DIE THERAPIE DER GEGENWART
MEDIZINISCH-CHIRURGISCHE RUNDSCHAU
FÜR PRAKTISCHE ÄRZTE.
(58. Jahrgang.)
Unter Mitwirkung hervorragender Fachmänner
herausgegeben von
Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer
BERLIN.
Neueste Folge. XIX. Jahrgang.
URBAN & SCHWARZENBERG
BERLIN
Friedrichstraße 105 B.'
1917.
WIEN
I., Maximilianstraße 4.
Alle Rechne Vorbehalten.
Julius Sittenfeld, Hofbubhdrucker., feerlln \V8i
huiAusfuhr zugelassen!
Sanitäisamt d. mil. Institute .
Nr. 154. Z.
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Die Therapie der Ge,
herausgegeben von f
58. Jahrgang Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer
Neueste Folge. XIX. Jahrg. BERLIN
1. Heft
Januar 1917
W 62 , Kleiststraße 2
Verlag von tJ KB AK & SCHWAKZEKBEKG in Berlin K 24 und WienI
Die Therapie der Gegenwart erscheint zu Anfang jedes Monat§. Abonnementspreis für den
Jahrgang 10 Mark, in Österreich-Ungarn 12 Kronen, Ausland 14 Mark. Einzelne Hefte je 1,50 Mark
resp. 1,80 Kronen. Man abonniert bei allen größeren Buchhandlungen, sowie direkt bei den
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Verlag in Berlin N, Friedriöhstraße 105B.
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INHALTS .VERZEICHNIS.
Originalmitteilungen, zusammenlassende Übersichten und
therapeutischer Meinungsaustausch.
Anämie, Über schwere — mit hämorrhag. Dia-
these b. Jugendlichen. Elisabeth Benecke 14.
Boluphen, neues Wundstreupulver bei'Haut- u.
venerisch. Krankheiten., J. Schaffer 291.
Colitis chronica gravis u. Bacillendysenterie in
ihren Beziehungen. H. Strauß 212.
— suppurativa, Ätiologie d. —, d. Ulcus chroni¬
cum recti u. d. Dysenterie. L. Dünner 165.
Darmerkrankungen, Diagnose u. Therapie d.
infektiösen —. G. Klemperer u. L. Dünner 313.
Denmotherma, Erfahrungen mit —. L. Culp 376.
Diarrhöen, Behandlung der tuberkulösen —.
M. Gutstein 326.
Diathermie im Kriege. H. Braun 136. >.
Diathese, Hämorrhagische, durch Milzexstirpa¬
tion geheilt. E. Benecke 418.
Dyspepsien, Neurogene u. psychogene — als
Kriegswirkungen. A. Albu 85.
Elarson und Solarson. Fjanz Bogner 39.
Epithelisierung v. Wundflächen d. Pellidöl
u. Azodolen. A. Blumenthal 423.
Ergotin-Merck. F. Baum 200.
Ernährung gesunder u. kranker Kinder bis zum
zweiten Lebensjahr in der Kriegszeit, Richt¬
linien für die — 278.
Ersatzarzneien. Herrn. Schelenz 352.
Erythrocytose und chronischer Alkoholismus.
F. W. Tallquist 246.
Fieber, Wolhynisches, Behandlung mit Kollargol.
Erich Richter 89.
Fleckfieber, Frühdiagnose. W. Perls 395.
— Heutiger Stand unserer Kenntnisse vom —.
H. Hetsch 329. 358.
Gallensteinbehandlung mit Agobilin. J. v.
Roznowski 341.
Gastrointestinale Störungen während der
Kriegszeit im Heimatgebiet. W. Weiland 282.
Gelenkrheumatismus, Behandlung des akuten
mit elektrokolloidalen Silberpräparaten. C.
Moewes 286.
Genickstarre, Z.Therap. d.—. J.Kudruacz 209.
Gichtphlebitis, Behandlung mit Dermotherma.
M. Vogel 115.
Hernien, Enteroptosen und Prolapse in ihrer
Beziehung zum Kriege und Reichsversiche¬
rungsordnung. D. Pulvermacher 375.
Herzfunktion, Über die Beeinflussung der —,
nachgewiesen durch die plethysmographische
Arbeitskurve. Ernst Weber 4.
Hygiene, Ärztliche Anteilnahme an der
sozialen. J, Waldschmidt 424.
Jod, Schilddrüse, Arteriosklerose. Carl Kraus 45,
Kardiastenosen, Eine neue Behandlung der —
mit meinen neuen Kardiasonden und meinen
neuen Kardiabougies. Wilhelm Sternberg 54.
Klimakterium, Über den Arthritismus des —
und seine Behandlung. H. Rosin 81.
Koagulen, Blutstillung durch—. 26.
Kreislaufstörungen, Campherbehandlung
funktioneller und nervöser —. Franz M.
Groedel 129.
KnegsärztlicheAbendeBerlin. 60. 99.182. 333.
Kriegsmehl, Mehlnährpräparate und Kranken¬
diät. G. Klemperer 215.
Laneps in der Therapie des Ulcus und Ekzema
cruris. Kahr 80.
Larynxstenose, Schwerste — in zwei Fällen
durch Süprarenin beseitigt. Riebes 78.
Leukogen. A. Gehring 440.
Lichtbehandlung in der ärztlichen Praxis,
Moderne. Disqu6 356.
Lues, Kombinierte Neosalvarsan-Quecksilber¬
behandlung. S. Samelson 345.
Lungenentzündung, Behandlung mit Opto-
chin. H. Rosin 207.
Magenchemismus, Über —, Pylorusstenose u.
nervöse Dyspepsie. Hugo Lüthje f 41.
Magengeschwür, Über die Heilbarkeit.
D. Gerhardt 1.
Magenpathologische Fragen. Schüle 133.
Malariabehandlung und Malariavorbeugung,
Richtlinien zur — 309.
Malzextrakte,Wertschätzung. G.Klemperer407.
Meningitis, Zur Behandlung d. — im allge¬
meinen und der Meningitis contagiosa im be¬
sonderen. H. Schottmüller 377.
Milchbildung, Physiologie u. Chemismus d.—
sowie deren Beeinflussung. F. Grumme 239.
Narkotische und Schlafmittel bei Kriegsteil¬
nehmern. S. Lissau 349.
Nasendiphtherie. G. A. Waetzoldt 250.
Neohormonal, Über —. G. Zuelzer 384.
Neurosen, Suggestionstherapie d. funktionellen
— im Feldlazarett. Manfred Goldstein 317.
Nierenentzündungen im Felde, Merkblatt für
Ärzte zur Verhütung u. Behandlung der — 116.
Nierenerkrankungen bei Feldzugsteilnehmern
und ihre Prognose. W. Weiland 241.
Novatophan K. G. Klemperer 240.
Oberarmresektionen, Behandlung ausgedehn¬
ter —. Georg Müller 218.
Obstipation, Mechanische Behandlung der chro¬
nischen —. K. Gerson 408.
Ödem, Quinckesches — mit epileptischen An¬
fällen. Susanne Rosenfeld 390.
Optochindarreichung, Bemerkungen zur —.
H. Rosin 374.
Organtherapie urosexueller und dermosexueller
Störungen. Max Marcuse 170.
Otosklerosenbehandlung, Versuche auf ätio¬
logischer Grundlage. Franz Kobrak 421.
IV " ' ' * jfnhälts-Verzeichnis. * *''
Parametritis, Die rectale Behandlung der chro¬
nischen —. D. Pulvermacher 57.
Paratyphus. B. Wolf 175.
Pellidol u. Azodolen u. ihre Anwendung als
Keratoplastika z. schnellen’ Epithelisierung
v. Wundflächen. A.' Blumenthal 423.
Peptolysin, ein Erepsinpräparat. F. W..Hop¬
mann 392;
Perkaglycerin und Tigo-Glycol, zwei Glycerin-
Ersatzmittel. Felix Mendel 49.
Phimose, Therapie d. —. K. Gerson 344.
Phthisiotherapie, Einige praktische Fragen aus
dem Gebiete der —. Adolf Bacmeister 162.
Pneumonie, Behandlung mit Optochinum basi-
' cum und Milchdiät. F. Mendel (Essen) 289.
Pocken, Diagnose und Therapie. Schnell 144.
Rachitis, Die Behandlung der —. E. Schloß
* 220. 262. 297.
Ruhr, Behandlung v. Folgezuständen. H. Strauß
409.
Sachverständigentätigkeit, Militärärztliche
— auf dem Gebiete des Ersatzwesens und der
militär-ärztlichen Versorgung 28. 100.
Salvarsan u. Tabes. L. Jacobsohn 438.
Secalvsatum Bürger in der gynäkologischen und
geburtshilflichen Praxis. T. Schergoff 342.
Sexualneurasthenie, Aphorismen über —.
Erich Lewy 141.
Shock bei Bauchschuß Verletzungen, Gibt es
einen-? E. Gräfenberg 259.-
Sklerose, Bemerkungen über multiple — nach
eigenen Erfahrungen. Herrn. Schlesinger 201.
Strahlentherapie, Entwickelung der gynäko¬
logischen —. H. Eymer 121. $
Tripperspritze (Dosierungs-) mit Tagesfüllung.
Dreuw 168.
Tropfenherz, Plethysmographische Unter¬
suchungen bei. L. Dünner£414.
Typhusbehandlung mit Hydrargyrum cyana-
tum. Gellhaus 113.
Uterusmyom, Die Entscheidung zwischen sym¬
ptomatischer, Strahlen- und operativer Thera¬
pie beim —. L. Blumenreich 21.
Vesicaesan, Unsere Erfahrungen mit —.
J. Trebing 75.
Vblkskrankheiten, Ethisches im Kampfe gegen
die —. B. Laguer 159.
-rajrv
Sachregister.
Agobilin 341.
Alkoholismus 102.
—, Chronischer 246.
Alkoholinjektionen s. Erblin¬
dung.
Alkoholsitte 102.
Alveolarpyorrhöe 147.
Amaurose 307.
Amenorrhoe 227.
— (Kriegs-) 271.
Amputations- und Prothesen¬
frage 63.
Amyelie 14.
Anämie 14. 103. 228.
Aneurysma d. Carotis interna 399.
Aneurysmen 35.
Appendicites 427.
Arbeitskurve 4.
Armprothesen 103.
Arsengehalt der Geschosse 148.
Arsenwasserstoff 366. -
Arteria vertebralis 228.
Arteriosklerose 45.
Arthritismus 81.
Arzt u. vaterl. Hilfsdienst 333.
— am Hofe Nikolaus I. 270.
Ärztestand, Zukunft 399.
Asthma bronchiale 186.
--frage 228.
Atemtherapie 334.
Autovaccinebehandlung 149.
Azodolen 423.
Bacillendysenterie 212.
Bacillenträger 98.
— (Typhus) 148.
Badekuren beim Kinde 335.
Bauchschüsse 64.
-schmerzen 397.
-Schußverletzungen 259.
Beckenbruch 149.
Blase, Anästhesierung 302.
Blasenruptur 64.
Blasse Zustände im Kindes¬
alter 339.
Blennorrhöea vaginae 302.
Blut 36.
-Stillung 26. 366.
Blutungen 65.
—, Abdominale 65.
—, Okkulte 237. 366. 400.
Boluphen 229. 291.
Botulismusvergiftung 31.
Brucheinklemmung 271. 303.
Brustschüsse 334.
Campherbehandlung 129.
Carnes-Arm 65.
Chiningewöhnung 400.
Cholera asiatica 186.
Cholinchlorid 72.
Cignolin 103.
Colicystitis 186.
Coliinfektion 104.
Colipyelitis 186.
Colitis chronica 212.
— suppurativa 165.
Contracturen 70.
Cystostomie 427.
Dakin-Lösung 428.
Darmerkrankungen 33. 313.
-resektion 229.
Dermotherma 115. 376.
Diabetes 183.
— insipidus 150.
— mellitus 32.
Diarrhöen, Tuberkulöse 326.
Diathermie 136.
Diathese 14. 100.
—, Hämorrhagische 231. 418.
Diät und Küche 184.
Dickdarmfisteln 187.
Dienstbeschädigung 101.
Digitalisanwendung 95.
-behandlung 31.
— -präparate 272.
Duodenalverschluß 187.
Dysenterie 165.
Dyspepsien 41. 85.
Eklampsie 303.
— der Schwangeren 273.
Ekzema cruris 80.
Elarson 39.
Empfängnis 183. .
Enteroptosen 375.
Epilepsie 151.
Epileptische Anfälle 367.
Epithelisierung v. Wundflächen
423.
Erblindung nach Alköholinjek-
tionen 368.
Ernährung 69.
Ersatzarzneien 352.
Erysipel 158. 229.
-behandlung 66.
Erythrocytose 246.
Eucupin 302.
Eugenik 188.
Eukodal 230.
Extremitätenfrakturen 368.
Fettsäureäthylester 104.
Fibrolysintherapie 34.
Fieber und Fiebermittel 225.
—, Wolhynisches 89.
Fingerverluste 34.
Fleckfieber 66. 151. 189. 329.
358. 395.
-epidemie 189.
-Studien 40 L
Inhalts ‘-Verzeichnis.
Fortpflanzungshygiene 188.
Fraktur, Subkutane 104.
Fünftagefieber 230.
Fürsorge, Soziale 269.
Gallensteinbehandlung 341.
Gallensteine 66.
Ganglion Gaseri 368.
Gasbacilleninfektion 402.
Gasgangrän 34.
Gastrohydrorrhöe 152.
Gastrointestinale Störungen 282.
Geburtenrückgang 338.
Geburtshilfliche Fragen 337.
— Operationen, Indikationen u.
Prognose 364.
Gefäßverletzungen 35.
Gehirnvorfall 104.
Gelenke, Schuß Verletzungen 190.
Gelenkeiterungen 368.
-enden 104.
-mobilisation 67.
-rheumatismus 190.
-, Akuter 286.
Genickstarre 209. 377.
Geschlechtskrapkh. 35. 105. 182.
-leben des Weibes 184.
Geschosse 191.
—, Arsengehalt 148.
Getreidekeimlinge 105.
Gichtphlebitis 115.
Glottisödem 231.
Gonokokkensepsis 191.
Gonorrhöe 106.
Gynäkologie 1916/17 337.
Habitus 100.
Halsdrüsentuberkulose 68.
- Schlagadern 36.
Hand- und Fingerverletzungen
Kriegs verwundeter 182.
Harnröhre, Infektionen 110.
Hautkrankheiten 273.
— u. vener. Krankheiten 291.
Hautverpflanzung 274.
Hernien 68. 375.
Herzfunktion 4.
-gewicht 68.
-hypertrophie, Idiopath. 369.
-jagen 304.
-schwäche, Konstitution. 335.
Hirnhämorrhagie 152.
Homosexualität 365.
Hydrargyrum cyanatum 113.
Hydrocele 428.
Hydrocephalus 71.
Hydrocithin 275.
Hygiene, Soziale 424.
Hyperextension 106.
— s.-Behinderung 428.
Hypophysenextrakte 428.
Hypotonie 304.
Ikterus 153. 232.
Impetigo contagiosa 107.
Infektion, Ruhende 69.
Jod 45.
Kalksteingicht 274.
Kardiabougies 54.
— -sonden 54.
- Stenosen 54.
Katheterisieren 234.
Kieferschußtherapie 268.
-Verletzungen im Kriege 268.
Kinderernährung im Kriege 334.,
Kindesalter, Blasse Zustände 339.
—, Krankheitszustände 235.
Klebrobinde 107.
Kleinkinder 69.
Klimakterium 81.
Kniegelenk 339.
-steife 403.
Knochenbruch d. Extremität. 192.
Knochenfisteln 70. >
-marksatrophie 14.
-plastik 107.
— und Sehnenplastik 275.
Koagulen 26.
Kollargol 89.
Komplementgehalt 36.
Krankendiät 215.
-ernährung im Kriege 334.
-pflege, Chirurgische 63.
Krankheitszustände im Kindes¬
alter 235.
Krätze 192.
Krebsheilung 403.
Kreislaufstörungen 129.
Krieg und Diabetes 183.
Kriegsärztliche Abende 60. 99.
182. 333.
-amenorrhöe s. Amenorrhoe.
-beschädigtenfürsorge, Orga¬
nisation 182.
-Chirurgie 268.
-chirurgische Erfahrungen
428.
-epidemiologische Erfahrun¬
gen 364.
-herz 193.
-mechanotherapie 63.
— -mehl 215.
-nephritis 236. 275.
-neugeborenen 153.
-paralyse 429.
-rentenempfänger 153.
-seuchen 403.
-Verletzungen nach im Felde
gewonnener Bilder 335.
Lähmungen 70.
Laneps 80.
Larynxstenose 78.
Lazarettzüge 182.
Lecithinpräparat 275.
Leukämie 430.
Leukocytose 430.
Leukogen 440.
Leuko-Myelotoxikosen 431.
Lichtbehandlung 356.
Lidplastik 193.
Lues 345.
— congenita 431.
Luftembolie 193.
Luftröhrenschnitt 235.
Lunge, Tuberkulöse 112.
—, Fettplastik 370.
Lungenblutung 154.
-entzündung 207.
-krankheiten 101.
Lupusbehandlung 275.
Lupus erythematodes 404.
Lymphgefäße und Lymphdrtisen,
Chirurgie 399.
Magenblutung 107.
Magenchemismus 4L
—, Beeinflussung der Röntgen¬
strahlen 372.
Magen-Darmkrankheiten 364.1
-geschwür 1.
-pathologie 133.
-resektion 154.
Magnesiumperhydrol Merck 236.
Malariabehandlung 309. /
— -parasitenträger 236.
-Vorbeugung 309.
Malzextrakte 407.
Materna 1,05.
!. Mehlnährpräparate 215.
'Meningitis 71. 377.
— cerebrospinalis epidemica 155.
— contagiosa 377.
—, eitrige 404.
— epidemica 70.
Milchbildung 239.
— -diät 289.
Milzbestrahlung 431.
Milzexstirpation 418. 431.
Mund Verletzung 72.
Muskelrheumatismus 305.
Myom 338.
Nachtblindheit 404.
Narben 72.
-bildung 195.
Narkotica 349.
Nasendiphtherie 250.
Neohormonal 384.
Neosalvarsan- Quecksilber¬
behandlung 345.
Nephritiden 30.
Nerven 194.
-defekte 370.
-heilstätten 432.
-Kicken 37.
-leitungsanästhesie 194.
-schußschmerz 365.
-System, Pharmakotherapie
370.
-Verletzungen 155.
Neurastheniker 37K
Neurofibromen 108.
Neurosen, Funktionelle 317.
-heilungen 307.
Nierenentzündungen 116.
-erkrankungen 241.
-krankheiten 184.
-leiden 184.
Novatophan : 'K 240.
Oberarmresektionen 218.
Oberschenkelamputation 276.
Obstipation, Chronische 408.
Ödem, Quinckesches 390. .
Okkulte Blutungen 237. 366. 400.
Onanie 365.
Opiumsitte 102,
Optochin 207.
-darreichung 374.
Optochinum basicum 289. 307.
Organtherapie 170.
Osteomyelitis 194.
Otosklerosenbehandlung 421.
Ozaena 372.
Paralyse 405.
Parametritis 57.
Paratyphus B 175.
— B-Infektion 156.
Parotisfisteln 237.
Patella 194. 237.
Pellidol 423.
VI
Inhalts-Verzejchnis.
Peptolysin 392.
Peritonitis 194. 372.
Perkaglycerin 49.
Phimose 344.
Phthisiotherapie 162.
Plethysmographische Unter¬
suchungen 414.
Plexusschußverletzung 372'.
Pneumonie 289.
Pocken 144.
-erkrankungen 183. /
-impfung 238.
Prolapse 375.
Prostatahypertrophie 72.
Prothesen, Innere 335.
Providoform 108.
'Pseudarthrosen 108.
Pseudogenickstarre 109.
-skabies 110.
Psoriasis vulgaris 107.
Psychiatrie 62.
—, klinische 398.
Pylorospasmus 72.
Pylorustenöse 41. 238. 432.
Rachitis 220. 262. 297.
Radium 273.
Rassenhygiene 188.
Regeneration 195.
Rettungswesen im Seekrieg 99.
Rindenepilepsie 196.
Röntgendiagnostik d. Magen- u.
Darmkrankheiten 364.
Röntgenstrahlen 372.
-verfahren 185.
Rückfallfieber 433.
Ruhr 38. 73. 196. 308. 409. 434.
Sachverständigentätigkeit, Mili¬
tärärztliche 60.
Salvarsan 438.
\
Sälvarsantherapie 73.
Samenbläschen 110.
Säuglingspflege 102.
Schädelplastik 111.
Schilddrüse 45. 276.
Schlafmittel 349.
Schmerz 38.
-behandlung 38.
Schulterluxationen 434.
Schußverletzungen peripherischer
Nerven 405.
Schwangerschaftsunterbrechung
183. 406.
Seborrhoea capitis oleosa 309.
Secalysatum Bürger 342.
Sepsistherapie 372.
Sexualneurasthenie 141.
Sexuelle Störungen s. Störungen
435.
Shock 259.
Silberpräparate, Elektro-kolloi-
dale 286.
Sklerose, Multiple 34. 201.
Skorbut 435.
Skorbutfälle 111.
Solarson 39. 238.
Speicheldrüsenschwellung 435.
Spondylitis deformans 34.
Störungen, Dermosexuelle 170.
—, Urosexuelle 170.
Strahlentiefenbehandlung 269.
Strahlen- und operative Thera¬
pie 21.
-therapie 121.
Stuhlverstopfung 39.
Suggestionstherapie 317.
Suprarenin 78.
Symptomatologie innerer Krank¬
heiten 397.
Syphilis 74.
--
Tabes 438.
Taubheit 75.
Tego-Glycol 49.
Tetanus 197.
-rezidiv 39.
Thorakoplastik 199.
-Thrombopenie 418.
Thymushyperplasie 436.
Tibiadefekte 156.
Todesfälle, Plötzliche 101.
Tollwutschutzimpfurig 436.
Transplantation 438.
Tripperspritze (Dosierungs-) 168.
Tropfenherz 414.
Tuben, Operation 406.
Tuberkulin-Herdreaktion 156.
Tuberkulose 436.
Tuberkulose der Schilddrüse 276.
Typbus abdominalis 157.
-bacillenträger 148.
-behandlung 113.
— u. Nervensystem 437.
-Schutzimpfung 437.
Ulcus 80.
— -chronicum repti 165.
Unterbindungen 438.
Unterschenkelamputation 277.
-geschwür 112.
Uterusmyom 21.
Vaccineurinther^pie 373.
Varicen 112.
Venenautoplastik 374.
Vesicaesan 75.
Volksnahrungsmittel 105.
Wassermannsche Reaktion 157.
399.
Wolhynisches Fieber s. Fieber, W.
Wunden 158.
Autorenregister.
(Die Seitenzahlen der Original-Mitteilungen sind fett gedruckt.)
Albu, A. 85. 183. 232.
Aschoff (Berlin) 182.
— 100. 184.
Bacmeister 101. 162.
Baracz 276.
Barany 100.
Barrenscheen 196.
Baum, F. 200.
Baumstark 435.
Behrend, El. 102.
Benecke, Elisabeth 14.
418.
Bethe 37.
Bier 195.
Birk 436.
Blau 60.
Bleuler, E. 62.‘'
Blumenreich, L. 21.
Blumenthal, A. 423.
Boas 366. 432.
Bogner, Franz 39.
Bonhöffer 60.
Boral 111.
Borchard, A. und
Schmieden, V. 268.
Borchardt 39. 73,
Boruttau 49.
Braun, H. 136.
Bräutigam 107.
Breuer, R. 49.
Brix 187.
Bruck, C. (Altona) 74.
Bruegel 372.
Brunzel 271.
Bumke, E. 149.
Bumm 338.
Busch 428.
Cohn, Max (Berlin) 65.
Culp, L. 376.
Curschmann, H. 109.
Deissner 106.
Dessauer, Fr. 185.
Dibbelt 68.
Dietrich 271. 275.
Disque 356.
Döderlein 338.
Dreuw 168.
Dub 75.
Dünner, L. 165. 414.
Eckstein 271.
Edelmann, A. 190.
Eden 194.
Edens 31. 95.
Eymer, H. 121.
Fejes 157.
Fekete 428.
Findel 427.
Finsterer 434.
Fischer, H. 155.
—, Ilse. 105.
Frank (Breslau) 431.
Frank, H. H. 104.
Franke 70. 277.
Franz 273.
Freudenberg 157.
Freund u. Speyer 230.
Frey 189.
Friedemann 183.
Frostell, Gunnar 63.
Fiihner 366.
Galambos, A. 364.
Gassul 372.
Gehring^440.
Gaupp 28.
Geib 182.
Gellhaus 113.
Geppert 95.
Geraghty 111. ■'
Gerhardt, D. 1.
Gerson, K. 344. 408,
Ginsberg 307.
Gluck 335.
Goebel 158.
Goldscheider, A. 38.
Goldstein 29.
—, Manfr. 317.
Graefe 227. 271.
Gräfenberg 259.
Grober (Jena) 65.
Groedel, Fr. M. 129.
Groß 370.
— (Harburg) 275.
Grumme 239. 303.
Giirber 275.
Gütig, Carl 64.
Gutstein, M. 326.
Haas, Gg. 186.
v. Haberer 187.
Hagedorn 190.
Hans 104.
Hansen 235.
Hansser, P. 63.
Inhalts-Verzeichnis.
VII
Hayward 229. 333. 372.
Heddaeus 234.
Heichelheim 39.
Hetsch, H. 329. 358.
Heubner 335.
Hildebrandt 230.
Hirschberg 158.
Hirschfeld, H. 232. 430.
His 61.
Hofbauer 228. 334.
Hof mann 111.
v. Hof mann, G. 188.
Hoffmann 61. 238.
Hofstätter 63.
Holitscher 102.
Holländer 274.
Hopmann, F. W. 392.
Horn, P. 153,
Hübner 431.
Ickert, F. 153.
Ihle 103.
Jacobsohn, L.'438.
Jacobsthal (Hamb.) 66.
v. Jaworski 271.
Jessen 103.
Kahr (Nürnberg) 80.
Kalb, Otto 151. 193.
427.
Kaminer u. Zondek236.
Katzenstein 69.
Kaufmann, P. 269.
Kaznelson 231.
Kenez 108.
Keppler, W. (Berlin) 66.
Kirchner 182. 196. 370.
Kisch, H. 152. 184.
Kleinschmidt 32.
Klemperer, G. 215. 240.
334. 407.
—, G.u. Dünner, L. 313.
Knotte 112.
Kobrak, F. 421.
KochJ433
Kocher 49. 112.
Koenig 68. 154.
Köhler 103.
Kolle 147.
Koennecke 368.
Kraus, C. 45. 49.
—, Fr. 100. 335. 369.
Krause, P. 148.
Krehl, L. 49.
Kreuter 65. 197.
Krohne 183.
Kronberger, H. 199.
Krückmann 30.
Kudruäe i 209.
Küttner 228. 366.
Langstein 334.
Lanz 438.
Laquer, B. 159.
Lehndorff, A. 49. 186.
Lenk 238.
Leusser 304.
Levy, F. 189.
Lewandowsky, M. 370.
Lewy, Erich 141.
Lewin 148.
Lexer 35. 104. 375.
Lichtenstein (Leipzig)
273.
Lissau, S. 349.
Löffler 428.
Lüth, W. (Thorn) 73.
Lüthje, Hugo f 41.
Mackenrodt 338.
Maier 107.
Mandelbaum 36.
Mandt, M. 270.
Marcuse, M. 170.
Martin, A. 337.
—, Ed. 338.
Massini, R. 191.
Mendel, Felix (Essen)
49. 289.
Meyer 107.
—, C. 149.
—, H. u. R. Gottlieb 49.
Misch u. Rumpel 268.
Mörchen 236.
Moro 155.
Most, A. 399.
Moszkowicz 72. 156.
Moewes, C. 286.
Much 436.
Mühsam, R. 71.
Müller 229.
—, Er. 339.
—, Friedr. 184.
—, Georg 218.
Naunyn 236.
Neisser, Albert 270.
Neugebauer 193.
Neuheuser 34.
Nieden 107.
v. Noorden 62. 105.
Novak 150.
Oppenheim 29.
Ortner 397.
Oswald, A. 49.
PayrJ339. 368.
Perls, W. 395.
Perthes 237. 237. 274.
438.
Pfaundler 69.
Pfeiffer 436.
Pick 105.
—, G. 399.
Pok 271.
Port 231.
Pulvermacher, D. (Ber¬
lin) 57. 375.
Ranft 34.
Rassiga 72.
Raether 307.
Reich 229.
Reichel 108.
Reinhard 194.
Richter,< Erich 89.
Riebes (Hachenburg)78.
Riedel 70.
Ringel 192. 368.
Roosen 373.
Röpke 67.
Rosenfeld, Sus. 390.
Rosenhaupt 434.
Rosin, H. 81. 207. 374.
Rost 64.
Roznowski 341.
Rüge, Paul 338.
Rumpel, Th. und A. V.
Knack 33.
Samelson, S. 345.
Sauerbruch 103.
Saxl u. Melka 435.
Schaffer 271.
—, J. (Bresl.) 270. 291.
Schede 31.
Schelenz, H. 352.
Schergoff 342.
Schlecht 66.
Schlesinger, E. 364.
—, H. 201.
—, Wilh. 184. .
Schlomer, G. 398.
Schloss, E.220.262.297.
Schloessmann 365.
Schmidt 237.
— u. Kauffmann 308.
Schmincke 192.
Schneider 302.
Schnell 144.
Schönheimer 333.
Schöppler 107.
Schottmüller 377.
Schröder 367.
Schüle 133.
Schütz 371.
- J- 304.
Schwalbe 49. 238.
Schweitzer 271.
Seiffert, G. 437.
v. Seuffert, E. 269.
Siebelt 193.
Siebert 34.
Siegel 271.
Sonnenberger 432.
Sonntag 305. 399.
Spaeth, Fr. 98,
Staelmann 60.
Starkenstein 225.
Steinschneider 268:
Stekel, W. 365.
Stephan, R. 156.
Sternberg, Wilhelm
(Berlin) 54.
Stertz 437.
Stier 29.
Stöckel 337.
Stolz 104.
Strasser-Eppelbaun
102 .
Straub 272.
Strauss 152.
—, H. 30. 212. 409.
Strohmeyer 156.
Stulz (Berlin) 70.
Suter 106.
Sweitzer 273.
Tallquist, F. W. .246.
Tschirsch 153.
Trebing, Joh. (Berl.) 75.
Tsiminakis 36.
Uemura 276.
Unna, P. G. 110.
Unverricht 103.
zur Verth 99.
Vogel, M. 115.
Waldschmidt, J. 424.
Walther 194. 364.
Warstat 112.
Wätzoldt 30. 250.
Weber 429.
—, Ernst 4.
Wederhake 428.
Weicksel 186.
Weihe 235.
Weiland, W. 241. 282.
Weill, G. 275.
Weinert 335.
Westenhüfer, M. 71.
Wichura 373.
Wiemann 303.
Wiese, 0. 38.
Wiesner, B. 185.
Wilms 68. 72. 72. 194.
372.
Windrath 154.
Winkler, Ferd. 108.
Wolf 174.
Wolff 302.
—, Br. 151.
— 191.
Wollenberg 182.
Zander 154.
Zimmermann 228.
Zuelzer, G. 384.
v. Zumbusch 309.
Zweig 35.
Die Therapie der Gegenwart
1917
herausgegeben von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer
in Berlin.
Januar
Nachdruck verboten. *
Über die Heilbarkeit des Magengeschwürs.
Von Prof. Dr. D. Gerhardt-Würzburg.
Durch die Ausbildung der Röntgen¬
technik ist die Erkennung des Magen¬
geschwürs in ganz ungeahntem Maße er¬
leichtert worden. Bei vielen, nach den
früheren Untersuchungsweisen zweifelhaft
bleibenden Fällen kann die Diagnose
jetzt mit sehr viel größerer Wahrschein¬
lichkeit, bei einer großen Reihe mit
Sicherheit gestellt werden, und oft er¬
laubt die neue Methode nicht nur das
früher vielfach vergeblich erstrebte Ziel,
die Erkennung des Sitzes des Geschwürs,
sondern sie gibt auch über Größe und
Alter des Geschwürs Auskunft.
Die mit den neuen Methoden gewon¬
nenen Erfahrungen gestatten bereits, die
bisherigen Anschauungen über Pathologie
und Therapie des Magengeschwürs in
einigen wesentlichen Punkten teils zu be¬
stätigen, teils etwas zu verändern.
1 .
Hier ist zunächst hervorzuheben eine
kleine Gruppe von Fällen, bei denen trotz
des sichersten klinischen Zeichens, reich¬
lichen Blutbrechens, am Röntgenschirm
auch bei wiederholter Durchleuchtung
kein abnormer Befund nachzuweisen ist.
In einem solchen Falle konnte ich mich kürz¬
lich vor und nach dem Blutbrechen hiervon über¬
zeugen. Patientin kam mit rezenten unsicheren
Beschwerden, wurde deshalb am Röntgenschirm
untersucht, wo nichts Abnormes gefunden wurde;
kurz danach kam sie mit schwerer Magenblutung
in die Klinik, aus der sie nach einigen Wochen
beschwerdefrei entlassen wurde; drei Wochen
später neue Durchleuchtung wieder ohne patho¬
logischen Befund.
Es handelt sich in solchen Fällen
offenbar um oberflächliche Geschwüre,
die keine tieferen Substanzverluste be¬
dingen und keine reflektorische Wirkung
auf die Magenmuskulatur ausüben. Es
ist ja bekannt, daß die superfiziellen
Geschwüre dem Nachweise durch Röntgen¬
strahlen entgehen, oder nur aus indirekten
Symptomen (dem lokalen Contractions-
ring, dem 6-Stundenrest) wahrscheinlich
gemacht werden können. Andererseits
lehrt die Erfahrung, daß auch oberfläch¬
liche Ulcera zu sehr abundanten Blutun¬
gen führen können.
So verloren wir ein 16jähriges Mädchen an
unstillbarer, zehn Tage dauernder Magenblutung,
die Sektion ergab ein erbsengroßes, nur die
C ''
Schleimhaut und die Submucosa durchsetzen¬
des, flaches Geschwür an der kleinen Kurvatur,
in dessen Grund das arrodierte Lumen einer
kleinen Arterie freilag.
Solche Geschwüre, welche auch bei
wiederholter Untersuchung keine sichere
Anomalie am Röntgenbild erkennen las¬
sen, bieten naturgemäß für die Aushei¬
lung gute Aussichten. Wir können bei
ihnen mit einer wirklichen Überhäutung
und Narbenbildung rechnen. Und wenn
wir dieses Verhalten bei einigen Fällen
mit starken Blutungen, also bei klinisch
als schwer imponierenden Fällen beob¬
achten können, dann dürfen wir anneh¬
men, daß auch eine ganze Anzahl der
Fälle ohne Blutung zu dieser Gruppe der
oberflächlichen Geschwüre mit guter Hei¬
lungsaussicht gehören.
Dies gilt, wie wir annehmen dürfen,
nicht nur von Fällen mit typischer Ana¬
mnese, sondern auch von einer Reihe von
Fällen mit unbestimmten Magensym¬
ptomen. Wie groß die Zahl dieser relativ
leicht heilbaren superfiziellen Ulcera, wel¬
che wegen der Magenbeschwerden ärzt¬
liche Hilfe in Anspruch nehmen, in Wirk¬
lichkeit ist, läßt sich schwer beurteilen,
weil sie eben so schwer sicher zu diagnosti¬
zieren sind. Wichtig ist jedenfalls, daß
gerade die Röntgenbefunde uns berech¬
tigen, auch bei manchen klinisch schein¬
bar progressen Fällen auf völlige Heilung
durch die erprobte Ruhe- und Schonungs¬
kur zu hoffen.
2 .
Dieser Gruppe von Fällen steht jene
andere gegenüber, in der das Röntgenbild
eine deutliche ,,Nische“ (Haudecksches
Divertikel) aufweist. Mit der zunehmen¬
den Erfahrung hat sich die Anzahl der
Fälle mit positivem Nischenbefund ent¬
schieden vergrößert. So wurden in der
Würzburger medizinischen Poliklinik
unter 2500 Zugängen im Laufe der letzten
zwölf Monate 70 Fälle mit sicherer Nische
beobachtet, neben 7 Pylorusgeschwüren
und etwa 25 Fällen mit Geschwürsver¬
dacht, aber negativem Röntgenbefund.
Es ergab sich, daß geradezu die Mehr¬
zahl der Fälle, in denen die Vorgeschichte
und die Art der Beschwerden ein Ge-
l
2
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Jänuäf
schwlir wahrscheinlich machte, auch das ,
Nischensymptom autwies. Und dies gilt
nicht nur für diejenigen, deren Anamnese
auf Jahre zurückreicht, sondern auch für
jene Fälle, deren Beschwerden erst seit
ein paar Wochen bestehen.
Das Nischensymptom weist nun regel¬
mäßig auf ein die Magenwand perforieren¬
des, also auf ein altes, callöses Geschwür
hin.
Soweit die eigene Erfahrung reicht, kann ich
diese in den Lehrbüchern aufgestellte Regel
durchaus bestätigen. In ein paar Fällen mit ganz
kleinen, knospenförmigen Nischen wurde bei der
Operation ein zwar kleines, aber doch die Magen¬
wand bis dicht an die Serosa perforierendes Ge¬
schwür gefunden.
Die Röntgenbefunde sprechen also
dafür, daß bei der Mehrzahl der Patienten
mit typischen Ulcusbeschwerden, das heißt
bei der Mehrzahl derjenigen, bei welchen
früher auch ohne Röntgenbeobachtung
die Ulcusdiagnose gestellt werden konnte,
bereits tiefgreifende, offenbar seit lange
bestehende Geschwüre vorliegen. Eine
große Zahl von Magengeschwüren hatten
danach augenscheinlich ein ziemlich lang¬
dauerndes latentes Vorstadium.
Auf jeden Fall zeigen die Röntgen¬
untersuchungen, daß nur bei einem Bruch¬
teile der Fälle mit der typischen Anamnese
solche Zeichen vermißt werden, die mit
Sicherheit oder doch mit großer Wahr¬
scheinlichkeit (Hyperacidität, Contrac-
tionsring und 6-Stundenrest) auf ein
Ulcus hinweisen.
Man darf daraus schließen, daß bei
der Mehrzahl der Fälle mit Ulcus¬
beschwerden, die sich ja großenteils mit
Hyperaciditätsbeschwerden decken, tat¬
sächlich ein Geschwür vorliegt, und daß die
alte klinische Lehre zurecht besteht, man
solle in zweifelhaften Fällen lieber zu
rasch als zu zögernd mit der Diagnose
Geschwür bei der Hand sein.
Damit soll durchaus nicht geleugnet werden,
daß auch Ulcus- oder Hyperaciditätsbeschwerden
bestehen können, ohne daß ein Ulcus vorhanden
ist. G. v. Bergmanns Darlegungen, daß Magen¬
geschwür und Magenneurose gar nicht zwei sich
ausschließende Krankheitsbegriffe seien, daß viel¬
mehr das Geschwür oft geradezu die Folge abnor¬
mer Innervationseinflüsse sei, und daß die
Beschwerden bei beiden Zuständen in gleicher
Weise durch abnorme Sekretion und Moti¬
lität bedingt werden, ist außerordentlich an¬
sprechend, und mit den von v. Bergmanns
Schülern beigebrachten experimentellen Belegen
dafür, daß starke Vaguserregung zur Entstehung
von Magengeschwüren führe, stimmen die Ver¬
suche durchaus überein, welche im Laboratorium
der hiesigen Klinik von Gundelfinger ausgeführt
wurden.
Es ist auf Grund solcher Studien und
Beobachtungen zweifellos, daß auch ohne
Magengeschwür typische Magenge¬
schwürsbeschwerden bestehen können, wie
ja auch andererseits nicht so ganz selten
auch bei unbestimmten Beschwerden eine
deutliche Nische gefunden wird.
Trotz solcher Erfahrungen haben mich
die häufigen positiven Röntgenbefunde
doch gelehrt, daß bei den typischen Be¬
schwerden in der Mehrzahl der Fälle
tatsächlich ein Ulcus ventriculi besteht.
Als solche typische anamnestische Angaben
sind zu rechnen: Lange Dauer der Beschwerden,
Wechsel von schmerzhaften und schmerzfreien
Perioden, Abhängigkeit der Intensität der Schmer¬
zen von der Verdaulichkeit der Kost, Auftreten
der Schmerzen 1 / 2 bis 1 1 / 2 Stunden nach der Nah¬
rungsaufnahme, Ausstrahlen der Schmerzen in
den Rücken, namentlich links, Lokalisation der
Schmerzen im Epigastrium (meist ziemlich dicht
unterhalb des Proc. xiph.), Linderung der Schmer¬
zen nach Erbrechen, oft auch nach Genuß von
Milch oder anderer Nahrung oder von Natron
bicarbonicum, häufiges saures Auf stoßen, gut er¬
haltener Appetit, Neigung zu Obstipation.
Hier sei ein auch von anderen Autoren schon
hervorgehobenes Ergebnis der Röntgenstudien
erwähnt, welches für die Diagnostik verwertbar
sein kann, nämlich die Lokalisation des
Druckschmerzes.
Der Druckpunkt in der Mitte des Epigastriums
ist ja ein häufiges, aber durchaus nicht eindeutiges
Symptom des Geschwürs. Der Vergleich mit dem
Röntgenbild zeigt, daß diese Stelle gewöhnlich
außerhalb des Magens liegt, also jedenfalls nicht
dem Sitz des Geschwürs entspricht. Aber bei den
Fällen mit deutlicher Nische kann man relativ
häufig feststellen, daß gerade die Stelle der
Nische druckempfindlich ist, und daß diese
Druckempfindlichkeit sich entsprechend ver¬
schiebt, wenn die Nische durch Druck von außen
auf die tieferen Teile oder durch Einziehen des
Bauches nach oben gedrängt wird. Dem um¬
schriebenen Druckpunkt links (beziehungs¬
weise bei Pylorus- und Duodenalgeschwüren
rechts) von der Mittellinie scheint danach
größere Bedeutung für die Geschwürsdiagnose zu¬
zukommen als dem epigastrischen.
3.
Vielleicht noch bemerkenswerter als
die Häufigkeit des Nischensymptoms bei
scheinbar recenten Fällen ist der häufige,
beinahe regelmäßige Nischenbe¬
fund bei Geschwürsrezidiven, zu¬
mal bei solchen Patienten, welche vor
langer Zeit Geschwürsbeschwerden hatten,
dann Jahrelang beschwerdefrei waren und
nun aufs neue mit typischen Symptomen
erkrankten. Bei einem kürzlich in der
Poliklinik behandelten Falle dauerte das
schmerzfreie Intervall 15 Jahre.
Für solche Fälle waren bisher zweierlei
Deutungen möglich. Entweder war das
alte Geschwür seinerzeit geheilt und es
hatte sich neuerdings ein zweites Ge¬
schwür gebildet; oder es war das alte
Geschwür nur klinisch latent, geworden,
hatte jahrelang latent weiterbestanden
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1917.
3
und hatte dann doch wieder neue Be¬
schwerden verursacht.
Die Röntgenbeobachtungen sprechen
entschieden für die zweite Deutungs¬
weise.
In derselben Richtung weisen jene
Fälle, bei denen nach dem Abklingen der
Beschwerden, also nach der scheinbaren
Heilung des Geschwüres das Nischen¬
symptom nach wie vor in derselben Weise
weiter besteht.
Die Ergebnisse der modernen Unter¬
suchungsweise lehren somit dreierlei.
Sie zeigen erstens, daß ein kleiner
Teil der Geschwüre trotz starker
Blutung gute Aussicht auf völlige
Heilung bietet; sie lassen aber
zweitens die Zweifel berechtigt er¬
scheinen, welche seit lange über
die wirkliche Ausheilung der Mehr¬
zahl der Magengeschwüre durch
innere Behandlung geäußert wur¬
den; drittens bestätigen sie, daß
große, tiefgreifende Geschwüre
klinisch völlig latent werden
können.
4.
Bei den nach dem Röntgenbefunde
sicheren Geschwüren wird man also kaum
hoffen dürfen, mittels der üblichen Scho-
nungs- und Ruhekur eine wirkliche Hei¬
lung herbeizuführen. Aber man wird sich
deshalb doch kaum bei jedem Falle von
Ulcusnische zur Operation zu entschließen
brauchen. Die Verhältnisse liegen hier
offenbar ähnlich wie bei der Cholelithiasis,
wo die innere Behandlung ja auch nur ein
Latentwerden des Zustandes, keine völlige
Heilung erzielen kann und wo man des¬
halb doch nicht in jedem Falle zur Ope¬
ration zu drängen braucht.
Gerade auf Grund der Röntgenbilder
dürfen wir damit rechnen, daß trotz des
Weiterbestehens des Geschwüres die kli¬
nischen Erscheinungen ganz verschwinden
können. Ein Geschwür mit derbem,
kallösemRand und Grund braucht augen¬
scheinlich nur geringen Anlaß zu Be¬
schwerden und Gefahren zu bieten, auch
wenn es nicht vernarbt und nicht über¬
häutet ist; diese hängen vielmehr davon
ab, ob das Geschwür in seiner torpiden,
reaktionslosen Weise fortbesteht, oder ob
es sich vergrößert, weiter und tiefergreift.
Es ist, wie die Erfahrung ergibt, relativ
leicht, ein Geschwür in diesen torpiden,
blanden Zustand überzuführen. Die üb¬
liche Ruhe- und Schonungsbehandlung,
(sei es in der ursprünglichen Leubeschen
Form oder in einer der neueren Modifi¬
kationen) durch Wärmeeinwirkung unter¬
stützt, pflegt dies in einigen Wochen zu
erreichen.
Es ist klar, daß das um so leichter
geschehen wird, je länger man die Scho¬
nungskur durchführt, je später man die
Patienten zur gewöhnlichen Lebens- und
Verköstigungsweise zurückkehren läßt.
In manchen Spitälern gilt für die Be¬
handlung der Ulcuskranken die Regel, daß
nach Absolvierung der meist auf vier
Wochen ausgedehnten Diätkur zur ge¬
wöhnlichen Ernährungsweise übergegan¬
gen werden soll, gleichsam als Prüfstein
für den Erfolg der Kur. In der Mehrzahl
der Fälle wird bei dem ruhigen Rekon¬
valeszentenleben diese volle Kost auch
gut vertragen, und die Patienten können
beschwerdefrei und mit der Überzeugung,
daß der Magen wieder in Ordnung ge¬
bracht sei, das Spital verlassen.
Man wird aber Zweifel hegen müssen,
ob dieser Abschluß der Behandlung wirk¬
lich der richtige sei. Denn wenn wir über¬
zeugt sind, daß das Geschwür nicht ver¬
narbt ist und deshalb jederzeit leicht
wieder weiterschreiten und aufs neue Be¬
schwerden machen kann, dann werden
wir so viel wie möglich dahin zu wirken
suchen, daß alles vermieden wird, was ein
solches Wiederaufflackern des Ulcera-
tionsprozesses begünstigen kann. Wir
werden deshalb gut tun, den Ulcus-
rekonvaleszenten nicht in der
Überzeugung heimgehen zu lassen,
daß sein Magen jetzt soweit in Ord¬
nung sei, daß er die Hausmannskost
vertrage, sondern wir werden ihm
raten müssen, daß er auch in Zu¬
kunft bei vorsichtiger Kost bleibe.
Vorsichtige Kost in diesem Sinne heißt im
wesentlichen: solche Kost, welche im Magen
leicht in dünnbreiigen, emulsionsähnlichen Zu¬
stand übergeführt werden kann, und welche“ den
Magen weder mechanisch noch chemisch reizt;
also: Vermeiden von allem hartem (harte, un¬
genügend gar gekochte Kartoffeln und Wurzel¬
gemüse, gebratene, geröstete Kartoffeln, ungenü¬
gend zerkleinerte Kohlgemüse, rohes Obst) und
von allem, was schlecht vom Magensaft durch¬
tränkt wird (frisches, namentlich schwarzes Brot,
schwere Kloße und ähnliches); alle Speisen
sollen so zubereitet sein, daß sie leicht
mit der Gabel zerdrückt werden können;
sie sollen mitMesser und Gabel gut zerkleinert,
gut gekaut, langsam gegessen werden.
Scharfe Gewürze, fette, alkoholreiche und gä¬
rende Speisen und Getränke sind zu vermeiden,
ebenso sollen brennend heiße, aber auch eiskalte
Speisen vermieden^ werden; vermieden werden
soll schließlich die Überlastung und Überdehnung
des Magens, also sollen die Einzelmahlzeiten und
die dazu auf genommene Flüssigkeitsmenge nicht
allzu groß sein, die tägliche Nahrung soll nicht
] auf ein oder zwei Hauptmahlzeiten, sondern auf
1*
4
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Januar
vier bis fünf kleinere, unter sich annähernd gleich
voluminöse Einzelmahlzeiten verteilt werden.
Das sind Vorschriften, die sich bei
sehr vielen Menschen ohne allzu große
Schwierigkeit im Alltagsleben durchfüh¬
ren lassen.
Wenn es gelingt, die Befolgung dieser
Regeln auch für die spätere Zeit durch¬
zusetzen, in der die Patienten keine Ulcus-
beschwerden haben, dann werden wir den
häufigen Ulcusrezidiven am ehesten Vor¬
beugen können. Ob wir sie durch diese
Methode ganz vermeiden können, ist eine
andere Frage. Und für die Fälle, bei
denen die Rezidive sich wiederholen, wird
eben doch die relative Indikation zur
Operation mehr und mehr zur absoluten
Indikation werden, zumal wenn auch die
Blutungen rezidivieren, oder wenn ande¬
rerseits die äußeren Lebensverhältnisse
eine zweckmäßige Lebens- und Ernäh¬
rungsweise erschweren.
Ob neben den diätetischen Maßnahmen auch
Medikamente die Heilung, Vernarbung und vor
allem die Prophylaxe gegen neue Progredienz alter
torpider Ulcera wesentlich unterstützen, wird
immer noch verschieden beurteilt. Es ist kein
Zweifel, daß Wismut, Belladonnapräparate, Al¬
kalien, Abführmittel, wohl auch Argentum nitri-
cum bei der Bekämpfung der Ulcusbeschwerden
oft gutes leisten.
Aber solange wir über die näheren Entstehungs¬
ursachen der Geschwüre noch keine bestimmteren
Kenntnisse haben, wird es schwer sein, rationelle
medikamentöse Prophylaxe zu treiben. Die ur¬
sächlichen Beziehungen zu Hyperacidität und
Hypersekretion sind zwar nicht sicher, aber immer¬
hin wahrscheinlich. Aber die Bestrebungen, die
Hypersekretion zu bekämpfen, sind bisher noch
wenig aussichtsvoll. Länger fortgesetzte Verab¬
reichung von Alkalien, Atropin, Perhydrol, Magne-
siumperhydrol, Neutraion, Ölbehandlung, auch die
neuerdings vorgeschlagene Röntengbestrahlung
nutzen bei einigen Fällen, versagen aber bei der
Mehrzahl. Über die von Gläßner empfohlene
Behandlung mit gallensauren Salzen fehlen mir
noch eigene Erfahrungen.
Auch die besonders von Katzenstein ver¬
tretene Lehre, daß die Entstehung und Persistenz
des Ulcus auf Antipepsinmangel beruhe, hat noch
keine verwertbaren prophylaktischen Folgerungen
gezeitigt.
So sind wir in diesen Fragen im wesentlichen
auf die allgemeinen ärztlichen Erfahrungen an¬
gewiesen, und diese sprechen immer noch am
meisten für die alkalisch-salinischen und alkalisch-
muriatischen Quellen (Kissingen, Homburg, Karls¬
bad, Mergentheim und andere).
In den vorstehenden Ausführungen
wurde versucht, aus den bisher vorliegen¬
den Ergebnissen der Röntgendiagnostik
Schlüsse zu ziehen über Häufigkeit, Ver¬
laufsweise, Heilungsaussichten und La¬
tenzstadien des Magengeschwüres, und
hieraus praktische Nutzanwendungen ab¬
zuleiten.
Es ist zuzugeben, daß diese Schlüsse
und diese praktischen Regeln im Prinzip
nichts Neues darstellen, daß sie vielmehr
durchaus übereinstimmen mit dem, was
seit lange die pathologische Anatomie
gelehrt hat und was auf Grund dieser
anatomischen Erfahrungen von den Kli¬
nikern seit lange über die Häufigkeit,
über die Neigung zum Latentbleiben, über
die Chronizität des Magengeschwüres als
Regel aufgestellt worden ist. Manche von
diesen Regeln sind aber doch in die
Praxis nicht vollständig eingedrungen
oder sind durch verschiedenerlei Ein¬
flüsse im Laufe der Zeit etwas zurück¬
gedrängt worden; und deshalb ist es
vielleicht von einigem Wert, aus den
neuen Röntgenuntersuchungsmethoden,
die hier nahezu eine Autopsia in vivo
ermöglichen, die alten Regeln aufs neue
zu bestätigen.
Über die Beeinflussung der Herzfunktion, nachgewiesen durch
die plethysmographische Arbeitskurve.
Von Prof. Dr. Ernst Weber-Berlin.
Auf Wunsch der Redaktion dieser
Zeitschrift gebe ich hier einen kurzen Be¬
richt über den bezüglich der Therapie
der Herzkrankheiten interessierenden Teil
der Ergebnisse meiner während des Krie¬
ges im Reservelazarett Kunstgewerbe-
Museum ausgeführten Untersuchungen
an Herzkranken, über welche vor einigen
Wochen in der Zeitschrift für experi¬
mentelle Pathologie und Therapie eine
erschöpfende Abhandlung von mir er¬
schienen ist 1 ).
x ) Separata der betr. Abhandlung können vom
Verlag A. Hirschwald käuflich bezogen werden.
Die auf die Diagnostik der Herz¬
krankheiten bezüglichen Ergebnisse kann
ich hier nur mit sehr wenigen Worten be¬
rühren, ebenso auch die ziemlich schwie¬
rige Technik 4er Untersuchung und ver¬
weise in diesen Punkten auf die erwähnte
Abhandlung.
In einem kurzen Aufastz, den ich in
der entsprechenden Nummer des Vor¬
jahres in dieser Zeitschrift publizierte,
über die Anwendung der gleichen Me¬
thodik zum Nachweis von solchen Stö¬
rungen der Gefäßnerven, die nicht mit
Herzkrankheiten Zusammenhängen, findet
1. Heft
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12
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1917.
5
«ich Einiges, das auch hier von Bedeutung
ist.
Die seit 10 Jahren von mir ausgebildete
Methode (siehe die Abbildung 1) besteht
Schema der Versuchsanordnung bei sitzenden Patienten.
<Alle Kurven sind, im Gegensatz zu den Verhältnissen
obiger Abbildung, von links nach rechts zu lesen).
in Registrierung des Armvolums mit
gleichzeitiger Aufnahme der dazu unent¬
behrlichen Atmungskurve während der
Ausführung einer kräftigen, aber völlig
lokalisierten Muskelarbeit, die in schnell
abwechselnder Plantar- und Dorsalflexion
-des frei Jungenden Fußes besteht..
Nach meinen Feststellungen zeigt sich
heim Normalen während dieser Arbeit
■immer eine Zunahme der arteriellen Blut-
•fülle sämtlicher äußerer, muskulärer
Teile des Körpers (ausgenommen die des
Kopfes), die einen überaus zweckmäßigen
Vorgang für die Ausdauer in der Arbeit
darstellt und sogleich nach Beendigung
der Arbeit wieder zur Norm zurückkehrt.
Das Eintreten dieses normalen Vorganges
•erkennt man an dem Steigen und folgen¬
den prompten Absinken der Volumkurve
des Armes; die Registrierung des von mir
gleichzeitig gemessenen Verhaltens der
Bauchgefäße und Gesichtsgefäße ist nicht
unbedingt nötig.
Der Vorgang wird bewirkt . einmal
durch aktive Erweiterung sämtlicher
äußerer Blutgefäße (unter gleichzeitiger
Verengerung der Bauchgefäße) infolge
von Erregung der Gefäßzentren im Gehirn
von der motorischen Rindenzone aus und
zweitens durch gleichzeitige Verstärkung
der Herztätigkeit, die während der Arbeit
mehr Blut, als vorher, in die Peripherie
wirft und nach der Arbeit schnell wieder
zurückfließen läßt.
Störungen aller beteiligten Organe
verändern das Bild der entstehenden
plethysmographischen Arbeitskurve in
jedesmal charakteristischer Weise.
Bei Veränderungen der Zusammen¬
setzung des Blutes werden bei genügendem
Grade der Veränderung die von ihm
durchspülten motorischen Hirnrindenteile
in der Weise geschädigt, daß sie die bei der
Arbeit des Fußes die in ihnen entstehen¬
den Erregungen in umgekehrter Weise
zum Gefäßzentrum weiterleiten, so daß
eine Verengerung der äußeren Blutgefäße,
also umgekehrte Gefäßreaktion, während
der Muskelarbeit entsteht mit allen hier
nicht zu erörternden Nachteilen. Wir
erkennen das an der Senkung der Volum¬
kurve, die also negativ ausfällt. Das kann
bei allen möglichen Vergiftungen des
Blutes eintreten, daher auch bei dem
Überhandnehmen der Kohlensäure (und
anderen abnormen Beimischungen) in den
Fällen, wenn ein insuffizientes Herz nicht
mehr eine genügende Arterialisierung des
Blutes bewirken kann. Natürlich muß
man in einem solchen Falle erst die
anderen Möglichkeiten von Vergiftungen
des Blutes (auch Stoffwechselkrankheiten
stärkeren Grades) ausschließen.
Die Schädigung des Gefäßcentrums
kann auch nach Wiederherstellung der
normalen Blutzusammensetzung nach
längerer Zeit mit allen unangenehmen
Begleiterscheinungen (Schwäche, Kopf¬
schmerzen) bestehen, verschwindet aber
sofort nach Anwendung von Wechsel¬
duschen (siehe darüber meine Abhandlung
in der Januarnummer dieser Zeitschrift
des Vorjahres), was diagnostisch hier
wichtig ist.
Bei Stauungen im venösen Teil
des großen Kreislaufes ist natur¬
gemäß der Rückfluß des während der
Arbeit in vermehrter Menge in die Peri¬
pherie geworfenen Blutes zum Herzen
erschwert, und es drückt sich dies durch
einen sehr verzögerten Abfall der vorher
angestiegenen Arbeitskurve aus.
Bei Hypertrophie des linken Ven¬
trikels dauert im Gegensatz dazu der
Anstieg der Kurve bis* weit über das
Ende der Muskelarbeit hinaus, wozu die
Erklärung hier zu geben zu weit führen
würde. Dabei kann man deutlich er¬
kennen, wie weit die vor der Entwicklung
der (infolge der Krankheit entstandenen)
Hypertrophie vorhandene Insuffizienz des
Herzens beseitigt ist.
Da durch geistige Ermüdung, Nerven-
shock, oder durch die verschiedenen
6
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1917*
funktionellen Nervenleiden ~ttie plethys¬
mographische Arbeitskurve in keiner
Weise verändert wird, ist sie ein sicheres
Mittel, auf objektive Weise nervöse
Herzkrankheiten von organischen
zu trennen.
Ferner kann man dadurch genau das
Maß von Anstrengung jeglicher Art
bestimmen, das einHerzkranker ohne
Schädigung seines Herzens noch
leisten kann, denn bei Schädigung
seines Herzens durch eine beliebige Tätig¬
keit drückt sich dies genau an der nach der
Tätigkeit aufgenommenen Kurve aus im
Vergleich zu der vor der betreffenden
Tätigkeit aufgenommenen entsprechenden
Kurve. Über alles dieses ist Genaueres
in der erwähnten ausführlichen Abhand¬
lung einzusehen.
Sicherlich nicht der unwichtigste
Nutzen, den die Anwendung der neuen
Untersuchungsmethode gewährt, ist die
Möglichkeit, dadurch eine neue objektive'
Kontrolle der Wirkung der verschiedenen
therapeutischen Maßnahmen bei Herz¬
kranken zu gewinnen.
Zugleich ist die Tatsache, daß bei
den Kranken die Kurven, die vorher in
einer der oben erörterten pathologischen
Formen auftraten, nach Anwendung sol¬
cher Mittel, deren günstige Wirkung auf
das Herz bekannt ist, nach der normalen
Richtung hin verändert, ja auf gewisse
Zeit völlig normal gemacht werden können,
geeignet, die letzten Zweifel darüber zu
zerstreuen, ob die von mir als pathologisch
bezeichneten Kurvenformen wirklich mit
der Herzkrankheit Zusammenhängen.
Wenn solche Zweifel noch bestanden,
obwohl die betreffenden pathologischen
Kurven zum großen Teil überhaupt nur
bei Herzkranken sich finden, zum anderen
Teil nur noch bei bestimmten anderen
Veränderungen der Blutzusammensetzung
Vorkommen, die nicht mit Herzkrank¬
heiten verwechselt werden können, und
obwohl das pathologische Moment in den
einzelnen Kurven bei Verschlechterung
des Zustandes, z. B. nach Überanstren¬
gung des Herzens, regelmäßig stärker als
vorher hervortritt, so dürften diese Zweifel
kaum im Hinblick auf das hier zu er¬
örternde Material aufrecht erhalten wer¬
den können.
Außer der Wirkung von Sauerstoff¬
atmung und von Kältereizen unter¬
suchte ich vorläufig die der Medika¬
mente (per injectionem und per os), die
der Phlebostase, nur einige Male die
der Herzdiathermie, ferner die der
manuellen Herz- und Bauchmassage,
die der Kirchbergschen Saug-Druck-
Bauchmassage und die der Kohlen¬
säurebäder.
In gewissem Sinne kann die Wirkung
der Sauerstoffatmung auch zu den
therapeutischen Maßnahmen gerechnet
werden, denn negative Kurven bei Herz¬
kranken können bei Ausführung der¬
selben Muskelarbeit während der Ein¬
atmung von Sauerstoff wieder positiv
werden, wenn es sich dabei auch nur um
eine ganz vorübergehende Wirkung han¬
delt. Auch diese Wirkung erweist die
Richtigkeit der Annahme, daß die ne¬
gative Kurve bei Muskelarbeit schwer
Herzkranker durch eine Schädigung der
motorischen Hirnrinden-Regionen durch
das nicht mehr hinreichend arterialisierte
Blut verursacht wird.
Von der Anwendung von Kältereizen,
die eine ganz besonders starke bahnende
Wirkung auf die Gefäßzentren und ihre
Verbindungen haben, kommt bei Herz¬
kranken nicht die kräftigere Wechsel-
dusche, sondern wohl nur die stunden¬
lange Benutzung einer Eisblase in Be¬
tracht, die alle zwei Minuten an einer
anderen Stelle des Körpers angelegt wird,
damit immer frische Kältereize zum Ge¬
hirn gelangen. Die Wirklng dieser Ma߬
nahme besteht in der Beseitigung der
Funktionshemmung der Gefäßzentren im
Gehirn bei solchen Herzkranken, bei
denen als Nachwirkung eines früheren
Herzleidens noch eine Störung des vaso¬
motorischen Innervationsmechanismus
vorhanden ist, die sich in negativer Kurve
bei Muskelarbeit und den davon ab¬
hängigen Nachteilen ausdrückt, und völlig
durch eine mehrstündige Anwendung der
Kältereize beseitigt werden kann.
Tritt nach wiederholter Anwendung
keine dauernde Wirkung ein, so ist dies
ein Beweis, daß der pathologische Zu¬
stand des Herzens noch in voller Stärke
fortbesteht.
Abgesehen von der Beseitigung der¬
artiger Funktionshemmungen scheint aber
diese Maßnahme einen gewissen, wenn
auch nur zeitweiligen Wert bei be¬
stehender schwerer Erkrankung zu haben.
Ich habe in mehreren Fällen, bei denen
negative Kurve bei starker Herzver¬
größerung bestand, nach der Anwendung
der Prozedur die Kurve einige Stunden
lang und nach mehrtägiger Anwendung
mehrere Tage lang schwach positiv wer¬
den sehen. Die Wirkung ist sicherlich
so zu verstehen, daß die Gefäßcentren
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1917.
7
im Gehirn durch die Kältereize günstig
beeinflußt werden, so daß sie einige Zeit
lang der in gleicher Weise wie vorher
auf sie einwirkenden Schädlichkeit des
ungenügend arterialisierten Blutes wider¬
standsfähiger gegenüberstehen als vorher.
Nur wenn diese ursächliche Schädigung
schon verschwunden oder stark gemindert
ist, kann eine Dauerwirkung infolge dieser
Behandlung eintreten.
Die bekannteste und am meisten
sicherstehende Behandlungsmethode bei
Herzkrankheiten ist die durch Medika¬
mente, deren Wirkung auf die pathologi¬
schen Kurven also gewissermaßen der
Prüfstein für die neue Untersuchungs¬
methode sein mußte. Die Wirkung war
in der Tat sowohl an negativen Kurven,
als auch an den pathologisch geformten
positiven Kurven sehr deutlich zu er¬
kennen.
Kranke mit Vergrößerung des Herzens
beiderseits, starken Insuffizienzerschei¬
nungen und bei jeder Untersuchung auf¬
tretender stark negativer (sinkender) ple¬
thysmographischer Arbeitskurven zeigten
nach Injektion von 0,0005 Strophantin in
die- Vene bei der nach wenigen Minuten
aufgenommenen Arbeitskurve fast völlig
normale, ansteigende Kurven, was genau
mit der Besserung des Befindens über¬
einstimmte. Der Erfolg verminderte sich
allerdings schon nach %—1 Stunde und
war am nächsten Tage nicht mehr durch
die Kurven nachweisbar.
Daß so unmittelbar eine stark nega¬
tive Kurve in eine positive verwandelt
werden kann, zeigt, daß selbst in solchen
schweren Fällen die Gefäßzentren nicht
in ihrer Funktionsfähigkeit dauernd ge¬
schädigt sind, sondern daß sie sofort
normal funtionieren, wenn die Blut¬
beschaffenheit eine bessere wird, wie es
infolge der Anregung der Herztätigkeit
durch Strophantin geschieht. Ich er¬
wähne noch, daß in diesen Fällen die
Anwendung von Kältereizen durch Eis¬
beutel durchaus keine Wirkung gehabt
hatte, was auf die Schwere des bestehen¬
den Herzleidens hindeutet.
Ebenso sah ich durch mehrtägige
Gaben von Digitalis in Fällen von Herzver¬
größerung mit Insuffizienzerscheinungen
und schweren venösen Stauungen nega¬
tiven oder träge abfallende Kurven in
der Weise gebessert werden, daß sie dann
positiv oder steil abfallend geworden
waren, immer genau der subjektiven
Besserung entsprechend. In mehreren
Fällen Mieb aber auch jede Wirkung
nach beiden Richtungen aus.
In zehn Fällen von Herzvergrößerung
mit oder ohne Klappenfehler, von Myo-
karditisj oder Adipositas cordis habe ich
ferner die Liliensteinsche „Phlebostase“
angewendet. (M. Kl. 1912, Nr. 8.)
Der sehr bestechende Gedanke dieser
Methode ist der, die vom Herzen zu be¬
wegende Blutmenge im Körper für einige
Minuten dadurch zu verkleinern, daß
man. beide Arme am Oberarm so fest
umschnürt, daß der venöse Rückfluß
unterbunden ist, und-das geschwächte
Herz dann imstande ist, die so ver¬
minderte Blutmenge in bessere Circulation
zu bringen, Stauungen zu beseitigen usw.
Ich untersuchte die Kranken sowohl
bei Muskelarbeit vor und nach der An¬
wendung der Phlebostase, als auch
während der Arbeit selbst. Ich konnte
aber in neun von den zehn Fällen keine
Wirkung auf die Kurve feststellen, .weder
auf träge Kurven, also bei venöser Stau¬
ung, noch bei negativen Kurven, die
ja auch durch bessere Arterialisierung
des Blutes beeinflußt werden. Dieser
negative Erfolg trat auch bei solchen
Kranken ein, die nachweislich durch
andere therapeutische Maßnahmen sehr
gut beeinflußt wurden. Auch das sub¬
jektive Befinden war keineswegs ge¬
bessert. Nur in einem Falle eines 50jähri¬
gen Mannes mit schwerer Arteriosklerose,
Herzerweiterung (Blutdruck 170) und
chronischer Herzinsuffizienz war eine
deutliche Besserung in subjektiver wie
objektiver Hinsicht festzustellen. Die
vorher keinen Anstieg zeigende Arbeits¬
kurve zeigte dann einen deutlichen, kräf¬
tigen Anstieg.
Es scheinen also nur sehr wenige
Kranke durch die Methode so günstig
beeinflußt zu werden, wie durch andere
Behandlungsarten, immerhin scheint das
Prinzip als solches nicht unrichtig zu
sein.
Die Wirkung der Herzdiathermie habe
ich erst an sehr wenig Personen unter¬
sucht, die außerdem erst % Stunde später
zur Untersuchung kamen und einen Weg
zurückzulegen hatten. Trotzdem habe
ich in einem Falle eine geringe günstige
Wirkung beobachtet. Weitere Unter¬
suchungen darüber sind nötig. Eine be¬
sonders günstige Wirkung konnte ich von
der Herz- und Bauchmassage feststellen,
und zwar sowohl von der manuellen
Bauchmassage, als auch in noch höherem
8
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Januar
Grade von der F. Kirchbergschen
Saug-Druckmassage.
Die günstige Wirkung der Herz- und
Bauchmassage bei Herzkrankheiten ist
schon sehr lange bekannt und in den
letzten Jahrzehnten wieder viel auf¬
genommen und beschrieben worden, be¬
sonders auch Von französischer Seite
(Huchard u. a.). Auch eine Ver¬
kleinerung des pathologisch erweiterten
Herzens durch Massage, die durch das
Röntgenbild nachgewiesen werden kann,
ist bereits vor einem Jahrzehnt be¬
schrieben worden.
Daß durch kräftiges Klopfen der
Brustwand über dem Herzen die Herz¬
tätigkeit zeitweilig zu stärkerer Tätigkeit
angeregt wird, so daß venöse Stauungen
zeitweilig vermindert oder beseitigt wer¬
den, und eine bessere Arterialisierung des
Blutes bewirkt werden kann, ist leicht zu
verstehen. Schwerer zu erklären ist die
Wirkung der tiefen (nur eine solche
kommt in Betracht) Bauchmassage, bei
der neben der geringen Beeinflussung des
Herzens durch das Zwerchfell hindurch
wohl besonders eine Beeinflussung der
Blutgefäße eine Rolle spielt, auf die ich
hier nicht näher eingehen will.
Am günstigsten wirkt die Klopf¬
massage des Herzens bei den Fällen mit
starker venöser Stauung, die sich, wie
oben erwähnt, durch eine zu träge ab¬
fallende plethysmographische Arbeits¬
kurve kennzeichnen.
In diesen Fällen ist sehr häufig nach
der Herzmassage der Abfall der Kurve,
also der Rückfluß des Blutes von der Peri¬
pherie zum Herzen, ein prompter, aber
diese Wirkung ist meist nur sehr wenig
nachhaltig, bringt aber zeitweilig bedeu¬
tende Erleichterung. Auch die schwereren
Fälle von insuffizienten Herzen, unter
denen ich hier die verstehe, bei denen
sich infolge ungenügender Arterialisierung
des Blutes eine negative Arbeitskurve
findet, können bisweilen, aber keines¬
wegs immer., durch Herzmassage so be¬
einflußt werden, daß sich eine schwach
positive Kurve zeigt, aber hier ist der
Erfolg noch weniger dauernd.
Bei Hypertrophie des linken
Ventrikels dagegen scheint mir die
Herzmassage nur mit großer Vor¬
sicht anwendbar.
Verschiedene .Male sah ich, daß das
pathologische Zeichen der Arbeitskurve
für solche Fälle, die nicht insuffizient sind,
das in einem das Ende der Fußarbeit
überdauerndem Ansteigen der Kurve be¬
steht, hach Herzmassage in noch ver¬
stärktem Maße auftritt, wie das auch
theoretisch zu verstehen ist, wenn ich
hier andeute, daß dieses nachträgliche
Ansteigen der Kurve von der verstärkten
und über das normale Maß hinaus ver¬
längerten Arbeit des hypertrophierten
linken Ventrikels abhängt. (Siehe da¬
rüber die erwähnte ausführliche Abhand¬
lung.) Da durch die Herzmassage zweifel¬
los der Herzmuskel zeitweilig zu ver¬
stärkter Tätigkeit angeregt wird, ist es
verständlich, daß besonders der linke
Ventrikel daran Teil hat, und die durch
seine verstärkte 'Tätigkeit schon vorher
verursachte pathologische Form der Ar¬
beitskurve dann in verstärktem Maße
auftritt.
Ich illustriere diese neue Feststellung
durch die Abbildungen 2a, 2b, 2c. Es
handelt sich um einen Fall von Ver¬
größerung des Herzens nach links und
rechts.
Abb. 2a zeigt die Arbeitskurve des
Kranken in frischem Zustande, eine nach
dem Ende der Fußarbeit noch weiter
ansteigende Kurve mit trägem Abfall.
Wäre an der Kurve nur ein träger Abfall
vorhanden gewesen ohne nachträgliches
Ansteigen, so wäre die Kurve durch Herz¬
massage wahrscheinlich normal oder
kürzer geworden. So aber sehen wir,
daß nach der Herzmassage die nachträg¬
liche Ansteigung, wie Abb. 2b zeigt,
noch weit stärker geworden ist, was
zweifellos als eine Schädigung aufzufassen
ist, denn die in übertriebener Weise über
das Ende der Fußarbeit hinaus verlängerte
verstärkte Herzarbeit bedeutet eine un¬
nötige Inanspruchnahme des Herzmuskels,
während die mäßig verstärkte Herz¬
arbeit, wie sie das geringere nachträgliche
Ansteigen der Kurve im frischen Zustande
zeigte, ebenso wie die sie verursachende
Hypertrophie des linken Herzens als ein
eminent nützlicher Vorgang aufzufassen
ist, da durch das während der Fußarbeit
mit größerer Energie in die Peripherie
hinausgeworfene Blut die früher sich in¬
folge der ungenügenden Arterialisierung
des Blutes während der Muskelarbeit ver¬
engenden peripheren Gefäße gewaltsam
ausgedehnt werden und die arbeitenden
Muskeln die ihnen zur Arbeit nötige
größere Biutdurchströmung erhalten.
(Siehe die erwähnte ausführliche Ab¬
handlung.)
. Wie Abb. 2c zeigt, konnte aber der
durch die Herzmassage in diesem Falle
gesetzte Schaden sofort wieder gut ge-
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1917.
9
macht werden durch Anwendung der
Bauchmassage, in diesem Falle der Saug-
Druck-Bauchmassage, nach deren An¬
wendung die Kurve fast völlig|>normal
wurde.
sagen anderer Heilmethoden), da es
darauf hinweist, daß das Herz nicht
mehr imstande ist, durch die betreffende
Beeinflussung in seiner Funktion so weit
verbessert zu werden, daß für einige Zeit
Arm- I
volumea I
Atmung
WwMMMiWMM/J
Abb.2a. Arbeitskurve im frischen Zustand des Patienten.
Die tief¬
gehende
(nur diese)
manuelle
Bauch-
massage
leistet nicht
nur in allen
Fällen das¬
selbe, wie die
direkteHerz-
massage,
sondern sie
übertrifft sie
bezüglich
der Dauer
und Stärke
ihrer Wir¬
kung bedeu¬
tend, so daß
sie in jeder
Beziehung
vorzuziehen
ist.
Die gün¬
stige Wir¬
kung ist na¬
türlich bei
weitem nicht
in allen Fäl¬
len vorhan¬
den, und das
dürftefürdie
betreffenden
Fälle von
nicht zu
unterschät¬
zender dia¬
gnostischer
Bedeutung
sein (ebenso
wie das Ver¬
Abb. 2 c. Arbeitskurve ‘ nach Aufführung der
Kirchbergschen Saug-Druck-Bauchmassage.
Abb. 2. Fall von zweijähr. Herzkrankheit mit Vergrößerung
desjHerzens nach links u. rechts, ln der Zeit vom Zeichen +
bis —findet jedesmal die lokaleMuskelarbeit desFußes stktt.
eine venöse Stauung beseitigt oder eine
bessere Arterialisierung des Blutes be¬
wirkt werden kann. "
Als stärkste Wirkung ist dabei immer
die anzusehen, bei der eine vorher nega¬
tive Kurve durch die Behandlung wieder
positiv wird. (Siehe Abb. 3.)
Die günstigen Wirkungen dauern na¬
türlich zunächst immer nur kurze Zeit
an. Die Wirkungen der Herzklopf¬
massage sind an der Kurve fast immer
nach zwei Stunden schon verschwunden
oder fast verschwunden. Die der ersten
manuellen Bauchmassagen sind nach¬
haltiger, aber doch nur in Ausnahme¬
fällen bei trägen Kurven noch am nächsten
Tage an den Kurven zu erkennen, nie¬
mals aber bei negativen Kurven. In¬
dessen ist es schon von vornherein wahr¬
scheinlich, daß solche Einwirkungen, die
in der einzelnen Anwendung eine so
außerordentlich günstige Wirkung in sub¬
jektiver und objektiver Weise zunächst
auf Stunden oder halbe Tage haben, bei
längerer systematischer Anwendung eine
längere, in gewissen Fällen womöglich
Dauerwirkung haben können, wenn auch
2
10
t * I
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Januar
bei den schwereren organischen Erkran¬
kungen natürlich nur von starker .Besse¬
rung der Funktion gesprochen werden
kann.
Ich habe zum Beispiel mehreren
Fällen von im Kriege erworbener venöser
Stauung mit leichter Vergrößerung des
Herzens mehrere Wochen täglich Bauch¬
massage geben lassen und festgestellt,
daß nach zwei bis drei Wochen die Kurve
völlig normal blieb, auch nachdem die
Bauchmassage ausgesetzt wurde. Die
Kranken wurden regelmäßig wieder unter¬
sucht und die Arbeitskurven waren noch
mehrere Wochen nach Beendigung der
Behandlung normal.
Da in diesen Fällen das Leiden vorher
monatelang bestanden hatte, ohne sich
zu bessern, ist zweifellos die Massage als
Ursache der Besserung anzusehen, wie
sie auch bei Rückfällen in anderen Fällen
nach vorzeitigem Aussetzen der Behand¬
lung jedesmal von neuem wieder ihre
Wirkung bewies.
Eine in gewisser Beziehung noch
stärkere und sicher gleichmäßigere Wir¬
kung als die manuelle Bauchmassage
scheint die Saugdruckmassage des Herrn
Dr. F. Kirchberg (Ther. Mh., Februar
1915, und frühere Publikationen) zu be¬
sitzen.
Die Methode besteht darin, daß eine
das Abdomen umspannende Glasglocke
durch eine mit besonderem Ventil ver¬
sehene Preßluftbombe abwechselnd unter
so kräftige Saug- und Druckwirkung ge¬
setzt wird, daß die Bauchwand mit den
darunter liegenden Organen mit beträcht¬
licher Kraft abwechselnd hoch in die
Saugglocke hinaufgezogen und wieder
unter das anfängliche Niveau hinab¬
gedrängt wird. Nachdem dies 15 Minuten
lang ausgeführt ist, wird die Glocke so
stark evakuiert, als es der Patient ver¬
trägt, und 15 Minuten lang in diesem
Zustand belassen.
Ich habe zahlreiche Patienten bei
dieser Behandlung untersucht, wobei er¬
schwerend hinzu kam, daß sie nach der
Behandlung den Weg zu meinem Labo¬
ratorium zurückzulegen hatten, und fest¬
gestellt, daß die günstige Wirkung der
manuellen Bauchmassage durch diese Be¬
handlung bisweilen noch übertroffen
wurde. Es zeigte sich dies am deutlichsten
dadurch, daß in mehreren Fällen, bei
denen ein günstiger Erfolg an der Kurve
nach der manuellen Bauchmassage aus¬
geblieben war, er nach der Saugdruck¬
massage nachweisbar war. Dabei war
keineswegs die Ursache des vorherigen
negativen Erfolges eine etwa zu schwache
Ausführung der manuellen Massage, im
Gegenteil habe ich verschiedene Male
dann einen besseren Erfolg der manuellen
Bauchmassage gesehen, wenn sie bei
einzelnen Patienten in abgeschwächter
Weise ausgeübt wurde. Daß andererseits
eine oberflächliche, nicht eindringende
Bauchmassage keine Wirkung hat, habe
ich schon erwähnt. Wenn die bessere
Wirkung der Saugdruckmassage nicht
in anderen unbekanriten Ursachen liegt,
ist sie vielleicht in der gleichmäßigeren
Wirkung begründet, die in jedem Falle
den großen Vorzug hat, daß man dabei
in keiner Weise mefir von der guten oder
schlechten Art der Ausführung der tiefen
Bauchmassage abhängig ist.
Ich habe eine Reihe von Versuchen
in der Weise angestellt, daß ich dieselben
Patienten einige Male nur mit dauerndem
Ansaugen des Bauches behandeln ließ
und dann nur mit abwechselndem Saug-
und Druckverfahren, um festzustellen,
welche von beiden Behandlungsteilen die
wirksamere ist. Es zeigte sich, daß das
dauernde Ansaugen allein keine beträcht¬
liche Wirkung hat, wohl aber das ab¬
wechselnde Saugdruckverfahren. Ob
die Verbindung beider noch besser ist,
kann ich nicht entscheiden. Es geht
daraus hervor, daß die Änderung der
Blutverteilung allein, durch die das Blut
zu den Bauchorganen gesaugt wird, nicht
das wirksame Prinzip ist, sondern daß
die rhythmische Bewegung des Saugens
und Drückens hinzukommen muß.
Die Überlegenheit der Saugdruck¬
methode über die manuelle Massage des
Bauches zeigte sich deutlich auch in
einem Falle, bei dem ich durch die letztere
eine träge Kurve immer nur auf einen
halben Tag normal werden sah, nach der
ersteren dagegen auf zwei Tage, in ab¬
geschwächter Weise sogar auf drei Tage.
(In diesem Falle war schon eine längere
manuelle Massagebehandlung bereits vor¬
ausgegangen.)
Bei verschiedenen Fällen von Herz¬
vergrößerung mit Insuffizienz und nega¬
tiver Arbeitskurve kam es nach den
ersten Anwendungen der Saugdruck¬
massage zu großer Unruhe in der Volum¬
kurve mit sehr starken Schwankungen der
peripheren Blutfülle, die aber schon gegen¬
über dem vorherigen Sinken während der
Arbeit einen Fortschritt darstellte, ln
diesen Fällen zeigte sich dann nach
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1917.
11
mehreren Tagen eine ruhige, gegen vor¬
her sehr gebesserte Kurve. -
Sowohl träge, als negative als auch
bisweilen nachträglich ansteigende Kur¬
ven werden durch diese Behandlung in
vielen Fällen sehr günstig beeinflußt.
Die nachträglich ansteigenden Kurven
in der Weise, daß das Ausbleiben der
Verengerung der Muskelgefäße unter der
Wirkung der Behandlung die über die
Norm gesteigerte Tätigkeit des linken
Ventrikels unnötig macht, was sich in
der Kurve deutlich ausdrückt. Näheres
darüber ist in meiner ausführlichen Ab¬
handlung einzusehen.
Wie es nicht anders zu erwarten'ist,
habe ich aber* auch bei Anwendung der
Saugdruckmassage zahlreiche Fälle be¬
obachtet, die unbeeinflußt dadurch blie¬
ben. So wurden unter anderem zwei Fälle
von Mitralinsuffizienz mit Herzvergröße¬
rung, Insuffizienz und negativer Ärbeits-
kurve, der eine in zwei, der andere in¬
dreiwöchiger Saugdruckbehandlung in
keiner Weise beeinflußt, die an den
Kurven nachweisbar gewesen wäre.
ln mehreren Fällen ging die günstige
Beeinflussung nur bis zu einem be¬
stimmten Punkte und wurde dann durch
Hinzukommen einer anderen Behand¬
lungsart verstärkt, in der Mehrzahl der
Fälle war aber der Erfolg durch die
Saugdruckbehandlung ein sehr guter.
Nur bei Hypertrophie des linken
In einem Falle von Mitralinsuffizienz,
bei dem Massage wirkungslos blieb, und
in einem anderen Falle, bei dem der Er¬
folg der Massage nur gering war, sah ich
guten Erfolg eintreten nach der An¬
wendung von Kohlensäurebädern,
deren günstige Wirkung bei Herzkranken
ja ebenso unangefochten ist, wie die der
Arzneimittel. Ich untersuchte die Wir¬
kung auch an einer Reihe anderer Kranker
und bei Benutzung der verschiedenen
Arten der hier anwendbaren Bäder.
Ein Beispiel zeigt Abb. 3, die von
einem Falle von beiderseitiger Herzver¬
größerung mit Insuffizienz und negativer
Vol.
f*
Atm.
Abb. 3a.
Unmittelbar vor dem]Kolilensäurebad (Sandow-Salz).
Arbeitskurve herrührt. Abb. 3 a zeigt die
Kurve unmittelbar vor dem Bade, Abb.3b
die Kurve bei der gleichen Muskelarbeit
Volumen
■i i . 4. V 4- ■ v
Atmung
Abb. 3b. V« Stunde nach Kohlensäurebad (Sandow-Salz).
Abb. 2. Fall von Vergrößerung des Herzens beiderseits mit deutlichen Zeichen für Insuffizienz
und mit regelmäßig negativer Arbeitskurve. (Von + bis — dauert jedesmal die Fußarbeit.)
Ventrikels ist häufig kein günstiger Ein¬
fluß festzustellen.
Ich habe die Wirkung der beiden
Arten der Bauchmassage deshalb etwas
ausführlicher besprochen, weil ihre Wir¬
kung bei Herzkrankheiten nicht so be¬
kannt und anerkannt ist, wie die anderer
therapeutischer Maßnahmen, und ich
daher über die sehr häufigen guten Er¬
folge überrascht war.
% Stunde nach einem zehn Minuten
dauernden Kohlensäurebade von 32° C,
das mit Sandow-Salz zubereitet war.
Die vorher dauernd negative Kurve war
nach dem Bade, wie die Abbildung 3b bei
dreimaliger Wiederholung der Arbeit zeigt,
sehr schön normal geworden.
Eine Stunde nach diesem ersten Bade
war bei dem Kranken immer noch eine,
wenn auch schwächer, aufsteigende Kurve
2*
12
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Januar
bei der Arbeit vorhanden, aber am anderen
Tage war kaum noch eine Wirkung fest¬
zustellen.
In mehreren anderen Fällen habe ich
dagegen beobachtet, daß unmittelbar
nach dem Bade noch keine Besserung der
Kurve vorhanden war, sondern daß sie
erst nach einer halben oder einer ganzen
Stunde von Ruhe nach dem Bade deut¬
lich an der Kurve nachweisbar war.
Ein Fall, der durch keine der anderen
therapeutischen Maßnahmen bedeutend
gebessert war, zeigte nach zwölf Kohlen¬
säurebädern eine nachhaltige Besserung
der Kurve auch bei Aussetzen der Bäder.
Ähnliche, wenn auch geringere Besserung
der Kurve zeigte unter anderem ein
älterer Fall von Myokarderkrankung. Ein
Fall von Mitralinsuffizienz, der durch
Massage nicht beeinflußt wurde, zeigte
eine Stunde nach einem Bad anstatt der
negativen Kurve eine schwach ansteigende
und auch am nächsten Tage wenigstens
keine ausgesprochene Senkung der Kurve,
wie vorher immer. Im Gegensätze dazu
untersuchte ich allerdings auch einen
Fall von Hypertrophie des linken Ven¬
trikels mit nachträglich ansteigender
Kurve, der von der Saugdruckmassage
günstig beeinflußt wurde, der nach einem
Sandow-Kohlensäurebad zunächst eine
negative Kurve nach einer Stunde Ruhe
eine stärker als vor dem Bad, nachträg¬
lich ansteigende Kurve und am nächsten
Tag noch immer .eine schwach negative
Kurve zeigte, die erst am folgenden Tage
wieder so wurde, wie vor dem Bade. In
diesem Falle war also sicher ein un¬
günstiger Einfluß des Bades, das in völlig
normaler Weise im Hause meines Labo¬
ratoriums verabreicht worden war, fest¬
zustellen.
Ich bemerke endlich noch, daß ich
bei Benutzung der verschiedenen Arten
von Kohlensäurebädern durch dieselben
Patienten einige Male deutlich einen
weniger günstigen Einfluß der Zeo-Bäder
sah, die einige Male im Vergleich zu der
Wirkung der Sandow-Bäder ganz ver¬
sagten.
Diese Beispiele dürften genügen, um
zu zeigen, daß man mit Hilfe der neuen
Untersuchungsmethode in objektiver
Weise die Wirkung der verschiedenen
therapeutischen Maßnahmen bei Herz¬
kranken sehr genau kontrollieren kann,
und andererseits ist der deutliche Ein¬
fluß der bekannten Heilmethoden für
Herzleiden auf die von mir als patholo¬
gisch bezeichneten Kurvenformen bei den
Kranken ein weiterer Beweis für die Ab¬
hängigkeit 'der pathologischen Kurven¬
formen von dem Herzleiden.
Da die Wirkung der therapeutischen
Maßnahmen auf die pathologischen Kur¬
ven der Kranken nach meinem sehr
reichen Untersuchungsmaterial absolut
feststeht, ist es um so bemerkenswerter
und für die weitere praktische Aus¬
nutzung der Methode wichtig, daß auch,
nach den objektiven Feststellungen durch,
die Arbeitskurven durchaus nicht alle
verschiedenen Heilmethoden für alle
Herzkranke geeignet sind und günstige
Wirkung haben, wie das ja schon längst
anerkannt ist.
Abgsehen von einigen scheinbar über¬
haupt wenig wirksamen Behandlungs¬
methoden und von der äußerst energisch
wirkenden Injektion eines Arzneimittels¬
in die Vene, ist nach meinen Ergebnissen
kaum von vornherein eine Behandlungs¬
methode als in allen Fällen völlig sicher
günstig wirkend und als den anderen
überlegen zu bezeichnen. Am sicherstem
dürfte man vielleicht bei einer einzelnen
Einwirkung von Kohlensäurebädern Er¬
folg sehen, aber, wie erwähnt, gab es-
auch dabei Ausnahmen, die eher dadurch’
geschädigt wurden, dagegen von Bauch¬
massage günstig beeinflußt wurde/
In einem Falle von Myokartitis nach.
Nephritis und negativer Kurve konnte
von keiner einzelnen therapeutischen-
Maßnahme eine günstige Wirkung durch
die Arbeitskurven nachgewiesen werden*
dagegen zeigte sich die Kurve nach
mehrwöchentlicher Bettruhe sehr wesent¬
lich gebessert.
Andererseits gab es Fälle die von
Massage nicht, wohl aber von Medi¬
kamenten und Kohlensäurebädern günstig-
beeinflußt wurden, und wieder andere, ber
denen Medikamente per os nicht nützten*
wohl aber Bauchmassage und Kohlen¬
säurebäder.
Es dürfte also für den einzelnen
Patienten nicht unwichtig sein, wenn
durch diese objektiveUntersuchung'
festgestellt wird, welches Heilver¬
fahren bei ihm am wirksamsten,
ist, denn es muß angenommen werden,,
daß das Verfahren, das schon bei ein¬
maliger Anwendung die beste objektiv
nachweisbare Wirkung hat, auch bei.
Daueranwendung am besten ist.
Ferner kann man mit der Unter¬
suchungsmethode objektiv den Zeit¬
punkt feststellen, an dem eine Be¬
handlung als beendet anzpsehen
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1917.
13
ist. Man muß dann nur die Unter¬
suchung an dem Patienten wieder vor¬
nehmen, nachdem man die Behandlung
mehrere Tage oder Wochen ausgesetzt
hat, und feststellen, ob die an der Kurve
vorher während der Behandlung fest¬
stellbare Besserung auch nach Aussetzen
der Behandlung weiter besteht, oder
nicht:
Die Zeiträume, die zwischen den kon¬
trollierenden Untersuchungen durch die
plethysmographische Arbeitskurve liegen,
müssen dann immer verlängert werden
und mit der Eingangs erwähnten Be¬
nutzungsart der Methode verknüpft wer¬
den, bei der durch allmähliche probeweise
Vermehrung der von dem Patienten vor
der Untersuchung vorzunehmenden ge¬
wohnten Berufsbeschäftigung, oder kör-
perilichen Arbeit das Maß dieser Beschäfti¬
gung objektiv iestgestellt werden kann,
das das Herz des Patienten ohne Schädi¬
gung verträgt, die durch die unmittelbar
darauf aufgenommene Arbeitskurve in
objektiver Weise nachgewiesen werden
kann.
Eine Schwäche der neuen Unter¬
suchungsmethode liegt darin, daß die
Technik der Methode schwierig ist und
unbedingt eine mehrmonatliche Übung
unter sachverständiger Kontrolle er¬
fordert, ehe sie einigermaßen sicher äus-
geübt werden kann. In dieser Beziehung
ist es geradezu gefährlich, daß man bei
der Beobachtung mancher derartiger
Untersuchungen bisweilen den Eindruck
gewinnen kann, daß die Technik sehr
einfach ist. Die elementaren Vorsichts¬
maßregeln, die jemand, der mit der bis¬
herigen Art der plethysmographischen
Untersuchungen vertraut ist, beherrscht,
spielen keine Rolle neben den während
der Ausführung der Fußarbeit in Frage
kommenden zahlreichen Versuchsfehlern,
die in unrichtigem Sitz oder Lage des
Patienten in den Apparaten, in geringen
Verschiebungen seines Körpers bei zu
kräftiger Arbeit, oder der ungleichmäßigen
Atmung dabei, in zu schwacher Fuß-
Arbeit und anderem begründet sind. Nur
eine längere Übung und genaue Kenntnis
zahlreicher Kurven und aller Fehler¬
quellen ermöglichen sichere Resultate bei
den vielen schwierigeren Fällen, während
manche ruhige, intelligente Patienten
sich bei richtiger Lage der Apparate und
richtiger Anleitung sofort leicht unter¬
suchen lassen. So kommt es, daß bei
manchen Personen eine Untersuchung
von % Stunde genügt, während bei
anderen erst ein Anlernen und eine an
mehreren Tagen wiederholte Unter¬
suchung von je einer Stunde nötig ist.
Immerhin lassen sich bei nötiger
Übung fast in allen Fällen (nur bei Kran¬
ken mit heftigem Zittern ist die Unter¬
suchung ganz unmöglich) die Schwierig¬
keiten überwinden, wobei eine besondere
Sicherheit die doppelte Aufnahme der
Arbeitskurve bei demselben Patienten so¬
wohl in sitzender, als in liegender Stellung
bietet. Wenn das ruhige Verhalten des
Kranken während der ersten Unter¬
suchung durch Schmerzen oder vor¬
handene Aufregung gestört ist, so bringt
fast immer die Wiederholung der Unter¬
suchung an einem anderen, besseren Tage
völlige Klarheit in die Arbeitskurve. In
der überwiegenden Mehrzahl der Fälle
kommt ein geübter Untersucher schon
in der ersten Sitzung zu sicherem Re¬
sultat, während ein ungeübter ebenso oft
Resultate erzielen wird, die dem richtigen
gerade entgegengesetzt sind. Erschwerend
kommt dabei in Betracht, daß man keines¬
wegs immer an der Kurve allein später
erkennen kann, ob die Aufnahme richtig
war, oder, nicht. Dagegen ist es möglich
durch gewisse Kontrollapparate eine
größere Sicherheit bei der Untersuchung zu
schaffen, die aber die Aufnahme bedeutend
kompliziert.
Es geht aus dem Gesagten, das aus¬
führlicher in der oben erwähnten Ab¬
handlung erörtert ist, wohl hervor, daß
die neue Untersuchungsmethode durch¬
aus nicht für den praktischen Arzt ge¬
eignet ist. Trotz der Einfachheit der be¬
nutzten Apparate ist gerade bei dieser
Untersuchungsmethode eine ganz be¬
sonders sorgfältige Vorbildung nötig und
die Untersuchungen erfordern viel zu viel
Zeit für den praktischen Arzt.
Die Kranken müssen, ebenso wie in
Röntgenkabinette, zur Aufnahme der
plethysmographischen Arbeitskurve zu
dafür besonders eingerichteten Un¬
tersuchungsstellen geschickt werden,
die ja bei dem noch bedeutend weiter
auszubauendem praktischen Nutzen der
Untersuchungsergebnisse sich neben der
meinigen und neben den kürzlich in
mehreren Berliner Krankenhäusern ein¬
gerichteten Untersuchungsstellen hoffent¬
lich entwickeln werden.
Anfängern ist dringend zu raten,
lieber im ersten Jahre der Untersuchung
häufiger ein non liquet abzugeben, als
unsichere Resultate einseitig zu deuten.
Im allgemeinen dürfte für Anfänger
14
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Januar.
die Feststellung der positiven Wirkung
einer therapeutischen Maßnahme wohl
verhältnismäßig am sichersten sein, da
durch diese therapeutische Wirkung eine
beträchtliche Veränderung der vorher
aufgenommenen Kurvenform eintreten
muß, die sich bei Wiederholung derselben
Einwirkung an einem anderen Tage
immer wieder in gleicher Weise an der
Kurve zeigen muß, wenn die erste Auf¬
nahme richtig war, wodurch eine gute Kon¬
trolle der ersten Aufnahme gegeben ist.
Aus dem Städtischen Krankenhaus Moabit in Berlin
(I. mediz. Abteilung des Herrn G-eheimrat Klemperer).
Über schwere Anämie mit hämorrhagischer Diathese
bei Jugendlichen (Knochenmarksatrophie, Amyelie).
Von Elisabeth Benecke, Assistenzärztin.
Aus der großen Gruppe schwerster
Anämien, welche insbesondere jugend¬
liche Personen zum Tode führen, ist in
letzter Zeit eine anscheinend wohl um¬
schriebene Form herausgehoben worden,
die Anämie mit hämorrhagischer Diathese.
Bei dieser Form treten Haut- und Schleim¬
hautblutungen in so erschöpfender Weise
auf, daß es zweifelhaft ist, ob primäre
Blutungen zur tödlichen Anämie oder
eine primäre Bluterkrankung zu den töd¬
lichen Blutungen geführt hat. Da man
gewöhnt war, die hämorrhagischen Er¬
krankungen als Krankheitsgruppe sui
generis von dunklem Ursprung etwa
unter dem Namen der Purpura oder der
Werlhofschen Krankheit zusammenzu¬
fassen, so hat man in früheren Zeiten die
akut einsetzenden Anämien mit Blu¬
tungen wohl als akute Form der Werl¬
hofschen Krankheit bezeichnet. Seit
Ehrlich war bekannt, daß in diesen
Fällen der Blutbefund dem der perni¬
ziösen Anämie ähnelte, daß er aber in
einem wesentlichen Punkt davon ver¬
schieden war. Es fehlten die Formen der
roten Blutkörperchen, welche für die
regeneratorischen Vorgänge im Knochen¬
mark charakteristisch waren, die abnorm
großen farbstoffreichen Blutscheiben, die
Megalocyten und die kernhaltigen roten
Blutkörperchen, es fehlt die hochgradige
Poikilocytose und Polychromatophilie.
Deswegen hat Ehrlich für diese Formen
den Namen der apiastischen Anämie vor¬
geschlagen. Engel und Hirschfeld
haben gezeigt, daß das Fehlen der Re¬
generationsformen der roten Blutkörper¬
chen auf einer Atrophie des Knochenmarks
beruhte. Eine wesentliche Feststellung
in bezug auf das Entstehen der Blutungen
wurde einerseits von Wright, anderer¬
seits von Hayem gemacht, welche beide
auf die wesentliche Verminderung der
Blutplättchen hinwiesen, welche für die
Gerinnungsfähigkeit des Blutes von be¬
sonderer Wichtigkeit seien. In neuster
Zeit nun hat E. Frank (Breslau) diese
Feststellung dadurch auf eine breitere
Basis gerückt, als er zeigte, daß bei den
hämorrhagischen Anämien neben den
Blutplättchen ganz besonders die weißen
Blutkörperchen vermindert seien. Da
nun die Blutplättchen und die weißen
Blutzellen entwicklungsgeschichtlich den¬
selben Ursprung im Knochenmark haben,
indem aus Myeloblasten die Megaka-
ryocyt:n als Stammzellen der Plättchen
und die Granulocyten hervorgehen,
stellt Frank die Gruppe der hämorrhagi¬
schen Anämien als eine besondere Schä¬
digung des farblosen Blutzellensystems
hin und faßt sie unter dem Namen der
hämorrhagischen Aleukie zusammen,
ohne dabei zu übersehen, daß schlie߬
lich auch die erythroblastische Tätig¬
keit des Knochenmarks versagt. Durch
diese programmatische Bezeichnung
hat Frank sicherlich die besondere
Aufmerksamkeit weiterer Kreise auf die
bis dahin in der Klinik weniger beachteten
hämorrhagischen Formen der schweren
Anämie gelenkt. Ich möchte aber als
fraglich bezeichnen, ob die Zusammen¬
fassung unter den Namen der Aleukie
glücklich gewählt ist.
