeugniß 
von den Gebräuchen und der frommen Sinnedart der alten Chri⸗ 
. Rengemeinen ablegen. Der Derfafler diefer Schrift gibt nad eis 
gener nn eine ee SENDE BURG diefer Katafomben, 
weifet den chriſtlichen Gebrauch derfelden durch Zeugniffe alter 
Schriftfteller, fo wie durch die in ihnen felbft aufgefundenen B ils 
der, Inſchriften und andere Begenfände nah und lie 
fert zu dieſem allgemeinen hiſtoriſchen Theile die fpeciellen Belege 
in der Schilderung der bisher am wenigften beacteten, großen 
neapolitanifhen Starafombe, aus welcher hier zum eriten Wale ges 
naue Pläne und Durdifchnirte, fo wie in gefreuen, farbigen 
Eopien die nod vorhandenen Wand. und Dedengemälde 
mitgetheilt werden. Der Berleger feiner Seitd hat dem Werke 
eine tppographifche und kuͤnſtleriſche Ausftattung gegeben, die eis 
ner gerechten Anerkennung gewiß nicht ermangeln wird. 


Erzählungen aud dem Leben Jeſu, 
(Zu OLivier's Bilderbibel) Gebunden 16 gl. 


‚Mit diefem Buche glauben wir eine Lüde in der für die Jugend 
beffimmten Fitterarur auszufüllen. Allerdings if die heilige Geſchichte 
als die Grundlage chriſtlicher Ueberzeugung längk und mannichfach 
für dieſelbe bearbeitet. . Ebenfo wird die Dichtung als ein Faupts 
mittel zur Bildung des Geſchmacks, des Gefühle, des Geiftes ans 
erfannt und in reihlihen Gaben dem jugendlihen Gedährmiffe 
eingeprägt. Doc befhränfen ſich dieſe je nach dem verfdiedenen 
Alter, außer den Eleinen religiöfen und moralifhen Gedichten, 

auptfächlicdh auf die Gabel, dann auf die Sage unter allerlei wech⸗ 
einden Namen, oder auch einzelne anſprechende Ereigniffe der Pros 
angefhichte. Sollte nicht die wichtigſte und fegensreihfte aller 

egebenheiten,, die Erlöfung der Menichheit, vor allen andern zu 
Dichrerifher Bearbeitung geeignet und .in diefer Geftalt um fo er 
geeifender und erhebender ſeyn? Hier wird eine folhe Bearbeitung 
argeboten, melde es fi zur Pflicht gemacht hat, auch den 
Eleinften Zug_ ganz unverfälfcht zu laffen und damit den Beweis 
au liefern, daß die hoͤchſte Wahrheit zugleich eine lebendige poctifche 
Kraft in ſich träge und fi wie von felbft die angemeffene Form 


gibt. 

Das Buch hat fih an Obivier's Bilderbibel angefchloflen, fo 
daß- alle dort dargeftellten Ereigniffe des Lebens Jeſu auch bier 
bearbeitet find. Es wird auch unabhängig von ihr verfiändlich und 
anfprehend ſepn. | 








Wie Maria beten lernte, 
Chriffin wurde? 


Ein Wort an alle Mütter, denen am Herzen liegt, 
was .ihren Kindern vor Allem noth thut. 


Seheftet 6 gl. 


Eine Gabe für Mütter und folche, die mit mütterlihem Sinne 
Das Wohl ihrer Pflegbefohlenen im Merzen tragen, Erzieherinnen, 
Seesen der Kleinkinderfhulen. Sie finden hier eine faßliche 
nleitung, auf die einfachſte und anfprechendfte Weife die erfte reli- 
idös = hriftlihe Einfiht, das Bedürfniß und die Freudigfeit des 
ebetes im Herzen ihrer Kleinen zu weden; und zugleidy ift ihnen 
ein reiher Schaß folder Gebete dargeboten, welche jenem zarten 
Alter nach Inhalt und Abfaffung vollkommen angemeſſen find, die 
verfhiedenen einfahen DBerhältnifie deſſelben berücdlichtigen und 
gewiß mir großer Leichtigkeit und Freudigkeit erlernt werden. 


Sn demfelben Verlage wirb nächftens erfcheinen: 
Ratur- Analogieen 


oder 
über die vornehmften Erfheinungen des 
animalifhden Magnetiömud 


in ihrem Zufammenhange mit den Ergebniffen ſaͤmmt⸗ 
licher Naturwiſſenſchaften mit Hinfiht auf die gegen⸗ 
wärtigen VBedürfniffe der evangelifchen Theologie. 


Bon Dr. M. in ©. 


Ein Werf, dad nicht nur beider gegenwärtigen Kriſis in der 
Theologie und Philofophie, fondern aud) wegen des immer höher 
fteigenden Bedürfniffes apologetifhber populärer Schrif— 
ten — melde das leider fo fehr untergrabene Anfeben der Bibel, 
als der Hauptquelle hriftliber Erkenntniß, au befeftigen ſuchen — 
die Aufmerkfamfeit des theologifhen und überhaupt des gebildeten 
Publicums zu verdienen fcheint, da der Verf, demfelben durch frü- 
Here Feiftungen zur Gnüge befannt ift. 

Die Haupttendenz diefed Werkes geht nämlich dahin, zu 
der fo wünfdhensmwerthen und erfehnten Ausgleihung oder Verſoͤh— 
nung des philofophifchen Wiſſens (des Denkens) und des religid: 
fen kirchlichen) Glaubens einen foldyen Beitrag zu liefern, mo: 
durch zugleih dem mit der Auctorität der heil. Schrift 
und der fortwährenden Beltung des Firdhlidy traditionellen Glau— 
bensfernd enge zufammenhängenden fıtrlidh »religidfen 
Leben neue Nahrung und Lebenskraft gegeben würde. 

Zunaͤchſt ſucht der Berf. in einem ausführliben Borberichte 
es recht klar zu machen, wie (aufolge der Geſchichte der Philofos- 
pHie und Theologie) die zu einfeitig auftretende, bloß fpeculis 


— 


rende und reflectirende abſtracte Verkandes: Richtung ſtets 
auf die Abmege des Materialismus und Idealismus ges 
führe habe, indem zur Erfenntniß höherer und g stliher Wahrbeit 
Cim Gegenfage von formeler Logik und flarrer geometrifher Des 
monftration) nothmendig noch eine andere Geiftes-Potenz, 
gleihfam ald unerläßlihe Thätigfeit eines zweiten Fac— 
tors, erforderlidy fey. Als ſolcher aber wird die andere, nämlidy 
Die mehr contemplativ,.e oder receptive Seite der Intelis 
genz hervorgehoben, weil diefe fidy ale dem Glauben (der inne 
ren Anerkennung und Aneignung) zugemandter und confors 
mer darſtellt, überhaupt aber alle tranfcendente, dem Gefühl und 
der inneren Anſchauung im Gemüthe ſich darbierende Wahrheit nicht 
erfunden und erfonnen oder durch reine productive Speculas 
tion gewonnen werden kann, fondern mehr innerlih erſchauet 
und erahnet fepn will. — Es wird dann ferner aus der Sache 
ſelbſt und aus der Geſchichte deutlich ermiefen, daß diefe receptive 
Eontemplation (als Combination aller Seclenfräfte) befonders auf 
NatunrDffenbarung, aber fo gerichtet fepn müffe, daß neben der 
regelmäßigen Nothmwendigkeit der Naturgeſetze auch die Sreibeit 
des goͤttlichen Waltens erkannt werde. Nur das tiefere Eindringen 