Durch eine besondere Gunst der Um¬
stände war es mir vergönnt, im letzten
Jahre nicht weniger als drei wohl charak¬
terisierte Fälle schwerer Anämie mit
hämorrhagischer Diathese bei Jugend¬
lichen zu beobachten, während vorher
im Krankenhaus Moabit seit vielen Jahren
kein solcher Fall zur ‘Beobachtung ge¬
kommen ist.
Ich gebe im folgenden die Kranken¬
geschichte meiner Fälle wieder, an welche
ich einige epikritische Bemerkungen an¬
schließen werde. Schon vorher möchte
ich bemerken, daß in meinen Fällen so¬
wohl die weißen Blutkörperchen wie die
Blutplättchen außerordentlich vermin-
Januar Die Therapie der
dert waren, so daß die Bezeichnung
Aleukie sicherlich gerechtfertigt war. Zu¬
gleich aber waren auch die roten Blut¬
körperchen aufs äußerste vermindert,
während regenerative Formen vollkom¬
men fehlten. Es war also ebenso sehr
das System der roten wie der weißen
Blutzellen geschädigt, man konnte mit
demselben Recht von Anerythrie wie
von Aleukie sprechen. Außerdem ergab
die makroskopische wie mikroskopische
Untersuchung des Knochenmarks der
langen Röhrenknochen, bei der
mich Herr Dr. Hirschfeld in dankens¬
werter Weise unterstützte, daß sich das¬
selbe im Zustand vollkommener Atrophie
befand. Es kann also kein Zweifel sein,
daß die krankhafte Schädigung ebenso¬
wohl die Entstehungsstätten der roten
wie der farblosen Blutelemente betraf.
Es ist dieser Umstand in jüngster Zeit
bereits von einem anderen Beobachter,
Herrn Dr. Kaznelson, betont worden,
welcher daraus den Namen „Amyel-
hämie“ abgeleitet hat. Herr Ge¬
heimrat Klemperer hat im Anschluß
an die früheren Arbeiten von Hirschfeld
und im Hinblick auf die histologischen
Befunde unserer zwei obduzierten Fälle
die universelle Zerstörung' des gesamten
Knochenmarks als die wesentliche Grund¬
lage der hämorrhagisch-perniziösen An¬
ämie betrachtet und hat in den klini¬
schen Besprechungen an Stelle der Aleukie
die Bezeichnung der Amyelie gebraucht.
Ich möchte diesen Namen akzeptieren
und in seiner präzisen Kürze zu weiterem
Gebrauch vorschlagen, indem ich glauben
möchte, daß der histologisch-neurologi¬
sche Namensinn der Nervenmarklosigkeit
der klinischen Bedeutung des Knochen¬
markschwundes keinen Abbruch tun
kann.
Ich lasse nun meine Krankengeschich¬
ten folgen:
1. Fall. Friedrich G., 17 Jahre, aufgenommen
31. Mai 1916.
Anamnese: Patient war bisher nie krank ge¬
wesen. Seit vier Wochen fällt der Mutter bei ihm
zunehmende Blässe auf. Seit zehn Tagen fühlt er
sich außerordentlich matt und am 24. Mai wurde
er ohnmächtig und hat seitdem die Arbeit aus¬
gesetzt. Seit einigen Tagen bemerkt er, daß er
aus der Lücke eines fehlenden Backenzahns im
Unterkiefer blutet. Am Tage vor der Aufnahme
ins Krankenhaus starkes Nasenbluten. Der Arzt
schickt ihn wegen Herzleidens ins Krankenhaus.
Die Ernährung war bisher nicht einseitig und er
hat keinen Mangel gelitten. Mit Benzol hat er
nicht gearbeitet.
Status praesens: Blasser,' großer, junger
Mann, Haut leicht gelblich.
Schleimhäute (Lippen, Zahnfleisch, Augen¬
Gegenwart 1917. 15
bindehaut) äußerst blaß und farblos. Sehr übler
Foetor ex ore.
Zahnfleischblutung aus einem schmutzig aus¬
sehenden Ulcus im rechten Unterkiefer an der
Stelle des.-fehlenden letzten Backzahns.
Ulcus auf der linken etwas vergrößerten
Gaumentonsille mit zerklüfteter schmierig be¬
legter Oberfläche.
Kleine petechiale Schleimhautblutungen am
Gaumen und in der linken Wangentasche.
Am ganzen Körper Stecknadelkopf- bis linsen--
große Hämorrhagien.
Am linken Oberarm und auf beiden F.ußriicken
Suffusionen von blaßblauer Farbe in etwa Drei¬
markstückgröße.
Linksseitige geringe Halslymphdrüsenschwel-
lung (Ulcus auf der Tonsille!), ebenso kleine eben
palpable harte Inguinaldrüsen.
Knochen (Sternum, Femur, Rippen) nicht
druckschmerzhaft.
Herz: Grenzen nicht verbreitert, ■ Aktion
regelmäßig, beschleunigt (92),, systolisches Ge¬
räusch über'Mitralis und Pulmohalis,
Puls: klein, weich.
Lunge: beiderseits hinten unten geringes
feuchtes Rasseln. Atmung beschleunigt, Nasen¬
flügelatmung.
Abdomen weich, nirgends druckempfindlich.
. Leber und Milz nicht vergrößert.
Blutbefund: Hämoglobin 21, Erythrocyten
872 000, Leukocyten 2000. Blutplättchen werden
kaum gesehen.
Die Auszählung der weißen Blutkörperchen
ergibt neutrophile Leukocyten 24 %, Myeloblasten
8% (große Mononucleären?), Lymphocyten (große
40%, kleine 24%) 64%, Plasmazellen 4%, Hämo¬
globin index 1,2 Anisocytose der Erythrocyten,
geringe Poikylocytose.
Im Urin zahlreiche Erythrocyten, der braun-
gefärbte Stuhl ergibt positive Blutprobe.
Urin chemisch: Urobilin negativ, Albumen
negativ, Sacharum negativ, Diazo negativ.
Die Temperatur ist abends 6 Uhr 38 20 C.
Verlauf: 1. Juni: Blutaussaat negativ. Tem¬
peratur von 37 bis 38°. Puls wie gestern.
2. Juni: Patient ist somnolent, reagiert kaum
auf Anruf, atmet schnell. Im medialen Winkel
des linken Auges starke den ganzen Winkel ein¬
nehmende Sugillation, die bis zum Cornearand
reicht. Am rechten Beine neue Blutungen.
Blutbild: Hämoglobin 16, Erythrocyten
480 000, Leukocyten 900,. orthochrome Färbung
der Erythrocyten, Anisocytose, kaum Poikylo¬
cytose, neutrophile Leukocyten 17,6%, Myelo¬
blasten 7,8%, Lymphocyten (große 23%., kleine
41%, Riederformen 2,56% = 86,56%), Pläs-
mazellen 7,8%, keine Blutplättchen.
Um 3 Uhr nachmittags intravenöse Infusion
von 90 ccm defibrinierten Blutes einer an Poly¬
globulie leidenden Frau.
V«5 Uhr Schüttelfrost, die Temperatur steigt
auf 40,3°.
3. Juni: Patient macht etwas besseren Ein¬
druck, reagiert auf Anruf und nimmt auch Milch
und Brei zu sich.
4. Juni: Wieder stärkere Somnolenz. Haut¬
blutungen blassen ab.
Mittags 400 ccm Blut intravenös von einem an
Polycythämie leidenden Patenten. Die Infusion
wird reaktionslos vertragen, Temperatur bleibt
um 37°. Im Urin nocii immer Erythrocyten.
5. Juni: Anhaltende Somnolenz. Patient läßt
Stühle und Urin unter sich. Neue Hautblutungen
an den Beinen, ebenso in der rechten Inguinal-
16
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Januar
gegend und am linken Bein mehrere talergroße
hellblauviolette Suffusionen.
6. Juni: Keine Nahrungsaufnahme mehr.
Blutbild: Hämoglobin 22%, Erythrocyten
1 368 000, Leukocyten 1000. ' Blutplättchen wer¬
den kaum gesehen. Index 0,8, neutrophile Leuko¬
cyten 7,6%, große Mononucleären und Über¬
gangsformen 11,5%, Lymphocyten 73%.
Blutaussaat: anaerob und aerob negativ. Was¬
sermann negativ.
Auch in den nächsten Tagen keine Besserung.
Temperaturen um 39°. ’
7. Juni: starkes Nasenbluten.
8. Juni: Nochmaliger Versuch einer intra¬
venösen Blutinfusion. Doch es tritt Nasenbluten
auf, der Patient wird unruhig, würgt, atmet
schlecht, deshalb wird abgebrochen, nachdem
50 ccm'eingelaufen sind. Mittag 1 Uhr, andert¬
halb Stunden nach der Infusion Exitus letalis.
Sektionsbefund (Prof. Dr. Benda):
Haut: Anämie und Hautblutungen.
Gefäßsystem: Herzanämie, subepicardiale und
subendocardiale Blutungen. Myodeg.. cordis, ge¬
ringe Verfettung der Aortenintima.
- Harnapparat: Blutungen der Blasenschleim¬
haut.
Verdauungsorgane: Großes Geschwür der lin¬
ken Tonsille.
Blut und blutbildende. Organe: Hyperplasie
und kleine Verkalkungsherde der bronchialen
Lymphdrüsen. Anämie und Poikilocytose.
Knochenmark (Dr. H. Hirschfeld):
Im Fettmark des Femur sieht man vorwiegend
dem Stroma angehörende Zellen, ganz vereinzelt
nur hier und da in Gruppen von wenigen Exem¬
plaren zusammenliegend lymphocytenartige Zellen
und Zellen, die ein gelbes körniges Pigment ent¬
halten.
Leber: Keine Hämosiderosis, keine myeloiden
Herde.
Milz: Hochgradig atrophisch, Follikel ver¬
kleinert, Pulpa vergrößert. Kein vermehrtes Blut¬
pigment in der Milz.
2. Fall: Aufnahme am 3. Juli 1916 früh. Alma
F., ledige Arbeiterin, 18% Jahre alt. ‘
Anamnese: Als Kind angeblich nie krank.
Litt von Jugend auf öfter an Nasenbluten. Später
auch sehr starke Menstruationsblutungen. Am
24. Juli vorübergehend Nasenbluten. Gleichzeitig
bemerkte sie am ganzen Körper kleine und größere
blutunterlaufene Stellen der Haut. Der Arzt
meinte, das verginge bald wieder. Am 28. Juli
begann die sehr starke Menstruationsblutung. In
der Nacht vom 2. zum 3. Juli blutet Patientin un¬
unterbrochen'aus Nase, Mund und Scheide und
da der Arzt die Blutung nicht stillen kann, schickt
er das Mädchen am 3. Juli früh ins Krankenhaus.
Das Mädchen hat angeblich noch immer trotz
. des Krieges gute Kost gehabt (reichlich Fleisch)
und sie hat auch nicht mit Benzol gearbeitet.
Status praesens: 3. Juli 1916: Mädchen in
mittlerer Größe, in gutem Ernährungszustand
und von gut entwickeltem Körperbau. Die Haut
des Gesichts ist auffallend blaß, leicht gelblich,
etwas pastös. Lippen und sichtbare Schleimhäute
sind fast farblos. An Armen und Beinen, weniger
am Thorax stecknädelkopf- bis linsengroße Haut-
hämorrhagien. Am linken Oberschenkel eine
lilablau verfärbte kleinhandflächengroße und eine
kleinere Suffusion. Keine Drüsenschwellungen.
. Herz: Grenzen nicht verbreitert, Aktion be¬
schleunigt (116), regelmäßig. Töne rein. Puls
frequent weich.
Lungen: ohne pathologischen Befund.
Abdomen: weich, nirgends druckschmerz¬
empfindlich.
Leber und Milz sind nicht vergrößert.
Profuse Blutungen aus der Nase, dem Mund¬
zahnfleisch und der Vagina. Kleines linsengroßes
Ulcus am linken weichen Gaumen, während Ton¬
sillen und Rachenorgane ohne krankhaften Be¬
fund sind.
N.S. Nichts Pathologisches.
Urin: frei von Albumen, Albumosen, Sacha-
rum, Urobilin, Sanguis.
Temperaturen zwischen 36 und 37°.
Epirenan und 500 I. E. Diphtherieserum
bringen die Blutung nicht zum Stillstände. Pa¬
tientin ist sehr elend und kollabiert verschiedene
Male.. Nachmittags um 4 Uhr erhält sie 20 ccm
5%iges Coagulen Kocher-Fonio subcutan und
mit 40 ccm wird eine Nasenspülung gemacht.
Außerdem erhält sie 20 ccm defibriniertes Men¬
schenblut intramuskulär. Schon fünf Minuten
nach der Coaguleninjektion steht die Blutung aus
Nase und Mund.
B1 ut b i 1 d am Morgen: Hämoglobin 42%, Ery¬
throcyten 3 176 000, Leukocyten 2100, Index 0,59.
Geringe Anisocytose, keine Polychromatophilie.
Neutrophile Leukocyten 67,2%, kleine Lympho¬
cyten 26,2%, große Mononucleären 6,7%.
4.Juli: Blutbild: Erythrocyten 1876000,Leu¬
kocyten 2600, Blutplättchen 33 279. Neutrophile
Leukocyten 53,6%, große Mononucleären 29,%,
Übergangsform 4,4%, Lymphocyten (große 8,9%,
kleine 25,3%) 35,2%, Myeloblasten 2,9%, Myelo-
cyten 1,4%, Plasmazellen —.
6. Juli: Heute geringes Nasenbluten. Patientin
ist matt, schläft viel, Puls frequent; systolisches
Geräusch an allen Herzostien. Temperaturen
zwischen 38 und 39°. Blässe hat zugenommen.
Blutgerinnungszeit: Methode Sahli-Fonio:
Beginn nach 8, Ende 12 Min. bei 18° Luft¬
temperatur.
Blutbild: Erythrocyten 1 820 000, Leuko¬
cyten 1950, Blutplättchen 17 756 (Methode
Fonio).
7. Juli: Neue Hämorrhagien an der rechten
Brust, große Suffusionen an der rechten Schultet.
Die älteren Hämorrhagien im Abblassen. Wasser¬
mann negativ.
8. Juli: Starkes Nasenbluten. Patientin ist
sehr elend, geringe Nahrungsaufnahme. Tempe¬
ratur zwischen 37 und 38°. Injektion von 20ccm
Blut und 20 ccm Coagulen (Kocher-Fonio)
5%ig. Wiederum Nasenspülung mit Koagulen.
Die Blutung steht sehr bald.
Blutbild: Hämoglobin 15, Erythrocyten
1 256 000, Leukocyten 1960, Blutplättchen 19098,
Index 0,53. Ein großer chromatophiler Megalo-
cyt ist basophil gekörnt und enthält ein JollikÖrper-
chen. Neutrophile Leukocyten 32,9%, große
Mononucleäre 21 %,Myeloblasten 1,09%,Lympho¬
cyten (große 8,72%, kleine 44,38%, Rieder 6,5%)
59,60%, Plasmazelle mit Radspeichenkern 1,09%.
9. Juli: Wieder starkes Nasenbluten und
Zahnfleischblutung, die auf Koagulen und Blut¬
injektion bald stehen.
10. Juli: Zahnfleischblutungen, kleine Hämor¬
rhagien am weichen Gaumen. Das anfangs beob¬
achtete Ulcus ist fast verheilt. 1
11. Juli: Letzte Nacht wieder heftiges Nasen¬
bluten. Der wachhabende Arzt gibt ohne Erfolg
Diphtherieserum. Erst gegen Morgen steht die
Blutung.
Blutbild: Hämoglobin 12, Erythrocyten
532 000, Leukocyten 1725, Blutplättchen 10 400,
Index 1,0 ? unsicher.
In den nächsten Tagen ist Patientin sehr elend.
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1917.
17
Kleinere Zahnfleischblutungen. Auch tritt Er¬
brechen auf. Einläufe werden vollständig resor¬
biert. Die Temperaturen sind um 37° herum, am
15. und 16. Juli sogar bis unter 36°.
17. Juli: Blutbild: Erythrocyten 732 000,
Leukocyten 1900, Blutplättchen 4318, dabei sehr
große. Neutrale Leukocyten 31,6%, große Mono-
nucleäre 5%, Myeloblasten 3,3%, Lymphocyten
(große 18,3%, kleine 33,3%), Rieder 6,6%) 58,2%
Plasmazellen 0,83%, eosinophile Leukocyten
0,83%. Starke Anisocytose, auch gequollene
Erythrocyten, ein Megaloblast.
18. Juli: Patientin ist sehr elend, somnolent,
hört schwer. Nachts Unruhe. — Geringes Ödem
an Händen und Füßen. Urin leicht trübe, enthält
Leukocyten, Bakterien und Epithelien und die
chemische Blutprobe ist positiv. Seit 12. Juli
bekommtPatientin täglich 1 ccm Soiarson subcutan.
22. Juli: Starkes Nasenbluten, nachdem Pa¬
tientin seit zwei Tagen wieder etwas besseren Ein¬
druck machte. Große Mattigkeit, andauerndes
Erbrechen. Auf Blutinjektion steht die Blutung
nicht, deshalb nachmittags 10 ccm 10%ige Koch¬
salzlösung intravenös. Nach 20 Minuten steht die
Blutung, aber Patientin macht sehr verfallenen
Eindruck. Muß schon seit einigen Tagen kathe-
terisiert werden.
24. Juli: Starke Ödeme der Beine. Bewußt¬
losigkeit.
25. Juli: Große Unruhe, Zuckungen in der Ge¬
sichtsmuskulatur und am Körper. Patientin
schluckt nicht mehr. Rectale Ernährung.
Blutbefund: Hämoglobin kaum 10?,Erythro¬
cyten 716 000, Leukocyten 1925. Blutplättchen
etwa 430. Neutrophile Leukocyten 38,8%, große.
Mononucleären —, Myeloblasten 2,98%, Lympho¬
cyten (große 16,4%, kleine 34,3%, Rieder 4,47%)
55,17 %, Plasma 2,98%. Anisocytose, keine Ery¬
throblastose, keine Polychromatophilie.
26. Juli: Patientin verfällt immer mehr. Urin
trübe, übelriechend, blutig.
27. Juli: Abends Exitus letalis unter Unter¬
temperaturen.
Sektion (Prof. Dr. Benda):
Haut: hochgradige Anämie, geringer Ikterus.
Flecken und punktförmige Blutungen der Extre¬
mitäten.
Gefäßsystem: Hochgradige Myodeg. cordis.
Geringe Hypertrophie und braune Pigmentierung
der Ventrikel.
Harnapparat: Schwere diphtherische Cystitis,
diphtherische Pyelitis, multiple metastatische
Rindenabscesse der linken Niere.
Verdauungsorgäne: Geringe Hypertrophie der
Tonsillen. Katarrhalische Gastritis.
Leber: Geringe Hämosiderosis.
Nervensystem: Hirnanämie, Persistenz der
Thymus.
Blut und blutbildende Organe: Fettmark der
Röhrenknochen, geringe Poikylocytose des Blutes,
Hypoplasie und Anämie der Milz. Geringe Hyper¬
plasie der retroperitonealen Lymphdrüsen.
Knochenmark (Dr. Hirschfeld):
Im Oberschenkelmark noch deutliche Herde
myeloiden Gewebes mit Granulocyten und kern¬
haltigen Roten, also "noch keine komplette Atro¬
phie, sondern nur sehr weitgehende.
Leber: Keine Hämosiderose, keine myeloiden
Herde.
Milz: Follikelverkleinerung, in der Pulpa keine
myeloiden Herde, kein Blutpigment.
Drüsen: Keine Veränderung.
3. Fall: Kind Erich B., 6 Jahre alt.
Anamnese: Kind soll immer gesund gewesen
sein. Vor 14 Tagen Schwellung rechts am Hals.
Seitdem wurde Patient auffallend blaß, appetitlos,
schwach und schläfrig. Patient hustet leicht und
klagt über Leibschmerz in der Lebergegend.
Ich sehe das Kind zuerst am 18. Juli. Es ist
auffallend blaß und hat Hautblutungen am Ober¬
körper. Dabei besteht ein schmieriges Ulcus an
der Nase und ein solches am Zahnfleisch des
rechten .Unterkiefers.
Am 19. Oktober wird das Kind auf meine
Station verlegt.
Status praesens: Gut ernährtes Kind, auf¬
fallend blaß und von schwerkrankem' Allgemein-.
zustand.-
Die Haut zeigt zahlreiche stecknadelkopf- bis
erbsengroße dunkelrote Härhorrhagien, die be¬
sonders auf der Brust sehr reichlich vorhanden
sind. Gesicht und Füße leicht ödematös, pastös.
Am linken Nasenflügel am Naseneingang ein
blutendes, schmierig belegtes Ulcus, ebensolches
Geschwür am rechten Unterkiefer in der Um¬
gebung des ersten Backzahns. Unter dem rechten
Unterkiefer eine derbinfiltrierte, etwa kleinwal¬
nußgroße, auf Druck schmerzende Drüse. Pete¬
chiale Blutungen am weichen Gaumen.
Herz: Nicht verbreitert, Aktion beschleunigt,
systolische Schwirren über allen Ostien.
Lungen: Geringe Bronchitis über den unteren
Partien.
Abdomen: Weich; Lebergegend anscheinend
etwas druckschmerzempfindlich.
Leber: Überragt den Rippenbogen um zwei
Querfingerbreite.
Milz: Ist nicht zu fühlen.
’ Nervensystem: Ohne krankhaften Befund.
Diphtherieabimpfung vom Munde negativ.
Urin: Kein Albumen, kein Sacharum, kein
Urobilin, kein Sanguis.
Blutbild: Hämoglobin kaum 12%, Erythro¬
cyten 446 000, Leukocyten 1600. ' Plättchen sind
kaum zu sehen, beim Au$zählen (Methode Fonio)
4088. Gerinnung: Beginn 8 Minuten, Ende 12 Mi¬
nuten ber 19° Temperatur (Methode Sahli-Fonio).
Neutrophile Leukocyten 42 %, Lymphocyten 58%,
keine eosinophilen. Geringe Anisocytose, keine
Erythroblastose, keine Polychromatophilie. Neu¬
trophile Leukocyten 42%, Lymphocyten 58%,
keine Eosinophilie.
Therapie: Zehn Tage lang täglich.eine Solar-
soninjektion.
21.Oktober: Hämorrhagien imAbblassen; Kind
ist sehr elend, ohne Appetit.
Blutbild: Hämoglobin kaum 12%, Erythro¬
cyten 606 000, Leukocyten 1300, Plättchen 4851,
Index 0,86. Neutrophile Leukocyten 46,8%,
Lymphocyten 50%, große Mononucleären 3,2%.
Zwei kernhaltige Normoblasten werden gesehen
in drei Objektträgerabstrichen.
24. Oktober: Starkes Ödem der unteren Extre¬
mitäten und des Scrotums.
Leber nicht mehr palpabel.
Lymphdrüsenschwellung am rechten Unter¬
kiefer besteht noch, ebenso das Ulcus am Zahn¬
fleisch, dessen Umgebung etwas geschwollen ist
und die. Backe verdickt erscheinen läßt.
Blutbild: Hämoglobin 10 eben überschrei¬
tend, Erythrocyten 608 000, Leukocyten 1400.
Neutrophile Leukocyten 60,4%, Lymphocyten
37,2%, Mononucleäre 2%.
27. Oktober: Ulcus an der Nase im Abheileni,
• Ulcus am Unterkiefer besteht noch; es entleert
sich neben dem Zahn im Unterkiefer, der etwas auf¬
getrieben und schmerzhaft ist, an der Stelle des
Ulcus etwas Eiter. Auch die Lymphdrüsen-
3
Die-Therapie der Gegenwart 1917.
Januar
18
Schwellung besteht noch. Hämorrhagien sind
verschwunden, Ödeme bestehen noch.
27. Oktober:. Blutbild: Hämoglobin 15, Ery-
throcyten 692 000, Leukocyten 2200, Plättchen
151581 Anisocytose, Poikilocytose. Neutrophile
Leukocyten 63,2%, Lymphocyten 33,3%, eosino¬
phile Leukocyten 1,1%, Myelocyten 1,1%, Myelo¬
blasten 1,1%.
8. November: Bis zum 3. November hatte das
Kind täglich Temperaturen zwischen 38 und 39°.
Seit dieser Zeit gehen die Temperaturen merklich
herunter zwischen 38 und 36,2°. Das Kind macht
seit Tagen viel frischeren Eindruck. Ißt mit
Appetit. Ödeme sind geschwunden. Ulcus an der
Nase ist seit einigen Tagen abgeheilt. Das Ulcus
am ersten Backzahn des rechten Unterkiefers
besteht noch und es entleert sich seit Tagen Eiter
daraus. Der Kiefer selbst ist an dieser Stelle ge¬
schwollen. Um dem Eiter Abfluß zu schaffen,
wird der Zahn gezogen. Der Zahn ist völlig gut
erhalten. Es folgt Entleerung großer Eitermengen.
Die Höhle wird fortan täglich dreimal gespült.
14. November: Das Kind hat lebhaftere Ge¬
sichtsfarbe. Die Unterkiefereiterung besteht noch,
es ist auch der zweite Backzahn ausgefallen.
Die Herztöne sind rein; Bronchitis besteht
nicht mehr.
Blutbild: Hämoglobin 35%, Erythrocyten
2 340 000, Leukocyten 7600, Blutplättchen336891,
Index 0,6. Neutrophile Leukocyten 52,8%, große
Mononucleären 9,4%, Myeloblasten 7,5%, Lym¬
phocyten 30,2%. Auf 106 Leukocyten sind 4 Nor-
moblasten gezählt.
13. Dezember: Das Kind hat sich mehr ifnd
mehr erholt, läuft herum und macht einen frischen
gesunden Eindruck. Noch geringe Kiefereiterung.
Die. Sonde fühlt rauhen Knochen, ein Sequester
wird röntgenologisch nicht nachgewiesen.
Hämoglobin- und Erythrocytenreste haben
sich dauernd gebessert.
Blutbild: Hämoglobin 60%, Erythrocyten
4 200 000, Leukocyten 4500, Plättchen 300 715,
Index 0,64. Neutrophile Leukocyten 60,6%, große
Mononucleären 7,8% und Übergangsformen,
eosinophile Leukocyten 46%, Mastzellen 1,6%,
Lymphocyten 27,8%.
Unsere Krankengeschichten lassen
uns das klinische Bild der hämorrhagi¬
schen Anämie deutlich erkennen. Die
Patienten zeigen .auf den ersten Blick als
auffälliges Symptom extreme Blässe mit
großer Körperschwäche, das Herz ist
geschwächt, der Blutdruck erniedrigt,
Leber und Milz sind oft mäßig vergrößert.
Man könnte bei der oberflächlichen Be¬
trachtung an perniziöse Anämie denken,
wenn nicht die profusen Blutungen aus
vielen Schleimhäuten, sei es der Nase,
des Mundes, des Darmes, oder die Nieren¬
blutungen, oder die ausgedehnten Unter¬
hautblutungen zeigten, daß hier eine be¬
sondere Krankheitsform vorläge. Ebenso
wäre man versucht, an Hämophilie zu
denken, ohne, die Eigentümlichkeit des
Gerinnungsvorgangs und des morpho¬
logischen Blutbildes. Bei der Hämo¬
philie sind die Blutplättchenwerte min¬
destens normal. Auch läßt unser Krank¬
heitsbild gerade die den Hämophilen
so charakteristischen Gelenkaffektionen
vermissen und die exquisite Erblichkeit.
Auffallend ist das jugendliche Alter
der befallenen Patienten, in unseren Fällen
6, 17, 18 Jahre. Auch die von anderen
Autoren beschriebenen Fälle waren jung
an Jahren, Ascola zählt unter 19 Er¬
krankungen 11 unter 30 Jahren, Türk
hat ein Mädchen von 18 und einen Knaben
von 12 Jahren beobachtet, Kleinschmid
beschreibt ein Mädchen von 4 1 / 2 Jahren.
Die charakteristische Kennzeichnung
des Krankheitsbildes, welches zugleich
die Diagnose und die Abgrenzung gegen
verwandte Krankheitsbilde r gestattet,
liegt in der Blutbeschaffenheit. Wir ge¬
wahren die quantitative Verminderung¬
sämtlicher Arten von Blutzellen.
Die. roten Blutkörperchen sind be¬
trächtlich an Zahl vermindert, nicht
anders wie bei der perniziösen Anämie.
In unserem ersten Falle sinkt die Zahl der
Erythrocyten bis 872 000, im zweiten
auf 716 000, im dritten auf 446 000. Aber
im Gegensatz zur perniziösen Anämie ist
der morphologische und tinktorielle Be¬
fund normal, eher der sekundären Anämie
entsprechend, kernhaltige rote Blutkör¬
perchen und Megaloblasten sind nicht zu
finden, oder doch nur sehr selten, wie* im
zweiten Fall.
Ganz besonders auffallend ist die
außerordentliche Verminderung der wei¬
ßen Blutkörperchen, deren Zahl bis unter
1000 sinkt; die Abnahme betrifft be¬
sonders die Granulocyten, während die
Lymphocyten relativ vermehrt sind.
Ebenso charakteristisch ist die Ab¬
nahme der Blutplättchen unter 100 000,
in unseren Fällen unter 30 000 bis herab
zu 600 im Kubikmillimeter, ja bis zum
vollständige^ Verschwinden.
DerVerlauf der Krankheit führt in den
meisten Fällen sowie in unseren beiden
ersten durch zunehmende Schwäche zum
Tode. Oft schließt sich an die Blutung eine
circumscripte oder ausgebreitete Ulcera-
tion an, die ihrerseits wieder zur schweren
tödlichen Infektion führen kann. Aber
in einzelnen Fällen kann es zur Heilung
kommen, wie in unserem dritten Faile.
Dann bessert sich der Blutbefund, die
Zahl der Plättchen steigt von 4088 auf
15 158 und erreicht bald den normalen
Wert von 336 891, und auch die Zahl der
weißen und röten Blutkörperchen sowie
des Blutfarbstoffes nähert sich der Norm,
während Aussehen und Kräftezustand
sich allmählich bessern. Die Regenera¬
tionskraft des jugendlichen Organismus
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1917.
19
vermag die knochenmarkschädigende
Noxe zu überwinden. ln den . zum
Exitus gekommenen Fällen zeigt der
Obduktionsbefund das anatomische
Bild der schwersten Anämie. Blutungen
an allen inneren Organen, oder an einigen,
z. B. Meningen, Hirnrinde, Endokard und
Epikard, Darm, Blase usw. Verfettungen
mäßigen Grades des Endokards und der
Aorta, eventuell auch der Leber, und
schließlich ein völlig aregeneratorisches
Fettmark der langen Röhrenknochen,
ganz zum Unterschied von dem himbeer-
geleeartigen bis dunkelroten Knochen¬
mark der perniziösen Anämie.
Sogar die Zellmarkbezirke der Epi¬
physen und der platten Knochen, der
Rippen und Wirbel sind in eine dünn¬
flüssige zellarme Masse verwandelt. Auch
in unseren Fällen ließ sich bei der Sektion
aus dem Rippenmark nur noch eine
wäßrige graurötliche Flüssigkeit aus¬
pressen, die wesentlich ärmer an Zell¬
elementen war und besonders bei Fall 2
gar keine Zelljugendformen zeigte. Na¬
türlich darf man sich nicht beirren lassen,
daß in dem ungeheuren Markareale sich
noch Strecken finden, in denen Regenera¬
tionsbestrebungen noch zutage treten,
oder in denen die Vernichtung des funk¬
tionierenden Blutbildungsgewebes nicht
durchgeführt ist, es können sich sogar
hier und da noch rote Zellinseln in den
langen Röhrenknochen finden, und es
wird nicht in jedem platten Knochen der
Markschwund ausgeprägt sein.
Die Pathogenese der hier gekenn¬
zeichneten hämorrhagischen Anämie
scheint insofern geklärt, als die schwere
Schädigung des gesamten Knochenmarks
sicherlich im Mittelpunkt des pathologi¬
schen Geschehens steht. Somit scheint
die kausale Bezeichnung der Knochen¬
markatrophie oder Amyelie gerecht¬
fertigt. Es scheint uns nicht gerecht¬
fertigt, wie Frank es will, die Schädigung
der farblosen Elemente einschließlich der
Blutplättchen in den Vordergrund zu
rücken und die Abnahme der Erythro-
cyten hauptsächlich als Folge der Blutun¬
gen darzustellen. Die Blutungen darf man
wohl als die Folge des Blutplättchen¬
mangels hinstellen, obgleich man auch
hierbei die Annahme einer auf Nerven¬
einfluß beruhenden Erweiterung der
Capillaren nicht entbehren kann.
Schon der kleine Einstich zur Blutentnahme
zeigt, daß die Blutung längere Zeit anhält als
beim Normalen. Das dünne wäßrige Blut fließt un¬
gehemmt über die Fingerkuppe und es ist schwer,
es im Tropfen zusammenzuhalten. Auch hält
die Blutung viel länger an als beim Gesunden.
Noch Hayem hielt es für schwierig, die spontan
entstehenden Blutungen zu erklären. Frank
setzt nun in sehr einfacher weise die Hämorrhagien
zu, der Plättchenarmut in Beziehung. • Bei ver¬
langsamtem Blutstrom im Experimente schon
zeigt sich, daß die Plättchen sich an der Außen¬
seite des Stroms sammeln und dicht gedrängt an
den Gefäßwänden haften, so den Austritt der
roten Blutkörper durch Gewebsspalten hemmend.
Wahrscheinlich spielen nun wie bei der Purpura
auch in diesen Fällen abnorme Erregbarkeitsver¬
hältnisse der Gefäßnerven mit, und dadurch
kommt es zur Erschlaffung der Capillaren und der
Wände der kleinen Venen, in denen das Blut dann
nicht nur langsam fließt, sondern bei dem er¬
wiesenen Plättchenmangel dem Austritte der roten
Blutkörper kein Hindernis mehr entgegengestellt
ist, und der Austritt in so erheblichem Maße er¬
folgt, daß wir ihn makroskopisch als Blutflecken
wahrnehmen. Ebenso begründet Frank im An¬
schluß an Wolfs moderne Gerinnungstheorie die
Intensität der Schleimhautblutungen. Kleine Ver¬
letzungen der Schleimhaut, besonders im Munde,
dürften sich so leicht erklären. Beim normalen
setzen sich die Blutplättchen an den Rändern des
blutenden Gefäßes der Wunde fest und verengern
allmählich durch Apposition die Öffnung. Hinzu
kommt noch die Wirksamkeit der Plättchen als
Thrombocym-(Cytocym-)quelle. Das Thrombo-
cym tritt bekanntlich unter dem Einfluß eines
Elektrolyten (Calciumsalz) mit dem im Serum
gelösten Thrombogen zusammen und ihr Adduk¬
tionsprodukt (Fibrinferment) lagert sich nun
seinerseits an Fibrinogen an, wobei Fibrin aus¬
gefällt wird und die Gerinnung zustande kommt.
Das fällt fort bei der Atrophie des Knochenmarks
wegen des Fehlens der Plättchen, und die Blutung
wird ungewöhnlich lange unterhalten.
Zum Schluß will ich einige Bemer¬
kungen über die Behandlung der
Amyelie machen. Da uns die Natur der
Schädlichkeit, welche auf das Knochen¬
mark zerstörend einwirkt, verborgen ist,
so müssen wir auf den Versuch einer
kausalen Therapie verzichten. Wir können
nur wie in anderen ätiologisch dunkeln
Krankheiten uns bemühen, die Gesamt¬
widerstandskraft des Organismus zu
heben, indem wir in der Pflege, Er¬
nährung und Kräftigung der Patienten
das Möglichste zu leisten suchen. Da
die krankmachende Ursache in speci-
fischer Weise sich an das Knochenmark
wendet, suchen wir dessen Widerstands¬
fähigkeit zu kräftigen, indem wir das
specifische Reizmittel ' des Knochen¬
marks, das Arsen, zur Anwendung
bringen. Daß durch Arsen die gesamte
hämatopoetische Funktion des Knochen¬
marks vermehrt wird, steht wohl außer
Zweifel; durch Arsendarreichung werden
sicherlich die regenerativen Prozesse an¬
geregt, die Bildung der gemeinschaft¬
lichen Mutterzellen von Leukocyten und
Blutplättchen, der Myeloblasten und
der sogenannten Megakaryocyten, ebenso
3*
20
Die Therapie der . Gegenwart 1917.
Januar
wie die Abschnürung der Blutplätt¬
chen gefördert. Unter ■ Arsenmedikation
ist einer unserer Fälle, der anfangs
verloren schien, zur Heilung gelangt;
wir haben die subcutanen Injek¬
tionen von' Solarson angewandt.
Dies bekanntlich von Geheimrat Klem-
perer in den Arzneischatz eingeführte
wasserlösliche Arsenpräparat kommt auf
unserer Abteilung zur subcutanen In¬
jektion ausschließlich zur Anwendung.
Wenngleich natürlich ein sicheres Urteil
nicht möglich ist, habe ich doch den
Eindruck, als ob die Solarsonanwendung
neben der Naturheilkraft zu dem gün¬
stigen Ausgang mit beigetragen hätte.
Es kommt übrigens neben der Arsen¬
medikation bei der Amyelie noch eine
andere Heilmöglichkeit durch Knochen¬
marksreizung in Frage, das ist die Milz¬
exstirpation 1 ), welche bekanntlich bei den
perniziösen Anämien mit zweifellosem,
wenn auch vorübergehendem Erfolg an¬
gewandt worden ist. Klemperer und
Hirschfeld haben gezeigt,, daß nach
Milzexstirpation eine Überschwemmung
des Blutes mit kernhaltigen roten Blut¬
körperchen eintritt und daß sich außer¬
dem im strömenden Blut zahlreiche
rote kleinste granulaartige Kernreste, so¬
genannte Jollykörper, gefunden haben.
Hierdurch ist die direkte Anregung der
Regeneration des Knochenmarks durch
die Entfernung der Milz bewiesen. Wir
haben deswegen die Milzexstirpation in
unserem letzten Falle bereits in Erwägung
gezogen, haben jedoch davon Abstand
genommen, da unter Solarsoninjektionen
der Umschwung zum Bessern, eintrat.
Jedoch möchten wir in künftigen Fällen
beim Versagen der Arsenmedikation zur
Milzexstirpation raten.
Als symptomatisches Mittel kommt der
Ersatz des durch die Hämorrhagien ver¬
loren gegangenen Blutes in Frage. Die
Blützufuhr durch Infusion oder Injektion
ist in diesen Fällen nicht nur ein Mittel,
die Kräfte zu erhalten und das Leben zu
fristen, um der Naturheilkraft neue Mög-
*) Klemperer und Hirschfeld, Milzexstir¬
pation zur Behandlung der perniziösen Anämie.
(Ther. d. Gegenw. 1913, S. 303). — Klemperer,
In welchen Fällen kommt die Milzexstirpation in
Frage (Ther. d. Gegenw. 1914, Nr. 1).
lichkeit zu bieten; sondern im gesunden
Blut sind ja auch alle Substanzen vor¬
handen, die bei der Amyelie nicht mehr im
Knochenmark gebildet werden können,
die Blutplättchen und die Fermente,
welche die Gerinhung des Blutes herbei¬
führen und dadurch die Blutungen ver¬
hindern können. Es wird sich also in
jedem Falle von Amyelie empfehlen, ent¬
weder intramuskuläre Injektionen von
je 20 ccm frisch entnommenen Blutes zu
machen • oder aber direkte Bluttrans¬
fusionen vorzunehmen. Ein durch¬
greifender Erfolg dieser Maßregeln dürfte
nicht zu erwarten sein, da die Wirkung
nicht lange genug anhält und die all¬
zuhäufige Wiederholung sich kaum durch¬
führen läßt.
In jüngster Zeit haben Kocher und
Fonio in Erkennung der großen Be¬
deutung der Blutplättchen für die Blut¬
stillung ein Extrakt aus Blutplättchen
zur Darstellung und in den Handel ge¬
bracht, welches sie als Koagulen be¬
zeichnen und als ein ausgezeichnetes
Blutstillungsmittel empfehlen. Es kommt
in Pulver-, Tabletten- und Ampullenform
zur innerlichen und äußerlichen Anwen¬
dung, sowie zur sukutanen oder intra¬
venösen Injektion. In neuester Zeit sind
bereits mehrere Fälle von prompter Blut¬
stillung durch Koagulen teils durch inner¬
lichen Gebrauch (bei Magen- und Lungen-
bluten), teils durch Aufpulvern auf
blutende Wunden berichtet worden. In
unserm zweiten Fall haben wir durch
subkutane Injektion von 20 ccm einer
5°/ 0 -Koagulenlösung jedesmal Stehen der
Blutungen, aber immer nur für kurze
Zeit erzielt; zu intravenösen Injektionen
konnten wir uns nicht entschließen, da
die damals zur Verfügung stehenden
Lösungen nicht klar waren. Neuerdings
hat aber Fonio verbesserte klarlösliche
Präparate in Umlauf gebracht und es
wäre für künftige Fälle zu empfehlen,
täglich, bis zu 100 ccm der 5°/ 0 -Koagulen-
lösung intravenös zu injizieren. Der hohe
Preis des Präparats (100 ccm dieser Lösung
würden 20 Mark kosten) dürfte kein ent¬
scheidender Gegengrund sein. Ob freilich
auch durch diese Anwendung mehr als
symptomatische Wirkung zu erzielen wäre,
muß vorläufig dahingestellt bleiben.
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1917.
21
Die Entscheidung zwischen symptomatischer, Strahlen-
und operativer Therapie beim Uterusmyom.
Von Prof. Dr. L. Blumreich-Berlin.
Seit dem allgemeineren Bekanntwer¬
den der so guten Erfolge der Röntgen¬
therapie bei Uterusmyomen hat sich bei
vielen praktischen Ärzten nach meinen
Erfahrungen insofern ein Umschwung in
der Auffassung vollzogen, als einesteils
eine ganze Reihe von Fällen, die durch :
aus noch der symptomatischen, hausärzt¬
lichen Behandlung zugänglich sind, an¬
dererseits aber ziemlich wahllos auch
manche Fälle von Uterusmyomen, die
.noch heute durchaus dem Messer verfallen
sind, von vornherein den Gynäkologen
zwecks Bestrahlung überwiesen werden.
Dieser Umschwung in der Beurteilung
wird vielleicht verständlich, wenn man
an das von verschiedenen Kliniken er¬
reichte, und publizierte Resultat der Be¬
strahlung von „1Q0 % Heilung der
Myome“ denkt; aber es wird dabei mit¬
unter nicht genügend beachtet, daß diese
Prozentziffer der Heilung sich eben nur
erzielen läßt bei einer sehr sorgfältigen
Auswahl der Fälle, und auch nicht, was
hierbei unter ,,Heilung“ verstanden wird.
Auch begeisterte Röntgentherapeuten
unter den Gynäkologen — und ich gehöre
auch zu ihnen — müssen nach wie vor
sowohl der symptomatischen, wie der
operativen Behandlung einen breiten
Spielraum gewähren, und ebenso auch
der Nichtbehandlung. In den letzten
sechs Wochen sind mir zweimal Patien¬
tinnen mit Myomen mäßigen Umfangs,
die symptomlos bestanden, zur Bestrah¬
lung zugewiesen worden; ich habe Be¬
strahlung und jedwede andere Therapie
außer einer regelmäßigen vierteljährlichen
Beobachtung abgelehnt, weil die Myome,
die keinerlei Beschwerden machen, wie
Schmerzen oder Blutungen, Druckerschei¬
nungen auf die Nachbarorgane, Folgezu¬
stände am Herzen, und bei denen ein Ver¬
dacht auf maligne Entartung nicht be¬
steht, keinerlei Behandlung bedürfen.
Die symptomatische Therapie hat in
neuester Zeit eine wünschenswerte Be¬
reicherung der bisher- üblichen Mittel zur
Beherrschung der Blutungen — Hydra-
stis- undSekalepräparate, besonders Seka-
kornin, heiße Spülungen, feste, täglich zu
wechselnde Scheidentamponade eventuell
mit flüssiger Gelatine oder Tanninpulver
— durch die Aufnahme zweier Medika¬
mente, der Tampospumantabletten und
des Koagulen Ciba verfahren.
Das .Luitpoldwerk in München schil¬
dert die pharmakotechnische Wirkung des
ersteren Präparats folgendermaßen: „Die
Tampospumantabletten verwandeln sich
nach Einführung in die Scheide unter
Freiwerden von Kohlensäure in einen
expansiven, steifen Körper von C0 2 -
Schaum. Dieser C0 2 -Schaum ist Träger
der gelösten, in feiner Verteilung vor¬
handenen hämostatischen Specifica (Su-
prarenin, Styptizin, Ferropyrin). Unter
dem Druck der Kohlensäure dehnt
sich der Schaumkörper aus, vermag
in die Spalten der Schleimhaut einzu¬
dringen, um auch von dort aus die tam¬
ponierende beziehungsweise gerinnende
und gefäßverengernde Wirkung zu ent¬
falten. Der aus der Tampospumantablette
sich entwickelnde Schaum ist anzu¬
sprechen als ein elastischer, automatisch
wirkender Schaumtampon. Tampo-
spuman wirkt also dreifach, durch Vaso¬
konstriktion, Blutgerinnung und Schaum¬
tamponade.“
Ich wende die Tabletten bei Myom
stets da an, wo es sich um mehr oder weni¬
ger erhebliche Verstärkung der menstruel¬
len Blutungen handelt, die aber weder an
sich, noch durch ihre Folgeerscheinungen
auf Herz und Allgemeinzustand gefahr¬
drohenden Charakter angenommen haben.
Je eine Tablette wird morgens, mittags,
und abends hoch hinauf in die Scheide
geschoben; am besten ist es, wenn
dauernd Bettruhe innegehalten wird, doch
ließ sich mehrfach auch ausreichend gute
Wirkung beobachten, wenn die Patien¬
tinnen nach Einführung der Tabletten
nur eine Stunde ruhig lagen, in der Zwi¬
schenzeit aber ihre Berufsarbeit fort¬
setzten. Die Tabletten werden so lange
weiter eingelegt, bis die Blutung zum Still¬
stand gekommen ist, was gewöhnlich
schon nach vier bis sechs Tabletten ein-
tritt. Die Kranken können sich, was für
beide Teile sehr bequem, und zeitsparend
ist, die Tabletten selbst einführen. Ich
habe das Mittel in 31 Fällen von Myom¬
blutungen der oben beschriebenen Art in
Anwendung gebracht, wo die Sekale- und
Hydrastispräparate nicht den erwünsch-.
ten Erfolg gezeigt hatten; in 24 Fällen
ließen die Blutungen sehr erheblich nach,
siebenmal versagte das Präparat. Die
Zahlen sind selbstverständlich zu klein
zu einem endgültigen Urteil; Ebeler
22
Die .Therapie der Gegenwart 1917. Januar
(Der Frauenarzt, 1915) hat bei einem
größeren Material von 86 Fällen der ver¬
schiedensten gynäkologischen Blutungen,
in der Frauenklinik der Kölner Akademie
80% prompter Wirkung erzielt. Ein
Versuch ist jedenfalls durchaus empfeh¬
lenswert.
Das zweite, eventuell in Anwendung
zu bringende der neueren Mittel ist das
Koagulen Kocher-Fonio, das auf Ver¬
anlassung von Kocher (Bern) hergestellt
wurde. Es enthält gerinnungsbefördernde,
aus Tierblutplättchen gewonnene Sub¬
stanzen. Wirkt es auch in erster Linie
durch direkte Aufspritzung bei parenchy¬
matösen Blutungen, zum Beispiel bei La¬
parotomien, bei plastischen Operationen
der Dammgegend, so läßt es sich doch auch
intrauterin und subkutan verwenden. Die
Dresdener Frauenklinik (Vogt, D. m. W.
1914, S. 1315) hat das Mittel zuerst bei
starken menstruellen Blutungen und Me¬
norrhagien intrauterin angewandt, die
Breslauer Klinik (Greinert, Mschr. f.
Geburtsh., Bd. 43, S. 276) hatte in
35% derartiger Fälle einen guten Er¬
folg, in weiteren 50% einen vorüber¬
gehenden Erfolg beziehungsweise Besse¬
rung. In der Küstnersehen Klinik wur¬
den mittels Braun scher Spritze in Becken¬
hochlagerung 2—4 ccm einer 10%igen
Lösung des Präparates in physiologischer
Kochsalzlösung oder destilliertem Wasser
nach Sterilisation durch zwei bis drei Mi¬
nuten langes Kochen injiziert. Danach
.verblieben die Patientinnen 15 Minuten
in Beckenhochlagerung und eine Stunde
in Rückenlage.
Ich habe in mehreren Fällen von er¬
heblich verstärkten Menstrualblutungen
bei Myomen nach Versagen der üblichen
Mittel das Präparat mit recht gutem Er¬
folge in dieser Form angewandt. Wo es
versagte, habe ich eine Subkutaninjektion
von 20 ccm einer 3%igen Lösung,, durch
fünf Minuten langes Kochen sterilisiert,
gemacht; das Resultat war einigemale
verblüffend, in anderen Fällen dagegen
war die Beeinflussung verhältnismäßig
gering. Vor intravenöser Anwendung habe
ich mich trotz Empfehlung von anderer
Seite aus Furcht vor Thrombosen be¬
ziehungsweise Embolien gescheut. Ab¬
schließend kann ich mich persönlich über
das Verfahren noch nicht äußern, weil die
Beobachtungszeit und -Ziffer noch zu
gering ist, es aber doch als wertvolles
Unterstützungsmittel zur Bekämpfung
nicht zu profuser Myomblutungen emp¬
fehlen.
Auch in bezug auf die Schmerz-
linderung hat uns die neueste Zeit ein
nicht unwesentliches Verfahren in die
Hand gegeben in Form der besonders
während des Krieges zu raschem Ansehen
gelangten Diathermie. Während und
kurz vor der Periode kann die Diathermie
aHerdings nicht angewandt werden, weil
sie blutungssteigernd wirkt, daher auch
nicht bei den oft mit schweren Dysmenor¬
rhöen verbundenen, profus blutenden sub¬
mukösen Myomen. Überhaupt möchte
ich die Diathermiebehandlung bei Patien¬
tinnen, die Neigung zu Blutungen haben,
widerraten und sie für die zahlreichen
Fälle reservieren, bei denen der auch im
Intermenstruum vorhandene Schmerz
im Vordergründe der Klagen steht, sei es,
daß es sich um Spannungsschmerzen des
allmählich wachsenden Myoms handelt
oder um entzündliche Schmerzen durch
Verwachsung mit der Nachbarschaft oder
gleichzeitige Adnexerkrankung. • Hier
haben wir zweifellos eine sehr bedeutsame
Vermehrung unserer Einwirkungsmög¬
lichkeiten in der Diathermie zu erblicken,
die viel wirksamer ist als die üblichen
heißen Umschläge und Badekuren; die
schmerzstillende Wirkung ist eine ganz
eklatante, sie tritt meist nach wenigen
Sitzungen auf, allerdings zunächst vor¬
übergehend. Dann werden die schmerz¬
freien Intervalle immer größer, bis schlie߬
lich der Schmerz völlig nachläßt. Daß
auch refraktäre Fälle Vorkommen, ist
selbstverständlich. Aber jedenfalls ist die
Diathermie meines Erachtens das bisher
wirksamsteMittel zur Schmerzverringerung
und ermöglicht es, auf manche Operation
zu verzichten, die man früher wegen der
sonst nur durch ständigen Gebrauch von
Narkotizis herabzusetzenden heftigen
Schmerzen vornahm. Ich verwende nach
Kowarschick(Lehrbuch der Diathermie,
Springer, 1914) zwei große Bleiplatten als
Elektroden, von denen die eine unter das
Kreuzbein, die andere auf das Abdomen
kommt. Die Sitzungen werden anfangs
täglich, bei deutlicher Besserung jeden
zweiten Tag genommen, sie dauern etwa
15 Minuten; die Stromstärke ist anfangs
0,5 Ampere, steigt aber, wenn die Kran¬
ken die geringere Stromstärke gut ver¬
tragen, rasch bis zu 1,5—2,0 Ampere. In
manchen Fällen wirken die verhältnis¬
mäßig niedrigeren Stromstärken bis
0,75 Ampere günstiger ein als die höheren.
Eine absolute Kontraindikation gegen
die diathermische Behandlung sind frische
Infektionen; auch wo subakute Entzün-
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1917.
23
düngen die Myomerkrankung kompli¬
zieren, möchte ich die Diathermie strikt
widerraten. In ausgezeichneter Weise läßt
sich mitunter die nicht ganz seltene Konr-
plikation der Neuralgie des Nervus ischia-
dicus durch Diathermie bekämpfen. Hier
bin ich vielfach schon mit der Vakuum-'
elektrode ausgekommen, ein Erfolg war
manchmal bereits nach drei Sitzungen
wahrnehmbar. In anderen Fällen freilich
bedurfte es viel längerer Behandlung und
der Anwendung der Bleiplatten.
Schaltet man die Fälle mit Temperatur¬
steigerung, akuten und subakuten Ent¬
zündungen aus, so wird man viel Befriedi¬
gung bei der Diathermiebehandlung emp¬
finden ; zeitraubend ist das Verfahren aller¬
dings, aber das darf natürlich keine Rolle
spielen, wenn es gilt, der Kranken even¬
tuell die Operation zu ersparen.
Wo es trotz alledem nicht erreicht
wird, die Schmerzen in einer Weise herab¬
zusetzen, daß sie Lebensgenuß und Ar¬
beitsfähigkeit nicht mehr stören, wo die
verstärkten Menstrualblutungen auf die
geschilderten Maßnahmen hin nicht nach-
lassen oder von vornherein äußerst profus
sind, zu körperlicher Erschöpfung, schwe¬
rerer Anämie oder Herzerscheinungen
führen, wo das Myom durch seine Größe
oder seinen Sitz bei jeder Menstruation
zur Urinretention führt oder wo schlie߬
lich der Verdacht auf maligne Degenera¬
tion besteht, da genügt die symptomatische
Therapie nicht mehr, da sind Strahlen¬
behandlung beziehungsweise Operation
angebracht.
Die Mehrzahl der Gynäkologen, da¬
runter ich ebenfalls, betrachten die Strah¬
lenbehandlung der Myome als das Ver¬
fahren der -Wahl. Es unterliegt gar
keinem Zweifel, daß man in der über¬
wiegenden Mehrzahl aller Fälle bei rich¬
tiger Indikationsstellung ausgezeichnete
Resultate erzeilt. Darauf aber kommt es
eben an; die Röntgenbehandlung verlangt
eine sehr exakte Diagnose. Diagnostische
Fehler rächen sich hier ganz besonders.
Namentlich muß man sich davor hüten,
maligne Ovarialtumoren für gutartige
Myome zu halten, ein Irrtum, der mit¬
unter selbst dem geübten Fachmann
passieren kann. In einer früheren Arbeit
(Zur Röntgen- und operativen Behand¬
lung der Myome, B. kl. W. 1912, Nr. 37)
habe ich einen solchen Fall angeführt, bei
dem seitens eines erfahrenen Gynäkologen
die Diagnose auf Uterus myomatosus ge¬
stellt und Strahlentherapie empfohlen
worden war. Die Patientin kam ein halbes
Jahr später zu mir, die Tumoren waren
trotz Bestrahlung gewachsen, die Blu¬
tungen nicht geringer geworden, so daß
ich zur Operation riet und vermutete,
daß eine maligne Neubildung dahinter
stecken könnte. Bei derLaparotomie wurde
meine Annahme bestätigt, es lag ein Carci-
nom beiderOvarien vor. ÄhnlicheFälle von
Bestrahlung maligner Ovarialtumoren in¬
folge einer Fehldiagnose, sind auch von
anderer Seite berichtet worden. . Leider
werden solche Fälle, bei denen Kranken¬
geschichte und objektiver Befund völlig
zum Bilde des Myoms passen und doch
maligne Ovarialtumoren vorliegen, sich
stets gelegentlich wiederholen, denn hier
liegen eben auch für den geschulten Unter¬
sucher die Grenzen des diagnostischen
Erkennens. Daß man unter allen Um¬
ständen die Operation vorziehen wird, wo
man seiner Sache nicht absolut sicher zu
sein glaubt, sondern mit einer noch so
entfernten Möglichkeit des Vorhanden¬
seins bösartiger Eierstockgeschwülste
rechnet, ist selbstverständlich.
Nicht minder schwierig zu entscheiden
ist mitunter die Frage, ob in dem myo-
matösen Uterus eine karzinomatöse Ent¬
artung vorliegt. Bei noch so profusen
Blutungen wird man an Carcinom nicht
zu denken brauchen, sobald nur die Blut¬
ausscheidung sich an den menstruellen
Typ hält. Stellen ,sich aber Unregel¬
mäßigkeiten im Auftreten ein, so muß
unter allen Umständen, bevor man sich
für die Strahlentherapie entscheidet, eine
Probeabrasio vorgenommen werden. Fällt
diese negativ aus, zeigt sich also nichts
von maligner Entartung bei der mikro¬
skopischen Untersuchung der ausge¬
schabten Massen, so würde ich dringend
empfehlen, an die Abrasio eine Probe¬
austastung anzuschließen und dabei ver¬
dächtig erscheinende Stellen oder solche
Partien, zu denen der Schablöffel ohne
Leitung des Fingers nicht gelangen
konnte, abermals zu kurettieren. Einen
sehr bezeichnenden Fall dieser Art möchte
ich als Beispiel anführen:
Frau A. K-, Patientin von 48 Jahren, Menses
sehr verstärkt und verlängert, aber regelmäßig
bis vor fünf Monaten. Seit dieser Zeit gelegentlich
auftretende ganz unregelmäßige Blutungen, mal
stärker, mal schwächer. Man fühlt einen viel¬
knolligen, anderthalbfaustgroßen Uterus myo¬
matosus. Die Probeausschabung ergab ein Endo¬
metrium, wie es dem prämenstruellen Typ ent¬
spricht, aber nichts von. Malignität. Mit Rücksicht
auf die Irregularität in den letzten Monaten ent¬
schloß ich mich zur Probeaustastung; die Cervix
wurde durch zweimaliges Einlegen von Laminaria-
stiften ln Abständen von 24 Stunden und gleich-
24
Die Therapie der
zeitige Dilatation mit Hegarschen Stiften für
den Finger durchgängig gemacht, und es ergab
sich dabei eine Ausbuchtung nach links hinten
oben, in die die Kürette nicht eingedrungen war.
Unter Führung des Fingers wurde die betreffende
Partie nachträglich abradiert und es wurde ein
Adenocarcinom festgestellt.
Wo die Sondierung vor der Probe¬
abrasio eine nicht ganz gleichmäßig ge¬
staltete Höhle ergibt, verbinde ich seitdem
stets die Austastung mit der Ausschabung
und kann nur dringend zu diesem viel
sichereren Verfahren raten.
Daß die Vergesellschaftung mit Kor-
puscarcinom nicht selten ist, zeigt die
Statistik Schottländers; er fand unter
330 Myomen der Schautaschen Klinik
in 6% der Fälle = 20mal gleichzeitig
Carcinombildung.
Erst wenn bei irregulären Blutungen
Ausschabung und Austastung, zusammen
uns die Existenz einer malignen Neubil¬
dung haben ausschließen lassen, dürfen
wir die Strahlentherapie einleiten.
Viel übler noch sind wir bei den sarko-
matösen Entartungen der Myome ge¬
stellt, denn hier fehlt uns die Möglichkeit,
durch Probeaustastung und -ausschabung
zu einer klaren Beurteilung des Falles zu
kommen, und klinische Erscheinungen,
die den Verdacht auf sarkomatöse Dege¬
neration lenken könnten, fehlen oft völlig.
Die Häufigkeit dieser Entartungsform war
von Warnekros aus der Bummschen
Klinik bei der nachträglichen Unter¬
suchung von 78 Myomfällen auf fast 10%
beziffert worden, doch haben spätere
Forschungen ergeben, daß diese hohe Zahl
sich kaum aufrecht erhalten läßt, so daß
man jetzt mit ungefähr 2% sarkomatöser
Degeneration rechnet. Für eine solche
Entartung spricht sehr rasches Wachstum,
namentlich nach Zessieren der Menses,
Wiederauftreten von Blutungen in der
Menopause, aber, wie gesagt, mitunter
fehlt jeder klinische Anhaltspunkt.
Daß also die Röntgentherapie völlig
ungefährlich sei, kann ich nicht an¬
erkennen; die Gefahr der Strahlenbehand¬
lung liegt, wie ich schon seinerzeit aus¬
führte, in der Unmöglichkeit, in jedem
Falle vor Beginn der Therapie exakt die
maligne Degeneration des myomatösen
Uterus ausschließen zu können, gelegent¬
lich auch in der selbst dem Geübtesten
nicht immer möglichen sicheren Unter¬
scheidung zwischen malignen Ovarial¬
tumoren und multiplen subserösen Myo¬
men und in einem Hinausschieben der
Operation in diesen unvermeidbaren Fäl¬
len von Fehldiagnosen.
Gegenwart 1917. Januar
Weitere Gegengründe gegen Strahlen¬
behandlung bei Myomen sind Vereiterung
oder Verjauchung des Tumors, ferner
submuköse, in die Scheide hineingeborene
Myome und schließlich solche Tumoren,
die durch Größe und Sitz so starke Ver-
drängungs- beziehungsweise Druckerschei¬
nungen machen, daß sofortige Abhilfe
geschaffen werden muß und nicht erst
die eventuelle,' ja nicht immer mit
absoluter Regelmäßigkeit eintretende
Schrumpfung der Myome durch Strahlen¬
behandlung abgewartet werden 1 darf.
Endlich ziehe ich bei Frauen unter
40 Jahren prinzipiell die operative Be¬
handlung vor. Sie ist tatsächlich viel
weniger radikal als die Röntgentheräpie;
diese wirkt ja auf die Myomblutungeh auf
dem Umweg über die Zerstörung der
Eierstöcke ein. Erhält man aber bei der
Operation eines der Ovarien — eine rein
technische Frage —, so wird die Frau
einerseits von ihren Blutungen -befreit,
andererseits aber dauert die für das Ge¬
schlechtsleben und die Psyche der Frau
so notwendige innere Ovärialsekretion
fort.
Der Einwand dagegen, der dem Gynä¬
kologen häufig vom Praktiker gemacht
wird, daß die Frau zu ausgeblutet sei für
die Strahlentherapie, ist unzutreffend.
Mit Recht hebt Krönig hervor, daß
gerade die völlig ausgebluteten Frauen
mit einem Hämoglobingehalt von 25%
und noch weniger die dankbarsten Ob¬
jekte der Bestrahlung seien. Daß man
während der Bestrahlung bei diesen
Frauen mit allen oben angeführten Mit¬
teln, besonders der festen Tamponade,
jedwede weitere Blutung verhüten und
gleichzeitig auf Herz und Ernährungs¬
zustand einwirken soll, ist selbstverständ¬
lich. ln zwei Fällen, in denen die sehr feste
Vaginaltamponade trotz gleichzeitiger
Durchtränkung mit Gelatinelösung sofort
wieder durchblutet war, kam ich zum Ziel
durch mehrtägiges Herabziehen der Por¬
tio mit einer Kugelzange, an welche mit¬
tels eines über den unteren Bettpfosten
geleisteten Bandes ein Gewicht angehängt
wurde, wie das Arendt für die Behand¬
lung der schweren Nachgeburtsblutungen
empfohlen hat. Die benachbarten Weich¬
teile der Scheide müssen durch Zwischen¬
lagen von Gaze vor dem Kugelzangen¬
druck geschützt werden.
Die von mir angewandte Bestrahlungs¬
technik ist folgende vielfach übliche:
Einteilung der Bauchwand unterhalb
des Nabels in acht Felder, täglich wird ein
Januar
Die Therapie der
Feld bestrahlt, häufig auch zwei. Auf
jedes Feld werden 25 X unter 3 mm
Aluminiumfilter appliziert, also in der
Serie 200X> wozu bei dem Apexapparat
der Firma Reiniger, Gebbert & Schall
und der Duraröhre mit Motorwasser¬
kühlung, nach Opitz unter Verwendung
von Eiswasser, je nach der Röhre sieben
bis zehn Minuten nötig sind. Nach drei¬
wöchentlicher Pause beginnt eine neue
Serie, durchschnittlich werden drei bis
fünf Serien gebraucht. Eine größere Zahl
von Feldern auf einmal zu bestrahlen,
habe ich mich bisher nicht entschließen
können, da ich finde, daß manche Pa¬
tientinnen schon nach wenigen Minuten
der Bestrahlungszeit recht angegriffen
sind.*
Nun die Dauerheilungen, die zur Be¬
urteilung des Erfolges so wichtig sind!
Heimann (B. kl. W. 1916, Nr. 37) be¬
richtet aus der Breslauer Klinik über
100% Dauerheilungen bei mehreren hun¬
dert Fällen; der Erfolg gilt als erreicht,
wenn die Periode mindestens achtWochen
fortgeblieben ist. Rezidive wurden nicht
beobachtet. Auch Krönig (Lehrbuch der
Gynäkologie von Krönig und Pankow
1915) konnte so gut wie 'ausnahmslos
Amenorrhoe erzielen, berichtet aber, daß*
es trotzdem gelegentlich zu Rezidiven der
Blutungen komme, die dann sehr hart¬
näckig den erneuten Bestrahlungen stand¬
hielten. Derartige Erfolge haben sicher
nur wenige erreicht. Auch Franz (Zschr.
f. Gyn. Bd. 78, S. 505) betont beispiels¬
weise, daß er viel ungünstige Erfahrungen
mit der Bestrahlung bei Myomen gemacht
habe, die Rezidive seien sehr unangenehm,
. die Frauen würden ein halbes Jahr lang
bestrahlt und seien sechs Monate blu¬
tungsfrei, dann aber kämen sie wieder mit
Blutungen, die freilich meist durch er¬
neute Bestrahlung beseitigt würden; auch
seien die Ausfallserscheinungen sehr, viel
stärker als bei Myomoperationen und
Zurücklassung der Ovarien.
Das Röntgenmaterial einer Privat¬
klinik, in dem bei den hohen Selbstkosten
der Strahlenbehandlung poliklinische
Kranke leider nicht behandelt werden
können, ist selbstverständlich kleiner und
nicht so beweisend, wie das mehrere hun¬
derte von Fällen umfassende Material
einer großen staatlichen Anstalt. Aber
ich habe doch den entschiedenen Eindruck
gewonnen, daß die Beobachtungszeit von
mindestens acht Wochen nicht genügt,
um von einer wirklichen Heilung sprechen
zu können. Es sind auch mir gelegentlich
Gegenwart 1917. ' 25
Rezidive noch nach sechs bis acht Mo¬
naten vorgekommen, die von neuem be¬
strahlt werden mußten, dann meist —
aber auch nicht immer — mit definitivem
Erfolge.
. Unter allen Umständen ist ständige
Weiterbeobachtung der bestrahlten Pa¬
tientin längere Zeit hindurch notwendig,
wie’auch ein jüngst publizierter Fall von.
Sippel beweist. Er erzielte in einem Fall
Amenorrhoe; nach einigen Monaten aber
kam es zu erneutem Wachstum des durch
die Strahlenbehandlung verkleinerten
Myoms und zur sark.omatösen Entartung.
Mit Recht betont Sippel, daß die durch
Strahlen erreichte Amenorrhoe und Myom¬
heilung zwei sehr verschiedene Dinge
seien.
Zusammenfassend möchte ich sagen,
daß die Strahlenbehandlung der Myome
eine ausgezeichnete klinische Diagnosen¬
stellung unter Anwendung aller diagnosti¬
scher Hilfsmittel, wie Narkosenunter¬
suchung, Ausschabung, Austastung, ver¬
langt, und daß sie bei richtiger Auswahl
der Fälle sehr gute Resultate gibt, daß
aber doch auch mit Rezidiven und ge¬
legentlich mit recht unangenehmen Aus¬
fallserscheinungen gerechnet werden muß.
Es bleibt also immer noch ein ziemlich
beträchtlicher Prozentsatz von .Myom¬
kranken übrig, der ohne Operation nicht
zu heilen ist. Und die in neuerer Zeit viel¬
fach berichteten sehr günstigen Opera¬
tionsresultate werden den Entschluß dazu
gewiß erleichtern. Ich konnte vor vier¬
einhalb Jahren über eine Serie von
153 Myomoperationen hintereinander ohne
Todesfall berichten (B.kl. W. 1912, Nr. 37).
Die Statistiken von Zweifel, Franz,
Bumm, von Franqüe, Walthard,
Opitz, Flatau weisen ebenfalls bei
großen Serien, zum Teil weit über hundert
Fällen, keine oder eine minimale Morta¬
lität auf.
Daß bei einer Serie von 153 Fällen ohne
Exitus ein glücklicher Zufall nicht be¬
deutungslos ist, liegt auf der Hand. Das
habe ich schon damals betont. Unter den
seither operierten 84 Patientinnen habe
ich denn auch drei Fälle von Exitus zu
beklagen gehabt, zwei Frauen starben an
Embolie, eine an Herzschwäche, also unter
insgesamt 237 Fällen drei Todesfälle
== 1 %.%• Die durchschnittliche Opera¬
tionsmortalität bei Myomen ist nach
Krönig (Lehrbuch) noch immer 3—4%.
Die Operationen setzen sich folgender¬
maßen zusammen:
4
. 26 Die Therapie der Gegenwart 1917.
Januar
vaginale Totalexstirpationen ... 68
vaginale Enukleationen . •. . . . 7
abdominale Enukleationen .... 21
supravaginale Amputationen . . ., 108
abdominale Exstirpationen .... 33.
Sie wurden ausgeführt in insgesamt
14 Jahren. Die Zahl ist im Verhältnisse
dazu relativ klein, was sich aus der eng¬
gefaßten Indikationsstellung erklärt. In
den letzten vier Jahren namentlich habe
ich nur dort operiert, wo einer der ge¬
schilderten Gegengründe gegen Strahlen¬
behandlung vorlag.
Die modernen Bestrebungen, die In¬
halationsnarkose mehr und mehr auszu¬
schalten und durch Lumbal-, Sakral- und
paravertebrale Leitungsanästhesie zu er¬
setzen, werden zweifellos die Mortalität
noch weiter herabdrücken. Ich habe bei
über 400 Lumbalanästhesien keinen auf
die Spinaleinspritzung zu beziehenden
Exitus erlebt, dagegen mehrere Augen¬
muskellähmungen und namentlich häu¬
figen Kopfschmerz. Den Kopfschmerz
habe ich in etwa ein Zehntel aller Fälle
auftreten sehen, die Stärke desselben war
meist nur gering und kurz dauernd, ge-'
legentlich jedoch von sehr beträchtlicher
Intensität und mehrwöchentlicher Dauer.
Diese Folgezustände haben mich dazu ge¬
führt, an Stelle der Lumbalanästhesie
neuerdings zur Sakralanästhesie überzu¬
gehen, die von Stöckel inauguriert, be¬
sonders von Schlimpert und Kehrer
weiter ausgebaut wurde. Die Injektions¬
flüssigkeit bleibt hier extradural, die un¬
angenehmen Nebenwirkungen der Augen¬
störungen und Kopfschmerzen fehlen
völlig. Die Technik der Sakralanästhesie
ist einfach, die Anästhesie wird von den
Kranken ausgezeichnet vertragen. Um
die seelischen Erregungen vor der Opera¬
tion zu bekämpfen, bekommen die Pa¬
tientinnen am Abend vor der Operation
0,5 Veronal, am Morgen, ein und zwei
Stunden vor Beginn des Eingriffs, je eine
Spritze ä 0,03 Narkophin und 0,0003 Sko¬
polamin, dazu einen Ölwattepfropf oder
Antiphone in -die Ohren; die Patienten
werden danach meist teilnahmslos in den
Operationssaal hineingefahren und durch
den Anblick der Operationsvorbereitungen
absolut nicht mehr erschreckt und erregt..
Ich wende die Sakralanästhesie überall
dort an, wo Herz-, Lungen- oder Nieren¬
leiden vorliegen, ferner dort, wo die Kran¬
ken eine Abneigung gegen die Allgemein¬
narkose haben. Zur Einleitung der letz¬
teren bevorzuge ich 6—8 g Aethylchlorid;
die Patienten sind nach wenigenAtem-
zügen betäubt und werden dann mit
Äther (Tropfmethode) weiter eingeschlä¬
fert gehalten. Patienten, die nicht oder
nur in geringem Maße nervös sind, können,
wenn man am Morgen die Narkophin-
Skopolamin-Injektionen zu einer Zeit
macht, wo die Veronalwirkung noch nicht
vorüber ist, und dann früh genug operiert,
den Narkosenanfang völlig verschlafen,
was aus psychischen Gründen natürlich
sehr zweckmäßig ist. Unmittelbar nach
der Operation erhält die Patientin ein
elektrisches Heißluftbad, um die Abküh¬
lung bei dem Eingriffe wieder auszu¬
gleichen. Am Operationstage selbst wird
bereits mit Atemgymnastik zur Vermei¬
dung von Bronchitiden und mit passiven
Beinbewegungen begonnen. Nach weni¬
gen Tagen dürfen die Kranken sich im
Bette leicht bewegen und auch auf die
Seite legen. Ich lasse sie im allgemeinen
nicht vor dem 12. Tage aufstehen; wenn
schon für jedes geschädigte Herz in erster
Linie der Grundsatz der Schonung und
erst später der der Übung gilt, so trifft das
gewiß post operationem zu, bei dem durch
Myom,.Trauma der Operation, Erregungen
und eventuell auch Narkose angegriffenen
Herzen.
So haben symptomatische Therapie,
Strahlenbehandlung und Operation ihre
fest umrissenen Indikationen. Reicht die
symptomatische Therapie nicht aus, so
wird man in erster Linie an die Strahlen¬
behandlung zu denken haben, und nur,
wo die Diagnose nicht ganz klar ist oder
eine der geschilderten Kontraindikationen
gegen die Röntgenbehandlung vorliegt,
wird zur Operation gegriffen werden, die
aber auch dank den neueren Bestrebungen
mehr und mehr an Schrecken verloren
hat und in den Händen vieler Operateure
nur noch eine tatsächlich minimale Mor¬
talität aufweist.
Zusammenfassende Übersichten.
Blutstillung durch Koagulen.
Unter Hinweis auf die in diesem Heft
erschienene Arbeit über die hämorrhagi¬
schen Anämien, in welchen die blut¬
stillende Wirkung des Koagulen hervor¬
gehoben wird, möchten wir im folgenden
ein ausführliches Referat über eine neue
Mitteilung von Fon io bringen, in welcher
die Wirksamkeit dieses Präparats klar
Januar
27
Die Therapie der Gegenwart 1917.
beleuchtet wird. Es sind in der letzten
Zeit einige Arbeiten erschienen, die den
heilenden Wert des Koagulen bei schweren
Blutungen zeigen konnten. Fonio be¬
richtet einleitend von einem Herrn mit
Morbus maculosus Werlhofii, dem er
20 ccm der 5%igen Koagulenlösung intra¬
venös und 80 ccm subcutan injizierte. Da
sich ein Erfolg nicht gleich einstellte, in¬
jizierte er ihm später 100 ccm der 5%igen
Lösung intravenös. Abgesehen von Neben¬
erscheinungen, die aber bald vorüber¬
gingen, war die günstige Einwirkung auf
das Krankheitsbild ganz eklatant. Fonio
ließ dann den Patienten per os noch einige
Tage Koagulen nehmen und es trat dann
weiter keine Blutung mehr auf. Seine
sonstigen Beobachtungen lehren, daß man
Koagulen häufiger einverl'eiben muß, um
einen Erfolg zu erzielen, weil man nicht
die Ätiologie des Leidens, sondern nur den
Symptomenkomplex behandelt. Durch
das Koagulen sucht man einen aus un¬
bekannter Ursache fehlenden oder in nur
vermindertem Maße vorhandenen Ge¬
rinnungsfaktor zu ersetzen, um die durch
seinen Mangel bedingten • Krankheits¬
erscheinungen hintan zu halten. Die Blu¬
tungen können zweierlei Ursache haben,
einerseits kann es sich um eine toxische
Schädigung der Capillaren handeln, oder
um ein abnormes Verhalten des Gerin-
nungsapparates des Blutes selbst, bei ein¬
zelnen Fällen spielt die erste Möglichkeit
eine Rolle, bei anderen die zweite.
Nun zeigen die Untersuchungen Franks
über den Blutplättchengehalt des Blutes,
die im letzten Jahre auch verschie¬
dentlich bestätigt worden sind, daß die
Beschaffenheit des Blutes die Ursache
für die Blutungen abgeben kann. Man
kann deshalb aus dem großen Komplex
der hämorrhagischen Diathesen eine ein¬
zelne große Gruppe ausscheiden, nämlich
die Gruppe der Purpuraerkrankung mit
herabgesetzter Blutplättchenzahl, die ein
ganz einheiliches typisches Verhalten des
Blutes besitzt. Hierzu gehört in erster
Linie das Bild des Morbus maculosusWerl-
hofii in seinen drei Unterarten: der idio¬
pathische Marbus maculosus Werlhofii,
der symptomatische und der toxische
Morbus maculosis Werlhofii. Hierher ge¬
hören aber auch Fälle von chronischer
Purpura unbekannter Ätiologie, bei der
die Erscheinungen der Blutungen milder
verlaufen, entsprechend dem geringeren
Grade des Plättchenmangels. Diese Fälle
lassen sich günstig beeinflussen, wenn
man den Mangel der Blutplättchen er¬
setzt. Dies läßt sich sehr gut erreichen
durch Zufuhr von Koagulen. Aber selbst
wenn tatsächlich die Blutplättchen nicht
vermindert sind, so wird durch die Zufuhr
von Koagulen ab und zu eine Besserung
erreicht;
So hat Fonio bei einem Falle von
Melaena neonatorum ausgezeichnete Er¬
folge gesehen. Er berichtet über einen
Patienten, dem er innerhalb von 24 Stun¬
den 5 g Koagulen in Tee gelöst innerlich
verabreicht hat und außerdem morgens
und abends je eine Kochsalzinfusion von
je 100 ccm mit 1 g Koagulen.
Auch die Hämophilie wird durch Koa¬
gulen sehr gut beeinflußt. Merkwürdig ist,
daß, wie Sahli und Fonio nachgewiesen
haben, die Blutplättchenzahl bei der
Hämophilie nicht vermindert, sondern
sogar vermehrt wird. Aber das hämophile
Plättchen erweist sich gegenüber dem
normalen als insuffizient, indem das hämo¬
phile Plättchen durch den Zusatz von
Koagulen weniger stark beeinflußt wird
als das normale. Ebenso verhält es sich
mit dem Zusatz der entsprechenden
Extrakte aus diesen, der Thrombozyme.
Man muß daher annehmen, daß die Er¬
scheinung der Hämophilie auf einer In¬
suffizienz desThrombozyms beruht.Daraus
ergibt sich die Indikation, bei hämophilen
Blutungen Koagulen anzuwenden. Tat¬
sächlich ist es Fonio gelungen, durch lo¬
kale Anwendung von Koagulen eine hämo¬
phile Zahnblutung zu stillen. Im Gegen¬
satz zu den Purpurazuständen, die eine
fortgesetzte Koagulenzufuhr erheischen,
genügt bei hämophilen Blutungen oft eine
einzige Applikation dieses Mittels, um eine
Hämorrhagie dauernd zu stillen. Fonio
faßt zum Schlüsse seine Ratschläge für
die Anwendung des Koagulen folgender¬
maßen zusammen. Für die intravenöse
Injektion eignen sich am besten die Am¬
pullen zu 20 ccm, die von der Gesellschaft
für chemische Industrie in Basel geliefert
werden. Sind diese nicht gerade bei der
Hand, so kann man mit dem gleichen Er¬
folge und unbedenklich die-Tabletten oder
das zuckerhaltige Pulver in 1 %iger Lö¬
sung anwenden. Für intramuskuläre oder
subcutane Einspritzungen, wobei viel grö¬
ßere Mengen injiziert werden können
(100—200 ccm der 1 %igen Lösung) sowie
für den lokalen Gebrauch, eignen sich
besser die Tabletten, für den innerlichen
Gebrauch dagegen die bisher erhältliche
Zuckermischung, die namentlich von Kin¬
dern gern eingenommen wird (als 1 bis
5%ige Lösung). Bei der intravenösen In-
4 *
28
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Januar
jektion ist insofern Vorsicht geboten, als
man in jedem einzelnen Falle individuali¬
sieren muß. Ein Kind wird weniger ver¬
tragen als ein erwachsener Mensch und
ein kräftiger Patient mehr als ein schwa¬
ches, heruntergekommenes, beinahe schon
ausgeblutetes Individuum. Außerdem
muß in Betracht gezogen werden, daß, je
größer der Blutverlust, desto größer die
Tendenz zur spontanen Blutstillung ist,
einerseits durch die Herabsetzung des
Blutdruckes, andererseits durch Aufnahme
von Gewebeflüssigkeit ins Blut, der natür¬
lichen Autotransfusion ins Blut und der
damit verbundenen Thrombokinasean-
reicherung. Die intravenöse Injektion
muß, um unangenehme Vorkommnisse zu
vermeiden, recht langsam ausgeführt wer¬
den (in den ersten Minuten nicht mehr als
1 ccm pro Minute injizieren!) und der
Patient dabei dauernd beobachtet werden.
Bemerkt man eine abnorme Gesichts¬
rötung, klagt der Patient über Schwindel,
Schwarzwerden vor den Augen, Husten¬
reiz oder Angstgefühl, so soll man mit der
intravenösen Injektion abbrechen und den
Rest subcutan oder intramuskulär inji¬
zieren. Wird die intravenöse Injektion
einer Ampulle zu 20 ccm gut vertragen,
so versuche man es vorsichtig mit einer
zweiten, unter verschärfter Beobachtung
des Kranken. Geht es nicht, so gebe man
den Rest subcutan oder intramuskulär.
Sodann gebe man fortgesetzt 5 g Koagulen
innerlich in 24, Stunden ( 5 / 200 aq., zwei¬
stündlich einen Eßlöffel). Man höre mit
dieser Medikation erst zwei bis drei Tage
nach erfolgter definitiver Besserung auf.
Wiederholen sich die Blutungen, so müs¬
sen die intravenösen Injektionen wieder
verabreicht werden. Hämorrhagien aus
Nase und Mund sind außerdem durch ent¬
sprechende lokale Applikationen zu be¬
handeln. Anstatt der Ampullen kann man
die 1 %ige Lösung, aus Tabletten oder
Pulver hergestellt und durch Kochen
steril gemacht, in leicht erhöhterDosierung
anwenden (20—40 ccm). Es empfiehlt
sich, den Verlauf der Krankheit durch
häufig wiederholte Zählung der Blutplätt¬
chen zu kontrollieren und aus dem An¬
steigen oder Fallen der Zahl die Indikation
für die weitere Behandlung zu stellen.
Die günstige Beeinflussung von Blu¬
tungen ' geht auch aus einer Mitteilung
von Bräutigam (Berlin) hervor, der
eine schwere Magenblutung mittels Koa-
gulen gestillt hat. Er berichtet über einen
Fall von Ulcus ventriculi, bei dem er die
Laparatomie ausführte. Nach der-Opera¬
tion stellte sich starkes Blutbrecheri ein.
Bei der nochmals ausgeführten Lapara¬
tomie erwies sich die Nahtstelle der
Gastroenterostomie als intakt. Die vor¬
dere Naht wurde aufgetrennt, und man
sah aus dem Inneren des Magens vom
Pylorus her arterielles Blut hervorsickern.
Offenbar handelte es sich um eine profuse
Blutung aus einem alten Ulcus. Die
Wunde wurde wieder vernäht und kurz
vor Schluß der Naht 20 ccm einer 10%igen
Koagulenlösung in den Magen gespritzt
und die Flüssigkeit im Mageninnern durch
vorsichtiges Abtasten des Magens ver¬
teilt. Die Patientin erbrach noch einmal
dreiviertel Stunden nach Schluß der Ope¬
ration zirka 150 ccm einer dunkelbraunen
Flüssigkeit. Dann aber hörte das Er¬
brechen auf und es trat vollständige Hei¬
lung ein. Bräutigam glaubt mit Sicher¬
heit annehmen zu dürfen, daß die schwere
Magenblutung durch direkteüberschwem-
mung der blutenden Stelle mit Koagulen¬
lösung zum Stehen kam. Er empfiehlt
bei Operationen am Magen, bei denen
eine Blutung zu befürchten ist, vor Schluß
der Magenwunde ein Quantum Koagulen
prophylaktisch in den Magen einzu¬
spritzen. Daraus ergibt sich die weitere
Indikation, bei Magenblutungen von vorn¬
herein Koagulen zu gebrauchen, indem
man es per os einverleibt. Mit dem Vor¬
schläge von Bräutigam, mittels einer
Rekordspritze durch die Bauchwand hin¬
durch Koagulen in den Magen einzu¬
spritzen, kann man sich nur schwer ein¬
verstanden erklären. Dünner.
(D. m. W. 1916 Nr. 44.)
Die militärärztliche Sachverständigentätigkeit auf dem Gebiete
des Ersatzwesens und der militärischen Versorgung.
Vortragszyklus, veranstaltet unter Förderung der Medizinalabteilung des Kriegs¬
ministeriums vom Centralkomitee für das ärztliche Fortbildungswesen in Preußen.
Bericht von Dr. Hay ward-Berlin. (Fortsetzung.)
Gaupp (Tübingen): Dienstbrauch¬
barkeit der Epileptischen und Psy¬
chopathen. Es gibt eine Reihe von
| Krankheiten, deren Beurteilung im be¬
stimmten Augenblick außerordentlich
schwierig ist; hierzu gehören alle anfalls-
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1917.
29;
weise auftretenden Krankheitsformen.
Auch ein Urteil über überstandene Geistes¬
krankheiten ist nur schwer möglich. Die
echte Epilepsie schließt an sich die Ver¬
wendung im militärischen Sinne aus;
doch sind viele Epileptiker ins Feld ge¬
kommen und haben sich zum Teil sehr
gut bewährt. Bei der Beurteilung der
Epilepsie- wird häufig auf den Anfall
selbst und das Aussehen im Anfair zu
großer Wert gelegt. Genau so wichtig
sind die Vorläufer des Anfalles, zumal der
Anfall selbst atypische Formen annehmen
kann. Wenn auch durch Cocain Anfälle
künstlich ausgelöst werden können, so
ist dieses Mittel keinesfalls zur Be¬
urteilung der Dienstfähigkeit heranzu¬
ziehen. Was die Psychopathie anlangt,
so ist sie noch schwieriger zu beurteilen
als die Epilepsie. Die echte Neurasthenie
in ihrer erworbenen Form eignet sich
durchaus zum Kriegsdienst. Dahingegen
muß bei dem Psychopathen seine innere
Stellungnahme zum Krieg herangezogen
werden. Alle mit Angstzuständen einher¬
gehenden Formen eignen sich nicht zum
Kriegsdienst. Im allgemeinen soll man,
wie dies auch schon von anderer Seite
wiederholt betont worden ist, in der
Zurücksendung solcher Soldaten große
Vorsicht walten lassen. Wenn sich auch
viele Psychopathen nicht zum Front¬
dienst eignen, so sind sie trotzdem nicht
als vollkommen dienstunbrauchbar an¬
zusehen. Es muß hier weitgehend in¬
dividuell verfahren werden und die Vor¬
bildung des einzelnen Mannes ist bei der
Auswahl für die Arbeitsfähigkeit im Be¬
ruf zu berücksichtigen.
Stier (Berlin): Dienstbeschädi¬
gung und Rentenversorgung bei
Psychopathien und Neurosen. [Af¬
fektive Überempfindlichkeit ist nebenher
sensiblen und sensorischen das; Grund¬
symptom der psychopathischen Konsti¬
tution. Demgemäß pflegt der Psycho¬
path auf gewöhnliche Lebensreize, mehr
aber noch auf übermäßige Affekte so¬
fort zu reagieren. Die Beurteilung der
Frage der Dienstbeschädigung kann nur
dann in positivem Sinne angenommen
werden, wenn diese krankhaften Reak¬
tionen durch militärische Schädigungen
akuter Art zur Auslösung gekommen sind
oder sehr heftig waren, oder sich der
Nachweis erbringen läßt, daß vorher die
abnorme Konstitution nur eine sehr ge¬
ringgradige war. Um dem Rentenkampf
vorzubeugen, soll man die in Betracht
kommenden Personen so lange behandeln,
bis sie symptomenfrei geworden sind»
dann aber sollen sie entweder d. u.- ge¬
schrieben werden oder nach 1. U. 15. als.
a. v. bezeichnet werden. Muß eine Rente
.anerkannt werden, so soll man sie im
allgemeinen, nicht über 20% bemessen,.
Verstümmelungszulage äst in keinem
Falle zu bewilligen.
Oppenheim (Berlin): Organische
Nervenerkrankungen und Nerven¬
verletzungen. Die beginnende Tabes,
und ihre stationäre Form schließen an
und für sich die Kriegsbrauchbarkeit
nicht aus; da den Kranken aber durch
Kriegsschädlichkeiten eine Verschlim¬
merung ihres Leidens droht, so kommen
sie nur für die Garnison- oder Arbeits¬
verwendungsfähigkeit in Frage. Kranke
mit multipler Sklerose sind durchschnitt¬
lich nicht als dienstbrauchbar anzusehen.
Besonders schwierig gestaltet sich die
Frage der Kriegsbeschädigung bei Er¬
krankungen, die sich nur auf syphiliti¬
scher Grundlage entwickeln. In vielen
Fällen wird man um die Annahme einer
Kriegs-D. B. nicht herum können, so¬
bald eine deutliche Verschlimmerung*
durch die Einwirkungen des Krieges er-
.wiesen ist. Bei Verschlimmerungen der
multiplen Sklerose muß besondere. Vor¬
sicht in dieser Beziehung gelten. Für die
Polyneuritis muß oft K. D. B. ange¬
nommen werden, auch für deren alkoholi¬
sche Form, falls der Alkoholmißbrauch
durch den Krieg entstanden ist.
Goldstein (Frankfurt): Hirnver¬
letzungen. Zwei Gesichtspunkte sind
maßgebend bei der Beurteilung der Ge¬
hirnverletzten: 1. Die Gefahr, in der die
Kranken noch lange Zeit nach der Ab¬
heilung der äußeren Wunde schweben,,
und 2. die Beeinträchtigung der Leistungs¬
fähigkeit. Der erste Punkt kann nur
durch Lazarettbeobachtung geklärt wer¬
den, während für die Beurteilung der
Leistungsfähigkeit vor allem die Arbeits¬
fähigkeit im Zivilberuf zu berücksichtigen
ist, da bei jeder Form von schwerer Ge-
hirnverletzung die militärische Wieder¬
verwendbarkeit sehr fraglich bleibt, meist
wird auf Dienstunfähigkeit zu erkennen
sein. Auch die Beurteilung der Arbeits¬
fähigkeit wird erst dann zu einem ab¬
schließenden Bilde führen, nachdem der
Verletzte durch die Übungsschule und
die Lazarettwerkstatt hindurchgegangen
ist. Wenn auch die Arbeitsfähigkeit in
gleicher Weise, wie sie vor der Verletzung
bestand, oft nicht erreicht wird, so wird
doch nur selten ein Berufswechsel nötig.
30
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Januar
Bei der Festsetzung der Rente sind neben
den » umschriebenen die allgemeinen Stö¬
rungen zu berücksichtigen. Sicher muß
die Rente für eine gewisse Zeit verhält¬
nismäßig hoch angenommen werden, auch
kommt für viele Fälle die Verstümme¬
lungszulage in Betracht.
Krückmann (Berlin): Sehstörun¬
gen und Augenleiden (einschlie߬
lich Verletzungen) vom Stand¬
punkte der Dienst- beziehungs¬
weise Kriegsbrauchbarkeit. Der
Bewegungskrieg hat verhältnismäßig we¬
nig Augenverletzungen gebracht. Glück¬
licherweise istdiesympathischeOphthalmie
sehr selten geworden, nachdem die Ärzte
allgemein die Bedeutung der Präventiv¬
enukleation erkannt haben. Sehr häufig
leidet das Auge durch seine geringe
Kompressionsfähigkeit unter Fernwir¬
kungen. Die Doppelbilder schließen die
Kriegstauglichkeit aus, auch Einäugige
eignen sich nicht für die kämpfende
Truppe. Vortragender bringt dann eine
Reihe von Erkrankungen des Sehapparates,
wie Stauungspapille bei Hirnschüssen,
Farbensinnstörungen, Hemeralopie, Trä¬
nensackerkrankungen und das Trachom
und bespricht die Kriegsverwendungs¬
fähigkeit der mit diesem Leiden Behafte¬
ten. Eingehende Berücksichtigung finden
dann noch die Refraktionsanomalien.
Stabsarzt Wätzold (Berlin): Be¬
urteilung der Dienstbeschädi¬
gungsfrage, Erwerbsfähigkeit und
Verstümmelung bei Erkrankungen
und Verletzungen des Auges. Im
allgemeinen ist die Frage nach Dienst¬
beschädigung bei Augenerkrankungen und
Augenverletzungen leicht zu beurteilen.
Fehlen Folgeerscheinungen, so dürfen
Versorgungsansprüche nicht anerkannt
werden. Auffallend ist, daß Trachom¬
übertragungen auch während des Krieges
sehr selten vorgekommen sind. Die Be¬
urteilung der einschlägigen Fragen wird
vom Vortragenden an praktischen Bei¬
spielen eingehend erörtert.
Bücherbesprechungen.
Prof. H. Strauß, Die Nephritiden. Ab¬
riß ihrer Diagnostik und Therapie auf
Grund der neueren Forschungsergeb¬
nisse. Berlin-Wien 1916, Urban u.
Schwarzenberg. 208 S. 9 M., geb. 11 M.
Gerade die Nierenkrankheiten sind im
letzten Jahrzehnt Gegenstand vielfältiger
Bearbeitung * seitens der Kliniker wie
der pathologischen Anatomen gewesen;
über eine Reihe praktisch wichtiger Fra¬
gen haben sich Diskussionen erhoben
und sind zum Teil widersprechende Mei¬
nungen geäußert worden. Das Interesse
ist besonders dadurch erhöht worden, daß
der Krieg eine unerwartet große Zahl von
Nierenkranken in die Lazarette ge¬
liefert hat. Das Bedürfnis nach klärenden
Zusammenfassungen des reichhaltigen
Forschungs- und Beobachtungsmaterials
ist zweifellos lebhaft und wurde auch
schon in verschiedenen Vorträgen und
Aufsätzen befriedigt. Nun liegt eine
monographische Darstellung vor, der wir
mit großen Erwartungen entgegensehen
durften, weil ihr Verfasser sich in fast
20jähriger Betätigung diesem Spezial¬
gebiete gewidmet hat. Wir verdanken
ihm bekanntlich neben Widal die Kennt¬
nis von der Bedeutung der Salzbeschrän¬
kung für die Therapie der Ödeme. Die
vorliegende Monographie beschränkt sich
unter dem Zwange der arbeitsreichen Zeit
auf die Darstellung der Diagnose und
Therapie der Nephritiden, wobei die
pathologisch - anatomischen Kenntnisse
nur gestreift werden und der Hauptwert
auf die allgemeinen Gesichtspunkte der
klinischen Betrachtung gelegt wird. Da¬
bei werden die Befunde der neueren Unter¬
suchungsmethodik sehr eingehend be¬
schrieben und in ihrer Bedeutung kritisch
gewürdigt, ebenso die Differentialdiagno¬
stik der wichtigsten Symptomenkomplexe
mit Berücksichtigung ihres Verlaufes aus¬
führlich erörtert. Besonders eingehende
Erörterung erfahren die therapeutischen
Fragen, und zwar werden die allgemeine
wie die speziel e Therapie in gleicher Weise
zur Darstellung gebracht. Über Ruhe und
Bewegung, Bäder und klimatische Thera¬
pie wird ebenso wie über die wichtigen
Fragen der Diätetik eingehend gehandelt;
in letzterer Beziehung werden die Flüssig¬
keitszufuhr, die Salzdarreichung sowie
die verschiedenen Nahrungsmittel kri¬
tisch gewürdigt; auch die medikamentöse
Therapie sowie die Indikation chirurgi¬
scher Eingriffe kommen zu ihrem Rechte.
Die Behandlung der besonders wichtigen
Krankheitsäußerungen der Nephritiden:
Schmerzen, Anomalien der Harnabschei¬
dung, des Hydrops, der Urämie sowie
der pseudourämischen Zustände wird
ebenso ausführlich besprochen wie die
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Behandlung der einzelnen Formen der
Nephritis, in deren klinischer Einteilung
sich der Verfasser im großen an die äl¬
teren Lehren anschließt. Die kurze In¬
haltsangabe mag zeigen, wie groß das
Material ist welches der Verfasser auf
kurzem Raume darbietet. Ich füge hinzu,
daß die Lektüre eine wahrhaft fesselnde
und praktisch sehr lohnende ist, denn der
Verfasser bietet nicht nur eine sehr
brauchbare Unterweisung in den neueren
Methoden, welche zur Klärung der Dia¬
gnostik beitragen, sondern er gibt auch
klare Antworten auf die vielfachen und
zum Teil dringlichen Fragen, welche sich
bei der Behandlung der Nierenkranken er¬
heben. Es ist wohl sicher, daß das kleine
Werk eine weite Verbreitung finden wird.
Ich möchte dem verehrten Verfasser
wünschen, daß er in hoffentlich nicht all¬
zuferner Friedenszeit die Muße finden
möchte, sein Büchlein zu einer Klinik der
gesamten Nierenkrankheiten zu erweitern,
wozu er als ein würdiger Schüler des
Meisters Senator vor vielen berufen ist.
G. Klemperer.
Refe
Über echte Botulismus-Vergiftung
schreibt Schede aus dem Charlotten¬
burger Krankenhaus. Das krankmachende
Prinzip des Botulismus ist bekanntlich
ein Toxin des Bacillus des Botulismus,
das 'schon fertig gebildet mit der Nah¬
rungsaufnahme aufgenommen wird. Es
ist in den Nahrungsmitteln nicht gleich¬
mäßig verteilt, wie die Tatsache beweist,
daß oft nur einzelne Personen, die von
der infizierten Nahrung genossen haben,
erkranken. Schede berichtet über drei
Mitglieder einer Familie.
Bei allen bestand ein gleichmäßiger Be¬
ginn, ungefähr 18 Stunden nach Genuß des
Schinkens, mit Übelkeit und Erbrechen,,
das der am frühesten verstorbene Patient
unterdrückte. Sonst wurden keine akuten
gastrointestinalen Erscheinungen beob¬
achtet. Die Patienten waren vielmehr
während ihres Aufenthaltes im Kran¬
kenhaus hochgradig obstipiert (Vagus¬
lähmung?).
Ferner treten auf: Trockenheit im
Munde, Heiserkeit, Doppeltsehen, Schluck-
und Sprachstörungen, Sekretionsstörun¬
gen bei allgemeiner schwerster Pro¬
station. Luftmangel nur in einem Falle.
Das Sensorium war immer frei, die Sen¬
sibilität nicht gestört.
3f
Prof. Dr. Ernst Edens, Die Digitalis¬
behandlung. Mit 84 Kurven und Ab¬
bildungen. Berlin-Wien 1916, Urban
u. Schwarzenberg. 153 S. 6 M., geb.
7,50 M.