in die Geheimniffe der Natur fihert gegen idealiftifhe Berirs 


rungen aller Art, daher fi die große Wichtigkeit echt: mwiffens 
fbaftlider Narurkenntnis mit allen ihr äugehörenden . 
oder untergeordneten Difciplinen ergibt. Der fogenannte Les 
bensmagnetismusd aber und beionderd der Somnambus 
lismus mit feinen unleugbaren, hoͤchſt bedeutungsvollen Ers 
fbeinungen kommt bier .infofern in vorzügliben Betracht, 
weil er als Gipfel des geiftigen Schauens im menſchlichen Kern: 
wirfungs» und Bahrnehmungs Vermögen (menigftend auf den 
höheren Stufen der Ekſtaſe) ſich darftelit, mande bisher latente 
Beiftesanlagen-fhom auf Momente in Thaͤtigkeit feßt, fomit gleiche 
fam als Vorſtufe oder Anticipation eines höheren Dafepns ers 
ſcheint und als eine erwuͤnſchte Brüde zum Glauben daran betrach⸗ 
tet "werden muß. Da indeflen mande diefer fo beachtenswerthen 
Eriheinungen nod an ſich felbft theild in Zweifel gezogen, 
tbeild auf verfdiedene Weile gedeutet werden, auch dem theos 
logiſchen Publicum diefer ganze Gegenftand — wie einem fremden 
Gebiete angehörend — bisher zu unbefannt geblieben it, fo fdien 
ed erforderlich, mit Eritifher Sonderung hier in ein näheres Detail 
au gehen und diefe neu empfohlene Glaubensftüße zuvor felbft ge 
börig zu unterſuchen und, vom naturwiſſenſchaftlichen Standpunfte 
aus, befonderd durch betreffende Natur:Anmalogien (daher 
der — Titel des Werkes) zu ſtützen. Dieß ſchien dem 
Verf. um fo unerlaͤßlicher, weil auch in dieß pPfych diogifche 
(aber mit Theologie und Chriſtologie enge zuſammenhaͤngende) Ge⸗ 
biet die bloß reflectirende (ſich für die allein wiſfenſchaft⸗ 
liche ausgebende) idealiſtiſche Weltanficht bereits einge⸗ 
brungen it und dabei eine Alleinherrſchaft fi anmaßt, die dem 
Hriſtlich⸗ kirchlichen Glaubensleben immer mehr den. Untergang 
drohet. — Es ſcheint daher in unferer Zeit der biöher in fo viels 
fache Gegenfäge geBeil: Gegenſtand des theologiſch⸗philoſophifchen 

Streits nur auf wenige Hauptpunkte fih zu concentriren, 
Die aber deßhalb defto ſchaͤrfer ins Auge gefaßt und mit vereinter 


% 


J 


Kraft zur endlihen Entſcheidung gebradht werden müflen. Hier 
x —— auf dem Spiele und es gilt einen pi auf 
eben oder Tod. 

In einem fehr umfaffenden, aber möglichft gedrängten theolos 
sifhen Anhange faßt aulegt der Verf. die gefammten Refuls 
tate aller obigen Unterfuchungen zufammen und macht davon eine 
apologetifhe Anwendung 1) auf antiquarifd-hiftos 
rifhe Gegenflände EN der Genefis), Moſes Schoͤ⸗ 
pfungswert, — verglien mit allen alten Kosmogonieen, — 
Urmwelt, arnaeaun des Menſchengeſchlechts von 
Einem Paare, — Allgemeinheit Noadhifher Fluth; 
Rieſengeſchlecht, Thurmbau, Spradhvermirrung zc, 
desgleichen auf die angefochtenen Hauptpunfte der evanges 
fiſchen Geſchichte; 2) in dDoctrineller Hinfiht auf einige 
fhwierige Hauptpunkte der Gotteslehre, göttlihe Im⸗ 
manenz, Concurfus sc. Die DBertheidigung des dhriftlis 
hen Glaubens⸗Gehalts iſt auf freitige Dolitive Lehrſaͤtze 
vorzüglich beſchraͤnkt, infofern fie vom naturwiſſenſchaftlichen Stan 
punkte aus aufaufaffen find. 


In meinem Verlage ist erschienen und durch alle Buchhand- 
langen zu erhalten: 


Liber Decanorum Facnltatis Theologicae Acade- 
miae Vitebergensis. Ex autographo edidit Dr. C. E, 
Foerstemann. 8 Ladenpreis 1 Thir.: 

Neben vielen andern schätzbaren Notizen, die dieses Buch 
enthält, werden die, welche sich auf Martin Luthor beziehen, 
die Freunde der Reformationsgeschichte vorzüglich interessiren, 
Die ursprüngliche Schreibung seines Namens, so wie die Umstän- 


‚de‘seiner Doctor-Promotion sind darin actenmäfsig nachgewiesen, 


and die Auskunft über seine Verwaltung akademischer Aemter ist 
ganz so wiedergegeben, wie er sie selbst eigenhändig aufgezeich- 
net hatte. Der Abdruck ist mit diplomatischer Treue unter den 
Augen des Herausgebers besorgt worden, 
Leipzig, im September 1838. 


b) 


Karl Tauchnitz. 





Bei J. 3. Weber in Leipzig ift erſchienen: 
Sheologifde _ 
Propädeutit 
; oder 
Beiträge zu einer genauen Kenntniß des geiftlichen Berufes 
und der theologifchen Richtungen unferer Zeit 


von 
G. K. P. Heßenmüller. a 
Preis 2 The. = 3 FU 36 Kr, 


So eben iſt erfienen und an alle Buchhandlungen verfenbet ber 
erfte Band der angekündigt gewefenen dritten verbefferten 


Auflage ber — 
heiligen Schrift 
altenundb neuen Teſtaments. 
ueberſetzt mit Anmerkungen 
von 
Dr. W. M. L. de Wette, 
Die hiſtoriſchen Bücher des alten Teſtaments enthaltend. 
Subferiptionspreis für alle brei Bände: 
auf weißem Drudpapier 2 Thlr. 20 gl. oder 4 XI. 48 ir. 
auf weißem Velinpapier 4 Thlr. 4 gl. oder 7 Fl. 12 kr. 
Kür Subfcribentenfammler bei 12 Gremplaren das 13te frei. 

Diefe neue berichtigte Bibel- Ueberfegung in Luther's Geifl, Zion 
und Sprade ift durch die beiden frühern flarfen Auflagen bereits bes 
kannt und fehr verbreitet, fie wird fich in biefer neuen Auflage aud 
dadurch noch empfehlen, daß der Verleger für ein vorzügliches Papier 
in beiden Ausgaben, fo wie für einen ſchoͤnen reinen. Druck geforgt 
bat und dabei diefelbe noch wohlfeiler erläßt, als die vorhergehenden. 
Der 2te und 3te Band werben baldmoͤglichſt nachgeliefert werben. 
WVeidelberg, ben 20. October 1838. 

J. C. B. Mobr, 


In ©. G. Lieſching's Verlagsbuchhandlung zu Stuttgart 
iſt fo eben erſchienen und in allen ſoliden Buchhandlungen Deutſch⸗ 
lands und ber angrenzenden Länder zu erhalten: 


Die erwedlihen Schriften 
des Märtyrers 


Hieronymus Sapvonarola. 


Zur Belebung chriftlichen und kirchlichen Sinnes 
übertragen ; 
von 


; Georg Rapp, 
Pfarrer zu Oberurbach. 
5 22 Bogen. fein Velin. geb, 2 Fl. rhein., 1 Thlr. A gl. preuf. 
. An Luthers Geburtsjahr, im Jahre 1483, hielt in Florenz 
BSavonarola feine erfte Predigt, Im Jahre 1498 ftarb der chriſt⸗ 
lihe Reformator den Tod des Märtyrers, nachdem er'nod im Kerker 
feine erhebenden Betrachtungen Über den 31. Pfalm mit den Worten 
efchloffen: „Herr, wenn fie fi wider mich lagern, fo fürchtet mein 
erz fi nicht, denn Du bift meine Veſte und meine Burg!” — Den 
Mann, deſſen Bild uns die forfchende Gefchichte, wie ber edle Geiſt 
eines deutfchen Dichters wieder heraufgeführt haben, aud in feinen 


tiefgehenden Schriften felbft erkennen zu laſſen, bie bier in einer fo 
innigen als geiſtvollen Uebertragung Zum erftenmale in dDents 
ſcher Sprache erfheinen, war gewiß eine lohnende Aufgabe, bie 
dem reichen Buche auch die Theilnahme ſichern wird, welche e& von 
allen Zreunden wahrer Erbauung verdient, 


Bei Johann Auguft Meißner in Hamburg ift erſchienen: 
Entwürfe der über die evangelifchen Terte gehaltenen 
redigten von Auguſt Jacob Rambadı, Dr. und 
auptpaftor an der Hauptkirche zu St. Michael in 
amburg. 20ſte Sammlung (Jahrgang 1838). gr. 
8, geh. Drudp. 1 Thlr. 8 gl., Schreibp. 1.Thle. 16 gl. 
Die frlpern Jahrgänge find zu gleichem Preife zu haben. 





Bei K. F. Köhler in Leipzig ſind ſo eben nachftehende theo⸗ 
logifhe Werke erfchienen und durch alle Buchhandlungen zu beziehen: 


Magazin 
für 


Eregefe und Theologie 


pdedö neuen Zeftaments, 
herausgegeben von 
Dr. & 3. Rüdert 
1. Band, 1. Lieferung. 94 Bogen. brod, 16 gl. 