Die folgenden kurzen Zeilen mögen
der vorläufigen Anzeige dieses bedeut¬
samen Buches dienen, dessen ausführ¬
liche Besprechung in einem der nächsten
Hefte erfolgen wird. Der Verfasser analy¬
siert die Wirkung der Digitalis mit Hilfe
der neuen Methoden der Pulsschreibung
und der Elektrodiagraphie und zeigt die
Verschiedenheit des therapeutischen Ef¬
fektes bei den in der neueren Zeit erforsch¬
ten Formen der unregelmäßigen Herztätig¬
keit. Dabei erörtert er neben den experi¬
mentellen auch die rein klinischen Gesichts¬
punkte der Digitalistherapie in erschöp¬
fender Weise. Wenn die Lektüre des
Buches ? auch an die Aufmerksamkeit
des Lesers große Ansprüche stellt, so be¬
lohnt sie doch reichlich durch den Ge¬
winn an Wissen und die Vertiefung des
praktischen Könnens, die sie uns ermög¬
lich. G. Klemperer.
rate.
Objektiv waren nachweisbar: Pu¬
pillenerweiterung, Pupillenstarre, Akkom¬
modationslähmung, Augenmuskel-, Gau¬
mensegelparesen, Schluck- und Kehlkopf¬
paresen oder -lähmungen. Zweimal wurde
außerdem Beteiligung des Facialis in
stärkerem Maße, als in der Schlaffheit
der mimischen Muskulatur zum Ausdruck
kam, beobachtet. Die Zungenmuskulatur
war einmal ganz, ein anderes Mal nur
einseitig von der Lähmung betroffen. In
einem Falle bestand eine Parese des
Sphincter und Detrusor urinae. Die
Patellarreflexe fehlten stets. Ausge¬
sprochene Lähmungen oder Paresen in
den Muskeln des Rumpfes und der Ex¬
tremitäten waren nicht vorhanden.
In zwei Fällen ergriff die Erkrankung
das Atmungscentrum. Die Zwerchfell¬
atmung sistierte allmählich; die auxiliären
Atmungsmuskeln wurden bei der be¬
stehenden Insuffizienz des Centrums nicht
in Anspruch genommen, es traten wohl
Luftmangel und Unruhe, Cyanose auf,
aber keine Dyspnoe. So erfolgte in diesen
zwei Fällen der Tod durch Atmungsstill¬
stand, während das Herz noch weiter¬
schlug.
Störungen in der Schlagfolge des
Herzens wurden nur zuletzt in Form einer
32
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Januar
Tachykardie (Vaguslähmung) in den
beiden tödlichen Fällen beobachtet.
Wir haben so das Bild einer vor¬
wiegend bulbären Erkrankung, und zwar
der motorischen und sekretorischen Re¬
gionen, • vor uns. Es waren ih den
Fällen affiziert die Kerne des dritten,
vierten, sechsten, siebenten, neunten,
zehnten, zwölften Hirnnervenpaares, da¬
zu kommt noch eine weitere Beteiligung
motorischer Centren im Rückenmark und
des lebenswichtigen Atmungscentrums.
Was die Therapie anbelangt, so ist
außer Botulismusserumtherapie auch die
Diphterieserum-Behandlung empfohlen
worden (Kob), da im Tierversuch das
Botulismustoxin durch Diphtherieanti¬
toxin teilweise unschädlich gemacht
werden konnte. Schede hat es in
zwei Fällen erfolglos verwandt. Da man
Diphtherieserum aber immer zür Hand
hat, ist ein Versuch damit auf jeden Fall
zu empfehlen.
Weiterhin wird, wie bei postdiphtheri-
tischen Lähmungen, Strychnin empfohlen.
Pilocarpin zur Behebung der Trockenheit
der Schleimhäute wandte auch Schede in
zwei Fällen an. Doch erlebte er beide
Male sehr unangenehme, bedrohliche
Wirkungen von der dadurch hervorge¬
rufenen übergroßen Schleimsekretion
in die Luftwege. Zum mindesten sind
die Dosen sehr klein zu wählen.
Dünner.
(M. Kl. 1916, Nr. 50.)
Der Diabetes mellitus im Kindesalter
gilt allgemein als schwere Erkrankung.-
Nach Kleinschmidt (Universitäts-Kin¬
derklinik, Berlin) tritt der kindliche Dia¬
betes zwar relativ selten auf, dabei Kinder
wohlhabender Kreise bevorzugend, spielt
aber auch in der ärmeren Bevölkerung
eine nicht zu unterschätzende Rolle.
Die Annahme, es gäbe keine leichte
Form der Erkrankung im Kindesalter,
ist nicht richtig; wohl aber ist zuzugeben,
daß der Übergang von der leichten Form
zur schwersten bei Kindern rapide ein-
treten kann. Oft wird auch bei der nie
eindeutigen Symptomatologie die Dia¬
gnose erst gestellt, wenn die Krankheit
längst Zeit gehabt hat, sich zu der schweren
Form auszubilden. Durst, Hunger und
objektiv festgestellte Abmagerung sollten
immer an Diabetes denken lassen. Bei
jeder wirklich gründlichen. Ganzunter¬
suchung eines Kindes darf die Urinunter¬
suchung auf Zucker nicht fehlen.
Besser als alle diese gezwungen klin¬
genden Erklärungen für die auffallend]
häufigen schweren Diabetesformen beim
Kinde gegenüber denen des Erwachsenen*
trifft den Kern der Sache die Annahme*
einer akuten und einer chronischen Form
des Diabetes, wobei die akute besonders - ,
das Kindesalter betrifft. Vielleicht steht
damit der verhältnismäßig geringe Alkali¬
bestand des kindlichen Organismus im
Zusammenhang, der leichter eine Acidose-
aufkommen läßt.
Der wichtigste Grund für die größere-
Zahl der schweren Kinderdiabetesfälle
sind wohl therapeutische Fehler. Die-
quantitative Regelung der Nahrung,
das wichtigste Grundprinzip.der Diabetes¬
ernährung, wird, wenn es sich um Kinder
handelt, aber oft vernachlässigt. Der
schlimme Fehler der Überlastung des
ganzen kindlichen Stoffwechsels macht
alle therapeutischen Erfolge zunichte..
Der Erwachsene braucht rund 35 Ca-
lorien, das einjährige Kind etwa 70 Ca-
lorien pro Kilogramm Körpergewicht.
Danach kann berechnet werden, wieviel
Nahrung das so und so alte Kind braucht;
der Calorienverlust durch die Zuckeraus¬
scheidung muß in die Rechnung ein¬
bezogen werden. Nicht weniger, aber auch
nicht mehr als dem Rechnungsresultat
entspricht, soll das Kind an Nahrung
erhalten.
Die Durchführung der Diätkur wird
bei dem zur Unterordnung vernünftig
erzogenen Kinde leichter sein als bei
einem eigensinnig verwöhnten. Immer
empfiehlt sich zu Anfang Krankenhaus¬
aufenthalt zur genaueren Feststellung
der Toleranzgrenze und zur Einleitung
der qualitativen Diätregelung usw. Aber
trotz anscheinend völliger Heilung, höch¬
ster Toleranz, durchaus genügender Ca-
lorienzufuhr bleibt in manchen Fällea
jede Gewichtsvermehrung aus, Neigung
zu Untertemperaturen, Wachstumstill¬
stand machten sich bemerkbar. Wichtiger
noch ist die beobachtete Neigung 2u
Rezidiven der ? Glykosurie, die sich nicht
beseitigen läßt.
Physische Erregungen, leichte Er¬
krankungen : Nasenrachenkatarrh und
dergleichen lösen prompt eine Glykosurie
aus. ,,Der Einfluß solcher kleiner Er¬
krankungen auf den Verlauf des kind¬
lichen Diabetes ist nicht hoch genug ein¬
zuschätzen“, das heißt, eine Disposition
zu Erkältungen, Anginen usw. ist als
wichtige Komplikation des Diabetes im
Kindesalter aufzufassen; intercurrente in
fektionskrankheiten sind j a auch für de-
n
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1917.
3a
Verlauf des Erwachsenen-Diabetes als
nicht gleichgültig anerkannt.
Die bequemste Form der Diätbehand-
Jung. in mittelschweren und schweren
Fällen ist die Durchführung der Gemüse-
tage: es wird reichlich Kohlehydrat nur
im Gemüse, Eiweiß nur im Eigelb zu-
;geführt. Zwischen strenger Kost mit
einem Zusatz von 40 bis 50 g Diabetiker¬
brot eingeschaltet sind sie einer völlig
brot- und mehlfreien Diät vorzuziehen.
Die Haferkur versagt oft bei Kindern.
Bekämpfung der Acidose soll durch große
Alkaligaben geschehen; Opium, Nähr¬
hefe usw. sind als erfolglos aufgegeben
worden. J. v. Roznowski.
(M. Kl. 1916, Nr. 49.)
Einen Beitrag zur Erkenntnis dysen¬
terieartiger Darmerkrankungen liefern Th.
Rumpel und A. V. Knack aus Ham¬
burg. Rumpel und Jürgens erörterten
zu Beginn dieses Jahres die Ätiologie der
'Ödemkrankheiten. Es wurden in dieser
"Zeitschrift ihre auseinandergehenden Mei¬
nungen referiert, die dahin zielten, daß
Rumpel die Ödeme als eine Folge einer
Recurrensinfektion ansah, während Jür¬
gens der Ansicht war, daß es sich um
eine Ernährungsstörung handele. Daß
.aber nicht Recurrens allein zu Ödemzu¬
ständen führen braucht, geht aus der
Arbeit von Rumpel und Knack her¬
vor. In verschiedenen Gefangenenlagern
traten unter den Internierten Ödeme
auf, zunächst in gehäufter Zahl, allmäh¬
lich kamen dann nur noch einzelne Fälle
sporadisch vor und es stellten sich bei
mehreren der Erkrankten ruhrartige
Durchfälle ein, die bei den zuerst Be¬
fallenen nicht konstatiert worden waren.
Die sonstigen Symptome der Krank¬
heit waren mannigfaltig. Im Vordergrund
standen die Erscheinungen der Ödeme,
allgemeine Mattigkeit usw. Die Schwel¬
lungen erstreckten sich hauptsächlich auf
die Füße und Unterschenkel, vielfach be¬
stand eine leichte Ascites.* In einer Reihe
der Fälle fiel auch Schwellung der Augen¬
lider auf und in zwei Fällen bestanden
Ödeme der Haut und der Vorderarme.
Erstaunlich war, wie nach kaum einem
Tage Bettruhe die Ödeme zurückgingen,
sodaß dann nur noch lefchte Schwellun¬
gen an den Knöcheln und der Tibia nach¬
weisbar waren. Was nun die Beschaffen¬
heit der Stühle anbelangt, so wurde nur
in zwei Fällen ein Stuhl beobachtet, der
dem Dysenteriestuhl völlig ähnlich sah.
.Meist aber handelte es sich um dünn¬
breiige, gelbbräunliche Stuhlentleerungen,
bei denen makroskopisch Blut nicht nach¬
gewiesen werden konnte. Chemisch aller¬
dings war die Blutprobe stets positiv. Die
abdominellen Erscheinungen, die sonst
bei Dysenterie bestehen, wurden bei den
Kranken nicht beobachtet. Ihr körper¬
licher Zustand war sogar im allgemeinen
zufriedenstellend. Da die Autoren an
Beri-Beri dachten, schenkten sie ihre Auf¬
merksamkeit besonders dem Nerven¬
system. Alle Reflexe waren normal. Die
bakteriologische und serologische Unter¬
suchung ließ vollkommen im Stich. Eine
besondere Therapie wurde nicht ange¬
wandt. Die Leute wurden nur sehr gut
ernährt. Im ganzen starben sechs Fälle,
das ist 7,4%. Im Verlaufe der Beobach¬
tungen stellten sich gelegentlich kurz
dauernde Durchfälle ein. Bei vier Fällen,
die zur Sektion kamen, fand sich autop-
tisch der überraschende Befund einer
alten chronischen Dysenterie. Diese
Beobachtung gab Anlaß, alle Fälle zu
rektoskopieren und es zeigte sich, daß in
der übergroßen Mehrzahl der Fälle zum
Teil sehr erhebliche Änderungen der
Darmschleimhaut ganz im Sinne einer
Dysenterie bestanden. Dabei ist beson¬
ders interessant, daß gerade bei deut¬
lichem rektoskopischen Befunde in 31
Fällen keine Durchfälle Vorlagen, im Gegen¬
teil der Stuhl in den Tagen vor und nach
der rektoskopischen Untersuchung geformt
war und von den Patienten selbst keiner¬
lei Darmbeschwerden angegeben wurden.
Es handelt sich also nach den Beob¬
achtungen von Rumpel und Knack
um ein Nebeneinandergehen von Ödem¬
erkrankungen mit akuten und chro¬
nischen Darmprozessen, die auf Grund
der rektoskopischen und anatomischen
Befunde als Dysenterie aufgefaßt werden
mußten. Rumpel und Knack erwägen
ausführlich die Gründe, die für und gegen
Beri-Beri oderRuhr sprechen und kommen
zu dem Resultat, daß eigentlich nur die
Dysenterie in Frage kommen kann. Dabei
lassen sie offen, ob es sich um echte Dys¬
enterie handelt oder um Krankheits¬
bilder, die man infolge bisher noch nicht
gefundener Ätiologie dem Sammelbegriff
der Colitis ulcerosa zurechnen muß. Wenn
sie von Dysenterie sprechen, so meinen sie
damit nur einen anatomischen Begriff. Im
ganzen stimmen die Erfahrungen, die sie
bei Ödemkrankheit dieser Krankheitsfälle
gemacht haben, gut überein mit denen
einer früheren Beobachtung, bei der sie als
Ursache Recurrens mehrfach feststellen
5
34
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Januar
konnten. Die Verhältnisse liegen so, daß
die Ödeme lediglich als Folgeerscheinun¬
gen oder als Symptome irgendeiner Krank¬
heit aufzufassen sind. Man kennt ja solche
Ödeme auch bei Flecktyphus oder bei
Malaria. Dünner.
(D. m. W. 1916, Nr. 47.)
Die Fibrolysintherapie bei multipler
Sklerose und bei Spondylitis deformans
behandelt Siebert. Fibrolysin ist in
der neurologischen Praxis von ver¬
schiedenen Seiten empfohlen worden. Bei
mehreren Fällen prüfte der Verfasser das
Fibrolysin nach, ohne jedoch einen greif¬
baren Erfolg erzielen zu können. In
einem Fall stellten sich ziemlich schwere
Zustände ein, bestehend in Erbrechen,
Atem- und Pulsstörungen und gleich¬
zeitig trat auch eine Ptosis am linken
Auge auf mit leichtem Abweichen des
Bulbus nach außen und oben. Es han¬
delte sich ohne Zweifel um einen anaphy¬
laktischen Zustand, der einen Schub der
multiplen Sklerose ausgelöst hatte. Aller¬
dings erholte sich nach Abklingen der
akuten Erscheinungen der Kranke in be¬
merkenswerter Weise, aber die alten Be¬
schwerden traten nach einiger Zeit wieder
auf. Dahingegen trat bei einem Fall mit
Spondylitis deformans naehFibrolysin eine
wesentliche Besserung ein. Siebert schil¬
dert einen 32jährigen Mann, der schwere
Erscheinungen von seiten der Halswirbel¬
säule hatte. Alle Wirbelgelenke waren
gänzlich ankylosiert und auch das Sehulter-
und Hüftgelenk war befallen. Die vorher
angewandte Therapie hatte so gut wie
völlig versagt. Er gab dann zwanzigmal
jeden vierten Tag 2,3 Fibrolysin intraglu-
täal und in der Zwischenzeit 1,0 Atophan
per os täglich. — Der Erfolg war über¬
raschend. Die Beweglichkeit der ver¬
steiften Glieder wurde bereits nach der
fünften Injektion frei und auch die Ver¬
krümmung des Rückgrats ging spuren¬
weise zurück. Patient wurde sogar
arbeitsfähig.
Ein anderer Fall eben von Spondylitis
erhielt 50 Injektionen von Fibrolysin und
in Zwischenräumen Atophan. Hier war
der Erfolg nicht so eklatant. Als nach
Abschluß der Kur Heißluftkasten an¬
gewandt wurde, ließen die Schmerzen
nach und die Ankylose der Wirbelsäule
machte so weit einer bedingten Beweg¬
lichkeit Platz, daß die Patientin wieder
ihre alte Beschäftigung aufnehmen konnte.
— Den Erfolg in beiden Fällen schrieb
Siebert weniger dem Atophan als dem
Fibrolysin zu. Dünnen
(Ther. Mh. 1916, Nr. 11.)
Ein neues Operationsverfahren zum Er^
satz von Fingerverlusten beschreibt Neu-
heuser. Ein Verwundeter hatte den
Daumen und Zeigefinger der linken Hand
verloren. Die Brauchbarkeit der Hand’
war hierdurch wesentlich herabgesetzt
und hätte durch die Bildung eines Dau¬
mens wieder erheblich zugenommen. Ver^
fasser ging folgendermaßen vor: Er enU
nahm der siebenten Rippe rechts ein
Stück des Knochens einschließlich des
vorderen Periosts. Die Knochenhaut
wurde doppelt so lang genommen, als
der Knochen selbst, um auch für die
Rückseite des Knochens zur Bedeckung
zu dienen. Das Knochenstück selbst
wurde etwas länger gebildet, als der
Daumen der gesunden Seite lang ist.
Das Transplantat wird nach Umklappen
des Periosts sofort in das trichterförmig
vorbereitete Metacarpale I durch Kno¬
chennaht befestigt, dann wird das freie
Rippenstück in eine Falte der Bauchhaut
eingebettet, am besten der rechten Unter¬
bauchgegend, durch Bildung eines
Brückenlappens. Durch verschiedene
Nachoperationen wird dann der Brücken¬
lappen von der Bauchhaut getrennt und
an deni neugebildeten Daumen eine
Kuppe gebildet. Wie die beigegebenen
Abbildungen einschließlich des Röntgen¬
bildes zeigen, ist der Erfolg als recht be¬
friedigend anzusehen. Hayward.
(B. kl. W. 1916, Nr. 48.)
Zur Frage der Metastasenbildung bei
Gasgangrän ist ein kasuistischer Beitrag
von Ranft von allgemeinem Interesse.
Es handelte sich um eine Verletzung der
rechten Gesäßhälfte und der Beugeseite
des linken Oberschenkels, ferner der
Vorderseite des rechten Unterschenkels
in der Nähe des Sprunggelenkes. Der
Verwundete war, als er die Verletzung
erhielt, verschüttet worden und hatte
sich gleichzeitig einen Bluterguß am
rechten Ellbogengelenk zugezogen; eine
äußere Verletzung bestand hier jedoch
nicht. Zwei Tage nach der Verwundung
trat eine schwere Gasphlegmone des
Unterschenkels auf, welche die sofortige
Amputation im Oberschenkel notwendig
machte. Der Verlauf war zunächst ein
befriedigender, bis zwei Tage nach der
Operation unter erneutem Fieberanstieg
sich eine Gasphlegmone in dem Hämatom'
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1917.
35
des Ellbogengelenks entwickelte, der
der Verwundete bald erlag. Hayward.
(M.m. W. 1916, Nr. 47.)
Lexer schreibt über die Operation
der Gefäßverletzungen und der traumati¬
schen Aneurysmen, und bringt zugleich
einen Beitrag zur Freilegung der Sub-
claviaaneurysmen. In dieser sehr lesens¬
werten Arbeit, welche auf einer großen
Zahl persönlicher Erfahrungen beruht,
bekennt sich Verfasser zum Anhänger
der Gefäßnaht als der Idealmethode
der Operation - des Aneurysmas. Es
werden eine Reihe von technischen Ein¬
zelheiten gegeben, welche für alle die¬
jenigen, die sich mit Aneurysmenopera-
tionen befassen, von großer Bedeutung
sind. Entsprechend seiner Tätigkeit im
Felde und in der Heimat, hat Lexer
Gelegenheit gehabt, sowohl die frische
Gefäßverletzung, als auch das pulsierende
Hämatom und das ausgebildete Aneurysma
zu beobachten upd chirurgisch zu ver¬
sorgen. Am einfachsten gestalten sich die
Verhältnisse bei der frischen Gefäßver¬
letzung. Im allgemeinen ist die Anwen¬
dung der Blutleere, wenn irgend möglich,
angezeigt. -Besondere Schwierigkeiten
entstehen nur in den Fällen, in welchen
die Blutleere nicht angelegt werden kann,
also insbesondere bei dem Aneurysma der
Carotis und Subclavia. Für letztere hat
Lexer eine besondere sehr zweckmäßige
Schnittführung angegeben: Der Schnitt
beginnt zwei Querfinger breit oberhalb
des Schlüsselbeines an der Grenze vom
mittleren und äußeren Drittel des Kno¬
chens, läuft dann über das Sternoclavicu-
largelenk hinweg nach unten zu über die
Brust in der Richtung nach der Achsel¬
höhle, dann wird das Schlüsselbein an
der Grenze vom mittleren und äußeren
Drittel durchsägt und in dem erwähnten
Gelenke exartikuliert. Jetzt wird der
Pectoralis maior und der Subclavius in
der Richtung des Hautschnittes durch¬
trennt. Nun läßt sich der Lappen be¬
quem nach außen umlegen und man ge¬
winnt eine vorzügliche Übersicht über
die gesamten Gebilde der Ober- und Un-
terschlüsselbeingrube. Ohne diese aus¬
giebige Freilegung sollten die Aneurysmen
der Subclavia nicht operiert werden.
Hayward.
(D. Zschr. f. Chir. Bd. 135 H. 4/5.)
Zweig schildert die Lazarettbe¬
handlung der Geschlechtskrankheiten.^
Er meint, daß im großen und ganzen keine
Meinungsverschiedenheit darüber besteht,
daß für die Syphilis die kombinierte
Quecksilber - Salvarsanbehandlung in
Frage kommt. Bei frischen Fällen wird
in dem von ihm.geleiteten Lazarette die
Behandlung solange fortgesetzt, wie noch
Erscheinungen bestehen, daraufhin wer¬
den die Soldaten zur ambulanten Be¬
handlung entlassen, das heißt wenn der
Kräftezustand es gestattet und wenn der
Standort des Truppenteils es ermöglicht,
daß der Soldat ein- bis zweimal wöchent¬
lich ins Lazarett zur Behandlung kommen
kann. . Es muß mit allen Mitteln
danach gestrebt werden, den Soldaten so
bald wie möglich wieder dienstfähig zu
machen. Ist die Kur beendet, so gibt er
die Anweisung, daß nach sechs Wochen
eine Blutuntersuchung stattzufinden hat.
Eine positive Wassermannreaktion bei
sonstigem Wohlbefinden und beim Fehlen
jeglicher Erscheinungen bei einer erst
kurz vorher durchgeführten energischen
Kur kann heutzutage kein Grund sein zur
weiteren Behandlung. — Bei der Gonor¬
rhöe muß man streng zwischen den akuten
und chronischen Fällen unterscheiden.
Während man im bürgerlichen Leben
Gonorrhöekranke ambulant behandeln
kann, muß man bei den Soldaten darauf
halten, daß frische Gonorrhöefälle kli¬
nisch behandelt werden, weil auf diese
Weise die Behandlung wesentlich abge¬
kürzt werden kann. Zweig weist darauf
hin, daß die Injektionen, wenn sie von
den Patienten selbst vorgenommen wer¬
den, von einem Arzt oder Wärter über¬
wacht werden müssen. Er hat in der letz¬
ten Zeit auch therapeutische Versuche
mit Optochin gemacht, und zwar benutzt
er das Optochin hydrochloricum in %%iger
Lösung; er ließ täglich vier bis fünf In¬
jektionen machen von zehn Minuten
Dauer. Durch mikroskopische Kontrolle
stellt er fest, daß die Gonokken schwan¬
den, die Eiterkörperchen zerfielen und
die epithelialen Gebilde Zunahmen. In
der Regel waren die Gonokken in drei
bis zehn Tagen abgetötet. Fanden sich
nach dieser Zeit noch Gonokokken, so
setzte er mit Optochin a'us und ließ mit
Albargin weiter spritzen. In einer ganzen
Anzahl der Fälle ließ sich kein Erfolg er¬
zielen, so daß die wenigen guten Erfolge
gegenüber den Mißerfolgen es nicht an¬
gebracht erscheinen ließen, das Mittel in
die allgemeine Praxis einzuführen. Wenn
die Gonokokken geschwunden sind, dür¬
fen die Patienten aufstehen. Der ent¬
zündliche Fluor wird durch die bekannten
Mittel Kalium permanganicum, Zincum
5*
36
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Januar
sulfüricum usw. bekämpft. Bei Kompli¬
kationen, wie Epididymitis, hat die An¬
wendung von Gonokokkenvaccine sehr
großen Nutzen gebracht. Beider chroni¬
schen Gonorrhöe, wegen der sehr viele
Soldaten mit angeblichen Beschwerden
ins Lazarett kommen, muß genau fest¬
gestellt werden, ob die Harnröhre, Blase
und Vorsteherdrüse ohne gröbere Ver¬
änderungen sind und der morgentliche
Ausfluß bei mehrfacher Untersuchung
gonokkenfrei ist und nur Eiterkörperchen,
mehr oder weniger Epithelien und schlei¬
mige Elemente, enthält. Findet man dann
noch, daß therapeutische Maßnahmen,,
wie Spülungen, Installationen usw. den
Ausfluß nicht wegbringen, so kann man
die Leute ruhig als vollkommen dienst¬
fähig entlassen. Zweig empfiehlt zur
Orientierung des Truppenarztes im Kran¬
kenblatte zu bemerken, daß trotz des be¬
stehenden Ausflusses keine Bedenken
gegen die Kriegsverwendungsfähigkeit be¬
stehen. — Kranke mit^Ulcus molle
müssen wegen der leichtenÜbertragbarkeit
Lazarettbehandlung haben. Sie sind in
kurzer Zeit wieder dienstfähig. Die ein¬
zige Schwierigkeit bei ihnen ist nur die
richtige Diagnose. Dünner.
(D. m. W. 1916, Nr. 47.)
Die Kompression beider Hals¬
schlagadern ist von Tsiminakis bei
einer Anzahl von Epileptikern und Hy¬
sterikern ausgeführt worden. Dieser bei
Arteriosklerose kontraindizierte Eingriff
ruft nach etwa % Minute Bewußtlosigkeit
mit absoluter Muskelerschlaffung hervor.
Ist dieses erreicht, so müssen die kom-.
primierenden Daumen sofort entfernt wer¬
den, worauf das Bewußtsein unter vor¬
übergehendem Schwindelgefühl zurück¬
kehrt. Die experimentelle Anämisierung
•des' Gehirns ist bei, sehr fettreichen
Menschen oder solchen mit stark hyper-
trophischenTonsillen schwer durchführbar.
Tsiminakis versucht die beschriebene
Methode für die Diagnose der Epilepsie
nutzbar zu machen in einem größeren
Beobachtungsmaterial — im ganzen 116
Fälle — mit nachgewiesener Epilepsie be¬
ziehungsweise Rindenepilepsie. Sieben
Fälle von traumatischer Jacksonscher
Epilepsie zeigten unterCarotiskompression
einen gesetzmäßigen Ablauf der Krampf¬
zuckungen. Bei der Mehrzahl der übrigen
Epileptiker konnten spätestens nach einer
halben Minute allgemeine oder lokali¬
sierte Krämpfe ausgelöst werden, denen
«eine Bewußtseinstrübung bis zu fünf
Minuten mit Schwindel und Ermattung
wie nach spontanen Anfällen folgte. In
neun' Fällen versagte die Methode.. . Auf¬
fallend ist es, daß Tsiminakis in.einer
Gruppe von 42 hysterischen Individuen,
die zu hysterischen, hysteroepileptischen
beziehungsweise lethargischen Anfällen
neigten, durch die Carotiskompression
Anfälle hervorrufen konnte, wie sie bis¬
her spontan auftraten. — Diese, durch die
Nachprüfung siehe folgendes Referat
nicht bestätigten Befunde sind mit dem
Wesen der Hysterie unvereinbar. — An¬
merkung des. Referenten: Eine Er¬
gänzung der Tsimi'nakisschen Arbeit
bringt die Untersuchung von M. Vecono-
makis über den diagnostischen Wert der
durch Carotidenkompression hervorge¬
rufenen epileptoiden Zustände (Mittelunge
der Athener Ärztegesellschaft, 24. Januar
1915). Die bei einer Anzahl von Ge¬
sunden, Gemischtkranken sowie Epilep¬
tikern angestellten Versuche ergaben fol¬
gendes. Nach Kompression beider Caro-
tiden trat nach 15 bis 30 Minuten bei
den meisten Versuchspersonen, gleichviel
ob sie krank, gesund oder epileptisch
waren, Bewußtlosigkeit mit klonischen
Rumpf- und Extremitätenzuckungen ein.
Nach einiger Zeit kehrt die Erinnerung
an die bis an den Anfall grenzende Zeit
wieder zurück. Hervorgerufen wird der
Zustand durch eine plötzlich .hervor¬
gerufene Hirnanämisierung in Überein¬
stimmung mit den Tierexperimenten von
Kußmaul, Tenner und Landois.
Eine diagnostische Bedeutung hat dem¬
nach das beschriebene Phänomen nicht.
Leo Jacobsohn (Charlottenburg).
(W. kl. W. 1915, Nr. 44.)
Mandelbaum gibt sehr vielverspre¬
chende Beobachtungen über Schwankun¬
gen des Komplementgehaltes des Blutes.
Bei Anwendung frisch entnommenen, so¬
fort nach der Gerinnung abzentrifugierten
Serums zeigt sich, daß noch 0,06 ccm
Serum genügen, um 0,5 ccm sensibili¬
sierten Hammelblutkörperchen (Mischung
von gleichen Teilen Amboceptor und
5prozentiger Hammelblutkörperchenauf¬
schwemmung) innerhalb von 30 Minuten
bei 37° vollständig zu hämolysieren.
0,0078 ccm Serum geben noch Spuren
einer Hämolyse, 0,0039 gar keine. Diese
Zahlen sind für alle Menschen (gesunde
wie kranke) konstant. Wurde das Blut
vor dem Versuche auf 24 Stunden im Eis¬
schranke gehalten, so war in einzelneu
Fällen auch mit 0,25 ccm Serum eine
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und Bedeutung der einzelnen Untersuchungsbefunde. C. Diagnostische Verwertung der Ergebnisse der Funktions¬
prüfungen. D. Folgezustände an Organen sowie häufige Komplikationen. E. Differentialdiagnostische Übersicht über
die wichtigsten Symptomenkomplexe mit Berücksichtigung ihres Verlaufes. II. Therapeutischer Teil: A. Allgemeine
Therapie. B. Behandlung einiger besonders wichtiger Krankheitsäußerungen der Nephritiden. C. Behandlung der
einzelnen Formen der Nephritis. Anhang: Verhütung von Nephritiden.
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18
Jariuar
Die Therapie der Gegenwart 1917.
37
Hämolyse nicht zu erzielen. Wurde
nur das Serum so behandelt, so ergaben
sich bei gleichen Patienten dieselben Re¬
sultate. Bei längerem Eisschrankaufent-
halt wurde das Komplement noch in
einer Anzahl weiterer Fälle zerstört.
Wurde das Serum 24 Stunden bei 37°
gehalten, so verschwand das Komplement
stets. Das kreisende Blut muß demnach
Stoffe besitzen, die den Komplement¬
bestand schützen und die Verfasser daher
Socine nennt. Das Serum aus gleichbe¬
handeltem Blute zeigte dagegen unverän¬
derten Komplementbestand. Die Träger
der Socine konnte Verfasser noch nicht mit
Sicherheit bestimmen, doch sind es jeden¬
falls nicht die roten Blutkörperchen (Kom¬
plement reichlich nach 24 Stunden Brut¬
schrankaufenthalt in völlig blut- und
sauerstoffreiem Pleuraexsudat). Auch
der Salzgehalt des Serums kann
nicht in Frage kommen, da das Serum
aus Blut, das nach 24stündigem Eis¬
schrankaufenthalt komplementfrei ist,
wenn nach 24stündigem Brutschrankauf¬
enthalte des Blutes gewonnen, normale
Komplementmengen enthält. Wird eis¬
behandeltes — jetzt komplementfreies —
Blut bei 37° gehalten, so erscheint kein
Komplement, die Socine sind also zer¬
stört.
Die Abnahme oder das Verschwinden
des Komplements bei Eisschrankbe¬
handlung fand sich nun ausschließlich bei
einigen schweren Erkrankungen: Schwere
Tuberkulosen und Eiterungen, Scharlach¬
rekonvaleszenz und bei der Lues. Die
vom Verfasser angegebene Reaktion be¬
steht darin, daß 0,25 ccm Serum aus
24 Stunden lang eisgekühltem Blute
mit 1,5 ccm physiologischer Kochsalz¬
lösung und 0,5 ccm sensibilisierten Ham¬
melblutkörperchen versetzt, ein halbe
Stunde im Brutschrank bei 37° gehalten
werden. Komplette Hämolyse ist nega¬
tiver Ausfall, d. h. unveränderter Kom¬
plementgehalt.
Der positive Ausfall der Reaktion bei
der Lues findet sich in allen möglichen
Stadien, jedoch zeigen das Primärstadium
und das floride Sekundärstadium oft nega¬
tiven Ausfall. Zu beachten ist, daß bei
positiver Wassermannreaktion die Reak¬
tion nur in etwas mehr als der Hälfte der
Fälle positiv ist, während sie auch bei
negativem Wassermann positiv sein kann,
selbst, wenn anamnestisch nichts für Lues
Sprechendes zu finden ist. In diesen Fällen
fanden sich so gut wie ausschließlich ver¬
schiedenartigste Erkrankungen, die mehr
oder weniger stark luesverdächtig waren,
auffallenderweise besonders bei jungen
Patienten, deren Eltern nicht selten posi¬
tiven Wassermann zeigten. Unter Be¬
handlung verschwand die Reaktion bei
Fällen im Frühstadium eher, bei solchen
im Spätstadium später als die Wasser¬
mannreaktion. Verfasser empfiehlt An¬
stellung der Reaktion in jedem Falle, in
dem luetische Ätiologie des vorliegenden
Krankheitsbildes möglich ist und hält
positiven Ausfall für lange zurückliegehde
oder kongenitale Lues für beweisend a ?ch
bei negativem Wassermann und in diesem
Falle specifische Behandlung für indi¬
ziert. Waetzoldt.
(M. m. W. 1916, Nr. 39.)
Zwei neue Methoden der Überbrückung
größerer Nervenlücken werden vonBethe
beschrieben. Die Vereinigung von Nerven,
bei welchen man zu einer ausgedehnten
Nervenresektion hat schreiten müssen,
steht im Vordergründe des Interesses. Be¬
kannt sind die Methoden der Implanta¬
tion, der doppelten Nervenpfropfung, des
Edingerschen Agars, der Nervenlage-
rung. Verfasser hat zwei neue Methoden
zunächst experimentell geprüft und gibt
das wesentliche seiner Versuche in der
vorliegenden Arbeit wieder. Es muß als
sicher angenommen werden, daß die
Methode, welche die sicherste Aussicht
auf Erfolg gibt, stets die ist, durch
welche entweder beide Enden direkt an¬
einander gebracht oder durch ein lebendes-
Nervenstück miteinander vereinigt wer¬
den. Das erste Verfahren kann man da¬
durch praktisch herbeiführen, daß man
eine Nachdehnung des Nerven vornimmt.
Hierbei macht sich Bethe die großen
elastischen Eigenschaften des Nerven,
bei denen durch einen geringen, aber kon¬
stanten Zug die Nerven sich erheblich
dehnen lassen, zunutze. Die Versuchs¬
anordnung war die, daß zwei Gummi¬
fäden an das centrale und das pejriphere
Nervenende festgenäht werden, zu welchen
noch weitere drei bis vier Gummifäden,
die aber 3 bis 4 cm jenseits des Stumpf¬
endes ansetzen, hinzugefügt werden.
Diese letzten Gummifäden werden mit
einem starken Seidenfaden versehen und
durch eine Glaskanüle nach außen ge¬
leitet. Mit einer besonderen Vorrichtung,
welche einer Winde ähnlich sieht, kann
man in den nächsten Tagen nach der
Operation diese Gummifäden nachdrehen.
Am dritten oder viertem Tage kann dann
die Naht ausgeführt werden. Es konnten
38.
Die Therapie der degenwart 1917.
Januar
mit dieser Methode bei Hunden Ver¬
längerungen der Nerven von 3,6 bis zu
5,8 cm erzielt werden, was für den Men¬
schen beim Ischiadicus einer Verlängerung
von 11 bis 16 cm entsprechen würde.
Bei oberflächlichen Nerven ging Verfasser
so vor, daß er die Nervenendigungen mit
den betreffenden Gummifäden direkt aus
der Wunde herausleitete. Es unterliegt
keinem Zweifel, daß die Methode für den
Menschen mit gewissen Schwierigkeiten
verknüpft sein wird, jedoch muß fest¬
gestellt werden, daß bei den Tieren
Schmerzensäußerungen nicht beobachtet
worden sind. Ob das centrale Ende unter
der Dehnung leidet, ist für den Menschen
noch nicht festgestellt, für das Tier trifft
es nicht zu. Auch ist die Regenerations¬
tendenz beim Tier nicht beeinträchtigt.
Sauerbruch hat nach der Betheschen
Methode inzwischen fünf Fälle operiert,
von denen vier reaktionslos heilten, wäh¬
rend beim fünften Fall eine aufsteigende
Neuritis eintrat. Über das funktionelle
Resultat ist wegen der Kürze der Zeit
noch keine Mitteilung zu machen.
Hay ward.
(D. m. W. 1916, Nr. 42.)
ln seiner Arbeit zur Behandlung der
Bacillen-Ruhr kann 0.Wiese die rectale
Anwendung von Bolus alba nicht emp¬
fehlen. Er hat nämlich bei der täglichen
Kontrolle der Stuhlentleerungen der Kran¬
ken zwischen dem Schleim und Blut
walnuß- bis manchmal sogar hühnerei¬
große „Bolussteine“ von rauhkörniger
Oberfläche und steinharter Konsistenz
gefunden. Die Kranken gaben an, daß
die Entleerung dieser Konkremente mit
besonders großen Schmerzen verbunden
sei. Viel bessere Erfolge sah Wiese von
der Darreichung der Merckschen Tier¬
kohle. Er geht im allgemeinen so vor,
daß er nach gründlichem Abführen, (nach
Schiften heim) öftere Gaben von Opium¬
tinktur gibt, Darmwaschungen mit Supra-
renineinläufen vornimmt und die Merck-
sche Tierkohle per os unter Umständen
kombiniert mit Bismutum subgallicum
gibt. Dünner.
(D. in. W. 1916, Nr. 47.)
Einen wertvollen Beitrag zum Kapitel
Schmerz und Schmerzbehandlung gibt
A. Goldscheider. Den Ausgangspunkt
der Goldscheiderschen Untersuchungen
bildet folgender Versuch. Setzt man
einen kräftigen Hautreiz, indem man eine
Hautfalte auf einer Klemme mehrere
Minuten zusammenpreßt, so verschwindet
der Klemmschmerz nach und nach, um
bei Aufhören des Druckreizes, das heißt
bei Abnahme der Klemme sich wieder¬
einzustellen. Diese Erscheinung beruht
nach Ansicht des Verfassers auf einer
Anpassung der Nerven an den gesteigerten
Druck, ein Vorgang, der für die Schmerz¬
erregung unter pathologischen Bedingun¬
gen von Bedeutung ist. — Es ist von Inter¬
esse,daß neben derBeruhigung des Schmer¬
zes während der Pressung eine Steigerung
der cutanen Sensibilität eintritt, die sich
nicht auf die unmittelbare Umgebung
der Reizeinwirkung beschränkt und den
Klemmreiz zeitlich überdauert. — Durch
bestimmte, als Gegenreize bezeichnete
Einwirkungen auf die geklemmte Stelle
oder ein hyperalgetisches Feld kann der
Klemmschmerz verdunkelt werden. Ein
derartiger wirksamer Gegenreiz ist bei¬
spielsweise die Massage. Das praktische
Ergebnis der Untersuchungen Gold¬
scheiders ist die Bekämpfung der
Schmerzempfindung. Die dankbarste
Therapie ist die gegen die Krankheits¬
ursache gerichtete. Wo sie versagt,
kommen Narkotica, Antineuralgic, phy¬
sikalische Methoden (Bäder, Packungen,
Elektrizität) in Anwendung. Gegenreize
sind Senfpflaster, Vesikantien, bestimmte
Anwendungsformen der Elektrizität sowie
die Massage. Die Wirkung des Gegen¬
reizes erklärt sich dadurch,- daß der
primäre Schmerz auf zahlreiche Neben¬
bahnen abstrahlen kann. In diesem Sinne
wirkt auch die Cornejiussche Nerven-
punktmassage, die Verfasser eine syste¬
matisierte, zweckmäßig abgestufte Reiz¬
behandlung der hyperalgetischen Aus¬
strahlungsfelder nennt. — Den Schluß
der Goldscheider sehen Ausführungen
bildet die Analysierung der bei Nerven-
patienten vorkommenden dauernden Hy-
peralgesie, wie sie als Dauerzustand oder
nach Abklingen eines akuten schmerz¬
haften Zustandes, z. B. der Ischias, nicht
selten beobachtet wird. Eine ähnliche
gesteigerte Empfindlichkeit kommt in
der Disposition zu nervösen Herzanfällen,
Bronchialasthma, Migräne, Neuralgien
und Myalgien zum Ausdruck. Diesen
Krankheitszuständen liegt eine latente
Übererregbarkeit zugrunde, die Über¬
gänge zur Dauerhyperalgesie zeigt. In
bezug auf die Therapie ergibt sich aus
den Untersuchungen Goldscheiders,,
daß bei bestehender Disposition alle
stärkeren Reize und funktionellen Be¬
anspruchungen zu vermeiden sind. Syste¬
matisch angewandte stärkere Reize sind
Januar
Die Therapie der Gegenwart 1917.
39
hingegen geeignet, durch Hervorruftmg
entsprechender Regulierungsvorgangeieme
bestehende Überempfindlichkeit zu ’be¬
seitigen. - Leo Jacobsohn (Charlottenburg).
(Zschr. f. physik. diät. Ther., Oktober 1916.)
Über die spastische Stuhlver¬
stopfung der Ruhrkranken berichtet
Borchardt (Königsberg). Es ist eine
bekannte Erscheinung, die sich jetzt bei
den vielfachen Beobachtungen von Ruhr¬
kranken immer wiederholt: daß in den
ersten Tagen der Erkrankung noch Stuhl
entleert wird, der freilich zum Teil schon
dünnflüssig ist. Dann aber kommen nur
noch Entleerungen von Blut und Eiter
zustande, in denen Kotbeimengen so gut
wie vollständig vermieden werden. Außen
fühlt man bei den Kranken einen regu¬
lären Contractionszustand des Dick¬
darms, der entsprechend mit Schmerzen
einhergeht. Wir müssen also annehmen,
daß durch diese Contraction des Dick¬
darms die Weiterbeförderung des Darm¬
inhalts gehemmt wird. Borchardt
konnte durch Verabreichung von Tier¬
kohle vom Munde her zeigen, daß die
ersten schwarzen Entleerungen erst nach
zehn Tagen sich einstellten. Die Zurück¬
haltung des Kotes, die man daraus er¬
sehen kann, ist für die Dünndarmver¬
dauung nicht ohne Einfluß. Besonders
die Herabsetzung der Kohlehydratver¬
dauung führt zu unangenehmen Gärungen,
die er dadurch zu bekämpfen suchte,
daß er den Kranken eine Eiweißdiät
gab. Borchardt steht auf dem Stand¬
punkt, daß auch die Eiweißverdauung im
Dünndarm gestört ist und schlägt deshalb
eine gemischte Kohlehydrateiweißkost
vor. — Es kommt therapeutisch vornehm¬
lich darauf an, die Dünndarmopstipation
zu bekämpfen. Mit Ricinusöl erreicht
mä-ii,.-daß mehf : --Kot--entleert wird,- und
daß andererseits -die zahlreichen' Blut-
schlei-mstühle seltener werden. Auch die
Schmerzen lassen nach und der Krampf¬
zustand des Dickdarms weicht. Wenn
man, wie verschiedene Autoren Vor¬
schlägen, kleine Dosen Ricinusöl gibt, er¬
reicht man nicht so gute Resultate. Das
gleiche gilt von Kalomel. Man muß'bei
der Kalomelmedikätion darauf achten, daß
keine Quecksilberintoxikation auftritt. —
Die Erfolge, die man ab und zu von
Opium sieht, sind wohl so zu erklären,
daß sie krampflösend wirken. Sie wirken
hier also ebenso wie bei der .Bleikolik,
Das gleiche gilt von Atropin beziehungs¬
weise Belladonna. Dünner.
(D. m. W. 1916, Nr. 46.)
Heichelheim berichtet über einen
Fall von Tetanusrezidiv nach fünf Monaten.
Bei einem 28jährigen Verwundeten, wel¬
cher durch einen Granatsplitter über dem
linken Kreuzbein verletzt worden war,
eine Tetanusinjektion jedoch nicht er¬
halten hatte, trat zwölf Tage nach der
Verletzung ein mittelschwerer Tetanus
auf, der aber durch entsprechende Be¬
handlung bald zum Abklingen gebracht
werden konnte. Von der Verwundung
blieb eine kleine Fistel zurück, welche nach
dem Röntgenbild auf den Granatsplitter,
der in der Kreuzbeinaushöhlung saß,
führte. Der Splitter wurde fünf Monate
nach der Verwundung entfernt und der
Kranke fühlte sich zunächst wohl. Zwölf
Tage nach der Operation trat wieder ein
Tetanus auf, welcher im wesentlichen auf
die linke untere Extremität beschränkt
war. Auch dieser Tetanus heilte unter
entsprechender Behandlung bald voll¬
kommen ab. Hayward.
(M. m. W. 1916, Nr. 47.)
Therapeutischer Meinungsaustausch.
Elarson und Solarson.
Von Dr. Franz Bogner, Krankenhaus- und Bahnarzt in Selb in Bayern.
Da wir die verschiedenen Arsen¬
präparate fremdländischen Ursprungs ganz
aufgegeben haben, macht sich das Bedürf¬
nis nach guten deutschen Arsenmedika¬
menten -lebhaft geltend. Ich selbst habe
die vielfältig empfohlenen neuen Mittel,
Elarson, Eisenelarson und Solarson bei
zahlreichen Patienten zur Anwendung
gebracht.
Was chemisch über dieseMittel zu sagen
ist, ist in dieser Zeitschrift ausführlich
auseinandergelegt (Therapie der Gegen¬
wart 1913, S. 1, 1916, S. 18). Das Elarson
bzw. Eisenelarson wird in substantiierter
Form als Tabletten verordnet, das wasser¬
lösliche Solarson wird zu subcutanen
Einspritzungen benutzt. Für die eine
oder andere Form der Darreichung ent¬
scheiden meiner Ansicht nach rein äußer¬
liche Gründe: Patienten, die nicht regel¬
mäßig in die Sprechstunde kommen
können oder die man nicht regelmäßig
40
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Januar
besuchen kann,, wird man die Tabletten¬
form verordnen; bei anderen, die keine
Gewähr bieten, daß sie sich an das vor¬
geschriebene Schema halten, wird man
vorziehen, subcutane Einspritzungen zu
machen. Mir hat sich das Mittel in
beiden Formen außerordentlich bewährt,
so daß ich es nicht in meinem Arznei¬
schatz vermissen möchte. Bei der Medi¬
kation per os hält man sich am besten
an die .Schementafeln, die von der Fabrik
auf Verlangen geliefert werden; ich habe
hierbei nicht ein einziges Mal nötig ge¬
habt, abweichende Vorschriften zu
machen; subcutan habe ich eben¬
falls nach den vorhandenen Angaben
jeden zweiten Tag gespritzt, nach
zehn Tagen acht Tage pausiert und
dann nochmals zehn Injektionen ge¬
macht. Störungen von seiten des Magen-
und Darmtraktus habe ich bei der inner¬
lichen Darreichung niemals beobachtet,
ebensowenig lokale Reizungen bei der
subkutanen Injektion. In der über¬
wiegenden Mehrzahl habe ich bei meinen
Patienten die Solarsoneinspritzungen an¬
gewandt. Es handelte sich meist um
weibliche Patienten jeden Alters, zum
größten Teil um Fabrikarbeiter (Por¬
zellanindustrie).
Bei rund 60 Fällen handelte es sich
um Anämien jeden Grades; der Erfolg
war gerade bei schweren Fällen ein ver¬
blüffender; schon nach fünf bis sechs
Einspritzungen wurde das Allgemein¬
befinden von den Patienten als gehoben
bezeichnet; der untrüglichste Beweis hier¬
für ist wohl auch der, daß fast alle
Patienten nach drei Wochen wieder die
Arbeit auf nahmen; nur bei wenigen er¬
streckte sich die Arbeitsunfähigkeit auf
vier bis sechs Wochen. Der Erfolg war
auch, wie ich mich bei Erkundigung
überzeugen konnte, ein bis jetzt an¬
dauernder; einzelne besonders hartnäckige
Fälle habe ich einer zweiten Kur unter¬
zogen.
Bei zehn Fällen von Neurasthenie habe
ich durchwegs wesentliche Besserung er¬
zielt; hier möchte ich zwei Fälle besonders
anführen:
.Fall 1. Dr: S., 38 Jahre, Gymnasialprofessor.
Patient klagt seit zirka zwei Jahren über allge¬
meine Müdigkeit und Abspannung, Mangel an
Konzentrationsfähigkeit, äußere Unruhe, Angst¬
gefühl, Schwindel. Im Frühjahr 1916 zum Heeres¬
dienste eingezogen, nehmen die Beschwerden an
Intensität zu. Der Patient macht eine Eisen-
elarsonkur (240 Tabletten in 42 Tagen) durch und
die Beschwerden sind verschwunden; bis heute —
drei Monate nach beendigter Kur — keinerlei
neue Beschwerden mehr.
Fall 2. Oberschwester M.. Die 40jährige, nicht
besonders kräftige Patientin, ist durch die auf
ihr ruhende Arbeitslast von Jahr zu Jahr „ner¬
vöser“ geworden, so daß ihr aufgeregter Zustand
es sehr schwer machte, mit ihr zu arbeiten; neben
großer Vergeßlichkeit eine abnorme Vielgeschäftig¬
keit. Zur Erholung ging sie im Frühjahre 1916
auf sieben Wochen „aufs Land“. Besserung ganz
unbedeutend. Ich verordne ihr eine Eisenelarson-
kur. Der Zustand hat sich — wie ich im täglichen
Verkehr am meisten merke — bedeutend gebessert,
alle Erscheinungen sind auf einen leichten Grad
herabgedrückt.
In einem Falle von Gesichtsneuralgie
hatte ich keinen Erfolg.
Bei einem Falle von Lichen ruber und
zwei Fällen von schwerer Psoriasis hat
das Solarson gute Dienste geleistet und
die Therapie wesentlich unterstützt.
Bei Tuberkulösen leichteren Stadiums
verwende ich es (meist in Verbindung mit
Tuberkulininjektionen) zur Hebung des
Allgemeinbefindens mit gutem Erfolg.
Als Kronzeugen möchte ich mich
noch selbst anführen: Ich wurde sofort
nach Beginn des Krieges zum Heeres¬
dienst eingezogen und war bis Dezember
1915 als Truppenarzt tätig. Vor einem
Jahr kam ich aus der Champagne zurück;
ich war „total herunter“ und konnte
mich absolut nicht erholen; mein all¬
gemeiner Schwächezustand wollte nicht
weichen, ich war morgens nach dem Auf¬
stehen genau so abgespannt wie abends
beim Zubettgehen. Vor vier Wochen
begann ich eine Eisenelarsonkur und der
Erfolg war auch hier ein überraschender.
Schon jetzt, da die Kur noch nicht ganz
beendigt ist, fühle ich mich frisch und
wohl und von Müdigkeit spüre ich trotz
vieler Arbeit fast gar nichts mehr und
sehe, wie meine frühere Elastizität wieder
täglich mehr zurückkehrt.
Gleiche Erfolge in dieser Hinsicht
kann ich bei einigen Fällen berichten, die
ich im hiesigen Vereinslazarett einwand¬
frei beobachtet habe. Ich möchte daher
diese Präparate bei den nicht seltenen
Fällen empfehlen, bei welchen es sich um
physische und psychische Abspannung
durch den Dienst an der Front handelt.
Für die Redaktion verantwortlich Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G.Klempe rer in Berlin. Verlag von Urb an & Schwarzenberg
in Berlin und Wien. Gedruckt bei Julius Sittenfeld, Hofbuchdrucker., in Berlin W8.
fZur Ausfuhr zugelassen!
Sanitätsamt d. mü. Institute .
Nr. 663 u. 777 Z.
ÜAu -v
Die Therapie der Gegenwart
herausgegeben von
58. Jahrgang Geh, Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer
Neueste Folge. XIX. Jahrg. BERLIN
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2. Heft
Februar 1917
' Verlag von URBAN & SCHWARZENBERG in Berlin N 24 und WienI
Die Therapie der Gegenwart erscheint zu Anfang jedes Monats. Abonnementspreis für den
J ahrgang 10 Mark, in Österreich-Ungarn 12 Kronen, Ausland 14 Mark. Einzelne Hefte je 1,50 Mark
resp. 1,80 Kronen. Man abonniert bei allen größeren Buchhandlungen, sowie direkt bei den
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anästhesie angewandt. Orig.-Lösun-
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Die Therapie der Gegenwart
1917
herausgegeben von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer
in Berlin.
Februar
Nachdruck verboten.
Über Magenchemismus, Pylorusstenose und nervöse Dyspepsie. 1 )
Vortrag auf dem Ärztetag zu Itzehoe 1914.
Von Hugo Lüthje f.
Meine Herren! Die Kürze der Zeit ge¬
stattet nicht, an dieser Stelle in ausführ¬
licherer Weise ein Gebiet der speziellen
Pathologie und Therapie zu beleuchten,
das unseres Erachtens — und eine Reihe
von Klinikern ist ähnlichen Sinnes —
dringend an vielen Stellen einer Revision
bedarf. Ich begnüge mich daher damit,
in mehr kursorischer Weise auf einige
Punkte der Pathologie der Magenkrank¬
heiten hinzuweisen, hoffe aber doch,
Ihnen dadurch die Anregung zu geben,
diesem Gegenstände, Ihr näheres Interesse
zuzuwenden. Und zwar möchte ich ganz
kurz streifen die Verhältnisse des Magen¬
chemismus — inklusive der Hyperacidi¬
tät — der Gastroptose und der so¬
genannten nervösen Dyspepsie.
Wir sind gewohnt, unser Urteil über
die Sekretionsverhältnisse im Magen ab¬
zuleiten aus den durch die entsprechenden
Methoden festgestellten Werten der Ge¬
samtacidität, der freien Salzsäure, even¬
tuell des Salzsäuredefizits, respektive aus
dem Nachweis der Anacidität und Achylie
oder der Milchsäure, und zwar bestimmen
wir diese Werte ja, wie bekannt, in dem
nach Verabreichung des Probefrühstücks
oder der Probemahlzeit eine gewisse Zeit
später ausgeheberten Mageninhalt.
Eine positive Milchsäurereaktion darf
- ganz entsprechend den alten Anschau¬
ungen — auch heute unter allen Um¬
ständen, wenn nicht besondere Verhält¬
nisse vorliegen, mit großer Wahrschein¬
lichkeit in dem Sinne gedeutet werden,
daß jene Form des Magenschleimhaut¬
katarrhs vorliegt, wie sie erfahrungsgemäß
am häufigsten und regelmäßigsten das
Magencarcinom begleitet. Man ist aber
überrascht, bei Durchsicht eines großen
Materials andererseits zu erfahren, wie
außerordentlich häufig bei zweifellosem
x ) Aus dem Nachlaß des unvergeßlichen
Kieler Klinikers sind mir von Frau Prof. Lüthje
einige wertvolle Manuskripte übersandt worden,
die ich mit ihrem Einverständnis gern zum Ab¬
druck bringe, wenngleich es unsicher ist, ob der
Verfasser selbst sie in dieser Form zur Publikation
bestimmt hat. Sie werfen scharfe Schlaglichter
auf wichtige Fragen der ärztlichen Kunst und
erneuern das tiefschmerzliche Gefühl der Trauer
um den allzufrüh geschiedenen Meister. . Red.
autoptisch ' oder operativ , bestätigtem
Magencarcinom die Milchsäuresekretion
im ausgeheberten Mageninhalt fehlt — in
den letzten 63 Fällen meiner Klinik in
zirka 54% —•, viel häufiger als das all¬
gemein angenommen zu werden scheint.
Ich glaube daher, und das ist der erste
Punkt, auf den ich Sie aufmerksam
machen wollte, man darf für die Diagnose
des Magencarcinoms auf das Fehlen der
Milchsäurereaktion nicht irgendwie ent¬
scheidendes Gewicht legen.
Andererseits darf aber, wie das gerade
neuere Untersuchungen dargetan haben,
der Anacidität oder Achylie nicht zu
große Bedeutung beigelegt werden, nicht
einmal im Sinne eines einfachen Katarrhs,
wenigstens nicht dann, wenn bei den ent¬
sprechenden Untersuchungen diejenigen
Vorbereitungen getroffen wurden, wie sie
bisher in allgemein und in ganz schemati¬
scher Weise Gültigkeit hatten: nämlich
die Untersuchung nach • Probefrühstück
oder Probemahlzeit. Denn wir sehen
hierbei recht häufig Anacidität oder
Achylie auch in Fällen, in denen eine
Sekretionsanomalie in Wirklichkeit gar
nicht vorliegt. Daß nach Probefrühstück
vollkommener Säuremangel vorhanden
sein kann, die Untersuchung nach Probe-
mahlz.eit bei derselben Person einige
Stunden später aber ganz normale Ver¬
hältnisse ergeben kann, war ja schon
längere Zeit bekannt und hatte zu der
praktischen Konsequenz geführt, daß
man sich bei negativem Befunde nie mit
der ausschließlichen Untersuchung nach
Probefrühstück begnügen darf. Wir haben
im letzten Jahre diese Verhältnisse etwas
eingehender geprüft und dabei gefunden,
wie außerordentlich die Säurewerte bei
derselben Person in kurzer Zeit schwanken,
je nachdem man eine fast reine Eiweiß-,
fast reine Kohlehydrat- oder fast reine
Fettkost verabreicht. Wir bekamen
außerordentlich voneinander abweichende
Werte bei der gleichen Person je nach der
Nahrungsmittelgruppe, die wir verab¬
reichten. Damit nähern wir uns Unter¬
suchungsergebnissen, über die auf dem
letzten Kongreß für innere Medizin
6
42
Die Therapie der Gegenwart 1917. Februar
Curschmann jr. berichtete. Cursch-
mann macht darauf aufmerksam, daß
in vielen Fällen, in denen nach Ver¬
abreichung des gewöhnlichen Probefrüh¬
stückes oder-der Probemahlzeit freie Salz¬
säure, fehlte, oder gar vollkommene An¬
acidität bestand, nach Verabreichung i
einer frei gewählten, dem Patienten be- \
sonders zusagenden Mahlzeit, die er ,,Ap- j
petitmahlzeit“ nennt, sich vollkommen !
normale Säurewerte fanden. Er zieht ;
daraus die außerordentlich wichtige Kon- j
sequenz, mit dem bisherigen Schematis¬
mus zu brechen und unter allen Um¬
ständen in Fällen, in denen man zunächst
eine Anacidität konstatiert, eine erneute
Untersuchung nach einer Appetitmahl¬
zeit vorzunehmen, ein Vorschlag, dem
ich mich nach eigenen Erfahrungen durch¬
aus anschließen möchte. Es ist dabei
ganz gleichgültig, was Sie als Mahlzeit
wählen; es kommt nur darauf an, daß
der Patient sie mit einem gewissen Ap¬
petit verzehrt. Es ist klar, daß eine solche
Mahlzeit je nach dem Landesstrich, je
nach der bisherigen Lebensweise usw.
ganz verschieden sich gestalten wird, so
daß zwischen dem Austernfrühstück und
dem einfachen Pfannkuchen oder etwas
Ähnlichem alle Übergangsstufen je nach
Lage der Verhältnisse gewählt werden
können. Physiologisch' sind uns die hier I
eben mitgeteilten Differenzen in den
Sekretionsvorgängen des Magens heute .
durchaus verständlich; wissen wir doch i
auf Grund der berühmten Pawlowschen j
Untersuchungen, welche Bedeutung das ;
Vorstellungsleben und die ganze Psyche !
für die Saftsekretion haben.
Es wird also gerade für die Praxis ;
— und das möchte ich an zweiter Stelle j
besonders hervorheben — zweckmäßig j
sein, bei der funktionellen Prüfung des I
Magens häufiger Gebrauch von dieser :
sogenannten Appetitmahlzeit zu machen. !
Nebenbei möchte ich hervorheben, daß,
wie mir scheint, von einer sehr einfachen
Nachweismethode freier Salzsäure im
Mageninhalt in der Praxis noch immer
nicht derjenige Gebrauch gemacht wird,
der davon gemacht zu werden verdient,
nämlich von der Verwendung der Sahli-
schen Desmoidreaktion. Die Anstellung
derselben erspart die Ausheberung des
Mageninhaltes. Die Pille wird einfach
gegen Ende der Mahlzeit herunterge¬
schluckt, und die im Harn auftretende
durch Methylenblau hervorgerufene Grün¬
färbung beweist die Anwesenheit freier
Salzsäure im Magen. Die Methode liefert,
wie wir uns in einer systematischen Unter¬
suchungsreihe von 148 protokollierten
Einzeluntersuchungen überzeugen konn¬
ten, in 94 % einwandfrei und mit den
gewöhnlichen Untersuchungsmethoden
übereinstimmende Resultate. Den Herren,
die die Methode nicht kennen, bin ich
gern bereit, nachher nähere Auskunft zu
geben.
Ich komme jetzt mit einigen Worten
aüf die Prüfung und Bedeutung der
motorischen Insuffizienz. Die Prüfung
gestaltet sich ja wohl in der Praxis meist
so, daß morgens nüchtern, nachdem am
Abend zuvor die letzte Mahlzeit ge¬
nommen worden war, ausgehebert wird,
und je nach dem Vorhandensein oder
Fehlen von Speiseresten auf motorische
Suffizienz oder Insuffizienz geschlossen
wird. Ich möchte nun darauf aufmerksam
machen, übrigens wird das vielleicht
| vielen Herren, bekannt sein, daß die er--
i gebnislose Ausheberung des nüchternen.
; Magens am Morgen keineswegs immer ein
| Beweis für die motorische Suffizienz des
Magens ist, daß man vielmehr gar nicht
selten in solchen Fällen erhebliche Reste
im Magen findet, wenn man bei weiteren
Ausheberungen sieben Stunden nach einer
Probemahlzeit aushebert. Ich halte
demnach die Ausheberung des Magens
sieben Stunden nach einer Probemahlzeit
für die sicherere Methode zur Bestimmung
der motorischen Tätigkeit des Magens.
Was nun die Bedeutung, eines positiven
Ausheberungsbefundes zu Zeiten, in denen
man unter normalen Verhältnissen den
Magen sicher leer findet, anbelangt, so
muß, glaube ich, mit allem Nachdruck
darauf hingewiesen werden, daß in solchen
Fällen stets eine Pylorusstenose irgend¬
einer Art vorliegt, daß dagegen das Vor-
komen einer rein atonischen Insuffizienz
unter allen Umständen etwas außer¬
ordentlich Seltenes ist, vielleicht über¬
haupt nicht beobachtet wird. Freilich
wird man immer gelegentlich zunächst
zu dieser Annahme gedrängt durch Fälle
wie den folgenden: Es handelt sich um
| einen in kurzer Zeit in seinem Ernährungs-
; zustand hochgradig reduzierten Gastwirt,
i der bei den ersten Prüfungen der motori-
| sehen Tätigkeit des Magens große Rest-
| mengen (bis zu 1 Liter und mehr) lieferte
| mit ziemlich niedrigen Schichtungs-
| quotienten. Schon nach einige Tage hin-
| durch durchgeführten systematischen
| Spülungen war der Magen motorisch und
chemisch wieder vollkommen leistungs¬
fähig, und der Patient wurde nach
Februar Die Therapie der Gegenwart 1917. 4S
14 Tagen mit einer Gewichtszunahme temberg,. Franken, Frankfurt am Main
von 10 Pfund entlassen. Nach 2 y 2 Mo- und hier gesammelten Erfahrungen den
naten kam er mit ähnlichen Beschwerden Eindruck. Dubois in Bern schätzt sogar
und der gleichen motorischen Insuffizienz die Zahl der nervösen Dyspepsien, auf
wieder. Auch jetzt besserten sich die 90% aller Dyspepsien.
Insuffizienzerscheinungen in kurzer Zeit. Mit der einfachen Bezeichnung „ner-
Trotzdem empfahlen wir die Operation vöse Dyspepsie“ ist nun allerdings außer-
und es fand sich eine derbe Ulcusstenose ordentlich wenig gesagt, und es ist durch-
am Pylorus. Die auffallend schnelle aus berechtigt, wenn man gegen diesen
Besserung der Insuffizienzerscheinungen etwas summarisch-diagnostischen . Begriff
kann in solchen Fällen wohl nur skeptisch war. Es sollte damit an sich
durch die Annahme erklärt werden, daß auch wohl nichts anderes gesagt sein,
die vorhandene Stenose an sich die als daß es sich um dyspeptische Be-
Passage der Speisen noch gestattet, daß schwerden handele, die unabhängig von
sie aber infolge irgendwelcher digestiven irgendwelchen primären Schädigungen des
Reize erhöht wird durch pylorospastische Verdauungskattals lediglich abhängig seien
Erscheinungen mit consecutiver Reten- ! von „primären Veränderungen , des Vor-
tion. Entfernt man die digestiven Reize ! Stellungslebens des Patienten“, und die
durch systematische Magenausspülung, man dementsprechend nach dem Vor-
so schwinden die spastischen Erschei- schlage Strümpells auch besser unter
nungen, die Passage wird wieder frei und dem diagnostischen Begriff der psycho-
der Patient wird als scheinbar gesund genen Dyspepsie zusammenfaßt. Vor¬
entlassen, um nach einiger Zeit in dem- Stellungen können bei abnormer psycho-
selben krankhaften Zustand wiederzu- pathischer Veranlagung eine ihrem ob¬
kehren, der ihn das erstemal zum Arzt jektiven Wert und Inhalt nicht mehr
führte, und dann bietet er vielleicht, be- entsprechende übergroße Lebhaftigkeit
züglich der operativen Heilung, sehr viel gewinnen, so daß ihre Korrektur durch
ungünstigere Verhältnisse dar. Es wird andere Vorstellungen nicht mehr möglich
sich demgemäß für die Praxis empfehlen, ist, und sich deutlich die Folgeerschei-
in den • Fällen, in denen im Nüchtern- nungen 'auf körperlichem Gebiete geltend
zustande, große Restmengen im Magen machen. Daß die Verhältnisse in der Tat
gefunden werden, von vornherein mit j fast immer bei den Fällen von sogenannter
dem Vorhandensein einer Pylorusstenose j nervöser Dyspepsie so liegen, weiß jeder,
zu rechnen. Natürlich müssen die Fälle i der sich entsprechend, psycho-analytisch
mit digestivem oder spontanem Magen- j mit seinen Patienten befaßt und es ver-
saftfluß, wie wir sie namentlich aus I steht, dem Ursprung der ängstlichen Vor¬
der Beschreibung von Anschütz kennen \ Stellungen nachzugehen, respektive über¬
gelernt haben, ausschließbar sein. Dasj haupt das Vorhandesein eines primär ab¬
ist ja aber durch Bestimmung des ! norm veränderten Bewußtseininhaltes
Schichttmgsquotienten sehr leicht mög- : .nachzuweisen. Es ist nun das besondere
lieh. , Verdienst von Dreyfuß und ein wesent-
Ich möchte jetzt noch mit wenigen licher Fortschritt, daß in der oben-
Worten auf ein anderes Gebiet eingehen, erwähnten Schrift zum ersten Male der
nämlich auf das der sogenannten ner- Versuch gemacht ist, und zwar mit
vösen Dyspepsie, ein Gebiet, das gerade großem Erfolge, einzelne Formen der ner-
in neuerer Zeit durch eine ganz vortreff- vösen Dyspepsie nach klinisch-psychiatri-
liche Arbeit neu beleuchtet ist. Ich möchte sehen Gesichtspunkten scharf gegenein-
den Herren Kollegen die Arbeit von ander abzutrennen, und wir werden unß
G. Dreyfuß über die nervöse Dyspepsie dementsprechend in der Zukunft nicht
warm empfehlen. Die Notwendigkeit mehr einfach mit der Diagnose „nervöse
einer eingehenderen Beschäftigung mit j Dyspepsie“ begnügen dürfen, sondern es
diesem Gegenstände erleuchtet schon aus j muß verlangt werden, daß die jeweils
der Tatsache, daß die überwiegende An- | vorliegende besondere Art der primären
zahl von Dyspepsien, die . wir heute in j psychischen Störung richtig erkannt wird,
der Sprechstunde zu sehen bekommen, j weil davon in erster Linie die Prognose
zweifellos psychoneurotischen Ursprungs | und die Therapie des Einzelfalles ab¬
ist, und zwar scheint das für die ver- I hängt.
schiedenen Landstriche ziemlich gleich- Es ist natürlich ganz unmöglich, Ihnen
mäßig zu gelten. Jedenfalls habe ich 1 hier die einzelnen speziellen Formen der
persönlich nach meinen in Hessen, Würt- nervösen Dyspepsie klinisch zu schildern;
Ci*
44
Die Therapie der Gegenwart 1917. . Februar
ich muß mich mit einem ganz kuirzen j
Hinweise begnügen.
Das Wesen aller Formen der nervösen
Dyspepsie ist, daß es sich dabei „um
einen Symptomenkomplex handelt, der
sich aus den sehr vielgestaltigen Magen¬
symptomen und noch wechselvolleren j
psychischen Symptomen zusammensetzt“, i
Diese letzten sind das primäre Moment.
Selbstverständlich ist durch , alle uns zu
Gebote stehenden Untersuchungsmetho¬
den eine organische Erkrankung in allen
Fällen auszuschließen, auch in solchen
Fällen, in denen von vornherein psychi¬
sche Erscheinungen ganz im Vorder¬
gründe stehen. Denn es kann natürlich
neben einer Psychoneurose auch ein or¬
ganisches Magenleiden bestehen. Drey- j
fuß gibt nun folgende Einteilung der j
nervösen Dyspepsien, der ich mich auf i
Grund eigener Erfahrungen im großen <
und ganzen anschließen möchte. Einige !
weniger wichtige und weniger geklärte ;
Formen lasse ich dabei außer acht, j
1. Nervöse Dyspepsie auf der Basis j
konstitutioneller Neurasthenie. !
2. Die eigentliche psychogene Dys¬
pepsie.
3. Die hysterische Dyspepsie.
4. Die cyclothyme Dyspepsie.
5. Dyspepsie auf der Basis erworbener
Neurasthenie.
Zu der ersten - Gruppe/ der nervösen
Dyspepsie auf der Basis konstitutioneller
Neurasthenie, rechnen vor allem die
Psychopathen im eigentlichen Sinne des
Wortes, respektive die Psychastheniker
der Franzosen und die von Stiller unter
dem Namen der Asthenia universalis
congenita beschriebenen Kranken. Die
Prognose dieser Fälle ist im allgemeinen
nicht günstig, da eine konstitutionelle
Anomalie die Grundlage bildet. Wohl aber
sind durch zweckentsprechende Behand¬
lung wesentliche Besserungen und lang¬
dauernde vollkommen freie Intervalle j
zu erzielen. Zur zweiten Gruppe gehören ,
diejenigen Kranken, bei denen sich Krank¬
heitserscheinungen von seiten des Magens
an psychische Traumen im weitesten
Sinne des Wortes anschließen, sei es,
daß schwere seelische Erregungen direkt
und unmittelbar zu krankhaften Er¬
scheinungen führen, oder daß sich all¬
mähliche Angstvorstellungen ausbilden,
die sich wesentlich auf das Gebiet des
Verdauungstraktus konzentrieren. Hier¬
her gehören auch die eigentlichen Pho¬
bien, vor allem die Carcinomfurcht. Die
Prognose ist bei richtiger Erkennung und
Behandlung gut.
Die vierte Gruppe, die der cyclo-
thymen Dyspepsie, ist außerordentlich
häufig unter den nervösen Dyspepsien
vertreten. Sie ist Teilerscheinung jener
Psychose, für die K ah Iba um den Namen
„Cyclothymie“ eingeführt hat, und bei
der es sich um abgeschwächte, melancho¬
lische und manische Phasen des manisch-
depressiven Irrseins handelt. Es ist außer¬
ordentlich überraschend, wie häufig man
bei nervös-dyspeptischen Leuten durch
eine eingehende Psychoanalyse einen Ein¬
blick in den außerordentlich charakteristi¬
schen krankheitsverlauf erhält, der im
wesentlichen sich charakterisiert als bunte
Abwechselung von depressiven und mani¬
schen Zuständen, die jedesmal von ent¬
sprechendem Auftreten oder Verschwin¬
den der Verdauungsbeschwerden be¬
gleitet sind.
Die fünfte Gruppe, die der nervösem
Dyspepsie auf der Basis erworbener Neu¬
rasthenie, bedarf keiner besonderen Er¬
läuterung. Ihre Prognose ist durchaus
gut in all den Fällen, in denen sich die
Ursachen der erworbenen Neurasthenie
beseitigen lassen.
Meine Herren! Die Behandlung der
eben kurz gekennzeichneten Zustände ist
für den Arzt ein ungemein fruchtbares
und dankbares Gebiet. Allerdings setzt
ein Erfolg die richtige Erkennung des
Zustandes voraus. Die Behandlung muß
sich fast ausschließlich oder wenigstens
in erster Linie auf das Grundleiden er¬
strecken, eine unmittelbare Behandlung
des Magens selbst ist in der Regel nicht
nur nicht von Erfolg begleitet,'sondern
meist sogar schädlich. Und doch, wir
müssen das eingestehen, wird hier un-
| glaublich viel gesündigt, mit Arznei,
Magensonde, und vor allem mit den
ominösen auf das subtilste ausgearbeite¬
ten Diätzetteln. Gerade der von den
Patienten heute vor allem geforderte
Diätzettel zeitigt große Schädigungen, oft
sogar eine Art neuer Neurose, die man
geradezu als Diätneurose bezeichnen
könnte. Hier muß unbedingt Wandel
geschaffen werden, und das läßt sich
leicht erreichen. Nur ist es nötig, daß
wir uns etwas eingehender mit den
Grundlagen der Psychiatrie befassen, als
das bisher im allgemeinen der Fall war.
Ich habe Ihnen ja nur ein kurzes Bild
geben wollen. Es kann mit Rücksicht
auf die gedrängte Zeit und die Masse
des vorliegenden Stoffes kaum die Auf-
Februar Die Therapie der Gegenwart 1917. .^5
gäbe sein, bestimmte Themata zu er- Sinne bitte ich auch meinen etwas skizzeii-
schöpfen. Unsere Zusammenkunft dient ; haftenVortrag auffassen zu wollen. — Über
ja in erster Linie der gegenseitigen i einige weitere Punkte wird sich Gelegen-
Förderung und Anregung, und in diesem ’ heit geben in der Diskussion zu sprechen 1 .
Jod, Schilddrüse, Arteriosklerose.
Von Dr. Carl Kraus, Kurhaus Semmering.
Der alte Spottvers: ,,Wenn man nicht
weiß, wo und warum, verschreibt man
Kali jodatum“ hat nicht ganz seine
satirische Schlagkraft eingebüßt. Das
Indikationsgebiet für die Jodtherapie
hat zwar eine beträchtliche Einengung
erfahren, aber nichtsdestoweniger wird
Jod und seine Verbindungen in der all¬
gemeinen Praxis viel zu leicht verordnet.
Der Vorwurf bezieht sich nicht so sehr
auf die vage Begründung dieser Therapie
als auf die Unterschätzung der auf Jod¬
empfindlichkeit beruhenden häufigen Jod¬
schäden. Es besteht zwar eine beträcht¬
liche Literatur über diese Frage, und
seitdem Xoindet im Jahre 1820 f .und
Rillier im Jahre 1858 gelehrt haben,
daß oft die kleinsten Dosen Jod schwere
und langdauernde Krankheitserscheinun¬
gen hervorrufen können, werden immer
wieder krasse Fälle von Jodschäden mit¬
geteilt. In neuester Zeit waren es be¬
sonders R. Breuer, Kocher, Ortner,
Krehl, Fr. v. Müller, Pineies u. a.,
die an Veröffentlichungen von Fällen von
Jodthyreoidismus ernste Warnungen be¬
züglich der wahllosen Verabreichung von
Jod geknüpft haben. Wir möchten auf
Grund zahlreicher Erfahrungen, ins¬
besondere auf die Gefahr von Jod¬
pinselungen bei zu Thyreoidismus Dis¬
ponierten hinweisen und dann zu der
Frage der Berechtigung der Jodtherapie
der Arteriosclerose und ihren Gefahren
Stellung nehmen. Dabei kommen nur die
eigentlichen ,,thyreogenen“ Schäden in
Betracht, insofern sie eben durch Ver¬
mittlung der Schilddrüse ausgelöst werden,
während die als ,, Jodismus“ im all¬
gemeinen zusammengefaßten Störungen 1 )
— etwa im Sinne .von Fournier —
keine Berücksichtigung finden.
Wer es sich zur Gewohnheit macht,
bei der Untersuchung jedes Falles von
Morbus Basedow oder Hyperthyreoidismus
nachzuforschen, ob kurz vor Ausbruch
der Erkrankung Jod in irgendeiner Form
innerlich oder äußerlich genommen wurde,
wird überrascht sein, wie häufig kleinste
Joddosen zum Ausbruch oder zur Akuti-
sierung dieser krankhaften Zustände
führen.
Man begnüge sich ja nicht mit der
Konstatierung von psychischemShock oder
andauernden seelischen Affekten als aus¬
lösende Ursache. So groß auch ihre Be¬
deutung sein mag, man wird andererseits
oft die überraschendeEntdeckung machen,
daß vor Ausbruch der Krankheit ,aus
irgendeinem Grunde Jod auf die Schleim¬
häute des Mundes (Zahnfleisch) oder des
Rachens appliziert wurde. Einige Bei¬
spiele:
Durch den plötzlichen feindlichen Einbruch
wird ein Beamter in verantwortlicher Stellung ge¬
zwungen, die Flucht zu ergreifen und sich unter
großen Gefahren durchzuschlagen. Er bot die
Erscheinungen eines ausgesprochenen Hyper¬
thyreoidismus, war hochgradig abgemagert und
erregt, hatte Herzklopfen und Tremor, Schweiße
usw. Bei der Aufnahme der Anamnese fiel es auf,
daß beträchtliche Schwankungen des Körper
gewichtes schon früher aufgetreten waren und
stets mit großer Erregung einhergingen, offenbar
stets der Ausdruck derselben krankhaften Dis¬
position. Bei der in die Augen springenden psychi¬
schen Genese des jetzigen Anfalles war es um so
überraschender, daß es sich doch um einen Jod-
hyperthyreoidismus handelte. Der Patient hatte
das verhängnisvolle Jodtinkturfläschchen in seiner
Hausapotheke und benützte es „von Zeit zu Zeit“
zur Behandlung seines Raucher-Rachenkatarrhes.
Dies geschah auch kurz vor Ausbruch der letzten
Erkrankung. Mit Einstellung dieser kaum beach¬
teten Selbstbehandlung milderte sich langsam der
Hyperthyreoidismus und der vielleicht seit Jahren
durch Mißbrauch von Jodpinselungen geschädigte
Patient sieht jetzt seiner endgültigen Genesung
entgegen.
Ein ähnlicher Fall nach Jodpinselung des
Rachens durch einen Fachmann verlief ungleich
ernster, da das betroffene sehr herabgekomme
Mädchen erst nach dreiviertel Jahren sich zu
erholen begann. Hier waren die nervösen Begleit¬
erscheinungen ganz besonders stürmisch 'und
x ) Die Erscheinungen des Jodismus sind sehr
vielfältig. Von seiten der Respirationsorgane
kommen in Betracht: Coryza, bis zum Glottis¬
ödem sich steigernde Larynxstörungen, Tracheal¬
und BronchialkatarrhG, Kongestivzustände der
Lunge bis zum Lungenödem. Die Störungen im
Verdauungstrakte äußern sich in Trockenheit und
Schwellung der Zunge, Mund und Pharynxschleim¬
haut, Salivation, Magenbeschwerden, Anorexie,
Erbrechen und Durchfall. Magenblutungen sind
beschrieben worden. Von seiten des Nerven¬
systems kommen Kopfweh, Schwindel, Schlaf¬
losigkeit usw. zur Beobachtung. Vielfältig sind die
Hautausschläge. Schwellungen der Parotis sind
bekannt usw. Alle diese Erscheinungen sind als
Ausdruck einer lokalen Jodschädigung durch Jod¬
ausscheidung aufzufassen.
46, Die Therapie der Gegenwart 1917. Februar
äußerten sich in einer - förmlichen Astasie und
Abasie mit heftigem Schwindel, Schlaflosigkeit
und großer seelischen Unruhe.
Ein dritter Fall hätte leicht verhütet werden
können. Es betrifft einen an schweren Basedow
erkrankten Patienten, der sich nach fast ein- j
jährigem Anstaltsaufenthalte soweit erholt hatte, |
daß er einen Versuch machte, seinen Beruf wieder !
äufzunehmen. Zahnschmerzen führten ihn zum j
Zahnarzte, der ihm unter anderen das Zahnfleisch
zweimal mit Jodtinktur einpinselte. Unmittelbar
darauf, erfolgte ein rapider Rückfall des Basedow,
wobei die Abmagerung, allgemeine Schwäche und
bedrohliche Herzschwäche den Fall zu einem
äußerst ernsten stempelten. Der Patient war
hochgradig erregt, glaubte die Höhenluft nicht
mehr vertragen zu können und war zu strenger
Bettruhe und Digitalisgebrauch verurteilt. Nach
vier Monaten setzte endlich eine dauernde Besse¬
rung ein.
. Da derartige Erfahrungen in der
Praxis, speziell von seiten der Zahnärzte,
kaum Glauben finden, obgleich R. Breuer
in seiner weit umfassenden Publikation
Sklerose verursacht/ obgleich Krehl im
Jahre 1910 eindringlich darauf hinwies;
Dabei läßt sich nichtleugnen, daß diese
Therapie auf recht schwachen Füßen
steht und eigentlich das Produkt einer
ehrwürdigen Tradition ist. Die dies¬
bezügliche Rundfrage Schwalbes an
die hervorragendsten Kliniker führte
auch zu keinem sicheren Ergebnis. Es
ist selbstverständlich, daß der leiseste
Verdacht einer luetischen Erkrankung
die jodanwendung selbst auf die Gefahr
eines Miserfolges hin berechtigt. Sie ist
und bleibt die Domäne der Jodtherapie
und hat offenbar den guten Ruf des Jod
als ,,Gefäßmittel“ begründet. Aber auch
in solchen Fällen kann die Jodüber-
empfindlichkeit von seiten der Schild¬
drüse den therapeutischen Effekt durch¬
kreuzen.
schon im Jahre 1900 in ähnlichem Sinne
gewarnt hatte, so möchten wir auf den
wenig bekannten Fall von Gautier hin-
weisen, wo in gleicher Weise nach zwei¬
maliger Jodeinpinselung des Zahnfleisches i
ein schwerer Hyperthyreoidismus auftrat j
und zu einem raschen Gewichtsverluste |
von 15 kg führte. Es ist selbstverständ- !
lieh, daß percutane Jodanwendung eben¬
solche Schäden hervorbringen kann. Ja
wir glauben sogar mit anderen Autoren
zu der Vermutung berechtigt zu sein, daß
der Jodgehalt der Seeluft die Ursache
sein mag, daß gewissen Nervösen (Ere-
thiker) der Aufenthalt an der See nicht
bekommt, während sie sich im Hoch¬
gebirge wohl fühlen. Allerdings muß zu¬
gegeben werden, daß die thyreogene Jod¬
empfindlichkeit eine territoriale Eigen¬
schaft sein mag, daß sie z. B. in Österreich,
speziell in Wien, und in-Süddeutschland
häufiger vorkommt als in Norddeutsch¬
land. ; Wie sehr mit ihr in den Alpen¬
ländern gerechnet wird, z. B. in Genf,
ergibt sich aus den Berichten Gautiers,
dessen Vater Jodkali als Kropfmittel in
einer Lösung von 0,10 auf 120 Wasser
verwendete. Davon ließ er täglich einen
Eßlöffel nehmen, eine zweite Flasche erst
nach 14tägiger Pause, was einem Jod¬
kaliverbrauche von 0,20 in vier Wochen
.entsprach. Danach fällt es kaum auf,
daß Oswald in Zürich nach 15 Dosen
0,1 Jodkali innerhalb von 15 Tagen,
also insgesamt nach 1,5 Jodkali, eine
hochgradige, sieben Monate dauernde Er¬
krankung eintreten sah.
Nicht gering ist der Schaden, den die
schablonenhafte Anwendung der Jod¬
salze bei der Behandlung der Arterio-
So kam vor kurzem ein 71 jähriger Herr mit
einem großen Aortenaneurysma in unsere Be¬
handlung, der vor 50 Jahren eine luetische Infekt
tion durchgemacht hatte, an einer charakteristi¬
schen linken Stirnmbandlähmung litt und von
Spezialisten eine Jodkur verordnet erhielt. Da
er jodempfindlich war — die Schilddrüse war
übrigens etwas vergrößert — magerte er rapid
bis zu einem Gewichtsverlust von weit über 10 kg
ab und bot die Zeichen eines ausgeprägten Hyper¬
thyreoidismus, der die vom Aneurysma veran-
laßten Beschwerden in unangenehmer Weise er-
i höhte. Namentlich die hochgradige Erregung und
die Tachykardie gaben dem Patienten viel zu
i schaffen. Mit dem Aussetzen der Jodtherapie
besserte sich langsam der Zustand, während eine
i Fortsetzung derselben das Leben des Kranken
1 wahrscheinlich mehr bedroht hätte als das An¬
eurysma. Von besonderem Interesse war es, daß
sein 18jähriger Sohn an einer Schilddrüsenaplasie
litt und lange Zeit Schilddrüsentabletten mit
großem Erfolge nahm!
Wie soll man sich aber die Jodwirkung
bei der vulgären Form der Arteriosklerose
vorstellen? Die Blutdruck herabsetzende
respektive gefäßerweiternde Wirkung ist
längst widerlegt und die seit G. See
eingebürgerte These, ,,das Jod sei die
Digitalis der Gefäße“, unhaltbar ge :
worden. Die moderne süddeutsche Schule
(Romberg, Ottfr. Müller) hält an der
Herabsetzung der Viscosität des Blutes
durch Jod fest und macht sie zum Angel¬
punkte der Jodwirkung bei Arterio¬
sklerose. Abgesehen davon, daß diese
Behauptung vielfach bestritten wird, wäre
selbst von der gegebenen Tatsache zum
therapeutischen Effekt noch ein weiter
Weg. Dann hat Lehndorff auf Grund
von Tierversuchen als haemodynamische
Jodwirkung eine Blutdrucksteigerung
durch Erhöhung des Schlagvolumens des
Herzens nachgewiesen und daraus das
Wesen einer rationellen Jodtherapie ab-
Februar
Die Therapie der
geleitet. „Durch Beschleunigung der
Blutcircuiation und consecutive bessere
Durchblutung der erkrankten Organe
wird allein schon sicher jede Resorption
befördert und bei Infektionskrankheiten
die Autoimmunisierung erleichtert, daher
der günstige Erfolg. Die ohnehin schlecht
begründete Hypothese von einer speci-
fischen Wirkung des* Jods auf Krank¬
heitserreger und Krankheitsprodukte
können wir dann fallen lassen.“
Boruttau hat neuestens die Richtig¬
keit der Lehndorff sehen Versuche an¬
erkannt, dagegen die daraus gezogenen
Schlüsse abgelehnt und die spezifische
Beeinflussung in den Vordergrund ge¬
stellt, wie sie. durch erhöhte Jodspeiche¬
rung in erkrankten Geweben und schon
im normalen lymphoiden System nahe¬
gelegt wird. Auf Grund seiner Tier¬
versuche mit lang fortgesetzter Einver¬
leibung kleiner Jodmengen bestätigte er
nämlich, daß die überwiegende Menge
des Jod prompt ausgeschieden wird, daß
organische Träger von Jod in beschränk¬
tem Maß nur der Lymphapparat be¬
ziehungsweise die weißen Blutkörperchen
seien und die Schilddrüse ihre elek-
tive Jodaufnahme auch gegenüber
kleinsten Jodmengen bewähre.
Soweit die wichtigsten theoretischen
Stützen, für die Berechtigung der Jod¬
therapie der Arteriosklerose. Die Meinung
vieler Kliniker und Praktiker geht nun
dahin, daß das Jod bei manchen Fällen
von Angina pectoris und cerebraler Ar¬
teriosklerose sich bewähre. Diese Meinung
ist allerdings mehr der Ausdruck einer
Art Gefühlsstatistik, da es ja offenkundig
ist, daß die Arteriosklerose in ihrem Ver¬
lauf selbst bei Angina pectoris oft Jahre
hindurch Remissionen zeigt und kausal¬
therapeutische Schlüsse unter solchen
Umständen trügerisch sind. Bei jedem
therapeutischenHeilplan gegen dieArterio-
sklerose und ihre Folgeerscheinungen wird
der Kranke von seinem Arzte in erster
Linie aus der vita major des täglichen
Lebens in das Schonungsgebiet einer
vita minor gewiesen und diese Tatsache
wird ihm durch Befolgung von thera¬
peutischen Maßregeln jeder Art — in-
tramittierende Jod- und Theobrominkur,
lactovegetabilische Diät e.e. — immer
wieder zum Bewußtsein gebracht. Wir
möchten diese pharmonologische Psycho¬
therapie (ohne natürlich gewisse pharma-
kodynamische .Wirkungen zu leugnen)
nicht unterschätzen und glauben, daß
sie selbst der erfahrenste Arzt nicht ent¬
Gegenwart 1917. 47
behren kann 1 ). Gerade die Jodtherapie
gehört zum ältesten Rüstzeug der Arteri.o-
skleriosenbehandlung und ist im Volks¬
bewußtsein förmlich festgewurzelt, der
Arzt kann nicht anders als mit der
Strömung gehen. Aber darin eben liegen
die Gefahren dieser Behandlung, denn
sie rechnet zu wenig mit der Häufigkeit
der thyreogenen Jodidiosynkrasie. Da¬
rum ist es von Nutzen auf Anhaltspunkte
der Vorsicht hinzuweisen, die nach unserer
Erfahrung die Unterlassung der Jod¬
therapie zur Pflicht machen.
In erster Linie müssen alle Kranken
mit vergrößerter Schilddrüse ausgenom¬
men werden, denn sie neigen mit einer
gewissen Regelmäßigkeit zum Jodhyper-
thyreoidismus.
Die Verkleinerung nicht zu großer Kröpfe aut
Jod ohne schädliche Allgemeinerscheinungen wird
so gedeutet, daß es sich um jodarme Schilddrüsen
handelt, bei denen die Vergrößerung eben auf
eine infolge der Jodarmut eingetretene kom¬
pensatorische Hyperplasie des drüsigen Gewebes
zurückzuführen ist. Da es aber keine Merkmale
dafür gibt, so hält ein Mann wie Kocher in der
Regel den operativen Eingriff für schonender als
die medikamentöse Behandlung.
Als der Jodempfindlichkeit verdächtig
erscheinen alle „Erethiker“, nervös erreg¬
bare, vasomotorisch leicht ansprechende
Menschen, Individuen mit cardio-vasku-
lärer Prädisposition im Sinne von Fr.
Kraus. Ebenso Menschen, bei denen
sich öfters im Laufe des Lebens große
Körpergewichtsschwankungen bemerkbar
machen und mit einer gewissen Wahr¬
scheinlichkeit auf eine thyreogene Stoff¬
wechselbeeinflussung hinweisen. Das
weibliche Klimakterum möchten wir für
die Jodtherapie ganz ausgeschlossen
wissen, da Frauen in diesem Lebensalter
an und für sich zum Hyperthyreoidismus
und zum Aufflackern alter Basedow¬
zustände neigen. Hier sei aus der neu¬
esten Literatur die treffende Beobachtung
Oswalds angeführt, ,,daß jodempfind¬
liche wie auch schilddrüsenempfindliche
Menschen immer Läsionen des Nerven¬
systems zeigen, „neuropathische Kon¬
stitutionen“ oder auch vorübergehend
durch geistige Überanstrengung oder son¬
stige Überreizung in ihrem Nervensystem
geschwächt sind, während gerade das
Fehlen einer Disposition bei den Re¬
fraktären auffällt. Bei nierenkranken Ar-
teriosklerotikern verbietet sich die Jod¬
medikation von selbst.
*) Den psychischen Faktor bei der Entwick¬
lung und Behandlung der Arteriosklerose hat ins¬
besondere Max Herz immer wieder in den Vor¬
dergrund gestellt.
48
Die Therapie der Gegenwart, 1917.
Februar
An der Hand dieser Leitsätze werden
in der Praxis Jodschaden leicht ver¬
mieden und andererseits jene Fälle richtig
eingeschätzt werden, wo Arteriosklerose
und Jodthyreoidismus in ein schweres
Krankheitsbild zusammenfließen, wie wir
es bei der Besprechung des „Alters-
thyreoidismus“ (Kongreß für innere Med.
1914) auseinandergesetzt haben. Der
Arteriosklerose wird der künst¬
liche Hyperthyreoidismus förmlich
aufgepfropft, und statt durch die
Jodtherapie eine Milderung zu er¬
fahren, werden die arterioskleroti¬
schen Krankheitserscheinungen ge¬
radezu akutisiert und durch die
thyreogene Tachykardie imVerein
mit der oft hochgradigen Abmage¬
rung in erster Linie das Herz be¬
droht.
Und nun wollen wir für jene Gruppe
von Arteriosklerosen, bei der sich nach
klinischer Erfahrung Jod bewähren soll,
einen Wirkungsmechanismus in Anspruch
nehmen, der sich mit der geläufigen Theorie
der Jodwirkung nicht deckt. Wir glauben
nämlich, daß hier die „thyreotrope“
Eigenschaft des Jod in Betracht kommt,
daß der ezcessiven krarikmachenden
Wirkung bei jodempfindlichen Individuen
eine günstige therapeutische ausbeutbare
Jodwirkung gegenübergestellt werden
kann bei Menschen, deren Schilddrüsen¬
funktion im Alter des Abbaues in Ab¬
nahme begriffen sein mag, eine Lebens¬
epoche, die ja mit der Zeit der arterioskle¬
rotischen Veränderungen im Organismus
beiläufig zusammenfällt. Die Bedeutung
der Schilddrüse als inneres Sektretions-
organ für den Gesamtorganismus ist ja
im Prinzip geklärt: Wir wissen, daß sie
durch ihr Hauptprodukt, das Jodthyreo¬
globulin, den Gesamtstoffwechsel erhöht,
das Körperwachstum fördert und die
Psyche beeinflußt. Wir folgen des
weiteren gerne den klaren Ausführungen
A. Oswalds mit der Feststellung, daß
sie die Anspruchsfähigkeit weiter Bezirke
das autonomen und sympathischen Ner¬
vensystems erhöht, daß dies für die Herz-
und Blutgefäße versorgenden Nerven
(Vagus, Depressor) nachgewiesen ist und
daß ihre sensibilisierende Wirkung auf
das Adrenalin feststeht. ,,Die Förderung
des Stoffwechsels scheint dabei auf eine
allgemeine Zellbeeinflussung hinzudeuten.
Es läßt sich denken, daß sowohl der
Nervenapparat wie die Erfolgsorgane
mehr ansprechen und daß beide es tun,
weil die allgemeine Zelltätigkeit verstärkt
ist.“ Oswald greift unabhängig von
Mik-ulicz den treffenden Vergleich auf/
als sei die Schilddrüse als eine Art Ver¬
stärkungsorgan, eine Art,,Multiplikator“,
zu betrachten, der in das Nervensystem
eingeschaltet ist, von ihm Reize empfängt,
und in Gestalt einer Reizverstärkung ins¬
besondere an das vegetative Nerven¬
system wieder abgibt.
Gerade diese hohe Valenz der Schild-
; drüse im harmonisch geschlossenen Kreise
der inneren Sekretionsorgane läßt uns
| daran denken, daß von ihr aus auf dem
Wege der specifischen thyreotropen Jod¬
wirkung gewisse Formen* der Arterio¬
sklerosegünstigbeeinflußtwerden können.
I Wir weisen hauptsächlich auf die tor-
1 piden Fälle hin mit langsamer, träger
Herztätigkeit ohne auffallende vasomoto¬
rische Reizbarkeit, ohne besondere psy-
; chische Erregbarkeit, ohne Neigung zur
! Abmagerung wie sie im fettleibig-anämi-
| sehen Typus der Arteriosklerose zum
| Ausdruck kommt (Arteriosklerosis prae-
: cox?). Hier scheint uns die Förderung
des Zellstoffwechsels und Hebung des
Tonus im vegetativen Nervensystem auf
thyreogenem. Wege eine Möglichkeit zu
; bieten, retrograde Vorgänge des Abbaues
; im Organismus günstig zu beeinflussen. ■
Dabei steht unsere Auffassung nicht
ohne Analogie da. So will Schmide-
berg die „resorbierende“ Jodwirkung
möglicherweise auf eine Steigerung des
Stoffwechsels zurückführen und die gün¬
stige, scheinbar spezifische Jodtherapie
der Skrophulose dürfte — eine Andeutung
findet sich z. B. bei Horst-Meyer (Exp.
, Pharmakologie) — für viele Fälle mit
der Anregung einer herabgesetzten Schild¬
drüsenfunktion in Zusammenhang zu
bringen sein. Auch Boruttau stellt sich
in der oben erwähnten Kritik der Lehn¬
dorff sehen Versuche auf den Standpunkt,
daß die hämodynamische Wirkung des
Jodions wohl in einer „Reizung“, sei
es des Myokards, sei es der nervösen
Apparate des Herzens zu suchen ist,
j'vielleicht „in einer Erhöhung der Er-
l regbarkeit für physiologische Reize“. Eine
| specifische Einwirkung des Jod auf
| die Schilddrüse, diesen Multiplikator des
vegetativen Nierensystems, ist eben etwas
j analoges, nur daß noch das wichtige
: Moment der allgemeinen Zellbeeinflussung
durch Steigerung der Oxydationsenergie
j hinzukommt. In diesem Sinne ist die
I Antwort Chvosteks auf die Schwalbe-
j sehe Rundfrage bezüglich der Jodtherapie
1 der Arteriosklerose von besonderem In-
Februar Die Therapie der Gegenwart 19i7. 49
teresse: „Möglicherweise kommt der Ein¬
fluß auf dem Umwege über die endokrinen
Drüsen zustande, wofür die nahe Be¬
ziehung des Jod zur Schilddrüse, den
Beziehungen der Blutdrüsen zueinander
und ihre Beziehungen zur Beschaffen¬
heit und Inervation der Gefäße sprechen
würde.“ Eine Anschauung, die sicherlich
dem Wesen der Sache näher kommt als
die Andeutung von Mathes bei dem¬
selben Anlasse, daß eine Wirkung des
Jod auf das sympathische System nicht
ausgeschlossen sei.
Im Vergleich zu den wichtigsten
symptomatischen Heilmitteln, dem
Theobromin und den Nitriten, wäre die
Jodwirkung bei gewissen Fällen von
Arteriosklerose als eine mehr ätio¬
trope aufzufassen, indem durch
sie 1 ) Kräfte der inneren Sekretion
aufgeboten und in eingreifende
strophische Reize“ — im Sinne der
älteren Vorstellung — umgesetzt wer¬
den. Und auf diese kommt es in letzter
Linie vielleicht an, wie man sich auch
immer zu dem komplexen Problem der Pa¬
thogenese der Arteriosklerose stellen mag.
Aber immer wieder sei zur größten
Vorsicht bei der Jodmedikation geraten
nicht nur bezüglich der Indikation, son¬
dern auch bezüglich der Dosierung 2 ).