Das erfte Heft diefer beginnenden Zeitfhrift wirb ben Erwartuns 
gen entfpredhen, bie das theologifhe Publicum an daffelbe macht, und 
wie die folgenden Lieferungen dazu beitragen, dem Bedürfniſſe nad) 
einem dergleichen zweckmäßig rebigirten und tüchtige Beitraͤge enthals 
tenden Werke zu entfprecdhen. 


Hülfemann, Dr. M., Predigten und Geſänge über die 
Epifteln der Sonns und Fefttage ded Kirchenjahrs. 
2 Theile. gr. 8. 80 Bogen. 3 Thlr. 8 gl. 


Diefe Sammlung von Epiftelpredigten wurde bereits in 
mehrern Eritifchen Blättern mit Auszeihnung erwähnt und verdient 
allgemein empfohlen zu werben, indem fie fih nicht nur durch Klarheit 
in der Auffaffung, durch entfprehende Anordnung des Stoffes und 
durch große Vertrautheit mit der Schrift, fondern befonderd auch durch 
echt riftlihen Sinn — auszeichnet, 

Jeder der Herren Geiftlihen, weldher das Werl, bas nebenbei 
trefflihe Gefänge enthält, einfiehet, wird fi in feinen Erwartungen 
befriedigt finden. — Auch zum Vorlefen in Landkirchen dürften ſich 
namentlich die kürzern Predigten fehr eignen. 


— 


Bon demſelben Besfaffer erfchienen in den letzten Jahren nadı | 
ftehende zwei Erbauungsbücher, bie fi. der anerkennendſten Beurthei⸗ 
lung zu erfreuen baften: a 
Hälfemann, die Auferftehung bed Lazarus. Leben m 

Tod im Lichte der göttlichen Offenbarung, bargeficlt 

. Aa de und Gefängen. 1835. 185 Bogen, 
r. 


Derſelbe, Chriſtus und die Sünderin am Jacobsbrunnen 
oder der Weg zur lebendigen Quelle. Betrachtungen 
und Geſänge. gr. 8. 1837. (28 Bogen.) Mit 1 Kupf. 
1 Thlr. 16 gl. ö 


Kerner darf mit Recht nachſtehendes Werl empfohlen werben: 
Lebenss und Charafterfchilderungen zur Beför 
derung bes Chriftenthums. 2 Theile. 8. Aus dem 
Englifen. 1 Zhlr. 12 gl. 
"Unter andern kritiſchen Blättern heißt es in ber Hall. Litt.⸗deit. 
darüber: „Eine reht zweckmäßige Sammlung — fie kanıı dazu bier 
nen, ein glaubensvolles und thatkräftiges Chriſtenthum durch die aufs 
geftellten ermunternden und warnenden Beifpiele in den Kerzen hems 
[hend zu maden zc.” 


So eben ift erichienen und in allen Buchhandlungen zu haben: 


Geſchichte der Reformation 
in 
Dresden und Leipzig. 
Herausgegeben 
von 
M. Gottlob Eduard Leo, 


Fürftlih Schoͤnburgiſchem Sonfiftorialrathe, Superintendenten und Paſtot 
primarius zu Waldenburg, Mitgliede der hiſtoriſch⸗theolog. Geſell⸗ 
ſchaft zu Leipzig. 

er. 8. broch. Preis 12 gl. . 

Diefe Schrift fol ein Denkmal der im Zahre 1539 in Dresden 
und Leipzig erfolgten Ginführung ber Reformation ſeyn. Jedem 
Lehrer, ber feine Schüler auf diefes große Ereigniß aufmerkfam mas 
chen will, fo wie jedem evangelifdyen Ghriften, befonders aber den Bes 
wohnern von Dresden und Leipzig, wird dad Bud) eine fehr willkom⸗ 


mene Gabe ſeyn. 
Carl Enoblod in Leipzig. 





Sn unferm Verlage ift erſchienen: 
Lehbrbud — 
des chriſtlichen Glaubens und Lebens, 
für denkende Chriften 


und zum Gebraudy 
inden obern GSlaffen an den Gymnaſien. 
Bon Dr. P. Marheineke. 
Zweite verbefferte (um 8 Bogen vermehrte) Auflage. 
| Preis 1 Thlr. 
Nicolai’fhe Buchhandlung iu Berlin. 