Am besten empfiehlt sich der Stand¬
punkt’Fr. v. Müllers, drei- bis viermal
im Jahre vier bis sechs Wochen täglich
kleinste Gaben von 0,1—0,2 Jodkali oder
| ähnliche organische Präparate zu ver-
! ordnen, vorausgesetzt, ,,daß die erste
j Jodkur gut ausfällt.“ ,,Denn die Zahl
| der Fälle, in welchen Jod schädlich wirkt,
| scheint mir erheblich größer zu sein als
j die Zahl derjenigen Fälle Arteriosklerose
nicht syphilitischer Art, in welchen das
Jod günstig ist.“ Auch Chwostek be¬
fürwortet recht kleine Dosen, etwa 0,1 bis
0,2 Natrii jodati pro die jeden zweiten
Tag durch Monate eventuell Jahre.
Wer also sicher gehen will, möge zu¬
nächst Jodsalze in Centigrammdosen ver¬
ordnen — etwa nach der oben mitgeteilten
Vorschrift von Gautier — und sich im
Sinne Fr. v. Müllers in jedem einzelnen
Falle förmlich einfühlen. Dann wird mit
einer gewissen Sicherheit das Gespenst
des Jodthyreoidismus gebannt werden
können, das, der Arteriosklerose einmal
aufgepfropft, statt ihr zu steuern, sie
förmlich ins Rollen bringt.
Die wichtigsten Literaturangaben:
R. Breuer, Beitrag zur Ätiologie der Basedow-
I Krankheit und des Thyreoidismus (W. kl. W.
I 1900). — L. Krehl, „Rat zur Vorsicht beiGe-
I brauch des Jod“ (M. m. W. 1910). — Th. Kocher,
„Jodbasedow“ (Arch. f. klin. Chir. 1910). —
J. Schwalbes Rundfrage: Welchen Einfluß hat
die Jodtherapie auf die Arteriosklerose? (D. m. W.
j 1914). — C. Kraus, „Altersthyreoidjsmus“ (B.
! d. Kongreß f. inn. Medizin 1914). — Arno Lehn-
dorff (Arch. f. exper. Path. u. Ther. 1914, Bd.76).
• —A. Oswald, Die Schilddrüse in Physiologie und
! Pathologie (Veit & Co., Leipzig 1916). — Borut-
i tau, „Jod bei Arteriosklerose“ (Zschr. f. exper.
| Path. u. Ther 1916, H. 2). — H. Meyer u. R. Gott¬
lieb, Die experimentelle Pharmakologie.
Perkaglycerin und Tego-Glycol, zwei Glycerin-Ersatzmittel.
Von Dr. Felix
Als durch die erhöhten Anforderungen
des Krieges und die beschränkte Zufuhr
von Rohstoffen ein Mangel an Glycerin
nicht nur in der Industrie, sondern auch
in der pharmazeutischen Praxis sich fühl¬
bar machte, mußte es auch vom ärztlichen
Standpunkt mit Freuden begrüßt werden,
daß es nach dem Urteile namhafter
Autoren der chemischen Fabrik Win¬
kel am Rhein gelungen sei, für dieses in
der inneren und äußeren Medizin oft un-
x ) Durch Vermittelung der Schilddrüse.
*) Die tägliche Erfahrung lehrt, daß von Re¬
fraktären große Joddosen vertragen werden, wie
sie bei der Behandlung der Lues, der Aktino-
mycose, des Asthmas und besonders in der Chir¬
urgie verordnet werden. Immerhin wäre eine
Revision bezüglich des Auftretens eines mehr oder
minder deutlichen Jodthyreoidismus erwünscht.
Er kann sich nur in Abmagerung, nur in Herz¬
störungen oder in ausschließlich nervösen Stö¬
rungen äußern.
Mendel-Essen.
entbehrliche Heilmittel in dem Perka¬
glycerin einen vollwertigen Ersatz zu
schaffen. Nach den zahlreichen Publi¬
kationen zu urteilen 1 ), schien sogar das
Ersatzpräparat neben der gleichen Ver¬
wendbarkeit und der vollen Wirkung des
Glycerins noch besondere Fähigkeiten zu
besitzen, die ihm nach mancher Richtung
hin für alle Zeiten den Vorzug vor dem
ursprünglichen Stoff gesichert hätten.
Auffällig war es nur, daß keine der
zahlreichen Veröffentlichungen über
Perkaglycerin auch nur ein Wort über
seine chemische Zusammensetzung
verlauten ließ, deren genaue Kenntnis
doch „conditio sine qua non“ jeder medi¬
zinischen Anwendung bilden muß und
einzig und allein eine Erklärung für die
pharmakologischen Fähigkeiten geben
*) Siehe Literatur Th. d. G. Mai, Juli 1916.
7
30
Die Therapie der Gegenwart 1917. ■ i Februar
kann, die dem neuen Arzneistoff zuge¬
schrieben werden.
Selbstverständlich war es für den
Chemiker von Fach ein leichtes, festzu¬
stellen, und es ist auch durch Bachem 1 )
bereits bekanntgegeben worden, daß
dieser dem Glycerin äußerlich so täu¬
schend ähnliche Stoff in seiner chemischen
Zusammensetzung völlig von der des
Glycerins abweicht, daß es sich nicht
um einen dreiwertigen Alkohol, als
welchen wir das ,Glycerin kennen, sondern
um eine konzentrierte Salzlösung
handelt und zwar um ein sogenanntes
Lactat, ein Salz der einbasischen
Milchsäure, deren Alkalisalze sehr leicht
löslich, zum Teil zerfließlich und daher
schwer krystallisierbar sind. Gießt man
zum Perkaglycerin einen Tropfen Sal¬
petersäure, so fallen Krystalle aus, die
unter dem Mikroskop schöne prisma¬
tische Gebilde darstellen und deswegen
als das Kalisalz der Salpetersäure anzu¬
sprechen sind. Perkaglycerin ist also
milchsaures Kalium und aus dieser
chemischenZusammensetzung sind sowohl
seine Vorzüge als auch seine Nachteile
gegenüber dem Glycerin herzuleiten, aber
auch mancherlei Wirkungen leicht zu
deuten, die einigen Autoren bei der äußer¬
lichen und innerlichen Verabreichung des
Mittels als besonders bemerkenswert auf¬
gefallen sind.
Das milchsaure Kalium, das an der
Luft zu einer syrupähnlichen Flüssigkeit
zerfließt, hat vor^ allem eine frappante
physikalische Ähnlichkeit mit dem
Glycerin; es ist wie dieses wasserklar, dick¬
flüssig, von noch stärkerer Viscosität
als das Glycerin, sehr hygroskopisch
und in jedem Verhältnis mit Wasser und
Alkohol mischbar.
In all den Fällen, in denen wir von den
physikalischen Fähigkeiten des Gly¬
cerins, seiner Viscosität, seiner wasser¬
anziehenden Wirkung Gebrauch machen
wollen, kann das Perkaglycerin uns
einen vollwertigen Ersatz bieten. So¬
bald aber chemische Wirkungen des Gly¬
cerins in Frage kommen, werden wir bei
jeder einzelnen Art der Anwendung die
chemisch völlig abweichende Zusammen¬
setzung der beiden Stoffe berücksichtigen
müssen, die ihre pharmakologischen Wir¬
kungen bedingen muß. Dieses gilt nicht
nur für die innerliche Darreichung der
beiden Stoffe, sondern auch für die
äußerliche und rectale Anwendung.
*) M. in. W. 1916, Nr. 41, S. 1471.
Rein physikalisch soll das Perkagly¬
cerin wirken, wenn es als Gleitmittel
zum Schlüpfrigmachen von Gummi- oder
Metallkathetern, Bougies und anderen In¬
strumenten benutzt wird, und es ist für
diesen Zweck nicht nur imstande, das
Glycerin zu ersetzen, sondern wir können
sogar behaupten, es übertrifft das
Glycerin noch an Schlüpfrigkeit.
Soweit unsere Erfahrungen reichen, greift
es als neutrales Salz weder das Metall der
Instrumente, noch das Gummi an, ^s
scheint sogar das letztere genau so gut zu
konservieren wie das Glycerin.
Anders wird es sich natürlich infolge
seiner chemischen Zusammensetzung als
konzentrierte Salzlösung gegenüber den
Schleimhäuten verhalten, mit denen
die durch Perkaglycerin schlüpfrig ge¬
machten Instrumente in Berührung kom¬
men. Auf die Schleimhaut der Harn¬
röhre wirkt es, besonders wenn es unver¬
dünnt angewendet wird, reizend und da¬
durch schmerzerregend, ein Ubelstand,
der dadurch beseitigt werden kann, daß
wir das Perkaglycerin zur Hälfte mit
Wasser verdünnen. Dadurch wird die
Viscosität zwar vermindert, aber sie bleibt
doch für den praktischen Gebrauch aus¬
reichend.
Vermischt man das Perkaglycerin,
wie es bei äußerer Anwendung meist ge¬
schieht, mit anderen Medikamenten, so
wird es sich diesen gegenüber, seiner che¬
mischen Konstitution entsprechend, in
vielen Fällen anders verhalten wie
Glycerin, und es wird bei jeder Mischung
und Lösung, die wir statt mit Glycerin mit
Perkaglycerin herstellen, hierauf Rück¬
sicht genommen werden müssen. Einzelne
Stoffe, so z. B. Gerbsäure, Ichthyol,
Pantopon und andere Alkaloide, die
sich im Glvcerin lösen, geben mit Perka¬
glycerin Fällungen, ebenso läßt sich Perka¬
glycerin mit Gelatine, wohl infolge des
ausfallenden, schwer löslichen milchsauren
Kalks, oder mit Seife nur schwer zu¬
sammen verarbeiten.. In der Kosmetik,
in der das Glycerin eine große Rolle spielt,
vermag das Perkaglycerin, besonders in
verdünntem Zustande, einen vollwertigen
Glycerinprsatz für viele Präparate so
lange zu bilden, als diese an der un¬
versehrten Haut oder Schleimhaut
Verwendungfinden, und das Perkaglvcerin,
wie bei den Instrumenten, nur als Gleit¬
mittel dient, umdasPräparatgeschmeidig
zu machen. SchonbeikleinstenEpi thel-
defekten wirkt das Perkaglycerin, wie
wir es von einem konzentrierten Kalisalz
nicht anders erwarten können, reizend
und entzündungserregend, je mehr es ver¬
dünnt ist, um so weniger natürlich.
In der Wundbehandlung und der
Dermatologie muß das' Perkaglycerin
eine von dem Glycerin völlig abwei¬
chende Wirkung ausüben. Bei längerer
Anwendung wirkt es, wie auch aus der
Veröffentlichung von Nagelschmidt 1 )
hervorgeht, sogar reizend auf die noch
unversehrte Haut und ruft starkes
Brennen hervor.
Bei trockenen, inveterierten Ek¬
zemen, bei Psoriasis mit starker Schup¬
penbildung, wirkt es in hohem Grade auf¬
weichend und lösend auf Schuppen und
Borken, in manchen Fällen sogar besser
wie Glycerin, gerade wegen seiner Reiz¬
wirkung, während bei akuten, ent¬
zündlichen Erkrankungen der Haut |
(Ekzem, Erythem, Erysipel) seine An- !
Wendung aus demselben Grunde auch in |
verdünntem Zustande kontraindiziert I
erscheint. In verschiedenen Fällen von
akutem Ekzem, in denen das Perka¬
glycerin auf der einen Seite, Glycerin auf
der anderen Seite verordnet wurde, zeigte
eine Verschlimmerung der ersteren klar
die Reizwirkung des Arzneistoffes.
Zusammenfassend müssen, wir sagen,
daß das Perkaglycerin in der Dermato¬
logie und Kosmetik nur als Gleit¬
mittel und zum Geschmeidigmachen
einer Salbenmischung und als Lösungs¬
mittel für bestimmte Stoffe das Glycerin
ersetzen, daß es aber schon wegen seiner
chemischen Zusammensetzung weder j
bei Wunden noch bei Haut- !
krankheiten als Heil- öder Wundmittel i
in Frage kommen kann, daß es vielmehr j
überall da, wo Epitheldefekte vorhanden j
sind,'die Heilung derselben eher ver- j
zögert als beschleunigt. j
Aus diesem Grunde bestehen auch
Bedenken, das Perkaglycerin zur Kon- ;
servierung von Lymphe an die Stelle j
von Glycerin zu setzen, wenn es auch, wie j
es die Erfahrung noch erst bestätigen j
muß,. dieselbe konservierende Wirkung !
zu besitzen scheint. Ebensowenig kann !
es an Stelle des Glycerins als Zusatz zu |
Injektionsflüssigkeiten für sub- I
cutane Einspritzungen benutzt werden. ;
Als konzentrierte Kalisalzlösung wirkt ;
es natürlich auch reizend auf .die ;
Schleimhäute. Beim Jodjodkalium- i
Perkaglycerin, das zum Bepinseln der !
Rachenschleimhaut Verwendung finden |
J ) Th. d. G. Mai 1916.
kann, bleibt diese Reizwirkung, abge¬
sehen von dem salzig bitteren Ge-
I schmack, ohne Nachteil. Auch die
| Vaginalschleimhaut verträgt das
Perkaglycerin ohne Schaden, wenn
auch nicht selten leicht blutende Epi¬
theldefekte die Stelle bezeichnen, wo
der mit unverdünntem Perkaglycerin ge¬
tränkte Tampon’ gelegen hat. Aber das
ist beim Glycerin fast ebenso häufig der
Fall.
In der inneren Medizin bleibt das
Glycerin ein wichtiges, oft schwer ersetz-.,
bares Mittel, um besonders bei hilflosen
Kranken in kurzer Zeit mittels kleiner
Injektionen in das Rectum ergiebige,
breiige Stuhlentleerungen zu erzielen. Auf
welcheWeise das Glycerin diese Wirkung
erzielt, ist noch nicht mit Sicherheit fest¬
gestellt. Daß es nicht allein durch
Wasserentziehung wirkt, hat Rei-
singer 1 ) gezeigt, der mit konzentrierter
Natriumsulfatlösung nicht den gleichen
Erfolg erzielte. Am wahrscheinlichsten
trifft die von Obenaus aufgestellte Ver¬
mutung das Richtige, welche annimmt,
daß durch die Resorption des Glycerins
das Darmnervensystem lokal erregt wird.
Dadurch kommt eine der normalen Peri¬
staltik analoge Contractionsreihe zu¬
stande, welche auf dem durch Glycerin
geglätteten Wege den Kot leicht aus¬
pressen kann. Schon hiernach könnte das
Perkaglycerin als konzentrierte Salz¬
lösung auch als Abführmittel das
Glycerin nicht vollkommen ersetzen,
was auch durch die Erfahrung bestätigt
wird. Da die Kalisalze besonders in kon¬
zentrierter Lösung wegen ihres starken
Diffusionsvermögens eine heftige Reiz¬
wirkung auf Schleimhäute ausüben, so ruft
reines Perkaglycerin, wie nicht an¬
ders zu erwarten ist, zwar Stuhl, aber
auch einen starken schmerzerzeugen¬
den Reiz (Schleim- und Blutabgang) und
nicht selten sogar nur diesen hervor. Bei
mit Wasser verdünntem Perkagly¬
cerin ist zwar der entzündungserregende
Effekt bedeutend gemildert, äber auch die
Wirkung auf denStuhl viel unsicherer,
und sobald kleine Mastdarmfissuren vor¬
handen sind, was bei Obstipation nicht
selten der Fall ist, auch dann noch
schmerz- und krampferregend.
Innerlich findet das Glycerin heute
wohl kaum noch Anwendung, zumal seine
Wirkung, bei Nierensteinkoliken den Ab-
x ) Eulenburgs Realencyklopädie, II. Aufl.,
Bd. XXI, S. 119.
7 *
52
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Februar
gang der Steine zu erleichtern; mehr als
zweifelhaft erscheint. Daß das Perka-
glycerin, welches nicht, wie das in großen
Dosen verabreichte Glycerin im Harn aus¬
geschieden, sondern als Lactat im Orga¬
nismus völlig abgebaut wird, hier nicht
die Stelle des Glycerins vertreten kann,
ist selbstverständlich. Mayer^), der das
Perkaglycerin biszulöÖgprodie inner¬
lich verabreicht hat, sah deswegen, wie zu
erwarten war, bei Nierenkoliken kei¬
nen Erfolg, konstatierte aber bei dieser
Medikation eine verstärkte Diurese
und stark alkalische Reaktion des
vorher sauren Harnes. Auf Grund
dieser Beobachtungen empfiehlt Mayer
das Perkaglycerin zur Bekämpfung
der Acidosis bei Diabetikern. Diese
für eine dem Glycerin ähnliche Substanz
auffällige pharmakodynamische Wirkung
erklärt sich leicht aus ihrer chemischen
Zusammensetzung. Die Milchsäure und
ihre Salze werden völlig im Organismus
zerstört und innerlich gegeben oder in
die Blutbahn eingeführt, außerordent¬
lich rasch in Kohlensäure beziehungs¬
weise kohlensaure Salze umgewandelt,
welche, in den Harn übertretend, den¬
selben alkalisch machen. Auch die von
Mayer beobachtete diuretische Wir¬
kung so großer Salzmengen ist bei ge¬
sunden Circulationsorganen selbstver¬
ständlich, besonders wenn es sich, wie
beim Perkaglycerin, um eines der orga¬
nischen Kalisalze handelt,deren harn¬
treibende Wirkung pharmakologisch
feststeht und deren gebräuchlichster Re¬
präsentant das Kalium aceticum dar¬
stellt. Mayer hat seinen Patienten bis zu
150 g Perkaglycerin pro die verabreicht!
In Anbetracht der bekannten schädigenden
Wirkung der Kalisalze auf das Herz und
des starken Reizes, den die leicht diffu-
siblen Kalisalze im Vergleiche mit den
korrespondierenden Natronsalzen auf
Schleimhäute, und zwar besonders auf
die Schleimhaut des Magendarmkanals
ausüben, muß es bedenklich erscheinen,
so kolossale Quantitäten intern zu ver¬
abreichen; denn wenn auch die rasche
Abfuhr der Kalisalze durch die Nieren
eine Akkumulation tödlich auf das Herz
wirkender Mengen zu verhindern ver¬
mag, so ist doch von der wiederholten
Anwendung so massiver Dosen von Kali¬
salzen trotz der relativen Ungiftigkeit des
Perkaglycerins eine Schädigung lebens¬
wichtiger Organe zu befürchten.
Wir sehen, wie notwendig es für den
Arzt ist, einen genauen Einblick in die
chemische Zusammensetzung des Arznei¬
mittels sich zu verschaffen, ehe er zu
seiner therapeutischen Anwendung schrei¬
tet. Da also hiernach auch die interne
Anwendung nicht als eine empfeh¬
lenswerte Medikation bezeichnet wer¬
den kann, so bleibt für das Perkaglycerin
als Arzneimittel und als Ersatzmittel für
das Glycerin nur als wichtigste Eigen¬
schaft seine Viscosität und seine hygro¬
skopische Wirkung übrig, die es be¬
fähigt, als Gleitmittel, Konservie¬
rungsmittel für Gummi und im Notfälle
im verdünnten Zustande auch als r e c t a 1 e s
Abführmittel das Glycerin zu ersetzen.
Auf einen weiteren brauchbaren Gly¬
cerinersatz für medizinische Zwecke, das
Glycol, hat bereits Bachem 1 ) in einer
vorläufigen Mitteilung aufmerksam ge¬
macht, der auch als erster das Perka-
| glycerin als konzentrierte Lösung von
i milchsaurem Kalium kennzeichnete. Das
! Glycol ist im Gegensätze zum Gly¬
cerin, das einen dreiwertigen Alkohol
darstellt, ein zweiwertiger, nämlich
Äthylen-Glycol C 2 H 4 <qJ^. Es bildet
also chemisch eine Zwischenstufe
zwischen Alkohol und Glycerin.
Es ist kein neuer Stoff, sondern wurde
bereits im Jahre 1856 von Würtz
entdeckt. Seine Herstellung war aber
bisher so schwierig, daß nur kleine Men¬
gen davon in den Handel gebracht wur-
! den, die seine praktische Verwendung
I wegen des hohen Preises ausschlossen. Der
chemischen Fabrik Th. Goldschmidt
A. G. in Essen ist es nun durch ein pa¬
tentiertes Verfahren möglich geworden,
das Glycol fabrikmäßig in großen
Mengen herzustellen und zu dem billigen
Preise von 5 M. pro Kilogramm in den
Handel zu bringen. Dieses Glycol, als
Tego-Glycol bezeichnet, ist eine leicht
gelblich gefärbte, fast geruchlose, sü߬
lich schmeckende Flüssigkeit, die in allen
ihren Eigenschaften dem chemisch eng
verwandten Glycerin sehr nahe steht.
Es ist mit Wasser und Alkohol in allen
Verhältnissen mischbar, in Äther schwer
löslich, aber selbst ein gutes Lösungs¬
mittel für viele unserer gebräuchlich¬
sten Medikamente, auch für solche, die
durch Perkaglycerin ausgesalzen wer¬
den und sich deswegen mit ihm nicht
; mischen lassen, insbesondere auch für
J ; M. Kl 1916, Nr. 34.
x ) M. m. W. 1916, Nr. 41.
Februar
Die Therapie der Gegenwart 1917.
53
organische Stoffe, wie z. B. Gelatine,
was für die Herstellung von Supposi-
torien und Kapseln von Bedeutung ist.
Seine Verwendungsfähigkeit auf den
verschiedensten Gebieten der Technik
ist bereits erprobt, während auf seine
Anwendung in der inneren und äuße¬
ren Medizin wie der pharmazeuti¬
schen Praxis überhaupt bisher nur von
Bachem in einer vorläufigen Mitteilung
aufmerksam gemacht wurde. Nach zahl¬
reichen Versuchen, die ich mit Tego-
Glycol, sowohl in äußerlicher wie in
rectaler Anwendung, anstellte, hat es
sich als ein vollwertiger Ersatz des
Glycerins erwiesen. Es ist zwar nicht
so dickflüssig und besitzt auch nicht
einen so hohen Grad,von Viscosität
wie das Glycerin und das Perkaglycerin,
aber dieser ist völlig ausreichend für
diejenigen Zwecke, die für die ärzt¬
liche Verwendung in Frage kommen.
Metall- wie Gummiinstrumente wer¬
den, mit Tego-Glycol befeuchtet, so
schlüpfrig, daß sie ohne Schwierigkeit enge
Kanäle passieren. Auch greift es weder
Metall noch Gummi an, sondern kon- !
serviert das letztere vermöge seiner j
schweren Verdunstbarkeit und seiner |
hohen Fähigkeit, Wasser anzuzie- j
hen, worin es sogar das Glycerin und das j
Perkaglycerin übertrifft. Auch als Kon- <
servierungsmittel kommt es sicher !
dem Glycerin gleich. Zusätze von Tego- 1
Glycol zum Harne halten diesen sogar I
länger schimmelfrei als gleich starke i
Zusätze von Glycerin. Deswegen unter- j
liegt es auch keinem Zweifel, daß es ebenso !
wie Glycerin zur Konservierung der ;
Kuhpockenlymphe verwendet werden |
kann, wenn auch praktische Versuche j
darüber noch nicht vorliegen. j
In der Kosmetik ist es zur Herstel- j
lung von Pasten, Salben, Zahncreme und
anderem ebenso geeignet wie Glycerin, da
es ein vorzügliches Mittel darstellt, Sal¬
bengrundlagen geschmeidig zu machen.
Bei aufgesprungenen Händen wirkt
es genau so günstig wie Glycerin. Das (
gleich nach dem Einreiben auftretende
Brennen ist sogar geringer und schneller
vorübergehend, ein Beweis, daß Glycol
weniger reizend auf Wunden wirkt wie
Glycerin und deswegen im Gegensätze zu !
Perkaglycerin auch bei Epitheldefek- '
ten der Haut und der Schleimhäute Ver- |
wendung finden kann.
Wegen dieser geringen Reizwir¬
kung auf die gesunde wie auf die
kranke Haut habe ich es wiederholt bei '
akuten Entzündungen derselben mit
dem Erfolge angewandt, daß Rötung,
Schwellung, Schmerzhaftigkeit und Juck¬
reiz schnell zurückgingen, besonders wenn
mit der Glycoleinreibung eine indifferente
Puderbehandlung kombiniert 4 wurde.
Gleichartige Anwendung von "Glycerin
oder Perkaglycerin erzielten statt eines
Erfolges meist sogar eine Verschlimme¬
rung der Entzündung, auch bei demselben
Patienten.
Bei der nahen Beziehung des Gly-
cols zum Alkohol lag es nahe, dasselbe
wie diesen auch zu feuchten Dauer¬
verbänden gegen in oder direkt unter
der Haut sich abspielende infektiöse
Entzündungen zu erproben, so gegen
Furunkeln, Phlegmonen, Abscesse, Phle¬
bitis, Lymphangitis, Lymphadenitis. In
einer Reihe derartiger Erkrankungen wur¬
den auf die erkrankte Stelle mit Glycol ge¬
tränkte Mullstücke gelegt und mit undurch¬
lässigem Stoffe bedeckt und, mit Watte
und Binde fixiert, 24 Stunden liegen ge¬
lassen; in keinem Falle trat, eine Rei¬
zung der umgebenden oder bedeckenden
Hautstelle auf, auch wenn der feuchte
Glycolverband mehrere Tage hinterein¬
ander wiederholt wurde. Meist aber war
ein günstiger therapeutischer Ef¬
fekt zu konstatieren, Erweichung des
Furunkels, Stillstand der Phlegmone,
Rückgang der Phlebitis usw. Nach Er¬
öffnung des Eiterherdes wurde dieser mit
glycolgetränkter Gaze leicht tam¬
poniert und hierdurch in kurzer Zeit eine
Abstoßung des nekrotischen Gewebes und
Reinigung der Wundflächen erzielt.
Wird das Glycol adstringierenden oder
antiseptischen Flüssigkeiten, die zu feuch¬
ten Verbänden verwendet werden, zuge¬
setzt, so verhütet es bei starker anti¬
phlogistischer Wirkung in gleicher
Weise wie das Glycerin die Maceration
und Schrumpfung der Haut. Beson¬
ders bewährte sich zu feuchten Verbänden
Rp. Liq. alum. acet
Tego-Glycol . . ca. 50,0
Aqua dest. . . \ . 200,0
Trotz der starken hygroskopischen Wir¬
kung des Glycols verträgt sowohl die
Rachen- und Nasenschleimhaut als
auch die Vagina seine Anwendung ohne
jede Reizwirkung. Mit Glycol getränkte
Vaginaltampons wurden schmerzlos er¬
tragen und riefen keine Schleimhaut¬
erosionen hervor.
Einen vollwertigen Ersatz des Gly¬
cerins bildet das Glycol als per Klysma
verabreichtes Abführmittel. Schon
54 Die Therapie der
geringe Mengen (5—10g), mit einer Spritze |
in das Rectum appliziert, genügen, um j
nach 10—30 Minuten eine reichliche, :
breiige Stuhlentleerung hervorzurufen und j
zwar ohne Schmerzen und ohne Reiz- !
erscheinungen, wie wir sie zuweilen j
nach Glycerin und noch häufiger nach j
Perkaglycerin erleben. Die Wirkung des 1
Glycols auf die Darmschleimhaut ist eine.,
so milde, daß in einem Falle von tief- ;
gehender Fissura ani die Glycolein- i
Spritzungen nicht nur eineabsolut schmerz¬
lose Stuhlentleerung ermöglichten, son- j
dern auch direkt in die Fissur eingelegte
glycolgetränkle Gazestreifen eine auf¬
fallend prompte Heilung derselben be¬
wirkten. Der Erfolg war ein so frappan- j
ter, daß diese Behandlungsmethode als 1
eine wirksame Therapie dieses oft so hart- j
nackigen Übels empfohlen werden kann, i
Die interne Verwendung des Gly- j
cerins spielt in der heutigen Medizin eine i
Gegenwart 191?. Februaf
so nebensächliche Rolle, daß sich bis jetzt
keine Gelegenheit bot, das Glycol nach
dieser Richtung hin einer pharmakologi¬
schen Untersuchung zu unterziehen. Als
feststehend kann aber auch jetzt schon
nach dahingehenden Versuchen behauptet
werden, daß das Glycol, auch intern ver¬
abreicht, ungiftig ist.
Zusammenfassend können wir also das
Tego-Glycol auf Grund seiner physi¬
kalischen und chemischen Eigen¬
schaften als Gleit- und Konservie¬
rungsmittel, für die Behandlung der
Haut, Schleimhaut und Wunden,
ebenso zur rectalen Anwendung als
einen vollwertigen Ersatz des Glyce¬
rins bezeichnen, mit dem es auch in nor¬
malen Friedenszeiten erfolgreich konkur¬
rieren kann, weil es trotz geringerer
Viscosität mancherlei Vorzüge vor dem
Glycerin, besonders aber den der gerin¬
geren Reizwirkung aufweist.
Eine neue Behandlung der Kardiastenosen mit meinen
neuen Kardiasonden und meinen neuen Kardiabougies.
Von Wilhelm Sternberg-Berlin.
Sehr häufig kommt es in der Praxis
vor, daß der an einer Ösophagusstriktur
Leidende allenfalls Leichtflüssiges noch
durch die Striktur ganz bequem subjektiv
passiv hindurchbringen kann, daß aber j
der objektive Untersucher die Verenge¬
rung nicht aktiv intendiert zu passieren
vermag. Daher erscheint die Stenose ob¬
jektiv impermeabel. Impermeabel heißt
dabei nicht etwa, in anatomischem Sinne
der völlige Verschluß der Stenose; viel¬
mehr ist impermeabel bloß ein patho- !
logisch-physiologischer Begriff. Imper¬
meabel im subjektiven Sinne ist die Ste¬
nose, wenn der Kranke nicht einmal mehr
Wasser hindurchbringen kann, imper¬
meabel im objektiven Sinne ist die Ste¬
nose, wenn es dem Untersucher nicht ge- !
lingen will, die Stenose zu überwinden, j
Meist liegt das daran, daß das Lumen der |
Stenose exzentrisch gelegen ist und einen
gewissermaßen stufen- und treppenförmi¬
gen Längsverlauf nimmt. Daher sind
diese beiden Gründe der Impermeabilität !
bei der Therapie in jedem einzelnen Falle 1
zu berücksichtigen. Ich 1 ) habe mehrere
Kunstgriffe angegeben, unter Beachtung
dieser_beiden pathologischen Bedingungen
*) ,,Praktischer Kunstgriff zur Bougierung
impermeabler Ösophagusstrikturen“ (Ther. d.
Gegenw. 1916, S. 5). — „Ein weiterer therapeu¬
tischer Kunstgriff für die Überwindung imper¬
meabler Ösophagusstenosen“ (Ther. Mh. 1917).
i die impermeablen Strikturen erfolgreich
zu überwinden. Ein Kunstgriff ist der,
das Ösophagoskop als Leitrohr zu be¬
nutzen, um die Sonde hindurchzuführen
und nach erfolgter Passage das Leitrohr
herauszuziehen. Freilich haben dabei
viele Schlundbougies den einen Übel tand,
daß sie oben, das heißt entgegengesetzt
dem Einführungsende, mit einem Pfropfen
geschlossen sind, der stärker ist als das
Lumen des Leitrohres. Dieser Wulst hat
den Zweck, die Bougies bequem hängend
zu trocknen und aufzubewähren. Da dieser
Knopf stärker ist als die Öffnung des
ösophagoskopischen . Leitrohrs, können
diese Bougies nicht im Ösophagus unter
Extraktion des Leitrohrs belassen wer¬
den. Doch hat sich die SpezLlfabrik in
Deutschland, A. Rüsch & Co. in Rom¬
melshausen bei Stuttgart, Fabrik elasti¬
scher Chirurgie-Instrumente und Weich¬
gummiwaren, entschlossen, auf meine An¬
regung die Schlundbougies auf besonderes
Verlangen offen beziehungsweise ohne
Pfropfen und ohne Wulst zu liefern.
Bieten schon Untersuchung und Be¬
handlung von Ösophagusstrikturen tech¬
nische Schwierigkeiten, selbst wenn die
Stenose hoch oben gelegen ist, so ver¬
mehren sich die Schwierigkeiten noch er¬
heblich, wenn die Striktur tief unten oder
gar an der Kardia gelegen ist. Das ist
Februar Die Therapie der Gegenwart 191?.
natürlich. Dafür sind mehrere Gründe
anzuschuldigen:
1. Die Kardia, der Ort des therapeu¬
tischen Effekts, tief unten gelegen, 40
bis 46 cm von der Zahnreihe, ist weit ent¬
fernt vom Munde.
2. Der Ort der therapeutischen Ein¬
wirkung aber ist vom Orte der beabsich¬
tigten Wirkung weit entfernt.
3. Dazu kommt, daß diese ärztliche
Einwirkung in einer Richtung und in
einem Sinne erfolgen muß, die dem phy¬
siologischen Ösophagus- und Kardiaver-
lauf gerade entgegengesetzt sind. Denn
1. die Einwirkung erfolgt einerseits
a) oben außen;
b) da der Arzt vorn ventral vor dem
Kranken steht, erfolgt diese Einwirkung
von vorn ventral nach’ hinten dorsal.
2. Andererseits aber ist die Kardia
a) innen unten (40—46) gelegen, und
b) die Richtung des Verlaufes ist
entgegengesetzt, nämlich nach vorn ven¬
tral von hinten dorsal. (Abbildung 1.)
Hinten 1
dorsal /
i
Abb. 1.
Daran wird auch nichts geändert, selbst
wenn man, wie ich es oft versucht habe,
dem Kranken zur* Seite tritt oder gar
hinter seinen Rücken und, anstatt von
vorn die Sonde hineinzupressen, sie von
hinten hineindrängt.
Deshalb habe ich eigene Kardia-
sonden und Kardiabougies konstruiert,
mit denen die durch die Anatomie und
Physiologie des Ösophagus gegebenen
natürlichen Verhältnisse bestens berück¬
sichtigt werden können. Diese, die man
bei der Untersuchung und Behandlung'
nie übersehen darf, sind folgende: Der
Ösophagus hat, wenn er sich zur Kardia
wendet, zwei Deviationen:
1. die eine erfolgt in der Richtung
nach vorn,
2. die andere in der nach links.
Ähnliche Deviationen haben in der
Therapie' eines anderen Organes und in
seiner therapeutischen Technik der In¬
strumente bereits erfolgreiche Berück¬
sichtigung gefunden, nämlich in der The¬
rapie der männlichen Urethra. Das In¬
strument, das diese Deviation cter ver¬
schiedenen Richtungen berücks&ieBIgt,. ist
der Katheter mit der Mercierseheti
Krümmung. Deshalb habe ich älese Art
des Instrumentariums mit der Mercier-
schen Krümmung als Vorbild 'gewählt.
Solche Kardiasonden (Abbildung 2) und
Kardiabougies werden von.
A. Rüsch & Go. angefertigt,
r- Erhältlich sind sie in 7, 7%,
8 usf. bis 12 mm. Stärke, und
zwar offene Kardiasonden und
geschlossene Vollbougies. Wenn
der Hohlraum, dieser Bougies
ausgefüllt ist, und sie am
Trichterende geschlossen sind,
dann bieten diese Instrumente
eine größere Widerstandskraft,
weniger leicht, können Knick¬
ungen Vorkommen. Ich ziehe,
wenigstens beim Anfang der
Behandlung, die offenen vor
und verordne geflissentlich den
Genuß von farbigen Flüssig¬
keiten, wie Kaffee, Schoko¬
lade und so fort unmittelbar
vor der Untersuchung und Be¬
handlung. Denn auf diese Weise
erfüllen diese offenen Kardia¬
bougies einen-mehrfachen diffe¬
rentiell-diagnostischen Zweck.
Sie lassen leichter erkennen,
ob Divertikel, partielle Ektasie,
ob diffuse Erweiterung vorliegt, fernerhin,
ob man bereits im Magen ist, oder ob die
Sonde etwas abgebogen und abgeknickt
ist — zu dieser Nachprüfung kann freilich
auch noch der Innendraht, aber bei grö߬
ter Vorsicht, verwandt werden, wie man
ja auch Urethralkatheter mit Draht¬
mandrins und mit Fischbeinmandrins
verwendet — und fernerhin, ob nach Be¬
endigung der Extraktion sich etwa im
Auge der Sonde Speisereste verbergen.
Freilich ist dafür die Stelle der Sonde,
die das offene Auge trägt, auch sehr emp¬
findlich und unterliegt leicht den Insulten,
sodaß sie schnell rauh wird und damit
möglicherweise Verletzungen verursachen
kann, jedenfalls schnell unbrauchbar wird.
Denn reparieren lassen sich solche Be¬
schädigungen am Instrument nicht mehr.
. Ähnliche Sonden, aber zu ganz an¬
deren Zwecken, bloß zu diagnostischen
Zwecken und außerdem nur zur Diagno-
Februar
56
Die Therapie der Gegenwärt 1917.
stik von Divertikeln, „Divertikelsonden“,
überdies bloß solche von Metall, hat
Starck 1 ) vorgeschlagen. Er meint:
,,Neben dieser Metall-Olivensonde stehen
zu diagnostischen Zwecken am meisten die
Gewebesonden im Gebrauch, und zwar
die schwarzen (Fabrik Porgfes) und brau¬
nen . (Delamotte) französischen Sonden
und roten und rotbraunen, runden oder
'oval geformten englischen (Krone &
Sfesemann) Bougies, endlich auch die
deutschen (Nachbildungen der ersten,
Rüsch) Instrumente. Dieselben bestehen
aus einem mit Lack oder einer Wachs¬
masse imprägnierten Gewebe und sind
wesentlich durch die Güte des Materials
verschieden. Alle diese Sonden verlaufen
geradlinig, sind rund oder oval im Quer¬
schnitt, am Ende konisch, zylindrisch
oder geknöpft nach Art der Delamotte-
bougies. Die Sonden haben durchweg
einen hohen Preis, kosten 2—4 Mark das
Stück; der Arzt benötigt aber, um für
alle Fälle gerüstet zu sein, einen ganzen
Satz von Sonden verschiedenen Kalibers,
der ihm, besonders wenn er auf gutes Ma¬
terial reflektiert, recht teuer zu stehen
kommt.“
Die fremdländischen Fabrikate unter¬
scheiden sich aber in keiner Weise von
den deutschen* Sie sind durchaus nicht
etwa solider, wie Starck behauptet.
Jedes Instrument wird, wenn es einmal
scharf umgeknickt worden ist, irreparabel
zugrunde gerichtet, ob es nun deutsches,
französisches oder englisches Fabrikat sei.
Die Instrumente von Rüsch nehmen an¬
erkanntermaßen den ersten Rang ein.
Krone & Sesemann ist eine englische
Händlerfirma, nicht etwa eine Fabrik,
welche vor Jahren nach Deutschland
exportiert hat.
Ich verwende meine neuen Kardia-
sonden mit gutem Erfolg nicht bloß für
Divertikel und nicht bloß für Kardia-
stenosen, sondern auch für die Stenosen,
die hoch oben gelegen sind. Denn wenn
das Lumen exzentrisch ist, und der Öso¬
phagus abgeknickt ist, ermöglicht die in-
x ) ,,Beiträge zur Sondierung der Speiseröhre“
(M. m. W., 27. Januar 1903, Nr. 4, S. J61). Nach
einem Vortrage auf dem Pfälzer Ärztetage zu
Landau am 21. Oktober 1902 (M. m. W. 1903,
Nr. 4).
strumentelle Krümmung leichter die Ein¬
führung. Meine neuen Kardiasonden
haben den Vorzug, daß sie eben nicht aus
Metall sind, sodaß der Druck nicht ein
so energischer zu sein braucht, sondern
mehr ein zarter Druck hinreicht. Meine
Kardiabougies und -Röhren werden vor-,
läufig nur in einer Krümmung von etwa
35—40° angefertigt. Die Fabrikation
bringt es aber mit sich, daß diese Krüm¬
mungen oft auch etwas verschieden aus-
fallen. Später werden meine neuen Kar¬
diasonden so angefertigt, daß die vier
verschiedenen M er ci ersehen Krüm¬
mungen, 25° - schwache Krümmung,
30° und 35° = mittelstarke, 40° = starke,
in verschieden großem Winkel berück¬
sichtigt werden, nach Art der verschie¬
denen Krümmungen der M er ci ersehen
Katheter (Abbildung 3).
. 3 .
Ähnliche Sonden, aber zu ganz an¬
derem Zwecke, finde ich nachträglich schon
einmal in der älteren Literatur verzeich¬
net. Moritz Schmidt 1 ) sagt vor 13
beziehungsweise 40 Jahren folgendes: ,, Ich
habe mir schon vor mehr als 26 Jahren
für die Sondierung bei Divertikelfällen
nach Art des M er ci ersehen Katheters
an der Spitze abgebogene Sonden in ver¬
schiedenen Dicken machen lassen, mit
denen es mir wiederholt gelungen ist, die
Öffnung bei vorsichtigem (!) Tasten nach
den verschiedenen Seiten zu finden.
Berkhan und vor ihm Leube waren
schon früher auf die gleiche Idee gekom¬
men und hat. mit vorn katheterförmig
gebogenen Guttaperchabougies einen Fall
von Divertikel erfolgreich behandelt und
denselben 1889 veröffentlicht. Man muß
freilich vor der Anwendung dieser Son¬
den davon überzeugt sein, daß es sich
nicht um ein Carcinom handelt, denn bei
einem solchen würde man sehr leicht mit
seiner so geformten Sonde durch die Wand
geraten können.“
Gleicht diese eine Krümmung meiner
neuen Kardiainstrumente die eine natür¬
liche Deviation des Ösophagus aus, näm¬
lich die ventrale, so gleicht die zweite ana¬
tomische Deviation des Ösophagus nach
links die Einführung durch Drehung des
x ) „Die Krankheiten der oberen Luftwege“,
Berlin 1903, S.915.
Februar
Die Therapie der Gegenwart 1917.
57-
Bougies aus. Den Grad der Drehung
kann man unten am oralen Ende des In¬
strumentes ungefähr bestimmen je nach
dem dort angebrachten Stempel der
Firma. Für die Einführung benutze ich 1 )
die von mir angegebene Position. Vorher
tauche ich die Kardiainstrumente in hei¬
ßes Wasser. Das halten diese Kardia-
bougies und Kardiakatheter ganz gut
aus. Auch kann man sie getrost ein paar
Minuten in warmem Wasser liegen lassen;
freilich die fortwährende Feuchtigkeit übt
einen nachteiligen Einfluß auf die Glätte
der Instrumente aus, weshalb eine mög¬
lichst trockene Behandlung empfehlens¬
wert ist.
Merkwürdigerweise gelang es mir häu¬
fig, da,, wo ich mit solchen Kardiaröhren
nicht durchkam, mit weit stärkeren Num¬
mern der offenen Kardiabougies die Ste¬
nose zu überwinden. Dabei wende ich
auch zu therapeutischen Zwecken gern
den Innendraht mit an. Erst nehme ich
das mit dem Innendraht armierte offene
Bougie, dann nehme ich, wenn es nicht
^glücken will, dasselbe Bougie ohne Innen¬
draht, um zum Schlüsse nachträglich den
Mandrin hindurchzuführen. Mit dem
Innendraht spannt und erweitert das
Bougie naturgemäß noch mehr. Daher
gelingt es oftmals nicht zuerst, das Bougie
mitsamt dem Mandrin hindurchzuführen.
In dieser Weise glückte es mir häufig,
in Fällen, in denen keine Form der an¬
deren Sonden, nicht einmal solche von.
bloß öy 2 mm Weite (Abbildung 4) durch
die Stenose hindurchging, sofort, ohne
alle Vorbereitungen, ohne Cocain oder
andere An-
aesthetica, mit
Nr. 9 meiner
neuen Kardia-
sonde die
Striktur glatt
zu passieren.
Es kommt eben
für die Thera¬
pie der Kardia
auf drei ver¬
schiedene Fak¬
toren der In¬
strumente an:
Das ist die
Weite, die Wei¬
che des Mate¬
rials und die
Form.
Freilich sind
diese meine
neuen Kardia¬
bougies nicht
sehr haltbar.
Schon ein Spas¬
mus kann nach
bloß einmaliger
Anwendungdas
Instrument un¬
brauchbar
machen, da eine
Reparatur-
nicht möglich
ist. Die Halt¬
barkeit ist nicht
groß, der Preis
nicht unbedeu¬
tend.
Die rectale Behandlung der chronischen
Parametritis.
Von Dr. D. Pulvermacher,
leitendem Arzt des Wöchnerinnenheims „Norden“ in Berlin.
Daß man in den letzten Jahren darauf
bedacht ist, in der Therapie der Frauen¬
krankheiten soviel als möglich unblutig
vorzugehen, ist hinreichend bekannt; man
weiß ja, welche Triumphe die Strahlen¬
therapie auf dem Gebiete der Myome
feiert und wie sehr die Operationsziffer
der eitrigen Adnextumoren abnimmt.
Ganz besonders beachtenswert sind die
Bemühungen, bei chronischen Becken¬
zellgewebsentzündungen auf konserva¬
tivem Wege zu helfen, wenn auch man¬
cher Mißerfolg zu verzeichnen ist, wobei
ganz besondere Schwierigkeiten die Para-
x ) „Eine neue Position zur ösophagoskopischen
Untersuchung“ (M. m. W. 1915, Nr. 9).
metritis poste¬
rior bietet. Da
man auf chirur¬
gischem Wege
nicht viel er¬
reicht, beson¬
ders wenn man
die Verwachsungen lösen will, so liegt
eine Berechtigung vor, jeden neuen Weg
zu beschreiben, der zu einem einiger¬
maßen günstigen Resultat durch konser¬
vatives Vorgehen geführt hat.
Das Krankheitsbild der chronischen
Parametritis ist von W. A. F r e u n d in aus¬
gezeichneter Weise gezeichnet worden, die
von ihm gegebene Einteilung wurde
, 8 . -,jg
Abb. 4. Deutsch-französischer Maßstab.
58
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Fe.bruar
meistens angenommen. Es gibt nämlich
eine chronische Form, die nicht aus einer
akuten entsteht, sondern von vornherein
sich ganz langsam entwickelt, indem sie
entweder von circumscripten Erkrankun¬
gen des Mastdarmes, der Harnblase und
des Cervix uteri oder diffus ohne nach¬
weisbare örtliche Affektion der genannten
Organe ausgeht. Das Beckenbindegewebe
wird zuerst durch die venöse Hyperämie
aufgelockert, um dann allmählich einem
Einschrumpfungsprozesse zu verfallen, wo¬
durch die Beckenorgane gegeneinander
verschoben und fixiert werden; die Folgen
davon sind neben Darmstörungen ziehende
Schmerzen, besonders im Kreuz, welche
die Trägerin dieser Leiden bald zum
Frauenarzt, bald zum Nervenarzt führen.
Die Diagnose macht keine Schwierigkei¬
ten, zumal wenn man darauf achtet, den
Zeigefinger in den Mastdarm einzuführen,
■während der Daumen in der Scheide liegt.
Daß mit diesen Leiden Störungen der
Darmtätigkeit verbunden waren, hat dazu
geführt, ihren Ausgangspunkt im Darm
zu sehen. So hat Virchow 1 ) bejaht,
daß von ganz geringfügigen Veränderun¬
gen der Mucosa Peritonitiden ihren Aus¬
gang nehmen können. Es würde nun zu
weitläufig sein, di° Literatur, welche sich
mit dieser Frage, das heißt mit dem gegen¬
seitigen Abhängigkeitsverhältnis zwischen
Darm und Genitalorganen beschäftigt,
anzuführen; es möge deshalb hier genü¬
gen, die Worte Müllers 2 ) zu setzen, auf
die sich ja die meisten Autoren berufen:
Parametritis posterior eine Darmerkran¬
kung, die Krankheit, welche von anderen
Autoren als Parametritis posterior Periprok
titis... beschrieben wird, welche sich durch
die, von dem Franzosen beschriebene als
Syndrome uterine beschriebenen Sympto-
menkomplex auszeichnete, gehen meist
von einer Erkrankung des Rectum an der
Stelle aus, wo es von den uterosakralen
Bändern umschlossen wird. Selten ist
der Uterus der Ausgangspunkt der Er¬
krankung. Ob auch die Behauptung
Müllers, daß 90% aller entzündlichen
Frauenleiden nicht von einer Gonorrhöe,
sondern vom Darm ausgehen, eine Ein¬
schränkung erfahren muß, soll hier nicht
weiter erörtert werden, das soll vielmehr
an anderer Stelle geschehen. Man muß
sich mit dem Zuggeständnis begnügen,
daß vom Darme aus Beckenzellgewebs-'
entzündungen entstehen, daß aber auch
0 Historisches, Kritisches und Positives zur
Lehre der Leibesaffektion (Arch. Bd. 5, H. 3).
r) Zbl. f. Gyn. 1902, S. 233. '
durch entzündliche Prozesse im Becken
diese auf den Darm übergehen können!
Es kann sich natürlich in diesen Fällen
nur um die Form der chronischen Obsti¬
pation handeln, wo sonst der Kot, der das
Colon pelionum in normaler oder kurzer
Zeit erreicht, die Defäkation unvollstän¬
dig oder verzögert ist 1 ). In diesen Fällen
vermehren ja die Abführmittel die Be¬
schwerden, während die Klysmen die
einzig wirksame Therapie abgeben. Wie
stellt man sich die Wirkung vor? Die
durch das Klystier hervorgerufene Ent¬
leerung soll auf das Becken stark ent¬
lastend wirken; sicherlich, haben so die
von Fl ein er angeführten Ölklystiere den
kranken Frauen große Erleichterungen
gebracht. Auf den pathologischen Prozeß
im Beckenbandgewebe haben sie keinen
Einfluß ausüben können, jedoch wohl
den Stuhl erweicht, und so, falls Schleim¬
hautdefekte vorhanden waren, eine Deck¬
schicht abgegeben, so daß der lästige
Mastdarmkrampf stärker herabgesetzt
wurde. Ob die Wirkung auf einen Ver¬
seifungsprozeß zurückzuführen ist, ist
nicht geklärt. Etwas unangenehm ist es,
daß nach der Entleerung noch lange Öl
nachträufelt, worunter die Wäsche sehr
leidet. Diesem Übelstand suchen die von
Lipowski vorgeschlagenen Paraffin¬
installationen abzuhelfen, da bei ihnen
meist das ganze Paraffin mit dem Stuhl¬
gänge entleert wird, so daß eine weitere
•Verunreinigung fortfällt; auch hoffte er,
mit dem Paraffin den Stuhlgang so regeln
zu können, daß eine weitere Schädigung
des Beckenbindegewebes vom Mastdarm
aus ausgeschlossen wäre. Mir lag daran,
ganz besonders auf die Fixation zu Uterus
und Mastdarm einzuwirken. Ich erinnerte
mich nun, daß von Köbner gegen chro¬
nische Prost titis Jodkalilösungen in den
Mastdarm eingespritzt wurden und daß
auch von Joseph diese Verordnungen
empfohlen wurden. Jod wird ja vom Mast¬
darm aufgesogen, besonders wenn es in
einer erwärmten Lösung eingeführt wird.
Wie ist die Wirkung auf das Narben¬
gewebe? Trotzdem es so häufig angewandt
wird, ist seine Wirkungsweise nicht ge¬
klärt (Meyer). Man muß vorläufig mit
der Hypothese vorlieb nehmen, daß es zu
einer starken Leukocytenanreicherung im
Gewebe kommt, einer serösen Durchirän-
kung, wodurch die früher fixierten Teile
gegeneinander bewegt werden; daß diese
x ) Sterlin, Über chronische Funktionsstörun¬
gen des Dickdarmes (Erg. d. inn. Med. Bd. 10,
; S. 462ff.)
Februar
Die Therapie der Gegenwart 1917.
' 59.
Wirkung erzielt wird, ist empirisch voll¬
kommen sichergestellt. Ich habe nun in
den letzten Jahren über 50 Fälle von
chronischer Parametritis mit Jod in der
Weise behandelt, daß ich zu den Paraffin¬
eingüssen Jod hinzusetzte. Wie waren
die Erfolge? Ohne mich irgendeiner Be¬
geisterung hinzugeben, kann ich doch
ruhig zugeben, daß ich mit den Erfolgen
recht zufrieden sein kann, ich weiß ja
auch, daß bei chronischer Parametritis
auch schmerzfreie Tage kommen, doch
sind diese Zeiten nicht von langer Dauer,
wichtiger ist es jedoch, daß objektiv durch
die Untersuchung festzustellen war, daß
Verdickungen zu beiden Seiten des Uterus
verschwunden sind, die Verschiebungen
des Uterus gegen das Rectum immer weni¬
ger schmerzhaft wurden. Die Applikation
der Jod-Paraffin-Mischung macht am
Anfänge etwas Schwierigkeiten, doch bald
ist es gelernt, Rohr und Schlauch gut
gewärmt zu halten, daß das Paraffin nicht
zu früh salbenförmig wird. Man hält sich
flüssiges und festes Paraffin vom Schmelz¬
punkt 78°, von dem man etwa 15 g im
Tiegel flüssig macht, wozu dann 90 g Par.
liquidum zugesetzt werden (ein Verhält¬
nis von 1:6 im Gegensätze von Li-
powski, der 1:8 angibt. Hat sich diese
Mischung so abgekühJt, daß man einen
Finger bequem eintauchen kann (Li-
powski), so ist mit einer Temperatur
von 40° bis 45° zu rechnen, jetzt wer¬
den 10 bis 15 Tropfen Jodtinktur hin¬
zugesetzt. Die gewöhnliche Klystier¬
spritze aus Zinn, sowie der Mastdarm¬
schlauch werden im warmen Wasser gut
temperiert. Man schiebt den Schlauch
etwa 6 cm — über die Kohlrauschsche
Falte — vor, wobei schon immer der
Kolben herabgedrückt wird, damit das
Passieren erleichtert wird; etwas schwie¬
riger wird es nur an der Ansatzstelle der
Retractores. Gewöhnlich wird diese Mi¬
schung, welche bald eine salbenförmige
Konsistenz im Darm annimmt, vier bis
sechs Stunden behalten, worauf dann der
Stuhl erfolgt; nur selten geht zuerst das
Paraffin fort. Wie ich im Röntgenbilde
sehen konnte, steigt die Paraffinlösung
bis hoch in das Colon pelvinum hin¬
auf. Die von mir erzielte Wirkung setzt
sich aus folgenden drei Komponenten
zusammen:
1. Die Jodwirkung. Wie schnell das
Jod resorbiert wird, ist daran zu erkennen,
daß schon nach einer halben Stunde ein
Jodgeschmack festgestellt wird, der Nach¬
weis im Urin konnte nicht geführt werden.
Wenn Freund Lebertranklystier mit gu¬
tem Erfolg angewandt hat, wird auch
hier das Jod, wenn es auch nicht sehr
stark vertreten ist, mitgewirkt haben.
Man muß, wie bereits erwähnt, eine resor¬
bierende Wirkung dieses Medikamentes
annehmen. In etwas konzentrierter Form
wandte dieses Medikament Rheinstät-
ter 1 ) an, der täglich 0,1 g Jodkali, und
zwar wochenlang einspritzte, bis ein Jod¬
schnupfen oder Jodexanthem sich zeigte.
2. Auf dieses aufgelockerte Gewebe
wirkt dann die salbenförmige Paraffin¬
masse einen stundenlangen besseren Zug
aus, als ein in die Scheide gelegter Kol-
peurynther. Um die Wirkung etwas zu
verstehen, muß man sich folgendes vor¬
stellen: die Uterusachse steht fast senk¬
recht zu der der Pars pelvina recti
(Waldeyer). Wenn nun Küstner die
angefüllte Ampulle den Uterus in toto
nach vorn und später auch noch nach
oben schieben läßt, so kann natürlich in
diesen Fällen, besonders bei verdickten
Lg. sacroutrina, die Anhäufung von Stuhl¬
gang einen solchen Reiz und damit Rectal¬
bewegungen hervorrufen, daß die Bauch¬
presse die vordere Wand des Rectum
gegen die hintere und nach unten pressen
wird. Durch die Paraffinmischung wird
der Status geändert. Die Scybala in
Paraffin eingehüllt und wohl auch zum
Teil durchdrungen, was Petzold, der ja
mit erkaltetem Faeces und Öl seine Ver¬
suche anstellte, im Gegensätze zu Ewald
verneint, kommt es sicherlich zu einer
Pause in den Rectalbewegungen, die
dann langweiliger und so weniger emp¬
findlich werden. Wenn auch der Winkel,
in dem die beiden Achsen Zusammen¬
stößen, nur um eine Kleinigkeit zunimmt,
so gibt dieser die Summierung dieser Zug¬
wirkungen den gewünschten Erfolg, wo¬
von man sich leicht überzeugen kann,
wenn man systematisch zwei bis drei Stun¬
den nach der Installation untersucht.
Zum Schlüsse kommt nun noch die
Regelung des Stuhlganges Jiinzu, der auf
einem reflektorischen Wege ohne Über¬
reizung centripetaler Rectalnerven zu¬
stande kommt. Hierdurch wird es auch
ermöglicht, daß die Rectalschleimhaut
zum Normalen zurückkehrt, die keine
Epithelverluste mehr erleidet und auch
für das Beckenbindegewebe schädigenden
Bakterien schwerer durchgängig ist. Wer¬
den die geeigneten Fälle ausgesucht und
die Ei nsprit zungen mit der nötigen Sorg-
x ) Praktische Grundzüge der Gyn., 2. Aufl.,
S. 189.
60 Die Therapie der Gegenwart 1917. Februar
falt durchgeführt, so wird man, wie ich, ; zum Erfolg führt, als die Durchschneidung
auf Grund der von mir beobachteten Fälle . der Lg. sacroutrina oder die Lösung der
behaupten können, mit dem Erfolg zu- i Adhäsionen, die zu einer Verletzung des
frieden zu sein. Neben der Beseitigung Darmes führen kann. Man möge auch bei
der lästigen Obstipation werden auch der ; diesen Fällen der Worte unseres Altmei-
quälende Kreuzschmerz und dann auch .j sters Freund eingedenk sein: Es gehört
die Nervosität allmählich nachlassen. kein Mut dazu, auch die größte Operation
Etwas Geduld gehört zur Durchführung auszuführen, wohl aber dazu, sich gegen
dieser Behandlung, die jedoch oft sicherer j nicht voll indizierte zu stemmen.
Verhandlungen der Kriegsärztlichen Abende, Berlin.
Bericht von Dr. Hay ward-Berlin.
Sitzung vom 21. November 1916. I
Blau: Über Röntgenaufnahmen ;
bei Schußverletzungen. j
Durch das große Material, welches j
der Weltkrieg an Röntgenuntersuchungen ;
geliefert hat, hat es sich als notwendig j
herausgestellt, eine Zentralisierung der j
Forschung einzurichten. Dies ist ge- j
schehen in der Röntgenplattensammel¬
stelle an der Kaiser-Wilhelms-Akademie,
wohin seit August 1915 sämtliche
Platten und Films mit Ausnahme j
der Platten der Marinelazarette gehen, j
während die Heimatlazarette an ihre |
Stammlazarette abzuliefern haben. Über j
50 000 Platten sind bisher gesammelt, ;
welche sorgfältig eingeordnet werden und |
stets im Zusammenhänge mit den Kran¬
kengeschichten durch die Ersatztruppen¬
teile bleiben. In welcher Weise im ein¬
zelnen die Aufbewahrung und Katalogi- ;
sierung der Platten stattfindet, wird.vom i
Vortragenden ausführlich erörtert. Dann j
geht er über zu Demonstrationen von Ge- I
Schoßdurchleuchtungen, wobei im ein- |
zelnen das französische Geschoß, welches I
wenig deformiert, und das englische Ge- i
schoß mit leicht abbrechbarer Spitze ge- '
zeigt werden. Das Wesen des Dum-Dum-
Geschosses wird ebenfalls durch Bilder
veranschaulicht. Dann bespricht Vor¬
tragender die sogenannten Mantelreißer,
um endlich die Wirkung der Granat¬
splitter, Schrapnellkugeln, Handgranaten
und Minengeschosse ebenfalls wieder durch
Röntgenogramme zu zeigen.
Stadelmann: Die Malaria in Ber¬
lin und der Krieg.
In Friedenszeiten wurde die Malaria
in Berlin nur sporadisch gesehen,
sie ist dagegen im vergangenen Jahre
häufiger geworden. Hierbei ist es wichtig,
festzustellen, daß mitunter weder im
Felde, noch nach monatelangem Aufent¬
halte in der Heimat irgendwelche Zeichen
der Erkrankung vorher aufgetreten waren,
bis sich hier in Berlin die typische Malaria
tertiana entwickelte. Der Verdacht ist
nicht von der Hand zu weisen, daß die
Übertragung erst hier in Berlin durch
Mücken erfolgt ist. Auch ist mit der
Möglichkeit zu rechnen, daß von den
Soldaten aus eine Übertragung auf die
Zivilbevölkerung zustande kommen kann.
Unter diesen Umständen muß darauf
gedrungen werden, daß die Mückenplage,
die zweifellos in Berlin herrscht, energisch
bekämpft wird. In der Aussprache hob
Verf. Plehn die oft wunderbaren Wege
der Infektion hervor. Auch Generalarzt
Schultzen weist darauf hin, daß die
Beobachtungen sämtlich der Medizinal¬
abteilung des Kriegsministeriums mitge-
teilt werden müssen, um einer weiteren
Verbreitung vorzubeugen. Es dürfte sich
empfehlen, alle Kranken in das Kolonial¬
medizin-Institut nach Hamburg zu ver¬
legen und die Leute nach ihrer Genesung
in Städten unterzubringen, wo eine In¬
fektionsmöglichkeit nicht besteht.
Die militärärztliche Sachverständigentätigkeit auf dem Gebiete
des Ersatzwesens und der militärischen Versorgung.
Vortragszyklus, veranstaltet unter Förderung der Medizinalabteilung des Kriegs¬
ministeriums vom Centralkomitee für das ärztliche Fortbildungswesen in Preußen.
Bericht von Dr. Hayward-Berlin. (Fortsetzung.)
Bonhöffer: Die Bedeutung der 1 Die Bedeutung der exogenen Ursachen
Kriegsbeschädigungen in der Psy- ! für die Entstehung der psychischen Er-
chopathologie unter besonderer Be- krankungen ist, wie auch der Krieg ge-
rücksichtigung der D.-B.-Frage. zeigt hat, verhältnismäßig gering. So
Februar .Die Therapie der
zeigt die Statistik, daß im vergangenen
Jahre in Deutschland die Zahl der Geistes¬
krankheiten bei Männern 41 000, bei
Frauen 40 000 betrug, wobei das Mehr
bei den Männern sich schon durch den
Alkohol und die Lues erklärt. Es ist auf
Grund zahlreicher Untersuchungen an¬
zunehmen, daß Gesunde nicht durch
äußere Einflüsse von Geisteskrankheiten
befallen werden, sondern daß stets endo¬
gene Ursachen für die Psychose vorhanden
sein müssen.. Welche exogene Ursachen
verantwortlich gemacht worden sind, wird
im einzelnen besprochen; hierhin gehören
die Explosionen, das Trommelfeuer, die
Mobilmachung usw. Auch bei Erschöp¬
fungszuständen soll man den Krieg nur
als auslösendes Moment und als Ver¬
schlimmerung ansehen. Zu allen weiteren
Erhebungen und für die Frage der Dienst¬
beschädigung ist es wichtig, eine genaue
psychiatrische Diagnose zu stellen.. Bei
der Dementia praecox waren in 70% der
Fälle Symptome vor dem Kriege nach¬
weisbar. Hier kommt der Krieg oft noch
nicht einmal als auslösende Ursache in
Betracht, sondern häufig handelt es sich
nur um eine Verschlimmerung, z. B. in¬
folge von Infektionskrankheiten. Bei dem
manisch-depressiven Irresein kann nur
auf zeitlich beschränkte Kriegsdienst¬
beschädigung erkannt werden, da die
Anfälle vorüber gehen. Für die progres¬
sive Paralyse wurde im Jahre 191.5 in
92% ein Zusammenhang mit dem Kriege
anerkannt, weder ist jedoch eine Ver¬
mehrung durch den Krieg, noch eine
Verkürzung der Inkubationszeit gegen¬
über dem Frieden vorhanden. Die Hyste¬
rie muß streng von den organischen Er¬
krankungen nach Trauma getrennt wer¬
den, und es ist nicht angängig, diese Fälle
durch dauernde Entschädigung zu sozial
unbrauchbaren Individuen zu stempeln,
andernfalls werden zahlreiche Fälle dem
Staate unnötig zur Last fallen. Der Be¬
griff der Hysterie muß ebenso wie der
der psychopathischen Konstitution scharf
Umrissen werden.
His: Erkrankungen der Nieren.
Dem Vortrage liegen zahlreiche eigene
Beobachtungen, die ganze Kriegsliteratur
und die in den Gutachten im Kriegs-
ministerium niedergelegten wissenschaft¬
lichen Erörterungen zugrunde. Nach
einem kurzen Überblick über die patho¬
logische Anatomie wird vom Vortragen¬
den die Frage erörtert, ob für die Erkran¬
kungen der Nieren endogene Ursachen
verantwortlich zu machen sind oder
Gegenwart 1917. 61
äußere Einflüsse, wie Erkältungen und
Ernährungsschädigungen eine Rolle spie¬
len. Persönliche Veranlagung zur Eiwei߬
ausscheidung kommt sicher, vor, ebenso
muß die Reihe der erworbenen Erkran¬
kungen, wie die Lues und Vergiftungen,
in den Bereich der Betrachtung gezogen
werden. Nach dem heute herrschenden
Standpunkte muß die Kriegsnephritis als
eine selbständige Erkrankung angesehen
werden, welche charakterisiert ist durch
den schnellen günstigen Verlauf bei plötz¬
lichen unter Fieber auftretendem Beginne
mit Milz- und Leberschwellung. Der Sitz
der Erkrankung sind zunächst die Glome-
ruli, später erkranken die Nierenkanäl¬
chen und schließlich kann es auch zur
Mitbeteiligung des Interstitiums kommen.
Klinisch steht der Hydrops im Vorder-
j gründe. Die Dienstbeschädigung ist an-
I zuerkennen; für die Heimat muß aller¬
dings festgestellt werden, ob etwa eine
epidemische Kasernenerkrankung . vor¬
liegt. Nach der Heilung muß eine Probe¬
zeit von zwei bis drei Monaten einge¬
schaltet werden. Die Veränderungen und
der klinische Verlauf der Erkrankungeh
wird an einer Reihe von Kurven und
Lichtbildern demonstriert.
Hoffmann (Düsseldorf): Erkran¬
kungen und Verletzungen der Kreis¬
laufsorgane.
Im allgemeinen kommt man mit den
gebräuchlichen Untersuchungsmethoden
aus und hat nur in seltenen Fällen zu spe-
zialistischen Verfahren seine Zuflucht zu
. nehmen. Wichtig bei der Untersuchung
der Herzkranken ist die Aufnahme einer
genauen Anamnese, insbesondere auf vor-
angegangene konstitutionelle Schädi¬
gungen. Bei der Untersuchung selbst
müssen Atmung, Gesichtsfarbe, abnorme
I Pulsationen genau beachtet werden. Bei
I der Auskultation verabsäume man nicht
den fünften Punkt im dritten linken Inter-
costalraum zu auskultieren. Funktionelle
Geräusche an der Pulmonalis verschwin¬
den bei der Inspiration. Im Anschluß an
diese Erörterungen werden die Röntgen¬
bilder von .Tropfenherzen gezeigt, denen
eine geringe Bedeutung zukommt. Ebenso
soll man sehr vorsichtig sein in der Be¬
wertung der Herzvergrößerung, da diese.,
wenn die Aufnahme in der Diastole ge¬
macht ist, nur eine scheinbare ist. Funk¬
tionelle Erkrankungen des Herzens findet
man bei 80% aller Personen, welche über
Herzbeschwerden klagen. Man kann je
nach der mehr oder minder großen Be¬
schleunigung des Pulses drei Gruppen
62
Februar
Die Th'erapie der Gegenwart 1917. -
von hierher gehörigen Erkrankungen |
trennen. Selten ist hier Dienstbeschädi- j
gung anzunehmen, da viele dieser Kran¬
ken überhaupt nicht im Felde waren. In
anderen Fällen, wenn das Leiden sich an
eine Granatexplosion oder dergleichen an- j
schließt, muß man Verschlimmerung an¬
nehmen. Da die Ursache der Störungen
aber eine psychogene ist, muß auch die
Behandlung eine psychische sein. Ar¬
beitsverwendungsfähigkeit im Berufe ist
hier das beste, um die Kranken vor einem
ewigen Hin- und Herpendeln zwischen
Lazarett und Kasernenhof zu schützen.
Von Verletzungen des Herzens wurden
solche durch stumpfe Gewalt und durch
Geschosse beobachtet. Auffallend war
die verhältnismäßig große Leistungs¬
fähigkeit dieser Kranken bis kurz vor dem
Tode.
v. Noorden: Stoffwechselerkran¬
kungen.
Nachdem die Stoffwechselerkrankun¬
gen endgültig als organische Leiden er¬
kannt worden sind,.handelt es sich bei der
Gutachtertätigkeit nur darum, ob eine
allgemeine oder örtliche Einwirkung auf
diejenigen Organe stattgefunden hat, wel¬
che mit der Entstehung der betreffenden
Stoffwechselerkrankung in Zusammen¬
hang zu bringen ist. . Beim Diabetes
mellitus sind zwei Formen, die schwere
und die leichte, zu unterscheiden, von
denen die schwere Form für den Front¬
dienst ungeeignet ist, da durch Vernach¬
lässigung der Diät meist sehr bald eine
erhebliche Verschlimmerung einzutreten
pflegt. Auch große körperliche Anstren¬
gungen wirken in dem gleichen Sinne, und
es kann nur bei höher gestellten Offi¬
zieren, welche unter Umständen die Ein¬
wirkung dieser Schädigungen verringern
können, ausnahmsweise von Dienstfähig¬
keit die Rede sein. Bei der leichteren
Form dürfte die Garnison- und Arbeits¬
verwendungsfähigkeit in Betracht zu zie¬
hen sein, da auch diese Kranken bei der
Verwendung als k. v. sich schnell ver¬
schlimmern. Endlich gibt es noch eine
dritte Form, die sich im Anschlüsse an
Infektionskrankheiten entwickelt und
nach Abklingen einer frisch verheilten
Wunde zu vergleichen ist. Unter der
Voraussetzung, daß jeder Diabetes seine
Ursache in einer Erkrankung des Pan¬
kreas hat, muß für die Annahme einer
Dienstbeschädigung ein Trauma gefor¬
dert werden, welches das Pankreas be¬
troffen hat. Bei der Frage der Ver-
j schlimmerung ist anzuerkennen, daß der
j Verlauf häufig infolge des Krieges stürmi-
| scher ist als in Friedenszeiten. Zur Be¬
urteilung der Fettleibigkeit muß in
, erster Linie die Funktion des Herzens in
i Betracht gezogen werden. Ältere Leute
i sollten häufiger Erholungsurlaub erhalten
| und nicht im Gebirge verwendet werden.
Die Gicht ist nur in schweren Fällen als
ein Moment anzusehen, welches dienst¬
untauglich macht. Dienstbeschädigung
ist hier wohl niemals anzunehmen. Für
den Diabetes insipidus muß eine
direkte Beschädigung der Hypophyse ge-
j fordert werden. Der Morbus Addisonii
! kann durch die Kriegsereignisse wohl ver-
j schlimmert, aber niemals ausgelöst wer-
I den. Die Thyreosen sind in neuester
j Zeit wiederholt Gegenstand der Bespre-
j chung und militärärztlicher Begutach-
| tung geworden. Hier kommt für schwere
1 Formen nur eine Garnison- oder Arbeits¬
verwendungsfähigkeit in Frage, während
in leichteren Fällen die Felddiensttätig¬
keit gut vertragen wird. Bei .operierten
Kranken ist eine größere Vorsicht am
Platze.
Bücherbesprechungen.
E. Bleuler, Lehrbuch der Psychiatrie
mit 49 Textabbildungen. Berlin 1916,
Verlag Julius Springer. 518 Seiten.
Preis 12 M.
Während vor noch gar nicht langer
Zeit die führenden Geister in der Psychia¬
trie eine gewisse Scheu empfanden, ein
Lehrbuch zu verfassen, weil ihnen die
Grundlehren des psychiatrischen Wissens j
noch zu wandelbar, die Krankheitsbilder
zu wenig scharf Umrissen und die Nomen¬
klatur zu verwirrend erschienen, haben
die letzten Jahre ein Lehrbuch nach dem
anderen gebracht. Ihnen gesellt sich
jetzt als Herausgeber Bleuler und bringt,
wie bei seinem gedankenreichen und
schöpferischen Geist nicht anders zu
erwarten war, der Ärzteschaft ein bewun¬
dernswertes Buch.
Beherrschend durchzieht das Gänze
das Leitmotiv, zum Denken anzuregen
und das psychologische Verständnis der
Psychosen zu fördern. Eine ungewöhn¬
liche praktische Erfahrung sichert die
Februar Die Therapie der Gegenwart 1917. 63
Grundlage, und so mußte die glänzende
Lehrbegabung Bleulers ein Musterwerk
an Klarheit und Überzeugungskraft schaf¬
fen. Dieses Resultat ist erreicht, trotzdem
Bleuler freimütig bekennt, daß die
Psychiatrie einer Kartenskizze über ein
reiches Land vergleichbar wäre, das erst
von wenigen gangbaren Wegen durch¬
schnitten wird und dessen größte Ge¬
biete noch weiß erscheinen.
Den Fachmann, der Bleulers wissen¬
schaftliche Arbeit kennt, mußte beson¬
ders seine Stellungnahme zur F r e u d sehen
Lehre, zur Schizophrenie und zur Hysterie
interessieren. Überall zeigt sich der vor¬
sichtig wägende, kritische Forscher, auch
den noch nicht spruchreifen Stoffen gegen¬
über.
Der Allgemeinpraktiker, der nur Be¬
lehrung sucht, wird durch die Fülle des
Gebotenen, durch die glänzende Diktion
und die allenthalben erkennbare persön¬
liche Note des scharfsinnigen Verfassers
dauernd gefesselt. Wenn Bücher auch
ihr Schicksal haben, dem Bleuler sehen
Lehrbuch kann nur ein großer Erfolg
beschieden sein. Placzek (Berlin).
Gunnar Frosteil, Stockholm. Kriegs-
• mechanotherapie für Ärzte, ärzt¬
liches Hilfspersonal und Selbst¬
behandlung. Urban & Schwarzenberg,
Berlin-Wien 1917. 176 Seiten mit
96 Abb. Preis geb. 6,00 M.
Verfasser, der zurzeit als Arzt am
orthopädischen Spital und der Invaliden¬
schule (Leiter Prof. Dr. Hans Spitzy)
in Wien tätig ist, hat in außerordentlich
instruktiver Weise alles besonders für
das ärztliche Hilfspersonal auf diesem
Gebiete Wissenswerte zusammengestellt
und durch sehr gute Abbildungen er¬
läutert. Den leitenden Ärzten ortho¬
pädischer Abteilungen wird die Aus¬
bildung von Schwestern durch das Buch
wesentlich erleichtert werden, denen es
als Lehrbuch die besten Dienste leisten
wird. Nach kurzer Würdigung der anato-
| mischen und physiologischen Verhältnisse
! werden die einzelnen Massagemethoden,
j sowie die manuelle und maschinelle
j Bewegungstherapie besprochen. Des Ver¬
fassers Standpunkt, daß einerseits durch
die feinsten Maschinen die'Massage und'
manuelle Heilgymnastik nicht ersetzt
j werden kann, andererseits wiederum die
I maschinelle Bewegungstherapie, sofern sie
; ärztlich überwacht wird, in der Kriegs-
j mechanotherapie ihren Ehrenplatz hat,
muß als durchaus zutreffend bezeichnet
werden.. Die weiteste Verbreitung des
schön ausgestatteten Büchleins be¬
sonders unter den Schwestern und
sonstigem Hilfspersonal ist im In¬
teresse unserer Verwundeten dringend
zu wünschen. Aber auch mancher'
Arzt wird aus seinem Studium
I Nutzen ziehen.
| Georg Müller (Berlin).
| P. Hanssen. Lehrbuch der chirurgi¬
schen Krankenpflege für Pflege-
rinnenundOperationsschwestern.
Mit 300 Abbildungen. Leipzig 1916.
F. C. W. Vogel. 10 M., geb. 11,25 M'
Die eigentliche Spezialausbildung der
Schwester, insonderheit als Operations-
| Schwester beginnt erst nach der ab-
| gelegten Staatsprüfung. Und wenn diese
| in der Hauptsache auch eine praktische
I sein wird, so wird die Schwester doch
| eines theoretischen Leitfadens dringend
| bedürfen, durch den sie ihr Wissen ver-
! tiefen und erweitern kann. Das vor-
| liegende Lehrbuch entspricht diesen An-
j forderungen in hervorragendem Maße.
Die Kapitel über Sterilisation, Desinfek-
; tion und Narkose sind mustergültig und
I wirken auch erzieherisch auf das Pflicht-
| bewußtsein und Verantwortungsgefühl,
i die bei der Operationsschwester beson-
| ders stark ausgebildet sein müssen. Ich
| wünsche dem formvollendet geschriebenen
; und prachtvoll ausgesatteten Buche die
| weiteste Verbreitung unter den Kranken-
i Schwestern und Ärzten. Georg Müller.
Referate.
Zur Amputations- und Prothesenfrage
für die untere Extremität bringt Hof-
stätter neue Beiträge. Die ausführ¬
liche, durch zahlreiche Abbildungen ver¬
anschaulichte Arbeit stammt aus der
Universitätsklinik in Wien (v. Eiseis¬
berg). Sie stützt sich auf ein großes
Material, entsprechend einer Belegzahl
von fast 1000 Betten. Zusammenfassend
gibt Verfasser eine Reihe von Leitsätzen,
deren wesentlicher Inhalt hier folgt: Für
die Funktion eines Amputationsstumpfes
i istdieErzielungeinestragfähigenStumpfes
Aon der allergrößten Bedeutung, in erster
Linie für den Unterschenkel, dann aber
auch, wenn irgend möglich, für den Ober-
64 Die Therapie der Gegenwart 1917. Februar
schenke!. Es muß daran festgehalten
werden, daß die Prothesen, die für direkte
Belastung gebaut sind, anderen vorzu¬
ziehen sind. Eine Ausnahme'von der
direkten Belastung wird nur dann ge¬
macht, wenn- das Allgemeinbefinden des
Kranken bei der Durchführung einer
Hautweichteil-Extensionsbehandlung den
Aufenthalt außerhalb des Bettes erfordert.
Die. notwendige Tragfähigkeit des Stump¬
fes wird erzielt durch die aperiostale
Amputationsmethode nach Bunge und
durch die Nachbehandlung des Stumpfes
nach Hirsch. Ja, es ist sogar möglich,
bei Anwendung des Bungesehen Stump¬
fes auf die Nachbehandlung zu ver¬
zichten. Auch bei dem Bungesehen
Stumpf kommt es durch die Eiterung, die
bei Kriegsverletzungen ja sehr häufig
ist, zu mehr oder weniger ausgedehnter
Callusbildung oder sogar zur Entstehung
von.kleinen Kronensequestern. DieTrag-
fähigkeit des Stumpfes wurde indessen
durch die Callusbildung bei früh ein¬
setzender Nachbehandlung nie ungünstig
beeinflußt. Man konnte im Röntgenbild
beobachten, wie der Callus im späteren
Verlauf spontan sich resorbierte. Ebenso
geht es mit den kleinen Sequestern, wenn
sie sich nicht überhaupt abstoßen. Die
Nachbehandlung setzt schon zu einer
Zeit ein, in der die Wundheilung noch
nicht ganz abgeschlossen ist. Die Mei¬
nung von Bier, daß die Weichteilwunde
nur untergeordnete Beziehung zur Trag¬
fähigkeit hat, kann nur bestätigt werden,
denn auch beim zweizeitigen Zirkel¬
schnitt und bei vollkommenem Offen¬
lassen der Wunde, bekommt man Narben,
die die direkte Stumpfbelastung nicht
stören. Sind die Weichteile bei den aus
dem Felde zugehenden Fällen weit zurück¬
gezogen, so wird mit Erfolg von der
Extensionsbehandlung Gebrauch ge¬
macht. Die lineare Amputation ist im
Hinterlande überflüssig. Die alsbaldige
Verwendung von Immediatprothesen
dient als ausgezeichnete Schulung für den
Stumpf. Sie bewirkt weiter eine Hebung
des psychischen und körperlichen Be¬
findens des Kranken. Bei Oberschenkel¬
amputierten soll, wenn möglich, die erste
Immediatprothese mit beweglichem Knie
gegeben werden; außer seinem Kunstbein
bekommt der Amputierte bei der Ent¬
lassung aus dem Lazarett die Immediat¬
prothese mit. Der Gebrauch von Krücken
sollte möglichst eingeschränkt werden,
sie sind durch Gehbänkchen zu ersetzen.
(Arch. f. klin. Chir. Bd. 108, Heft2.) Hayward.
! Carl Gütig macht darauf aufmerk-
! sam, daß es Bauchschüsse mit Darmver-
| letzung gibt, die Bauchwandschüsse vor-
| täuschen können. In den meisten Fällen
, von Weichteilschüssen gibt die Verbin-
| düng zwischen Ein- und Ausschuß unge-
| fähr die Richtung an, die das Projektil
I genommen hat. Ausnahmen von dieser
: Regel sind aber ziemlich häufig. Ver-
l schiedene Contractionszustände überein-
i ander gelegener Muskelpartien können das
! Geschoß ablenken. Abprallen des Pro-
; jektils von Steinen, Baumstämmen usw.
vor Einschlagen in den Körper scheinen
ihm Eigenbewegungen, wie Rotation um
1 die Achse, geben zu können, die dann zu
! ganz merkwürdig verlaufenden Kanälen
führen. Verfasser läßt es dahingestellt,
ob eine plötzliche Bewegung des Getrof¬
fenen selbst zur Zeit der Verletzung die
Richtung des Wundkanals merklich ver¬
ändern kann. Er zeigt an verschiedenen
Beispielen, daß man sich davor hüten
muß, aus dem mutmaßlichen Schu߬
kanal irgendwelche Schlüsse für die Art
der Behandlung zu ziehen. So sprachen
! die Peritonealerscheinungen bei einem
j Falle mit Sicherheit für eine Darmver-
j letzung, obgleich bei der nahe aneinander¬
liegenden Ein- und Ausschußöffnung ein
Bauchwandschuß vorzuliegen schien.
Man muß deshalb bei Streifschüssen des
Unterbauches in der Beurteilung des
angerichteten Schadens recht vorsichtig
sein, bei den geringsten Anzeichen einer
intraperitonealen Verwundung den
Schußkanal spalten und die Verlaufs¬
richtung kontrollieren. In den oberen
Partien des Bauches ist nicht nur der
reine Bauchdeckenschuß viel häufiger, es
kommt dort auch viel häufiger vor, daß
das Projektil, selbst wenn es den freien
Bauchraum gestreift hat, keine Darm¬
verletzung verursacht. Gründe dafür
j sind, daß die meisten Bauchschüsse den
I stehenden beziehungsweise knienden oder
j laufenden Mann treffen, und daß in
j diesen Stellungen die große Masse der
[ Därme dicht dem Peritoneum des Unter¬
bauches anliegt, fast keine Stelle frei-
I läßt, während der Oberbauch verhältnis-
| mäßig leer ist. Auch mag die oft schwä-
I chere Muskulatur des Unterbauches mit
| eine Rolle spielen. Dünner.
(M.m. W. 1917, Nr. 1.)
I Rost machte im Anschlüsse an zwei
| Fälle von intraperitonealer Blasen-
! ruptur die nicht operiert wurden, da die
Diagnose nicht gestellt war und unter
Februar Die Therapie der Gegenwart 1917. 65
komatösen Erscheinungen starben, Ver- I
suche über die Todesursache bei intra- !
peritonealer Blasenruptur bei Hunden. .
Es zeigte sich, daß die Tiere nicht
starben, wenn der Urin aus der Bauch- :
höhle Abfluß hatte/ War das nicht der ;
Fall, so zeigte sich bei der Sektion nur I
sehr wenig Urin in. der Bauchhöhle. Der \
Urin war also resorbiert worden. Der j
Reststickstoffgehalt des Blutes war schon j
nach 24 Stunden drei bis viermal, nach- j
72 Stunden aber neun- bis zehnmal so |
hoch wie normal. Die Tiere starben also j
an Azotämie, das heißt an Urämie. Bei j
der Sektion fanden sich nur in wenigen !
Fällen Spuren peritonealer Reizung, die ,
übrigens auch beim Menschen, der an ;
dieser Verletzung gestorben ist, nur selten i
gefunden wird. r j
Rost schließt daraus, daß bei Ver- ;
dacht auf intraperitoneale Blasenruptur j
die Probelaparatomie indiziert und die !
Wundnaht zur Verhütung der Urämie i
in jedem Falle zu machen sei.. Endlich j
macht er noch darauf aufmerksam, wie ;
sehr die finalen Bilder bei der intraperi- :
tonealen Blasenruptur der Urämie und ;
wie wenig sie der Peritonitis ähneln. j
(M. m. W. 1917, Nr. 1.) Waetzoldt. I
I
Bei abdominellen Blutungen wird j
von Chirurgen die Wiederinfusion des
in der Bauchhöhle befindlichen Blutes
empfohlen. Sie wurde bisher hauptsäch¬
lich von gynäkologischer Seite bei der
geplatzten Eileiterschwangerschaft an¬
gewandt. Kreuter hatte Gelegenheit,
im Feldlazarett einen Verwundeten zu
operieren, der infolge eines Leberschusses
enorme Mengen Blut in die Bauchhöhle
verloren hatte. Es wurde das Blut auf¬
gefangen und ein Liter davon nach Fil¬
trierung durch mehrfache Lagen steriler
Gaze in die Vena cubiti injiziert. Der
Erfolg war verblüffend und mit den j
üblichen Wiederbelebungsmitteln nicht
zu vergleichen. Wenn au h der Patient
später an einer Massenblutung in das
Nierenlager zugrunde ging, so glaubt
Verfasser doch, daß die Methode in ;
vielen Fällen lebensrettend wirken kann.
(M. m. W. 1916, Nr. 42.) Hayward.
Aus der Arbeit von Grober (Jena)
über die Behandlung bedrohlicher
Blutungen aus dem Verdauungs¬
kanal e sei ein Abschnitt hier referiert
über die blutstillenden Mittel, die dem
Gewebe des Körpers oder der Blutbahn
einverleibt werden. Da ist in erster Linie
die Gelatine zu nennen. Man verwendet
am besten die im Handel befindlichen
Glastuben mit 40—50 ccm 2 %iger Gela¬
tinelösung, die fraktioniert sterilisiert und
daher frei von Keimen ist. Man soll die
Gelatine bis auf 45 Grad erwärmen, damit
sie leicht flüssig wird, und injiziert sie dann
mit einer dicken Kanüle. Der Eingriff
ist nicht ganz ohne Schmerzen auszu¬
führen; besonders ist das Verstreichen
der unter die Haut eingeführten Gelatine,
das sehr vorsichtig vorgenommen werden
muß, sehr schmerzhaft. Von anderen
blutstillenden Mitteln verwendet Grober
das Extract. Secal. cörnut., und zwar
in einer Lösung von 5,0 g in je 10 ccm
Alkohol, Glycerin und Wasser. Er gibt
alle Stunde 1 ccm subcu'tan. Man kann
am Tage bis zu sechs und sieben Spritzen
steigen. Ferner empfiehlt er die intra¬
venöse Einspritzung von 5 ccm einer
10%igen Kochsalzlösung oder 200 ccm
einer 5%igen Traubenzuckerlösung. Was
das Adrenalin betrifft: so bewirkt es
zwar eine Contraction der kleinen Ar¬
terien, aber auch eine sofortige Mehr¬
arbeit des Herzens und eine wesentliche
Steigerung des Blutdruckes in den mitt¬
leren und großen Schlagadern. Man läuft
deshalb Gefahr, daß etwa sich schon
bildende oder vorhandene Gefäßver¬
schlüsse wieder gelockert und gelöst wer¬
den. Auch die Verabreichung per os er¬
scheint nicht unbedenklich. Um die Fol¬
gen des akuten Blutverlustes zu bekämp¬
fen, muß man häufig zur Einfuhrisotoni¬
scher Kochsalzlösungen greifen. Vorher
kann man die sogenannte Autotrans¬
fusion, die centripetal fortschreitende Um-
schürung der Arme und Beine anwenden,
die aber nur zwei bis drei Stunden liegen
bleiben darf. Anderenfalls kann es zu
Gangrän, dauernden Störungen des Blut¬
umlaufs und Lähmungen der miteinge-
wickelten Nerven kommen. Bei Kollaps
empfiehlt Grober die Herz- und Gefä߬
mittel. Hier kann die oben abgelehnte
Adrenalinwirkung von Nutzen sein.
(D. m. W. 1916, Nr. 52.) , Dünner.
Max Cohn (Berlin) demonstriert an
sich den in letzter Zeit vielgenannten
Carnes-Arm. Er trägt die komplizierte
Prothese seit 4 y 2 Monat ohne die ge¬
ringste Reparatur. Sie ist im Nacken
aufgehängt und ermöglicht Bewegungen
der Finger, Drehung im Handgelenk,
Beugung und Streckung im Handgelenk
ohne Hilfe der gesunden Hand. Er kann
vermöge eines besonderen automatischen
Mechanismus Gegenstände festhalten,
66 Die Therapie der
einen Brief aus einem Umschlag heraus- ;
ziehen und hineinstecken, Geldscheine I
zählen und festhalten, eine. Handtasche !
tragen und einen aufgespannten Schkm j
halten. Auch Federhalter, Bleistift, j
Messer und Gabel werden in natürlicher |
Art gehandhabt. Cohn empfiehlt den j
Arm angelegentlich für unsere Kriegs- j
beschädigten. Georg Müller.
(Zschr. f. orthop. Chir. Bd. 36.)
W. Keppler (Berlin) erörtert seine ;
Erfahrungen über die Erysipelbehandlung ;
mit Jodtinktur. Das Verfahren be- i
steht in einem energischen Anstrich des i
gesamten erysipelatösen Gebietes und |
seiner weiteren Umgebung mit 10 %iger i
Jodtinktur. Um die Wirksamkeit des
Verfahrens sicherzustellen, ist in erster
Linie darauf zu achten, daß die Lösung
dem gesamten erkrankten Gebiete in glei¬
cher Weise zugeführt wird und daß auch
etwaige Falten, Taschen und Buchten
keinesfalls davon frei, bleiben. Dieses
Ziel ist sicher dadurch zu erreichen, daß
die Tinktur an den verschiedensten, spe¬
ziell den schwerer zugänglichen Stellen
der erkrankten Partie direkt aufgeträufelt
und hierauf mit einem Watte- oder Gaze¬
tupfer für eine allseitige gleichmäßige Ver¬
teilung Sorge getragen wird. Handelt (
es sich um eine glatte, leicht zugängliche !
Fläche, so genügt es, diese mit einem jod- |
getränkten Gazetupfer zu bestreichen, j
Es empfiehlt sich, nach Eintrocknen der j
ersten Schicht sofort eine zweite Auf- !
pinselung vorzunehmen. Um einen Erfolg !
zu erzielen, hat die Jodierung das er- j
krankte Gebiet allseitig um mindestens |
Handbreite zu überschreiten, denn nur |
so hat man die Gewähr, die über die ;
äußerlich sichtbare Grenze des Erysipels
bereits vorgedrungenen Erreger zu er¬
reichen. Bei genauer Befolgung dieser i
Regel sind die Resultate erstaunlich. In !
der Mehrzahl der Fälle ist schon nach der :
einmaligen Anwendung ein rasches Zurück- j
gehen der Krankheitserscheinungen zu
bemerken. Die Temperatur sinkt kritisch
zur Norm, hier, und da noch weiter herab
und die subjektiven Störungen sind häufig
mit einem Schlage geschwunden. Ein
Fortkriechen der Rötung über den braunen
Jodanstrich ist nicht zu sehen. Bleibt
dieser für gewöhnlich eintretende Erfolg
einmal aus, so schließt er sich so gut wie
immer an die tags darauf zu wieder¬
holende Pinselung an. Ist das Erysipel
durch einen anderweitigen Krankheits¬
prozeß kompliziert oder sekundär durch
Gegenwart 1917. ' Februar
diesen hervorgerufen, so ist eine derartig
augenfällige ■ Beeinflussung speziell der
Temperaturkurve natürlich nicht immer
zu erwarten. Der eigentliche cutane
Prozeß wird aber auch in diesen Fällen
in derselben günstigen Weise beeinflußt.
Die erysipelatös erkrankte, selbst mit
Blasen bedeckte Haut verträgt die Jod¬
behandlung glänzend. Sie unterscheidet
sich in dieser Beziehung eigentlich in
nichts von der gesunden Bedeckung; ein
geringes brennendes Gefühl macht sich
gelegentlich einmal als einzige Störung
bemerkbar. Dünner.
(M. KI. 1916, Nr. 53.)
Eine Anregung zur Anstellung von
Hautreaktionen bei Fleckfieber gibt E.
Jacobsthal in Hamburg, und zwar emp¬
fiehlt er eine Cutisreaktion mit dem
Extrakte von Fleckfieberläusen, in deren
Darm die Erreger des Fleckfiebers, wie
die bakteriologischen Untersuchungen
wahrscheinlich gemacht haben, leben.
Stellt man also einen Extrakt aus Läusen,
die an Fleckfieberkranken gesaugt haben,
her, so hat man gleichzeitig auch ein Anti¬
gen aus dem Erreger selbst. Zur Her¬
stellung der Extrakte, in denen das Virus
selbstverständlich nur abgetötet zur Ver¬
wendung kommen darf, empfiehlt er neben
der Inactivierung durch Wärme-, Karbol¬
oder Äthereinwirkung, die Behandlung
mit 5%igem Antiformin, von dem man
weiß, daß es Läuse mit der Zeit auflöst
Über praktische Erfahrungen mit dieser
Cutisreaktion verfügt Jacobsthal nicht.
Er will vielmehr die Kollegen, denen
Fleckfiebermaterial zur Verfügung steht,
anregen, vergleichende Intracutanreak-
tionen an Fleckfieberkranken, Rekon¬
valeszenten und Gesunden zu machen.
Derartige Versuche würden uns vermut¬
lich in der Bewertung der Bakterien weiter¬
bringen, die bei Fleckfieber als Erreger
angesprochen worden sind, wie z. B. der
Bacillus vonPlocz, Weil undFelix(über
die Untersuchungen dieser Autoren ist in
Nr. 6 dieser Zeitschrift berichtet worden).
Über Cutisreaktionen mit ihnen ist bisher
nichts bekannt geworden. Natürlich ist ein
Vergleich dieserCutisreaktionen mitdenen
! durch Läuseextrakte bei demselben Indi¬
viduum von größtem Wert. Dünner.
(D. m. W. 1916, Nr. 36.)
Für die Pathogenese der Gallensteine
j ist eine Mitteilung von Schlecht von
! Bedeutung, welche auf die Folgezustände
i abnormer ligamentärer Verbindungen
1 der Gallenblase hinweist. Von Kon-
Die Therapie der Gegenwart* 1017.
Pebruaf
jetzny und Flint ist auf eine nicht
seltene Ligamenturverbindung zwischen
Gallenblase und Querkolon, das
sogenannte Ligamentum hepatocolicum,
hingewiesen worden, das wohl sicherlich
eine kongenitale Bildung ist. Dieses Band
kann heftige Schmerzen äuslösen, die ganz
denen des Gallensteinanfalles gleichen
und gelegentlich zu operativen Eingriffen
Veranlassung geben. Als einziger Befund
der Operation findet sich dann das breite
Band, nach dessen Discision der Patient
beschwerdefrei bleibt. Das Band kann
unter Umständen zu einer Stauung in der
Gallenblase führen, die nach Untersuchun¬
gen von Aschoff und Bacmeister wie¬
derum ein ausschlaggebendes Moment zur
Bildung von Gallensteinen ist. Eine solche
Stauungsgallenblase infolge des Liga¬
mentum hepaticolicum ist seinerzeit von
Konjetzny beschrieben worden.. Unter
Umständen kann dies Band aber auch
durch Kompression des Duodenums die
Erscheinungen einer Duodenal- oder Py¬
lorusstenose oder wenigstens der gestörten
Magenmotilität hervorrufen. Über einen
solchen Fall mit röntgenologischen Be¬
funden berichtet Schlecht in seiner Ar¬
beit über Duodenalstenosensym¬
ptome bei anormaler ligamen-
tärer Verbindung der Gallen¬
blase. Die Diagnose schwankte an
fänglich zwischen einer Erkrankung der
Gallenblase und des Magendarmtraktus.
Bei der Röntgenuntersuchung sah man
nun eine dauernde Füllung des Duode¬
nums bis zur Pars descendenc und hori¬
zontale inferior., sehr lebhafte Peristaltik
und deutliche antiperistaltische Wellen
am Duodenum. Diese persistierende
Dauerfüllung mit lebhaften peristalischen
Phänomenen bleibt eine geraume Zeit be¬
stehen, dann tritt der Inhalt in den wei¬
teren Dünndarm über. Gleichzeitig be¬
stand Druckempfindlichkeit im Verlaufe
des Duodenums, außerdem aber auch ein
Druckpunkt in der Gegend der Gallen¬
blase außerhalb des Darmes. Die Rönt¬
genuntersuchung des Dickdarmes ergab
normale Verhältnisse.
Auf Grund des Befundes am Duode¬
num nahm Schlecht eine intermittie¬
rende Duodenalstenose an, die bedingt ist
durch einen Prozeß außerhalb des Duo¬
denums, wahrscheinlich durch Verwach¬
sungen. Bei der Operation sah man nun
zwischen Gallenblase und Kolon eine
bandartige Verbindung, die schmalbasig
der Gallenblase in ihrer ganzen Länge
anhaftete, das Duodenum überquerte und
: am Kolon endigte. Dieses Band ist eine
i direkte Fortsetzung des Ligamentum he-
1 patoduodenale. Magen und Gallenblase
I waren frei. Das Ligamentum hepato-
| colicum wurde eingeschnitten. Nach etwa
: dreiviertel Jahren traten erneute Anfälle
j auf, die, wie eine zweite Operation zeigte,
bedingt waren durch Verwachsungen des
Colon transversum und der Flexur mit
dem Leberrande. Die Gallenblase war
frei. Seitdem ist die Kranke beschwerde-
j frei geblieben. Eine einunddreiviertel Jahr
j nach der zweiten Operation vorgenommene
Röntgenuntersuchung zeigte einen mäßig
ptotisch atonischen Magen mit völlig nor¬
maler Peristaltik und normaler Entlee¬
rungszeit. Das Duodenum war ebenfalls
völlig normal. Dünner.
(M. m. W. 1916, Nr. 38.)
Über operative Gelenkmobilisation teilt
Röpke seine Erfahrungen mit. Die
Mobilisierung versteifter Gelenke auf
operativem Wege hat gerade bei Kriegs¬
verletzungen einen wesentlich größeren
Interessenkreis gefunden als . früher.
Röpke gibt eine umfassende Übersicht
über die Operationsmethoden, die sich
bewährt haben und zu empfehlen sind. Es
ist festzustellen, daß eine genügende Zeit
biseinigeWochen nach demSchwinden der
letzten Entzündungserscheinungen ver¬
strichen sein muß, bevor man zur Opera¬
tion schreitet. Hierbei ist nicht zu be¬
fürchten, daß man mit der Operation zu
spät kommt, denn schon früher konnte
Verfasser zeigen, daß sogar 20 Jahre nach
der Verletzung eine Mobilisierung mit
vollem Erfolg ausgeführt werden kann.
Selbstverständlich muß man sich vor der
Operation darüber klar sein, daß auch
, genügend Haut zur Deckung des De-
i fektes vorhanden ist, daß die Knochen-
j Zerstörung nicht derartig hochgradig ist,
i daß man mit der Entstehung eines
j Schlottergelenkes rechnen muß. Es
wird ohne künstliche Blutleere operiert.
Nach entsprechender Modellierung der
I Knochenenden, wobei man Gefäße und
i Nerven, welche großen Zerstörungen oft
! verlagert sind, besonders schont, wird ein
Stück Fett, welches der Außenseite des
Oberschenkels entnommen ist, frei trans¬
plantiert. Welche Art von Schnittführung
im einzelnen anzuwenden ist, ist in jedem
Fall verschieden, doch ist es zweckmäßig,
sich außerhalb der Hautnarbe zu halten.
Stößt man unvermutet auf einen ab¬
geschlossenen Eiterherd, so ist mit der
- Ausstoßung des Fettlappens zu rechnen.
(D. m. W. 1916, Nr. 42.) - Hayward.
9*
68 Die Therapie der
Seine Beobachtungen und Erfahrungen j
über Halsdriisentuberkulose und Lazarett¬
behandlung teilt Prof. Wilms in einem j
kurzen Aufsatze mit. Da er häufig die j
Beobachtung gemacht hat, daß tuber¬
kulöse Halsdrüsen extirpiert werden, so
sieht er sich veranlaßt, vor dieser Behand¬
lung zu warnen, weil sich vielfach Rezi- !
dive an anderen Drüsen in der Nachbar- !
schaff einstellen. Er empfiehlt warm die [
Röntgentherapie der Drüsentuberkulose, i
wenn auch die Behandlung länger dauert.
Man hat aber den großen Vorteil, daß das
Auftreten von Rezidiven kaum zur Beob¬
achtung kommt. Außerdem spricht für die
Röntgenbehandlung noch die Tatsache, ,
daß durch die Röntgenbestrahlungen der j
Körper gewissermaßen gegen erneute In- j
fektion immunisiert wird und daß ferner j
die Röntgentherapie ambulant durch- j
geführt werden kann: Wilms erwähnt
noch, daß neben der Röntgentherapie bei
Vereiterung oder Verkäsung kleine stich- :
förmige Incisionen zur Unterstützung der
Heilung notwendig sind. Alle die Fälle
von Drüsentuberkulose, welche nach ;
mehrmaliger Bestrahlung nicht verschwin- j
den, zeigen so gut wie regelmäßig größere
Käseablagerungen, deren Resorption na¬
türlich unmöglich ist. Er glaubt, auf die
Röntgenbehandlung besonders deshalb
nochmals aufmerksam machen zu müssen,
da bei einem Patienten, bei dem wegen
einer relativ geringfügigen Drüsentuber¬
kulose operiert worden war, eine totale
Lähmung aller Muskeln zurückblieb, die
vom Nervus accessorius versorgt werden.
(M. m. W. 1917, Nr. 1.) Dünner.
Koenig macht auf die größere Häu¬
figkeit der Hernien im Kriege aufmerk¬
sam. Die größere Häufigkeit der direkten
Leistenhernie beim Manne mag auf
schnelle Abmagerung zurückgeführt wei¬
den. Von eingeklemmten Brüchen beob¬
achtete Verfasser im Kriege fast 60%
mehr als im Frieden, wobei, es auffällt,
daß die ganze Vermehrung auf die Schen¬
kelhernien entfällt, von denen auffallend
viele bei Männern auftreten (zirka 40%
der weiblichen gegen 12% im Frieden).
Als Ursache kommt wohl in erster Linie
die schnelle Abmagerung und starke Peri¬
staltik im Verein mit starker, besonders
gasiger Darmfüllung, die den leeren Darm
in die erweiterte Bruchpforte einpreßt,
die ihn, ohne Fettpolster wie sie ist,
wenn er sich füllt, festhält und zur
Einklemmung bringt, die sehr scharf
ist und demgemäß häufig zur Gangräne
Gegenwart 1917. Februar
führt. Auch die Littreschen Darmwand-
hernien wurden sehr viel häufiger ge¬
sehen und machten einen guten Teil der
ausgeführten Resektionen nötig, die über¬
haupt häufiger nötig waren als im
Frieden (Verschleppung?). Sehr bemer¬
kenswert ist, daß die Soldaten von dieser
Häufung von Hernieneinklemmungen
nicht betroffen waren (bessere Ernäh¬
rung, verhältnismäßig geringere Arbeits¬
leistung?). " Waetzoldt.
D.m. W. 1917, Nr. 1.
Dibbelt hatte Gelegenheit, an Ge¬
fallenen der Altersklasse zwischen 20 und
30 Jahren Untersuchungen über die Be¬
einflussung des Herzgewichtes durch kör¬
perliche Arbeit anzustellen. An 22 Fällen
fand sich — nach der Methode W. Mül¬
lers — ein Herzgewicht von im Durch¬
schnitte 290 g ohne subperikardiales Fett,
wobei die höheren Werte von Infante¬
risten, und zwar besonders solchen, die
den Feldzug von Anfang an mitmachten
oder von Schwerarbeitern stammen, wäh¬
rend die wesentlich unter dem Durch¬
schnitte liegenden Werte von anderen
Waffen und Berufen ohne schwere Kör-
perarbiet stammten. Eine Ausnahme bil¬
dete ein Pionier und Schwerarbeiter, der
ein Herzgewicht von 236 g aufwies. Das
Verhältnis zwischen Herzgewicht und
Körpergewicht war im Durchschnitt
0,00442, doch zeigten die Zahlen nach
oben wie nach unten beträchtliche Ab-
i weichungen, wenn man auch annehmen
| kann, daß das Herzgewicht direkt pro-
! portional dem Körpergewichte wächst,
j Das Verhältnis von Gewicht des linken
i Ventrikels zum Körpergewichte verhielt
i sich ebenso. Das Verhältnis der Gewichte
: des rechten zu dem des linken Ventrikels
. war wie 4:7, das heißt größer als bisher
, angenommen (1:2); von einer verhältnis-
! mäßigen Aktivitätshypertrophie des lin-
| ken Ventrikels ist also keine Rede. Das
; Verhältnis der Vorhöfe zu den Ventrikeln
war das normale (0,160). Eine verhält-
. nismäßige Abnahme des* Herzgewichtes
bei steigendem Körpergewichte ließ sich
; nicht feststellen. Die Abweichungen von
! den bisher geltenden Zahlen erklären sich
! aus der Verschiedenheit des Materials
(Krankenhaussektionen — völlig gesunde
Gefallene). Waetzoldt.
(D. m. W. 1917, Nr. 1.)
Bekanntlich können in völlig aus¬
geheilten geschlossenen Verletzungen viru¬
lente Mikroorganismen sich jahrelang hal-
Februar Die Therapie der Gegenwart 1917. 69
ten und bei einem neuen Trauma wieder
aktiv werden (ruhende Infektion). Auf
das besonders häufige Vorkommen dieses
Vorganges bei Operationen an Kriegs¬
verletzungen macht Katzenstein 'auf¬
merksam und gibt Erfahrungen über die
mögliche Ausschaltung dieses „unsicheren
Faktors“ unserer Kriegschirurgie. Die
offene Wundbehandlung hat ihr
Hauptgebiet bei der Behandlung schlecht
stehender eiternderKnochenbrüche (supra-
kondyläre Oberarmbrüche!). Operation
zwecks Einrichtung möglichst frühzeitig,
dann offene Behandlung im gefensterten
Gipsverbande ohne Drainage. Das meist
nach der Operation .auftretende Fieber
geht ebenso wie vorher bestehende hohe
Temperaturen in wenigen Tagen zurück.
Die Behandlungsdauer ist kürzer, die
Resultate naturgemäß besser (geringer
Callus). Außerdem ist die offene Wund¬
behandlung indiziert bei allen Nach¬
operationen, bei denen das Bestehen von
Granulationen auf eine Infektion hin¬
weist; sogar bei Nervenoperationen, wo
die Eiterung, wenn sie nur Abfluß hat,
keineswegs die Wiederherstellung der Ner¬
venleitung gefährdet. Bei Transplanta¬
tionen hält es Verfasser, ausgehend von
der Überlegung, daß auch die Gewebe An¬
titoxine bilden für vorteilhafter, zur Trans¬
plantation nicht irgendwelche geeignete
Gewebe zu nehmen, sondern solche, die
schon eine Entzündung durchgemacht
haben, am besten aus der Umgebung der
Stelle, in die transplantiert wird: also
zum Beispiel bei Mobilisationen von durch
Eiterung versteiften Gelenken, Verlage¬
rung von Teilen der Gelenkkapsel oder
dergleichen in dem neugebildeten Ge¬
lenkspalt. Ebenso Knochenbolzung durch
Teile der zu bolzenden Knochen. Die
Erfolge sind nach Angabe des Verfassers
sehr gut, eine Eiterung trat nur einmal
bei einem großen Hämatom auf.
Endlich bewährte sich die zweizeitige
Operation sehr zur Vermeidung der Zer¬
störung des Operationsresultats durch
Eiterung. Bei der ersten Operation wurde
alles bis auf die Transplantation (Fascie,
Haut, Knochen als Transplantate) fertig¬
gestellt, dieWunde geschlossen. Trat inner¬
halb drei Tagen Eiterung schwerer Art oder
Fieber ein, so wurde von der Transplan¬
tation vorläufig abgesehen. Blieb das
Fieber aus, so mißlang die Transplanta¬
tion kaum jemals. Im ganzen kann Ver¬
fasser die Erfolge mit seinen Methoden
als recht günstig bezeichnen.
D. m. W. 1916, Nr. 50. Waetzoldt.
Pfaundler stellt gegenüber auch von
ärztlicher Seite vielfach geäußerten Be¬
denken, ob die Ernährung der Klein¬
kinder zurzeit ausreichend sei/folgendes
fest (Zahlen von Oktober 1916 für Mün¬
chen gültig). Nach denZahlenCamerers,
die besonders bezüglich des Eiweißgehal¬
tes vielleicht noch etwas reichlich be¬
messen sind, beträgt der Bedarf zwischen
dem zweiten und siebenten Lebensjahre
für das Kilo Körpergewicht rund 3,5 g
Eiweiß, 2—3 g Fett, 9—11 g Kohle¬
hydrate mit im ganzen rund 8,0 Calorien^
brutto. Die für Kleinkinder jetzt zulässige'
Nahrungshöchstmenge enthielt 66 g Ei¬
weiß, 39 g Fett, 323 g Kohlehydrate mit
1970' Calorien. Vergleicht man die aus
diesen Zahlen berechneten Werte pro
Körperkilo mit den Camererschen Zah¬
len des Bedarfes für die verschiedenen
Lebensalter, so ergibt sich ein calorischer
Überschuß von 40 bis 60%, wobei das
etwas knappe Fett durch den Überschuß
an Kohlehydraten und Eiweiß reichlich
gedeckt sind. Die angeführten Höchst¬
mengen standen — abgesehen von Kar¬
toffeln und neuerdings von Fett — auch
tatsächlich zur Verfügung. Rechnet man
jedoch diese fehlenden Nahrungfebestand-
teile ab, so verbleibt gleichwohl noch ein
beträchtlicher Überschuß, wobei Fett
allerdings in noch größerem Maße von
Kohlehydraten ersetzt werden muß. Nicht
eingerechnet in diesen Zahlen sind über¬
dies Fische, Marmelade, Zwieback, Keks,
Kindermehle, Milchkonserven, Pilze, Öle
und Bier. Zu . berücksichtigen ist aller¬
dings, daß Kinder im sechsten Jahre
schon bis zu 20 kg wiegen, während die
Zahlen für 15 und 18 kg schwere Kinder
errechnet sind. Daß im großen ganzen
die zuständigen Mengen auch gekauft
werden, scheint dem Verfasser daraus
hervorzugehen, daß der Vorrat tatsäch¬
lich verbraucht, alle Karten abgegeben
werden, da mit Kartenverkauf doch
kaum zu rechnen sei. Zieht man weiter
noch die Steigerung der Lebensmittel¬
preise in Betracht, so sind wohl nur Eier
und Fleisch im Preise so gestiegen, daß
die Beschaffung nicht durch Steigerung
des Einkommens ermöglicht wird. Rech¬
net man auf diese noch von den Zahlen
für den höchstzulässigen Verbrauch ab,
so ergibt sich für Fünfjährige ein Kon¬
sum pro Kilogramm Körpergewicht an Ei¬
weiß von 3,0, an Fett von 2,0 an Kohle¬
hydraten, von 15,0 bei einem Bedarfe
(fehlendes Fett auf Kohlehydrate um¬
gerechnet) von 3,3 Eiweiß, 2,0 Fett*
70
Die Therapie der Gegenwart 1917;
Februar
11,4 Kohlehydrate. Die entsprechenden
Calorienzahien waren 98 beziehungsweise
78,5, also immer noch ein beträchtlicher
Überschuß, zumal wenn man in Betracht
zieht, daß der Eiweißkonsum sicher das
Minimum, vielleicht sogar das Optimum
überschreitet.
Pfaundler schließt, daß nach Be¬
kömmlichkeit und Dauererfolgen die
jetzige Kost der meist viel zu abundanten
und animalischen Kost — namentlich in
den ,,besseren“ Kreisen — wohl als über¬
legen zu bezeichnen ist, und die Forderun¬
gen erfüllt, die in letzter Zeit als die Kost
der Wahl von den Kinderärzten aufge¬
stellt wurde, als eine Diät, die vorbeugend
und abwehrend wirkt gegenüber zahl¬
losen Kleinkinderschäden.
(M. m. W. 1916, Nr. 50.)' Waetzoldt.
Die Behandlung alter Knochenfisteln
nach Schußfrakturen erörtert. Franke.
Die Knochenfistel nach . Schußfrak¬
turen stellt ein Leiden dar, welches spe¬
ziell in Heimatlazaretten in größerer Aus¬
dehnung angetroffen wird, als man ge¬
meinhin annimmt. Wenn auch der Ver¬
lauf des infizierten* Knochenschusses in
mancher Beziehung der Osteomyelitis
ähnelt, so ist gerade bei der zurückbleiben¬
den Fistel ein wesentlicher Unterschied
darin zu suchen, daß bei der Osteomyelitis
die Infektion stets auf hämatogenem Wege
erfolgt, während hier die Infektion direkt
am Orte der Verletzung einsetzt. Dem¬
gemäß unterscheidet sich auch die Fistel
bei der Kriegsverletzung dadurch, daß oft
nur sehr kleine Sequester, welche bei der
starken Callusbildung auch röntgenolo¬
gisch gelegentlich nicht nachweisbar sind,
bestehen. Die Therapie, die nur eine
chirurgische sein kann, muß diesen Ver¬
hältnissen Rechnung tragen, indem jeder
Fistelgang — und oft gehen von einer
Fistel in der Tiefe mehrere Gänge aus —
genau verfolgt wird. Man wird dann auf
kleine Knochenstücke gelangen, die wahr¬
scheinlich, wenn sie in der Muskulatur
sitzen, bei der Verletzung schon abge¬
sprengt worden sind. Erst durch die Ver¬
folgung jeder einzelnen Fistel wird man
den gewünschten Erfolg haben.
(B.kl. W. Nr. 39.) Hayward.
Über kontralaterale Behandlung
funktioneller Lähmungen und Con-
tracturen berichtet Stulz (Berlin). Die.
Beseitigung der fehlerhaften Innervation
ist ein wesentlicher Faktor bei der Thera-
! pie der funktionellen Lähmungen. Sie
; gelingt meist außerordentlich schnell,
wenn man den Patienten dazu bringt, auf
' der gesunden Seite die fehlerhafte Bewe-
; gung und Stellung des betreffenden Glie¬
des nachzuahmen. Sobald das erreicht
ist, hat dieser Faktor im Bewußtsein des
Patienten seine Bedeutung verloren. Was
i man auf der gesunden Seite ohne weiteres
! nachahmen kann, kann keine erhebliche
i Störung sein, ln Wirklichkeit stößt diese
! Methode meist auf einen gewissen Wider-.
; stand. Das Maß dieses Widerstandes ist
| wichtig zur Beurteilung der bei dem be-
1 treffenden Kranken vorhandenen Aggra-
| vation. In diesem. Sinne kann das Ver-
| fahren als direkte Simulationsprobe emp-
! fohlen werden. Unter anderem berichtet
i Stulz über einen Fall von funktioneller
Lähmung des rechten Armes. Die Hebung
des Armes nach außen war nur angedeu-
! tet, man fühlte dabei eine geringe, bald
nachlassende Contraction des Deltoideus.
Am wesentlichsten war die Störung beim
Versuche der Beugung des Ellbogen¬
gelenkes. Eine leichte Contraction des
Biceps war deutlich, sie hatte aber keinen
motorischen Effekt. Statt der Ellbogen¬
beugung machte der Patient eine Beugung
im Handgelenk, unter gleichzeitiger
Streckung und Spreizung der Finger. Die
Bewegungen im Handgelenk und der
Finger waren vollständig intakt. Es ge¬
lang nun in einigen Sitzungen, den Pa¬
tienten dazu zu bringen, daß er auf der
gesunden Seite die groteske Handbewe¬
gung kopierte. Seitdem haben diese Mit¬
bewegungen aufgehört. Die Lähmung
selbst befindet sich auf dem Wege der
Besserung. Patient kann den Arm im
Schultergelenk bis zur Horizontalen er-
| heben und ihn bis zum rechten Winkel
! beugen. Dünner.
! (D. m. W. 1917, Nr. 1.)
Bei der Behandlung der Meningitis
epidemica nur mit Lumbalpunktion er-
: zielte Riedel sehr schöne Erfolge. Bei
fünf Fällen fünf Heilungen. Den Patienten,
die zwischen dem zweiten und fünften
Krankheitstage mit dem typischen Krank¬
heitsbilde eingeliefert wurden, wurde so¬
fort reichlich Liquor abgelassen — bis
der Druck zur Norm absank—. und dies
in der ersten Zeit täglich, dann nur noch
beim Bestehen meningealer Erscheinun-
; gen wiederholt. Innerlich wurde, wie
| üblich, Urotropin gegeben. Jede Fieber-
| Steigerung, Liquortrübung, Wiederauf-
! treten meningealer Symptome usw. galt
Februar
Die Therapie der Gegenwart 1917.
71
als Indikation zur Lumbalpunktion, so
daß bis in die' vierte und fünfte Woche
hinein unter Umständen punktiert werden
mußte und im Einzelfalle einmal 18 Punk¬
tionen gemacht wurden. Die Erschei¬
nungen gjngen nach der Punktion stets
prompt zurück, um allerdings durchaus
nicht immer ganz auszubleiben. Schlie߬
lich wurde jedoch in allen Fällen völlige
Heilung erzielt. Verfasser möchte auch
das Fieber — besonders in der Rekon¬
valeszenz—, als cerebral, durch Hirndruck
bedingt, auffassen und überhaupt die i
Drucksteigerung als Ursache der Krank- j
heitserscheinungen und des Todes sehr |
in den Vordergrund stellen. I
Die Technik bot nichts Besonderes, es I
sei denn, daß der Eingriff mitunter in
dem (doch nicht ganz ungefährlichen;
Referent) Chloräthylrausch ausgeführt
wurde. Waetzoldt.
M. m. W. 1916, Nr. 50.)
Das Auftreten von Meningitis und
Pyo- und Hydrocephalus nach Schu߬
verletzungen des Kopfes veranlaßten
M. Westenhöfer und R. Mühsam zu
einer Mitteilung über die Behandlung
der Meningitis und des chroni¬
schen Pyo- und Hydrocephalus j
durch Okzipitalincision und Unter- j
hornpunktion und -drainage, die j
sie schon vor mehreren Jahren in Frie- |
denszeiten aus theoretischen Erwägungen I
heraus versucht hatten. Der Zweck einer. 1
Therapie bei eitriger Meningitis und Eiter- j
ansammlungen im Gehirne muß dahin
gehen, dem Eiter Abfluß zu verschaffen.
Da es sich um vorgebildete Höhlen han¬
delt, aus deren Wand (Adergeflecht) die ,
Eiterung durch Fortbestehen der ent¬
zündlichen Ursache auch nach Entleerung i
des Eiters weiter vor sich gehen kann, so |
muß die Methode so gestaltet werden,
daß auch eine Berieselung und ergiebige
Durchspülung der Höhlen erfolgen kann.
Mit Lumbalpunktion oder Balkenstich
ist dies nicht zu erreichen. ’ Wird das
Hinterhorn punktiert, so bleibt der Haupt¬
herd der Eiterabsonderung, nämlich das .
Adergeflecht des Hinterhorns, unbeein¬
flußt. Bei dem zickzackartigen Verlaufe
der Kammer- und Hörnerhohlräume des
Gehirns ist es notwendig, daß man sich
zur Entleerung des Eiters den tiefsten
Punkt aussucht, das ist die Spitze des
Unterhorns und das Loch Magendis.
Eine Operation, die die Zisterne öffnet, /
öffnet auch die vierte und dritte Gehirn¬
kammer. Es genügt aber nicht nur eine
einfache Punktion, sondern man muß
eine. längere Zeit fortgesetzte Drainage
des Unterhorns mit gleichzeitiger Durch¬
spülung der Kammer vornehmen. Die
Operationsstelle ist nahezu die gleiche
wie die zur Herausnahme des Gasser-
schen Ganglions, nur daß an Stelle des
großen Lappens nur eine lochförmige
^nbohrung des Schläfenbeines notwendig
ist. Die Stelle der Trepanation liegt 1 cm
oberhalb des Ansatzes des Jochbeinfort¬
satzes an das Schläfenbein. Wird hier
der Trokar eingestochen, so liegt die
Punktionsöffnung der harten Hirnhaut
in dem Winkel, der von dem hinteren
und vorderen Ast der A. meningea media
gebildet wird, letzterem näher als ersterem.
Die Richtung des Stichkanals ist genau
horizontal. Seine Länge vom Knochen
an beträgt 3—4 cm, das heißt man darf
den Trokar zunächst nicht tiefer als 3 cm
bei Kindern, 4 cm bei Erwachsenen ein¬
stoßen. Es muß ein eingeteilter Trokar
| benutzt werden, um die Länge zu be¬
stimmen. Handelt es sich darum, einen
schon bestehenden chronischen Hydro¬
cephalus zu behandeln, wobei es darauf
ankommt, eine neue Infektion der Höhlen
zu vermeiden, so kann das Metall-Dauer¬
drainröhrchen an seinem äußeren Ende
mit eingeschnittenem und umgebogenem
Rande versehen sein, der sich dem Kno¬
chen außen gut anlegt, wodurch sowohl
ein Hinein- wie Hinausgleiten verhindert
wird. Die äußere Wunde wird durch
Nähte geschlossen, so daß die Flüssig¬
keit keinen Abfluß nach außen er¬
hält, sondern subcutan aufgesogen wird.
Gegebenenfalls wird sie nach .dem
Vorgänge von Payr in die V.
jugularis abgeleitet.
Nach diesem Vorschläge von Westen¬
höfer hat R. Mühsam im Krankenhause
Moabit mehrere entsprechende Fälle ope¬
riert. Er erreichte einmal tatsächlich eine
wesentliche Besserung, und es ist anzu¬
nehmen, daß diese Besserung auf die
Punktion zurückzuführen ist. Die beiden
anderen ebenfalls operierten Fälle be¬
trafen chronischen Hydrocephalus nach
Meningitis. Beide kamen ad exitum, der
eine wohl durch eine Blutung infolge Ver¬
letzung eines Gehirngefäßes. Wenn also
auch das Verfahren nicht als ungefährlich
angesehen werden kann, so ist es. tech¬
nisch einfach auszuführen und sollte in
geeigneten Fällen angewandt werden.
D ii n ne r.
(D. in. W. 1916, Nr. 51.)
72
Die Therapie der Gegenwart 1917. Februar
Um die Heilung ausgedehnter Mund¬
verletzung nach schweren Kieferschüssen
zu erleichtern, verpflanzt Moszkowicz
Thiersch’scher Epidermisläppchen
in die Mundhöhle. Bei Kieferschüssen tritt
infolge der narbigen Schrumpfung na¬
mentlich dann, wenn der Mundboden aus¬
gedehnter mitverletzt ist, eine Schrump¬
fung der Weichteile ein, die es unmöglich
macht, Prothesen einzusetzen. Die direkte
Verpflanzung Thiersch’scher Läppchen
verbietet sich, da die mangelhaft asepti¬
schen Verhältnisse des Mundes diese nicht
zur Anheilüng kommen lassen. Ver¬
fasser ist,* um diesen Übelstand zu be¬
heben, so vorgegangen, daß er am Kinn
eine Tasche gebildet hat, die mit Epider¬
mis ausgekleidet wurde. Später wurde
diese Tasche nach der Mundhöhle zu
eröffnet und mit den Resten der Mund¬
schleimhaut in Verbindung gebracht. Es
entstand so ein gut mit Epidermis aus¬
gekleideter Abschnitt, in den die Pro¬
these ohne weiteres eingesetzt werden
konnte. Hayward.
(Arch. f. klin. Chir. Bd. 108, Heft 2.)
Rassiga berichtet über Erfahrungen
mit der Behandlung von Narben und
ihren Folgezuständen mit Cholinchlorid
(Fränkel).. Es wurden von frisch her¬
gestellten meist 5% doch auch 10%igen
Lösungen des Mittels in steriler physio¬
logischer Kochsalzlösung 10 ccm um und
unter die Narbe (beziehungsweise die Ge¬
lenke, Muskeln usw.) eingespritzt. Über
Schmerzen danach wurde nur ausnahms¬
weise geklagt. Im Anschluß daran wurde
energische Behandlung mit Heißluft¬
massage, Elektrisieren, medicomechani-
schen Übungen fortgesetzt, da in den
nächsten Tagen nach der Injektion bei
starker Hyperämie und Wärmegefühl,
ein Lockerwerden der Narbe auftrat, das
für redressierende Maßnahmen außer¬
ordentlich geeignet ist.
Dringend nötig ist äußerst energische
Durchführung der physikalischen und re-
dressierenden Behandlung und möglichste
Vermeidung von Kälte während der ersten
sechs bis sieben Tage nach der Injektion.
Unangenehme Nebenwirkungen wur¬
den nie beobachtet, nur einmal ver¬
ursachte eine (durch Sodazusatz?) milchig
getrübte Lösung Infiltrate, Fieber und
ein scharlachähnlichesExanthem, in einem
Falle sogar Ulceration. Es darf also nur
ganz klare Lösung verwendet werden.
Im einzelnen war die Anwendung bei
narbigen Verwachsungen der Haut mit
I der Unterlage von besonders gutem Er-
I folge begleitet, während bei Nerven-
j Schädigung durch Narbeneinschneidung
I ein endgültiges Urteil noch nicht möglich
| war.'.Narbenneuralgien wurden durchweg
i sehr günstig beeinflußt.
Besonders schnelle und gute Erfolge
! waren bei torpiden Geschwüren auf Nar-
| ben, dieser Crux medicorum, zu verzeich-
; nen, selbst bei sehr veralteten, vielfach
I vergeblich behandelten Fällen.
Vasomotorische Störungen (Blausein,
• Kühle der Extremitäten) wurden günstig
beeinflußt, auch für Erfrierungen scheinen
die Aussichten gut. Schließlich wurden
. die Versuche auch auf Fälle von verzöger¬
ter Knochenbildung, Pseudarthrosen und
chronischen Fisteln angewandt, bei denen
ebenfalls einzelne überraschende Erfolge
zu sehen waren. Allgemein rät Rassiga,
■ das Mittel in keinem Falle, der zu den an-
; geführten Kategorien gehört, unversucht
zu lassen. Waetzoldt.
(M. m. W. 1916, Nr. 32.)
Die Prostatahypertrophie wird in neue¬
rer Zeit oft erfolgreich mit Röntgen¬
strahlen behandelt, ohne daß die eigent-
! liehe Ursache des Erfolges klar wäre.
Denn aus der Schnelligkeit des Erfolges,
andererseits aber aus der Tatsache, daß
: eine Verkleinerung der Drüse nicht statt-
• findet, ein Erfolg auch nicht in allen
; Fällen erreicht werden kann, schließt
Wilms, daß die günstige Beeinflussung
der Prostatahypertrophie durch Röntgen
strahlen in der gewöhnlichen Dosis von
50 bis 60 X von drei Seiten auf andere
Ursachen als auf eine Beeinflussung der
Adenome selbst zurückzuführen sei. Als
solche kommen in erster Linie die durch
i Lymphstauungen entzündliche Vorgänge
und Zersetzung bedingten Reizungszu-
| stände der Drüse, die auf dem Wege einer
I Neuritis zu Krampfzuständen führen, in
1 Frage. Die Umstimmung des Gewebes
durch die Röntgenbestrahlung schaltet
! diese Vorgänge aus ’ und ihre Folgezu¬
stände schwinden demgemäß gleichfalls.
Es sind also vorwiegend Fälle mit stär¬
keren Reizerscheinungen zur Röntgen¬
therapie geeignet, und auch bei diesen ist,
wenn der Erfolg nicht bald eintritt, ein
solcher nicht zu erwarten. Waetzoldt.
(M. ra. W. 1916, Nr. 30.)
Im Anschluß an seine Erfahrungen'
mit der Röntgentherapie der Reizzustände
bei Prostatahypertrophie versuchteWi lm s
die Röntgenbestrahlung beim Pyloro-
spasmus. ln zwei Fällen, die der internen
Februar Die Therapie der Gegenwart 1917. 73
Therapie getrotzt hatten , und deshalb
— mit Verdacht auf ulceröse Verände¬
rungen am Magen — zur Operation be¬
stimmt waren, wurden nach wenigen
Bestrahlungen so gebessert, daß Spasmen
kaum noch auftraten. Wilms nimmt an,
daß es sich dabei um Beseitigung ner¬
vöser Reize handelt, die durch Verände¬
rungen und Schädigungen der Magen¬
wand ausgelöst seien. Wie sich Pyloro-
spasmen, die auf dem Boden eines Ulcus
entstanden sind, bei der Bestrahlung ver¬
halten, bleibt abzuwarten. Äußerste
Vorsicht ist jedenfalls dabei am Platze.
(M. m. W. 1916, Nr. 30.) Waetzoldt.
Im vorigen Heft der Ther. d. Gegenw.
wurde eine Arbeit von Borchardt
über Ruhr referiert. Dieser vertritt die
Meinung, daß das wichtigste Symptom der
Ruhr eine spastische Obstipation sei.
Derselben Meinung schließt sich Zuel-
zer (Berlin) in einer Arbeit, betitelt
,,Die Hormonaltherapie der Ruhr“,
an. Als Stütze für diese Ansicht weist er
darauf hin, daß in den ersten drei bis vier
Tagen in der Regel nur Schleim und Blut
und keine fäkulenten Stühle entleert
werden. Die günstige Beeinflussung der
spastischen Zustände durch Atropin, wel¬
ches in leichteren Fällen durch Aufhebung
der Spasmen einer normalen Contraction
des Dickdarmes die Wege ebnet, legt
nun den Gedanken nahe, das Hormonal j
bei Ruhr anzuwenden. Zuelzer hatte
Gelegenheit, das Hormonal bei 40
der schwersten Fälle zu geben und
konnte beobachten, daß es die
spastischen Contractionen beseitigt und
gleichzeitig die Aufhebung der Stuhl¬
verstopfung bewirkt. Er sah nach
der Hormonalmedikation massenhafte
Entleerungen wirklich fäkulenter Stühle,
die einen günstigen Einfluß auf
das Allgemeinbefinden und auf den Puls
ausübten. Er injizierte stets 20 ccm Neo¬
hormonal intravenös und sah mehrere
Male, daß ganze Bettschüsseln voll Stuhl
entleert wurden. Abgesehen davon aber
erreicht man durch Hormonal nach
Zuelzer eine bessere Durchblutung der
Darmwand, die dazu beiträgt, daß die
sonst sich anhäufenden Ruhrtoxine schnel¬
ler beseitigt werden, und man so von
vornherein der Nekrotisierung der Dick¬
darmschleimhaut entgegenwirken kann.
Diese Auffassung Zuelzers stützt sich
auf die Beobachtung, daß von den 40 be¬
handelten . schweren Ruhrfällen nur in
zweien schwerere, durch die Beschaffen¬
heit des Stuhls erkennbare Darmnekrosen
auftraten, die aber von den Kranken über¬
wunden wurden. Von diesen beiden
Fällen war der eine erst am vierten Krank¬
heitstage in Behandlung getreten, also zü
einer Zeit, bei der die Darmschleimhaut¬
nekrose bereits eingesetzt hatte. Man
muß deshalb fordern, das Hormonal so
früh wie möglich anzuwenden. Zum
Schlüsse weist Zuelzer darauf hin, daß
das Hormonal in seiner jetzigen Form —
es wird als Neohormonal von Schering
geliefert — unschädlich ist. Dünner.
(D. m. W. 1917, Nr. 1.)
W. Lüth (Thorn) äußert in einem
Aufsatze seine Ansichten zur Salvarsan-
therapie. Er hält als empfehlenswerteste
Methode die intravenöse Infusion oder
Injektion. Es ist nötig, danach zu trach¬
ten, daß möglichst wenig Flüssigkeit zur
Lösung der Salvarsanmenge, die injiziert
werden soll, benutzt wird. Bisher be¬
nutzte Lüth zur Lösung von 0,3 g Neö,-
salvarsan 6 ccm Wasser und zur Lösung
von 0,45 g Neosalvarsan 10 ccm Wasser.
: Er stellte Versuche an. mit noch gerin¬
geren Flüssigkeitsmengen auszukommen.
I Denn je geringer die Flüssigkeitsmenge
ist, desto länger zirkuliert das Neosalvar¬
san im Körper. Es gelang ihm, nachzu¬
weisen, daß bei Verwendung von Lösun¬
gen 0,3:4 ccm Wasser und 0,45:5 ccm
Wasser das Salvarsan viel später durch
den Urin ausgeschieden wurde.
Was nun die Frage der einfachen Sal-
varsantherapie oder der kombinierten
Quecksilberbehandlung betrifft, so steht
Lüth auf dem Standpunkte der kombi¬
nierten Behandlung. Bei der reinen Sal-
varsantherapie gehört zu einem wirk¬
lichen Erfolge eine so große Anzahl von
Infusionen, daß oft äußere Umstände
oder die Ungeduld der Patienten die Be¬
handlung vorzeitig abbrechen lassen. Man
muß annehmen, daß eine Salvarsandosis,
die zu gering ist, um die Spirochäten voll¬
ständig abzutöt£n oder wenigstens zu
lähmen, zur Folge hat, daß allmählich
der Spirochätenstamm salvarsanfest wird.
Es werden somit im Laufe der Behand¬
lung erheblich höhere Salvarsandosen
notwendig, um die Abtötung der Spiro¬
chäten zu erreichen. Im anderen Falle
breiten sich die Spirochäten über den
ganzen Körper aus, sind viel virulenter
j geworden und haben sich an besonders
geeigneten Stellen, an Hirnnerven, bei
Durchtritt durch enge Knochenkanälchen
festgesetzt, wie sie sich viel günstiger als
10
74
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Februar
sonst entwickeln können. Die Gefahr der
Heranzüchtung eines besonders gefähr¬
lichen Spirochätenstammes wird geringer,
wenn neben Salvarsan von Anfang an
Quecksilber verabreicht wird. Wie Lüth
ausführt, soll man abwechselnd Salvarsan-
und Quecksilberdosen geben und nicht
etwa an eine Salvarsankur eine Queck¬
silberkur anschließen oder umgekehrt.
Lüth nimmt die Behandlung der Syphilis
folgendermaßen vor:
1. Die primäre Syphilis behandelt er
am ersten Tage mit 0,3 Neosalvarsan, am
zweiten Tage Hg. salicyl. 0,05, wenn der
Sitz es zuläßt, Excision der Sklerose,
darauf jeden dritten Tag Hg. salicyl. 0,1,
im ganzen zehn Quecksilberinjektionen,
dazu nach der achten und neunten noch
einmal Neosalvarsan 0,45. Hierbei wird
Wert darauf gelegt, daß die Quecksilber¬
injektionen unter Kontrolle des Urins
auch wirklich jeden dritten Tag erfolgen.
Etwaige Klagen der Kranken über große
Schmerzen wird ein Arzt, der seine Pa¬
tienten in der Hand hat, stets damit zum
Schweigen bringen, daß er sie darauf auf¬
merksam macht, um was es sich handelt,
daß sie bei gut durchgeführter Behand¬
lung wahrscheinlich in vier bis fünf Mo¬
naten gesund sind, während sie im anderen
Falle jahrelang die Behandlung fortzu¬
setzen haben und dann doch nicht an¬
nähernd die Gewißheit haben, gesund zu
sein. Unter dieser Einwirkung unter¬
ziehen sie sich stets der weiteren Behand¬
lung. Es wird zunächst drei Wochen
nach Schluß der ersten Kur eine Blut¬
untersuchung gemacht. Wenn, wie es bei
einer gut durchgeführten Kur stets der
Fall ist, die Wassermannsche Reaktion
negativ geblieben ist, so ist das ein her¬
vorragendes Mittel, das Vertrauen und
die Zuversicht der Patienten zu heben.
Daß zu dieser wünschenswerten nega¬
tiven Wassermannschen Reaktion die
vollen Quecksilberdosen notwendig sind,
konnteLüth wiederholt beobachten. Acht
Tage nach der Blutentnahme, also vier
Wochen nach Schluß der ersten Kur, be¬
ginnt die zweite Kur. Sie besteht in
achtmal Hg. salicyl. 0,1. Nun ist man
genötigt, eine längere Pause zu machen,
und zwar läßt man am besten drei Mo¬
nate nach der zweiten Kur verstreichen,
bevor die dritte Pflichtkur angefangen
wird, der auch wiederum eine Blutunter¬
suchung vorangeht, die bei ordnungs¬
gemäß durchgeführter erster und zweiter
Kur regelmäßig negativ ausfällt. Die
dritte Kur besteht wiederum in acht Hg-
lnjektionen zu 0,1. Darauf werden-nur
in größeren Zwischenräumen Blutunter¬
suchungen gemacht, eine weitere Be¬
handlung hat sich bei den Patienten, die
nach diesen Grundsätzen bisher behandelt
wurden, noch nicht als- erforderlich er¬
wiesen.
2. Bei sekundärer Lues ändert sich
die Behandlung nur in der Weise, daß
Lüth bei der ersten Kur auch in der Mitte
noch einmal Neosalvarsan 0,45 gibt.
(D. m. W. 1916, Nr. 51.) Dünner.
C. Bruck (Altona) bespricht eine sero¬
chemische Reaktion bei Syphilis. Es ist
seit Jahren sein Bestreben gewesen, eine
chemische Methode zu finden, die im¬
stande wäre, die stets variablen biologi¬
schen Reagentien (Komplement, Ambo-
ceptor, Organextrakt, Hammelblut) er-
setzlich zu machen. Er ging dabei von
dem Gedanken aus, daß es gelingen müsse,
den Körper x, der die positive Komple¬
mentbindungsreaktion im Luesserum be¬
dingt, durch chemische Methoden zum
Nachweis zu bringen, da anzunehmen ist,
daß dieser Körper, das sogenannte ,,Rea¬
gin“, entweder eine quantitative oder eine
qualitative Veränderung der Eiweiß- bzw.
Eiweißlipoidverbindungen des Luetiker¬
serums im Gegensatz zum Normalserum
bedingen muß. C. Bruck untersuchte
nun die Säure- und Alkaliwirkung bei
Anwesenheit von Lues- und Normal¬
serum und machte dabei die Beobachtung,
daß beim Zusatze von Alkali der Salpeter¬
säureniederschlag der Luetiker sich im
allgemeinen etwas schwerer und lang¬
samer löst als der der Normaleren. Dieser
Beobachtung ging Verfasser weiter nach,
indem er methodisch das durch Salpeter¬
säure gefällte Albuminat in destilliertem
Wasser wieder zur Lösung brachte. Er
stellte dabei fest, daß sich bei einer ge¬
wissen Verdünnung das gesamte Säure-
albuminat des Normalserums in Wasser
löst, während bei derselben Verdünnung
noch ein Teil des Säurealbuminats des
Luesserums ungelöst bleibt. Die Technik
der Methode ist folgende: Man gibt
0,5 ccm aktives, klar abgesetztes Blut¬
serum in ein reines Reagenzglas, fügt
2 ccm destilliertes Wasser zu und schüttelt
um. Dann fügt man mit einer Präzisions¬
pipette genau 0,3 ccm Ac. nitr. purum
der deutschen Pharmakopoe (also zirka
25%), schüttelt den gebildeten weißen
Niederschlag um und läßt zehn Minuten
bei Zimmertemperatur stehen. Hierauf
gibt man 16 ccm destilliertes Wasser von
Februar Die Therapie der
Zimmertemperatur (zirka 15°) zu, schüt¬
telt unter Verschluß des Glases mit der
Fingerkuppe durch dreimaliges Auf- und
Abwärtsneigen unter Vermeidung von
Schaumbildung um, wiederholt dies nach
zehn Minuten und läßt eine halbe Stunde
bei Zimmertemperatur stehen. Handelte
es sich um ein Normalserum, so ist der
gebildete Niederschlag in Lösung ge¬
gangen und es resultiert eine wasserklare
oder durchsichtige opaleszierende Flüssig¬
keit. Handelte es sich um ein Luesserum
(floride Lues) oder Lues mit positiver
Wassermannschen Reaktion, so bleibt
eine deutliche feinflockige weiße Trübung
bestehen. Läßt man nun zwei bis drei
Stunden, besser zwölf Stunden, weiter
stehen, so bleiben die Normalsera völlig
klar und durchsichtig und setzen keinen
oder nur eine Spur Bodensatz ab, während,
sich bei den Luesseren die flockige Trü¬
bung zu einer je nach der Stärke des be¬
treffenden Serums größeren oder kleineren
gelatinösen und ungemein charakteristi¬
schen Kuppe niederschlägt.
Vergleichsuntersuchungen mit der ur¬
sprünglichen Wassermannschen Reaktion
zeigten Bruck die Brauchbarkeit seiner
Methode, die er zur weiteren Nachprüfung
empfiehlt. Dünner.
(M. m. W. 1917, Nr. 1.)
Dub bespricht d e Heilung psycho¬
gener Taubheit (Taubstummheit).
Handelt es sich' um eine Taubheit und
Stummheit zugleich, so beseitigt er zu¬
nächst die Taubheit. Zu diesem Befunde
wird dem Patienten auf eine Tafel ge¬
schrieben, daß er zunächst sein Gehör
wieder erhalte und danach erst die
Sprache. Hierauf wird er ih ein dunkles
Zimmer geführt, dort werden ihm noch
die Augen verbunden, die Brille wird
ganz fest angezogen, daß das Gefühl eines
Eisenreifens um den Kopf entsteht. Hier¬
auf mache man sich wieder Licht. Da¬
nach geht D-ub mit zwei Ohrenkathetern
(Nr. 2 oder 3) durch die beiden unteren
Gegenwart 1917. 75
Nasengänge nach der Mündung der Tuba
Eustachii. Die Katheter werden mittels
einer Schnur auf dem Kopfe befestigt, sie
können auch mit der Hand gehalten wer¬
den. Nun wird der eine Pol an die Endeh
der beiden Katheter und der andere ab¬
wechselnd an den Processus mastoideus
geführt und der faradische Strom durch¬
gelassen; dieser kann ganz mild sein. Das
Gehör kehrt oft bei der ersten Anwendung
zurück. Wenn nicht, lasse man den Strom
mehrfach durchgehen, stets aber nur mit
Unterbrechung, Er braucht jedesmal
nur den Bruchteil einer Minute zu wirken.
Nachdem der Patient hört, was sich
schon vor dem Fragen durch alle mög¬
lichen Gebärden äußert, geht Dub zum
zweiten Teile über. Er nimmt die Ka¬
theter heraus, die Augen bleiben weiter
verbunden. Nun führt er eine Ventrikel-
sonde, die an ihrem unteren Ende ein
Schwämmchen trägt, das angefeuchtet
und mit 5 Tropfen Tinct. amar. acid. ver¬
sehen ist, durch den Ösophagus in den
Ventrikel ein, dann setzt er die beiden
Pole links und rechts vom Larynx außen
an und läßt, genau wie bei den Kathetern,
den faradischen Strom durch. Hierbei
muß der Patient zunächst den Vokal „a“
intonieren und dann einen ganzen Satz
hersagen. Nunmehr kommt er noch
24 Stunden in ein Dunkelzimmer zu Bett.
Zur weiteren Hebung des Gemütslebens
behält Verfasser die Patienten noch wei¬
tere vier Wochen in seiner Beobachtung
und beschäftigt sie mit Leseübungen. Sie
sind auch gute Vorbereiter für neu ein¬
treffende Kranke. Die vorbeschriebene
Methode kann man nun in der verschie¬
densten Weise modifizieren, dies lehrt
die Übung, wie überhaupt die Erfahrung
die größte Sicherheit und den schnellen
Blick gibt, wie man gerade den vorliegen¬
den Fall am besten anfaßt. Gleichzeitig
heilt Verfasser mit dieser Methode jahre¬
lang zurückliegendes Stottern. Dünner.
(D. m. W. 1916, Nr. 52.)
Therapeutischer Meinungsaustausch.
Aus der Professor v. Bardelebenschen Klinik und Poliklinik für Frauenleiden zu Berlin.
Unsere Erfahrungen mit Vesicaesan.
Von Dr. Johannes Trebing.
Dr. Jordan 3 :) weist.in seinem inter- i der und bemerkenswerter Weise auf ein
essanten Referate über Versuche mit ver- altbekanntes Harndesinfiziens, die Folia
schiedenen Harnantisepticis in gebühren- • uvae, ursi, hin, welches eine Zeitlang zu-
~) The Science Com. of the Brit. med. Ass. i g unsten der neu aufgekommenen chemi-
Raport on urinary antiseptics. 1 sehen Harnantiseptica weniger verordnet
10 «
76
Februar
Die Therapie der Gegenwart 1917.
wurde, jetzt aber dank seiner Vorzüge j
anderen Harnmitteln gegenüber wieder
in weitestem. Maße mit bestem Erfolge
angewandt wird. Auch wir erzielten in
zirka zwei Jahren mit der Darreichung
von Präparaten der Folia uvae ursi in
Form der „Vesicaesanpillen“ bei Erkran¬
kungen der Nieren, Harnblase und Harn¬
röhre die besten Resultate. Daß die Folia
uvae ursi zu unseren ältesten Heilmitteln
gehört, erhellt schon daraus, daß sie bei
allen Erkrankungen der Harnwege, Nie¬
reneiterungen, Harngrieß, akuten und
chronischen Blasenerkrankungen, bei
Harnröhrenfluß, Weißfluß usw. seit lan¬
gem in Anwendung war, aber den neueren
chemischen Harnantisepticis und Des-
infizientien Platz machen mußte, weil
diese neueren Mittel sich leicht einnehmen
ließen, wogegen bei der Darreichung der
Folia uvae ursi in Form eines Dekoktes
erstens die große Menge, welche zur Be¬
handlung notwendig war, zweitens der
recht unangenehme Geschmack eine län¬
gere Behandlung sehr erschwerten.
Beim Hexamethylentetramin (Urotro¬
pin) und seinen Derivaten wissen wir, daß
es an sich nicht antiseptisch wirkt, son¬
dern nur durch Bildung von Formaldehyd
im Harne; diese findet aber nur in s a u r e m
Harne statt, je saurer der Harn, um so
stärker die Wirkung, im alkalischen Harne
ist eine Wirkung nicht festzustellen. Auch
die Derivate des Hexamethylentetramin:
Helmitol, Hetralin, Cystopurin usw. ver¬
halten sich nach Jordan nicht anders;
er hält es für noch unerwiesen, daß Hel¬
mitol in alkalischem Harne Formaldehyd
abspaltet und glaubt auch nicht, daß
Formaldehyd im alkalischen Harne sich
lange halten würde. Nach seinen Ver¬
suchen ist Helmitol im alkalischen Harn
ebenso unwirksam wie Urotropin. Hexal,
ein Kombinationspräparat aus Hexa¬
methylentetramin und Sulfosalicylsäure,
hat vor dem Hexamethylentetramin nur
den Vorzug einer rascheren Wirkungs¬
weise, wirkt analgetisch und ist angeneh¬
mer zu nehmen als Urotropin (Otto A.
Kowanitz, W. kl. W. 1913, Bd. 1). Vom
Oleum Santali ist es bekannt, daß es als
Harnantisepticum nicht in Betracht
kommt, aber trotzdem ist es in der Be¬
handlung der Gonorrhöe weit verbreitet;
eine gewisse Wachstumshemmung zeigt
es auf Staphylokokken, wie es auch sonst
im alkalischen Harne dem Urotropin über- ,
legen ist. Vom Santyl ist nur zu sagen, j
daß es schwächer wirkt als Oleum San- ;
tali, daß man aber dafür eine größere i
Menge geben kann und der Geschmack
angenehmer ist.
Über Salicylsäure und Benzoesäure
ist zu sägen, daß sie zwar antiseptische
Wirkung besitzen, welche aber im al¬
kalischen Harne versagt. Die Borsäure,
mehrmal täglich 1 g per os gegeben, gilt
als ein gutes Harnantisepticum; jedoch
wird eine längere Anwendung häufig durch
J üble Nebenerscheinungen von seiten des
j Magens und Darmes gestört. Trotz aller
, Vorzüge und Vereinfachungen der neuen
.Harnantiseptica glaubten wir in vielen
unserer Versuchsfälle der Verordnung der
Folia uvae ursi in der neuen Form der
, Vesicaesanpillen wieder mehr Beachtung
! schenken zu müssen, und zwar in den
I Fällen, wo es in erster Linie darauf an-
| kam, mit neueren Mitteln jegliche Neben-
j Wirkungen sowohl auf den Digestions¬
apparat, als auch auf das uropoetische
■ System fernzuhalten. Schon oben ist er-
, wähnt, daß die Vesicaesanpillen keine
Nebenwirkungen und Übelstände her-
vorrufen, wie wir sie bei Verordnung der
Folia uvae ursi in alter Form so häufig
auftreten sehen. ’ Bekannt ist von den
Bärentraubenblättern ihre diuretische und
antiseptische Wirkung. Im Jahre 1853
stellte Kavallier in den Foliae urae ursi
ein krystallinisches Glykosid, das Arbu¬
tin, fest, welches in den Blättern zu 3 bis
4% enthalten ist. Da sich das Arbutin
als ein kräftiges Diureticum erwies, schrieb
man ihm natürlich die Wirkung der Droge
zu. Im Körper spaltet es sich in Hydro¬
chinon und Glykose; Hydrochinon wirkt
bekanntlich als Desinfiziens und ist die
Wirksamkeit zwei- bis dreimal so stark
als bei Karbolsäure. Natürlich nahm
i man gleich an, daß in der desinfizieren-
| den Wirkung der Droge und vornehmlich
' des Arbutins das wirksame Prinzip zu
; suchen sei und wurde deshalb das Arbutin
; selbst als gutes Harnantisepticum emp-
5 fohlen (Levin 0,2—0,5 mehrmals täg¬
lich). Da die Ansichten über die Wirk-
, samkeit des Arbutins in der Behandlung
l von Blasenerkrankungen usw. auseinander
! gehen, hat Jordan Versuche angestellt
; zur Feststellung der Wirkung des Arbu-
! tins im Vergleiche zu den Foliae uvae
| ursi und nahm hierzu die Bärentrauben-
I blätter in Form der Vesicaesanpillen.
Diese interessanten Vergleichsversuche
verdienen näher beschrieben zu werden.
Von den Vesicaesanpillen gab Jordan
täglich bis zu sieben Stück. Es zeigte
sich, daß Vesicaesan eine deutliche diure¬
tische Wirkung erzielte, wie auch wir sie
Februar Diö Therapie der Gegenwart 1917. 77
in unseren klinischen Versuchen fast jedes¬
mal feststellen konnten. Die .Zersetzung
der einzelnen Harnproben dauerte vier
bis sieben Tage, bis sie ammoniakalisch
wurden, ging also sehr langsam vor sich.
Alkalische Harnproben wurden in 48 Stun¬
den ammoniakalisch, also doppelt so lang
als normal. Versuchsorganismen (Bac-
terium coli) in den Vesicaesanharn ge¬
bracht, wuchsen in saurem nur mäßig,
im alkalischen schlecht. Jordan hält
demnach die Vesicaesanpillen (Folia uvae
ursi) als ein den Salicylaten gleichwertiges
Harnantisepticum, das in seiner Wirkung
auf Bacterium coli im alkalischen Harne
auch der Borsäure gleichkommt; ganz be¬
sonders wertvoll hält er die Pilulae Vesi-
caesani, wenn der Harn in der Blase am-
moniakalischer Formentwirkung ausge¬
setzt ist. Seine Vergleichsversuche mit
Arbutin ergaben, daß .die diuretische Wir¬
kung eine weit stärkere war, als bei den
Dekokten aus der Folia uvae ursi; auch
war die Zeit bis zur Zersetzung des Ver¬
suchsharnes etwas länger; dagegen aber
wuchsen Bacterium coli mit .großer Ge¬
schwindigkeit. Ob nun das Arbutin das
wirksame Prinzip der Foliae uvae ursi ist,
wenigstens was die antiseptische Wirkung
betrifft, kann aus diesen Versuchen nicht
mit Sicherheit geschlossen werden; wenig¬
stens spielen hierbei die in den Bären¬
traubenblättern enthaltenen ätherischen
Öle unter anderen auch wesentliche Men¬
gen Gerbstoffe eine gewisse Rolle. Also
ist in erster Linie das Arbutin als Diureti-
cum zu betrachten, kommt aber als Er¬
satz für die Droge nicht in Frage. C. E.
Vorster (Derm. Zbl. Bd. 14, Nr. 5) be-
.tont daher mit Recht, das jetzige Be¬
streben, von Einzelbestandteilen, denen
man die Wirkung zuschrieb, wieder auf
die Gesamtdroge beziehungsweise deren
Gesamtbestandteile zurückzugreifen“, und
so sind auch in den Vesicaesanpillen sämt¬
liche Extraktstoffe der Folia uvae ursi
durch eine fraktionierte Extraktion un-
zersetzt enthalten. Die Pilulae Vesicae-
sani bilden also auf Grund des Verfahrens
einen vollwertigen Ersatz für die Folia
uvae ursi in Form der alten Dekokte; in
diesem Präparate sind sämtliche Extrak¬
tiv- und flüchtigen Stoffe in stark kon¬
zentrierter und einer für die Darreichung
äußerst angenehmen und einfachen Form
enthalten. Daß nur frische oder frisch¬
getrocknete Blätter der Uvae ursi zur Ge¬
winnung des Extraktes gebraucht werden,
um die größte Wirksamkeit zu erzielen,
soll nur nebenbei erwähnt werden. Der
i hauptsächlichste Übelstand bei der Her-
| Stellung des alten Dekoktes aus Folia
: uvae ursi lag in der schwierigen Beschaf-
; fung stets frisch getrockneter Blätter,
: weil diese bei längerem Lagern den bal-
! satirischen Geruch und hiermit die äthe-
j rischen Öle verlieren und ferner letztere
! beim Kochen der Blätter wegen ihres bei
! 50 0 liegenden Siedepunktes sich ver-
| flüchteten. Die beste Darreichungsform
| für Vesicaesan ist die Pillenform; täglich
! werden drei- bis viermal drei bis vier
| Pillen verabreicht.
| Unsere klinischen Resultate decken
! sich ganz mit denen von C. E. Vorster
(siehe oben) und J. Sfakianakis aus
' der Prof. Nage Ischen Klinik. (Med.
Kl in. 1917, Nr. 17). Ersterer hatte mit
' Vesicaesanpillen in allen Fällen die
überraschendsten Erfolge, insbesondere
bei ganz chronischen Fällen und in allen
Fällen akuter und chronischer Gonorrhöe;
zumal in den Fällen, in denen es sich um
; eine Anterior handelte, blieb die Gonor-
| rhöe fast ohne Ausnahme auf die An-
! terior beschränkt und bei einer Posterior
| kam' es nie zu stärkeren Reizerscheinungen.
| Wie andere stellten auch wir fest, daß
i durch die Pilulae Vesicaesani nie irgend-
I welche schädigende Nebenwirkungen des
! uropoetischen Systems auftraten, ob-
' wohl jedesmal die Wirksamkeit des Mit-
, tels einwandfrei festgestellt wurde. Nach
; J. Sfakianakis zeigte sich der thera-
| peutische Effekt vielfach schon nach
■ einem kurzen Gebrauche von weniger
i als 50 Pillen. Was unsere eigenen Fälle
j anbetrifft, so gaben wir Vesicaesan in
! allen Fällen und bei allen Formen von
; Cystitis; als Nachbehandlung nach gynä-
| kologischen Operationen zur Verhütung
j von Blasen- und besonders aufsteigenden
I Infektionen der Harnorgane halten wir
| die Darreichung dieser Pilten als wichtig
j und empfehlenswert. Irgendwelche Stö-
! rungen, die auf das Präparat zurückzu-
| führen sind, haben wir nicht beobachtet;
I auch fanden wir die obengenannte Dosis
; als vollkommen ausreichend. In fast allen
: Fällen konnten wir eine Vermehrung der
Diurese und Klarwerden des Harnes fest-
: stellen, desgleichen allmähliche Umwand-
, lung des alkalischen Harnes im sauren.
; Oftmals bemerkten wir einen beruhigen-
, den Einfluß auf die entzündeten Schleim¬
häute. Die Pillen wurden stets gern ge-
! nommen und riefen keinerlei Unbehagen
, weder im Magen noch im Darme hervor.
Die Behandelten waren:
1. Frau, 43 Jahre, vor drei Jahren rechte
Die Therapie der "Gegenwart 1917. „ Februar
Niere wegen Eiterung exstirpiert, im Anschluß J
daran in den letzten Jahren oft trüber Urin, Bla¬
senschmerzen, alkalisch reagierend. Cystosko- |
pisch Blasenschleimhaut gerötet und geschwollen,
dichte Wölkchen eitrigen Schleimes.
Behandlung: Neben den üblichen Blasen-
spülungen viermal täglich vier Vesicaesanpillen. ,
Nach drei Tagen merkliches Nachlassen der Bla¬
senbeschwerden, besonders des lästigen Blasen¬
druckes ; nach sechs Tagen völliges Aufhören der-
.selben. Die anfängliche alkalische Reaktion des
Urins jetzt deutlich sauer und ziemlich geklärt.
Nach 14 Tagen cystoskopisch nur noch schwache
Rötung der Blasenschleimhaut.
2. Frau, 56 Jahre alt, seit Jahren Schmerzen
in der Blase und Harnträufeln; cystoskopisch:
Schleimhaut gerötet und geschwollen, besonders
in der Gegend des Trigonums.
Behandlung: Täglich Spülungen der Blase
und dreimal täglich drei bis vier Pillen Vesicaesan. -
Nach sechs Tagen keine Schmerzen und Stiche
mehr in der Blasengegend, Urin fast klar; nach
sechswöchiger Behandlung geheilt entlassen.
3. Fräulein, 22 Jahre, akute Gonorrhöe, star¬
kes Brennen und Stiche beim Wasserlassen, hef¬
tiges Schmerz- und Druckgefühl in der Blase;
starker gelber Ausfluß, Gonokokken positiv.
Behandlung: Viermal täglich Vesicaesan¬
pillen und Behandlung des Ausflusses mit Levuri-
nose. Die Blasenbeschwerden, besonders das
lästige Brennen, ließen nach vier Tagen bereits
nach und verschwanden gänzlich nach acht Tagen.
Der Fluor wurde durch Levurinose beseitigt.,
4. Fräulein, 24 Jahre alt, leidet an chronischer
gonorrhoischer Cystitis. Vor mehreren Monaten
an Gonorrhöe erkrankt, ohne besondere Kompli¬
kationen von anderer Seite mit Scheidenspülungen
behandelt, jetzt noch geringer Fluor und geringe
Rötung des Muttermundes; klagt jetzt über an¬
haltenden Harndrang und Schmerzen in der
Urethra und Blase. Der Urin ist alkalisch, leicht
getrübt, zeigt viele Fäden, aber nur wenig Eiter¬
körperchen, viel Sediment.
Behandlung: Dreimal täglich drei bis vier
Pillen Vesicaesan. Nach vier Tagen deutliche
•Besserung, nach acht Tagen keine subjektiven
Symptome mehr, der. Urin klar und von saurer
Reaktion, deutliche Vermehrung der Harnmenge.
5. Frau, 28 Jahre - . Nach Corpusexcision des
graviden Uterus per vaginarh wegen Lungentuber¬
kulose Cystitis mit trübem, stinkendem, alkalischem
Urin; wahrscheinlich Aufflackern einer schon frü¬
her bestandenen chronischen Cystitis. - Die frü¬
heren Behandlungen mit Urotropin und Hexal
j brachten keinen positiven Erfolg, jetzt nach Dar-
! reichung von Vesicaesan schon in fünf Tagen Ver-
! schwinden der Beschwerden und Klärung des
Urins mit normaler Reaktion.
6. Alte Frau, 74 Jahre, heftiger Urindrang
! und Schmerzen und Brennen beim Wasser-
! lassen. Patientin muß nachts oft des Urin-.
| dranges wegen aufstehen; Kapazität der Blase
! zirka 100 ccm.
i . Behandlung: Tägliche Dehnungen der Blase
durch Spülungen und viermal täglich drei Pillen
Vesicaesan. Nach acht Tagen wesentliche Besse¬
rung und Kapazität 150 ccm; nach 14 Tagen keine
Beschwerden mehr und Kapazität 350 ccm; nach
j fünf Wochen als geheilt entlassen.
Natürlich würde es zu weit führen,
! alle Fälle im einzelnen anführen zu wollen,
i Wie Vorster, Sfakianakis und andere
! haben auch wir bei allen Fällen akuter
: und chronischer Gonorrhöe Vesicaesan
! mit bestem Erfolge angewandt. Nicht
1 zu unterschätzen ist es, daß bei der Ver¬
wendung von Vesicaesanpillen Reiz¬
erscheinungen irgendwelcher Art so gut
: wie ausgeschlossen sind; sie sind, also da
; empfehlenswert, wo wir dauernd ein un-
! schädliches, aber tadellos wirksames Harn-
antisepticum anzuwenden gezwungen sind.
Schwerste Larynxstenose
in zwei Fällen durch, Suprarenin beseitigt.
Von Di\ Riebes-Hachenburg.
Rp. Zinc. sulf. . 0,01
Coc. mur. . . . . . 0,1
Suprarenin (Sol. 1:1000) 3,0
Aqu . dest. ..... 10,0
Diese der Axenfeldschen ähnliche
Mischung verwende ich bei Schwellung
und Rötung der Bindehaut selbst in den
schwersten Fällen mit dem Erfolge fast
augenblicklichen Abblassens und Ab-
schwelleiis der Conjunctiva. Obwohl die
gefäßverengernde Wirkung des Suprare-
nins und seiner Verwandten längst allge¬
mein bekannt ist und nur bei einem der
Isomere des synthetischen Präparates aus¬
bleibt, hat man nicht daran gedacht, es
bei der Zuschwellung der kaum lidspalten¬
großen Stimmritze zu versuchen.
Ich selbst habe bei lebensgefährlicher
Stimmritzenverengerung fast immer den
Luftröhrenschnitt ausgeführt, noch im
Jahre 1915 viermal, dreimal wegen di-
phtheritischer Larynxstenose, einmal we¬
gen Laryngitis acuta stridula mit begin¬
nender Erstickung.
Aus dem letzten seltenen Grunde hatte
ich schon im Jahre 1908 einmal eine Tra¬
cheotomie gemacht.
Im Jahre 1916 waren die Diphtherie¬
fälle meiner Praxis alle noch vor der Er¬
stickungsgefahr in Behandlung gekom¬
men bis auf einen zweijährigen Knaben
mit fortgeschrittener Larynxdiphtherie,
bei dem ich einen Kollegen zuzog.
Ich spritzte sofort 1500 E des Heil¬
serums unter die Haut und ließ das Kind
ins Krankenhaus schaffen.
Tiefe inspiratorische Einziehungen in
den Schlüsselbeingruben, dem Jugulum,
den Intercostalräumen und dem Hypo¬
gastrium, lauter,, hoher Stridor, starke
Februar Die Therapie det* Gegenwart 1917. 79
Cyanpse und ein mit Somnolenz abwech- !
selndes, stürmisch aufbegehrendes Toben i
ließen den Luftröhrenschnitt unvermeid- j
lieh erscheinen. Mein Consiliarius hielt j
aber auch diesen für zu spät, weil die*!
diphtheritischen Prozesse anscheinend tief j
in den Bronchialbaum hinabgestiegen
waren. Seine einzige Hoffnung basierte
auf der Nachwirkung des Serums. ;
Ehe .diese eintreten konnte — zwei bis. |
drei Stunden nach der Injektion — kam ;
mir der Gedanke, den qualvollen Zustand !
durch laryngeale Anwendung der anfangs i
erwähnten Augentropfen, die ich zufällig |
bei mit trug, zum mindesten zu lindern, j
Ich dachte dabei nicht nur an eine :
Abschwellung des Aditus ad laryngem,
sondern auch an die Euphorie, die das
verschluckte Cocain hervorruft.
Das Mittel mit dem Kehlkopfpinsel
lokal zu applizieren, hielt ich für unprak¬
tisch, denn dabei ist Blutandrang nach
dem Kopfe, Steigerung des Erstickungs¬
gefühls und Verstaubung des infektiösen
Materials durch Hustenstöße nicht zu
vermeiden. So blieb nur der andere Weg
der Einbringung übrig, die Einträufelung
durch die Nase.
Der kleine Patient lag schon, wie ich
ihn haben wollte, auf dem Rücken, den j
Hinterkopf weit hinter den oberen Rand j
der Kopfkissen zurückgelehnt und ließ es j
sich willig gefallen, daß ich seine Stirn mit |
meinem linken Kleinfingerballen fixierte, j
seine Nasenspitze mit meinem linken I
Daumen anhob und ihm mit der Tropf- '
pipette fünf Tropfen ins rechte Nasenloch
träufelte. Der Stridor wiederholte sich
unmittelbar darauf dreimal in etwas kür- :
zeren Pausen — reflektorische Respira-
tionsbeschleunigung — und dann trat eine
Schluckbewegung ein. Da nach Ablauf
von zwei Minuten keine wesentliche Besse- !
rung Platz griff, träufelte ich ins linke
Nasenloch ebenfalls fünf Tropfen der Lö¬
sung. Die Schluckbewegung erfolgte jetzt
erheblich später als das erstemal.
Das Suprarenin mußte also länger mit
den Schleimhautfalten der Regio inter-
arytaenoidea in Berührung geblieben sein
und Zeit gehabt haben, sich an diesen ent¬
lang zwischen die geschwollenen Stimm¬
bänder hineinzuziehen. Trotzdem war zu¬
nächst noch kein Erfolg bemerkbar. Erst
nach weiteren drei bis vier Minuten nahm
man eine Änderung wahr: Der Stridor
wechselte seine Tonhöhe und wurde merk¬
lich tiefer, mehr stertorähnlich, um nach
wenigen Stunden ganz zu verschwinden.
Die Atemzüge vertieften sich deutlich,
die Dyspnöe wich. Die Cocainkomponente
entfaltete auch sehr bald ihre interne Wir¬
kung. Wenigstens führe ich es auf sie
zurück, daß nach der zweiten Instillatiori
keine schwere motorische Unruhe mehr
auftrat. Von da ab besserte sich das Bild
von Stunde zu Stunde. Nach 24 Stunden
war jede Lebensgefahr vorüber.
Es ist schwer zu entscheiden, ob die der
Serumwirkung vorauseilende Besserung
hier hauptsächlich in einer Linderung der
subjektiven Atemnot besteht oder ob, wie
ich annehme, das Suprarenin sich unter
die Membranen hinunter auf der Schleim¬
haut entlang verbreitet und so ein Zurück¬
sinken der Membranen nach beiden Seiten
und ein Breiterwerden der Stimmritze ver¬
anlaßt. Jedenfalls ist das Verfahren es
| wert, immer wieder in so verzweifelten
i Fällen versucht zu werden, in denen der
Luftröhrenschnitt als zu spät erachtet
werden muß. Denn das Suprarenin hat
zum mindesten die schwerste Stenose zu
einer Zeit beseitigt, wo an eine Serum¬
wirkung noch nicht zu denken war.
Während hier die Seruminjektion die
Vorbedingung für die Instillation bildete,
erwies sich in einem anderen Falle meiner
Praxis .die Suprareninbehandlung allein
als ausreichend zur Beseitigung einer
akuten Larynxstenose. Es handelt sich
um einen fünfjährigen,, sehr kräftigen,
nicht rachitischen Knaben, der ganz plötz¬
lich an einem Winternachmittag erkrankt
war. Ich fand ihn im Bette. Er warf sich
unruhig hin und her und bot das Bild der
Laryngitis stridula acutissima mit be¬
ginnender Erstickung, das heißt fast den¬
selben Zustand, wie der zweijährige erst¬
erwähnte Patient, nur ohne Fieber und
ohne Membranen. Da mir bei der dring¬
lichen Bestellung gesagt worden war, der
Patient könne ,,keine Luft kriegen“, hatte
ich außer dem Serum und meinem Intuba-
torium die Suprarenintropfen mitgenom¬
men. Der Kehlkopfspiegelbefund ergab
starke Rötung und Schwellung der Stimm¬
bänder, der Regio interarytaenoidea und
der Epiglottis, Indikation genug für eine
sofort ausgeführte Instillation von sechs
Tropfen in jedes Nasenloch im Zeit¬
abstande von zwei bis drei Minuten. Dies¬
mal brauchte ich kaum fünf Minuten zu-
warten, bis sich die Wirkung zeigte:
Der Stridor verschwand fast augen¬
blicklich, um nicht mehr wiederzukehren.
An den nächsten beiden Tagen besuchte
ich den kleinen Genesenen wieder. Es
blieb auch jede Spur eines Rückfalles aus.
Die larynxstenosenbeseitigende Wir-
8U Die Therapie der Gegenwart. 1017. Februar
kung des Suprarenin steht somit'. außer > Mischungen bei Bronchialasthma bekannt"
Zweifel, und es empfiehlt sich seine An- lieh pernasal gute Dienste tun.
Wendung in ähnlichen Fällen. Ob die Wenn ich noch hinzufüge, wie eine
Spur von Zinksulfat, die ich beibehalten . unverdünnte käufliche Suprareninlösung
habe, ebensogut wegbleiben kann, ist eine — 20 Tropfen —- mittels weichen Kathe¬
nebensächliche Frage. Ich möchte die ters einmal in die entleerte Blase einge¬
leicht adstringierende und desinfizierende bracht, bei einem alten Prostatiker mit
Wirkung dieses Bestandteiles nicht ent- fieberhafter Prostatitis die vier Wochen
behren. Statt des Cocains ist Novocain, : lang aufgehobene Fähigkeit spontanen
statt des Wassers physiologische Kochsalz- ! Urinierens dauernd wiederherstellte, so
lösung bei Säuglingen zu bevorzugen. Bei- bedarf es kaum einer weiteren Empfehlung
läufig erinnere ich daran, daß ähnliche des Suprarenins als Antistenoticum.
Laneps in der Therapie des Ulcus und Ekzema cruris.
Von Dr. Kahr-Nürnberg, Facharzt für Beinleiden.
Der seit längerer Zeit sich fühlbar ; Monaten Laneps verwendet, das sich
machende Mangel an Ölen und Fetten wegen seiner absoluten Reizlosigkeit und
bringt es mit sich, daß an Stelle der ! Geschmeidigkeit für die Ekzemtherapie
sonst üblichen Salbengrundlagen, wie besonders gut eignet. Laneps ist eine aus
Vaseline, Lanolin, Eucerin usw., nur noch hochmolekularen, kondensierten Kohlen-
^Ersatzprodukte zu haben sind, die aus Wasserstoffen hergesteilte Salbengrund-
Gemischen von Paraffin mit Vaselinöl läge, vollkommen geruchlos, geschmeidig
und Lanolin bestehen. Die Qualität dieser und von guter Deckkraft. Es nimmt bis
Salben, die unter verschiedener Be- zu 50% Wasser auf, unter Zusatz von
Zeichnung gehandelt werden, läßt zum 10 bis 20% Lanolin anhydr. selbst bis zu
Teil sehr zu wünschen übrig, da sie infolge 100% und eignet sich dadurch besonders
der Verwendung von ungereinigtem Va- gut zur Herstellung von Kühlsalben aller
selinöl stark nach Petroleum riechen und, Art. Auch zu Decksglben und dicken
wie Prof. Oppenheim (W. kl. W. 1916, Pasten läßt sich Laneps gut verarbeiten.
Nr. 41) kürzlich schon erwähnte, vielfach Laneps stellt den besten Wundheil¬
reizen. . mittein an Heilkraft und entzündungs-
Eine einwandfreie neue Salbengrund- widrigen Eigenschaften nicht nach und,
läge lernte ich in dem kürzlich von den da ihm klebende Substanzen fehlen, wo-
- Farbenfabriken vorm. Friedr.-Bayer & Co., durch ein leichter, schmerzloser Verband-
Leverkusen, eingeführten Laneps ken- . Wechsel erzielt wird, trägt es wesentlich
neu, das ich seit Monaten mit bestem zur Heilung des Ulcus, beziehungsweise
Erfolge bei Ulcera und Ekzema cruris an- des Ekzema cruris bei. Schöne Erfolge
wende. habe ich damit auch bei Erfrierungen,
Bekanntlich sind alle Ulcera cruris Verbrennungen, Furunkeln und Phieg-
meist luetischer oder varicöser Natur, monen im abh'eilenden Stadium gesehen
Uber die zweckmäßigste Behandlung der und geradezu hervorragende bei Urti-
Ulcera habe ich mich schon in einer frü- caria. Bei diesen juckenden Zuständen,
heren Arbeit (Ärztl. Rdsch. 1912, Nr. 16) wie Urticaria, Pruritus, genügt Laneps
geäußert und will ergänzend nur noch be- zum Teil schon für sich ohne Zusatz von
merken, daß ich mich seit langem zur Zinkoxyd und Teerpräparaten. Bei aus-
Reinigung eitrig belegter, schmerzhafter gedehnten Entzündungszuständen ver¬
wunden eines Streupulvers von Cyclo- wende ich Lanepssalben mit 50% Liqu.
form mit Kohle (Rec. Cycloform 10,0, alum. acet. oder 4% Borlösung.
Carbo animal 90,0) mit gutem Resultat Bei Rhagadenbildung der Hand leistet
bediene. Laneps etwa das gleiche wie Glycerin,
Schwieriger noch wie die Behandlung doch empfehle ich, Laneps ziemlich dick
des eigentlichen Ulcus ist vielfach die auftragen zu lassen. Die Heranziehung
Therapie des Ekzema cruris, wie es in sub- : von Glycerin zu kosmetischen Zwecken
akuter und chronischer Form häufig am sollte bei den knappen Vorräten des Pro-
varicösen Unterschenkel vorkommt. duktes ebenso untersagt werden wie der
Bei sämtlichen fünf Stadien des akuten Gebrauch von Lanolin, zumal Laneps für
Ekzems sowie bei chronischem Ekzem Herstellung von Handsalben, Toiletten-
speziel! der pustulösen Form habe ich seit creme, Ungt. leniens durchaus geeignet ist.
Fiir die Redaktion verantwortlich Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer in Berlin. Verlag von Urb an & Schwarzenberg
in Berlin und Wien. Gedruckt bei Julius Sittenfeld, Hofbuchdrucker., in Berlin W8.
Zur Ausfuhr zugelassen !
Sanitätsamt «f. mih Institute .
Nr. 1274 . Z.
Die Therapie der Gegenwart
herausgegeben von
68. Jahrgang Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer
Neueste Folge. XIX. Jahrg. _ BERLIN
W 62 , Kleiststraße 2
3. Heft
März 1917
Verlag von URBAN & SCHWARZENBERG- in Berlin N 24 und WienI
Die Therapie der Gegenwart erscheint zu Anfang jedes Monats. Abonnementspreis für den
J ahrgang 10 Mark, in Österreich-Ungarn 12 Kronen, Ausland 14 Mark. Einzelne Hefte je 1,50 Mark
resp. 1,80 Kronen. Man abonniert bei allen größeren Buchhandlungen, sowie direkt bei den
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Die Therapie der Gegenwart
1917
herausgegeben von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer
in Berlin.
März
Nachdruck verboten. '
Über den Arthritismus des Klimakteriums und seine Behandlung.
Von Prof. Dr. H. Rosin-Berlin.
Aus der Mannigfaltigkeit der krank¬
haften Erscheinungen im Bereiche des Be¬
wegungsapparates heben sich'die chroni¬
schen Gelenkstörungen ätiologisch
scharf ab, von. denen die Frauen zur
Zeit des Klimakteriums oder kurz
vor oder nach ihm heimgesucht wer¬
den.
Das klinische Bild der chronischen
Arthritismen ist trotz der Häufigkeit der
Erkrankung bekanntlich ein recht un¬
vollkommenes. . Nicht einmal die Eintei¬
lung konnte bisher scharf und nach ein¬
heitlichen Gesichtspunkten durchgeführt
werden. Da das anatomische und histo¬
logische Bild oft das gleiche ist, auch
wenn ätiologisch und klinisch ganz ver¬
schiedenartige Erkrankungen vorliegen,
so ist man nur bei gewissen Formen der
anatomischen Einteilung treu geblieben,
andere, ja die Mehrzahl hat man ätio¬
logisch zu fassen gesucht. So unterscheidet
man zwar eine Arthritis deformans von
anderen Gelenkerkrankungen, legt aber
vielfach auch Gewicht auf die „rheu¬
matische”, infektiöse und vor allem auf
die gichtische Grundlage.
Besonders die Gicht hat sich nicht
nur einen ersten Platz in der Ätiologie
der Arthritismen erobert, sondern auch
in der Neuzeit behauptet. Autoren von
Bedeutung sind durch reifliche Erwä¬
gungen dazu geführt worden, die harn¬
saure Diathese über die Gelenkerkran¬
kungen hinaus auch für jene zweifelhaften
Neuralgien und Myalgien verantwortlich
zu machen, denen wir so häufig im mitt¬
leren und vorgerückten Lebensalter be¬
gegnen.
Wie dem auch sein mag, schärfer um¬
grenzt und sui generis im. Vergleich zu
manch anderen unklaren Gelenkerkran¬
kungen tritt die klimakterische
Arthritis der Frauen hervor.
Gehen wir etwas näher auf das Bild
dieser Erkrankung ein. Jeder erfahrene
Praktiker kennt die Klagen des weib¬
lichen Geschlechtes über Schmerzen,
Vertaubungsempfindungen, Krib¬
beln, Spannung und Schwerbeweg¬
lichkeit, besonders in den Händen und
hier speziell in den Fi n ge r n, in geringerem
Grade auch in den Füßen und Zehen,
die bei den Frauen zumeist in den
fünfziger Jahren beginnen und dann
Jahre lang fortdauern. Hin und wieder
treten die Beschwerden früher ein. Auf¬
fallend ist es, daß die Kastration die Be¬
schwerden verfrüht, ebenso ein frühzei¬
tiges Klimakterium. Bemerkenswert ist
ferner, daß gerade mit der Menopause
bei den meisten die Beschwerden ein-
setzen. Doch nicht ganz selten entwickeln
sich die Parästhesien erst ein Jahr oder
ein paar Jahre nach der Cession der
Menses. Oft genug kommen sie auch schon
in den vierziger Jahren vor, nicht ganz
selten auch noch bei voll bestehender
Menstruation.
Den Gefühlsstörungen liegt ein ana¬
tomisches Substrat zugrunde. Einiger¬
maßen ausgebildete Fälle zeigen deutlich
Schwellungen und Deformitäten
in den Gelenken der Finger, der Zehen,
zuweilen auch in Mittelhand, Mitteifuß
und in Handwurzel und Fußwurzel. Ab
und zu verirrt sich Schmerz und Verän¬
derung auch auf die Kniegelenke -oder
gar auf die Schultern. Man studiert diese
anatomischen Veränderungen am besten
an den Fingergelenken. Es zeigt sich
dort mit bloßem Auge sichtbar oft jene
eigen t ü mli che knötch enförmige De¬
formation, die zuerst Heberden be¬
schrieben hat, eine meist symmetrisc.he
Anschwellung oder Verdickung zu
beiden Seiten des Fingergelenkes zwischen
zweiter und erster Phalanx, oder auch
zwischen dritter und zweiter, die bei
Bewegungen und auch auf Druck schmerzt,
am distalen Ende der entsprechenden
Phalanx sitzt ,und, wie Röntgenbilder
zeigen, vom Knochen resp. Periost ihren
Ausgang nimmt, aber auch die Gelenk¬
kapsel, die sich darüber spannt, durch
Verdickung beteiligt.
Die Parästhesien und der Erkran¬
kungsprozeß beschränken sich aber nicht
nur auf die bezeichneten Gelenke. Bei
der Mehrzahl der Fälle sind auch die
Sehnenscheiden der Finger und Zehen,
besonders diejenigen der Fingerstrecker
beteiligt. Die Patienten klagen über
Empfindlichkeit in diesen Gebieten
ll
82
Die Therapie der
beim Bewegen der Finger. Sie empfinden
auch eine Schwerbeweglichkeit beim
Spiele der Finger, namentlich bei feineren
Bewegungen. Ganz besonders wenn die
Hand geruht hat, z. B. morgens nach dem
Schlafen, ist die Klammheit der Finger
ganz hervorstechend. An den Füßen treten
die Beschwerden weniger stark hervor,
vielleicht schon deshalb, weil ihre Inan¬
spruchnahme im allgemeinen eine gröbere
ist.
Endlich finden sich auch Erscheinun¬
gen gestörter Circulation in den
Fingerspitzen als fast nie fehlende Be¬
gleiterscheinung und damit verbunden
Gefühlsherabsetzungen und Vertaubun¬
gen, die also mit den Dysästhesien in den
Gelenken und Sehnenscheiden nicht
identisch, ihnen vielmehr nur gleichartig
sind. Man sieht in solchen Fällen ge¬
wöhnlich die Nagelkuppe des Fingers
leicht angeschwollen, die Oberfläche glatt
und glänzend, meist blaß, hin und wieder
auch umgekehrt gerötet. Die Prüfung des
Gefühls ergibt freilich keine gröberen
Störungen. Höchstens, daß das Tastge¬
fühl, z. B. bei Berührung mit dem Pinsel,
herabgesetzt ist. Aber die Patienten
selbst empfinden deutlich, daß sie z. B.
beim Nähen weniger fein fühlen. Sie
geben ferner an, daß alles nach längerer
Ruhe der Hand viel stärker her¬
vortritt. In sehr ausgebildeten Fällen
sieht man zuweilen an der Fingerspitze
kleine Risse, die recht empfindlich sind.
Auffallend ist auch, daß die Nägel in
einer großen Zahl der Fälle trophische
Störungen zeigen, sie werden rissig,
fleckig und der Nagelfalz schrumpft.
Durch die Erkrankung werden viele
Frauen, die beruflich tätig sind,
sehr behindert und gestört und zwar alle
diejenigen, die auf feines Arbeiten der
Hände angewiesen sind. Klavier- und
Handarbeitslehrerinnen, Arbeiterinnen im
feinmechanischen Betriebe, Näherinnen
und Stickerinnen stehen hier an erster
Stelle. Schließlich aber wird auch jede
arbeitende Hausfrau durch das Leiden
in ihrer Tätigkeit beeinträchtigt. Alle
geben an, daß es des morgens um sie am
schlimmsten steht, daß das Kribbeln, die
Klammheit, die Vertaubung und die
Schmerzen hier am stärksten sich zeigen
und daß sie im Laufe des Tages ganz all¬
mählich etwas Besserung bekommen, je
mehr Gelenke und Sehnenscheiden in
Bewegung gesetzt sind, die Circulation
also verbessert ist.
Größer als die Zahl der ausgesproche¬
* Gegenwart 1917. - , ' Mä rz
nen Fälle sind leichte Formen, bei denen
nur über etwas Vertaubung und Klamm¬
heit des morgens geklagt wird, wohl auch
über einzelne schmerzende Heberdem-
sche Knötchen in den Gelenken, ohne daß
aber der Prozeß weitere Fortschritte
macht.
Im Winter sind die Beschwerden regel¬
mäßig stärker als im Sommer, weil kalte
Hände sie stärker empfinden lassen.
Die Erkrankung kann nach oft jahre¬
langen Beschwerden sich bessern, bei
der leichteren Form auch völlig ver¬
schwinden. Sehr oft bestehen aber die
Beschwerden, nachdem sie einmal zur
Entfaltung gekommen sind, dauernd,
jahrzehntelang bis ins hohe Alter mit
Remissionen und Exacerbationen, je
nachdem therapeutische Maßnahmen ge¬
troffen wurden oder nicht.
Schwere Formen der Gelenkde¬
formitäten schließen sich nicht
an die Krankheit an. Sie bleibt im
allgemeinen dauernd so, wie geschildrte.
Es soll damit nicht gesagt sein daß die
Arthritis deformans auch einmal zu solchen
Fällen hinzutritt. Aber sie baut sich nicht
auf ihr auf, gleichsam auf einem initialen
Stadium, das die genannte Krankheit
repräsentiert.
Es kann nicht stark genug betont
werden, daß Männer in der Norm
niemals in der genannten Weise er¬
kranken. Ausnahmen bestätigen hier
nur die Regel. In den seltenen Fällen,
in denen ähnliches bei den Männern vor¬
kommt, mag eine ^feminine Grundlage
vorhanden sein. Übrigens finden sich
bei der chronischen Gicht der Männer
ähnliche Zustände, die aber doch auch
wiederum von jenen zu unterscheiden sind.
Fragen wir uns, wie sollen wir diese
klimaterischen Arthritismen der Frauen
pathogenetisch deuten, so müssen wir
sie mit dem im Klimakterium .auf¬
tretenden allgemeinen Abbau, mit
der Neigung zur Atrophie, die sehr
leicht in Dystrophie übergehen kann,
in Einklang setzen. Es besteht für mich
kein Zweifel, daß hier als Teilerscheinung
der klimakterischen Involution ein atro¬
phisch-dystrophischer Prozeß an den
distalen Körperenden vorliegt, aus dem
heraus das ganze Bild klar sich ent¬
wickeln läßt. Damit ist eine Ähn¬
lichkeit mit der deformierenden
Gelenkentzündung gegeben. Nur
ist der Prozeß nicht so intensiv.
Auch hier liegt offenbar eine sekre¬
torische Untüchtigkeit, eine Trocken-
März
Die Therapie der
heit der Synovia, ein Rauhwerden des
Knorpels, ein Eintrocknen der Sehnen¬
scheiden vor, diese atrophischen Zu¬
stände erzeugen durch sekundären Reiz
Wucherungen an den Epiphysen, an den
Bändern und Gelenkkapseln, führen zu
Verklebungen in den Sehnenscheiden und
zu Schwerbeweglichkeiten in den ent¬
sprechenden Apparaten. Die trophisehe
Störung erstreckt sich aber nicht nur
gerade auf die Gelenke und Sehnen¬
scheiden, sie macht sich auch in der
Blutversorgung an den'äußersten
Enden geltend, an Nägeln und Finger¬
kuppen, und bewirkt die geschilderten
Zustände. Die Raynaudsche Krankheit
ist nur ein ausgesprochener Grad jener
angedeuteten Dystrophien.
Es erscheint In hoh£m Grade notwen¬
dig, die Erkrankung auf s schärfste von
der chronischen Gicht zu unter¬
scheiden. Denn solange ihre Symptome
den Ärzten bekannt sind, so lange ist sie
auch von vielen Seiten auf gichtische
Grundlage zurückgeführt worden 1 ). Es
seien daher die Gründe angegeben, welche
die Selbständigkeit der Krankheit und
ihre Unterscheidung von der Gicht be¬
weisen. Zunächst sei festgestellt, daß eine
große Anzahl von Untersuchungen auf
Harnsäurevermehrung im Blute
bei purinfreier Kost, die ich vor mehreren
Jahren habe vornehmen lassen, stets
negativ ausgefallen sind. Dazu kommt,
daß solche Patienten niemals einen
akuten Gichtanfall haben. Aber auch
die chronische Gicht, soweit sie ohne
akute Anfälle rein chronisch verläuft, hat
ihren Sitz weniger in den letzten Phalan-
gealgelenken, als vielmehr in den ersten
und zweiten, geht mit viel stärkerer peri-
artikulärer Schwellung einher- bis zur
spindelförmigen Auftreibung und führt
schließlich auch zu einer viel erheb¬
licheren Deformation. Bei der chro¬
nischen Gicht bleibt ferner eine
akute Exacerbation, ein kleiner
Anfall nie ganz aus mit seiner akuten,
heftigen Schwellung, Temperatursteige¬
rung usw. Vor allem aber ist der Umstand,
daß das männliche Geschlecht in
der Regel an dem beschriebenen
S y m p t o m e n k o m p 1 e x nicht er¬
krankt, von ausschlaggebender Be¬
deutung. Weshalb sollte die Frau des
mittleren Lebensalters um die Zeit des
2 ) Vgl. besonders Bäumlers klassisches
Referat über den chronischen Gelenkrheumatis¬
mus auf dem Kongress f. innere Medizin zu Wies¬
baden 1897.
Gegenwart 1917. 83
Klimakteriums gerade zur Gicht besonders
disponiert sein und zwar zu einer lediglich
chronisch verlaufenden, während der
Mann, der an Gicht so ungemein viel
häufiger leidet als die Frau, von einer
Erkrankungsform, wie die vorliegende,
befreit bleibt.
Das Leiden ist viel eher verwandt
mit der deformierenden Gelenk¬
entzündung. Auch von ihr ist stati¬
stisch nachgewiesen, daß das weibliche
Geschlecht im mittleren Lebensalter weit
häufiger daran laboriert als die Männer.
Ich halte es nicht für ausgeschlossen,
daß die Pathogenese die gleiche ist.
Denn auch hier beginnt der Prozeß der
Deformation am liebsten in den distalen
Gelenkenden, ist nur sehr viel intensiver in
den einzelnen Gelenken und ergreift auch
vielmehr Gelenke, um schließlich auf
fast den gesamten Bewegungsapparat
überzugehen. Auch hier denkt niemand
an die harnsaure Diathese als Ursache.
Man nimmt bekanntlich eine frophische
Störung an und ist höchstens im Zweifel
über ihren peripheren bzw. centralen Sitz.
Deshalb ist unsere Erkrankung auch von
manchen nicht zur Gicht, sondern zur
Arthritis deformans gezählt worden. Ich
möchte für ihre ätiologische und
klinische Selbständigkeit hiermit
eintreten. Wir haben eben alle Veran¬
lassung, hier eine specifische Erkrankung
des weiblichen Geschlechtes, eine klimak¬
terische Arthritis auf atrophischer resp.
dystrophischer Basis anzunehmen.
Ich wende mich nunmehr der Be¬
handlung zu.
Eine vielfach übliche Methode ist die
Entziehung der Purinkörper, d. h.
die Darreichung einer Diät, wie sie gegen
Gicht angewendet wird. Daß sie theo¬
retisch, wie aus dem vorstehenden erhellt,
völlig unangebracht ist, erscheint mir
sicher. Aber auch praktisch bewährt sie
sich nicht. Es ist nicht nützlich, die oft
blassen, unterernährten, nervösen, oft
auch deprimierten Frauen einem Regime
zu unterwerfen, das keineswegs eine kon¬
stitutionelle Kräftigung bringt. Es ist
vielmehr jede specifische Diätform zu ver¬
werfen und im Gegenteil nur auf Kräfti¬
gung zu halten.
Nutzlos sind auch alle Medikamente,
die als Lösungsmittel der Harn¬
säure oder als rasche Entferner der¬
selben aus dem Stoffwechsel mit mehr
oder weniger guten Gründen empfohlen
worden sind. Hierher gehören die Lithium
ll*
84
Die Therapie der Gegenwart 1917.
März
enthaltenden Mittel, die Kolchicumprä-
parate, Atophan und Acitrin, Uricedin
und die Gichtwässer wie Salzschlirf er,
Aßmannshäuser, Salzbrunner Kronen¬
quelle usw. Sie sind alle zwecklos und
haben praktisch nicht den geringsten
Nutzen. Rationeller ist ein Versuch mit
Arsen- und Jodkuren, doch sind wesent¬
liche Erfolge nicht zu verzeichnen. Die.
Antirheumatica mit ihrer schmerz¬
stillenden Wirkung stiften manchmal vor¬
übergehend einen geringen Nutzen;
solange sie gegeben werden, sind die Ge-
fühlsstörpngen in den Gelenken, Sehnen¬
scheiden und Fingerkuppen oft milder.
Vielfach nehmen deshalb die Patientinnen
Aspirin und andere Salicylpräparate, Pyra-
midon und sonstige Antipyrinderivate,
aber ohne irgendwelchen Dauererfolg.
Die Neigung zur Involution, zur Dy¬
strophie läßt sich an sich nicht beein¬
flussen. Versuche mit Darreichung
von Ovarintabletten verschiedener
Herstellung mögen immerhin gemacht
werden. Doch habe ich keinen beson¬
deren Nutzen in einigen damit be¬
handelten Fällen wahrgenommen.
Wohl aber kann man mit physi¬
kalischer Therapie versuchen, die
Beschwerden zu mildern, manche Ver¬
änderungen wieder rückgängig zu machen
und Fortschritte aufzuhalten. Es gelingt
dies hier leichter als bei der eigentlichen
Arthritis deformans.
An der Spitze der Behandlung steht
die aktive und passive Bewegungs¬
therapie. Der Umstand, daß die Be¬
schwerden nach längerer Ruhe der Ge¬
lenke am Morgen am schlimmsten sind,
weist schon darauf hin, daß die mecha¬
nische Einwirkung der Bewegung
günstigere Bedingungen schafft;
offenbar ist die Ernährung der Gelenk¬
knorpel, Gelenkkapseln, Sehnenscheiden,
Nagelglieder durch besseren Lymph- und
Blutzufluß eine günstigere. Man empfiehlt
deshalb tägliche Massage der Hände
u n d Fi n ger,ferner a kt i ve B e wegu n gen
in Form jener Greifgymnastik, wie sie
auch bei gelähmten Gliedern eingeführt
ist. Um feinere Störungen auszugleichen,
die sich beim Nähen, Klavierspielen so
ungünstig geltend machen, läßt man ge¬
rade auch in der Bewegung eine Fein¬
mechanik betreiben. Beides, die Massage
in Verbindung mit der Bewegung, pflegt
nach einer sechs bis acht Wochen sorg¬
fältig durchgeführten Kur deutliche Er¬
folge zu zeitigen. Es ist nur bedauerlich,
daß solche Kuren immer aufs neue und
oft jahrelang durchgeführt werden müssen,
weil durch lange Zeit, gerade in den fünf¬
ziger Jahren, die Neigung zum Rückfälle
besteht. Die Behandlung erfordert daher
viel Ausdauer und Geduld. Von Nutzen
ist ferner die Wärmebehandlung. Die
Prinzipien und Gründe dafür sind die
gleichen, wie sie einst August Bier für
die Heißluftbehandlung überhaupt fest¬
gestellt hat; die vermehrte Blutzufuhr,
die verbesserte Durchtränkung der Ge¬
webe, der erhöhte .Stoffwechsel bringen
Stillstand und Besserung. Am geeignesten
sind Zufuhren trockener Hitze, wie
sie jene einfach konstruierten Heißluft¬
kästen ermöglichen; Temperaturen bis
zu 100° C werden hier gut ertragen, wenn
genügend Ventilation zur Abfuhr der
Feuchtigkeit vorhanden ist. Auch im
Glüh lichtbade erweist sich die Zufuhr
der Hitze von Nutzen in ähnlicher Wei'se.
Wenig Wert hat die Anwendung des
Phönapparates, weil die Einwirkung zu
kurz und vorübergehend ist.
Man kann die Heißluftkur abwechseln
oder unterbrechen durch heiße Bäder
der Hände (und Füße). Sie müssen
recht warm genommen werden, so warm
als sie vertragen werden (ca. 36—40° R),
der Zusatz einer großen Hand voll Salz
oder Kamille oder von Fichtennadel¬
extrakt ist üblich.
Von Vorteil sind ferner feuchte Ver¬
bände, regelrecht angelegt, die die Pa¬
tienten nachts über um Finger und Hände
tragen sollen. Von manchen wird der
milde Reiz des Ichthyols gerühmt,
das konzentriert oder in zehnprozentiger
Salbe ebenfalls nachts zu applizieren ist,
während eine Behandlung mit Jodtinktur
nicht durchführbar ist, weil sie wegen der
Chronizität des Verlaufes und durch zu
lange Dauer die Haut, auch in vorsichtig¬
ster Weise angewendet, allzusehr reizen
würde. Dagegen ist eine Kombination von
Ichthyol mit hydropathischen Umschlägen
durchaus nützlich.
Vorteilhaft wirken ferner allgemeine
Bäder. Die praktische Erfahrung, daß
auf einzelnen Gelenken lokalisierte Pro¬
zesse durch allgemeine baineologische
Maßnahmen therapeutisch beeinflußt
werden können, bewährt sich auch hier.
Soolbäder und Schwefelbäder, letztere
ganz besonders, sowie Moor, Schlamm-
und Fangobäder sind von Nutzen. Ich
nenne hier nur die Soolbäder Berchtes¬
gaden, Dürrheim, Hall, Harzburg, Kosen,
Suderode, Aussee, Reichenhall, Kreuz¬
nach, Münster a. Stein, Salzuflen, Kissin-
jMärz Die Therapie der Gegenwart 1917. 85
gen, die warmen Soolqueilen von
Baden Baden, Wiesbaden, Nauheim und
Oeynhausen. Hier gibt es überall auch
.Moorbäder. Es kommen dazu einige
Stahlmoorbäder, wie Altheide, Ku-
dowa, Elster, Franzensbad, Marienbad,
.Schwalbach. Unter den Schwefel¬
quellen seien Eilsen, Nenndorf, Weil-
.baeh, Aachen, Landeck, Trenszin-Teplitz
und vor allem Pistyan genannt. Als
lieißes San db a d wird Köstritz empfohlen.
Auch die Wildbäder sind zu raten,
wie Wildbad, Badenweiler, Gastein, Jo¬
hannisbad, Schlangenbad und ganz beson¬
ders. Warmbrunn und Teplitz in Böhmen.
Neben den genannten Kuren in Bade¬
orten sind auch Bäder zu Hause oder in
Heilanstalten anzuwenden. Es handelt
sich um dieselben Arten von Bädern, wie
sie in den Kurorten in natürlicher Weise
genommen werden, also um Sool-,
Schwefel-, Fangobäder oder um sonstige
Bäder, die mit einem schlechten Wärme¬
leiter beschwert sind, # wie z. B. Lohe.
Die Temperaturen der einzelnen Bade-
prpzeduren sollen möglichst hoch sein.
Doch muß aufs sorgfältigste der Zustand
des Herzens geprüft werden, der bei
klimakterischen Frauen bekanntlich oft
genug kein günstiger ist. Liegen Zeichen
von Herzmuskelerkrankung oder Arterio¬
sklerose vor, so wird man entweder die
Vollbäder ganz beiseite lassen oder nur
solche geben, die gleichzeitig dem Herzen
nützlich oder wenigstens nicht schädlich
sind, nämlich die Bäder von Nauheim,
Oeynhausen, Orb, Kissingen und Marien¬
bad.
Fassen wir den Inhalt des vorstehenden
zusammen, so ist darin die Behauptung
aufgestellt, daß es Gelenkaffektionen
gibt, die ihre Pathogenese 'im klimakte¬
rischen Abbau haben, die auf Ernährungs¬
störungen, Atrophie und Dystrophie in
den schlechter ernährten Teilen des Be¬
wegungsapparates, namentlich in seinen
distalen Enden, beruhen, eine typische
Erkrankung des weiblichen Geschlechtes
sind und niemals zu hochgradigen Gelenk¬
deformitäten wie die Arthritis deformans
führen. Sie sind scharf von der Gicht
zu unterscheiden, sollten nicht mit Gicht¬
diät geplagt werden, bedürfen vielmehr
einer roborierenden Diät und einer sehr,
lange durchgeführten, immer wieder er¬
neuten Behandlung mit physikalisch¬
diätetischen Maßnahmen. Der Prozeß
ist hin und wieder der Heilung zugäng¬
lich, jedoch nicht immer. Man kann
zuweilen nur anstreben, ihn zu bessern
und die Gelenke einigermaßen funk¬
tionsfähig zu erhalten.
Neurogene und psychogene Dyspepsien als Kriegswirkungen.
Von Professor Dr. A. Albu, Berlin.