- 


i Wichtiges Werk für Theologen!- 
Einlabung zur Subfceription auf: 


Pragmatiſche Geſchichte 


der # 


chriſtlichen Beredtfi amkeit und Homiletik, 


von den 
erſten Zeiten des Chriſtenthums bis auf unſere Zeit. 


| Nach den Quellen bearbeitet 
und mit Proben aus den Schriften der chriftlihen Redner 
verfehen. ee, 


BonDr. K. Fr. W. Pantel, 

Pfarrer zu Ziegelhauſen bei Heidelberg. 

Vorſtehend angezeigtes, für alle chriſtlichen Confeſſio⸗ 

nen hoͤchſt wichtiges, mit größter Unparteilichkeit abgefaßte Werk ers 

fheint in ſechs Bänden, jeder aà 30—40 Bogen in gras., wo⸗ 

von ber erfte bereits im Drude ift und in den erften 

Monatendesnähften Jahres ausgegeben wird, welchem 

der zweite im Laufe des Sommers folgt; die Übrigen Bände 

erſcheinen in kurzen Zwifchenräumen, da das Manufcript größtentheils 
Thon drudfertig ift. 

Kür Diejenigen, welche bis zum Erfheinen des ers 
fen Bandes auf diefes Werk unterzeihnen und fo daſ⸗ 
ſelbe unterftügen, beflimmen wir einen Subferiptionspreis von 

14 gl. ſäch ſ. für den Drudbogen in gr..8. auf [hönem 
... welder aber beftimmt bei Erfdeinen biefes 
andes erlifht und alddann um !/, erhöht wird, 

Ausführliche Profpecte Über Anlage und Ausführung dies 

fed Werkes, wie die theologifche Litteratur noch Feines befigt, find in 
allen Buhhandlungen des Ins und Auslandes gratis zu erhalten, 


Een 


Beftellungen um Subfcriptionspreife bittet man 
eeie ‚zu maden. Möge eine rege Theilnahme biefem gebiegenen 

erke zu Theil werben. 

Leipzig, im Rovember 1838. 

5 6 ®Buttig. 

In unferm Verlage find To eben erfchienen und in allen Bude 
bandlungen des Ins und Auslandes zu haben: 
Gredner, Dr. 8. %., Beiträge zur Einleitung in die biblt= 

fhen Schriften. 2. Band. (Dad altteflamentliche Urs 

evangelium.) gr. 8. 1Xhlr. 16 ggl. (1 Thlr. 20 Sgl.) 

Der 1. Band (die Evangelien der Petriner oder Jubendriften) 
erſchien 1832, und koſtet 2 Thir. 6 ggl. (2 Thlr. 74 Gel.) 


Bon bemfelben Verfaſſer erfchien ebenfalls in unferm Verlage: 
Der Prophet Joel, überfegt und erktärt. gr. 8. 1831. 
1 Thle. 12 ggl. (1 Thlr. 15 Sgl.) 
Einleitung in das neue Testament. Erster Band, in 
— ——— gr. 8. 1836. 3 Thlr. 6 ggl. (3 Thir. 
73 g J 


Tuch, Dr. Fr., Commentar über die Genesis. gr. 8. 
3 Thir. 6 ggl. (3 Thir. 74 Sgl.) | 
Buchhandlung bes Waifenhaufes in Halle. 


Sn dee Schweighäufer’fähen Buchhandlung in Bafel find 
erſchienen und in allen Buchhandlungen vorräthig: 

Schenkel, D. (Theologiae Lieent.), De ecclesia Corinthia 
primaeva factionibus turbata dissertatio. Inest de Cle- 
mentinorum origine argumentoque inquisitlo. gr. 8. geh. 
20 gl. od. 1 Fl. 2O kr. 


Den neueflen von Neander und Baur aufgeftellten Meinuns 
gen gegenüber ſucht diefe Schrift durch Zuziehung zum Theile noch 
unbeadhteter Quellen auf biftorifch : Britifchem — Charakter und Ur⸗ 
ſprung der korinthiſchen Vorgänge aufzuklären. Als ein Verſuch, die 
erſten Keime der Häreſie in wenig berückſichtigten Zuſtänden nachzu⸗ 
weiſen, darf ſie die beſondere Aufmerkſamkeit theologiſcher Leſer, zu⸗ 
mal der Kirchenhiſtoriker und Exegeten, anſprechen. 


Schenkel, D., Ueber das urſpruüngliche Verhaͤltniß der Kirche 
zum Kanon. Akademiſche Inauguralrede. gr. 8. geh. 