Erst nach dem Kriege, vielleicht erst
viele Jahre danach werden wir in vollem
Umfange erkennen, in wie hohem Maße
dieser Krieg Menschenkräfte verbraucht
hat. Die Anzeichen dafür sind ja reich¬
lich vorhanden. Bei vielen Kriegsteil¬
nehmern, die von kräftigster, unverwüst¬
licher Konstitution erschienen, haben wir
Erkrankungen gesehen, die in den
einzelnen Fällen nach Art, Ausgangs- und
Angriffspunkt einen sehr verschieden¬
artigen Eindruck macht, ln vielen Fällen
haben Herz und Gefäßsystem den
großen Anstrengungen nicht stand¬
gehalten. Aber noch viel häufiger ist die
Erkrankung durch eine Erschütterung
des Nervensystems und des-Seelenlebens.
Das Bild der Kriegsneurose ist so bekannt,
daß neue Züge ihm kaum noch hinzuge¬
fügt werden können. Aus den Erfahrun¬
gen der Friedens-Pathologie kennen wir
zur Genüge den charakteristischen Ablauf
derartiger Erschütterungen, daß auf den
Erregungs- und Reizzustand eine läh¬
mungsartige Erschöpfung folgt. Vielfach
hat sich eine derartige Wirkung nur auf
ein Organ des Körpers hauptsächlich oder
sogar ausschließlich entladen, z. B. das
Herz. Über die dadurch hervorgerufene
Kriegsneurose des Herzens gibt es bereits
eine sehr umfangreiche Literatur. Da¬
gegen ist meines Wissens bisher weniger
und noch nicht Genügendes bekannt ge¬
worden über ähnliche Einwirkungen auf
die Organe des Verdauungsapparates.
Im Laufe der verflossenen 2% Kriegsjahre
habe ich in den meiner Leitung unter¬
stellten Lazarettabteilungen, sowie in
der Privatpraxis eine große Zahl von
Magen- und Darmneurosen zu beobachten
Gelegenheit gehabt, die bei nachweis¬
lichem Fehlen aller organischen Grund¬
lagen. lediglich als Folgen der psychi¬
schen Einwirkung der Kriegserlebnisse
zu deuten sind.
Das Krankheitsbild der ,,intestinalen
Kriegsneurose“ — sit venia verbo —
weicht von dem in Friedenszeiten beob¬
achteten Symptomenkomplex in keiner
Weise ab. Es ist dasselbe bunte. Chaos
86 Die Therapie der
so daß es überhaupt nicht möglich ist,
einen einheitlichen oder überhaupt be¬
stimmten Typus der Syndrome als -pa-
' thognomonisch zu bezeichnen. Vielleicht
ist das einzige Charakteristische gerade
die ungemein wechselvolle Scenerie dieses
Symptomenkomplexes. In der Mehrzahl
der Fälle steht der Magen im Vorder¬
gründe, aber nicht selten beherrscht auch
der Darm, z: B. durch unstillbare Diar¬
rhöen, die Lage. Meist sind die örtlichen
liehen Krankheitserscheinungen verge¬
sellschaftet mit allerlei Beschwerden all¬
gemeiner Natur, die von Tag zu Tag, sogar
von Stunde zu Stunde wechseln, gelegent¬
lich von einem Organ auf das andere über¬
springen und das Allgemeinbefinden mehr
oder weniger stark in Mitleidenschaft
ziehen. Die Mehrzahl der Kranken
macht den ausgesprochenen Eindruck
von Neurasthenikern, viele sogar den
von Hysterikern. Gegenüber der großen
Menge der nervösen Verdauungsstörungen
trat die Zahl der organischen Erkran¬
kungen des Digestionsapparates in meiner
Beobachtung durchaus in den Hinter¬
grund. Auffallend groß ist darunter
die Zahl derjenigen, die überhaupt nicht
an der Front waren, sondern im Etappen¬
oder sogar nur im Heimatsgebiete und
zuweilen nur mehrere Monate oder gar
nur Wochen im Militärdienste tätig ge¬
wesen waren.
Viel häufiger als in Friedenszeiten
machten die Kranken einen derartigen
Eindruck, daß man weniger von einer
Magenneurose als von einer Magenpsy¬
chose zu sprechen geneigt sein kann.
Das, was man gewöhnlich als „nervöse
Dyspepsie“ bezeichnet, ist ja ein mixtum
compositum aus Motilitäts-, Sekretions¬
und Sensibilitätsneurosen, in dem bald
der eine bald der andere dieser Bestand¬
teile überwiegt. Selbstverständlich wur¬
den alle zur Behandlung kommenden
Fälle zunächst auf das etwaige Vorliegen
einer organischen Erkrankung des Ver¬
dauungskanals sorgfältig geprüft durch
genaueste klinische Beobachtung, che¬
mische und mikroskopische Magen¬
inhalts- und Faeces-Analyse und Röntgen¬
untersuchung, so daß die Diagnose einer
nervösen Verdauungsstörung immer nur
per exclusionem gemacht wurde.
Der subjektive Symptomenkomplex
ist ja ein von Fall zu Fall außerordentlich
wechselnder: unbestimmtes Gefühl des
Unbehagens in der Magengegend oder im
ganzen Leibe, Stiche bald hier bald dort,
Druck-, Völle- oder Spannungsgefühl in
Gegenwart 1917. März:
der Magengrube, häufig in unmittelbarem
Anschluß an die Mahlzeiten, zuweilen
erst eine halbe bis eine Stunde danach,
ebenso oft aber auch unabhängig von jeder
Nahrungsaufnahme, selbst nüchtern oder
fast ununterbrochen den ganzen Tag an¬
haltend, Appetitlosigkeit, Luftaufstoßen,.
saures Aufstoßen, Sodbrennen, Übelkeit,,
schlechter oder pappiger Geschmack im
Munde, Brennen auf der Zunge, Fremd¬
körpergefühl im Rachen, Zusammenlaufen
von Flüssigkeit im Munde, Speichelfluß,
Erbrechen von Schleim und Speichel,,
nicht selten auch von Nahrung kürzere
oder längere Zeit nach den Mahlzeiten
oft unregelmässig auftretend, zuw;eilen
unstillbar. Bemerkenswert ist, daß die
Kranken trotzdem häufig nicht abmagern
und sich schnell wieder erholen.
Dazu gesellen sich oft allgemeine
Symptome, wie Unruhe, leichte Erregbar¬
keit, Kopfschmerzen, Zittern, Schlaflosig¬
keit, Mattigkeit, leichte Erschöpfung und
dergleichen mehr.-
Wenngleich viele der erwähnten -lo¬
kalen Symptome auch häufig bei organi¬
schen Magenerkrankungen Vorkommen,,
so erkennt doch der auf diesem Gebiet
Erfahrene zumeist schon aus der Art der
Kombination der Symptome und ins¬
besondere der Art, wie sie immer wieder
vorgetragen werden, den nervösen be¬
ziehungsweise psychischen Charakter des
Leidens.
In der überwiegenden Zahl der Fälle
ergibt die objektive Untersuchung nach
keiner Richtung irgendeine Abweichung
von pathologischer Bedeutung. In einer
Minderheit von Fällen finden sich ge¬
wisse funktionelle Störungen, welche die
Beschwerden der Kranken wenigstens,
teilweise zu erklären vermögen: eine
Atonie mit Hypersecretio, Hyperchlor-
hydrie und Hyperacidität, häufiger findet
sich vorwiegend Hypersecretio mit ge¬
ringer oder ganz fehlender Beeinträchti¬
gung der Motilität; seltener ist die Atonie
mit Hyp- oder Anacidität, in anderen
Fällen findet sich das vollkommene Gegen¬
stück: die Achylia gastrica mit Hyper-
motilität, gelegentlich auch Hyp- oder
Anaciditas ohne wesentliche Motilitäts¬
störung.
Gerade die letztgenannten Funktions¬
anomalien des Magens sind es, welche
häufig mit andauernden Diarrhöen ein¬
hergehen, die jeder medikamentösen und
therapeutischen Beeinflussung überhaupt
trotzen. Sie bilden einen Teil der soge¬
nannten nervösen Diarrhöen, die ohne
März Die Therapie der
alle Anzeichen .von Dünn- oder Dick¬
darmkatarrh bestehen, zuweilen sich erst
sekundär auf solche aufpfropfen Und die
Krankheitsszene lange Zeit beherrschen,
während die objektiven Erscheinungen
des Katarrhs ganz in den Hintergrund
treten oder gar schon geschwunden sind.
So sah ich auch wiederholt solche nur
noch rein nervöse Diarrhöen als Nach¬
krankheit von im Felde erworbener oder
überstandener Dysenterie und Pseudo¬
dysenterie (während die überwiegende
Mehrzahl der nach diesen Erkrankungen
zurückbleibenden Durchfälle auf einer
Colitis catarrhalis beziehungsweise ulce¬
rosa beruht). Gerade die Anacidität des
Magens als Folgeerscheinung voran-
gegängener Ruhrerkrankung kommt recht
häufig vor und bietet dadurch offenbar
die Veranlassung zur Auslösung funktio¬
neller Darmstörungen.
In diesem bunten Chaos der Symptome
ist das am meisten charakteristische und
.wichtigste die Unmöglichkeit, sie thera¬
peutisch zu beeinflussen: Bettruhe,zweck¬
entsprechende Regelung der Diät, hydro-
pathische Einpackungen, Massage, fara-
discher oder galvanischer Strom, Dia¬
thermie und Medikamente verschiedenster
Art erweisen sich beim Gros dieser Fälle
als wirkungslos. Auch die Suggestion und
sonstige Psychotherapie pflegt wohl häufig
für einige Zeit Besserung zu bringen, aber
keinen dauernden Erfolg. Auch Wechsel
des Lazaretts, ambulante Behandlung, so¬
gar Aufenthalt in Genesungsheimen und
Kurorten haben oft nicht mehr als vorüber¬
gehende Linderung der Beschwerden er¬
zielt, der ohne jede erkennbare Ursache
der Rückfall auf dem Fuße folgte, so
daß die Leute nach vielmonatiger
Dienstunfähigkeit schließlich als dauernd
unbrauchbar entlassen werden müssen.
In einer Reihe von Fällen trat der
Rückfall ein, sobald die Kranken wieder
ins Feld kämen und all den Ein¬
drücken, die sie früher krank gemacht
haben, von neuem ausgesetzt waren.
Zahlreichen Kranken dieser Art gegen¬
über gewinnt man den Eindruck, daß-ihre
Krankheit zunächst überhaupt schwer
heilen wird.
Wo ist die Ursache dieser hartnäckigen .
Renitenz dieser nervösen Verdauungs¬
störungen zu suchen? Wir kennen dieses
Krankheitsbild und .seinen Verlauf zur
Genüge aus Friedenserfahrungen.. Nur
sehen wir es sonst nicht in solcher Häufig¬
keit, und während sich sonst die ursäch¬
lichen Momente der Entwickelung solcher
Gegenwart 1917. 87
Krankheitszustände oft der ärztlichen
Erkenntnis entziehen, weil sie in schwierig
zu übersehenden mißlichen persönlichen
Verhältnissen irgendwelcher Art wurze.Jn,
liegt hier ein einheitliches, ursächliches
Moment klar zutage: der Krieg wirkt
als psychisches Trauriia. Dabei ist es
nicht einmal von ausschlaggebender Be¬
deutung, ob die Betroffenen den schweren,
aufreibenden und aufregenden Kriegs¬
dienst an der Front gemacht oder weiter
hinten weniger gefährliche Arbeit aus¬
geführt haben. Selbst bei Leuten, die
nur in der Etappe tätig waren, bei
Soldaten im Heimatgebiete und sogar
schon während der Ausbildungszeit in der
Garnison entstehen solche Krankheits¬
zustände unter dem Einflüsse einer ganz
ungewohnten Lebensarbeit, der entweder
die körperlichen oder die geistigen Kräfte
oder beide nicht entsprechen oder nicht
gewachsen sind. Aber es sind gar nicht
die an den Mann gestellten Ansprüche
an sich, welche ihn krank machen, son¬
dern die Zwangsvorstellung einer seine
Kräfte übersteigenden Anspannung! In
manchen Fällen mögen die Schrecknisse
und Gefahren, welche der Krieg mit sich
bringt, eine Rolle spielen, doch ist das
keineswegs das einzige oder hauptsäch¬
lichste Motiv der psychischen Depression,
der Störung des seelischen Gleichgewichtes.
Weit häufiger wirkt in so deletärer Weise
ein ganz allgemeines Unlust gef ühl: Das
Herausgerissenwerden aus allen gewohnten
Verhältnissen, aus Familie, Beruf, Lebens¬
weise und das Eintreten in eine ganz
neue, unbekannte Lebenslage! Weniger
die Angst und Sorge um die eigene Zu¬
kunft oder das Schicksal der Familie
als der ständige Gedanke an Krieg und
Kriegstätigkeit erzeugt eine seelische Er¬
regung, die erst erschütternd, dann läh¬
mend wirkt. Schon bei der einheimischen
Zivilbevölkerung hat man eine solche er¬
regende Einwirkung des Kriegsgedankens
beobachtet; in stärkerem Maße aber ist
es bei den Kriegsteilnehmern jedweder
Gruppe zutage getreten.
Die Zwangsvorstellung lokalisiert und
konzentriert sich bei diesen Kranken
auf den Verdauungskanal als den ver¬
meintlichen oder wirklichen Locus minoris
resistentiae, der im Laufe ihres Lebens
schon manchen Anprall hat über sich
ergehen lassen müssen. Hier ist die
Stelle, wo sie sich stets für sterblich oder
unheilbar halten.
In der Reihe dieser Kranken lassen
sich zwei wesensverschiedene Arten
88
März
Die Therapie der
unterscheiden, zwischen denen es allerdings
auch Übergänge gibt: einmal die Kriegs¬
neurastheniker, bei denen die Krank¬
heitserscheinungen als Ausdruck einer
durch die Kriegstätigkeit erworbenen
reizbaren Nervenschwäche auftreten. Das
sind Leute, welche entweder früher ganz
gesund waren oder im bürgerlichen Leben
bisher eine ausreichende Widerstands¬
fähigkeit gegen die Reizwirkungen des
Kampfes ums Dasein gezeigt haben und
bei denen die Kriegsarbeit nur die Ge¬
legenheitsursache zum Ausbruch einer
schlummernden, mehr oder weniger star¬
ken- neurasthenischen -Disposition, ab¬
gegeben hat, wie es späterhin vielleicht
irgendein anderes, in das Leben der Be¬
treffenden schroff einfallendes Ereignis
getan hätte. Das ist die Gruppe der Er-
s c h ö p f u n g s n e u r o s e n, die. übrigens
auch nicht selten als langdauernde Folge¬
erscheinung überstandener Infektions¬
krankheiten des Verdauungstractus (Ty¬
phus, Ruhr und dergleichen) auf tritt.
Diese wirklich oder scheinbar er¬
worbene Kriegsneurose nimmt häufig,
wie schon in der Einleitung bemerkt, den
Charakter der Hysterie an, so daß im
einzelnen Falle eine scharfe Grenze
zwischen beiden Zuständen sich nicht
mehr ziehen läßt. Mancher derartige
Kranke zeigt das kombinierte Bild der
Hystero-Neurasthenie, indem sich lokale
nervöse Symptome von seiten des Magens
oder Darmes mit .ausgesprochener' all¬
gemeiner Hysterie (Zittern, Lähmungen
und dergleichen) verbinden. Das sieht
man z. B. öfter nach Verschüttungen.
Diese Neurastheniker und Hysteriker
bilden aber die kleinere Zahl gegenüber
der Gruppe der Psychopathen, bei
denen sich die dyspeptischen Erschei¬
nungen auf dem Boden psychischer De¬
generation entwickelt haben 1 ). Wenn es
auch zuweilen verschwiegen wird, so er¬
gibt die Nachforschung in der Regel,, daß
diese Kranken schon vor dem Kriege,
bald vorübergehend bald dauernd, solche
und ähnliche Krankheitserscheinungen
hatten, wenn auch oft nicht in gleich
starkem Maße. Mit der ererbten und
familiären neuropathischen Anlage haben
en sie sich im labilen Gleichgewichts¬
zustände ihres Nerven- und Seelenlebens
bisher recht und schlecht durchgeschlagen,
bald hier, bald dort Anstoß nehmend,
1 ) Eine vorzügliche Schilderung des Krankheits¬
bildes, namentlich die Analyse seiner Pathogenese,
findet sich in der Monographie von H. L. Dreyfus:
Über nervöse Dyspepsie. Jena 1908.
Gegenwart 1917.
zeitweise ihrem Krankheitsgefühle unter¬
liegend, dann wieder unter dem Zwange
des Alltagslebens sich aufraffend, ihrem
Berufe und ihrer Gewohnheit ohne Stö¬
rung nachgehend. Schon die Anforde¬
rungen der militärischen Ausbildungszeit
oder die ersten Wochen des Aufenthaltes
im Felde pflegen diese Minderwertigen
umzuwerfen. Während bei den Kriegs¬
neurasthenikern oft dauernde oder wenig¬
stens längere Zeit anhaltende Erfolge
durch Lazarettbehandlung erzielt werden
können, bis neue, erregende Erlebnisse
im Felde sie häufig wieder rückfällig
machen, versagt dem Pschopathen gegen¬
über regelmäßig jede, auch die beste ärzt¬
liche Kunst. Solange der Krieg dauert,
ist bei ihnen eine Wiederherstellung des
seelischen Gleichgewichtes nicht mehr zu
erwarten, weil sie unter der unbewußten
Zwangsvorstellung der für sie unerträg¬
lichen Einwirkung des Krieges oder,
Militärdienstes stehen. Sie haben zu
wenig Willensstärke, um einer solchen,
sie selbst quälenden. Idee zu widerstehen,
und überlassen sich schlaff und energielos
ihrer Autosuggestion. Während man
unter den Magenneurasthenikern auch
Männer von kräftiger körperlicher Kon¬
stitution trifft und darum immer noch
Aussicht auf eine Restitutio in integrum
hat, ist die Prognose der psychopathisch
bedingten Dyspepsie um so ungünstiger
zu betrachten, wenn sie, wie so häufig in
solchen Fällen, auch körperlich minder¬
wertige Individuen befallt, schlaffe,
schwach entwickelte und schlecht er¬
nährte Personen, bei denen gleichsam
die fehlende Energie auch die Körper¬
kraft schwächt und lähmt und um¬
gekehrt.
In wie hohem Maße eine individuelle
Psychopathie einenKrankheit auslösenden
und Krankheit unterhaltenden Einfluß
ausübt, sei nur an einem einzigen, be¬
sonders drastischen Beispiele erwiesen: In
meine Behandlung trat ein Mann von
34 Jahren mit dem ausgesprochenen
Krankheitsbilde der nervösen Dyspepsie,
kombiniert mit allgemeinen nervösen und
hysterischen Symptomen, die ihn seit acht
Monaten schon dienstunfähig gemacht und
von einem Lazarett ins andere geführt
hatten. Als Ursache seiner Erkrankung
gab er folgendes Erlebnis an: Hinter der
Front habe er eines Tages mit vier Kame¬
raden beim Frühstück gesessen, als plötz¬
lich etwa 200Meter entfernt Fliegerbomben
abgeworfen wurden. Während die vier
anderen mit dem bloßen Schrecken davon-
89'
März Die Therapie der Gegenwart 1917.
gekommen sind, ist er von der Stunde an
krank gewesen, hat sich mit seinen Be¬
schwerden noch drei Wochen lang bei
seinem Kommando herumgeschleppt, bis
er schließlich ganz erschöpft zusammen¬
gebrochen ist. In einem, so desolaten
allgemeinen Befinden sah ich ihn noch.
Diese heftige Nachwirkung eines an sich
geringfügigen Erlebnisses erweckte, ins¬
besondere in Verbindung mit dem all¬
gemeinen Eindrücke des Kranken (typische
Facies neurasthenica! u. a.) den Ver¬
dacht tieferliegender Ursachen und ver-
anlaßte genauere Nachforschungen nach
dem Vorleben des Kranken. Sie ergaben,
daß derselbe aus einer psychopathisch
belasteten Familie stammt und selbst
schon seit mehr als zehn Jahren wieder¬
holt längere Zeit an ähnlichen Magen- und
allgemeinen Beschwerden gelitten hatte!
Zum Schlüsse noch einige Bemerkungen
über die praktische Behandlung solcher
Kriegsneurosen des Verdauungskanals.
Sie gestaltet sich zu den schwierigsten und
undankbarsten Aufgaben des Arztes, be¬
sonders im Lazarettdienste. Die auf dem
Verdauungskanale konzentrierten Be¬
schwerden und auch die objektiven Er¬
scheinungen seitens desselben erheischen
unbedingt als den wichtigsten therapeuti¬
schen Faktor in erster Reihe stets eine
diätetische Behandlung. Das läßt sich,
wenn sie wirksam sein soll, in Lazaretten
nur durchführen bei Errichtung be¬
sonderer Krankenabteilungen mit eigener
diätetischer Küche. Dem stehen die Ge¬
fahr und der Schaden gegenüber, welche
die Errichtung solcher Sonderabteilungen
mit sich bringt: die Anhäufung nervöser
Kranker beieinander wirkt gleichsam an¬
steckend durch die gegenseitige Suggestion,
welche das ewige Anhören der Klagen jedes
einzelnen Kranken auf den anderen ausübt.
Das verstärkt dann unbewußt bei ihnen
die Zwangsvorstellung eines kranken Ver¬
dauungsapparates immer mehr. Man tut
deshalb gut, auf einer solchen Magen¬
abteilung die nervösen Kranken in bunter
Reihe zwischen die organisch Kranken
zu legen, um jede scheinbare Einförmig¬
keit der Auffassung und Behandlung ihrer
Krankheit zu vermeiden. Gerade der
nervöse und psychisch Kranke bedarf
stets, dringend der individuellen Be¬
handlung.
So sehr man sich einerseits davor
hüten muß, solche Kranke wegen ihrer
unaufhörlichen Klagen und ihrer un¬
bestimmten,’ oft wechselnden Beschwerden
etwa für simulationsverdächtig zu halten,
so entschieden muß man andererseits
einer Übertreibung und Überschätzung
ihres Leidens seitens der Kranken ent¬
gegentreten, insbesondere der' häufigen
Neigung, die Schuld an ihrer Krankheit
einzig und allein auf den Kriegs- be¬
ziehungsweise Militärdienst zu schieben.
Wo das Vorleben und die Vorgeschichte
der Kranken oder das objektive Unter¬
suchungsergebnis einen sicheren Anhalts¬
punkt für das Vorhandensein einer neur-
asthenischen oder psychopathischen An¬
lage liefern, auf deren Grundlage die
Kriegserlebnisse nur eine latente Dis¬
position zum Ausbruch gebracht haben,
da soll man meines Erachtens mit der
Lazarettbehandlung nicht allzu viel Zeit
verlieren, sondern diese für jeden Kriegs¬
und Militärdienst unbrauchbaren Men¬
schen möglichst schnell ihrem • bürger¬
lichen Berufe zurückgeben, in dem auch
ihre Psyche wieder in ihren labilen
Gleichgewichtszustand sich zurückfinden
wird. Dagegen können Leute mit kräfti¬
ger Körperkonstitution, deren Magenneur¬
asthenie erst im Felde entstanden oder
zum erkennbaren Ausbruche gekommen
ist, nach deren Abheilung unbesorgt
wieder ins Feld hinausgeschickt werden.
Ja, ich habe sogar nicht wenige Neur¬
astheniker (abgehetzte Großstadtmeh-
schen und dergleichen mehr) gesehen, die
ihre nervösen Magenbeschwerden im
Felde verloren haben.
Die Behandlung des wolhynischen Fiebers mit Kollargol.
Von Dr. Erich Richter, zurzeit im Felde.
Die Mehrzahl der Autoren, die sich
bisher zur Behandlung des wolhynischen
Fiebers geäußert haben, stimmt darin
überein, daß es ein sicher wirkendes Heil¬
mittel gegen diese Krankheit nicht gibt.
Vom Neosalvarsan bzw. Salvarsan wol¬
len Brasch und Korbsch gute Erfolge
gesehen haben; His berichtet über einen
Fall, bei dem eine Einspritzung von 0,6 g
Neosalvarsan völlig wirkungslos gewesen
sei. Werner und Haenssler haben
vier Fälle mit Neosalvarsan behandelt,
zwei davon erfolglos. Sachs beobachtete
bei einem mit Neosalvarsan behandelten
Falle gute Wirkung, bei zwei weiteren
Fällen versagte das Mittel.
12
*90
März
Die Therapie der
Eine Heilwirkung soll nach Korbsch j
der Solutio Fowleri zukommen.
Von weiteren Arzneimitteln sind ver-
. sucht worden: Chinin, Optochin, Aspirin,
Antipyrin und Pyramidon, ohne daß
damit eine wesentliche Beeinflussung des
Krankheitsverlaufes erzielt worden wäre.
Die Erfolge, die ich an einem ziemlich
großen Material mit den letztgenannten
Mitteln erzielt habe, waren ebenfalls fast
völlig negativ. Ich habe saalweise syste¬
matisch Chinin, Antipyrin • und Pyra¬
midon verabreicht und dabei beobachtet,
. daß das Chinin völlig wirkungslos war.
Pyramidon und Antipyrin besserten
manchmal vorübergehend die Kopf- und
Gliederschmerzen, versagten aber auch
sehr oft in ihrer schmerzlindernden Wir¬
kung vollständig; in vielen Fällen drück¬
ten diese Präparate das Fieber herunter
und hatten dadurch zur Folge, daß die
Fieberkurve uncharakteristisch wurde.
Die vielen derartigen Fieberkurven, die
ich an anderer Stelle 1 ) erwähnt habe,
führe ich auf die Einwirkung der Antipy-
retica zurück.
Im Interesse einer genauen Diagnose¬
stellung habe ich auf die Anwendung
dieser Mittel gänzlich verzichtet und seit
der Zeit wieder mehr typische Fünftage¬
fieber-Kurven beobachtet.
Auch die Fowlersche Lösung habe
ich bei einer größeren Anzahl von Kranken
angewandt, indem ich das Mittel nach der
üblichen Methode in steigender Tropfen¬
zahl längere Zeit verabreichen ließ. Eine
günstige Einwirkung auf den Krankheits¬
zustand habe ich in keiner Beziehung¬
feststellen können.
Das völlige Versagen jeder Therapie
und .die Hilflosigkeit, zu der man dem
wolhynischen Fieber gegenüber verdammt
war, wirkten auf die Dauer unbefriedigend
und deprimierend.
Wenn die Krankheit auch niemals
zum Tode führt und mit der Zeit spontan
auszuheilen pflegt, so dauert sie doch
meistens sehr lange und kann durch eine
Unzahl von Komplikationen, wie Ne¬
phritis, Conjunctivitis mit conjunctivalen
Blutungen, Pneumonie, trockene Pleuritis,
Tonsillarabscesse, ruhrartige Darmka¬
tarrhe schwerster Art, nervösbedingte
Störungen der Herztätigkeit (hauptsäch¬
lich Vagusreizung und -Lähmung), Blasen¬
lähmungen, Urintenesmen, Harnträufeln
usw., das Allgemeinbefinden in schwerster
Weise beeinträchtigen. Vor allem sind
*) Erscheint demnächst in der B. kl. W.
Gegenwart 1917.
es die nie fehlenden,- von mir zu-
. erst beschriebenen Rückenmarkssym¬
ptome (Neuralgien, Parästhesien und seg-'
mentär angeordneten hyperästhetischen
Zonen), die das Leiden für den davon Be¬
fallenen so qualvoll machen und die Re¬
konvaleszenz so sehr in die Länge ziehen.
Es dürfte wohl kein Zweifel bestehen,
daß es .sich beim wolhynischen Fieber um
eine- parasitäre Blutkrankheit ‘ handelt.
Dafür spricht die große Ähnlichkeit, die
das wolhynische Fieber in seinen klinischen
Erscheinungen mit der tropischen Form
der Malaria zeigt, dafür sprechen die ge¬
glückten Infektionsversuche von Werner
und Benzler.
Es lag daher der Gedanke nahe;
mittels eines BLutdesinfiziens die Erreger
im Blute selbst zu treffen und in ihrem
fünftägigen Entwicklungszyklus zu
stören.
Da die Wirkung des Neosalvarsans
unsicher zu sein schien, beschloß ich einen
Versuch mit Kollargol-Hey den zu
machen. Über die Erfolge will ich in nach¬
stehendem .berichten.
Bevor ich auf die Versuche selbst ein¬
gehe, Einiges über die Methodik: 10 ccm
einer 1 % igen Kollargollösung (eine
%%ige erwies sich als zu wenig wirksam)
wurden in die Vena mediana cubiti ein¬
gespritzt. Etwa drei Stunden danach tritt
regelmäßig ein mehr oder weniger hoher
Fieberanstieg auf, der gewöhnlich bei der
ersten Einspritzung am höchsten ist.
Es ist unbedingt darauf zu achten, daß
keine Spur der Lösung ins subcutane
Gewebe gelangt, was starke Schmerzen
verursacht. Außerdem darf nur eine ganz
frische, mit frischdestilliertem Wasser
hergestellte Lösung, die sorgfältig filtriert
werden muß, benutzt werden. Für streng¬
ste Asepsis ist Sorge zu tragen. Ist die
Lösung nur einen Tag alt, so können sich
kleine Koagula bilden und die Folge
davon sind capilläre Thrombosen, die
schwere Störungen des Allgemeinbefindens
sofort nach der Einspritzung nach sich
ziehen:' Blässe, Übelkeit, Erbrechen,.
Durchfälle und Herzbeschwerden. Der¬
artige Zustände habe ich einmal bei drei
Kranken beobachtet, die nacheinander
mit einer nicht vollkommen frischen
Lösung gespritzt worden waren. Alle
späteren Einspritzungen mit frischbe¬
reiteten Lösungen sind ausnahmslos gut
vertragen worden.
Zunächst wurden zur Behandlung
solche Fälle ausgewählt, die seit längerer
Zeit krank waren, mehr kontinuierlich
Die Therapie der Gegenwart 1917. 91’
fieberten und ständig über Neuralgien
im Kopfe, im Rücken und in den Gliedern
klagten. Fälle mit typischer Fünftage-
fieber-Kurve wären für diese Vorversuche
nicht geeignet gewesen, denn aus dem
Ausbleiben, des nächsten Fieberanstieges
hätte man keine sicheren Schlüsse
ziehen können, da die Anzahl der Monatst
Fieberanfälle verschieden ist. Krkhtsta
zunächst gewisssermaßen ,,gelockert”
würden, um dann erst unschädlich ge¬
macht zu werden.
Die zweifellos günstige Einwirkung
des Kollargolsf auf den Krankheitsverlauf
des wolhynischen Fiebers stand somit
• Fall 1,
26.X. 27. 28. 29. 30. 31. l.XI. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11.
• 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. .10. 11. 12. 13. 14,15. 16. 17.
Bei all diesen Fällen war die
Wirkung ganz eklatant. Während
■des mehrstündigen Kollargolfiebers
steigerten sich zunächst ohne Aus-,
nähme alle vorhandenen, subjek¬
tiven, dem wolhynischen Fieber
eigenen Beschwerden, bzw. traten
die früher vorhanden gewesenen
erneut auf: Die Kranken klagten
über stärkere Kopfschmerzen, über
stärkeres Reißen in allen peripheren
Fall 2.
Monatst.'21 .IX.22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. l.X.2. 3. 4. 5. 6. 7.
Nervengebieten, der Periostdruck- Krkhtsta £ L 2 - a - 4 - 5 - 6 - "■ a lü - 1L 12 - u. 15 . ig. 17 .
schmerz an den Schienbeinen war
in verstärktem Maße vorhanden.
Über andere -Beschwerden wurde
nicht geklagt. Am nächsten Morgen
fühlten sich sämtliche Kranke er¬
heblich wohler als vor der Ein¬
spritzung; das Fieber war ver¬
schwunden. Alle Beschwerden
hatten nachgelassen. Die Kranken
aben sämtlich
spontan an, daß
infolge der Ein¬
spritzung eine
Besserung ihres
Zustandes einge¬
treten sei.
Das war bis¬
her bei keinem
der mit anderen
Mitteln behandel¬
ten Kranken der Fall gewesen.
Nachdem ich diese Tatsache in der
Folgezeit bei einer größeren Anzahl be¬
handelter Fälle immer wieder bestätigt
gefunden hatte, kam ich zu der Über¬
zeugung, daß das Kollargol in specifischer
Weise' auf den Krankheitserreger ein¬
wirkte. Sehr wichtig erschien mir die
Tatsache, daß die neuralgischen Schmer¬
zen zunächst nach der Einspritzung stärker
auftraten. Der bisher noch unbekannte
Erreger des wolhynischen Fiebers schä¬
digt in besonders hohem Maße den
sensiblen Teil des Rückenmarks. . Es
hat nun den Anschein, als ob in diesem
Gebiet eine, specifische Reaktion auf die
Kollargolinjektion . einträte, ähnlich wie
wir sie. von der Salvarsanwirkung bei
der Lues kennen, als ob die Toxine
meines Erachtens fest. Es händelte sich
nunmehr darum empirisch festzustellen,
wie groß die Heildosis und welches die
beste Applikationsart wäre.
Geht man von der Anschauung aus,
daß der Erreger des wolhynischen Fiebers
ein Blutparasit mit fünftägigem Entwick¬
lungszyklus ist, so muß man annehmen,
daß sich während des fieberfreien Inter¬
valls die Jugendformen des Erregers im
Blute befinden, die gegen Ende des Inter¬
valls ausreifen, und daß bei jedem neuen
Fieberanstieg eine neue,$Junge Parasiten¬
generation in Erscheinung tritt. Es galt
also, die heranwachsenden Parasiten in
ihrer Entwicklung zu stören, so, wie wir
es mit dem Chinin bei der Malaria tun.
Die Behandlung hat also im Beginne des
Intervalls einzusetzen.
12 *
92-
Die Therapie der Gegenwart 1917.
März:
An der Hand von Fieberkurven möge
das weitere erläutert werden (alleTempera-
turen sind rectal gemessen):
Bei Fall 1 und 2 sieht man die, Wirkung:
einer einmaligen Einspritzung von 0,1 bzw.-
0,05 Collargol. Bei beiden Fällen wurde die Ein¬
spritzung nach dem Abklingen des zweiten.
Fieberanfalls vorgenommen.
Die Folge ist, wie an den Kurven
ersichtlich, eine Verlängerung des-
fieberfreien Zeitraums auf etwa das.
Doppelte. Die Erreger sind offen¬
bar in ihrer Entwicklung gehemmt
und erst in der doppelten Zeit zur
Reife gelangt.
An der nächsten Gruppe von.
drei Fällen (Fall 3, 4, 5) wurde die-
Wirkung von zwei Einspritzungen,
festgestellt.
Fall 3 hatte drei Fieberanfälle hinter
sich. Die erste Einspritzung hatte eine
erhebliche Besserung, die zweite völliges-
Verschwinden aller Krankheitserschei¬
nungen zur Folge. Ein neuer Fieber¬
anfall trat nicht auf, der Kranke wurde
dienstfähig zur Truppe entlassen.
Fall 4 wurde nach Ablauf des vierten
Fieberanfalls zweimal gespritzt. Alle
Krankheitserscheinungen besserten sich,,
der Kranke blieb 18 Tage lang fieberfrei
und fühlte sich wohl. Dann traten er¬
neut leichte abendliche Temperaturanstiege
und Schmerzen im Plexus lumbalis auf.
Durch zwei weitere Kollargoleinspritzungen
wurden alle Krankheitserscheinungen be¬
seitigt, der Kranke wurde dienstfähig ent¬
lassen.
Bei Fall 5 waren fünf Fieberanfälle
voraufgegangen. Es wurden zwei Kollargol¬
einspritzungen gemacht, die erhebliche
Besserung aller subjektiven Beschwerden
zur Folge hatten. Nach 14 Tagen traten
wieder abendliche Temperatur anstiege
auf, verbunden mit Kopf- und Glieder¬
schmerzen. Danach neue Kur, bestehend
aus .drei Einspritzungen mit zweitägiger
Zwischenpause, wonach völliges Wohl¬
befinden eintrat. Der Kranke blieb fie¬
berfrei und wurde dienstfähig entlassen.
Diese drei Fälle lassen fol¬
gendes erkennen: Zwei Kollar¬
goleinspritzungen können dieKrank-
heit, wenn sie nicht zu lange
besteht, heilen. Bei längerer Dauer
der Krankheit dagegen werden die
Parasiten nur in hohem Maße ge¬
schädigt, ohne gänzlich abgetötet,
zu werden. Erst eine zweite Kur,,
bestehend aus zwei bzw. drei
Einspritzungen, je nach der Dauer
und Schwere des Falles, hatte Hei¬
lung zur Folge.
Die Wirkung des Kollargols am
den genannten fünf Fällen schiert
mir einen Fingerzeig zu geben,,
wie man sich dem wolhynischem
Fieber gegenüber therapeutisch zu
verhalten hat: drei Einspritzun-
93
März
Die Therapie der Gegenwart 1917.
gen bei' möglichst frischen Fällen, in
möglichst kurzen Zwischenpausen wie¬
derholt, mußten dieselbe Parasitengene¬
ration treffen und abtöten.
Ich verfuhr also nach folgendem Mo¬
dus: Der zweite Fieberanfall wurde abge¬
wartet, um in der Diagnosestellung ganz
sicher zu gehen. Nach dem Fieberabfalle
wurde 'die erste, nach - zweitägiger Pause
die zweite und nach wiederum zweitägiger
Pause die dritte Einspritzung vorge¬
nommen.
Wo so verfahren wurde, trat regel¬
mäßig Heilung ein, ein neuer Fieberan¬
fall gespritzt wurde.- Der Kranke bot die aller¬
schwersten Krankheitserscheinungen dar. Während-
der Fieberanfälle, namentlich des zweiten, der
fast fünf Tage dauerte, lag der Kranke stöhnend
und -leicht benommen da, die Kopfvenen stark
gefüllt, die Conjunctiven gerötet, in der rechten
eine Blutung. Alle großen Nervenstämme und
dasSchienbeinpsriost waren äußerst druckempfind¬
lich. Der Kranke klagte über das Gefühl des Ab¬
gestorbenseins der Glieder, heftige^Kopfschmerzen,
Schlaflosigkeit, und delirierte nachts leicht.
Bei einem so. schweren Falle hätte
man wohl erfahrungsgemäß mit noch wei¬
teren Fieberanfällen rechnen können, zum
mindesten mit leichteren Rezidiven und
langandauernden Nervenschmerzen. Nach
Fall 7.
Monatst. 19.X.20. 21. 22. 23. 24. 25. 20. 27. *28. 29. HO. Bl.l.Xr.2. 3. 4. 5. G. 7. 8. 9. 10.11
Krkhtstag 1. 2. 3. 4. 5. (>. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 10. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24
Fall 8.
Monatst. 14:X. 15. IG. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 20. 27. 28. 29. 30. 31.1.XI.2. 3. 4. 5. 6.
Krkhtstag 1. 2. 3. 4. 5. 0. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 18. 14. 15. IG. 17. 18. 19. 20. 21. 22, 23. 24.
achtet, vor
allem ver¬
schwanden
prompt die
subjektiven
Beschwer¬
den, worauf
ich beson¬
ders hin-
weise. der dritten Einspritzung hatte er aber
Die nachfol- keine Bschwerden mehr, ebenso wie alle
genden acht übrigen Kranken.
Kurven (Fall 6, In letzter Zeit habe ich damit be-
7,8, 9, 10, 11, gönnen, auch Kranke mit Kollargol zu
12, 13) mögen behandeln, die nur einen Fieberanfall
die Applika- hinter sich hatten, wenn nach den klini-
tionsart sehen Erscheinungen an der Diagnose
illustrieren. „wolhynisches Fieber“ nicht zu zweifeln
Besonders be- war.
weiskräftigschemt; Über diese un d noc h we itere in Be¬
el™ erst nach efem handlung befindliche Fälle kann ich mir
dritten Fieberan- 1 noch kein abschließendes Urteil erlauben.
94
Die Therapie der Gegenwart 1917.
März
Leider war ich gezwungen, da. das
Lazarett abrückte, die . Versuche einzu¬
stellen. Außerdem war es mir nicht mehr
Fall 10.
Monatst. 24.X.25.26. 27. 2S. 29. 30. 31. J.XI.2. 3. 4. 5. 6. 7.
Krkhtstag 1. 2. 3. _4. 5. 6. 7. S. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15.
möglich, das Kollargol-Heyden zu er¬
halten; statt dessen stand mir ein Ar¬
gentum colloidale zur Verfügung, das in
seiner Wirkung
dem erstgenann¬
ten Mittel ganz
erheblich nach¬
stand. Es löste
sich unvollkom¬
men, und wenn
der schlammige
Rückstand abfil¬
triert war, blieb
eine zu dünne Lö¬
Monatst. 30.X. Hl. .1 .XI. 2. 3.
Krkhtstag i. 2. 3. 4. 5.
erzielten Erfolge für wichtig genug, um
sie i zu veröffentlichen und zur Nach¬
prüfung zu empfehlen.
Dabei wäre meines Er-
s. o m ii io achtens vor allem zu über¬
legen, erstens, ob man nicht
noch größere Dosen, etwa
0,2 bei der zweiten Ein¬
spritzung, anwenden sollte,
und zweitens, wie wir chro¬
nische Fälle zu behandeln
haben. Hier würde ich
vorschlagen, zunächst drei
Einspritzungen mit zweitägiger Zwischen¬
pause vorzunehmen und nach einer
Woche dieselbe Kur noch einmal zu
wiederholen. Kleine, verzettelte Dosen
sind auf jeden Fall zu vermeiden
und eher schädlich als nützlich, da
dann r eirie Gewöhnung an das Mittel
eintritt.
Meine bisher erzielten Erfolge
fasse ich in folgenden Leitsätzen
zusammen:
1. Das intravenös applizierte Kollargol-
Heyden ist ein beim wolhynischen Fieber
specifisch wirkendes Heilmittel, das in
Fall 12.
4. 5. m 7. . 8. 0. 10. 11. 12. 13. 14. io. 16. 17. 18. 19. 20.
tl, 7. 8. 11 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22.
50 35
sung übrig, deren
Einspritzung
zwar erheblich
besser vertragen
wurde, auch mei¬
stens gar keine
Temperatur¬
steigerung zur
Folge hatte, da¬
für aber auch
weniger wirksam
war.
Ich halte trotz¬
dem die bisher
Monatst. 4.XL 5. 6. 7.
Krkhtstag 1. 2. 3. 4.
P. W.
der Promptheit seiner Wirkung der des
Chinins bei der Malaria zu vergleichen ist.
2. Eine einmalige intravenöse Kol-
largoleinspritzung hemmt den Entwick¬
lungszyklus des noch unbekannten Er¬
regers in der Weise, daß sie das fieberfreie
Intervall auf das Doppelte verlängert.
3. Eine zweimalige Einspritzung tötet
in frischen Fällen den Erreger ab, in äl¬
teren Fällen schädigt sie ihn sehr stark.
4. Eine dreimalige Einspritzung mit
zwei- bis dreitägiger Zwischenpause ge¬
nügt bei akuten Fällen, um die Krankheit
zur Ausheilung zu bringen.
Fall 13.
s. 9. 10. 11. 12. 13. M. 15. 1(5. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23.
5. (5. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20.
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130 39
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1
März
Die Therapie der Gegenwart 1917.
95
5. Die Kollargollösung muß jedesmal
mit frischdestilliertem Wasser, gut fil¬
triert, ' steril und frisch hergestellt
werden.
(Abgeschlossen am 20. November 1916.).
Literatur: His (B. kl. W. 1916, Nr. 27). —
Brasch (M. m. W. 1916, Nr. 23). — Werner
u. Haenssler (M. m.W. 1916, Nr. 28). — Werner,
Benzler, Wiese (M. m. W. 1916, Nr: 38). —
Korbsch (D. m. W. 1916, Nr. 40). — Sachs
(M. m. W. 1916, Nr. 46).
Zusammenfassende Übersichten.
Die Digitalisanwendung nach neueren Forschungsergebnissen 1 ).
Von Dr. Geppert-Hamburg-Eppendorf.
Wissenschaftlich am interessantesten,
sowie praktisch am wichtigsten bei der
Behandlung von Herzaffektionen ist die
auf einer, alle Einzelheiten in. Betracht
ziehenden Diagnose beruhende Indi¬
kationsstellung. Der Reflex: „Cardio-
pathie-Digitalis“, der in der Praxis leider
nur allzu oft das Handeln am Kranken¬
bette leitet, muß mehr und mehr gehemmt
bzw. abgelöst werden durch ein zielbe-
wusteres Vorgehen auf Grund genauerer
Kenntnisse von der Wirkungsart des
Mittels auf das menschliche Herz. In
diesem Sinne verdanken wir dem un¬
längst erschienenen, von Herrn Geheimrat
Klemperer in dieser Zeitschrift durch
ein kurzes Referat bereits gewürdigten
Buche von E. Edens einen so großen
Gewinn für das praktische Handeln,
daß eine genauere Besprechung desWerkes
angebracht erscheint.
Die grundlegenden, über lange Zeit
sich erstreckenden Studien über die Wir¬
kungsweise der Digitalis wurden bekannt¬
lich am Tier vorgenommen. Es ergaben
sich bereits früh erkannte Unterschiede
in der Wirkungsart zwischen dem Kalt¬
blüter- und dem Warmblüterherzen, und
da selbstverständlich die Erfahrungen am
letzteren nicht ohne weiteres auf den Men¬
schen übertragen werden konnten, so
war es nur möglich, einen endgültigen
Abschluß über die Wirkungsart der
Digitalis am menschlichen Herzen durch
Beobachtungen am Menschen selbst zu
gewinnen. Unsere bisher unzulänglichen
Kenntnisse vom Wesen der Digitalis¬
wirkung am Menschen führten dazu, der
Unzuverlässigkeit der Digitalisdroge die
wechselnde Wirkung zuzuschreiben; bis
man nach Anwendung titrierter Präparate
erkannte, daß die Bedingungen am kran¬
ken Herzen des Menschen weit kom¬
pliziertere sind als die beim Tierexperi-
’) Besprechung von Prof. E. Edens ,,Die
Digitalisbehandlung“. IV. und 153 S. mit 84 Ab¬
bildungen, Berlin und Wien 1916, Urban
& Schwarzenberg. Preis 6 M., geb. 7,5Q M.
ment. Das genaue Studium an einem
großen klinischen Material konnte nur
zum Ziel führen. Von diesem Gesichts¬
punkte aus ist das Edenssche Buch ent¬
standen. Es bringt uns die Ergebnisse
zehnjähriger Studien am Krankenbett, die
gewonnen wurden mit Zuhilfenahme mo¬
derner Untersuchungsmethoden (Sphyg-
mographie und Elektrokardiographie).
Was die Lektüre dieses Buches besonders
interessant macht, sind die Analysen der
einzelnen Wirkungsformen und ihrer Ent¬
stehungskomplexe. Für die Praxis sind
am wichtigsten die Schlußfolgerungen,
die wir bei unserer Besprechung am
meisten berücksichtigen wollen. Edens
gibt uns mehr als eine Aufzählung der
Indikationen der Digitalisanwendung. Wir
finden vor allen Dingen in seinen Aus¬
führungen an der Hand zahlreicher Sphyg-
mo- und Elektrokardiogramme die phy¬
siologischen Zusammenhänge und Bedin¬
gungen eingehend berücksichtigt.
Bekanntlich wird die durch Digitalis
verursachte Pulsverlangsamung auf eine
Reizung des Vaguszentrums zurückge¬
führt; beim Warmblüter kommt noch
als Ursache der Bradykardie eine durch
Digitalis bewirkte , Blutdrucksteigerung
hinzu; dagegen steht die Tatsache fest,
daß beim Menschen Digitalis keine
Blutdrucksteigerung hervorruft.
Während beim Tier eine Pulsverlang¬
samung nach Digitalis ausnahmslos statt¬
findet, machte Edens die sehr beachtens¬
werte Beobachtung, die für die praktische
Indikationsstellung von weittragender
Bedeutung ist, daß bei Menschen mit
regelmäßiger Herztätigkeit Digitalis nur
dann eine Pulsverlangsamung verur¬
sacht und damit seine ganze Wirksamkeit
entfaltet, ' wenn Herzhypertrophie
und Herzinsuffizienz gleichzeitig
vorhanden sind. Und zwar tritt in
diesem Zustande die ohne Blutdruck¬
steigerung einhergehende Pulsverlang¬
samung bereits nach auffallend kleinen
Dosen ein. Diese Erfahrungstatsache be-
März
96 . Dlt Therapie der Gegenwart i917.
nutzt Edens zur Erklärung des Mechanis¬
mus der Digitaliswirkung beim Menschen.
Er nimmt an, daß in einem insuffizienten
und zugleich in seiner Masse vergrößerten
Herzen infolge unzureichender Durch¬
blutung eine Asphyxie besteht, die den
Tonus des Vagus erhöht. Der im gleichen
Sinne auf den Vagus wirkende Reiz der
Digitalis genügt nun, um den Accelerans-
tonus zu überwinden. Die Indikation für
Digitalis bei rhythmischer Herztätigkeit
ist scharf umgrenzt. Es ist vollkommen
zwecklos, bei anatomisch normalem Her¬
zen oder bei insuffizientem Herzen
ohne gleichzeitiger Hyperthrophie Digi¬
talis therapeutisch anzuwenden. Die
Domäne der Digitalisbehandlung bilden
demnach die dekompensierten Klappen¬
fehler, sowie die dekompensierten idio¬
pathischen Herzhypertrophien (Bierherz).
Als Ausnahmen gelten die insuffizienten
hypertrophischen Herzen beim Basedow
und bei gleichzeitigem Bestehen, von
Perikardobiiteration. In letzterem iFalle
wird die diastolische Ausdehnung des
Herzens, also gerade das Aktionsgebiet
der Digitalis rein mechanisch verhindert,
so daß begreiflicherweise die Wirkung aus¬
bleibt. Man wird bisweilen in derartigen
Fällen durch das Versagen der Digitalis¬
behandlung zur Diagnose Pericarditis
adhaesiva geführt.
Bezüglich ' der Wirkungsweise der
Digitalis ist ein prinzipieller Unterschied
zu machen zwischen der Verabreichung
des Mittels per- os und der intravenösen
Anwendung (Strophantin). Das Tierex¬
periment gibt hierüber Aufschluß. Digi¬
talis in schwacher Lösung dem Herzen
zugeführt, verstärkt nämlich die Diastole
und führt unter Umständen zum diastoli¬
schen Herzstillstand. In konzentrierter
Lösung dagegen wirkt das Mittel vor
allem steigernd auf die Systole. Demnach
hat die intravenöse Digitalistherapie einen
engbegrenzten Indikationsbereich. Sie
ist nämlich nur angezeigt bei der In¬
suffizienz h y p e r t h r o p h i s c h e r Her¬
zen zur Hebung der systolischen
Tätigkeit vorwiegend bei nicht
erhöhter Pulszahl. Edens läßt es
noch dahingestellt, ob die intravenöse
Digitalisanwendung bei Herzschwäche im
Gefolge von akuten Infektionskrankheiten
von Nutzen ist, was bekanntlich nach
Albert Fraenkels Erfahrungen nicht
zutrifft. Im allgemeinen hält Edens für
die intravenöse Verabreichung unseres
Mittels größte Vorsicht geboten. Die
subcutan anzuwendenden Digitalispräpa¬
rate (z. B. Digifolin) geben vielleicht einen
ausreichenden Ersatz, wenn eine schnelle
Wirkung bei akuter Herzschwäche von¬
nöten ist. Eine Umgehung der Magenbe¬
schwerden durch Vermeidung der Zufuhr
des Mittels per os trifft insofern nicht zu,
als bei bestehender Idiosynkrasie der
Brechreiz vom Zentrum ausgelöst wird.
„Das zentrale Erbrechen ist eine Wirkung
der Digitalis als solcher und kommt daher
jedem wirksamen Präparat zu.“
Die Ausführungen über die Wirkungen
der Digitalis auf die Schlagfolge des
Herzens sind naturgemäß vorwiegend in
wissenschaftlicher Form gehalten. Die
hier an typischen. Beispielen demon¬
strierten Wirkungen und Indikationen
lassen sich nicht in jedem Falle auf die
Praxis übertragen. Ein therapeutisches
Tasten, eine Probeanwendung des Mittels
wird sich in einigen Fällen in der Praxis
nicht umgehen lassen, zumal die genaue
Differentialdiagnostik der Rhythmus¬
störungen des Herzens, auf der eine
spezielle Indikation fundiert werden
müßte, nur mittels komplizierter. Apparate
möglich ist. Immerhin bieten einzelne
Punkte auch für die Praxis Interesse.
Edens legt seiner Einteilung der Rhyth¬
musstörungen die von Engelmann auf¬
gestellten physiologischen Funktionen des
Herzmuskels zurunde, nämlich die
Reizbildung, die Kontraktilität und die
Reizleitung, wobei besonders für die erstere
Funktion eine getrennte Prüfung für
den Sinus, die Vorhöfe, den Atrio-ventri-
kularknoten und die Kammern in Frage
kommt. Daß bei der durch Steigerung
der Reizbildung im Sinusknoten bedingten
Tachycardie Digitalis geboten und bei
Herabsetzung der Reizbildung des Sinus
kontraindiziert ist, leuchtet ein. Das
Hauptanwendungsgebiet der Digitalis bei
Arrhythmie ist das Vorhofflimmern
mit rascher Kammertätigkeit; hier wird
die Frequenz der Ventrikel beschränkt
durch Herabsetzung des Reizleitungs¬
vermögens im Hißschen Bündel. Prak¬
tisch sehr wichtig ist, daß gerade bei
diesen Fällen die chronische Digita-
liskur in ihre Rechte tritt. Die Kunst des
Arztes wird es im einzelnen Falle sein,
auszuprobieren, welche Digitalisdosis
nötig ist, die Ventrikelkontraktionen in
normaler Frequenz zu halten. Nach
Edens Erfahrungen bewegt sich die
Tagesdosis zwischen 0,05 und 0,3 des
Mittels. Kumulationserscheinungen kün¬
den sich immer durch zentral ausge¬
löste Mageiistörungen an. Schwierig
März
97
Die Therapie der
wird die Entscheidung in Fällen, in denen
nach geringen Digitalisdosen bereits die
für den Gesamtmechanismus des Herzens
ungünstige Bigeminie auftritt. Man
wird aber auch hierbei, wenn der Gesamt¬
zustand und die Insuffizienzerscheinungen
es gebieten, das Mittel nicht unnötig
schnell wieder aussetzen. Für die Praxis
ist hervorzuheben, daß bei dauerndem
Vorhofflimmern mit schneller. Kammer¬
frequenz nach Ansjcht Edens allein die
chronische, dauernde* Digitaliskur
an gezeigt ist, da Unterbrechungen
der Kur stets eine ungünstige Wirkung
haben. Bigeminie nach Digitalis tritt
nur bei insuffizientem hypertrophischen
Herzen auf, und zwar spielt außer dem
Herzbefund, wie Edens fand, die Höhe
des Kalkgehalts des Blutes für die Ent¬
stehung dieser Arhythmieform nach Digi¬
talis eine Rolle. Es kann nun der Zustand
eintreten, daß die durch Digitalis gesetzte
Hemmung des Reizleitungsvermögens im
Bereich des Hißschen Bündels so stark
wird, daß die Leitung vom Vorhof zur
Kammer ganz ausfällt; dann tritt ein
wenig günstiger Zustand Sin, nämlich eine
Beschleunigung der automatischen
Kammertätigkeit (Kammerautomatie).
Deshalb ist bei ventrikulärer Automatie
und ventrikulärer paroxysmaler Tachy¬
kardie eine Digitalisbehandlung kontra¬
indiziert.
Bei Herabsetzung der Kontraktilität
des Muskels und den sich daraus ergeben¬
den Anomalien der Herzschlagfolge
(Pulsus alternans, frustrane Systolen)
wirkt Digitalis günstig und ist deshalb
indiziert.
Bei der Frage nach der Wirkung unse¬
res Mittels bei Störungen der Reizleitung
stoßen wir auf nicht leicht zu überwin¬
dende Schwierigkeiten. Zwar hatten
wir gesehen, daß bei vom Sinus ausgehen¬
den Tachykardien Digitalis durch Hem¬
mung der Reizleitung im Hißschen Bün¬
del die Ventrikeltätigkeit zur normalen
Frequenz zurückführen kann; es gibt nun
aber auch Fälle, bei denen Digitalis im
entgegengesetzten Sinne wirkt. Hieraus
ergeben sich für die Praxis schwierige
Verhältnisse. Man hat früher Kriterien
aufgestellt, die uns Richtlinien für das
Handeln am Krankenbett geben; und
zwar sollten Fälle, bei denen das A-C- Inter¬
vall des Venenpulses verlängert ist und
bei denen ein Druck auf den Halsvagus
die Leitungsstörung verstärkt, die Digi¬
talisanwendung kontraindiziert sein.
Edens fand nun, und belegt seine An¬
Gegenwart 1917.
schauung durch Kurven, daß die Wirkung
der Digitalis im einzelnen Falle in bezug
I auf Herabsetzung oder Verstärkung der
| Reizleitungsstörung nichtvorauszube-
stimmen ist. Andererseits steht nun aber
die Tatsache fest, daß Digitalis in ge¬
wissen Fällen zur Besserung der Leitung
führen kann. Nach Edens Ansicht han¬
delt es .sich hierbei um Fälle von Reiz¬
leitungsstörungen funktioneller Ursache
infolge von Störungen im Coronarkreis-
lauf, die durch Digitalis beseitigt werden.
Praktisch von großer Wichtigkeit ist die
Frage, wie verhalten wir uns dem Herz¬
block gegenüber. Durch komplizierte,
uns im einzelnen noch nicht bekannte
Wirkungsmechanismen kann es Vor¬
kommen, daß die verlangsamte Kammer¬
tätigkeit beim Herzblock durch Digitalis
zur normalen Frequenz zurükgeführt
wird. Wie wir sehen, bleibt dem Praktiker
bei der Therapie der Reizleitungsstörun¬
gen nichts übrig, als ein tastender Versuch
der Digitalisanwendung unter gleich¬
zeitiger scharfer Kontrolle der Kammer¬
tätigkeit (Digitalis 3 mal 0,05). Nach
, Edens Erfahrung ist jedoch beim Herz¬
block das Suprarenin der Digitalis über¬
legen.
Was die Dosierung anbelangt, so ist
selbstverständlich eine Schematisierung
unmöglich. Bei bedrohlicher plötzlicher
Herzinsuffizenz kann man nach vorauf¬
gegangener intravenöser oder subuctaner
Injektion des Mittels noch sechsmal 0,1
verabfolgen. Im Mittel wird die Dosis
um 1 bis 2 mal täglich 0,1 liegen. Edens
spricht bemerkenswerterweise der pro¬
phylaktischen Digitalisanwendung
bei Insuffizienzerscheinungen leich¬
teren Grades das Wort. Und zwar
besonders bei Fällen, bei denen eine Ver¬
meidung Insuffizienzerscheinung aus¬
lösender Momente (Kampf ums Dasein)
nicht möglich ist. Die prophylaktische
Anwendung ist insofern unschädlich, als
eine Gewöhnung des Herzens an
Digitalis nie, stattfindet.
Die im allgemeinen als Kumulie¬
rungserscheinungen gedeuteten Sym¬
ptome decken sich mit der Wirkung der
Digitalis als solcher (zentraler Brechreiz,
Erhöhung des Vagus.tonus, Herabsetzung
der Reizleitung). Bei Idiosynkrasie
werden diese eigentlichen Wirkungen der
Digitalis schneller, bzw. intensiver in die
Erscheinung treten. Digitalispräparate,
von denen behauptet .wird, daß sie keine
Magenstörungen verursachen, sind des¬
halb wirkungslos, sofern wirklich die
13
98
Die Therapie der Gegenwart 1917. März
Behauptung der Wahrheit entspricht.
Der Vorzug der neueren Präparate ist
allein die genaue Dosierung. Die Gift¬
wirkung der Digitalis läuft parallel mit
der therapeutischen Herzwirkung. Ein
Fortschritt wäre es, wenn man die zentral
angreifende Brechwirkung der Digitalis
von der therapeutischen Giftwirkung
trennen könnte. Von wirksamen .neueren
Mitteln werden angeführt: Digitalon,
Digipurat, Digitalysat, Digalen Cymarin,
Digipan, Digifolin, Digitaferm. Edens
empfiehlt für die Praxis, von den vielen
Digitalispräparaten vornehmlich eins an-
anzuwenden zur Erlangung einer ge¬
naueren Kenntnis seiner Wirkung.
Den interessanten Studien Edens
verdanken wir ein tiefgehendes Verständ¬
nis für die Wirkungsart unseres am häufig¬
sten angewandten Herzmittels. Wir
sahen aber zugleich, daß die Indikations¬
stellung der Digitalisbehandlung trotz
weit fortgeschrittener wissenschaftlicher.
Erkenntnisse nicht für den Einzelfall
gesetzmäßig zu bestimmen ist. Wie über¬
haupt bei der Behandlung Herzkranker
das ärztliche Empfinden mehr als sonst
in den Vordergrund treten muß, so wird
auch für den Erfolg einer Digitalis¬
therapie, wie Edens am Schlüsse seiner
Ausführungen meint, die Kunst des
Arztes das letzte Wort sprechen.
Über die Behandlung der Bacillenträger.
Med.-Rat Dr. Franz Spaet in Fürth
bespricht in einem großem Aufsatz die
von ,,Keimträgern“ (Bacillenträgern) aus¬
gehenden gesundheitlichen Gefahren und
die Maßnahmen zu deren Bekämpfung.
Um seines großen praktischen Interesses
willen möchten wir ein ausführliches
Referat über diesen Aufsatz geben. Im
wesentlichen handelt es sich um zwei Arten
von Keimträgern: solche, welche nach
überstandener Krankheit hierzu geworden,
und diejenigen, welche Krankheitserreger
mit sich tragen und ausscheiden, ohne
selbst krank gewesen zu sein. Nun gibt
es aber Individuen, welche nur kurz vor¬
übergehend Krankheitskeime beherbergen,
während andere lange Zeit hindurch solche
mit sich führen und durch Ausscheidung
der Umgebung gefährlich werden können.
Bacillenzwischenträger, wie sie bei Cholera,
Diphtherie und Genickstarre festgestellt
sind, haben Krankheitserreger in sich auf¬
genommen, die sie gelegentlich ausschei¬
den, ohne selbst zu leiden. Es sei sodann
der Frühkontakte: Krankheitsübertragung
im Inkubationsstadium gedacht und
schließlich (bei Typhusbacillenträgern) der
Geimpften Erwähnung getan, bei oder in
welchen die Bacillen saprophytisch weiter¬
leben sollen.
Es fragt sich nun, unter welchen Be¬
dingungen entsteht das Keimträgertum?
Wo im Organismus sind die Vegetations¬
herde zu finden? Wie werden sie von da
an die Außenwelt befördert? Hinsichtlich
der Krankheitsformen kommen Cholera,
Typhus, Paratyphus, Diphtherie, über¬
tragbare Genickstarre, eventuell auch
Tuberkulose und Syphilis in Betracht; ob
auch Masern und Scharlach, bleibt zu¬
nächst eine offene Frage.
Bei Cholera haben Untersuchungen
ergeben, daß die Zahl der (gesunden)
Bacillenträger relativ groß, mithin die
Gefahr der Kontaktinfektion erheblich ist.
Bekanntlich wird hinsichtlich der Ver¬
breitung dem Wasser eine bedeutsame
Rolle zugeschrieben; es sei aber erwähnt,
daß die Keime* hierin nicht etwa eine
chemische Lösung eingehen, sondern daß
sie suspendierend im Wasser verbleiben
und sich an seichten Stellen ablagern, von
wo aus sie zur Gefahr werden können.
Was die Zeitdauer anlangt, so darf an¬
genommen werden, daß im allgemeinen
die Krankheitskeime nicht über einige
Wochen beherbergt und ausgeschieden
werden; es wird zwar in einem Falle
1 ]/ 2 Jahre hierfür angegeben, doch dürfte
dies zur größten Seltenheit zählen. Wesent¬
lich anders liegen die Verhältnisse beim
Typhus. Ausgiebige Untersuchungen
haben zwar eine große Verschiedenheit
ergeben, aber dargetan, daß zwanzig und
mehr Jahre hindurch Personen Bacillen¬
träger bleiben können; ja es wird ein
Fall erwähnt, bei dem die Bacillenträger¬
schaft 32 Jahre, vielleicht 67 Jahre (!)
bestanden haben soll. Als Vegetations¬
sitz kommt die (kranke, niemals eine ge¬
sunde) Gallenblase in Betracht, in welcher
die frisch secernierte Galle sich fort¬
während den Resten der infizierten Galle,
auch nach der Genesung beimischt und
einen geeigneten Nährboden für- die
Bacillen abgibt. Nach überstandener
Krankheit bleibt somit das Wachstum
der Typhusbacillen bestehen, die ge¬
heilten Kranken werden auf diese Weise
zu Typhusbacillenträgern. Die Durch¬
wanderung durch den Darm geschieht
schubweise', erst dann, wenn größere
März
Die Therapie der Gegenwart 1917.
99
Mengen mit der Galle entleert werden
oder wenn besondere Bedingungen für
einen raschen Durchtritt des Darminhaltes
gegeben sind. Die weitere Verbreitung ge¬
schieht alsdann durch Kontaktinfektion,
welche gerade für die Entstehung von
Typhusepidemien eine große Rolle spielt.
Die Dauerausscheider bilden die wesent¬
lichste Ursache für neuauftretende Epi¬
demien. Die Zahl der männlichen Keim¬
träger ist niedriger als diejenige bei den
Frauen, was auf eine geringere Wider¬
standsfähigkeit der letzteren sowie darauf
zurückgeführt wird, daß Frauen häufiger
an Gallensteinerkrankungen leiden als
Männer. Schließlich sei noch erwähnt,
daß in den ersten vier Wochen der Er¬
krankung das Vorkommen von Typhus¬
bacillen im Urin häufiger ist als im Stuhle.
Hinsichtlich des Paratyphus liegen die
Verhältnisse ähnlich. Auch bei der Ruhr
ist die gleiche Verbreitung anzunehmen,
wenn auch mit dem Unterschiede, daß
die Ruhrverbreiter nur in größeren Pausen
Bacillen ausscheiden. Ihre Dauer ist auf
einige Monate beschränkt, der Vegetations¬
sitz lediglich der Darm. Eingehende
Untersuchungen liegen auch bezüglich der
Diphtherie vor, die allerdings sehr ver¬
schiedene Resultate aufweisen. Bei der
Diphtherie herrscht bezüglich der An¬
steckung ein familiärer Charakter vor:
Übertragung von Person zu Person durch
Husten, Räuspern, Niesen, Sprechen,
Tröpfcheninfektion. Die Dauer der Keim¬
träger differiert von (in der Regel) einigen
Wochen bis zu U /2 Jahren. Der Sitz der
Infektionsherde bilden die oberen Luft¬
wege, die Nasen- und Rachenorgane,
hauptsächlich die Ausbuchtungen der
Mandeln. Wenn auch gewisse Ähnlich¬
keiten bei der übertragbaren Genick¬
starre obwalten, so scheint hier doch
die Zahl der gesunden Keimträger im
Verhältnis zu den wirklichen Erkran¬
kungen erheblich größer zu sein. Der
Grund hierfür dürfte in der verschiedenen,
zum Teil stark herabgesetzten Virulenz
der beherbergten Meningokokken, sowie
in der allgemein geringen Empfänglich¬
keit für die Meningokokkeninfektion, die
nur unter besonderen Bedingungen. Ge¬
nickstarre auslösen kann, zu suchen sein.
Es soll sich um einen ubiquitären Mikro-
organimsus handeln, ein größerer Bruch¬
teil der Menschheit soll den Genickstarre¬
erreger gleichsam als Saprophyten im
Rachenschleime tragen. Die Zahl der er¬
wachsenen Kokkenträger ist größer als
die der Kinder; die Keimträgerfrage ist
noch nicht geklärt; Frühkontakte kommen
zweifellos vor. Bei Masern und Schar¬
lach fehlt es an dem Nachweis der Keim¬
träger, da die Erreger selbst bisher noch
nicht festgestellt sind. Sicher ist nur,
daß Frühkontakte sehr häufig sind. Bei
Tuberkulose wird man kaum von Ba¬
cillenträgern in obigem Sinne sprechen
dürfen; es handelt sich vielmehr bei der
offenen Lungen- und Kehlkopftuberkulose
um Bacillenstreuer, auf alle Fälle also
um kranke Personen. Sind die Bacillen¬
träger überhaupt im Sinne des Gesetzes
als Kranke zu beurteilen? Das ist eine
außerordentlich wichtige Frage, welche
verschiedentlich * beantwortet wird, die
aber bei den so überaus wichtigen Be¬
kämpf u n g s m a ß n a h m e n eine erheb¬
liche Rolle spielen muß. Diese Ma߬
nahmen haben sich einmal auf die Un¬
schädlichmachung durch die Befreiung
der Keimträger von den Krankheits¬
erregern, wozu eine Anzahl Mittel behufs
Abtötung oder Immunisierung angeführt
werden, sowie insbesondere auf die An¬
wendung polizeilicher Anordnungen zu be¬
ziehen. Verschiedene derartige Ver¬
fügungen werden mitgeteilt; es wird
mit Recht der Errichtung bakteriolo¬
gischer Untersuchungsanstalten das Wort
geredet, die erforderliche Mithilfe der
Ärzte verlangt und die hygienische
Erziehung der Bevölkerung befür¬
wortet, sowie den Gemeinden weitge¬
hendster Ausbau der Gesundheitspflege
empfohlen.
(Öffcntl. Gesundheitspflege 1916, H. 11—12.) .
J. Waldschmidt (Nikolassee). .
Verhandlungen der Kriegsärztlichen Abende, Berlin.
Bericht von Dr.
Sitzung vom 30. Januar 1917.
Marineoberstabsarzt zur Verth: Ent¬
wicklung und Stand des Rettungs¬
wesens im Seekrieg.
Im Jahre 1869 wurde die Genfer
Konvention auch auf den Seekrieg aus-
Hay ward-Berlin.
| gedehnt und hierbei nahm man Gelegen¬
heit, die Rettung der Schiffbrüchigen in
erster. Linie zu berücksichtigen. Es ist
eine bekannte Tatsache, welche durch
eine große Zahl von Seeschlachten be¬
wiesen wird, daß viel mehr Menschen an
13*
100
Die Therapie der Gegenwart 1917. März
den Folgen des Schiffbruches als durch
Waffenwirkun'g zu Tode kommen. Von
diesen Verlusten läßt sich ein Teil nicht
vermeiden, soweit er an der Shockwirkung
zugrunde geht, welche eintritt in dem
Augenblicke, in dem die Individuen in
das kalte Wasser kommen. Namentlich
Nervöse und Mittelohrkranke sind hier¬
bei besonders gefährdet. Es werden
dann einzelne Daten gegeben über den
Ertrinkungstod, sowie über die Wärme¬
menge, welche durch das kalte Wasser
dem Körper entzogen wird. Sind die
Menschen, welche ins Wasser kommen,
mit Rettungsgeräten ausgestattet, so
gehen viele von diesen durch Verhun¬
gern und Verdursten zugrunde, wobei
man im Durchschnitte eine Dauer von
drei bis vier Tagen annehmen kann.
Die Rettungsgeräte werden im einzelnen
vom Vortragenden erläutert und von den
Gesichtspunkten aus besprochen, welche
Arten für den einzelnen und für Massen¬
rettungen in Frage kommen. Für das
Einzelrettungsgerät bleibt der alte Ring
aus Kork übrig, während für Massen¬
rettungsgeräte Halbflöße in Anwendung
kommen. In diesen befinden sich die
zu Rettenden im Wasser, so daß für sie
die Abkühlung durch die Luft nicht in
Frage kommt. Endlich ist den Halb¬
flößen deshalb der Vorzug zu geben, weil
von ihnen die Menschen nicht herunter¬
gespült werden können.
Sitzung vom 5. Dezember 1916.
Herr Bäräny (Wien): Die offene
und geschlossene Behandlung der
SchußVerletzungen des Gehirns.
Die Ansichten über die Behandlung
des Schädelschusses sind’ immer noch
keine einheitlichen. Während eine große
Zahl von Chirurgen jeden Schädelschuß
grundsätzlich operiert, warten andere ab,
bis die ersten Zeichen einer intrakraniellen
Schädigung auftreten. Auch Bäräny,
der in dem belagerten Przemvsl eine
große Zahl von Schädelschüssen zu be¬
handeln hatte, war zunächst Anhänger
des konservativen Verfahrens. Mußte
man später dann zur Operation schreiten,
so waren die Kranken unter allen Um¬
ständen schlechter daran, als wenn man
sie sofort operiert hätte. Aber auch die
Resultate der sofortigen Operation mit
Entfernung der Knochensplitter waren
nicht befriedigend. Es bildete sich Gehirn-
oedem, die Wundränder legten sich zu¬
sammen, in der Tiefe entwickelte sich
Eiter und brach in den Ventrikel durch.
Unter diesen Umständen suchte Vor¬
tragender nach einem guten Drainage¬
mittel, welches er schließlich in kleinge¬
schnittenen Guttaperchastreifen fand. Die
Beobachtung an weiteren Fällen ließ
Bäräny auf die geschlossene operative
Behandlung der Hirnverletzung kommen.
Sein Vorgehen ist folgendes: Alsbald
nach der Einlieferung des Verwundeten
wird die Wunde genau revidiert, der
Knochen freigelegt und wenn er verletzt
ist weggenommen, die Dura, falls sie
nicht pulsiert, eröffnet, unter der Dura
im Gehirne liegende Knochensplitter ent¬
fernt und alles wieder primär vollkommen
geschlossen. Die Resultate waren jetzt
erheblich besser. Allerdings muß die
Operation in den ersten 24 Stunden nach
der Verwundung ausgeführt werden.
Die militärärztliche Sachverständigentatigkeit auf dem Gebiete
des Ersatzwesens und der militärischen Versorgung.
Vortragszyklus, veranstaltet unter Förderung der Medizinalabteilung des Kriegs¬
ministeriums vom Centralkomitee für das ärztliche Fortbildungswesen in Preußen.
. ' Bericht von Dr. Hayward-Berlin. (Schluß.)
Kraus: Habitus und Diathese in
ihrer Bedeutung für die militär¬
ärztliche Gutachtertätigkeit.
Habitus und Diathese spielen bei der
militärärztlichen Gutachtertätigkeit wie
auch bei der Bestimmung der Dienst¬
brauchbarkeit eine große Rolle. Bei der
Beurteilung der Frage, ob eine Er¬
krankung oder Dienstbeschädigung.durch
den Krieg hervorgerufen oder verschlim¬
mert worden ist, muß bei mangelhafter
Körperbeschaffen heit stets an das Vor¬
liegen endogener Ursachen gedacht wer¬
den. Es unterliegt keinem Zweifel, daß
Menschen mit schwächlichem Körperbau
gegenüber den krankmachenden Ein¬
flüssen eine geringere Widerstandsfähig¬
keit zeigen. Welche Fragen der an¬
geborenen Minderwertigkeit mit Berück¬
sichtigung der Rasseneigentümlichkeit
hier zu beachten sind, wird von dem Vor¬
tragenden an einer großen Zahl prak¬
tischer Beispiele erörtert. Es werden Bilder
gezeigt vom Riesenwuchs, dem Zwerg-
März
Die Therapie der Gegenwart 1917. 101
wuchs mit seinen Unterarten und Kombi¬
nationsformen, der Chondrodystrophie
und der Rachitis. Der Lymphatismus und
Kretinismus werden genau dargestellt. Das
Tropfen- und das Kugelherz, wie sie sich,
durch das Röntgenbild nachweisen-lassen,
sind eng mit der Frage des Habitus ver¬
bunden. An diesen und an zahlreichen
anderen Beispielen, an denen der Vortrag
des Interessanten eine Fülle bot, wird,
wenn auch nur andeutungsweise, die
große Bedeutung der Habitusfrage dar¬
getan und zu entsprechenden Unter¬
suchungen' angeregt..
Asc'hoff: Die plötzlichen Todes¬
fälle vom Standpunkt der Dienst¬
beschädigung.
Es werden die Erfahrungen, welche
an 200 Sektionen sogenannter plötzlicher
Todesfälle haben gesammelt werden
können, wiedergegeben. Zunächst geht
Vortragender auf den Begriff „plötzlicher
Tod“ ein, welcher eiig mit der Frage „Tod“
zusammenhängt. Abgesehen von den Er¬
krankungen, welche das Herz oder die
Lunge betreffen, stellt das Aufhören der
Herztätigkeit oder der Atmung immer nur
etwas Sekundäres dar, es ist die Folge
eines anderen Leidens. Die Fälle, welche
unter den Begriff „plötzlicher Tod“ zu
rechnen sind, können in folgende Unter¬
abschnitte zerlegt werden': 1. Fälle mit
unbemerkt gebliebener oder unsicherer
direkter äußerer Todesursache. 2. Fälle
mit unbemerkt gebliebener direkter in¬
nerer Todesursache. 3. Fälle mit un¬
erkannt gebliebener oder latenter in¬
direkter innerer Todesursache, mit oder
ohne erkennbare direkte Todesursache;
a) mit dem Sektionsnachweise fortschrei¬
tender krankhafter Veränderungen, b) mit
dem Sektionsnachweise konstitutioneller
Anomalien oder besonderer physiologischer
Disposition, c) mit fehlender oder für die
Entscheidung unzureichender anatomi¬
scher Veränderung.
An einer Reihe von Einzelfällen wer¬
den die Schwierigkeiten erläutert, welche
der einzelne Fall oft bieten kann: ein in
einer Lache tot aufgefundener Soldat
war nicht ertrunken, da seine Lungen
-nicht das Bild des Emphysema aquosum
bot, sondern er war einer durch eine alte
Schußverletzung bedingten Epilepsie er¬
legen. Alkoholvergiftung kann die un¬
freiwillige Ursache eines Selbstmordes
sein, sie ist dann keine • Dienstbeschädi¬
gung. Sehr schwierig sind oft die Fälle
von plötzlichem Herztod zu entscheiden.
Hier muß der Obduzent aufs Genaueste
den Zustand der kleinen, das Reiz¬
leitungssystem versorgenden Arterien
prüfen. Das jugendliche Alter des
# Menschen spricht nicht gegen Gefä߬
verkalkung, denn diese wurde in aus¬
gesprochener Form schon bei 19jährigen
Soldaten gefunden. Oft ist natürlich die
Syphilis der Aorta der Grund eines plötz¬
lichen Todes, wie das vom Vortragenden
21 mal beobachtet wurde. Auch über den
Status lymphaticus sind genaue Unter¬
suchungen angestellt worden und es hat
sich ergeben, daß ein Fortbestehen oder
gar eine Vergrößerung .des Organs nach
dem 15. Lebensjahre eine Gefahr be¬
deutet.
Bücherbesprechurigen.
Prof. Adolf Bacmeister (Freiburg), Lehr¬
buch der Lungenkrankheiten.
Leipzig 1916, Verlag von G. Thieme.
Das letzte Jahrzehnt hat auf dem Ge¬
biete der Lungenkrankheiten, speziell
auf dem der Lungentuberkulose so wesent¬
liche Fortschritte gebracht, daß für ihre
lehrbuchmäßige Neubearbeitung ein Be¬
dürfnis vorlag. Bacmeister hat dies in
dankenswerter Weise zu erfüllen versucht,
und der durch seine originellen Experi¬
mente zur Erzeugung einer typischen
Lungenspitzentuberkulose beim Tiere in
weitesten Kreisen als Forscher bekannte
Verfasser erweist sich dabei als Arzt, dem
es vornehmlich um das Erkennen und
Behandeln der Krankheit zu tun ist.
Die Ätiologie und pathologische'Anatomie
sind in dem vorliegenden Werke nur kurz
abgehandelt, strittige wissenschaftliche
Probleme zum Teil nur gestreift, ausführ¬
lich verweilt Bacmeister nur bei den
diagnostischen Methoden und ganz be¬
sonders bei der Therapie. Entsprechend
den Traditionen der Freiburger Klinik
ist unter den diagnostischen Methoden der
Röntgendiagnostik eine wichtige Stellung
eingeräumt; zahlreiche gelungene Ab¬
bildungen erhöhen den didaktischen Wert
dieser Kapitol. In den therapeutischen
Abschnitten kommt ersichtlich eigene
Erfahrung zu Worte, die Verfasser als
Sanatoriumsleiter gewonnen hat; das täg¬
liche Rüstzeug der Therapie — die Sorge
für gute Luft im Krankenzimmer, Ab-
härtungs-, Inhalationsmethoden, Husten-
Die Therapie der Gegenwart 1917.
März
102
behandlung, Senfeinwicklung bei Gron-
chopneumonie der Kinder und anderes
mehr — sind ebenso eingehend besprochen
und gewertet, wie die Tuberkulinbehand¬
lung. (der Verfasser mit bemerkenswerter
Zurückhaltung gegenübersteht), der
künstliche Pneumothorax, die Lungen¬
chirurgie und ähnliches.— Bacmeisters
Lehrbuch darf Studierenden undÄrzten als
nützlicher Leitfaden empfohlen werden.
Felix K1 e m p e r e r (z. Zt. im Felde).
Behrend, Elisabeth. Säuglingspflege
in Reim und Bild. Leipzig, Verlag
von B. G. Teubner. Preis 1 M.
Ein ganz vorzügliches Schriftchen,
welches in gefälliger Form das Wissens¬
werteste in der Säuglingspflege ver¬
anschaulicht. Belehrend und unter¬
haltend und dabei von hohem ethischen
Werte, zumal gegen die unwürdigen, ge¬
radezu traurigen Auslassungen über den
heiligen Schutz der Familie,, wie Gebähr¬
streik, Gebährmaschine und ähnliche Epi¬
theta. Weiteste Verbreitung des Büch¬
leins, dessen Preis bei Massenbezug (z. B.
bei Entnahme von 500 Exemplaren um'
die Hälfte) reduziert wird, kann nicht
dringend genug zu Nutz und Frommen
aller Mütter empfohlen werden. Es dürfte
den Ärzten bei Abhalten von Kursen
über dies Thema eine willkommene Bei¬
hilfe bieten.
J. Waldschmidt (Nikolassee).
Strasser-Eppelbaun, Dr. Vera, Zur Psy¬
chologie des Alkoholismus. Mün¬
chen, Verlag von Ernst Reinhardt.
Preis 1,50 M.
Verfasserin stellt sich dieAufgabe,durch
experimentelle, individualpsychologische
Untersuchungen zu eruieren, ob bei Al¬
koholikern specifische, differentialdiagno¬
stische Merkmale in assoziativer Hinsicht
bindend* vorliegen; sie kommt, um dies
gleich vorweg zu nehmen, zu einem
negativen Resultat. Bei ihren Forschun¬
gen stellt Verfasserin dem chronischen
Alkoholismus Krankheitsformen mit pri¬
märem und sekundärem Schwachsinn der
Idioten und Imbecillen sowie der Epilep¬
tiker gegenüber. Während bei diesen Er¬
krankungen eine abnorme assoziative
Oberflächlichkeit beobachtet wurde, kann
man dies nach den vorliegenden Unter¬
suchungen bei den Alkoholisten nicht be¬
haupten. Die experimentellen Erhebungen
lassen übrigens eine nicht unwesentliche
Verschiedenheit zwischen den Epilep¬
tikern und den Idioten wie Imbecillen
erkennen in bezug auf die persönliche
Färbung der Assoziationen, durch das so¬
genannte ,,egozentrische Moment“, wel¬
ches bei dem primären Schwachsinne dem¬
gegenüber in den Hintergrund tritt.
Interessant sind auch die diesbezüglichen
Ausführungen über die Untersuchungen
bei Dementia praecox. Der flache Typus
der Assoziationen schien beim Alkoholi¬
sten nicht wesentlich anders geartet wie
beim gesunden Individuum, wiewohl die
Reaktionsdauer, übrigens auf die je¬
weilige Lage eingestellt, etwas verlängert
angenommen werden kann. —Verfasserin
erhärtet durch die Assoziationsunter¬
suchungen die oftmals beobachtete Tat¬
sache, wie der Alkoholkranke seine Lage,
so hier in der Anstalt durch möglichst
prompte Reaktion, für sich auszünutzen
bestrebt ist. Nicht minder wichtig er¬
scheint der Hinweis der Verfasserin auf
den Umstand, daß man sich bisher im
wesentlichen darauf beschränkt habe,
klinisch festzustellen: wie der Alkohol
auf das Individuum gewirkt; wogegen
die viel wichtigere Frage meist unberück¬
sichtigt blieb: auf wen der Alkohol
seinen Einfluß geltend gemacht hat; auf
welcher Unterlage der chronische Alkoho¬
lismus aufgebaut ist und sich entwickelt
hat; ob und welche Organminderwertig¬
keiten in psychischer wie somatischer Hin¬
sicht obwalten, die das vorliegende Krank¬
heitsbild veranlaßt haben. Die Grund¬
bedingungen des chronischen Alkoholis¬
mus zu erkennen, muß weiteren Unter¬
suchungsmethoden und Forschungen Vor¬
behalten bleiben; der chronische Alkoholist
wird noch für lange Zeit ein dankbares
Untersuchungsobjekt abgeben, bis die
Frage nach Ursache und Wirkung in
allen Teilen vollständig geklärt ist.
J. Waldschmidt {Nikolassee).
A. Holitscher, Dr. med. Alkoholsitte —
Opiumsitte. München, Verlag von
Ernst Reinhardt. Preis 1 M.
Bei seinem Vergleich ist Verfasser be¬
strebt, darzutun, daß der Opiumgebrauch
in Indien in ganz demselben Maße und
in derselben Weise zu bewerten ist, wie
der heimische Alkoholgenuß. Hier wie
dort fröhnt die Bevölkerung von der
Jugend bis zum Alter dem Närkoticum
zum eigenen Verderben; auf beiden Seiten
erheben sich warnende Stimmen ohne in¬
des mit dem wünschenswerten Erfolge den
Leidenschaften begegnen zu können, da
hüben wie drüben das gleichlautende Für
und Wider betont, die Macht des Kapitals
auf der einen Seite, die gewohnheits-
März
Die Therapie der Gegenwart 1917.
103
mäßige Hinneigung sowie die Indolenz
des Volkes andererseits zu groß ist. Wenn
man auch den radikalen Standpunkt des
Verfassers nicht einzunehmen gewillt ist,
^so .wird auch der Vertreter Mäßigkeit
den Ausführungen beipflichten, daß die
Hauptgefahr des Opiums wie des Alkohols
in Herabminderung der Widerstandsfähig¬
keit im allgemeinen, gegenüber (anstecken¬
den) Krankheiten im besonderen gelegen
ist. Niemals aber wird absolute Enthalt¬
samkeit als Argument um deswillen ge¬
nerell gefordert werden, weil ein gewisser
(relativ geringer) Prozentsatz der Be¬
völkerung dem Abusus zum Opfer fällt.
J. Waldschmidt (Nikolassee).
Referate.
Über einen eigentümlichen Fall von
perniciöser Anämie berichten Jessen
und Unverricht. Ein 58jähriger Mann
hatte in letzter Zeit Filzläuse und war mit
russischen Gefangenen in Berührung ge¬
kommen, hatte danach zwei bis drei
Monate recurrensartiges Fieber mit starken
rheumatischen Erscheinungen, bekam
dann Ödeme der Beine, starker Anä¬
mie, . Ascites, laute, blasende Herzge¬
räusche. Keine Milzvergrößerung, keine
Lues. Auf 0,3 Neosalvarsan Entfiebe¬
rung in vier Tagen, die 21 Tage anhielt.
Schwindei) von Ödemen und Ascites;
Erythrocyten steigen von 1,8 Millionen
auf 3,3, Leukocyten von 3200 auf 5400,
Rückgang' der Neutrophilen von 76%
auf 44% mit entsprechender Zunahme
der Lymphocyten. Anschließend auf der
Stirn große periostale Schwellung, Parese
des rechten Beines, allgemeine Glieder¬
schmerzen, Erbrechen, hohes Fieber. Auf
0,3 Neosalvarsan, Rückgang aller Er¬
scheinungen und Wohlbefinden für 45
Tage. Weiterhin vereinzelte passagere
Ödeme, Paresen, Albuminurie. Schlie߬
lich allmählicher Temperaturanstieg. Im
Blut sehr kleine, in der Mitte gespaltene
Gebilde, teils in zum Teil ganz ausge¬
laugten Erythrocyten, teils, außerhalb
derselben; alle Mittel jetzt ^wirkungslos,
bald unter zunehmenden Ödemen Tpd
an Herzschwäche. Sektion ergab geringe
„Cirrhose“ von Milz und Leber, Knochen¬
mark anämisch, in ihm gleiche Gebilde
wie im Blute. Ob diese — Plasmodien ? : —
die Erreger sind, läßt sich noch nicht
sagen, doch zeigte ein geimpftes Kanin¬
chen, das, abgesehen von etwas ruppigem
Aussehen gesund blieb, ‘ im Blute die
gleichen Gebilde. Jedenfalls handelt es
sich um eine Erkrankung mit Erregern,
die nach längerer Entwickelungszeit die
Erythrocyten zerstören.
M. m. W. 1916, Nr. 51. Waetzoldt.
Über zwei Fälle von Behandlung
sekundärer Anämien durch in-
traglutäale Injektionen von nicht-
defibriniertem Blut berichtet Köhler.
Ausgehend von der Überlegung, daß
es sich bei der Blutbehandlung der
Anämien- nicht um einen Ersatz des
fehlenden Blutes, sondern um einen
Reiz auf das Knochenmark handelt,
andererseits in der Absicht der Verein¬
fachung der Technik benutzte er zur Be¬
handlung der Anämien 20 ccm Blut, das
aus der Vene des Spenders mit der In¬
jektionsspritze aspiriert, sofort dem Pa¬
tienten — unter Vermeidung der Gefäße!
— intraglutäl injiziert wurde. Im ersten
Falle handelte es sich um schwerste
Anämie, Streptokokkenendometritis und
Bakterieämie, die in zwei Monaten, aller¬
dings mit Anwendung von Salvarsan,
Eisen und Arsen, von 1 100 000 Erythro¬
cyten und 15% Hgb. auf 3 280 000 Ery-
thrqcyten und 50% Hgb. kam, mit an¬
schließender weiterer Besserung. Auf¬
fallenderweise ereigneten sich dreimal
nach der Injektion Schüttelfröste (un¬
beabsichtigte teilweise Injektion in
Gefäße? Ref.). Im zweiten Falle
handelte es sich um eine Anämie
von gleicher Schwere auf menor-
rhagischer Grundlage, bei der vor der
Blutbehandlung die Menorrhagien durch
Injektion von Extr. thyreoideae beseitigt
worden waren. Schon nach 23 Tagen war
der Hämoglobingehalt des Blutes 45%
gegen 28% im Anfang, um später ebenso
wie die Erythrocytenzahl noch weiter zu
steigen. Waetzoldt.
(M. m. W. 1916, Nr. 48.)
Sauerbruch (Zürich) berichtet über
seine kinetischen Armprothesen, deren
Wesen darauf beruht, daß die Muskulatur
des Stumpfes, die normalerweise für die
Bewegung des Unterarmes beziehungs¬
weise der Hand und Finger dient, zu der¬
selben Arbeit an der künstlichen Hand
herangezogen wird. Georg Müller.
(Zschr. f. orthop. Chir. Bd. 36.)
Das Cignolin, ein deutsches Anti-
psoriaticum wendet Ihle seit über
sechs Monaten bei allen seinen mit
Psoriasis beziehungsweise Eczema seborr-
104 Die Therapie der Gegenwart 1917. März
hoicum psoriatiforme behafteten Pa¬
tienten anstatt des Chrysarobins und
Pyrogallols an, und erzielte überraschend
günstige Resultate. Hauptvorteile des
Cignolins: geringe Reizung der Haut bei
vorsichtiger Anwendung, Dauererfolg
(Ausbleiben der Rezidive), geringere Ge¬
fahr der Conjunctivitis, geringe Be¬
schmutzung der Wäsche. Auch der Kopf,
mit Ausnahme der Augen, kann mit
Cignolin behandelt werden. Sehr wichtig
ist eine teils stärkere, teils mildere An¬
wendung und Prozentuierungdes Cignolins
in Salben respektive Pastenform. Bei
alter, schwartenhafter Psoriasis muß man
bis 5 %ige Salben, nicht Pasten aii-
weriden, wenigstens so lange, bis eine
Reaktion eingetreten ist. Verfasser läßt
alle Cignolinsalben und -Pasten mit einem
kleinen harten Borstenpinsel (sogenannten
Strichpinsel der Stubenmaler) dünn ein-
bis zweimal täglich aufpinseln. Sobald
die Reaktion (leichte Entzündung der
Haut oder Brennen) auftritt, geht er auf
l%ige Cignoljnpastenform 'herab oder
wendet seine Ösypuspaste (Past. Oesypi,
01. Olivar., Zinc. oxyd. aa.) oder auch
gewöhnlich Zinkpaste bis zum Schwinden
der Hautreizung an. Bis zur vollkommenen
Heilung muß alles unnötige Baden des ein¬
gesalbten Körpers unterlassen werden, nur
Gesicht, Hände und Füße werden, falls
sie nicht eingesalbt werden mußten, ge¬
waschen. Beim Eczema psoriatiforme be¬
nutzt man im Anfang nur eine 1 % ige
Cignolinpaste, höchstens am Ellbogen
und Unterschenkel eine 1 % ige Salbe oder
bis 5% ige Paste. Weichen und Bauch
sind bei empfindlichen Patienten an
allen gesunden Hautpartien mit Zink¬
paste zu schützen. Cignolin macht in der
halben Zeit die Leute wieder felddienst¬
fähig wie Chysarobin und Pyrogallol.
Wünschenswert wäre ein niedrigerer Preis
des vorzüglichen Mittels.
Iwan Bloch (Berlin.)
'Denn. W. 1917, Bd. 64,' Nr. 7, S. 170/171.)
H. H. Frank macht eine vorläufige
Mitteilung über Ausnutzung synthetischer
Fettsäureäthylester beim Menschen und
Hund. Ohne anderen Fettzusatz beim
Hunde Ausnutzung 96%, eine ähnliche
beim Menschen und Hunde in 30 bis
40%iger Mischung mit Rindertalg. Stö¬
rungen wurden nicht beobachtet.
(M. m. W. 1917, Nr. 1.) Waetzoldt.
S t o 1 z gibt eine casuistische Mitteilung
über subkutane Fraktur und Coliinfektion.
Ein Infanterist wurde mit einer subcu¬
tanea Fraktur im unteren Drittel < der
Unterschenkelknochen aufgenommen, die
dadurch entstanden war, daß er als Mit¬
glied . einer Skiabteilung bei einer Ski¬
übung stürzte. Neun Tage nach der Ver¬
letzung trat erhebliche Temperatursteige¬
rung auf und zugleich entwickelte sich eine
Schwellung im Kniegelenk der anderen
Seite, welcher sich in den nächsten Tagen
Schmerzen im Handgelenk, Ellenbogen
und den Schultergelenken hinzugesellten.
Diese Affektion wurde für einen all¬
gemeinen akuten Gelenkrheumatismus ge¬
halten. Am neunten Tage nach dem
Temperaturanstiege trat der Tod ein und
bei der vorgenommenen Sektion zeigte
sich die überraschende Tatsache, daß in
dein Eiter, welcher in den erkrankten
Gelenken sich, befand und der auch die
Bruchenden der linken Unterschenkel¬
knochen umspülte, das Bakterium coli
nachzuweisen war. In welcher Weise die
Infektion zustande gekommen ist, ist
schwer zu sagen. Immerhin dürfte sich
in entsprechenden Fällen empfehlen, wie
das vom Verfasser vorgeschlagen wird,
eine Punktion der erkrankten Gelenke
vorzunehmen. Hayward.
(Zbl.f. Chir. 1916, Nr. 51.)
Hans bespricht die Schädeleröff¬
nung der Gegenseite bei Gehirnvorfall.
Der Gehirnprolaps ist einer der un¬
günstigsten Komplikationen der Schädel¬
verletzungen. Zahlreiche Methoden sind
angegeben worden zu ihrer Beseitigung,
vielfach ohne den gewünschten Erfolg.
Verfasser ist derart vorgegangen, daß er
auf der entgegengesetzten Seite des Pro¬
lapses eine Öffnung am Schädel anlegte,
welche druckentlastend wirkte, und hat
dabei gute Resultate erzielt.
(Zbl. f. Chir. 1917, Nr. 2.) Hayward.
Anknüpfend an die im Zbl. f. Chir.
1916, Nr. 47 von Schmerz angegebene
Poliermethode der Gelenkenden bei der
Beweglichmachung nach Ankylose gibt
Lexer einen j historisch interessanten
Überblick über die an seiner Klinik statt¬
gehabte Entwickelung der Operationen
des Beweglichmachens versteifter Gelenke
mit und ohne Gewebszwischenlagerung.
Hierbei erwähnt er das Koch ersehe
Verfahren, bei dem nach Resektion der
Gelenkenden zunächst eine Luxations¬
stellung eingehalten wird, damit sich die
Enden mit Granulationen überziehen; erst
später wird die Reposition vorgenommen.
Die Methode hat sich nicht bewährt.. Als
Ursache der sich immer wieder bildenden
März Die Therapie der
Verwachsungen ist die Blutung anzusehen.
Um sie zu vermeiden, hat Lexer die
Knochenenden mit sterilem Wachs oder
Öl bestrichen, aber aüch hier waren die
Resultate nicht gut. Da kam die
Fettgewebseinlagerung, welche ein in
allen Teilen befriedigendes Verfahren
darstellte. In einem Falle, der 13 Monate
nach der Einlagerung wieder eröffnet
werden mußte, da eine Verwachsung der
Patella eingetreten war, konnte das Re¬
sultat der Fettgewebseinlagerung an den
Gelenkenden genau studiert werden und
es zeigte sich, daß sich ein vollständiger
knorpelartiger Überzug gebildet hatte.
Lexer sieht somit in der dem Fett eigen-
•tümlichen Umbildungsfähigkeit das sou¬
veräne Mittel, versteifte. Gelenke wieder
beweglich zu machen. Hayward.
(Zbl.f. Chir. 1916, Nr. 51.)
Getreidekeimlinge als Volksnahrungs¬
mittel und Nährpräparat zu ver¬
wenden, ist Laien sowie Ärzten wenig ge¬
läufig. Professor v. Noorden und Ilse
Fischer haben in Analysen und prak¬
tischen Nährversuchen den hohen Gehalt
der Getreidekeimlinge an nährkräftigen
Stickstoffsubstanzen, leicht löslichen
Fetten, Nährsalzen und Kohlehydraten
erwiesen. Das gewöhnliche Mahlver¬
fahren läßt die Keimlinge mit in die
Kleie, das heißt in das Viehfutter wan¬
dern.' Zwar sind die Getreidekeimlinge
pulverisiert und zu Nährversuchen ver¬
wendet worden, aber eine Anwendung im
größeren Stile scheiterte immer an dem
unangenehmen bitteren und manchmal
auch leicht ranzigen Geschmack. Erst
jetzt kommt eine diätetische Verwendung
in Frage, nachdem es gelungen ist, durch
ein Patentverfahren (vorsichtiges Er¬
wärmen im hohen Vakuum bei Ver¬
meidung höherer Wärmegrade) den un¬
angenehmen Geschmack zu beseitigen.
Das so aus den Getreidekeimlingen her¬
gestellte Präparat trägt den Namen Ma¬
terna. Es stellt ein feines, geruchloses
Pulver dar, welches leicht süßlichen und
gleichzeitig wieder etwas bitteren Ge¬
schmack hat. Seine Farbe ist dunkelgelb
bis weißgelb, je nachdem mehr Roggen¬
oder Weizenkeimlinge beigemengt sind.
Ein zweites Präparat aus Getreide¬
keimlingen ist in jetziger Zeit der Mater.na
zur Seite getreten, nämlich das aus entölten
Getreidekeimlingen in gleicher Weise her¬
gestellte. Der ,,Kriegsausschuß für Fette
und Öle“ hat die Getreidekeime beschlag¬
nahmt, um durch Auspressen große
Gegenwart 1917. 105
Mengen Pflanzenöle daraus zu gewinnen.