6 gl. od. 24 kr. 

Die in dieſer Rede ausgeſprochenen Anſichten möchten um fo mehr 
Berüdfihtigung verdienen, ald das Dogma von der Kirche durch bie 
neueften kirchlichen Vorgänge eine tiefgreifende Bedeutung für das 
Öffentliche Leben, wie für bie Wiſſenſchaft erhalten hat. 








Bei Ernft in Quedlinburg iſt erfchienen: 


‚ Dr. Ziegenbein, ®. H., Katechismus der chriftlichen 
Lehre, mit biblifhen Denkfprüchen und biblifchen Beifpies 
len verbunden. 6. revidirte Auflage. 221 Seiten. Preis 
10 Sgl. od. 36 fr. 

Iſt als einer der beten Katechismen fowohl ben Herren Pres 
digern, wie auch den Herren Schullehrern an Gymnaſien, Bürgers und 
höhern Zöchterfhulen zur Anſchaffung zu empfehlen. 


Die natürliche Religion. Für Alle, die nach Wahr⸗ 
beit, Recht und Zugend fireben, die Gott ver: 
ehren und die Menfchheit lieben. Neue Audgabe. Vom 
Dr. Heinichen. 15 Sgl. od. 54 fr. 

Diefe Schrift macht uns Gottes Allmacht und feine erhabe⸗ 
nen Gigenfhaften, feine Heiligkeit, Gerechtigkeit, Güte, recht 
anſchaulich; wir erbliden ihn darin in feiner ganzen Majeftät. — Mit 
ne endet fodann dieſes des Guten viel beförbernde 

ug 


¶ Belehrend fü Jedermann iſt die bellebte Schrift: 


Dr. Heinichen, Vom Wiederſehen nach dem Tode. 

. Sder ob wir und wiederſehen, — warum wir 
und wiederſehen; — Gründe für die Unfterblidhs 
teit der menſchlichen Seele; — wohin gelangen 
wir nach dieſem Leben und wie ift da unfer 
2008 befhaffen? 2. verb. Aufl. Preis 10 Sol. 
oder 36 fr. 


ine Erbauungäſchrift für Frohe und Sranernde, zur Beförbes 
rung der irdifchen und himmliſchen Glückſeligkeit. 


&o eben erſchien im Verlage von Breitlopfund Härtel in 
Leipzig: 


Der Sohanneil che Lehrbegriff, 
in ſeinem Verhaͤltniſſe zur gefammten bibliſch⸗chriſtlichen 
Lehre dargeſtellt 


Karl S$Srommann, 
Dr. und Profeffor zu Jena. 


In 12. Preis 2 Thlr. 12 gl. ober 4 Fl. 30 kr. rhein. 


! 


PETER 
Predigten und Cafualreden 


von 


Ruf, 
Doctor der Theologie und Philofophie, konigl. bayer. Eonfiftorialrath 
und prot. Pfarrer in Speyer. 


R Diefe im echt chriſtlichen Sinne gefhriebene Pres 
digtfammlung bildet nicht nur ein fehr vollftändiges und zweck⸗ 
mäßiges Mittel zur Beförderung ber häuslichen Erbauung und Ans 
dacht, fondern fie ift auch vollkommen geeignet, dem jüngeren Geiſt⸗ 
lichen als Wufter und Vorbild zu dienen.‘ Als eine reihe Quelle relis 
giöler Betrachtungen ift fie daher jeder Familie mit Recht ale unent: 

hrliches Hausbuch, dem Theologen ald ein brauchbares Gompendium 


zu empfehlen. 
Zwöoölf Predigten bilden einen Band resp. Jahrgang, weldyer in 
vier Lieferungen ausgegeben wird unb 1 51. 48 fr, oder 1 Zhlr. 


ſächſ. ko et. 
a 5 ©. Reidhard's Buchhandlung in Speyer. 
* 


So eben erſchien in der Rein' ſchen Buchhandlung in Leipzig: 
Die gallicaniſchen und deutſchen Freiheiten. 


Boſſuet, Hontheim und die Erzbiſchoͤfe zu 
Ems und Piſtoja an die katholiſche Geiſtlichkeit 
deutſcher Nation. 
Mit einigen Actenſtücken des Congreſſes zu Ems 
und der Synode zu Piſtoja. 
gr, 8. geh. 12 gl, j