Für ärztliche Zwecke ist das kalorien¬
reichere und, wie v. No Ordens Versuche
beweisen, besser resorbierbare, nicht ent¬
fettete Präparat (Materna) dem anderen
weit überlegen. Die entölten Keime
können als Eiweißzulage wohl Verwen¬
dungfinden, kommen aber für diätetisch¬
therapeutische Zwecke nicht in Frage.
Es ist anzunehmen, 'daß das entölte
Keimlingspulver bald .vom ,,Kriegsaus--
schuß für Fette und Öle“ zu möglichst
billigen Preisen in den Handel gebracht
werden wird und der Arzt sollte dann
bemüht sein, auch diesen Präparaten zur
Einführung zu verhelfen. Als leichtest
verdauliche und dabei nährkräftige Kran¬
kenkostbereicherung kann die (nicht ent¬
ölte) Materna verwendet werden: ein¬
gerührt in heißes Wasser in Kakao- oder
Bouillonwürfelabkochung, ferner als Sup¬
penmehl in dicke Suppen und zugesetzt
zu Kartoffel-, Gemüse- und Apfelbrei.
Überall, wo der Ernährungszustand der
Nachhilfe’ bedarf, ist der Zusatz von
Materna angebracht; natürlich ist die
Materna nicht imstande, die übrige Kost
zu ersetzen, nur als Zulage kann es wert¬
volle Dienste leisten und zwar vor allem
bei schwächlichen Kindern, Anämischen
und im Beginne der Tuberkulose, endlich
bei graviden und stillenden Frauen.
(Ther. Mh.1917, Nr. 1.) J. v. Roznowski.
Simulation von Geschlechtskrank¬
heiten hat Pick, zurzeit Regimentsarzt,
in zahlreichen Fällen beobachtet. Er
nimmt die hohe Zahl von 5 bis 7% aller
in seinem Wirkungskreise beobachteten
Geschlechtskrankheiten als simuliert an.
Der Begriff der Simulation war dem
Militärarzt schon in Friedenszeiten ge¬
läufig; simulierte Geschlechtskrankheiten
sind eine unerfreuliche Neuerscheinung
des Krieges. Bietet doch die Geschlechts¬
krankheit die Möglichkeit, längere Zeit
bequem hinter der Front bleiben zu
können. Die' Erfahrung der Ärzte auf
dem Gebiete der ,,künstlichen Geschlechts¬
krankheiten“ ist noch gering, ein Ent¬
larvtwerden kaum zu befürchten.
Am häufigsten simuliert wird Tripper.
Durch Ätzmittel wird das Orificium ure-
thrae mehr oder weniger stark gereizt.
Im allgemeinen steht aber der starke
Ausfluß zur geringen Schleimhautent¬
zündung im Widerspruch. Vor allem
wichtig ist im Gegensatz zur echten Go¬
norrhöe: die erste Harnportion bei der
Zweigläserprobe ist klar, sie enthält even-
14
106
Die Therapie der Gegenwart 1917. März
tuell einige.'wenige kleine Brockel. Es
ist vorgekommen, daß aus der Harnröhre
ein Seifenstückchen exprimiert werden
konnte und damit der Urheber des
künstlichen Trippers zutage gefördert
wurde. Das etwas kühne Verfahren, die
Seife aufzulösen und dann durch Er¬
zeugung von Seifenblasen nachzuweisen,
hat großen Eindruck auf den Simulanten
gemacht.
Mit Kantharidenpflaster ist künst¬
liche Balanitis erzeugt worden. Am
leichtesten als arteficiell zu erkennen,
wenn die gereizte, fibrinös belegte Stelle
eckige Kontur zeigt oder, wie meist, nur
einseitig vorhanden ist. Ältere Fälle sind
schwer oder gar nicht von natürlicher
Balanitis zu unterscheiden.
Ulcus molle arteficiale unterscheidet
sich vom echten wesentlich dadurch, daß
der Rand des' Geschwürs niemals auf¬
geworfen und zerfressen ist, das heißt
also nur geringe Entzündungserschei¬
nungen darbietet, die allmählich in die
der Umgebung übergehen. Hervorgerufen
wurde es durch eine Quecksilber ent¬
haltende Reizsalbe. Inguinaldrüsen
können dabei geschwollen sein.
Künstliche Initialsklerose ist häu¬
fig und dabei sehr schwer als Simulation
zu erweisen. Das Geschwür sieht, be¬
sonders nach Abstoßung des anfänglich
stets vorhandenen schwarzen Schorfes,
dem gereinigten Chancre mixte täuschend
ähnlich. Am wichtigsten ist im zweifel¬
haften Falle sehr genaue Anamnese, in
der sich dieser oder jener Fehler in den
angegebenen Zeitabmessungen findet, z. B.
eine specifische Kur wegen ähnlicher
Sklerose sei eben erst beendet worden. .
Die Simulation auf dem Gebiete der
Geschlechtskrankheiten ist hochent¬
wickelt; es handelt sich ja doch um sehr
geschickt und mit Sachkenntnis zu Werke
gehende Delinquenten. Es kommt schwere
SelbstbescHädigung vor, die zu gericht¬
licher Anzeige gebracht werden muß.
Verfasser schlägt vor, in allen Fällen von
versuchter arteficielier Geschlechtskrank¬
heit den Mann sofort zum Truppenkörper
zurückzuschicken. Mit etwaiger Unter¬
suchungshaft usw. ist ja sein Zweck, aus
der Truppe entfernt, hinter der Front zu
sein, schon erreicht; dagegen wirkt die
rasche Rückkehr zur Truppe abschreckend
vor der Wiederholung derartiger Versuche
auf ihn und Gesinnungsgenossen.
Wie groß das Material ist, aus dem
die geschilderten, scharf umrissenen arte-
ficiellen Krankheitsbilder herausgeprägt
werden konnten, ist aus der Arbeit nicht
ersichtlich. Jedenfalls erscheint nach dem *
Mitgeteilten wichtig, diesen oder jenen
frisch Geschlechtskranken kritisch zu be¬
trachten, und des Verfassers Erfahrungen
zu verwerten. j. v. Roznowski.
(Ni. Kl. 1917, Nr. 6.)
Ulrich Deißner kommt in sdiner
Arbeit über den ,,Wert des Ammon¬
persulfats und Cholevals für die
Behandlung'der akuten Gonorrhoe“
zu folgendem Urteil: Wir besitzen in dem
Choleval ein Mittel, das sich durch, seine
leichte Löslichkeit, seine Haltbarkeit und
seine bequeme Verweridungsweise aus¬
zeichnet. Bei frischer Gonorrhöe sieht
man in vielen Fällen glatte, unkompli¬
zierte Heilung. Bei manchen Erkran¬
kungen dagegen scheint Choleval voll¬
ständig erfolglos zu sein. Trotz, wochen¬
langer Behandlung damit läßt sich kein
Verschwinden der Gonokokken erzielen,
und es kann wohl dem Mittel in dieser
Beziehung vor anderen Silberpräparaten
kein Vorzug eingeräumt werden; man
hat Mißerfolge, wie sie auch bei An¬
wendung anderer Silberpräparate kon¬
statiert werden. Vor dem Protargol hat
das Choleval den Vorteil voraus, daß es
in der üblichen Konzentration keine ent¬
zündlichen Reizerscheinungen der Harn¬
röhrenschleimhaut verursacht und da¬
durch die oft gleichzeitig notwendig
werdenden mechanischen Behandlungs¬
methoden schmerzloser und erfolgreicher
gestaltet. Das Choleval ist also sicher
nicht das Mittel, durch das jede Go¬
norrhöe geheilt wird, es zeitigt aber in
vielen Fällen, besonders" bei frischen Er¬
krankungen, allein oder in Abwechslung
mit anderen Präparaten gute Erfolge.
So gute Resultate, wie sie Dufaux und
Klausner bei ihren Untersuchungen
beobachteten, hatten wir nicht aufzu¬
weisen. Wir müssen uns demnach auf
denselben Standpunkt stellen wie Frie-
boes, der dem Choleval denselben Hei¬
lungserfolg — keinen besseren, keinen
schlechteren — zuschreibt wie den
anderen Silberpräparaten auch.
Iwan Bloch i'Berlin\
(Derm.W. 1916 Jahrg 63 Nr. 48, S 1131—1183.)
Einen Beitrag zur Pathologie und
Therapie der Hyperextension im Ell¬
bogengelenk veröffentlicht Suter. Die
Hyperextension im Ellbogengelenk kann
angeboren sein oder durch operative
Eingriffe, Frakturen, Zerreißung der Ge¬
lenkkapsel oder deren Erschlaffung her-
März
Die Therapie der Gegenwart 1917.
107
vorgerufen werden, ln einem Falle, in
welchem die Fraktur mit gleichzeitiger
Erschlaffung der Bänder die Ursache
war, wurde mit Erfolg die Gelenkkapsel
durch Raffnähte verkleinert und durch
einen Fascienlappen aus dem Ober¬
schenkel gesichert. Hayward.
(Arch. f. klin. Chir. Bd. 108, Heft 2.)
Bei Impetigo contagiosa hat Maier
(praktischer Arzt in Friesdorf) wiederholt
schwere Nephritiden sogar mit Urämie
gesehen, die therapeutisch nur wenig be¬
einflußbar waren; er empfiehlt, bei Im¬
petigo nie die Urinuntersuchung zu ver¬
säumen. Die Impetigo ist zwar als leicht
übertragbare lästige Hautkrankheit be¬
kannt; daß sie schwere organische Schä¬
digungen macht, scheint zu allgemeiner
Kenntnis nicht gekommen zu sein.
(M. m; W. 1916, Nr. 47.) J. v.Roznowski.
Zur Therapie der Psoriasis vulgaris
machte Schöppler eine Mitteilung: Die
sehr häufig auftretende Psoriasis bereitet
der Therapie immer wieder Schwierig¬
keiten. In einem Falle von fast über den
ganzen Körper ausgebreiteter Psoriasis
war Chrysarobin,Traumatizin, Arsen, Jod¬
kali, Naphthol, Aristol, Röntgenbestrah¬
lung — alles erfolglos — versucht worden.
Es wurde endlich ein Versuch mit der
Neussschen Klebrobinde gemacht, die
mit einem leimartigen Stoff imprägniert
ist und ähnlich wie ein Zinkleimverband
wirkt. Sie wird von W. Teufel in
Stuttgart hergestellt. Die Binde blieb
locker angewickelt fünf Tage um den Ober¬
arm liegen. Nach Abnahme war der Arm
frei von jeder Hautschuppung; die Haut
entsprach in ihrem Aussehen etwa einer
sich frisch überhäutenden Brandwunde.
Allmählich gelang es, der Reihe nach
alle anderen Körperbezirke bewickelnd
die Psoriasis völlig zum Abheilen zu
bringen. Bis jetzt, drei Jahre lang, ist
der Patient rezidivfrei geblieben. Eine
wissenschaftliche Vermutung, welches in
dem Falle das wirksame Prinzip der
Klebrobinde gewesen ist, wird nicht aus¬
gesprochen. Die Mitteilung sollte „zur
Nachprüfung des auffallenden Heilerfolges
anregen“. j. v. Roznowski.
(M. KI. 1917, Nr. 6.)
Nieden schreibt über freie Knochen-
platik zumErsatz von knöchernenDefekten
des Schädels mit und ohne gleichzeitigen
Duraersatz. Drei Gruppen von Verfahren
stehen uns zur Verfügung zur Deckung
von knöchernen Schädeldefekten: 1. die
gestielte Hautperiostknochenplastik nach
Müller-König, 2. die gestielte Periost¬
knochenlappenplastik, 3. die freie Plastik
aus der Tibia. Verfasser beschreibt ein¬
gehend die seit zehn Jahren in der Lexer-
schen Klinik üblichen Verfahren der
Schädeldeckung. Die in jüngster Zeit
von Küttner-angegebene Methode, bei
der das Transplantat aus der Tabula
externa genommen wird, ist von Lex er
schon vor vielen Jahren als erfolgreich
bezeichnet worden. Man geht hierbei so
vor, daß man einen großen Hautlappen
bildet, welcher an der Grenze der Narbe
verläuft und dann in der Gegend der
Basis dieses Lappens entsprechend der
Größe des Defektes den Knochen mit
einem besonderen Trepanationsmeißel
wegnimmt. Sind die Defekte sehr groß,
so muß das Deckungsmaterial der Vorder¬
fläche des Schienbeines entnommen wer¬
den. Auch hier wird das Transplantat
ausgemeißelt. Die Regeneration der
Tibia geht schnell vor sich, und bei der
großen Zahl der Erfahrungen der Lexer-
schen Klinik wurde niemals eine spätere
Fraktur des Schienbeines gesehen. Über¬
all da, wo gleichzeitig Dura- und Hirn¬
verletzungen vorliegen, soll man sich mit
der Schädelplastik nicht begnügen, son¬
dern vorbeugend der Entwickelung der
traumatischen Epilepsie entgegenarbeiten.
Darum wird gleichzeitig die Dura pla¬
stisch ersetzt. Handelt es sich um ver¬
hältnismäßig kleine Hirndefekte, so ge¬
nügt eine dünne Schicht von dem der
Tibiafläche anhaftendem Fett. In anderen
Fällen muß das Fett frei verpflanzt wer¬
den. Die Krahkenblätter und Abbil¬
dungen von zwei einschlägigen Fällen,
welche sich durch einen außergewöhn¬
lich großen Defekt auszeichnen, vervoll¬
ständigen die Arbeit. Hayward.
(Arch. f. klin. Chir. 1916, Bd. 108, Heft 2.)
Von Meyer teilt einen Fall mit, in
dem eine postoperative Magenblutung
schwerster Art'durch sofortiges Trinken
einerTube Koagulen Kocher-Fonio glatt
und f dauernd geheilt wurde. Für wesent¬
lich hält der Verfasser das Trinken sofort
nach dem Erbrechen, das heißt mit ganz
leerem Magen, und macht den Vorschlag,
prophylaktisch bei der Operation Koa¬
gulen in den Magen zu geben.
In einem Falle Bräutigams begann
nach einer Magenoperation ein altes Ulcus,
arteriell zu bluten. Nach Eröffnung der
eben geschlossenen vorderen Gastro¬
enterostomienaht wurden 20-ccm 10%iger
108
Die Therapie der
Koagulenlösung in den Magen gebracht,
derselbe wieder geschlossen und das
Mittel durch mildes Palpieren des Magens
verteilt. Darnach nur einmal Erbrechen
schwärzlich - wäßriger Massen, weiter
gar keine Blutung und Beschwerden
mehr. Auch Bräutigam empfiehlt pro¬
phylaktische Anwendung besonders bei
Operationen wegen Magenerkrankungen
auf Grundlage alter Ulcera und schlägt
die direkte Einspritzung in den Magen
— durch die Bauchwand hindurch -—
bei schweren Magenblutungen vor.
(M. m. W. 1915, Nr.52 u.47.) Waetzoldt.
Über einen mit Fibrolysin geheilten
Fall von multiplen Neurofibromen berich¬
tet Kencz. Bei einem Manne von 42
Jahren entwickeln sich seit dreiviertel
Jahren allmählich am Halse, Rumpf und
Extremitäten multiple Neurofibrome, die
bald (etwa vier Wochen)' nach ihrem
Auftreten heftig zu schmerzen begannen
und dadurch auch jede Bewegung schmerz¬
haft machten. Patient mußte unter
Morphium gehalten werden. Es wurden
nunmehr im Anfang in längeren Inter¬
vallen, später (von der fünften Woche ab)
jeden zweiten Tag eine Ampulle Thiosin-
amin (2,3 ccm) subcutan gegeben, nach¬
dem. es zur Vermeidung von Schmerzen
auf 40 bis 45° erwärmt war. Nebenwir¬
kungen. zeigten sich kaum. Im Beginn
der vierten Woche der Behandlung konnte
ein Rückgang der Tumoren und Abneh¬
men der Schmerzen beobachtet werden.
Am Ende der achten Woche waren die
Fibrome fast alle verschwunden und die
bestehenden schmerzlos. Am Ende des
dritten Monats war der Kranke von
seinem Leiden völlig befreit und arbeits¬
fähig. Waetzoldt
(D. m. W. 1917, Nr 3.)
Über die Verwendung desTribrom-
naphthols (Providoform) in der Der¬
matologie berichtet Ferdinand Wink¬
ler auf Grund seiner Erfahrungen bei
Skabies, Psoriasis, Frostbeulen und Ver¬
brennungen. Die schmerz- und juck-
stillende Wirkung ist ziemlich kräftig;
erstere tritt besonders bei Verbrennungen
hervor, bei denen Verfasser ein 5%iges
Providoformöl als Verbandmittel be¬
nutzte, letztere bei der Skabiesbehand-
lung, in der er die Formel der Wilkinson-
sehen Salbe benutzte, unter Ersatz des
Teers durch die Hälfte Providoform. Bei
Behandlung der Frostbeulen kamen das
Providoformöl sowie eine 10%ige Pro-
vidoformsalbc mit gutem Erfolge zur
Gegenwart 1917. März
Anwendung. Bei den urtikariellen For¬
men der Psoriasis scheint die 10% ige
alkoholische Providoformlösung den Vor¬
zug zu verdienen, bei Psoriasis vulgaris
eine 10 % ige Providoformsalbe. Naphthol-
erytheme wurden nie beobachtet. Zwei¬
mal täglich ließ Verfasser mit dieser Salbe
einreiben und unterbrach jeden vierten
Tag. die Salbenbehandlung durch ein
Seifenbad. Da die entzündungerregende
Wirkung des Naphthols fehlt, so ist das
Providoform für Schälkuren nicht ge¬
eignet, dagegen, sehr brauchbar zum Er¬
satz des Naphtholalkohols in der Lassar-
schen Haarkur, da die von Koposi
bei der Verwendung von halbprozentiger
alkoholischer Naphthollösung beob¬
achtete trockene Modifikation der Epi¬
dermis bei der Benutzung des Tribrom-
naphthols nicht zustandekommt. Als
Haarspiritus genügt eine 1% ige Lösung
von Providoform in‘Alkohol mit Zusatz
einiger Tropfen Ricinisöl.
Iwan Bloch (Berlin.)
(Derm. W. 1917, Bd. 64, Nr. 6, S, 134).
Pseudarthrosen infolge Knochen-
defektes, insbesondere bei Brüchen des
Unterkiefers, sucht Prof. Reichel durch
Verpflanzung von Hautperiostknochen¬
lappen zur Heilung zu bringen. Reichel
weist zunächst auf die mehrfachen Mi߬
erfolge der freien Autoplastik hin und
erklärt dieselben einmal daraus, daß
nicht immer ein streng aseptisches Vor¬
gehen möglich ist, da es sich ja meist
um Narbengewebe handelt, in dessen
Bereich vor kürzerer oder längerer Zeit
eine Fistel bestanden hat, oder weil in
der Nähe der Mundhöhle operiert werden
muß, deren Schleimhaut nicht immer un¬
verletzt bleiben kann. Eine weitere Ur¬
sache sieht er darin, daß das Transplantat
häufig in narbig verändertes, für eine
ausreichende Ernährung des Transplantats
ungeeignetes Gewebe eingepflanzt wird.
In vielen Fällen kommt es daher wieder
zur Fistelbildung und späteren Abstoßung
des Transplantats. Einen weiteren Nach¬
teil der freien Autoplastik bildet die
Schädigung des Knochens, welchem das
Transplantat entnommen wurde.
Um mit größerer Sicherheit einen Er¬
folg zu erzielen, wandte er die von
Müller-König zur Deckung von Kno¬
chendefekten am Schädel angegebene
Methode auf die Pseudarthrosen an.
Durch einen aus der Nachbarschaft ge¬
wonnenen, breitgestielten Hautperiost¬
knochenlappen tiberbrückt er den Kno¬
chendefekt. Der Vorgang bei einer
März Die Therapie der
Pseudarthrose des Radius ist z. B. der:
zunächst Anfrischung des Defekts unter
weiter lappenförmiger Umschneidung der
Narbe, dann Bildung eines Hautperiost¬
knochenlappens aus der Ulna, welcher
in den Defekt hintibergeschlagen wird.
Deckung der Endnahmestelle durch ander¬
weitige Plastik oder Tljierschsche Läpp¬
chen, eventuell auch durch Auswechs¬
lung des bei der Freilegung der Pseud¬
arthrose gewonnenen Lappens mit de'm
Hautperiostknochenlappen. Ein unbe¬
dingtes Erfordernis für das Gelingen der
Operation ist die Wahrung des Gewebs-
zusammenhanges aller Teile des Lappens.
Nach der Operation wird das betreffende
Glied mehrere Wochen absolut ruhig ge¬
stellt. Zu frühzeitige Bewegungen ge¬
fährden den Heilungsvörgang. Um einer
zu weitgehenden Versteifung der Gelenke
vorzubeugen, mobilisiert er dieselben vor
der Operation. Bei Pseudarthrose des
Unterkiefers entnimmt er den Knochen
dem unteren Rande desselben. Ist das
infolge zu ausgedehnter Verletzung des
Kiefers nicht möglich, so schlägt er das
Schlüsselbein als Entnahmestelle vor.
Die Ruhigstellung des Kiefers wird durch
zahnärztliche Prothesen besorgt.
Die große Sicherheit des Erfolges bei
der Verwendung eines gestielten Haut¬
periostknochenlappens liegt darin, daß
die Ernährung des Knochenersatzstückes
vom Mutterboden aus weiter besorgt
wird. Es wird dasselbe auch durch eine
eventuelle geringe Infektion nicht ge¬
fährdet.
Sechs Fälle sind nach dieser Methode
mit Erfolg operiert. Hagemann.
(D. Zschr. f. Chir. Bd. 138, H. 5 u. 6.)
Über eine Epidemie von myositi-
scher Pseudogenickstarre berichtete H.
Curschmann (Rostock). Er beobachtete
ein zweifellos epidemisches Auftreten einer
Form des akuten, fieberhaften polyarthri-
tischen, häufiger aber noch mono- oder
polymyositisch Rheumatismus, der be¬
sonders im Beginne, in den meisten Fällen
aber dauernd, auf die Halsregionen be¬
schränkt war und infolgedessen der epi¬
demischen Genickstarre bisweilen täu¬
schend ähnlich sah. Sein Material stammt
aus der Zeit von Januar bis April 1908,
später kamen nur ganz vereinzelte Fälle
vor. Er sieht sich zu dieser Mitteilung
aus früherer Zeit deshalb veranlaßt, weil
jetzt während des Krieges oft bei Soldaten
der Verdacht einer epidemischen Genick¬
starre besteht, wenn es sich in Wirklich¬
Gegenwart 1917. 109
keit nur um influenzaartige oder rheuma¬
tische Erkrankungen handelt. Die
interessanten Krankengeschichten, die
Curschmann mitteilt, erwecken beim
Lesen absolut den Eindruck, als handelte
es sich um echte Meningitis. Er glaubt,
seine Fälle schon deshalb von dem ge¬
wöhnlichen fieberhaften Muskel- und Ge¬
lenkrheumatismus abtrennen zu können,
weil es sich um ein epidemisches Auf¬
treten handelt. Differential-diagnostisch
muß hervorgehoben werden, daß bei dem
,,gewöhnlichen“ Muskelrheumatismus nur
geringfügige Störungen, des Allgemein¬
befindens bestehen; es fehlt Erbrechen,
Somnolenz und subjektiv schweres Krank¬
heitsgefühl. Außerdem wird das Wandern
des Muskelrheumatismus von einem zum
anderen Muskel als etwas für ihn beson¬
ders Charakteristisches bezeichnet. Diese
beiden differential-diagnostischen Krite¬
rien fanden sich bei den mitgeteilten
Fällen nicht. Hier standen hohe Tem¬
peraturen, meist über 39°, schwerer
subjektiver und objektiver Krankheits¬
zustand im Vordergründe. Was die
Symptomatologie anbelangt, so waren
die Schmerzen in den erkrankten Mus¬
keln so stark, daß aktive und passive
Nackenstarre nachzuweisen war. Sie
fand sich bei allen Fällen und war stets
bedingt durch eine meist äußerst heftige
Spontan- und Druckschmerzhaftigkeit des
Musculus sternocleidomasteideus und tra-
pezius. Bei letzterem war besonders der
obere Rand schmerzhaft. In einigen
Fällen war die Haut darüber gedunsen.
Daß die Muskelaffektion trotz ihrer sub¬
jektiven Schwere keine tiefgreifende war,
bewies der kurz dauernde Verlauf der
Myalgie selbst und der ihr folgenden Con-
tractur. Bei den schnell verlaufenden
Fällen dauerte sie nur vier bis fünf Tage,
im Durchschnitte sechs bis acht Tage.
Verfasser sah niemals Schwielenbildung
nach Heilung der akuten Erkrankung. In
allen Fällen ging der Krankheitsbeginn
mit einer katarrhalischen Angina, Rötung
und Schwellung der Tonsillen und des
Rachens einher. Das Auftreten der Myo¬
sitis cervicalis war stets mit hohem Fie¬
ber begleitet. Schüttelfröste wurden nicht
beobachtet. Der Fieberverlauf war mei¬
stens kurz, nach wenigen Tagen kritisch
abfallend. Zu Rezidiven neigte weder das
Fieber noch der Muskelprozeß. Ein wich¬
tiges weiteres Symptom war das anfäng¬
liche Erbrechen, das in keinem Falle
fehlte. Es erinnerte, wie Curschmann
ausführt, an das initiale Erbrechen bei
110
Die Therapie der Gegenwart 1917.
' März
Scharlach, stimmte aber wiederum gar
nicht mit dem Beginne des typischen
Muskel- und Gelenkrheumatismus über¬
ein, Besondere Komplikationen traten
nicht auf. Die Diazoreaktion war negativ.
Wegen der besonders heftigen Kopf¬
schmerzen und des Erbrechens sowie der
Pseudonackenstarre im Beginne der Er¬
krankung mußte man noch an die Mit¬
beteiligung der Gehirnhaut denken.
Cur sch mann führte aber mit Absicht
keine Lumbalpunktion aus, weil er von
vornherein wegen des Befundes der Hals¬
muskulatur davon überzeugt war, daß
es sich nicht um Meningitis handele.
Neben dem lokalen Befunde veranlaßte
ihn zu seiner Diagnose hauptsächlich das
Fehlen der bekannten meningitischen
Symptome, wie Kernig, Bradykardie,
Contfacturen, Hyperästhesie, Reflexver¬
änderungen und vor allem psychische
Gehirnerscheinungen, und schließlich be¬
stätigte die angewandte Therapie, näm¬
lich Salicylpräparate und warme, trockene
und feuchte Wickel, die Richtigkeit der
Diagnose.
Die Differentialdiagnose, die Cur sch-
mann erörtert, veranlaßt mich, kurz
einen Fall anzuführen, der vor mehreren
Jahren im Krankenhaus Moabit bei einem
etwa zweijährigen Kinde beobachtet
wurde, das unter der Diagnose Meningitis
eingeliefert worden war, und das tatsäch¬
lich, wenigstens im ersten Moment, wegen
der hohen Temperatur, des weit nach
hinten gebogenen in die Kissen sich ein¬
bohrenden Kopfes und der Bewußtlosig¬
keit als Meningitis imponierte. Da aber
alle sonstigen meningitischen Symptome
fehlten, fahndete man nach einer
anderen Ursache und fand einen sehr
stark entwickelten retropharyngealen
Absceß. Die Nackensteifigkeit ist wohl
so zu erklären, daß sich infolge des
Abscesses ein starkes circumscriptes
Ödem, das auf die Halsmuskulatur
Übergriff, gebildet hatte. In diesem
Falle führte die Eröffnung des Abscesses
sehr schnell vollständige Heilung herbei.
(M. m. w. 1917, Nr. 1.) Dünner.
Als „Pseudoskabies“ beschreibt P. G.
Unna eine krätzeartige, juckende, kon-
tagiöse Hautaffektion: allerkleinste Pa¬
peln, welche gruppenweise, meistens zu¬
erst an der Streckseite der Vorderarme
auftreten und von hier aus sich über den
Handrücken verbreiten, daselbst häufig-
ähnlich wie die echte Krätze die Zwischen¬
fingerfalten umsäumen und an der hier
dickeren Hornschicht auch oft aller¬
kleinste helle Bläschen und Reihen von
solchen bilden. Die Pulsgegend und über¬
haupt die Beugeseite von Vorderarmen
und Handgelenk ist weniger befallen, und
richtige, schwarz punktierte Milbengänge
fehlen gänzlich, was gerade in der
Gegend des Handgelenkes und an den
Zwischenfingerfalten besonders charak¬
teristisch ist.
Von hier aus geht die weitere Ver¬
breitung meistens auf die Oberarme,
Schultern, Brust und Rückengegend über,
.oft mit Freilassung der bei SkabiesTast
regelmäßig befallenen Achselfalten. Bei
Frauen werden mit Vorliebe die Brüste
und die Gürteigegend, am Rücken die
Kreuzbeingegend befallen. Weiter er¬
streckt sich das Auftreten der winzigen
Papeln hinab auf die Innenseite der Ober¬
und Unterschenkel, wieder mit Frei¬
lassung der Genitalien. Auch beim
Manne, wo die Affektion übrigens seltener
aufzutreten und sich weniger am Körper
auszubreiten scheint, bleiben Glans und
Präputium, die Lieblingeplätze der Krätze,
frei.
Die primären blassen Papeln werden
regelmäßig durch Kratzen gerötet und
zerstört, dadurch aber auch über den
ganzen Körper weiter verbreitet. Setzt
nun die Verimpfung von Ekzem- oder
Impetigokokken durch das Kratzen ein,
so ist das ursprüngliche Bild bald ver¬
wischt und man kann nur aus dem Fehlen
der Milbengänge die Diagnose stellen.
Auch therapeutisch verhält sich
das Pseudoskabies ganz verschieden von
der Krätze. Während Perubalsam oder
Styrax versagen, hilft mit ziemlicher
Sicherheit und ungemein rasch eine Ein¬
pinselung aller befallenen Stellen mit
Sagrotan (Fabrik: Schülke u. Mayr,
Hamburg) in 2 bis 20 % wässeriger
Lösung je nach der Empfindlichkeit der
Haut. Der heftige Juckreiz läßt sofort
nach, in wenigen Tagen sind die Primär-
efflorescenzen und die Kratzstellen ab¬
geheilt. Die Einpinselung geschieht mit
einem kräftigen Borstenpinsel, wobei die
Flüssigkeit ein wenig schäumt. Man läßt
sie eintrocknen. Ein Verband ist un¬
nötig. Sagrotan ist nach Schottelius
Völlig ungiftig. Iwan Bloch (Berlin.)
(Derm. W. 1917, Bd. 64, Nr. 6, S. 129—131).
Die Rolle der Samenbläschen bei
chronischen, nicht blennorrhoi-
schen Infektionen der hinteren
Harnröhre und Blase beleuchtet J. T.
März Die Therapie der
Geraghty besonders im Hinblick auf die
Therapie. Zahlreiche rezidivierende und
hartnäckige Erkrankungen der hinteren
Harnröhre werden von Affektionen der
Samenbläschen unterhalten. - In Fällen,
in denen die Samenbläschen nur ganz ge¬
ringe Veränderungen bei Palpation zeigen,
mag eine Beseitigung möglich sein durch
Injektion von Argyrol oder Protargöl in
die Samenbläschen. Wenn sich aber aus¬
gesprochen entzündliche Veränderungen
in den Wänden der Samenbläschen finden,
erscheint es nicht ratsam, irgend etwas
anderes vorzunehmen als die Inzision oder
sogar partielle Excision der Samenbläs¬
chen, um den gewünschten Erfolg zu er¬
halten. Bei ausgesprochenen entzünd¬
lichen Veränderungen der Samenbläs¬
chen ist es außerdem unmöglich, durch
eine einfache Inzision vollkommene Drai¬
nage zu erreichen. In diesem Falle hat es
sich als notwendig erwiesen, die hintere
Wand der Samenbläschen mit zu ent-,
fernen, um die verschiedenen Taschen
gründlich zu eröffnen. Außerdem sollte
auch in jedem Falle die Ampulle des Vas
deferens eröffnet werden, da sonst leicht
ein Erkrankungsherd übersehen werden
kann. Zur gründlichen Drainage ist eine
genügende Freilegung der Sameribläs-
chen von Wichtigkeit. Die Harnröhre
sollte aber nicht eröffnet werden, und
nach Zurückstreifung der Levatormuskeln
und der Fascien von der Prostata pflegen
die Samenbläschen in den meisten Fällen
leicht sichtbar zu werden. Leichter zu¬
gänglich werden sie außerdem durch An¬
wendung des Youngschen Traktors,
eines dem Prostatatraktor ähnlichen In¬
struments, . das aber durch den Meatus
eingeführt wird. Das hat den Zweck, die
Samenbläschen in das Operationsgebiet
herauszupressen, so daß sie leicht zu¬
gänglich sind. In keinem der vom Ver¬
fasser beobachteten Fälle einfacher In¬
fektion sind Fisteln und ihre Kon¬
sequenzen die Folge gewesen.
Iwan Bloch (Bsrlin )
(Denn. W-1916, Bd. 63, Nr. 50, S 1195—1199.)
Hofmann liefert einen Beitrag zur
Technik der Schädelplastik. Die verloren¬
gegangene Dura muß bei der Deckung
operativ gesetzter Schädeldefekte ergänzt
werden. Einige haben hierzu Netz ver¬
wendet, andere nahmen frei transplan¬
tiertes Fett, während in der letzten Zeit
mehrfach empfohlen wurde, den dem
Schienbein mitsamt dem Perios.t ent¬
nommenen Knochenspahn umzudrehen,
so daß das Periost gehirnwärts zu liegen
Gegenwart 1917. 111
kommt. Hof mann entnimmt, der dem
Schädeldefekte benachbarten Stelle ein
Stück der Lamina externa zugleich mit
einem Stück Periost, welches doppelt sq
groß ist als der Defekt. Die Knochen¬
haut schlägt er dann um das Knochen¬
stück herum, so daß sowohl nach innen
wie nach außen Perjost zu liegen kommt.
(Zbl.f. Chir. 1917, Nr. 2.) Hayward;
Boral hatte — wie auch andere —
trotz reichlichstem Krankenmaterials erst
Anfang Sommer 1916'Gelegenheit, einige
Skorbutfälle im Felde zu sehen. Im klini¬
schen Bilde traten neben Extravasaten in
der Muskulatur Hautblutungen, Gingivi¬
tis, langsamer Herztätigkeit mit weichem
Puls und leisen Tönen, vor allem und meist
zu allererst die Tibialgie hervor, das
heißt eine Schmerzhaftigkeit der Tibia
im ganzen Verlauf auf Beklopfen und*
Betasten (ähnlich wie bei der Barlow-
schen Krankheit und beim experimen¬
tellen Meerschweinchenskorbut). Dieselbe
kann daher wohl als Frühsymptom
die Diagnose ermöglichen, bevor Haut¬
blutungen,. Gingivitis usw. nachweis¬
bar sind, so daß eine schnelle fast vor¬
beugende Behandlung möglich ist. Den
auffallenden Umstand, daß sämtliche be¬
richteten Fälle im Frühjahr beziehungs¬
weise Sommersanfang auftreten, möchte
Verfasser mit Ernährungsmängeln während
des Winters erklären. Um eine calorische
Unterernährung kann es sich nicht han-.
dein, da Unterernährung weder bei den
befallenen Individuen noch in der Truppe
zu beobachten war. Dagegen weist Ver¬
fasser darauf hin, daß monatelange Unter¬
ernährung an Kaliumverbindungen Skor¬
but hervorrufen kann. Eine solche kann
eintreten bei einseitiger Ernährung mit
stark gekochten Gemüsen und Kartoffeln,
scharf poliertem Reis, gering ausgemahle¬
nem Mehl, scharf sterilisierter Milch usw.,
die alle durch diese Prozeduren viel von
ihrem Kaligehalt — dem Boral mit
Urbeanu die Rolle der Vitamine Funks
zuweist — verlieren. Um nun die not¬
wendige Kalizufuhr von zirka 0,5 g täglich
zu garantieren, sind 250 bis 300 g Kar¬
toffeln nötig, vorausgesetzt, daß sie mit
der Schale gekocht und auch das Koch¬
wasser irgendwie zu Suppe oder der¬
gleichen verwandt wird. Auch kleiereiches
Brot (besonders natürlich solches mit
Kartoffelzusatz) ist als Prophylacticum
wie als Heilmittel geeignet. Der Wert
roher Gemüse in diesem Zusammenhänge
ist ja allgemein bekannt.
112
Die Therapie der
Boral fordert für den Winter jeden¬
falls in den Reservestellungen eine solche
prophylactische Ernährung — die natür¬
lich auch unter heutigen Umständen
durchaus durchführbar ist — und emp¬
fiehlt zur Durchführung solcher Ma߬
nahmen Meldepflicht für alle Skorbut¬
fälle an der Front. Waetzol'dt.
(M. Kl. 1917, Nr. 4.)
Die Ruhigstellung der tuberkulös
erkrankten Lunge, wie sie durch den
künstlichen Pneumothorax erreicht wird,
sucht Wars,tat in origineller und wenig
eingreifender Weise durch einseitige Ex¬
traktion der Intercostalnerven zu
erzielen. Die von ihm angestellten Versuche
an Kaninchen und Hunden haben er¬
geben, daß die Operation ohne besondere
Schwierigkeiten ausführbar ist, daß der¬
selben eine relative Ruhigstellung und
ein Einsinken der betreffenden Thorax¬
hälfte folgt, woran sich eine Volumver¬
minderung und Schrumpfung der be¬
treffenden Lunge anschließt. Bei einer
größeren Reihe mit Tuberkulose infizierter
Tiere wurde weiterhin festgestellt, daß
in der Lunge der operierten Seite sowohl
der Zahl wie auch der Größe nach ge¬
ringere Tuberkelknötchen vorhanden
waren. Im mikroskopischen Präparat
waren die Knötchen der operierten Seite
von Bindegewebe umgeben und fast
immer ohne Verkäsung, während die der
.nicht operierten Lunge mit allen Zeichen
einer käsigen centralen Nekrose unter
Neigung zur Kavernenbildung darboten.
Auf Grund der günstigen Tierversuche
wurde an zwei Menschen die Operation
ausgeführt. Die Operation gelang unter
Lokalanästhesie ohne Schwierigkeiten und
verlief ohne Zwischenfall. Alsbald nach
der Operation stellte sich die gewünschte
Veränderung in den Atembewegungen der
operierten Thoraxhälfte ein. In dem zu
zweit operierten Falle war eine deutliche
Umfangsverminderung der operierten
Seite nach vier Wochen nachweisbar. In
diesem Falle verschwanden alle Beschwer¬
den der erkrankten Lunge, während im
ersten Falle nur ein geringer Rückgang der
Krankheitserscheinungen festgestellt wer¬
den konnte.. Dieser Fall war auch der
schwerere, denn es handelte sich bereits
um Kavernenbildung, während im zweiten
Falle nur eine infiltrative Tuberkulose vor¬
handen war.
Ein abschließendes Urteil ist infolge
zu kurzer Beobachtung nicht möglich.
Den Mißerfolg im ersten Falle erklärt
Gegenwart 1917. März
Verfasser damit, daß bereits Kavernen
vorhanden waren, welche sich nach
Ruhigstellung der Lunge nicht mehr ge¬
nügend entleerten. Er hält daher diese
Fälle für diese Operation nicht geeignet.
Hage mann (Marburg.)
(D. Zschr. f. Chir. Bd. 138, H. 5 u. 6.)
Einen Beitrag zur Behandlung von
Unterschenkelgeschwüren liefert E.
Knotte (Essen). Er läßt heiße Opium-
umschläge auflegen, indem er einen Tee¬
löffel der Tinktur zu 100 g Wasser zusetzt.
Die Umschläge sollen drei- bis viermal
täglich je zwei Stunden lang gemacht
werden. In der Zwischenzeit ließ. Ver¬
fasser heiße Umschläge applizieren und
mit undurchlässigem Stoffe (Billroth-
batist, kein Guttapercha) bedecken und
verbinden, ebenso des Nachts. Zunächst
hörten die unerträglichen Schmerzen fast
sofort auf, und die schmutzig bedeckten
Wunden reinigten sich in einigen Tagen.
Es setzte eine starke Granulation ein und
Überhäutung vom Rande her, so daß in
leichteren Fällen in zwei bis drei Wochen,
in den schlimmeren und schlimmsten
selbst in vier bis fünf Wochen die Ge¬
schwüre völlig verheilt waren. Knotte
wurde zu dieser Therapie durch Berichte
veranlaßt, daß in Südwestafrika Unter¬
schenkelgeschwüre schon seit längerer
Zeit mit Opiumumschlägen behandelt
werden. Dünner.
(M. m. W. 1917, Nr. 1).
Eine Vereinfachung der operativen Be¬
handlung der Varicen schlägt Kocher vor.
Eine, eingehende Beschreibung der bisher
bei Varicen meist in Gebrauch befindlichen
Operationen unter genauer Berücksichti¬
gung des Mechanismus der Entstehung des
Leidens. Kocher ist in Anlehnung an die
guten Resultate der Ligatur der Saphena
magna bei positivem Trendelenburg-
schen Zeichen so vorgegangen, daß er zu¬
nächst auch die Saphena unterbindet und
dann eine große Zahl von percutanen
Ligaturen anlegt, welche die zu- und ab¬
führenden Äste der sichtbaren Varix¬
knoten abschnüren. Die ganze Operation
wird unter Lumbalanästhesie vorgenom¬
men. Die Unterbindungen geschehen mit
Seide, und es kommt vor, daß bis zu
200 Umschnürungen angelegt werden.
Die Kranken stehen am zweiten Tage
nach der Operation auf und verlassen die
Klinik nach acht Tagen. Die Resultate
sind sehr befriedigend, Komplikationen
wurden niemals beobachtet. Hayward.
(D. Zschr. f. Chir. Bd. 138, Heft 1 u. 2.)
März Die Therapie der Gegenwart 1917. 113
Therapeutischer Meinungsaustausch.
Typhusbehandlung mit Hydrargyrum cyanatum. *
Von Dr. med. Gellhaus in Rüstringen in Old.
Seitdem die .Typhusschutzimpfungen
besonders in wiederholten Dosen ein¬
geführt sind, scheint die Gefährlichkeit
dieser Krankheit als epidemische Seuche
beseitigt zu sein. Zum wenigsten hört
man von einer großen Verbreitung des
Typhus in unserem Kriegsheere so gut
wie gar nichts. Auf die Verhältnisse der
Allgemeinpraxis wird sich diese vor¬
beugende Therapie nicht so vollständig
übertragen lassen. Hier wird der Arzt
immer noch darauf angewiesen sein, mit¬
internen Mitteln den einzelnen Krank¬
heitsfall zu bekämpfen. Von diesem Ge¬
sichtspunkte aus möchte ich einige Beob¬
achtungen veröffentlichen, die ich bei
Typhuserkrankungen gemacht habe.
In meiner jetzigen Praxis kommt
Typhus als einheimische Krankheit nicht
vor. Indes wurde vor einigen Jahren
durch ein auswärtiges Ferienkind diese
Seuche hier eingeschleppt. Dieses Kind,
hier auf Besuch, hatte den Keim aus der
Heimat mitgebracht; es erkrankte zuerst
und steckte in der Inkubationszeit auch
ihre beiden hiesigen Spielgefährtinnen an.
Typhusbacillen wurden bei dem zuge¬
reisten Kinde festgestellt, so daß die Art
der Erkrankung in jeder Weise geklärt
war.
Eine der hiesigen Kranken war in meiner
Praxis, Gretchen S., 12 Jahre alt. Im Anfänge
schien die Infektion keine allzuschwere zu sein,
jedoch von der zweiten Woche entwickelte sich
das Krankheitsbild trotz sorgfältigster Pflege von
Tag zu Tag schlechter. Die Zunge vertrocknete
immer mehr, wurde schließlich schwarz-borkig,
Lippen spröde und rissig, die Bauchdecken spann¬
ten sich zu brettartiger Härte und waren aufs
äußerste druckempfindlich. Die Temperatur war
andauernd zwischen 39 und 40°, Puls stark
beschleunigt. Stuhlentlehrungen waren nicht
sehr vermehrt. Das ganze Krankheitsbild machte
einen betrübenden Einduck und die Prognose
schien schlecht. Therapeutisch hatte ich ver¬
schiedenes angewendet, aber das üble Fortschreiten
war dadurch nicht aufgehalten Worden.
Nun kam ich in der Betrachtung dieses
Falles zu folgender Überlegung. Vor
längeren Jahren wurde im Anfangs¬
stadium des Typhus Calomel empfohlen,
ebenso wurde es früher bei Rachen¬
affektionen manchmal herangezogen. Für
letztere Erkrankung verwende ich seit
langer Zeit Hydrarg. cyanatum und bin,
soweit keine Diphtherie in Frage kommt,
mit der Wirkung sehr zufrieden. Im
weiteren kam mir nun der Gedanke, ob
Hydrarg. cyanatum nicht auch bei Typhus
verwendbar sein könnte. Wenn überhaupt
dem Hydrargyrum beiTyphus eineWirkung
zukommen sollte, war diese viel eher vom
Hydrarg. cyanatum, als vom Calomel zu
erwarten, weil die Wirkung des ersteren
viel < milder ist, als die des Calomel.
Einen Erfolg erwartete ich nicht als
Darmdesinfizienz, sondern im bacteri-
ciden Sinne vom Blute aus. Ich ver-
ordnete bei dem achtjährigen Mädchen
Hadrarg. cyanat. 0,01/30 Wasser mit 1 g
Spritzusatz einhalbstündlich zehn Tropfen
in einem Eßlöffel voll Wasser. . Diese
Medikation wurde zwei Tage fortgesetzt,
und ich hatte am dritten Tage die Freude,
daß das Allgemeinbefinden etwas besser
wurde, auch Temperatur und Puls sich
verminderten. Die Tropfen wurden jetzt
alle Stunde gegeben, da anscheinend
eine günstige Reaktion zustande ge¬
kommen war, und ich in etwa noch eine
Darmreizung fürchtete. Die Besserung
war in fünf bis sechs Tagen völlig deutlich,
der Leib wurde weicher, die Zunge
feuchtete sich und nach reichlich einer
Woche vom Beginn der Medikation an
war die Lebensgefahr überwunden. Der
gute Verlauf hielt auch weiter an, und
die Patientin ist ohne Zwischenfälle ge¬
nesen.
Als diese Kranke in voller Besserung
war, machte der Typhus in der Familie
weitere Fortschritte: es erkrankte ein
kleiner Bruder unter denselben Erschei¬
nungen, wie die ältere Schwester, ln den
ersten Tagen tat ich nichts, um zu sehen,
ob dies wirklich eine Typhusinfektion sei
oder nur eine allgemeine Unpäßlichkeit.
Jedoch der Krankheitsverlauf zeigte deut¬
lich die schwere Infektion.
Das Befinden verschlechterte sich von Tag
zu Tag, die Temperatur stieg bis 39°. Nun glaubte
ich, mit der Hydrargyrummedikation nicht länger
warten zu dürfen., Entsprechend den jüngeren
Jahren wurden 1 / 2 stündlich 8 Tropfen gegeben.
Am zweiten Tage nach Beginn der Hydrargyrum-
behandlüng ließ sich eine Wirkung feststellen im
Absinken der Temperatur und Besserung des
Allgemeinbefindens. Auch hier war der Erfolg
ein dauernder und in zwei Wochen war der kleine
Patient völlig genesen.
Zwei Jahre später, im Juli 1913, hatte
ich Gelegenheit, noch einen verdächtigen
Fall zu behandeln.
In der kinderreichen, robustgesunden Arbeiter¬
familie G. erkrankte der Sohn Franz mit Klagen
über Leibschmerzen und allgemeiner Unpäßlich¬
keit. Nachdem sich dieses mehrere Tage hinge-
114 Die Therapie der
schleppt hatte, wurde ich am 10. Juli gerufen.
Bei der Untersuchung war außer Fieber bis
38,5° nichts Objektives festzustellen, dabei klagte
der Junge über starke Leibschmerzen. In den
nächsten Tagen wurde das Befinden noch schlech¬
ter, Temperatur höher, Befund: nitril. Am 14.
und 15.‘ Juli waren deutliche Roseolen sichtbar.
Dadurch war die Typhusdiagnose gesichert. Über
das woher der Infektion war nichts zu eruieren.
Weit und breit war kein Typhus oder ähnlicher
Darmkartarrh bekannt. ^
Außer den schon anfangs verordneten „Diät¬
vorschriften wurde am 16.- Juli Hydrargyrum
cyanatum gegeben, 1 j stündlich 10 Tropfen. Am
nächsten Tage war das Befinden nicht schlechter
und am 18. Juli zeigten Temperatur und All¬
gemeinbefinden eine deutliche Besserung, des¬
gleichen am 19. Juli.
Am 21. Juli fand ich den Knaben, im Sofa
sitzend, emsig beschäftigt, ein dickes Butterbrot
zu vertilgen. Die Folgen dieser Unvernunft ließen
nicht auf sich warten: am folgenden Tage hatte
der Patient wieder hohes Fiebef und starke Leib¬
schmerzen. Jedoch auch dieser Rückfall ging mit
Hydrargyrum cyanatum und Diät vorüber. Nach
einigen 'l agen war die Temperatur wieder normal
und damit fand der Fall seine Erledigung. In
der Familie sind keine weiteren Erkrankungen
dieser Art vorgekommen.
Mit diesen Fällen war meine Typhus¬
behandlung vorerst zu Ende. Kurz
nach Beginn des Krieges wurde es mir
wieder möglich, einige weitere Beob¬
achtungen zu machen. In das Militär¬
lazarett zu Wilhelmshaven wurden zu
dieser Zeit . eine Anzahl Typhuskranke
eingeliefert, und auf Anregung von Herrn
Professor Mühlens, dem damaligen Leiter
der bakteriologischen Untersuchungs-
Station des Lazaretts, wurden mehrere
Kranke mit Hydrarg. cyanat. behandelt.
Bei drei Fällen, von denen einer ein
Schwerkranker gewesen sein soll — ge¬
sehen habe ich den Kranken nicht—, trat
bald nach der Hydrargyrummedikation
Besserung und weiterhin völlige Heilung
ein. Einige klomplizierte Fälle' wurden
nicht beeinflußt. Da jedoch bei diesen
dreien die Krankheit schon längere Zeit
bestanden hatte, wäre es gewagt, hier
ein post hoc ergo propter hoc konstruieren
zu wollen.
Dann las ich, ebenfalls in der ersten
Zeit des Krieges, von der Einrichtung
eines großen Seuchenlazaretts in Trier.
Ich wandte mich dahin unter Darlegung
meiner Erfahrungen. Bei mehreren
Kranken ist Hydrarg. cyanat. angewendet.
Nach Verlauf einiger Wochen erhielt ich
auf Anfrage von dem leitenden Arzte die
Mitteilung, daß das Hydrarg. cyanat. in
unkomplizierten Fällen wahrscheinlich
eine günstige Wirkung geäußert habe,
bei den anderen Kranken ohne Einfluß
gewesen sei. Inzwischen hatten sich in
Gegenwart 1917. März
meiner Praxis auch wieder ' einige Be¬
obachtungsfälle eingestellt. Hier traten
um dieselbe Zeit urplötzlich in weit ver¬
streuten Fällen heftige leicht fieberhafte
Darmkatarrhe auf, die zu meiner Über¬
raschung auf die gewöhnliche Behandlung
in keiner Weise reagierten. Der erstere '
Fall war eine ältere Frau, die sich reichlich
eine Woche mit diesem Katarrh unter
beträchtlichen Beschwerden herumquälte,
um dann allmählich sich zu bessern, ohne
daß die verordneten Medikamente einen
irgendwie sichtbaren Nutzen geleistet
hatten.
Kurz danach, am 28. November 1914, er¬
krankte in einer weit davon abwohnenden Familie
ein kleines Kind von l 1 /., Jahren, Alma K-, und
wieder einige Tage später, fern ab von diesem
erkrankten Mädchen, ein dritter Fall, ein Knabe,
von 12 Jahren. Bei der kleinen Alma versagte die
erste Behandlung, ohne Hydrargyrum cyanatum
vollständig. .Das Kind nahm von Tag zu Tag mehr
ab und war bald soweit, daß die Prognose quoad
vitam sich sehr bedenklich gestaltete. Da griff ich,
in der Überzeugung, daß hier ein besonderer Darm¬
katarrh vorliegen müsse, zum Hydrargyrum cya¬
natum. Am 3. Dezember wurden die ersten Tropfen
verabreicht, den kindlichen Verhältnissen ent¬
sprechend in geringerer Dosis 0,004-30, V„stündlich
10 Tropfen. Schon nach 24 Stunden war eine
leichte Besserung des Krankheitszustandes sicht¬
bar, dem bald völlige Genesung folgte.
Bei dem Knaben, zu dem ich erst nach mehre¬
ren Krankheitstagen am 4. Dezember gerufen
wurde, war das Krankheitsbild schon so verworren,
daß die wahre Ursache von mir nicht sofort erkannt
wurde. Zu den Erscheinungen des Darmkatarrhs
waren bereits peritonitische Beschwerden, harte
Bauchdecken, trockene Zunge hinzugetreten, dabei
fühlte sich der Kranke recht matt und angegriffen.
Inzwischen waren in der Praxis von Kollegen,
die noch mehr Fälle dieser Art gehabt hatten,
diese Erkrankungen durch die bakteriologische
Untersuchungsstation in Wilhelmshaven als
Paratyphus B erkannt worden.
Bei meinem Patienten wurde dieselbe Fest¬
stellung gemacht. und nun am 6. Dezember.
Hydrargyrum cyanatum gegeben.
Die Wirkung trat bald ein, aber nur teilweise.
Die Diarrhöen und das Allgemeinbefinden besserten
sich beträchtlich, aber die Härte der Bauchdecken
mit den zugehörigen Druckschmerzen wollten
nicht recht weichen. Um diesen Zustand zu heilen,
nahm ich am 12. Dezember Kollargol zu Hilfe,
damals noch als venöse Einspritzung, wie ich es
in der M. m. W., 13. 6. 1916, beschrieben habe.
Wie bei anderen Entzündungskrankheiten war
ich auch in diesem Falle mit der Wirkung des
Kollargols sehr zufrieden. Die Härte der Bauch¬
decken war bald weniger stark. In einigen Tagen
war hierauf die Krankheit überwunden. Als letzter
Fall wurde im Sommer 1915 eine heftige Diarrhöe
bei einem dreijährigen Kinde mit Hydrargyrum
cyanatum behandelt. Das Kind erkrankte unter
den Erscheinungen eines gewöhnlichen Darm-
katarrhs. Außer Diät wurden einige Medi¬
kamente verordnet, die indes auf den Verlauf der
Krankheit nicht den mindesten Einfluß ausübten.
Die Durchfälle wurden immer reichlicher, bis
schließlich nach 3 Tagen sogar blutiger Stuhl
März
Die Therapie der Gegenwart 1917. 115
ausgeschieden wurde. Brechen stellte sich nicht
ein. Die kleine Patientin fühlte sich sehr krank.
Nun griff ich auch hier zum Hydrargyrm cyana-
tum, das seinen wohltätigen Einfluß auch nicht
vermissen ließ. Mit dem Nachlassen der Diarrhöen
wurde auch der Allgemeinzustand besser und nach
einigen Tagen war die Krankheit behoben.
Leider ist es mir bis jetzt nicht möglich
geworden, noch mehr Beobachtungen
über Typhus oder typhoide Erkrankungen
zu gewinnen. Ich habe noch einige Ver¬
suche gemacht, die Hydrargyrumbehand-
lung in Vorschlag zu bringen, aber die Ty¬
phuserkrankungen sind, soweit ich Nach¬
richt erhielt, überall nur sporadisch auf¬
getreten, und waren aus den betreffenden
Krankenanstalten recht bald wieder ver¬
schwunden, so daß das Hydrargyrum
cyanat. nicht angewendet werden konnte.
Darum bin ich mit diesen nicht sehr
zahlreichen Fällen zur Veröffentlichung
geschritten. Ich habe den Eindruck ge¬
wonnen, daß Hydrarg. cyanatum, in der
angegebenen Weise verabreicht, entweder
schon allein, oder in Verbindung mit
kleinen Injektionen von Kollargol auf die
Typhuserkrankung günstig einwirkt. Und
wenn auf diese Weise auch nur einem
Kranken Leben und Gesundheit wieder¬
gegeben würde, dann wäre diese kleine
Arbeit ja nicht umsonst geschrieben.
Uber Behandlung der Qichtphlebitis mit Dermotherma.
Von Geh. Sanitätsrat Dr. M. Vogel-Jena.
Über Gichtadern war im vorigen Jahr¬
hundert wenig bekannt geworden, ich
.fand sie in Lehrbüchern nicht erwähnt
und ich hatte auch in der Praxis keine
Gelegenheit, sie bei anderen zu beob¬
achten. Als erste ausführliche Beschrei¬
bung der Gichtphlebitis las ich G. Du-
. c a s t e 1 s Abhandlung 1904.
Die ersten Gichtadern in meiner
langen Praxis sah ich also bei mir selbst.
Anfangs hatten mir die Varicen an meinen
Unterschenkeln nichts Außergewöhnliches
dargeboten. Mit Eintritt in das 60. Lebens¬
jahr — gegenwärtig bin ich 74 Jahre
alt — traten an der linken Saphena über
dem Kniegelenk mehrere Male ausge¬
dehnte Thrombosen auf. Solche Throm¬
bosen bilden ja eine Naturheilung für
die entarteten Venen unterhalb der
Thrombose, welche veröden. Aber bald
entstanden neue erweiterte Venen und
diese entwickelten sich auf der Außen¬
seite des Unterschenkels, später aller¬
dings auch wieder auf der Innenseite.
Nunmehr nahm ich die ersten Gichtknoten,
(tophi) wahr, zuerst an der Kniescheibe,
dann am ganzen Unterschenkel und zu¬
meist am Fuß. Die Gichtknoten gaben
Anlaß zur Bildung weiterer Thrombosen,
da sie in der Venenwand sitzend das
Lumen der Vene verengten und hier eine
Ablagerung und Gerinnselbildung des
Blutes verursachten. Tophi und Gerinnsel
sind dann schwer, voneinander zu unter¬
scheiden, und so wird man die ursprüng¬
lichen Tophi vielfach für Blutgerinnsel
halten.
Ich hatte mittlerweile in einer „Brief¬
kastennotiz“ in einer medizinischen Zei¬
tung, deren Autor mir unbekannt blieb,
gelesen, wie gefährlich und unheilbar
,,Gichtadern“ seien und wie häufig sie
Thrombosen und hämorrhagische Infarkte
zur Folge haben. Dies traf bei mir zu.
Im Jahre 1910 hatte ich bei Thrombose
elf Infarkte in beiden Lungen und im
Herbst 1914 entstand bei mir aus der
gleichen Ursache eine Thrombose in
einem Arterienaste der linken Retina,-
deren Folgen mich jetzt noch sehr be¬
lästigen. ' Irgendwelchen Druck vertragen
nun weder die Tophi noch die thrombo-
sierten Venen, letztere auch nicht nach
der Heilung der. Thrombose. Ich habe
Pflaster- und andere Verbände, sowie
sämtliche Binden und Bandagen, die für
varicöse Venen empfohlen werden, nur
zu meinem Schaden versucht.
Da ich durch die abnorme Blutver¬
teilung sehr an kalten Füßen litt, so
suchte ich mir hiergegen Linderung zu
verschaffen durch Dermotherma, das
mir zu Versuchen durch das Luitpold-
Werk in München 25 dargeboten war. Ich
bemerkte zu meinem freudigen Erstaunen,
daß meine Gichtknoten sich ungewöhn¬
lich schnell verkleinerten und verschie¬
dentlich ganz verschwanden. Besserungen
hatte ich ja auch bisher durch inner¬
lichen Gebrauch von Hexamethylentetra¬
min (Urotropin) erzielt, aber niemals ein
vollständiges — wenn auch nur zeit¬
weises — Verschwinden der Tophi, und
zudem gehörten Monate dazu, um die
Tophi erheblich zu verkleinern. Bei An¬
wendung von Dermotherma war schon
nach halben Wochen ein erhebliches
Schwinden derselben wahrzunehmen, be¬
sonders als ich nach Erkenntnis dieser
Wirkung mich nur auf die Einreibung der
Tophi beschränkte. Es zeigte sich,
namentlich bei den großen Gichtknoten,
15*
116 ' Die Therapie der Gegenwart 1917. 'März
wie deren Heilung durch Erweichung und eine frische Thrombose mit Dermotherma
Einschmelzung von der Peripherie her zu behandeln wegen der Gefahr der
zustande kam. Hier wurden die Ge- Embolie.
schwülste auch etwas schmerzhaft. An- Ich will nicht verschweigen, daß es
fangs glaubte ich, daß das Dermotherma mir nicht gelang, bis jetzt alle Tophi zu
eine schmerzhafte Hautreizung verursache, beseitigen, zumal ich nicht täglich, sondern
und setzte, die Einreibungen aus. Als ich nur nach Bedarf einreibe. Bei verschie-
aber sah, daß ich irrtümlich eine Haut- denen Tophi blieb ein Kern zurück, und
reizung angenommen hatte, und daß die wenn ein Witterungsumschlag eintritt, so
Tophi sich nicht weiter zurückbildeten, bringt er nicht nur neue Tophi, sondern
so nahm ich die Einreibungen wieder auf. die bisherigen nehmen wieder zu. Aber
Ich habe Rückbildung verschiedener doch nicht in dem Maße wie früher, das
Gichtknoten schon in eineinhalb bis zwei ist eine große Wohltat! Seit Jahren
Wochen erzielt, die ich seit Jahren 5 un- mußte ich einen Venenkomplex über der.
verändert besaß. Das war für mich eine Patella, der mit Konkrementen durch¬
große Erleichterung namentlich an den setzt war, während des Winters durch
Stellen, wo die Schuhschnürung drückte, einen Watteverband gegen die Reibung
Auch die die Tophi begleitenden Ödeme der Kleider schützen; dies habe ich nicht
wurden geringer und verschwanden für mehr nötig. Die eingelagerten Kon-
die Zeit der Nachtruhe vollständig. Warme kremente bringe ich zum Verschwinden
Fußbäder bis zu 40 0 C unterstützten die und der Venenkomplex ist auf ein Viertel
Kur. verkleinert.
Den Gebrauch des Urotropins nahm Da die Gicht bei mir auch in mehreren
ich trotzdem wieder auf, als ich bemerkte, Gelenken (Finger-, Hand-, Fußgelenk
daß dessen Anwendung gemeinsam mit usw.) bei Witterungswechsel unter Auf-
Dermotherma die Aufsaugung der Tophi treibungen und Schwellung auftritt, so
beschleunigte. Offenbar spült das Uro- habe ich in letzter Zeit auch hier Dermo-
tropin die gelösten Harnsalze schneller therma eingerieben mit bestem und
aus dem Körper heraus, was sich auch schnellem Erfolg.
im Urin durch vermehrte Harnsäure be- Ich gebrauche Dermotherma erst seit
merklich macht. zirka zwei Monaten, ich hoffe, daß
Die Schmerzen an den Gichtknoten, seine Anwendung im Sommer mir noch
welche bei Einreibungen auftraten, deuten nachhaltiger nützen kann, trotz meiner
darauf hin, daß durch erhöhte Blutzufuhr 74 Jahre.
und Temperaturerhöhung eine Einschmel- Ich bemerke, daß ich wegen der Gicht
zung der harnsauren Salze zustande schon seit vielen Jahren salzfreie Diät
kommt, wie man dies ja auch in anderen innehalte (für Vermeidung von Schäden
Fällen bei einer gelegentlichen Entzün- durch schwere Fleischspeisen sorgt 'der
düng bemerkt. Krieg!), und daß ich betreffs Alkohol
Außer den Tophi kamen auch alte abstinent lebe. Daran darf ich, wie ich
Thrombosenreste zur Aufsaugung. Na- überzeugt bin ■— trotz des guten Er-
türlich möchte ich es nicht empfehlen, folges mit Dermotherma—, nichts ändern.
Merkblatt für Ärzte zur Verhütung und Behandlung der
Nierenentzündungen im Felde 1 ).
lieb eine Verschlimmerung erfahren
und zu Herzschwäche, Ödemen,
Urämie, Apoplexie führen können,
und
b) der akuten sogenannten Feld¬
nephritis in engerem Sinne.
2. Auf einen älteren Prozeß (Schrumpf¬
niere) weisen außer dem Harnbefund
(häufig Polyurie mit oft sehr geringem
Eiweißgehalt und spärlichen Formelemen¬
ten) vor allem die Blutdrucksteigerung
(Drahtpuls) und ein akzentuierter, nicht
selten klingender zweiter Aortenton sowie
1. Bei den im Felde beobachteten
Nierenleiden ist zu unterscheiden zwischen
a) älteren Prozessen verschiedener
Ätiologie (Infektionen; auch Syphilis,
Intoxikationen, genuine Arterio¬
sklerose, Gicht), die im Kriege ledig-
1 ) Dieses Merkblatt ist vom Chef des Feld¬
sanitätswesens, Exz. von Schjerning, den
Militärärzten und Lazaretten zur Nachachtung
übergeben worden. Die Kenntnis dieser ausge¬
zeichneten und erschöpfenden Anweisung wird
auch den nicht im Militärdienste stehenden Kollegen
von größtem Nutzen sein. Red.
März Die Therapie der
der hebende Spitzenstoß (Herzhyper¬
trophie) hin.
3. Die sogenannte Feldnephritis bietet
.anatomisch kein neues Krankheitsbild.
Sie ist eine akute Glomerulonephritis und
kann im weiteren Verlaufe auch zu einer
glomerulären Schrumpfniere führen mit
den in 2 genannten Symptomen.
Klinisch zeichnet sich die Feldne¬
phritis durchs die Neigung zu besonders
hochgradiger Ödementwicklung aus. Diese
Ödeme treten häufig im Beginn der Er¬
krankung sehr rasch auf; die höchsten
Grade werden meist nur in den Feld- und
Kriegslazaretten beobachtet. In den
Reservelazaretten sieht man sie weit
seltener.
Diese hochgradigen Ödeme sind nicht
restlos als renale zu erklären. Es spielen
extrarenale Ursachen mit: gesteigerte
Ödembereitschaft, vermehrte Wasseran¬
ziehung der Gewebe. (Schädigungen der
Hauptcapillaren durch Abkühlungen, An¬
häufung von Stoffwechselprodukten, Ein¬
flüsse einseitiger „denaturierter“ Er¬
nährung.)
4. Die Ursachen dei: akuten Glome¬
rulonephritis überhaupt sind infektiös¬
toxische oder chemisch-toxische. Das
gilt auch für die sogenannte Feldne¬
phritis.
Im Felde spielen aber die infektiös¬
toxischen Ursachen die Hauptrolle: In¬
fektionen jeder Art (akute Infektions¬
krankheiten, Streptokokkeninfektionen
vom lymphatischen Rachenring aus, Fu¬
runkel, Erysipel, Dermatosen).
Um den Beginn einer Nierenerkran¬
kung möglichst frühzeitig festzustellen,
ist bei allen infektiös erkrankten Soldaten
sorgfältig auf pathologische * (chemische
und morphologische) Beimengungen des
Harns zu achten: Eiweiß, Blut, Cylinder,
Epithelien, Leukocyten.
5. Als ein wichtiger begünstigender
Umstand (erhöhte Organdisposition) in
der Ätiologie der sogenannten Feldne¬
phritis ist die Erkältung anzusehen.
Es ist eine alte, immer wieder erhärtete
Erfahrung, daß Nephritiker warm ge¬
halten werden müssen. Jede Erkältung
kann akute Verschlimmerung des Leidens
bedingen. Für die Existenz eines Er¬
kältungseinflusses spricht auch besonders
eindringlich der Nutzen der Abhärtung!
Es wird immer und immer wieder die
Erfahrung gemacht, daß gerade ältere
Soldaten (Landsturm) verhältnismäßig
häufig an Nephritis erkranken. Infolge
Gegenwart 1917. . 117
arteriosklerotischer Gefäßveränderungen,
verschlechteter Vasomotorentätigkeit und
dadurch bedingter Minderwertigkeit der
physikalischen Wärmeregulation erliegen
sie besonders leicht erkältenden Ein¬
flüssen. .
6. Am meisten wärmeentziehend
wirkt die nasse Kälte: Durchnässungen,
Aufenthalt in nassen Schützengräben,
Schlafen in feuchten Unterständen oder
auf naßkaltem Erdboden.
7. Auch starke körperliche Anstren¬
gungen (Märsche) können insbesondere
nicht intakte Nieren schädigen.
Die Erfahrungen bei sportlichen Über¬
anstrengungen einerseits und die Fälle
mit orthostatischer Albuminurie und Hä¬
maturie andererseits lehren,, daß auch
durch chemisch-toxische Einflüsse (An¬
häufung von Stoffwechselprodukten) und
durch Circulationsstörungen die Nieren
krank werden können.
8. Auch alle Bact.-coli-Infektionen der
.Harnwege (Cystitis) bedürfen wegen der
Gefahr einer aufsteigenden Infektion (Pye¬
litis, Nephritis) sorgfältiger Beobachtung
und Behandlung (Urotropin, Borovertin).
Man vermeide aber z. B. Spülungen mit
Kali chloricum!
9. Bei der Läusebekämpfung bei
Leuten mit ausgedehnten Dermatosen
vermeide man die Anwendung chemisch¬
toxischer Mittel. Die kranke Haut resor¬
biert mehr als die gesunde! Ebenso ver¬
hält sich die erkrankte Blasenschleim¬
haut. Man vermeide die Anwendung von
Carbol und Jodoform! Auch kein Kresol!
10. Im Kriege lassen sich naturgemäß
alle die Nieren schädigenden Einflüsse
nicht ausschalten. Es ist aber unsere Auf¬
gabe, sie nachMöglichkeit zu beschrän¬
ken.
Also: Mäßigkeit im Genüsse alkoho¬
lischer Getränke, Vermeidung einseitiger,
zu stark gesalzener Nahrung (Konserven).
Neben Konserven und Feldküchenkost
nach Möglichkeit „nicht denaturierte*
Kost und Obst reichen:
Gemüse, Dörrgemüse,Obst, Fruchtsäfte
Marmeladen, Käse.
Sorgfältige Beachtung von Man¬
delentzündungen und Dermatosen.
Hinweis auf die Wichtigkeit der Mund¬
pflege. Morgens und abends Mund- und
Rachenspülungen mit Wasser, dem Was¬
serstoffsuperoxyd oder einige Kristalle
von übermangansaurem Kali zugesetzt
sind. Auch verdünnte Lösungen von
essigsaurer Tonerde sind zweckmäßig.
118
Die Therapie der. Gegenwart 1917.
März
Die Sanierung feuchter Schützengrä¬
ben und Unterstände ist nach Möglichkeit
zu erstreben (Drainage).
Sorge für Kleider- und Stiefelwechsel
bei Durchnässungen. Warme Unterklei¬
dung! Leibbinde!
Häufige Untersuchung der Mannschaf¬
ten auf Mandelentzündungen! Viele
haben eine infektiöse Mandelentzündung,
ohne daß sie über Halsschmerzen klagen!
SorgfältigeÜberwachung des Harns
bei allen akuten Erkrankungen. Häufige
Eiweißprobe: am besten die sogenannte
kalten Proben mit Essigsäure und Ferro-
cyankalium oder die Hellersche Schicht¬
probe (Salpetersäure) im Schnapsglas.
Auch in der Zeit der Rekonva.leszenz
mache man öfters Eiweißproben!
Je früher eine Nierenentzündung er¬
kannt wird, desto besser sind die Aus¬
sichten für die Ausheilung!
Auffallende Gewichtszunahmen
(Dickerwerden) sind oft gleichbedeutend
mit latentem Ödem. Harn untersuchen!
Bei häufig rezidivierenden Mandelent¬
zündungen kann die Exstirpation der
Tonsillen in Betracht kommen.
Bei der Behandlung haben sich
folgende Grundsätze bewährt:
Die Behandlung ist in der Hauptsache
.eine physikalisch-diätetische und für ge¬
wisse Komplikationen (Urämie, Herz¬
schwäche, hartnäckiger Hydrops) eine
medikamentöse.
1. Bei durch Infektionen — inbesondere
unter dem Einfluß gewisser prädispo¬
nierender Momente (Durchnässung, Er¬
kältung, große Anstrengungen) — her¬
vorgerufener akuter Nephritis Kausalthe¬
rapie.
Luetische Nierenentzündung: in der
Dosierung besonders vorsichtige Salvar-
sankur.
Malarianephritis: Chinin.
Bei Eiterungen, Brandwunden, Er¬
frierungen ist die Grundkrankheit chirur¬
gisch zu behandeln. Ebenso bedürfen
Strepto- und Staphylokokkeninfektionen
der Haut (Furunkel) sorgsamer Behand¬
lung.
Sogenannte tonsillogene Nephri¬
tis (Abscedierungen im Bereiche des
lymphatischen Rachenringes brauchen
durchaus nicht immer mit einer Vergröße¬
rung der Tonsillen einhergehen. Auch von
der Gaumenmandel aus wird Infektion
möglich).
Man ziehe bei der Untersuchung die
Gaumenbögen vorsichtig mittels eines
stumpfen Hakens zurück. Durch Aus¬
quetschen der Tonsillen mit dem Hart-
mannschen Tönsillenquetscher gelingt öf¬
ters der Nachweis eines eitrigen Sekretes
bei anscheinend gesunden Mandeln.
Man achte bei der Untersuchung uaf'
schmerzhafte Schwellungen der Kiefer¬
winkel- und Halsdrüsen! Zahnwurzel¬
eiterungen !
Eine teilweise bzw. vollständige Ent¬
fernung der Mandeln kommt aber ledig¬
lich in solchen Fällen in Betracht, bei de¬
nen eine eitrige Erkrankung der Mandeln
einwandfrei nachzuweisen ist.
Auch eine Cystitis bedarf wegen der
Gefahr einer aufsteigenden Nierenent¬
zündung (Nierenbeckeneiterung!) einer
gründlichen Behandlung: Urotropin 0,5
viermal täglich; noch besser oft Boro-
vertin in gleichen Dosen oder Natr. ben-
zoic. 1,5 dreimal täglich.
2. In der Mehrzahl der Fälle von
Feldnephritis kann die Behandlung nur
symptomatisch sein, die allgemeine Be¬
handlung gliedert sich in eine physi¬
kalische und diätetische.
a) Physikalische Behandlung:
Bettruhe (horizontale Körperlage) und
Bettwärme. Der Kranke soll auch im
Bett eine warme Unterjacke tragen!
Behandlung streng individualisierend.
Im allgemeinen soll ein akuter Ne-
phritiker erst dann seine ersten Äufsteh-
versuche machen, wenn der Urin min¬
destens 10 Tage lang frei von Eiweiß und
Formelementen (Cylinder, rote Blutkör¬
perchen) war. Bei Fällen, die nach dem
Verschwinden aller Krankheitserscheinun¬
gen noch monatelang geringe Eiweißmen¬
gen ausscheiden, ist der Gesamteindruck
des Falles maßgebend. Bei Fehlen von
Blut und Cylindern im Sediment kann
man solche Kranke vorsichtig aufstehen
lassen.
Das Wiederauftreten von Blut
und Cylindern macht aber Bettruhe
wieder notwendig, nicht aber geringe
Schwankungen in derEiweißäusscheidung,
da die meisten akuten Nierenentzündun¬
gen in der Rekonvaleszenz sogenannte
orthotische Albuminurie zeigen. Letztere
wird günstig beeinflußt durch regelmäßi¬
ges Einschieben von Bettruhe nach den
Hauptmahlzeiten (eineinhalb bis zwei
Stunden).
Kein schematisches Verordnen war¬
mer Bäder und von Schwitzprozeduren
wegen Schädigung von Herz und Nieren!
Täglich verabreichte warme Bäder wirken
ermüdend!
März
Die Therapie der
ln vielen Fällen zweckmäßig zwei bis
drei warme Bäder in der Woche (34 bis
35° C und 15 bis 20 Minuten Dauer). Sehr
wichtig ist dabei Frottieren der Haut mit
warmen Tüchern und Vorwärmen des
Bettes! Man hüte sich vor der kritiklosen
Anwendung brüsker Schwitzkuren! Sie*
greifen das Herz an!
Bei drohenden urämischen Erschei¬
nungen werden Schwitzprozeduren noch
vielfach empfohlen, obwohl ihre Wirkung-
sicher überschätzt wird. Man wendet zu
diesem Zwecke'entweder Bäder von 37° C
an, die durch vorsichtige Zugabe von war¬
mem Wasser allmählich auf 41° C erwärmt
werden. Dauer 20—25 Minuten, danach
Einpacken in warme Decken.
Einfacher und weniger anstrengend
-erscheint die Anwendung von Heißluft¬
bädern öder des elektrischen Lichtbügels.
Zur Vermeidung von Kopfkongestionen
Auflegen von kühlen Kompressen auf den
Kopf!
Bei Schwitzprozeduren ist wichtig
das gleichzeitige Trinken von warmer Li¬
monade oder von Flieder- oder Linden¬
blütentee. Schwitzende darf man nicht
dursten lassen! Sonst Gefahr einer Kon¬
zentrationssteigerung urämischer Sub¬
stanzen in Blut und Geweben! Vor An¬
wendung von Schwitzprozeduren Herz
prüfen! Höhere Grade von Herzschwäche
für Schwitzkuren ungeeignet!
Sehr zweckmäßig und leicht durch¬
führbar im Sinne einer guten Hautpflege
sind tägliche Abreibungen der Haut mit
lauwarmem Wasser unter Zusatz von
Franzbranntwein, Spiritus.
b) Diäte tische Behandlung: Erfah¬
rungsgemäß stellen die Eiweißkörper die
größten, die Kohlehydrate und Fette die
geringsten Anforderungen an die Sekre¬
tionsarbeit der Niere. Am meisten.belastet
Fleisch (Eiweiß und Extraktivstoffe) die
Niere. Der vielfach betonte Unterschied
zwischen rotem und weißem Fleisch ist
nicht haltbar. In der Rekonvaleszenz
kann Unter stetiger Kontrolle des Urins
gekochtes Fleisch (aber nicht die Fleisch¬
brühe!) gereicht werden in zunächst ge¬
ringen Mengen (100 g). Gekochtes (de¬
naturiertes) Hühnereiweiß wird besser ver¬
tragen! Am besten Pflanzeneiweiß!
Die Ernährung im akuten Stadium
besteht also vorwiegend aus Vegetabilien,
Milch, Milchderivaten, gekochten Eiern.
Die Schonungsdiät darf nicht in eine
fortgesetzte Hungerkost ausarten. Ca-
lorienbedürfnis eines im Bette ruhenden
Gegenwart 1917. , 119
Menschen: 25 bis 30 Calorien pro Kilo,
Eiweißbedarf: zirka 50 g. Ebensowenig
ist von einer sogenannten Durstkur ein
Nutzen zu erwarten desgleichen von einer,
,,Durchspülungskur“ mit großen Flüssig¬
keitsmengen.
Die Flüssigkeitszufuhr ist von Fall zu
Fall zu regeln.
Beziehungen der Hydropsbildung zur
• Kochsalzretention! Daher Einschränkung
der Kochsalzzufuhr: im akuten Stadium
der hydropischen Nephritis bis auf 5 g
und in manchen Fällen auch bis auf 3 g
auf den Tag!
Bei Urämie an Stelle der Kochsalzin¬
fusionen (physiolog. Kochsalzlösung) In¬
fusionen von 4,5 % Traubenzuckerlösung.
Gewürze jeder Art: Pfeffer, Senf,
Zwiebel, Knoblauch, Sellerie, Meerrettich,
Radieschen, Fleischextrakt, Dill, Pilze,
Petersilie sind zu vermeiden. Alkohol im
akuten Stadium ganz weglassen!
Die einseitigen Milch- und Schleim¬
suppendiäten sind mit Recht verlassen:
zu große Flüssigkeitszufuhr und Unter¬
ernährung!' Man vergesse nicht, daß die
Milch einen Kochsalzgehalt von 0,15 bis
0,18% hat. Wenn möglich, gebe man
einen, höchstens eineinhalben Liter Milch
auf den Tag. Auch Yoghurt, Kefir und
Kumys sind wegen des Alkoholgehalts zu
vermeiden! Weißer Käse ist zu gestatten.
Neben Milch sind die besten Getränke:
gutes Leitungswasser/ Tee, Limonaden.
Es gibt keine sogenannten Nierenheil¬
wässer! Die Wildimger Helenen- und
Viktorquelle enthalten z. B. 0,1% Koch¬
salz.
Im Felde kommt man mit folgender
Diät aus: Milch, Schleimsuppe, Erbsen¬
suppe, Bohnensuppe, Gemüse, Kartoffel¬
mus, Brot, Butter, zwei bis drei gekochte
Eier, Puddings (Gelatine sehr geeignet!),
Mehlspeisen, Reis. Daneben Kompotte
oder, wenn möglich, frisches Obst, Apfel¬
mus..-. Von Gemüsen seien besonders ge¬
nannt: Schoten, Mohrrüben, grüne Boh¬
nen, Rosenkohl, Blumenkohl, Kürbis (diu-
retisch wirkend) Spinat. Mäßiger Essig-
zusatz ist unschädlich.
3. Medikamentöse Behandlung.
Es gibt keine Heilmittel der Nephritis.
Die Natr.-bicarbon.-Therapie zur Ver¬
ringerung der Eiweißausscheidung hat
keine allgemeine Anerkennung gefunden.
Sie kann sogar die Ödembereitschaft
steigern.' Auch die Hämaturie kann —
außer vielleicht durch Gelatine — durch
kein Mittel beeinflußt werden. Plumb.
120 Die Therapie der
acet., Secale cornut. und Kalksalze ver¬
dienen daher keine Anwendung. Ebenso¬
wenig Strontium oder. Tannin!
Wichtig dagegen ist die gegebenen¬
falls nötige medikamentöse Beeinflus¬
sung des Stuhlgangs (Rheum, Cas-
cara, Natr. sulfuric.).
Das Verhalten des Herzens er¬
fordert andauernd die größte Aufmerk¬
samkeit. Bei beginnender Herzschwäche
sofort Digitalis (Fol. Digitalis pulv. titrat
0,1 zweimal täglich, Digipuratutn zwei¬
mal eine Tablette oder Digipurat. solubil.
zweimal 25 Tropfen), bis 1,0 oder 1,5 g
Digitalis verbraucht sind. Bei bedroh¬
licher Herzschwäche: Digipurat. solubil.
zwei bis dreimal täglich 1 ccm intramus¬
kulär, daneben Coffein ^ natrio-benzoic.
oder natrio-salicylic. zwei bis dreimal
täglich 0,2 subcutan.
Bei verzögerter Resorption der
Ödeme: Diuretica (neben oder nach
Darreichung von Digitalispräparaten).
Diuretin vier- bis sechsmal täglich
0,5 g.
Theocinnatr. acetic. zwei- bis dreimal
täglich 0,25g.
Euphyllin 1,0:200. Zweistündlich
einen Eßlöffel voll zu nehmen.
Die beiden letzteren auch als Suppo-
sitorien zu 0,3 g, zwei- bis dreimal täglich.
Es empfiehlt sich Theocin und Euphyllin
höchstens drei Tage hintereinander zu ge¬
ben. Unbedingt zu verwerfen ist die
Anwendung von Kalomel! (Gefahr der
Quecksilbervergiftung!)
Dagegen ist der Liq. Kali acetic. emp¬
fehlenswert (15,0:180,0 zweistündlich ein
Eßlöffel).
Bei hochgradigem Hydrops mit
Höhlenwassersucht und unzureichendem
Erfolg der Behandlung mit Digitalis +
Diureticis ist das am schnellsten wirkende
Mittel die Punktion des Ergusses bzw.
Punktionsdrainage der Haut¬
wassersucht. Auch die Scarification ist
brauchbar: man mache aber nur einen
einige Centimeter langen Einschnitt in
einen Unterschenkel! Strengste Asepsis!
Erysipelgefahr bei Nephritikern!
Die Urämie wird eingeleitet durch
dyspeptische Erscheinungen und nervöse
Reizsymptome (Unruhe, Kopfschmerz,
Gegenwart 1917. März
Übelkeit, Steigerung der Reflexe). Be¬
handlung: Aderlaß 200 bis 250 ccm. Sub-
cutane physiologische Kochsalz- oder
Traubenzuckerlösung — Infusion (4,5%).
Zweckmäßig auch die sogenannten Tropf¬
klistiere. Sogenannte Pseudourämie
(Eklampsie) zeigt vorwiegend central-?'
nervöse Erscheinungen. Aber auch Misch¬
formen. Oft wirkt auch eine Lumbal¬
punktion (gerade bei der sogenannten
Pseudourämie) günstig. Hirnödem im
Sinne Traubes!
Ableitung auf den Darm und angrei¬
fende Schwitzprozeduren (Nephritiker
schwitzen überhaupt schwerer!) vielfach
in Wirkung überschätzt.
Gefahr für das Herz! Kein Pilo¬
carpin!
Beim hydropi sehen Urämiker
werden durch sachgemäße Hautdrainage
— falls Digitalis und Diuretica nicht bald
zum Ziele führen — neben dem Wasser
auch die urämisch-toxischen Substanzen
rasch entfernt! In diesem Sinne kann auch
die von K ü m m e 11 empfohlene Dekapsu-
lation der Niere lebensrettend wirken,
falls alle Mittel der inneren Medizin ver¬
sagt haben.
Bei drohender Urämie scheue
man nicht eine vorübergehende, mehr¬
tägige Unterernährung! Vor allem kein'
Eiweiß geben! Für das Wasserbedürfnis
wird durch Kochsalzinfusionen bzw.
Tropfklistiere, gesorgt.
Als Nahrung bei den ersten Erschei¬
nungen von Urämie nur etwas Milch,
Limonade, Tee mit Zucker, Apfelmus.
Bei .Herzschwäche: Digitalispräparate,
Coffein (intramuskulär). Zur Anregung
der Diurese: Diuretica, eventuell
Diuretin intravenös (20 ccm einer fünf-
prozentigen Lösung). Theocin als Suppo-
sitor; Euphyllin auch intramuskulär. Bei
großer Unruhe und Eklampsie: Morphin;
warme Bäder von 39 bis 40° C.
Es ist in der Rekonvaleszenz auf die
Möglichkeit eines Übergangs der akuten
Glomerulonephritis in eine sogenannte
sekundäre Schrumpfniere zu achten.
(Große Harnmengen, niedriges specifisches
Gewicht, Herzhypertrophie, hebender
Spitzenstoß, akzentuierter zweiter Aorten¬
ton (oft klingend), Hypertonie.
Für die Redaktion verantwortlich Geh, Med.-Rat Prof. Dr. G. Kl emp er er in Berlin. Verlag von Urb an & Schwarzen berg
in Berlin und Wien. Gedruckt bei Julius Sittenfeld, Hofbuchdrucker., in Berlin W8.
Zur Ausfuhr zugelassen! , On imrs
SanUatsamt d. mil. Institute. NUv &U
Nr. 1702 u. 1786 Z. _ _J
Die Therapie der Gegenwart
herausgegeben von
58 t Jahrgang ß e h. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer 4 - Heft
Neueste Folge. XIX. Jahrg. BERLIN April 1917
W 62, Kleiststraße 2
Verlag von URBAN & SCHWARZENBERG- in Berlin N 24 und Wien I
1917 .
Therapie der Gegenwart. Anzeigen.
4. Heft
-- Dieses Heft enthält Prospekte folgender Finnen: -
Kalle & Co., Biebrich, betr.: „Neuronal“. — Calcium-Quellen von Bad Sodenthal u. Bad Sude^ode, betr.: „Siegeslauf der Kalk¬
therapie“. — Urban & Schwarzenberg, Berlin u. Wien, betr.: Neuerschienene medizinische Bücher, Frühjahr 1917.
Die Therapie der Gegenwart
1917
herausgegeben von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer
in Berlin.
April
Nachdruck verboten.
Aus der Frauenklinik der Universität Heidelberg
(Direktor Geb. Hofrat Prof. Dr. Menge).
Die Entwickelung der gynäkologischen Strahlentherapie.
Eymer, Assistenzarzt, der Klinik;
Von Privatdozent Dr. Heinrich
Die gynäkologische Strahlentherapie
ist nur ein kleiner Zweig der in den letzten
Jahren mehr und mehr in den Vorder¬
grund des allgemeinen Interesses vor¬
gerückten Strahlenbehandlung überhaupt.
Dennoch verdient sie aus mancherlei
Gründen, auf die ich später noch ein-
gehen werde, aus dem großen Gesamt¬
gebiet der Strahlentherapie herausgehoben
und gesondert betrachtet zu werden.
Wer sich aber über ihr Wesen und ihre
Entwickelung aussprechen will, muß auch
das Wesen und die Entwickelung der
gesamten Strahlentherapie streifen.
Noch vor wenigen Jahren war eine
Antwort auf die Frage, ob der Wirksam¬
keit der einzelnen Formen der Strahlen¬
behandlung etwas Gemeinsames zugrunde
liege, schwer zu geben. Der damalige
Stand der physikalischen Erkenntnis er¬
laubte es nicht, die einzelnen therapeuti¬
schen Strahlenverfahren unter einem ge¬
meinsamen Gesichtspunkte zu betrachten.
Man subsumierte die Elektro-, Helio-,
Röntgen- und Radiumbehandlung unter
den Begriff Strahlenterapie, weil bei
allen diesen Behandlungsmethoden eine
gewisse Fernwirkung angenommen werden
mußte, die man sich nur durch Strahlung
erklären konnte, ohne daß jedoch die
eigentliche Strahlen- oder Lichtnatur für
alle diese Agentien festgestellt gewesen
wäre. Für das Licht und die Elek¬
trizität war seit Maxwells und Hertz 5
Forschungen als gemeinsame Grundlage
die elektromagnetische Ätherschwingung
vom Wellencharakter erkannt worden.
Die Röntgenstrahlen waren zwar in
ihrem physikalischen Charakter zunächst
noch unaufgeklärt, wenn auch sofort für
sie wegen der von ihnen ausgehenden
Fernwirkungen echte Strahlennatur ver¬
mutet wurde. Sie schienen vorerst nach
ihrer Entdeckung durch ihre wunder¬
baren Eigenschaften nur für die Dia¬
gnostik in Betracht zu kommen. Nach
und nach jedoch beobachtete man die
durcji das neue Agens hervorgerufenen
Schädigungen des Organismus, besonders
der Haut und der Keimdrüsen, bei
Ärzten, Technikern und Röntgenarbeitern.
Auf diesem Wege kam man zu ihrer
therapeutischen Verwendung und reihte
die Röntgenbehandlung in die Strahlen¬
therapie ein. Von Strahlen hatte schon
Röntgen gesprochen, wenn es ihm auch
zunächst nicht möglich war, die Licht-
na.tur zu beweisen. Denn die X-Strahlen
zeigten weder Interferenz noch Reflexion.
Schon in seiner ersten, im Dezember 1895
erschienenen Schrift sagt Röntgen, ,,daß
er nach Interferenzerscheinungen der
X-Strahlen viel gesucht habe, aber leider,
vielleicht nur infolge der geringen Inten¬
sität derselben, ohne Erfolg“.
Lange Zeit standen sich in der Er¬
klärung des Wesens der Röntgenemission
zwei Theorien gegenüber; die eine
nahm eine Ausschleuderung von Cor-
puskeln an, die durch den Raum ge¬
wissermaßen hindurchspritzen sollten, wie
sich ein Teilchen eines Wasserstrahles von
der Ausfluß- bis zur Aufschlagstelle fort¬
bewegt; die andere vermutete, daß es
sich um echte Ätherschwingungen handle.
Man war jedoch nicht imstande, Inter¬
ferenz oder Beugung nachzuweisen, die
die Ätherwellennatur der Röntgenstrahlen
bewiesen hätten. Die Beweismöglichkeit
der Interferenz scheiterte an der Kürze
der Wellen. Es ließ sich kein passendes
Beugungsgitter künstlich herstelien.
Da kam v. Laue auf die geistreiche
Idee, zum Nachweis der Interferenz die
Raumgitterstruktur der Atome zu ver¬
wenden, die in der Kristallographie schon
lange angenommen wurde. Friedrich
und. Knipping führten die Versuche aus.
Die Interferenz des Röntgenlichtes ließ
sich auf diesem Wege durch wunderbare
Bilder beweisen. Dann wurde auch von
Bragg und Barkla Reflexion der Rönt¬
genstrahlen festgestellt. Hiermit
mußten auch die X-Strahlen dem
Spektrum der elektromagnetischen
Ätherschwingun.gen einverleibt
werden. Alles- sprach dafür, daß auch
die penetranteste Strahlung, nämlich die
Gammastrahlung der radioaktiven Sub¬
stanzen in dieses Spektrum gehöre. In
16
i
122 , Die Therapie der Gegenwart .1917. , 1 ÄpSl
jüngster Zeit gelang es auch tatsächlich
Rutherford und Andrade, bei der
Strahlung des Radiums B Interferenz nach-
zuweisen. Diese Emission ist allerdings
längerwellig als diejenige des in der Thera¬
pie Verwendung findenden Radiums C.
Wir sind also jetzt imstande, den
Namen Strahlentherapie allen jenen
physikalischen Behandlungsmethoden zu
geben, bei denen elektromagnetische
Ätherschwingungen die Haupt- oder ein¬
zige Rolle, spielen.
ln dies Gebiet gehört nun aber eine
große Anzahl von außerordentlich ver¬
schiedenen Behandlungsverfahren, die,
soweit sie den längerwelligen Abschnitt
des Spektrums betreffen, für die Gynä¬
kologie als Spezialgebiet kaum in Be¬
tracht kommen, von denen sie in einzelnen
Fällen allerdings auch Nutzen zieht.
Aus dem Gesamtgebiete will ich nur
kurz einige Anwendungsformen aufzählen.
Zunächst erwähne ich die allgemeinen
elektrischen Behandlungsmetho¬
den, z. B. die Faradisation, ferner die
Anwendung hochgespannter und
h ochf requenter Wechselströme, die uns
besonders durch die Arbeiten von Tesla
vermittelt wurden, und die, außer in der
Arsonvalisation, auch in der Ful-
guration, der Hochfrequenzfunkenbe¬
handlung, Verwendung findet. Hierher
gehört auch die Diathermie oder Ther-
mopenetration, die ein Verfahren dar¬
stellt, bei dem durch zirka drei Millionen
Schwingungsperioden in der Sekunde im
Gewebe Joulesche Widerstandswärme
erzeugt wird. Allgemein bekannt ist die
Wärmestrahlungstherapie. Weiter
kommen im Spektrum nach der kürzer-
welligen Seite hin das sichtbare Licht
und daran anschließend das Ultra¬
violettlicht. Beides zusammen findet
in der Heliotherapie seine Anwendung,
wenn auch bei letzterer noch eine ganze
Menge anderer Faktoren (Luftdruck,
Temperatur, Ozongehalt und besondere
Ionisierungsverhältnisse der Luft durch
die Radioaktivität usw.) neben dem
eigentlichen Licht in Rechnung zu ziehen
sind. Das Ultraviolettlicht ist das
Hauptagens in der Bogenlichtbehand¬
lung, die Finsen einführte, der frühzeitig
die bactericide, entzündungerre¬
gende und pigmentbildende Wirkung
dieses Lichtes erkannt hatte. Eine - ex¬
quisite Ultraviolettstrahlung haben
wir auch in den verschiedenen Formen
der Quarzlampen, die heute weit¬
gehende Verwendung finden, vör uns.
Alle diese, nach absteigender Wellen¬
länge aufgezähiten Strahlungen kommen;
wie gesagt, für spezielle gynäkologische
Fragen kaum in Anwendung.
Aus praktischen Gründen empfiehlt es
sich, aus dem gesamten Gebiete der
Strahlenbehandlung einen besonderen Be¬
zirk, die Strahlentherapie i.n e.ngerem
Sinne, abzugliedern. Diese bedient sich
nur des Abschnittes des Spektrums, der
mit seinem sichtbaren Teile beginnt und
nach der Seite der kürzeren Wellen ver¬
läuft.
Ein Teil dieser Strahlentherapie im
engeren Sinne ist die gynäkologische
Strahlentherapie, die sich speziell mit
solchen Strahlungen beschäftigt, die fähig
sind, eine dauernde Wirkung in der
Tiefe hervorzurufen, entsprechend der
Tiefenlage der in der Gynäkologie zu be¬
einflussenden Organe. Es handelt sich
dabei besonders um Uterus und Ovarien.
Eine ausreichende Tiefenwirkung haben
nun aber lediglich die kürzestwelligen
Lichtarten, wie wir sie im'Röntgenlicht
und in der Gammastrahlung der
radioaktiven Substanzen vor uns
haben.
Die Röntgenstrahlen wurden vor den
Gammastrahlen entdeckt und die Rönt¬
gentherapie ist, besonders in Deutschland,
älter als die Behandlung mit radioaktiven
Substanzen, während in Frankreich und
Amerika beide Behandlungsarten schon
lange Zeit nebeneinander gepflegt wurden.
Ich will im folgenden versuchen, über
die Röntgenstrahlentherapie und die Be¬
handlung mit radioaktiven Substanzen in
der Gynäkologie einen getrennten Über¬
blick zu geben, obwohl beide Anwen¬
dungsformen in der späteren Zeit ihrer
Entwickelung öfter Parallelen aufweisen
und sich gegenseitig befruchtet haben.
Die ersten gynäkologisch-therapeuti¬
schen Maßnahmen mit Röntgenstrahlen
waren rein tastender Natur. Sie fanden bei
Patientinnen statt, die an starken Myom¬
blutungen litten, und aus irgend welchen
Gründen nicht operiert werden konnten.
Es wurde durch eine Einfallspforte ohne
besondere Filterung des Röntgenlichtes
bestrahlt. Nach sehr vielen Sitzungen
gelang es, die Blutungen herabzumindern
und den Kräftezustand der ausgebluteten
Frauen zu heben. Man war sich zu¬
nächst nicht klar darüber, wie diese
günstige Wirkung zustande kam.
Die Versuche einer wissenschaftlichen
Begründung der Myomtherapie durch
Röntgenstrahlen begannen erst 1905 durch
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Aprjl
Untersuchungen der Ovarien röntgeni-
sierter Tiere. Diese Experimente waren
-im ; Hinblick auf Albers-Schönbergs
.Feststellung der tierexperimentellen Te-
stikelschädigungen durch Röntgenlicht
angestellt worden, Versuche, die aus dem
Jahre 1903 stammten und aus denen auch
sofort schon, vielleicht etwas übereilig,
praktische Konsequenzen gezogen worden
waren durch Sterilisierung tuberkulöser
Männer mit Röntgenlicht. *
Weibliche Kaninchen wurden mit
Röntgenlicht bestrahlt. Nachher wurden
die Eierstöcke der Tiere untersucht. Es
-konnte Degeneration der Graafschen
Follikel festgestellt werden.
Derartige Experimente wurden dann
von den verschiedensten Forschern vor¬
genommen und nach und nach konnte
dargetan werden, daß sich alle Abschnitte
des tierischen Eierstockes durch die
X-Strahlen beeinflussen lassen, wenn auch
in verschiedenem Grade, das Parenchym
und besonders die Eizelle sehr stark, das
Stroma nur wenig.
Es lag in der Schwäche, das heißt der I
wenig penetranten Strahlung der Rönt¬
genröhren der Anfangszeit der gynäkologi- |
sehen Bestrahlung, begründet, daß bei
größeren Versuchstieren zunächst keine !
Veränderung an den Eierstöcken erzielt
werden konnte, weshalb auch zuerst eine
Beeinflussungsmöglichkeit des mensch¬
lichen Ovariums in Zweifel gezogen
wurde; doch auch diese Frage wurde nach
und nach in positivem Sinne entschieden,
als es möglich war, Röhren mit stärkerer
Belastung und härterer Strahlung zu be¬
treiben, besonders nachdem die Wasser¬
kühlung der Antikathode eingeführt wor¬
den war.
Zahlreich sind auch die Versuche, die
sich mit der durch Röntgenstrahlen ver¬
ursachten Schädigung der Embryonen
innerhalb des Uterus des Muttertieres
befassen, ebenso mit der Beeinflussung
tierischer Eier durch dasselbe Licht.
Man kam zu der jetzt allgemein an¬
genommenen Auffassung, daß eine
schwere Schädigung, ja sogar eine Ab¬
tötung der Embryonen im Uterus bei ge- I
nügend langer Bestrahlung gelingt, daß
bei Belichtung von Eiern die spätere Ent¬
wickelung des Tieres stark pathologisch
verändert, wenn nicht unmöglich ge¬
macht wird.
Diese Experimente sind von großer
praktischer Bedeutung. Es kann der
Fall eintreten, daß durch therapeutische
Bestrahlung die Eizelle eines Follikels,
123
vielleicht eines jüngeren, erst heran¬
reifenden, nur geschädigt, nicht aber voll¬
kommen vernichtet wird. Ein solches Ei
ist, wie auch experimentell dargetan
wurde, befruchtungs- und entwickelungs¬
fähig. Es resultiert dann ein schwer ge¬
schädigter Embryo. Ins Praktische über¬
setzt würde das heißen, daß man bei
Bestrahlungen von myomatösen und an
gutartigen Blutungen leidenden Frauen
immer vollkommene Vernichtung der
Ovarialfunktion anstreben soll, also
Amenorrhoeiund nicht nur Ölig omenorrha.
Auf Grund von Ovarialbelichtung
wurde auch die röntgenologisch allgemein
wichtige Tatsache festgestellt, daß eine
große Röntgendosis, auf einmal ver¬
abreichen, einen größeren Effekt hat, als
verzettelte kleinere Dosen, wenn letztere
auch zusammen genommen dieselbe In¬
tensität ergeben.
Die Frage nach der Regeneration
röntgengeschädigter Follikel war noch zu
beantworten. Eine Regeneration der
einmaldestruiertenFollikelexistiert nicht.
Wohl aber besteht eine Regeneration der
ovariellen Funktion, weil bei Bestrahlen
mit geringeren Dosen bis dahin nicht ge¬
schädigte Primärfollikel heranreifen
können.
Die Erforschung der Beeinflussung der
Ovarien durch X-Strahlen wurde durch
die Untersuchungen menschlicher be--
röntgter Eierstöcke vorläufig abge¬
schlossen.
Reifferscheid konnte 1910 über
sechs menschliche Ovarien berichten, die
vor der Exstirpation dem Röntgenlicht
ausgesetzt waren. Übereinstimmend fand
sich bei der mikroskopischen Unter¬
suchung aller dieser Ovarien eine voll¬
kommene Degeneration aller Primär¬
follikel. In der Eizelle, die selbst ge¬
schrumpft war, war das Keimbläschen
nicht mehr erkennbar. An Stelle der Ei¬
zelle finden sich oft nur hyaline Schollen.
Auch größere Follikel zeigten alle Stadien
der Degeneration, Pyknose, Kernquellung,
Kernschrumpfung, schlechte Färbbarkeit.
In den Graafschen Follikeln waren ähn¬
liche Veränderungen wahrnehmbar.
Ich selbst konnte bei der Unter¬
suchung der Ovarien von sieben röntgeni-
sierten Frauen die gleichen Zerstörungen
feststellen und auch Gefäß-Endothel¬
schädigungen im Stroma nachweisen.
Eine ausgesprochene Veränderung des
Gewebes des Uterus oder der Tube ebenso
wie des Myomgewebes wurde niemals ge¬
funden, wenn auch einige Autoren über
16*
124
Die Therapie der Gegenwart 1917.
’Gefäßendotheldegeneration in diesem Ge¬
webe berichten. Es scheint mir jedoch
kein Zweifel zu bestehen, daß besonders
rasch wachsende und zellreiche'
Myome auch von den Röntgenstrahlen
direkt beeinflußt werden, wenn aüch
eine derartige Schädigung nur schwer
nachzuweisen ist. • Die im, Gefolge von
Ovarialbestrahlung auftretende Atrophie
des gesamten Genitalien ist sekundärer
Natur und hat mit der. Bestrahlung als
solcher direkt nichts zu tun. * '
Bei der Beobachtung der zahlreich
vorgenommenen gynäkologischen Rönt¬
genbestrahlungen zeigte sich immer mehr
die außerordentliche Beeinflußbar¬
keit des Ovariums, die der gynäkolo¬
gischen Röntgentherapie hauptsächlich
zu ihrer Sonderstellung verholten hat.
Dieser Umstand ist von grundlegender
Bedeutung: denn auch heute noch
besteht die hauptsächlichste Domäne
gynäkologischer Röntgentherapie in der
Beeinflussung solcher Erkrankungen, die
mit dem Eierstockstoffwechsel Zusammen¬
hängen, also der Myomatosis uteri und
der sogenannten Metropathia haernor-
rhagica, einer zu starken endokrin be¬
dingten Uterusblutung.
Auf diesem Gebiete hat die Röntgen¬
therapie. allerdings Erfolge aufzuweisen,
wie wir sip in anderen röntgentherapeuti¬
schen Spezialgebieten vergeblich suchen.
Damit hing es nun auch zusammen, daß
in der nächsten Zeit die Myom- und
Metropathietherapie im Vordergründe des
Interesses stand und daß gerade von
gynäkologischer Seite die - Röntgentiefen-,
therapie eine ganz besondere Ausbildung
erfuhr, die zunächst anderen gynäkolo¬
gischen Gebieten, dann aber auch der
gesamten Strahlentherapie zu großem
Vorteil gereichte.
Mittlerweile waren wichtige röntgen¬
biologische Tatsachen festgestellt worden.
Die Zellen des lebenden Organismus re¬
agierten sehr verschieden auf das Röntgen¬
licht. Manche Zellen verhielten sich
refraktär gegen die Strahlen, andere
wieder waren äußerst sensibel. Es zeigte
sich, daß eine ungewöhnlich große Sen¬
sibilität bei Zellen besteht, die besonders
lebhaften Stoffwechsel aufweisen, bei
denen sich also die Zellteilung rasch voll- |
zieht. Diese Vorgänge finden wir be- j
kanntlich bei solchen Zellen, die morpho- >
logisch wenig differenziert sind und deren j
Funktion noch nicht fixiert ist, also bei
embryonalen, jungen oder auch Tumor¬
zellen. Aus diesen wichtigen Tatsachen
April
erklärt sich der Umstand, daß in der
Tiefe gewisse Gewebe oder Organe
(Ovarien, Tumoren) durch die Strahlen
geschädigt werden können, während die
sie überdeckenden Schichten gar nicht
oder kaum durch das gleiche Agens
alteriert werden.
Während die ersten Bestrahlungen
lediglich als einfaches Probieren zu be¬
trachten waren, wurde allmählich die
Myom- und Metropathietherapie systema¬
tisch und nach einer bestimmten Technik
vorgenommen. Diesen Umschwung her¬
beigeführt zu haben, ist das unbestreitbare
Verdienst von Albers-Schönberg in
Hamburg, der 1909 eine bestimmt aus¬
gearbeitete Technik angab und schon über
die ersten Erfolge berichten konnte. Ich
will auf die rein technischen Fragen nicht
näher eingehen. Wenn Albers-Schön¬
berg auch schon die Angabe machte,
daß man mit den härtesten Röhren
arbeiten müsse, so bestrahlte er doch
noch fast ganz ohne Filterung. Er ver¬
wandte nämlich nur Sohlem oder Wild¬
leder als Filter. Es handelte sich also
immerhin noch um eine Therapieform,
die nicht ganz die Bezeichnung TieTen-
therapie verdiente. .
Aber es ist unbestritten, daß mif
dieser Technik zunächst gute Erfolge,
wenn auch erst nach langer Behandlungs¬
dauer, erreicht wurden.
Die weiteren Bestrebungen gingen
dahin, die Tiefendosis unter Schonung
der Haut zu vermehren.
Die Strahlen, die aus einer Röntgen¬
röhre herauskamen, waren „komplex“,
das heißt sie enthielten ein Strahlen¬
gemisch, also neben den in die Tiefe
dringenden, therapeutisch wertvollen
„harten“, kürzerwelligen Strahlen auch
noch „mittelharte“, „mittelweiche“ und
„weiche“. Letztere hatten sogar das
Übergewicht. Die Intensität konnte
nicht durch Verlängerung der Bestrah¬
lungszeit gesteigert werden, da dieweichen
Strahlen ui der Haut absorbiert wurden
und bei Überschreitung der sogenannten
„Erythemdosis“ Schädigungen verschie¬
denen Grades hervorriefen, während die
Lichtintensität in der in Frage kommen¬
den Tiefe von ungefähr 6 bis 10 cm ver¬
schwindend gering war, der „Dosen¬
quotient war ungünstig“.
Ein wesentlicher Fortschritt, eigent¬
lich der Beginn der Tiefentherapie, war
es, als man die von Perthes angegebene
Filterung mit 1 mm dickem Aluminium
einführte. Nach und nach stellte sich
125
.April 'Pie Therapie
hieraus, .besonders durch die Unter¬
suchungen von Gauss und Lembcke,
'daß die günstigsten Bedingungen durch
ein 3 mm dickes Aluminiumfilter gegeben
•waren. Dadurch wurden die , weichen
Strahlen abgefangen und die harten
Strahlen durchschlügen die Haut, um in
•der Tiefe zur Absorption zu gelangen.
Die sogenannte „specifische Homogenität“
•der Strahlung war erreicht.
Natürlich war die Gesamtintensität
•der Strahlung durch die Filterung ge¬
ringer geworden. Um die Behandlungs¬
zeit nicht unnötig verlängern zu müssen,
ging man an die Verbesserung der Ap¬
paratur durch den Bau von Instrumenten,
•die größere Energiemengen abzugeben
imstande waren. Die Induktoren wurden
-so- gebaut, daß sie zusammen mit den
•ebenfalls verbesserten Unterbrechern eine
„härtere“ Stromkurve ergaben, sie wurden
durch Trennung der sekundären von der
primären Wickelung einer Luftkühlung
zugänglich gemacht, die manchmal noch
dadurch intensiver gestaltet wurde, daß
ein Pulsionsventilator, mit dem Unter¬
brechermotorgekuppelt, die Luft zwischen
•seinen beiden Wickelungen durchtrieb.
Die Röhrenantikathode wurde verstärkt,
besondere Kühlvorrichtungen wurden an
ihr angebracht, damit die beim Aufprall
der Kathodenstrahlen entstehende Hitze
leichter abgeführt werden konnte. Zur
Schonung der Antikathode der Röntgen¬
röhre wurden Zusatzunterbrecher in den
Primärstrom eingeschaltet, die den Strom
in der Minute 60 bis 1-00 mal ausschalteten
und so einer Überhitzung des Anti¬
kathodenplatins vorbeugten. Schließlich
war eine starke Belastung der Röhren
und ganzen Apparaturen möglich und
damit eine Steigerung der Intensität der
harten Strahlung erreicht.
Man konnte sogar bei derart hartem
Röntgenlichte ohne Schädigung der Haut
die drei- bis vierfache Erythemdosis ver- S
abreichen.
Um noch weiter die Tiefendosis zu
vergrößern, wurde die Zahl der Einfalls¬
pforten des Lichtes von einer auf 6, 10,
ja 20 vermehrt, wobei der Centralstrahl
möglichst auf das zu beeinflussende Ge¬
webe eingestellt wurde-.
.Man brauchte sich auch bei derartigen
Apparaturen nicht vor dem nahen Ab¬
stand der Antikathode von der Haut -zu
scheuen. Das war wieder ein Gewinn,
wenn man bedenkt, daß das Licht bei
Centralprojektion mit dem Quadrate der
Entfernung abnimnrt. !
Gegenwart 1917.
Alle diese nach und nach hervor¬
tretenden Neuerungen wurden so gut wie
ausschließlich an gynäkologischen Kli¬
niken ausprobiert und ' kamen zunächst
myom- und metropathiekranken Frauen
zugute.
' Neben diesen grundlegenden Fort¬
schritten spielen die Verfahren der Sen¬
sibilisierung der Tumoren und der De¬
sensibilisierung der Haut eine durchaus
untergeordnete Rolle.
Es gelang schließlich, durch einige
wenige Bestrahlungen die Ovarialfunktion
auszulöschen und damit Amenorrhö und'
bei myomkranken Frauen Schwinden oder
Kleinerwerden der Tumoren herbeizu¬
führen.
Bei richtiger Diagnostik und An¬
wendung der eben beschriebenen Technik
. erlebte man tatsächlich keine refraktären
Fälle von Myomatosis oder Metropathia
hämorrhagica mehr.
Während in der ersten Zeit der Myom¬
therapie ziemlich kritiklos alle Fälle einer
Bestrahlung unterzogen wurden, bildete
sich nach und nach eine regelrechte In¬
dikationsstellung für die Bestrahlung
heraus. Sie entsprang nicht aus der Tat¬
sache, daß es technisch etwa unmöglich,
wäre, gewisse Formen von Myomen,
sagen wir sehr junger Frauen, deren
Ejerstockgewebe resistenter erscheint,
durch Herbeiführung der Amenorrhoe zu
heilen. Denn wir sind tatsächlich im¬
stande, auch die jüngsten Frauen durch
Röntgenlicht von jeglicher Blutung zu
befreien. Ich möchte von einer genauen
Angabe der Indikationsstellung absehen
und nur auf den Umstand aufmerksam
machen, wie segensreich das Röntgen¬
verfahren bei solchen Patientinnen ist,
bei denen eine Kontraindikation gegen
die Operation besteht, z. B. bei hoch¬
gradiger Anämie, bei schweren organi¬
schen Herzfehlern, bei Diabetes mellitus,
bei chronischer Nephritis, chronischen
Lungenerkrankungen und bei Schild¬
drüsenaffektion mit Herzerscheinungen.
Durch die großen Bestrahlungserfolge
I bei Myomen und Metropathien wurden
biologisch. außerordentlich interessante
Aufschlüsse gegeben in bezug auf das
Wesen dieser beiden Erkrankungen. Es
wurde nämlich die Theorie, daß beide in
hohem Maße von dem Eierstockstoff¬
wechsel abhängig sind, weiter gestützt.
Auch Patientinnen' mit Dysmenorrhö
wurden der Röntgenbestrahlung unter¬
zogen. An der Heidelberger Frauenklinik
i verfügen wir nur über geringe Erfahrung
126
Die Therapie der Gegenwart 1917.
auf diesem Gebiete, da wir uns theore¬
tisch nicht damit befreunden konnten,
ein nicht voll geklärtes Krankheitsbild
nach strengem Schema zu behandeln.
1912 machte ich den Versuch, Frauen
mit entzündlichen (gonorrhoischen, tuber¬
kulösen) Adnextumoren, die mit stärkeren
adnexeilen ‘Blutungen einhergingen,
mit Röntgenlicht zu behandeln. Die Re¬
sultate waren relativ gut. Sie sind so zu
erklären, daß nach Aufhören der in
Intervallen auftretenden Hyperämie der
Unterleibsorgane endlich die entzünd¬
lichen Prozesse zur Abheilung kamen,
was vorher nicht möglich gewesen war.
Eine direkte Beeinflussung im Sinne der
Abtötung der Bakterien durch das Rönt¬
genlicht ist nicht anzunehmen. Ich konnte
mich durch eigene Versuche davon über¬
zeugen, daß die Abtötung von Bakterien
durch Röntgenbelichtung wohl möglich
ist, daß man aber dazu viel größere
Lichtintensität braucht als man jemals
therapeutisch anwenden kann.
An zwei Ovarialtumoren, einem soliden
Sarkom und einem benignen Kystadenom,
konnte ich zeigen, daß auch große Ovarial-
neubildungen einer Beeinflussung durch
das Röntgenlicht' zugänglich sind. Die
Therapie der Wahl dürfte bei Ovarial-
neubildungen jedoch vor der Hand eine
operative bleiben.
Kurz erwähnt sei noch, daß auch
Affektionen der Vulva, wie Pruritus und
Kraurosis mit Röntgenstrahlen behandelt
wurden,, und zwar wie es bei der sehr
verschiedenen Ätiologie nicht anders zu
erwarten war, mit sehr verschiedenem
Erfolge.
Es wurden auch mehrfach osteoma-
lacische Frauen, bei denen die Kastration
bekanntlich zur Heilung führt, mit Rönt¬
genstrahlen erfolgreich therapeutisch an¬
gegriffen.
Dieselbe Lichtart wurde auch ver¬
wandt, wenn aus irgend welchen Gründen
die Sterilisierung einer Frau an¬
gezeigt war. Doch darf dies Verfahren
nicht als zweckmäßig bezeichnet werden,
da man tatsächlich keine Sterilisierung,
sondern eine Kastration vornimmt, die
immer mit einer Reihe von Ausfalls¬
erscheinungen einhergeht, die man der
Patientin ersparen kann, wenn man die
tubare Sterilisierung vornimmt.
Auch die Aborteinleitung durch
Röntgenstrahlung, fußend auf den oben
erwähnten Tierexperimenten, ist ein
schlechtes Verfahren, das wohl kaum
mehr angewandt wird.
Aprtt
Auf die Carcinombeha'ndlung
möchte ich bei Besprechung der Radium¬
therapie in der Gynäkologie eingehem
Denn in der Zeit der Entwickelung der
isolierten Röntgenstrahlenbehand¬
lung kann man kaum von einer systema¬
tischen Carcinombestrahlung mit Rönt¬
genlicht sprechen, wenn auch schon durch
enorm hohe Röntgenlichtdosen über einige¬
günstige Beeinflussungen berichtet wurde.
Durch alle Beobachtungen war es
offenbar geworden, daß die günstigste
Strahlung zur Beeinflussung an und für
sich radiosensibler Zellen die aller¬
härteste sei. Man ging daher zur Be¬
handlung mit radioaktiven Substanzen
über, da deren Strahlung noch bedeutend
penetrationsfähiger als das härteste Rönt¬
genlicht ist. Auch auf diesem Gebiete,,
dem der Bestrahlung mit radioaktiven
Substanzen, wurde in Deutschland zu¬
erst von gynäkologischer Seite syste¬
matisch vorgegangen.
Kurz nur einige Vorbemerkungen.
Becquerel hatte 1896 bei seinen
Studien über die Fluoreszenzerschei¬
nungen die Strahlung des Urans, die
Gammastrahlung, entdeckt. 1898 ent¬
deckte das Ehepaar Curie das Radium.
Schon im Jahre 1900 wurde man auf die
Beeinflussung der Haut mit Radium auf¬
merksam. Die erste therapeutische An¬
wendung des Radiums geschah 1901
durch'Danlos, der Hauttuberkulose mit
Radiumlicht erfolgreich behandelte.
In den nächsten Jahren hörte man
noch nichts von systematischer Radium¬
strahlentherapie, wenn auch zahlreiche
Einzelbeobachtungen mitgeteilt wurden.
Gynäkologische Affektionen wurden seit
1905 mit Radium behandelt. 1905 näm¬
lich wurden aus Amerika Erfolge bekannt,
die bei Collumcarcinomen des Uterus mit
Radiumlicht erzielt waren. Im übrigen
trieb man mit dem Radium in den näch¬
sten Jahren eigentlich nur Oberflächen¬
therapie, besonders da auch noch die
Autorität Beel eres die Meinung befestigt
hatte, daß sich die Radiumstrahlung
lediglich zur Hautbehandlung eigne.
Vom Jahre 1906 ab datiert der Aus¬
bau der allgemeinen Radiumbestrahlungs¬
technik durch französische Forscher.
Mit die ersten Erfolge auf gynäko¬
logischem Gebiete wurden bezeichnender¬
weise bei myomatösen Uteri erzielt, in
deren Cavum Aluminiumröhrchen, die
Radium enthielten, eingebracht waren.
Die Blutungen wurden geringer und die
Geschwülste kleiner-.
April
127
Die Therapie der
= \ -
1907 machte die Radiumtherapie einen
gewaltigen Fortschritt. Dominici wies
nach, daß die von ihm als „ultrapene¬
trierend“ bezeichnete Strahlung die bio¬
logisch wirksamste sei. Er suchte diese
„Ultrapenetranz“ der Strahlen dadurch
zu erzielen, daß er die übrige Emission
durch y 2 mm dickes Blei abfilterte. In
seiner Bahn schritten Wickham und
Degrais weiter, die eine noch stärkere
Filterung von 2 bis 3 mm Blei in An-
wendnug brachten, wodurch sich sofort
» die Erfolge a,uf allen möglichen Ge¬
bieten und auch bei der Behandlung von
Uterushals-Carcinomen besserten.
Die Bestrahlung geschah zunächst nur
mit geringen Substanzmengen.
Als ein neuer Fortschritt ist' die Me¬
thode der Behandlung mit sogenannten
massiven Dosen zu betrachten, die
im wesentlichen von Cheron und Ru-
bens-Duval eingeführt wurde. Zu einer
Bestrahlung, die mit starkem Filter aus¬
geführt wurde, wurden mindestens 200 mg
Substanz genommen, während man vor¬
her mit Mengen von 5, 10, 20 mg aus¬
zukommen suchte. Dementsprechend
wurden, besonders wieder, von französi¬
scher Seite, aus den Jahren 1911 und 1912
zahlreiche gute Resultate bei Collum-
carcinom bekannt.
Ausdrücklich wurde vor sogenannter
Scheinbehandlung gewarnt, worunter
eine Bestrahlung mit zu geringen Mengen
zu verstehen ist, die durch die Reiz¬
wirkung auf die Tumorzellen mehr schadet
als nützt.
Zur selben Zeit fehlte es in Frankreich
wie auch in anderen Ländern nicht an
Stimmen, die vor der Radiumtherapie
auf das entschiedenste warnten. '
Ein weiterer Fortschritt war die An¬
wendung des Kreuzfeuerverfahrens,
die gleichzeitige Bestrahlung eines Ge¬
bildes von mehreren Stellen aus.
Für die deutsche Strahlentherapie be¬
deutete die Entdeckung des Mesothoriums
durch Hahn 1907 einen großen Gewinn;
es wurde, als man in Deutschland in aus¬
gedehnterem Maße sich der radioaktiven
Substanzen zu Heilzwecken bediente, das
Mesothorium entschieden bevorzugt. Bis
1912 ist jedoch zunächst keinerlei aus¬
gedehntere Verwendung von den Strahlen¬
substanzen in der Gynäkologie bei uns
gemacht worden, wenn auch aus mancher¬
lei anderen Gebieten Publikationen er¬
schienen, die über Erfolge berichteten.
Ein klares Urteil über die Leistungsfähig¬
keit der Radium- und Mesothoriumstrah¬
Gegenwart 1917.
lung konnte man sich kaum bilden, da
die meisten früheren Radiotherapeuten
Mischtherapie trieben, erst operierten,
dann bestrahlten unter Mitverwendung
irgendwelcher Chemotherapie. Die Be¬
handlung mit Strahlensubstanzen in
Deutschland kam erst richtig in Fluß
nach dem Hallenser Gynäkologenkongreß
1913, auf dem von Bumm, Doederlein
und ganz besonders von Krönig und
Gauss wichtige Mitteilungen gemacht
wurden. Man hatte die Errungenschaften
der französischen Forschungen alle über¬
nommen. Besonders sei hier nochmals
erwähnt die Methode der ultrapenetrie¬
renden Strahlen, die Anwendung massiver
Dosen, die starke Filterung und das
Kreuzfeuerverfahren.
Zu dieser Zeit waren die experimentell¬
biologischen Forschungen auf dem Ge¬
biete der gynäkologischen Röntgen¬
bestrahlung so gut wie abgeschlossen,
weshalb man auf die gynäkologischen Be¬
strahlungen mit radioaktiven Substanzen
kurzweg alles dort Gefundene übertrug,,
obwohl experimentelle Untersuchungen
der Wirkung radioaktiver Substanzen
noch ausstanden.
Man übertrug damit auch alle ' Er¬
fahrungen aus der Röntgentherapie auf
die Mesothoranwendung, die ganz ähn- '
liehe Bahnen gegangen war wie die
französische Radiumtherapie. Man be¬
nutzte gleich von vornherein größere
Dosen als in Frankreich und machte
außerdem von der’ Vielfelderbestrahlung
weitestgehende Verwendung. Durch An¬
gabe eines wirklich brauchbaren Instru¬
mentariums durch G.auss wurde eine
systematische Anwendung der radioak¬
tiven Substanzen in der gynäkologischen
Therapie ermöglicht.
Zunächst bestrahlte man noch nach
dem Vorgänge von Gäuss aus nächster
Nähe, und erst allmählich wurde man
auf den Wert der Abstandbestrahlung
aufmerksam, durch die eine größere ört¬
liche Homogenität der Strahlung herbei-'
zuführen war. ' In den letzten Jahren
spielte auf allen Kongressen die Therapie
mit radioaktiven Substanzen eine große
Rolle. Im allgemeinen finden sich immer
mehr Stimmen aus allen Lagern, die für
diese Therapie sind.
Eine Frage ist besonders interessant,
nämlich die der Berechtigung der Be¬
handlung operabler gynäkologischerCar-
cinome durch Strahlen. Die Münchner,
Freiburger und Heidelberger Frauen¬
klinik stehen seit fast vier Jahren auf
128 Die Therapie der
dem Standpunkte, daß auch die operablen
gynäkologischen Carcinome mit Strahlen
behandelt werden sollen. Es gilt da. der
Satz, daß eine Affektion, die der einen
Behandlungsart günstige Chancen bietet,
meistens auch für die andere Behand¬
lung am geeignetsten ist. Das ergibt sich
auch aus folgender Betrachtung:' Von
' 100 Frauen, die wegen Collumcarcinom
ärztliche Hilfe suchen, können im gün¬
stigsten Falle 60 bis 70 operiert werden.
Es werden also sofort bei operativer In¬
angriffnahme dieser Krebse 30 bis
40 Frauen ihrem Schicksal überlassen.
Die primäre Operationsmortalität beträgt
15 bis 25%, die Dauerheilung jedoch
auch nur etwa 25 %. Wir kommen also
auf eine absolute Heilungsziffer von 6 bis
9%. Das ist erschreckend wenig, und
wir wissen jetzt schon sicher, daß die
Resultate mit der Bestrahlung min¬
destens nicht schlechter sind, da zu¬
nächst alle Frauen behandelt werden
können, außerdem jede primäre Mor¬
talität wegfällt, endlich aber die
Dauerresultate der Bestrahlung bei gün¬
stigen Fällen'nicht schlechter sind als bei
der Operation.
Eine einheitliche Technik hat sich
noch nicht herausgebildet. Besonders
harrt die Filterfrage ihrer endgültigen
Lösung. Mir scheint es, als ob eine ein¬
heitliche Filterung überhaupt nicht in
Frage käme, als ob vielmehr bei ver¬
schiedenen Carcinomen und in verschie¬
denen Stadien der Krankheit und der
Behandlung mit den Filtern gewechselt
werden müsse. Besonders spielt bei der
Filterung die Frage der sekundären
Strahlung eine große Rolle, sicher eine
bedeutendere, als man im allgemeinen
annimmt, und als man aus der Röntgen¬
technik gewohnt ist. Das scheint mir
darauf hinzuweisen, daß die Sekundär¬
strahlung sehr harter primärer Strahlung
und damit die prinzipielle Anwendung
allerhärtester Strahlung von größter Wich¬
tigkeit ist.
Eine Eichung der Präparate, die von
verschiedenen Seiten vorgeschlagen wurde,
ist ein Verfahren von zweifelhaftem Wert,
da sie sich eigentlich nur auf die Haut be¬
ziehen läßt. Außerdem wären Eichungen
für Vagina, Darm und Blase ebenso nötig
als solche für die Haut. Auch die Eichung
für die Geschwulstzellen, also die Fest¬
stellung einer sogenannten ,,Krebsdosis“,
ist nicht gut möglich, da sie an der biolo¬
gischen Differenz der Tumoren scheitert.
Denn bei genau gleicher Behandlung und
Gegenwart 1917. ' April
bei scheinbar genau gleichartigen Tumoren
erlebt man äußerst verschiedene Resultate,
ein Umstand, der nur auf die biologische
Verschiedenheit der Tumoren zurück¬
geführt werden kann, die sich allerdings
weder mikroskopisch noch durch andere
Untersuchungsmethoden * fassen läßt.
Jedenfalls läuft in der Technik alles
darauf hinaus, möglichst große Mengen
(mehrere 100 mg Substanz) zu verwenden,
da die Intensität der radioaktiven Körper
verhältnismäßig gering ist. Außerdem
wird immer mehr eine Abstandsbe¬
strahlung in Betracht kommen, da die
örtliche Homogenität dadurch größer und
die Gefahr geringer wird, wofür allerdings
große Substanzmengen nötig sind. Neuer¬
dings verwendet man wieder mehr die
hochatoniigen Metalle sowohl zur Fil¬
terung wie auch zur Einfüllung in Hohl¬
organe, um durch sie die Sekundär¬
strahlung zu steigern. Aus allem geht
hervor, daß diese Therapie sehr kost¬
spielig wird. Man strebt deshalb schon
länger an, leistungsfähigere Rönt¬
ge napparate zu konstruieren, aus wel¬
chen eine so harte Strahlung heraus¬
zuholen ist, daß sie bei geringeren Un¬
kosten in ihrer Wirkung mit den radio¬
aktiven Substanzen in Konkurrenz treten
können. Solche Apparaturen wurden
schon in der gynäkologischen Strahlen¬
therapie versucht. Von mancher Seite
wurden Gleichrichtermaschinen zu diesem
Zwecke herangezogen. Man kommt je¬
doch von Gleichrichterapparaten, die in
der Diagnostik so vorzügliches leisten, in
der Therapie mehr und mehr ab, da die
Induktorapparate penetrantere Strah¬
lungen liefern. Auch die Röhren wurden
wesentlich verbessert. ln letzter Zeit
scheint durch die Konstruktion der pri-
zipiell von den seither gebräuchlichen ab¬
weichenden Glühkathoden- oder Elek¬
trodenröhren wieder ,ein bedeutender
Fortschritt auf diesem Gebiete gemacht
worden zu sein. Auch durch die An¬
wendung von schweren Filtern (Kupfer,
Zink, Blei usw.) wurde die Strahlung der
Röntgenröhren den Strahlen der radio¬
aktiven Substanzen ähnlicher gemacht.
Bis jetzt ist es aber durch kein Mittel
gelungen, Strahlen, die so kurzwellig und
ebenso penetrant wären wie Gamma¬
strahlen, aus einer Röntgenröhre heraus¬
zuholen. Tatsächlich aber scheinen die
kürzestwelligen Strahlen in der Therapie
der Carcinome eine ganz besondere
Rolle zu spielen. Auf dieser Annahme
basiert bekanntlich die allerdings un-
April. > Die Therapie der Gegenwart 1917. • 4 129
bewiesene Theorie von Lazarus-Barlow,
der das Carcinom als eine Erkrankung
auffaßt, die als Reiz auf die im Erdball
angehäufte Radioaktivität entsteht,
während die Heilung durch dieselbe
Strahlung, in großer Dosis herbeizu-
führen ist. Trotzdem kann man jetzt mit
Sicherheit schon sagen, daß die Radium-
f forschung, besonders durch Ruther¬
fords und Soddys Theorie der atomaren
Desintegration, nicht nur unserer ge¬
samten Naturbetrachtung ungeahnte Per¬
spektiven aufgetan hat, sondern daß die
Radioaktivität auch die Medizin in der
Bekämpfung des Krebses um einen Schritt
vorwärts gebracht hat. •
Ans dem Sanatorium Groedel, Bad Nauheim.
Die Campherbehandlung funktioneller und nervöser
Kreislaufstörungen.
Von Dr. Franz M. Groedel-Frankfurt a. M. und Bad Nauheim.
In seiner kürzlich veröffentlichten,
umfassenden Besprechung der Campher-
therapie der Kreislaufstörungen kommt
van den Velden 1 ) zu dem Schlüsse,
„daß wir trotz der großen Fortschritte
am Krankenbette mit dem Campher noch
eine' ebenso tastende Therapie treiben,
wie in den vorpharmakologischen Zei¬
ten“. 'Es erscheint mir daher nicht nur
vom rein praktischen Standpunkte aus
berechtigt, sondern auch für die weitere
Klärung der Wirkungsweise des Camphers
auf den Kreislauf des Menschen wichtig,
unsere Resultate der Campheranwendung
bei funktionellen und nervösen Kreislauf¬
störungen einmal kritisch zu sichten.
„Die Indikation zur Campheranwen¬
dung bleibt zunächst, wie van den Vel¬
den sagt, das Versagen des Kreislaufes,
vornehmlich bei bakteriotoxischen Zu¬
ständen, also dort, wo Gefäßlähmungen
und primäre wie sekundäre Schädigung
des Herzens zu dem komplexen Bild der
Kreislaufinsuffizienz führt.“
Die Wertung des Camphers als Hilfs¬
mittel für die Bekämpfung der Erschei¬
nungen ' von Kreislaufinsuffizienz mag
immer noch eine schwankende sein. Bei
bedrohlichen Zuständen, Versagen der
Herzkraft, ist dagegen selbst dem Laien
Campher allgemein als eines der wichtig¬
sten Hilfsmittel bekannt. Leider haftet
ihm aber zugleich auch das Odium eines
nur in höchster Lebensgefahr angewand¬
ten Mittels an und ganz abgesehen von
dem psychisch stets besonders empfind¬
lichen Herzkranken selbst, ist die Um¬
gebung meist bestürzt, wenn erst einmal
Campher in Anwendung kommt. Da wir
in unserer Praxis nach Groedel I schon
seit Jahren 'Campherinjektionen frühzeL
tig, auch bei noch relativ geringen In-
x ) Van den Velden, Die Camphertherapie
der Kreislaufstörungen. Zbl. f. Herz- u. Gefäß-
krkh. Bd. VIII, 1916.
suff izienzerscheinungen anwenden, sind wir
recht häufig genötigt, unsere Verordnung
verschleiert zu geben. Wir haben es uns
auch zur Regel gemacht, bei forcierter
Entwässerung resp. dort, wo wir eine
Harnflut medikamentös anregen wollen
oder müssen, sozusagen prophylaktisch
Campherinjektionen mehrmals täglich an¬
zuordnen. Besonders gilt dies von jenen
Fällen, wo wir durch drastisch wirkende
Darmmittel einem Aszites zu Leibe rük-
ken. Wir haben den Eindruck gewonnen,
daß wir auf diese Weise den von uns bei
Entwässerungskuren sehr gefürchteten,
weil den psychisch, überaus sensitiven
Herzpatienten im höchsten Grade er¬
schreckenden Kollaps nur noch ganz
selten erleben. Wir glauben in solchen
Fällen die Campherwirkung über die¬
jenige des ebenfalls für solche Fälle in
kleinen Dosen empfehlenswerten Alko¬
hols stellen zu dürfen.
„Wie es mit der Wirkung des Cam¬
phers auf den Herzmuskel selber steht,
ist noch fraglich,“ sagt van den Velden,
„und die von uns erstrebte Wirkung ist
eine Nervenwirkung an erster Stelle.“
So berichtet van d en Velden, daß er in
gemeinsamen Untersuchungen mit Son¬
nenkalb nachweisen konnte, daß die In¬
jektion von 1—2 ccm einer 20 %igen
Campheröllösung vorübergehend die Vaso-
parese sichtlich; bessert. Diesen gün¬
stigen Einfluß auf den peripheren Kreis¬
lauf muß man wohl „auf eine Besserung
der Reizbarkeit vasomotorischer Zentren
beziehen, ein Einfluß, den Winterberg
nach seinen am gesunden Warmblüter
angestellten Versuchen allerdings nicht
sehr hoch bewertet. Es wird damit auch
verständlich, daß indirekt durch bessere
Füllung und entsprechend günstigere Er¬
nährungsverhältnisse eine Herzwirkung
erzielt werden kann.“ Tierexperimentell
ist bekanntlich die Wirkung des Camphers
17 ’
130
April
Die Therapie der Gegenwart 1917.
auf die Vasomotorenfunktion zuerst durch
Päßler erforscht worden. Andererseits
hat der Campher nach den Untersuchun¬
gen Winterbergs und Liebmanns 1 )
auch eine peripher gefäß-dilatierende Wir¬
kung. „Die Experimente jener Autoren
lassen“, so sagt van den Velden,
„darüber keinen Zweifel aufkommen, daß
die vasodilatierende Wirkung in großen
Gebieten des kleinen wie des großen
Kreislaufes auf tritt, und daß. der Druck
im rechten Herzen sinkt.“
Wenn aber auch am gesunden Herzen
eine unmittelbare Campherwirkung seit¬
her nicht nachweisbar war, so ist doch
für das kranke resp. geschädigte Herz die
Wirkung des Camphers speziell auf die
motorischen Apparate tierexperimentell
sicher festgelegt. Man hat am überleben¬
den Herzen nachgewiesen, daß das ar-
rhythmisch schlagende und das flim¬
mernde Herz durch Campheranwendung
zum normalen Rhythmus zurückkehrt 2 ).
Hierzu sei jedoch bemerkt, daß wir die
Flimmerarhythmie, welche wir haupt¬
sächlich bei überdehntem rechten Vorhof.
finden, durch Campher nie zum Ver¬
schwinden bringen konnten.
. Erwähnen will ich noch, daß in einer
der neuesten Besprechungen über „die
experimentelle Analyse der Herz- und
Gefäßmittel“ Winterberg 3 ) sagt: „Die.
einzige, sicher nachweisbare direkte
Campherwirkung auf die Gefäße besteht
in einer Erweiterung derselben mit conse-
cutiver Drucksenkung“, während er an
anderer Stelle resümiert, daß die unmittel¬
bare Herzwirkung des Camphers unter
allen Umständen eine sehr beschränkte
ist.
Und Jagic 4 ) sagt in dem gleichen
Handbuch: ,,Die Herzwirkung des Cam¬
phers ist ein bisher leider noch ungelöstes
Problem. Die Steigerung des Blut¬
druckes nach Campherdarreichung macht
am ehesten den Eindruck einer gekräftig-
ten Herztätigkeit.“ „Von besonderer
klinischer Bedeutung scheint' mir,“ so
sagt dieser Autor an anderer Stelle, „die
specifische Wirkung des Camphers auf
L ) Liebmann, Arch. f. exper. Path. u. Pharm.
1912, 68, 59.
2 ) Literatur bei Meyer-Gott lieb, Die ex¬
perimentelle Pharmakologie, 3. Aufl. 1914, Urban
Sc Schwarzenberg.
3 ) In Handbuch der Herz- und Gefäßerkran¬
kungen. Herausgegeben von Jagic. Leipzig und
Wien 1914, Franz Deuticke.
4 ) Von Jagic, Medikamentöse Therapie . der
Herz- und Gefäßkrankheiten, ln Handbuch der
Herz- und Gefäßerkrankungen. Herausgegeben
von Jagic.
die Lungengefäße im Sinne einer Erwei¬
terung.“ Hier, wie auch in den meisten
sonstigen Lehrbüchern (z. B. Romberg ^
ist eigentlich bei der Erwähnung der»
Campherdarreichung bei schwerer, or¬
ganisch bedingter oder im Verlaufe von
Infektionskrankheiten auftretender Herz¬
insuffizienz vom Campher nur als Herz¬
mittel die Rede. Aus dem Mitgeteilten
ersehen wir jedoch, daß der Campher
mindestens ebensogut als Gefäßmittel
anzusprechen ist. Und obgleich die ein¬
zigen, einigermaßen, sicher nachgewiese¬
nen Angriffspunkte des Camphers der
motorische Herzapparat, die vasomoto¬
rischen Centren und die nervösen End¬
apparate der Gefäße sind, wird die
Camphertherapie für die Behandlung der
Störungen in diesen nervösen Systemen,
also für die Behandlung der funktionellen
und nervösen Kreislaufstörungen, fast
nirgends empfohlen.
Wir verwenden Campher (per os und
subcutan) schon seit längerer Zeit mit
manchmal geradezu erstaunlichem Erfolg
bei der Behandlung der verschiedensten
reinen und kombinierten nervösen Kreis¬
laufstörungen. Eine statistische Verar¬
beitung meines Materials ist mir zurzeit
nicht möglich. Nur an einigen markanten
Beispielen möchte ich heute die Leistun¬
gen dieser Therapie kurz beleuchten. Ich
will vorausschicken, daß ich sie seither
vorwiegend bei Kranken angewandt habe,
die in erster Linie ; die Symptome gestör¬
ter vasomotorischer Funktion zeigen,
Symptome eines labilen Gefäßsystems
mit Neigung zu Spasmen peripherer. Ge¬
fäße, der Abdominal- und Herzgefäße
oder auch zu Hypotension- resp. zu Er¬
schlaffungszuständen .der Gefäße, die
nebenher Störungen des motorischen Herz¬
apparates aufweisen oder auch an all¬
gemeinen funktionellen Neurosen leiden,
wie Hysterie, Neurasthenie, Cyklothymie
und reflektorischen Neurosen.
Fall I. Vasomotorische Störungen,
nervöse Ödeme, Adipositas. 38jährige,
große und kräftige Frau (93 kg) von blühendem
Aussehen. Sie hat drei schwere Entbindungen
durchgemacht. Seit sechs Jahren ist sie leidend
und hat ohne Nutzen in den verschiedensten Bade¬
orten Kuren gebraucht. Toxische Schädigungen
liegen nicht vor. Unterleibsorgane gesund,
Klagen: Kopfschmerz, herumziehende
Schmerzen im Körper, Herzklopfen und Ermat¬
tung nach geringen Anstrengungen, starkes Trans¬
pirieren, nachts manchmal Herzschmerzen, oft
geschwollene Hände, eiskalte Extremitäten.
x ) Romberg, Krankheiten des Herzens und
der Blutgefäße. 2. Aufl. 1909. Ferd. Enke.
April.
Die Therapie der Gegenwart 1917.
131
Befund: Herztöne etwas leise, erster Herzton
dumpf; Herzgröße normal, Herzform infolge
Zwerchfellhochstandes liegend; Blutdruck systo¬
lisch 120mm Hg; Puls klein 72 p.m.; Urin normal;
Nervenstatus normal, Reflexe etwas schwer aus¬
lösbar.
Behandlung: Nauheimer Badekur, leicht
•entfettende Diät, dreimal täglich 0,1 Camph. trit.
+ 0,1 Chinin mur.
Bei der Entlassung nach vierwöchentlicher Be¬
handlung hat Patientin 10 Pfund abgenommen,
ihre Beschwerden sind vollkommen verschwunden,
.sie kann mühelos auch ansteigende Wege gehen,
hat keine Schwellungen mehr.
Nach drei Monaten kommt Patientin wieder
.zur Behandlung. Sie hat viele häusliche Auf¬
regungen gehabt. Der Zustand hat sich ver¬
schlimmert, sie hat krampfartige Brust- und Leib-
schmerzen. Es wird eine Injektionskur von zwei¬
mal täglich 1 / 2 ccm 01. camph. fort, eingeleitet,
die sofort Besserung bewirkt. Nach drei Wochen
:sind alle Beschwerden .verschwunden, und es kann
wieder zur stomachalen Camphermedikation über¬
gegangen werden.
• Fall II. Vasomotorische Störungen,
.allgemeine Asthenie, Myasthenia cordis.
.35jährige Frau von gracilem Körperbau und
blasser Gesichtsfarbe. Sie hat drei, zum Teil
.schwere Entbindungen durchgemacht. Infolge
des Krieges lastet eine große Verantwortung auf
.ihr, sie hat ihren Mann im Geschäft zu vertreten.
Nach l 1 /., jähriger Überanstrengung versagen die
Nerven vollkommen.
Klagen: Kopfschmerz, häufig Ohnmachts 1
anwandlungen, Gefühl von Herzschwäche, Zittern,
.Herzschmerzen.
Befund: Herztöne besonders an der Herz-
basis leise und dumpf; Herzgröße an der unteren
Grenze des .Normalen; Blutdruck 105 mm Hg.
systolisch; Urin normal; Nervenstatus normal.
Behandlung: Zweimal täglich 1 ccm 01.
-camph. fort, subcutan. Nach zwei Wochen voll¬
kommenes Wohlbefinden. Patientin kann ihrem
Haushalte wieder vorstehen. Nach 14 Tagen
einmal täglich 1 ccm Campher, dann vier Wochen
lang innerlich dreimal 0,1 Campher. Zurzeit ist
Patientin durchaus beschwerdefrei.
Fall III. Vasomotorische Störungen,
Asthenia universalis, Ptose der Bauch¬
organe, Hypoplasia cordis, Neurosis cor¬
dis, Neuralgien, Hysterie. 33jährige, große,
schlanke Frau von auffallend blasser Gesichts¬
farbe. Ein gesundes Kind. Seit 10 Jahren wieder¬
holt Magengeschwüre gehabt, zweimal infolge¬
dessen Abortus.
Klagen: Ständig Schwächegefühl, ohnmacht¬
artige Zustände, kalte Extremitäten, Herzschmer¬
zen, Herzklopfen abwechselnd mit Gefühl von
Herzschwäche, Schmerzen in den Armen, zeit¬
weise kolikartige Leibschmerzen, die offenbar
fälschlicherweise für Gallenkoliken angesprochen
werden.
Befund: Herztöne normal; Herzgröße 10 cm
im Transversaldurchmesser bei 23 cm basaler
Lungenbreite, also stark, unternormal; Blutdruck
diastolisch 75, systolisch 110 mm Hg; Blutbild
normal, Hämoglobingehalt 90% nach Sahli;
Ekg. normal; Bauchorgane ohne Befund, jedoch
stark ptotisch.
Behandlung: Da Patientin seit Jahren
dauernd wegen Blutarmut in den verschiedensten
Sanatorien bereits mit Eisen und Arsen erfolglos
behandelt worden ist, wird sogleich Campher
zweimal täglich +2 ccm injiziert. Nach zehn Tagen
auffallende Besserung; drei Wochen lang/noch
innerlich zweimal täglich 0,2 Campher, nebenher
milde CO+Bäder. Bei der Entlassung vollkom¬
menes Wohlbefinden.
Fall IV. Neurasthenia cordis, Inter-
costalneuralgien, vasomotorische Stö¬
rungen, Neurasthenie. 42jähriger Herr, in
leitender Stellung eines sehr großen Industrie¬
unternehmens. Er hat immer solide gelebt, aber
viel gearbeitet, war nie krank, hat keine Lues
gehabt. Vor 16 Jahren Gehirnerschütterung durch
Unfall, seitdem Gedächtnisschwäche und Schwin¬
del. Seit kurzem auch Anfälle von Herzschmerzen,
Kurzatmigkeit, Beklemmung, Angst, besonders
nachts, manchmal Ohnmachtsgefühl. Vor einem
Monat plötzlich auftretende Urticaria, am gleichen
Tage schwere Ohnmacht.
Befund: Herztöne dumpf und leise; Herz¬
größe und Herzform des Orthodiagramms voll¬
kommen normal; Blutdruck 125 mm Hg systo¬
lisch; Urin normal; Druckpunkt im linken 3. J.
C. R.
Behandlung: Theobrom. natr. salic. 0,5 mit
Chin. mur. 0,1 dreimal täglich. Nach zehn Tagen
keine Besserung, nur der' Druckpunkt ist ver¬
schwunden. Neue Verordnung: Fichtennadel¬
bäder und Brom. Nach 14 Tagen keine Besserung.
Weitere Verordnung: dreimal täglich 0,2 Campher
und 0,1 Chin. mur. Patient behauptet am nächsten
Tage, er habe wegen Herzklopfen nicht schlafen
können. Deshalb neuerliche Anordnung, die
Pillen nur nach dem Frühstück und Mittagessen
zu nehmen.
Nach 14 Tagen berichtet jedoch Patient, daß
er die Pillen, die ihm sehr gute Dienste geleistet
hätten, auch abends genommen habe, daß die
Nächte gut gewesen sdien und daß er außer ge¬
ringem Druck auf der Brust nichts mehr zu
klagen habe. Wiederholung der Behandlung in
der Folge etwa jeden Monat zwei Wochen lang
mit gleich gutem Resultat.
Fall V. Aortensklerose, allgemeine
Asthenie, Darmspasmen, Gefäßspasmen,
Angina pect, vasomotor. (Angina pect,
sklerot.?) 64jährige Dame mit auffallend grau¬
blasser Gesichtsfarbe, von gutem Körperbau, die
nie schwerer krank gewesen ist, aber seit 25 Jahren
wegen Darmbeschwerden in dauernder ärztlicher
Behandlung steht. Seit einiger Zeit hegt die
Familie den Verdacht, daß Patientin eine maligne
Abdominalgeschwulst haben müsse. Von mir ein¬
geleitete psychische Behandlung mit Unter¬
stützung durch harmlose Einläufe beseitigt schnell
den quälenden häufigen Stuhldrang, die Stuhl¬
angst und die Schlaflosigkeit. Patientin klagt
außerdem seit längerer Zeit über Aufstoßen,
Blähungen, Brustdruck, Brustschmerzen.
Herzbefund: Töne stets sehr leise, zweiter
Aortenton manchmal klingend; Herzgröße laut
Röntgenuntersuchung etwas übernormal, auch die
Aorta etwas verbreitert; Blutdruck diastolisch 80,
systolisch 140 mm Hg; Puls 72, bei schlechtem
Befinden 50 p. m.; Urin stets normal; Electro-
kardiogramm zeigt eine leicht negative' Final¬
schwankung; Blutbefund normal, ebenso Ergebnis
der Stuhluntersuchung; Körpertemperatur etwas
unternormal; Gewicht 65 kg.-
Behandlung: Für die Gasbeschwerden wer¬
den mit wechselndem Effekt die verschiedensten
Mittel in Anwendung genommen. Der besonders
quälende Brustdruck kann zwei Jahre lang nicht
mit Theobrominpräparaten angegangen werden,
da Patientin auf dieselben, auch bei rectaler Zu¬
führung, mit starken Kopfschmerzen reagiert.
17*
132 Die Therapie der
Auch Jod, Nitroglycerin und Atropin .hat geringen
Effekt. Dagegen hilft dreimal täglich 0,1 Campher
in Pillen sichtlich. Nach längeren Versuchen ge¬
lingt es dann auch, Diuretin in kleiner Dosis (von
0,1—0,4 steigend) in den Körper einzuschleichen,
offenbar infolge der gleichzeitigen Verabfolgung
von Campher. Der Zustand ist zwei Jahre lang ,
recht gut. —.Unvermittelt verschlechtert er sich
wieder. Es tritt schockartig Ohrensausen, Augen-
flimrnern, hochgradiges Schwächegefühl und star¬
ker Brustdruck auf. Der Puls sinkt auf 48. Sämt¬
liche Mittel versagen. Der Zustand scheint kritisch
zu sein. Die schon früher quälende schmerzhafte
Schwäche in den Waden nimmt zu. Es stellen
sich Leibschmerzen ein. Dann treten in der
zweiten Woche wiederholt schwere hysterische
Anfälle mit Zittern und Zähneklappern auf. Der
Zustand wird von mir als schwere Altershysterie
und Gefäßneurose mit spastischer Angina pectoris
et abdominalis gedeutet. Patientin erhält zwei-
bis viermal täglich Injektion von 1 ccm 20 %igem
Campheröl, abends Adalin. Darauf sichtliche
Besserung. - Nach acht Tagen kann Patientin auf¬
stehen, nach weiteren acht Tagen ausgehen. Der
Puls geht langsam in die Höhe, Patientin blüht
sichtlich auf. Die Campherinjektionen werden
diirch Campherpillen ersetzt (dreimal täglich 0,2
mit Chinin, radix und zinc. valer.). Zustand in
der Folge dauernd sehr gut. Puls bleibt ständig
auf 72 p. m.
Fall VI. Herz neu rose, Spasmen der
Abdominalgefäße, Hysterie. 32jährigeFrau,
die früher viel an Neuritiden gelitten hat. Ein
gesundes Kind. 14 Tage vor der Konsultation
Abortus, drei Tage danach starke Blutung mit
Kollaps. Die nachfolgende Schwäche bessert
sich bald. Dagegen stellen sich starke Magen¬
schmerzen ein, zeitweises Erbrechen, Angst¬
gefühle, Herzklopfen, Herzunruhe, Herzschmerzen,
kalte Flände, hysterischer Typus.
Herzbefund : Keine Herzvergrößerung;Herz¬
töne normal; hochgradigste Irregularität der Herz¬
aktion, lange Perioden von Bigeminie; Puls 60 bis
70 p. m.
Behandlung: Warme Bauchkompressen,
zwei- bis viermal täglich lccm Campheröl subcutan.
Sofort Besserung. Nachuntersuchung nach zwei
Tagen ergibt vollkommen normalen Herzbefund.
Patientin erholt sich sehr schnell unter Verab¬
reichung von Campher per os. Nach vier
Wochen Schluß der Behandlung.
Es wäre gewiß verlockend, im An¬
schluß an die vorstehend besprochenen
Fälle auf die Wirkungsweise der Campher-
therapie, speziell der.chronischen Campher¬
behandlung funktioneller und nervöser
Circulationsstörungen näher einzugehen.
Bei der zurzeit noch sehr geringen Kennt¬
nis der Campherwirkung auf den gesun¬
den Organismus ist jedoch zu befürchten,
daß wir uns dabei nur in hypothetischen
Kreisen bewegen würden. Andererseits
ist aber zu hoffen, daß die weitere genaue
Beobachtung des Effekts von Campher-
darreichung bei anormal funktionierendem
Herz-Gefäß-Nerven-Apparate zur Klä¬
rung des oder der Angriffspunkte des
Camphers und seiner Wirkungsweise we¬
sentlich beitragen wird.
Es genügt mir, für diesmal in Erinne¬
Gegenwart 1917. April
rung gebracht zu haben, daß Campher,.
wie dem Tierexperirtient nach zu erwarten
war, auch bei funktionellen und nervösen
Kreislaufstörungen ein sehr wirkungs¬
volles Medikament ist, das nicht nur
symptomatisch sehr gut wirkt, sondern
bei intermittierend kontinuierlicher An¬
wendung das Krankheitsbild selbst zum
Verschwinden bringen kann.
Die Ansicht, „nur für vorübergehende-
Anwendung geeignet ist der Campher“,.
die z. Bi noch Hoffmann 1 ) vertritt,,
kann also nicht länger aufrecht erhalten
werden.
Die Camphertherapie war, wie schon
gesagt, seither für die' Bekämpfung der
Kreislaufinsuffizienz und zwar vorwiegend
für die schwersten Formen reserviert..
Auch bei krisenartigen vasomotorischen
Störungen, wie sie der nervöse- Kollaps
(Erschlaffungszustand der Gefäße) und
der nervöse Schock (Krampfzustand der
Gefäße) darstellen, fand sie Anwendung,
mehr aber vielleicht von seiten des
Chirurgen, der den Campher auch im
Kriege 2 ) wieder bei dem „Schock der
Verwundeten“ sch.ätzen lernte, als von
seiten des Internisten. Auch bei Nerven-
affektionen wird Campher angewandt,
was aber in den Lehrbüchern [z. B..
Penzold 3 )] nur ganz nebenbei erwähnt
wird.
Wahrscheinlich wurde Campher seit¬
her auch schon von anderer Seite ge¬
legentlich bei rein nervösen, funktionellen
Circulationsstörungen angewandt. Syste¬
matisch geschah dies aber bisher sicher
nicht. In den neueren Lehrbüchern finden
wir auch, wie bereits erwähnt, keine oder
nur ganz kurze diesbezügliche Bemer¬
kungen, wie z. B. bei A. Hoffmann,
der ferner auf Grund der Tierexperimente
kleine Campherdosen auch bei Fällen
mit Pulsus irregularis „empfiehlt.
Ich habe sogar nicht selten bei Kol¬
legen den größten Widerstand .gegen die
Verordnung von Campherpillen oder gar
Campherinjektionen bei nervösen Circu¬
lationsstörungen gefunden. „Es handelt
sich doch nicht um eine organische Stö¬
rung“ oder: „es liegt doch kein Symptom
von Herzinsuffizienz vor“, wurde mir oft
vorgehalten. — Auch die psychische Wir¬
kung der Campherverordnung auf den
x ) Aug. Hoffmann, Funktionelle Diagnostik
und Therapie der Erkrankungen des Herzens und
der Gefäße. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1911.
2 ) Erlenmeyer, M.m.W. 1916,S.986;Thann¬
hauser, M. m. W. 1916, S. 581.
3 ) Penzold, Lehrbuch der klinischen Arznei¬
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16
April Die Therapie der Gegenwart 1917. 133
nervösen und hypochondrischen Patienten Störungen eventuell durch 'Campher ge-
gilt als kontraindizierend. Und doch ist steigert werden. — Dagegen glaube ich,
es gerade bei diesen Patienten leicht, daß fast sämtliche Gefäßnervenstörungen
eventuelle Einwände zu entkräften. In günstig auf Campher reagieren, einerlei,
vielen Fällen wird sogar sicherlich die ob es sich um Erschlaffungs- oder Krampf-
Verordnung des „belebend“ wirkenden zustande der Gefäße handelt. Nur bei
Mittels psychisch günstig wirken. klimakterischen Erscheinungen fehlt mir
Auch besteht immer noch bei einigen, diesbezüglich noch genügende Erfahrung.-
wenn auch wenigen Ärzten eine durchaus Ganz allgemein läßt sich also sagen,
unbegründete Furcht vor der toxischen daß in Bestätigung des Tierexperimentes
Wirkung größerer Campherdosen. Wir und andererseits als Stütze der durch
wissen zwar, daß forciert hohe Gaben von letzteres gewonnenen Anschauungen
Campher epileptiforme Krämpfe auslösen Campher bei Störungen der Herzinner¬
können, Aber abgesehen davon,- daß vation und der Vasomotorenfunktion als
diese Krämpfe harmlos sind, sehen- wir symptomatisches Mittel und als Heil-
sie selbst bei stündlicher Campherinjek- mittel empfehlenswert ist.
tion, wie wir sie bei bedrohlichen Zu- Die mir zweckdienlichste Anwendung
ständen recht häufig verordnen, nie auf- des Camphers dürfte bei allen Fällen, be¬
treten. Aber im allgemeinen wird Campher sonders wenn an einer schnellen und
beim Menschen in Gaben verordnet, die sicheren Wirkung gelegen ist, die sub¬
weit unter den krampfmachenden liegen, cutane sein. Meist wird es genügen, zwei-
In diesem Sinne lesen wir auch.im Hand- mal täglich y 2 ccm der 20 %igen Lösung
buche von Mayer und Gottlieb :,,Große unter die Haut des Oberschenkels zu in-
Gaben rufen am Tier klonische Krämpfe jizieren. Bei schweren Fällen mit krisen-
hervor, die jedoch beim Menschen nur artigem Beginne sind mindestens 2 bis
sehr selten beobachtet werden, da der 4 ccm pro Tag notwendig. Nach kurzer
Abstand der therapeutischen und der Zeit kann man dann zur stomachalen Ver-
toxischen Gaben sehr groß ist.“ Ordnung übergehen, die für die leichteren
Bei der Häufigkeit und Vielseitigkeit Fälle überhaupt oft ausreicht. Ich gebe
funktioneller resp. nervöser Circulations- zwei- bis dreimal täglich 0,1 oder 0,2
Störungen, die seit den letzten Jahr- camph. trit., je nach Lage des Falles mit
zehnten zusehends gestiegen sind, und je 0,05—0,1 chin. mur. oder auch. mit
durch die Einwirkungen des Krieges rad. valer. ,oder zinc. valer. In vielen
sicherlich noch weiter zunehmen dürften, Fällen empfiehlt sich gleichzeitig die An¬
wird das Lndikationsgebiet der Campher- wendung eines leicht resorbierbaren Eisen¬
behandlung jedenfalls außerordentlich ver- präparates, auch kann sich eine Arsen-
breitert werden können. injektionskur oder eine Eisenarsenverord-
Ich konnte mich mit der Aufführung nung anschließen,
von sechs Beispielen begnügen, denn. Eventuell gleichzeitig verordnete hy-
weitere Fälle würden nur eine Wieder- drotherapeutische Prozeduren dürfen
holung dessen bedeuten, was. die Scliil- nicht zu anstrengend sein. Stark salz-
derung meiner Schulbeispiele sagte. — haltige und stark C0 2 -haltige Bäder sind
Fälle von reiner isolierter Herzneurose zu vermeiden. Dagegen werden milde
ohne vasomotorische Störungen konnte C0 2 -Bäder, O-Bäder, Fichtennadelbäder
ich dagegen noch zu selten einer reinen von indifferenter Temperatur und kurzer
Camphertherapie unterziehen, um bereits Dauer angenehm empfunden,
ein Urteil fällen zu können. Sie sind daher Daß bei gleichzeitigen organischen Ver-
auch hier nicht aufgeführt. — Ebenso- änderungen die, entsprechenden Mittel,
wenig bin ich in der Lage, mich über wie Theobrominpräparate, Digitalisprä¬
eventuelle Kontraindikationen zu äußern parate usw. abwechselnd oder gleich-
und muß die Frage offen lassen, ob und zeitig gegeben werden müssen, versteht
welche Erscheinungen von Herznerven- sich von selbst.
Aus der inneren Abteilung des Diakonissenhauses Freiburg i. Br.
Magenpathologische Fragen.
Von Prof. Dr. Schüle.
Wenn G. Kl emp er er'dem posthumen er ,,scharfe Schlaglichter auf wichtige
Aufsatz von Lüthje 1 ) nachrühmt, daß Fragen der ärztlichen Kunst werfe“, so
x ) Über Magenchemismus, Pylorusstenose und können wir diesem Urteil nur beipflichten,
nervöse Dyspepsie. Ther. d. Gegenw. 1917, Nr. 2. Es hat einen eigenen Reiz, zu sehen, wie
134 Die Therapie der Gegenwart 1917. April
sich althergebrachte Methoden in der
Hand jüngerer, minder konservativ ge¬
sinnter Forscher bewähren, und man ist
selbst versucht, die eigenen Auffassungen
mehr oder minder einer Revision zu unter¬
ziehen.*
Vor 25 und mehr Jahren konzentrierte
sich das Hauptinteresse der Magenpatho¬
logie auf die Sekretionsvorgänge. Das
Bestimmen der Acidität nach chemischen
Regeln war eigentlich die einzige „exakte“
Methode der vorradioskopischen Zeit, und
so konnte sich der Scharfsinn der For¬
scher nicht genug tun in der Erfindung
neuer Verfahren. Die Acidität wurde auf
y 10 und Yiqo Dezimalen bestimmt, wirk¬
liche Fortschritte aber erzielte man damit
nicht. Das klassische Buch von Martius
und Lüttke, „Die Magensäure des Men¬
schen 1892“ war ein Markstein der ganzen
Bewegung, über den man nur in un¬
wesentlichen Punkten hinauskam. Sehr
wichtig war dann das Aufrollen der
Milchsäurefrage durch Boas 1893. Ich
gebe Lüthje vollkommen recht, wenn er
das Vorhandensein von Milchsäure als
positiv verwertbares Krebssymptom an¬
sieht. Nur haben wir allmählich gelernt,
daß noch viel wichtiger als die nicht'so
einfach nachweisbare Milchsäure die
Milchsäure-Bacillen sind (Boas, Opp-
ler,. Schlesinger), zumal, wenn sie in
reichlicher Menge auftreten. Sie ent¬
stehen wohl nicht infolge eines Katarrhs,
sondern finden ihre optimalen Wachs¬
tumsmöglichkeiten in den Buchten und
Tiefen der carcinomatösen Geschwüre im
salzsäurefreien Mageninhalt. Hierin ist
der Milchsäurebacillus ein Antipode der
Sarzine, welche meist (aber nicht immer)
im salzsäurehaltigen, stark stagnierenden
Chymus ihre Existenzmöglichkeiten fin¬
det. Wo Sarzine, da ist so gut wie immer
Insuffizienz zweiten Grades vorhanden.
Nun die vielbesprochene Aciditäts¬
frage!
Lüthje weist darauf hin, wie sehr
unter Umständen..die Wahl des Probe¬
essens auf die Sekretion der fr. HCl Ein¬
fluß hat. Das ist sicher richtig, wurde
vor vielen Jahren von Riegel schon her¬
vorgehoben und seither oft bestätigt.
Ich bin aber der Ansicht, daß dieses
immerhin seltene Vorkommnis durchaus
keinen Grund abgibt, daß P. F. zu ver¬
lassen und zu den „appetitreizenden“
Probeessen seine Zuflucht zu nehmen.
Die Beobachtungen von Curschmann j.
sind ja gewiß recht interessant, aber sie
erscheinen mir ^icht hinreichend zwin¬
gend, um die -althergebrachte und be¬
währte Methode umzuwerfen. Und dies
aus folgender Überlegung:
Das P. F. hat den eminenten Vorteil
für jeden Menschen, ein sympathisches und
leicht genießbares Gericht darzustellen.
Der Vegetarier wie der Schlemmer, der
nervöse Dyspeptiker, wie das schwere
Carcinom — allen kann diese leichte Kost,
zugemutet werden. Überall wird sie
gleich zubereitet, Inhalt, Menge sind ge¬
geben: Das P. F. ist also ein ideales Essen,
zur allgemeinen Einführung und Verstän¬
digung 1 ).
Nun aber die Frage: Leistet das P. F.
diagnostisch das, was wir brauchen?
Zweifellos in den allermeisten Fällen. Uns
beschäftigt ja, das möchte ich im Gegen¬
satz zu Lüthje hervorheben, die Frage,
, ob Anacid oder Acid, gar nicht so sehr. Wir
haben heute im Nachweis der Milchsäure¬
bacillen, im Röntgenbild, vor allem aber
im okkulten Blutbefunde so viel wert¬
vollere diagnostische Merkzeichen, daß
uns die Salzsäurefrage, was ein Minus
betrifft, gar nicht in erster Linie inter¬
essiert. Für die Therapie und Diagnose
ist von größter Wichtigkeit das Zuviel
von Salzsäure. Wir müssen wissen, ob
ein Dyspeptiker mit Sodbrennen und
Magenkrämpfen nur rein „nervöse“ Be¬
schwerden hat, oder sogar Anacidität, oder
ob sein Chemismus gesteigert ist zur
Hyperchlorhydrie (Ulcusverdacht usw.).
Und ich behaupte, wenn ein Magen¬
kranker nur bei besonderen kulinarischen
Kniffen und Reizen, nicht aber bei der
Hausmannskost des P. F. normale Salz¬
säureproduktion aufweist, dann steht er
an der Grenze der Sekretionsinsuffizienz.
Eine Potejiz, die besondere Reize nötig
hat, ist nicht weit von der Impotenz ent¬
fernt. Es ist also gerade von diagnosti¬
schem Interesse, zu sehen, daß der Magen
auf die Normalkost des P. F. nicht mehr
genügend HCl produziert, weit mehr als
umgekehrt ihn durch Reizstoffe zu vor¬
übergehenden stärkeren Leistungen anzu¬
regen.
Die Sahlische ingeniöse Methode
mittels der Desmoidbeutelchen führt oft
zu befriedigenden Resultaten, sicherer
jedenfalls als das kürzlich von anderer
Seite empfohlene Auscultieren der C0 2 -
Entwickelung nach Einführen von Natron
bicarbonicum, indes habe ich in der
Praxis so selten Fälle gefunden, welche
*) In der jetzigen Zeit können übrigens weder
Fleischmahlzeiten noch „appetiterregende“ Probe¬
essen an größerem Material verabfolgt werden.
135
April Die Therapie der Gegenwart 1917.
das Einführen der Sonde kontraindizier¬
ten, daß ich in den letzten Jahren vom
Sahli sehen Verfahren Abstand genom¬
men habe.
Die Prüfung der Motilität geschieht
am besten durch den Nachweis der ver¬
langsamten Fortschaffung bestimmter
Speisemengen in bestimmter Zeit.
Die Riegelsche Mahlzeit soll nach
sechs Stunden den Magen verlassen haben-'
(Kontrolle durch Spülung). Verspätet
sie sich, so haben wir den einfachen Grad
der Insuffizienz.
Ich habe für ernste Stauungszustände
(Insuffizienz zweiten Grades) als die beste
Methode das Probeabendessen mit mor¬
gendlicher Spülung gefunden, und zwar
geben wir Nudeln mit gekochten Pflaumen,
deren Rückstände sich bei motorischer
Hemmung in der morgendlichen Spülung
stets noch nachweisen lassen.
Lüthje zieht die Prüfung an der
Tagesverdauung vor, ich die nach dem
Schlafe. Ich halte die Lebensbedingungen
im Schlafe für gleichmäßiger, wenn auch
der Schlaf, wie ich vor Jahren nach¬
gewiesen habe, die Motilität etwas hemmt.
Diese Hemmung betrifft aber alle
Menschen im gleichen Maße, ist also ohne
Belang. Dazu kommt aber noch ein
wichtiger Umstand: Geben wir abends
das Probeessen und spülen um 8—9 Uhr
früh aus, so hatte der Magen zwölf Stun¬
den zur Entleerung Zeit. Kann er in
dieser langen Zeit seiner Aufgabe nicht
gerecht werden, dann ist er ausgesprochen
motorisch insuffizient. Man muß dann
eine Pylorusstenose, und zwar eine orga¬
nische annehmen. Ich habe mich in dieser
durch Operationen sehr oft verifizierten
Diagnose so gut wie niemals getäuscht.
Eine atonische Insuffizienz zweiten Grades
lehnen wir mit Lüthje (und wohl der
Mehrzahl der Magenpathologen) ab.
Es kann nicht genug betont werden,
wie notwendig die nüchterne Spülung
nach typischem Probeabendessen für die
Untersuchung der Motilität ist. Nicht
selten zeigte das P. F. keine Beimengun¬
gen einer Mahlzeit vom Vortage und
trotzdem trat auf die größere Belastung
mit Nudeln und Pflaumen hin der charak¬
teristische Rückstand auf (bei gutartiger
Stauung meist mit Sarzine).
Daß Magenspülungen die Insuffizienz,
auch die zweiten Grades, sehr erheblich
bessern können, wissen wir seit Ku߬
mauls klassischem Falle aus der Frei¬
burger Klinik (1868 Fall Weiner). Die
Erklärung, die Kußmaul gibt, lautet
etwas anders als die von Lüthje. Ku߬
maul denkt an Verengerung des Pylorus
durch den zerrenden Magerisack, Lüthje
mehr an spastische Vorgänge am Pylorus;
beides mag Vorkommen.
Noch ein Wort, über die Frage der
okkulten Blutungen, die Lüthje
in seinem Vortrage nicht berührt.
Ich halte die okkulten Blutungen für
eines der diagnostisch wertvollsten Sym¬
ptome. Allerdings mit Einschränkungen.
Dauerndes Fehlen beweist eigentlich
mehr (es schließt Magen- und Darmkrebs
fast sicher aus), als der positive Be¬
fund, denn diesen trifft man wohl auch
bei nicht direkt erkranktem Magen-Darm¬
kanal, wenn auch selten (bei Lebercar-
cinom, Pankreaskrebs, Cholelithiasis, spa¬
stischem Sanduhrmagen).
Vor kurzem haben Wolff und Dau
daran erinnert, daß auch bei Tricho-
cephalus Blut in den Faeces nachweisbar
ist. Dasselbe wurde auch schon früher bei
Askariden und Tänien nachgewiesen.
Da von militärischer Seite dieser Frage
nunmehr eine besondere Aufmerksamkeit
zugewandt wird und Nachprüfungen an¬
befohlen sind, werden wir voraussichtlich
in nicht zu ferner Zeit ein größeres Mate¬
rial von Beobachtungen überblicken kön¬
nen.
Über die Therapie der Magen- und
Darmkrankheiten ist in dieser nahrungs¬
beschränkten Zeit wenig Erfreuliches zu
sagen. Wer nach den Prinzipien der
Kußmaulschen Schule behandelt, wird
von der Fleischknappheit wenig betroffen
sein. Schlimmer steht es mit der Knapp¬
heit an Mehlstoffen und Fetten.
Die Kurve der Gewichtszunahmen ist
auf unserer Abteilung zwar nicht gefallen,
aber doch in ein wesentlich langsames
Crescendo gekommen, seitdem wir mit. der
Butter sparen müssen, die von den Darm¬
kranken meist so vorzüglich ertragen wird.
Warm empfehlen möchte ich die aus¬
gedehnte Verwendung von Gerste.
Die grobe (im Frieden sehr billige und
wenig geschätzte) Gerste wird unverän¬
dert, also nicht etwa gemahlen, mit
Wasser zwölf Stunden angesetzt. Andern
Mittags kocht man den Brei vier Stunden
lang auf. dem Herd. Will man das Ge¬
richt nicht süß essen, so rührt man einen
(Wasser-) Mehlbrei daran, der eine halbe
Stunde mitkocht, salzt es entsprechend
und ißt es mit oder ohne Würze als dicke
Suppe. Soll es als süßes Gericht genossen
werden, läßt man das Salz und den
April
136 D;e Therapie der Gegenwart 1917.
Mehlbrei weg; Man kocht (wie oben)
vier Stunden, gibt dann Zucker und rohe
geschälte Äpfel oder Pflaumen hinzu, die
man eine halbe Stunde mitkochen läßt.
Ähnlich der berühmten Kußmaul-
schen Grütze verläßt dieser Gerstenbrei
den Magen sehr schnell (in zwei Stunden
etwa), die Darmverdauung wird sehr
günstig dabei beeinflußt im Sinne der
Retardation (bei Diarrhöe); doch kommt
es durch den Reiz der Gerstenhäutchen
und des Obstes niemals zur Obstipation.
Die günstige Wirkung der unveränderten
Körnerwand (Vitamine) soll auch nicht
unerwähnt bleiben.
Bei starken Diarrhöen raten wir Salz¬
kartoffeln zu versuchen, die vorher durch
ein festwandiges Sieb mit groben Löchern
getrieben worden sind. Durch Wasser¬
entziehung wirken diese trockener! Kar¬
toffeln stark obstipierend. Unangenehm
wird allgemein die große Neigung zu
Flatulenz empfunden infolge der einseiti¬
gen ungewohnten und allzu ballastreichen
Gemüsenahrung. Die Gerste wirkt (im
Gegensatz zu Kartoffeln und Kohl) so
gut wie gar nicht blähend.
Im allgemeinen kann man wohl zu¬
geben, daß die Schwierigkeiten der Er¬
nährung auf unseren Magen- und Darm-
kranken schwer lasten; wirklich ernst¬
liche Schädigungen haben wir aber bis¬
her nicht beobachtet, und wir dürfen zu¬
versichtlich hoffen, daß auch dieser Teil
unserer Patienten gleich den übrigen sich
mit Genügsamkeit, Geduld und einigem
Humor durch die Fährlichkeiten dieser
Zeiten glücklich durchlavieren wird.
Die Diathermie im Kriege.
Von Dr. H. Braun-Solingen, z. Z. Stabsarzt i. e. Feldartillerie-Regiment.
Durch meine Tätigkeit als Truppen¬
arzt seit Beginn des Feldzuges und auch
vorübergehend alsStationsarzt undChirurg
eines Feldlazarettes war ich in der Lage,
eine Fülle von Erkrankungen im Heere
zu beobachten, die sich für die Behandlung
mittels Diathermie in hervorragendem
Maße eignen, um eine baldige Felddienst¬
fähigkeit zu erreichen.
Da ich einmal weiß, daß die Diather¬
miebehandlung noch relativ wenig be¬
kannt ist und in der Literatur noch
keine systematische genaue Zusammen¬
stellung der Anwendungsmöglichkeiten,
-arten und ihrer Dosierungen existiert,
will ich dem aus Fachkreisen mehrfach
an mich gestellten Ersuchen um Äuße¬
rungen über meine Erfahrungen auf
diesem Gebiete mit Rücksicht auf dem
Krieg nachkommen und in folgendem in
gedrängter Kürze einige Vorschläge und
Richtlinien angeben zur Behandlung
mehrerer auch im Kriege häufig vor¬
kommender Erkrankungen und zur
schnelleren Beseitigung einiger nach Ver¬
letzungen häufig zurückbleibender Folge¬
erscheinungen.
Allgemeiner Teil.
Ich muß zunächst kurz die Physik
und die Physiologie der Diathermie
streifen.
Die Diathermieströme sind Hochfre¬
quenzströme ; diese Hochfrequenzströme
sind Wechselströme mit sehr vielen, eine
Million und mehr, Wechseln in der Se¬
kunde; der niederfrequente oder in der
Industrie einfach Wechselstrom genannte
Strom hat dagegen meist nur 100 Wechsel
in der Sekunde. Die bei dem — für die
Diathermie nur brauchbaren, — hoch¬
frequenten Wechselstrom so häufigen
Wechsel verhindern es, daß der Strom
eine der den Organismus schädigenden
Eigenschaften bei der Applikation ent¬
falten kann, seine Schwingungen ver¬
laufen zu schnell, als daß eine elektro¬
lytische Wirkung hervorgerufen, werden
könnte; diese Hochfrequenzströme sind
also in diesem Sinne reizlos.
Dafür daß die hochfrequenten Ströme
nun aber nicht einfach auf der Haut ver¬
laufen, sondern in die Tiefe in die Ge¬
webe eindringen, dafür gilt als Beweis,
daß bei der Anwendung dieser Hochfre¬
quenzströme durch Kontaktapplikation
zwischen den Elektroden im Körperteil
eine Wärme, eine Durchwärmung der
Gewebe auftritt. Diese teils durch Ionen¬
bewegungen, teils durch Schwingungen
der Moleküle produzierte Wärme ist die
von Joule berechnete Widerstands¬
wärme.
Daß ferner die bei Anwendung der
Hochfrequenzströme mittels Kontakt¬
applikation, das heißt mittels biegsamer,
dem Körperteil gut anliegender Metall¬
elektroden, also kurz bei Anwendung der
Diathermie, wie ich das Verfahren im
folgenden nunmehr nennen will, die ent¬
stehende Erwärmung nicht allein auf der
Oberfläche, sondern auch in dem be¬
treffenden Körperteil vorhanden ist, läßt
sich nicht nur subjektiv durch das Ge¬
fühl der Diathermierten, sondern auch
April
Die Therapie der Gegenwart 1917. 137
objektiv mittels geeigneter Temperatur¬
meßapparate einwandfrei nachweisen.
Man ist also in der Lage, einen Körper¬
teil, sagen wir mal ein Kniegelenk, in
seinem ganzen Querschnitt zu durch¬
wärmen.
Darin, in der Durchwärmung der
Gewebe, liegt das Neue, das .Erfolgreiche
der Behandlungsmethode. Es gelingt
leicht, das Innere einzelner Körperteile
bis auf 45 bis 48 Grad zu erwärmen, ja
die Temperatur des ganzen Körpers so¬
gar um mehrere Grade zu erhöhen.
Diese Wärmeerhöhung entsteht nun
aber nicht, wie beim Fieber, unter er¬
höhten cellularen Verbrennungen, unter
erhöhtem Stoffwechsel, sondern sie ist
eine neue Wärmeenergie, welche als elek¬
trische Energie dem Körper zugeführt
und in diesem in Wärme umgesetzt ist.
Soviel kurz über die Physik und phy¬
siologische Wjrkung der Diathermie. —
Apparate. Von Diathermieapparaten
sind mir durch jahrelangen Gebrauch be¬
kannt der von Siemens u. Halske und
der von Reiniger, Gebbert und Schall.
Namentlich der erstere, die neuen Modelle
sind mit einer Wasserkühlung der Funken¬
strecke versehen; eignet sich dank seiner
einfachen Wartung und leichten Hand¬
habung ganz besonders für Kriegszwecke;.
der Apparat von Reiniger, Gebbert und
Schall gibt sehr viel her und ist besonders
für starke Beanspruchung sehr zu emp- !
fehlen.
Als Leitungskabel empfehle ich
derbe, gut isolierte Kabel, die nicht mit
den Elektroden fest verbunden sind,
sondern an beiden Enden Stifte haben.
Zur Parallelschaltung können die Kabel
gabelartig an einem Ende geteilt sein.
Elektroden. Während ich früher
Elektroden benutzte, die mit einer, Flüssig¬
keiten aufsaugfähigen, Stofflage bedeckt j
waren, wende ich jetzt nur noch Metall¬
elektroden ohne jeden Stoffbelag an.
Ich habe die Erfahrung gemacht, daß
die Stoffauflage sich im Verlaufe der
Sitzung dermaßen erhitzt, daß ein
brennendes Gefühl auf der Haut ent¬
steht und eine Steigerung der Durch¬
wärmung unmöglich wird. Als Material
hat sich mir am besten Neusilber
0,5 bis 0,7 bis 1,0 mm stark bewährt, |
das sich den Körperkonturen sehr gut |
anschmiegt und eine bessere Haltbarkeit, |
ein besseres Aussehen behält als z. B. Blei
oder Zinn. Eine größere Anzahl dieser,-
mit je einem Anschlußstift für die, Kabel
und Elektrode verbindende Klemm¬
schraube, versehenen Elektroden, muß
stets vorhanden sein, um bei richtiger
Größenwahl den günstigsten Effekt zu
erzielen.
Wenn ich in folgendem einige Größen
vorschlage, die nach meiner Erfahrung
die praktischsten sind und für alle Be¬
handlungen ausreichen, so will ich damit
nicht feststehende Maße schaffen, sondern
nur Anhaltepunkte geben; im Gegenteil,
es ist gut, sich für bestimmte Appli¬
kationen die Elektroden ■zurechtzuschnei¬
den, wie sie dem Körperteil am besten
anliegen.
Ich schlage also vor, folgende Größen
vorrätig zu halten:
Je zwei Elektroden winklig 3,5x6,
4,5x8, 5x10, 6x12, 8x8, 7,5x15,
10x10, 10x12, 10x20, 12x18, 12x27,
eine von 25x30 cm; je zwei Elektroden,
rund mit 2, 3, 4, 5, 6, 7 und je eine mit
8 und 12 cm Durchmesser; 1 Paar Hand¬
elektroden, das von mir angegebene
Fußelektroden-Bänkchen, das, mit kleinen
Rädchen versehen, eine Lageveränderung
der Beine gestattet, eine Erleichterung,
die sehr angenehm empfunden wird
(Verfertiger: Fritz Hennicke- Solingen).
Bucky (Berlin) wendet Staniolstreifen
an; mir fehlt die Erfahrung hierüber;
ich kann riiir aber denken, daß sie zweck¬
mäßig und sauber in dem Gebrauch sind.
— Am einfachsten bewirkt man ein ge¬
naues Anliegen der Elektroden durch das
Andrücken mittels Sandsäcke oder Bin¬
dentouren.
Einige Grundsätze zur Technik sind
unbedingt zu beachten:
1. Um eine gleichmäßige Durch¬
wärmung eines Körperteiles zu erzielen,
wendet man gleichgroße Elektroden an
und legt sie bei der Querdurchwärmung
möglichst einander gegenüber an; um
dagegen an einer bestimmten Stelle einen
größeren Wärmeeffekt zu erreichen, nimmt
man Elektroden von ungleichem Flächen¬
inhalt und zwar die kleinere an der Stelle
des beabsichtigten größeren Wärme¬
effektes. (Diese Forderung ist bedingt
durch die Tatsache, daß nach der
kleineren Elektrode hin die größere
Stromdichte und damit die stärkere Er¬
wärmung eintritt.
2. Die Querdurchwärmung ist, wo
nur angängig, der Längsdurchwärmung
vorzuziehen.
3. Bei der Querdurchwärmung muß
der kleinste — auf der Haut gemessene —-
18
138 Die Therapie der
Abstand der beiden einander zugekehrten
Elektrodenauflagestellen größer sein als
der kleinste Querdurchmesser des be¬
handelten Körperabschnittes (um zu ver¬
hindern, daß der Strom um den Körper¬
abschnitt herum, statt durch ihn hin¬
durchgeleitet wird).
4. Der Strom darf erst geschlossen
werden, wenn die Elektroden fest liegen;
es ist stets mit geringster Stromstärke
zu beginnen und langsam mit dieser zu
steigern.
5. Solange der Strom geschlossen ist,
darf, der Kranke nicht ohne Aufsicht ge¬
lassen werden.
6. Jedes unangenehme Gefühl von
seiten des Kranken (Stechen, Ziehen) ist
fast gleichbedeutend mit einer Schädi-.
gung;es darf die Strommenge (siehe unten)
also nur soweit gesteigert werden, als sie
ein angenehmes Gefühl der gleich¬
mäßigen Wärme bei dem Kranken
erzeugt.
7. Da die Wärme sich noch nach
Stunden fühlbar erhält, umhülle man für
die nächsten Stunden den diathermierten
Körperteil mit Watte oder Wolle.
Spezieller Teil.
Nunmehr komme ich zur Anwendung
der Diathermie bei den einzelnen Krank¬
heitsformen.
Aus meinen eigenen Erfahrungen will
ich jedesmal kurz mein Urteil über den
zu erwartenden Erfolg abgeben; ich er¬
wähne allerdings gleich, daß ich in der
Aufstellung nur Krankheitsformen heraus¬
griff und zur Behandlung empfahl, die
im Kriege häufig Vorkommen und deren
Behandlung nach meiner Erfahrung eine
gute Prognose zuläßt.
Im großen und ganzen kann man das
Indikationsgebiet für die Diathermie kurz
derart umgrenzen, daß man sie da zur
Anwendung bringt, wo erfahrungsgemäß
die Wärme, eines der ältesten Hilfsmittel
in der Medizin, an sich von gutem Ein-
. fluß ist. Der Vorteil einer Diathermie¬
behandlung liegt, wie ich bereits eingangs
erwähnte, darin, daß man in der Lage ist,
den Körper beziehungsweise einen Teil
desselben in gewählter Richtung und ge¬
wollter Intensität in seinem Innern zu
durchwärmen mittels elektrischer, im
Körper in Wärme umgewandelter Schwin¬
gungsenergie; während man mit den bis¬
her üblichen Methoden der Wärmeappli¬
kation auf die Haut (Kompressen, Bädern,
Douchen) nur für Bruchteile eines
Millimeters in den Körper, in die Haut
Gegenwart 1917. April
eindringen konnte, ohne diese zu schä¬
digen.
Behandlung der Gelenke, Bänder, Muskeln.
Indikationen: Arthritis rheumatica,
urica, gonorrh., deformaris, traumatica,
hydrops genus, traumatische Gelenkver¬
steifungen, Verstauchungen; Muskelrheu¬
matismus, Lumbago, sekundäre Muskel¬
atrophie, Distorsionen.
Anmerkung: Fieber erst abklingen
lassen! Nie Polyarthritiden mit Diather¬
mie behandeln, innere Therapie besser!
Nie frische Entzündungen und Eiterungen,
keine Tuberkulose mit Diathermie be¬
handeln!
Prognose undErfahrungen. Akute
Gichtanfälle und alle subakuten Arthri¬
tiden sind die dankbarsten Indikationen;
erstere werden meist in zwei bis drei (oft
bereits nach einer) Sitzungen koupiert;
letztere geben auch da noch sehr gute
Erfolge, wo schon wochen- und monate¬
lang auf andere Weise erfolglos behandelt
wurde. Bei Arthr. gonnorrh. konnte
ich stets ein schnelles Aufhören der
Schmerzen feststellen. Hartnäckige Ex¬
sudate werden schneller kleiner und ver¬
schwinden ganz. Traumatische Gelenk¬
versteifungen, Verstauchungen können
ebenso wie sekundäre Muskelatrophien,
viel früher mit Massage und Medico-
mechanik behandelt werden, da die
Schmerzen bei ihrer Anwendung ungleich
geringer sind und der Muskelwiderstand
erheblich kleiner ist. — Muskelrheumatis¬
mus und Lumbago sah ich bereits nach
einigen Sitzungen schwinden. — Nicht
unerwähnt möchte ich einen Fall von
Versteifung im Kniegelenk lassen, die
nach einigen Wochen der Behandlung
allein mit Diathermie sich so veränderte,
daß der Patient infolge des nunmehr ent¬
standenen Schlottergelenkes anfangs nur
noch mit einer festen Kniekappe gehen
konnte (!).
Technik:
'Schultergelenk: Elektroden: a) Durch beide
Schultern hindurch: Auf musc. delt. der kran¬
ken Seite winkelige Elektrode 8 x 8 cm, der
gesunden Seite winkelige Elektrode 10 x 10 cm
mit breiter Binde beiderseits circular fixieren,
b) Durch eine Schulter hindurch: Hinten winke¬
lige Elektrode 4,5 x 8 cm an Schultergelenk durch
Rückenlage andrticken, vorn auf Gelenkspalt
runde Elektrode mit 5 — 6 cm Durchmesser durch
Sandsack fixieren.
Stromstärke: Zu a: 0,7—1,0 Ampere;
zu b: 0,3—0,5 Ampere.
Dauer: 20 Minuten.
Ellenbogengelenk: Arm liegt proniert und
fast gestreckt auf Unterlage.
139
April Die Therapie der Gegenwart 1917.
Elektroden: Oben und unten runde Elek¬
trode 5 und 6 cm Durchmesser' mit Binde oder
Sändsack fixieren.
Stromstärke: 0,3—0,4 Ampere.
Dauer: 15-^20 Minuten.
Handgelenk: Elektroden: a) Beide Hand¬
gelenke: Han.delektroden.mit beiden Händen um¬
fassen. (Da Volarseite eher heiß wird, eventuell
die Hände dorsal flektiert halten!)
b) Ein Handgelenk: Handgelenk mit Volar¬
fläche auf Elektrode 4,5 x 8 cm legen, die zur
besseren Anpassung auf einem s Sandsack ruht;
dorsal 3,5 x 6 cm Elektrode mit Sandsack be¬
schweren. .
Stromstärke: Zu a: 0,4—0,5 Ampere, zu b:
-0,2—0,3 Amp&re.
Dauer: 15—20. Minuten,
Fingargelenke: Elekroden: a) Die Finger
in eine etwa 20 x 30 cm große mit Salzwasser
8 cm hoch gefüllte Schale halten, auf deren Grund
eine 10 x 20 cm-Elektrode liegt; die andere —
indifferente — Elektrode entweder als Fuß-(siehe
unten) oder Gesäßelektrode (siehe unten) ange¬
wendet (nach Kowarschik). b) Finger- bezie¬
hungsweise Mittelhandgelenke: Handfläche' auf
12 x 18 cm-Elektrode; dorsal: 4,5 x 8 cm-Elek¬
trode; c) einzelne Gelenke: volar: 12 x 18 cm.,
dorsal: rund 2 oder 3 cm.
' Stromstärke: Zu a, b, c: 0,2—0,3 Ampere.
Dauer: 15 Minuten.
Hüftgelenk (Rückenlage): • Elektroden:
a) Beide-Hüften: Je 12 x 18 cm-Elekrode beider¬
seits auf Trochantergegend entweder mit breiter
Binde fest anwickeln oder durch schwere Sand¬
säcke fest andrücken. b) Eine Hüfte: Patient
drückt in Rückenlage runde Elektrode 12 cm
Durchmesser an Glutäalgegend an; vorne über
dem Gelenkspalt runde 7—8 cm-Elektrode mit
Sandsack festgelegt.
Stromstärke : a: 1,5 Ampere, b: 1,0 Ampere.
Dauer: 20—25 Minuten.
Kniegelenk: Elektroden: Innen und außen
je 5 x 10 cm-Elektrode oder 5x10 und rund
0 cm mit Binde fixieren; bei Contracturen die
Elektrode entsprechend zuschneiden.
Stromstärke : 0,9—1,2 Ampere.
• Dauer: 20—25 Minuten.
Fußgelenk: Elektroden: a) Beide Fu߬
gelenke: Jeden Fuß auf eine Elektrode 12 x 27 cm
stellen, beziehungsweise gesunde Seite auf 12 mal
27 cm, kranke auf 10 x 10 cm (Sandsäcke unter
jede Elektrode, um ein gutes Anschmiegen der¬
selben zu erreichen), b) Ein Gelenk: Runde
Elektroden 4 und 5 cm zugeschnitten und zurecht¬
gebogen, unterhalb der Malleolen mit Sandsäcken
festlegen und diese mit Bindentouren fixieren.
Stromstärke: Zu a: 0,5—0,75 Ampere; zu
b: 0,25—0,3 Ampere.
Dauer: 20 Minuten.
Mittelfußgelenke: Elektroden: Fuß auf
12 x 27 cm-Elektrode stellen; dorsal: runde Elek-.
trode 6 beziehungsweise 7 cm oder winklig
4,5 x 8 cm.
Stromstärke: 0,3—0,4 Ampere.
Dauer: 15—20 Minuten.
Zehengelenke: Elektroden: a) Fuß auf
10 x 10 cm-Elektrode stellen; dorsal: 4,5 x 8 cm.
b) Große Zehe: wie a, dorsal rund 4 cm.
Stromstärke: Zu a: 0,3 Ampere; zu b:
0,2—0,3 Ampere.
Dauer: 15—20 Minuten.
Kiefergelenke: Elektroden: Runde 5 be¬
ziehungsweise 6 cm-Elektrode auf Kiefergelenke
mittels kleiner Wattepolster andriicken und durch
Bindentouren fixieren.
Stromstärke: 0,3—0,4 Ampere.
Dauer: 25 Minuten.
In einer der Behandlung der Gelenke ganz
analogen Weise werden die Muskelgruppen der
einzelnen Körperabschnitte behandelt. , *
Oberarm: Elektroden: Je 5 x 10 cm-
Elektrode an Außen- und Innenseite mit Binde
fixieren.
Stromstärke: 0,5—0,7 Ampere.
Dauer: 15—20 Minuten.
Unterarm: Arm in Pronationsstellung auf
eine Unterlage legen. Elektroden: Je 4,5 x 8
cm-Elektrode auf Vorder- und Rückseite mittels
Sandsäcken andrücken.
Stromstärke: 0,4—0,6 Ampere.
' Dauer: 15—20 Minuten.
Rücken: Rückenlage auf halbharter Matratze.
Elektroden: a) Hinten 12 x 18 cm-Elektrode
quer über beide Rückenmuskeln, vorn 12x 27 cm-
Elektrode quer über beiden Rectis mit Sandsack
fixiert, b) Hinten 7,5 x 15 cm-Elektrode hoch¬
gelegt über einen Rückenmuskel, vorn gegenüber
12 x 18 cm-Elektrode.
Stromstärke: Zu a: 1,5—2 Ampere; zu b:
1,2—1,5 Ampere.
Dauer : 25 Minuten.
Oberschenkel: Rückenlage oder Sitz. Elek-
troden: Je 7,5 x 15 cm-Elektrode langgelegt an
Außen- und Innenseite mit Sandsäcken fixieren
beziehungsweise Oberschenkel auf untere Elek¬
trode in Rückenlage andrücken.
Stromstärke: 1,0—1,5 Ampere.
Dauer: 20—25 Minuten.
Unterschenkel: Elektroden: Je 6 x 12 cm-
Elektrode langgelegt an Außen- und Innen¬
seite, wie beim Oberschenkel. (Tibiakante ver¬
meiden!)
Stromstärke: 0,7—1,0 Ampere.
Dauer: 20—25 Minuten.
Behandlung des Nervensystems.
Indikationen: A, Erkrankungen der
peripheren Nerven: Neuralgie, Neuritis
(Ischias, Brachial-, Trigeminusneuralgie).
Prognose und Erfahrungen. Recht
wechselnd waren meine Erfahrungen bei
der Behandlung der Neuralgien. Während
ich bei einer sehr großen Anzahl Ischias¬
kranker ganz eklatante Erfolge selbst bei
alten Fällen hatte,, dergestalt, daß die
Kranken bereits nach sechs bis sieben
Sitzungen ohne jedes Narkoticum bleiben
und sogar schlafen konnten, versagte die
Behandlung bei manchen Ischiasfällen
und manchen Brachialneuralgien, so daß
ich mir zum Grundsatz gemacht habe, die
Diathermiebehandlung in den Fällen ab¬
zubrechen, in denen nach etwa sieben bis
acht Sitzungen eine — wenn auch nur
geringe— Besserung nicht zu bemerken
war. Auch die Neuralgie der Trige¬
minusäste war nicht das dankbarste In¬
dikationsgebiet. Ich hatte Kranke mit
typischen Trigeminusneuralgien, die be¬
reits nach den ersten Sitzungen ihre — in
einem Falle, fast zehn Jahre alten —
täglich sie quälenden Schmerzen für
viele Monate verloren und auch solche,
18*
140
Die Therapie der Gegenwart 1917.
April
bei denen die Behandlung eine nur ganz
verschwindende Besserung ihres Leidens
bewirkte.
Immerhin sollte eine Behandlung der
Ischias mit Diathermie eine Pflicht, eine
Behandlung der Trigeminusneuralgie mit
ihr eines Versuches wert sein!
Technik:
Ischias: Ich behandle die Ischias meist der¬
art, daß ich den Nerv möglichst in seiner ganzen
Länge von der Austrittsstelle bis zur Umschlag¬
stelle an dem äußeren Malleolus in Abschnitten zu
durchwärmen versuche. Eine Ischiasbehandlung
zerfällt demzufolge in vier Abschnitte und ge¬
staltet- sich folgendermaßen:
Elektroden:
I. Über der Austrittsstelle des Nervus ischiad.
runde 8 cm-Elektrode, die der Kranke in Rücken¬
lage mit dem Körper festhält; vorn in Höhe des
unteren Drittels an der Innenseite des Ober¬
schenkels 10 X 10 cm-Elektrode.
II. Vordere Elektrode bleibt liegen, unterhalb
des Wadenbeinköpfchens runde 5 cm-Elektrode.
III. Über der Mitte der Wade an Außen- und
Innenseite je 6 x 12 cm-Elektrode.
IV. Elektrode an' der Innenseite der Wade
bleibt liegen, unterhalb des äußeren Malleolus eine
aus einer 3,5 x 6 cm oder runden 4 cm-Elektrode
der Konfiguration des Körperteils durch Biegen
angepaßte zurechtgeschnittene Elektrode. (Kno¬
chenkanten vermeiden!)
Stromstärke : Abschnitt 1:0,9—1,1 Ampere,
Abschnitt II: 0,7—0,8 Ampere, Abschnitt III:
0,7—1,0 Ampere, Abschnitt IV: 0,3—0,5 Ampere.
Dauer : Jeder der vier Abschnitte 15 Minuten..
Ist dagegen nur ein Ast des Nervus ischiad.
erkrankt, so wird man sinngemäß nur den ent¬
sprechenden Abschnitt diathermiereri.
Brachialneuralgie: Auch hierbei einzelne Ab¬
schnitte nacheinander durchwärmen.
Elektroden:
I. 10 x 10 cm und 8x8 cm-Elektrode auf
Außenseiten beider Oberarnie, über Musculus delt.
(8 x 8 cm auf kranke Seite!) oder 4,5 x 8 cm-
Elektrode über der Fossa supraspinata, 8 x 8 cm
über Fossa infraclavicularis. II. Wie Oberarm¬
durchwärmung (siehe oben). III. Wie Unterarm¬
durchwärmung (siehe oben).
Dauer: Je 15 Minuten.
Trigeminusneuralgie. Elektroden: Runde
7 cm-Elektroden auf beiden Wangen entweder
mit einer Gummiauflage bedeckt und mit den
Händen festgehalten oder mit einer Binde fixiert.
Stromstärke: 0,3—0,5 Ampere.
Dauer: 20 Minuten.
B. Erkrankungen des centralen
Nervensystems. Lancinierende Sch mer¬
zen der Tabiker (Sensibilität vorher
prüfen!!), angina pect., allgemeine Nerven¬
erschöpfung.
Prognose und Erfahrung. Fast
immer lassen sich die Schmerzen der
Tabiker durch entsprechende Diather¬
mierung der einzelnen Körperabschnitte
wenigstens für längere Zeit beseitigen;
die Angina pect, wird gut beeinflußt, das
Allgemeinbefinden der an Schlaf- und
Appetitlosigkeit leidenden Erschöpften
ganz wesentlich gebessert. ‘ Es ist eine
auffallende, bekannte Begleiterscheinung
der Diathermie, daß die mit ihr Be¬
handelten fast ausnahmslos und un¬
gefragt ihr erhöhtes Schlafbedürfnis und
ihren gesteigerten Appetit zur Sprache
bringen. '
Technik. Je nach dem Sitz der
lancinierenden Schmerzen diathermiert
man nun:
Beine: Elektroden: Beide Füße stehen auf
einer großen Fußelektrode 25 x 30 cm; die andere
Elektrode 12 x 18 cm quer unterhalb des Kreuz¬
beins oder lang in Höhe der Lendenwirbelsäule
wird im Sitz gegen die Rückenlehne und gegen,
einen Sandsack festgehalten. •
Stromstärke: 1,0—1,2 Ampere.
Dauer: 20—25 Minuten.
Arme: Wie Brachialneuralgie. .
Brust: (Gürtelschmerz): Elektroden: Je
12 x 48 cm-Elektrode in den Achselhöhlenlinien
mit breiter Binde zu beiden Seiten des Thorax
fixiert.
Stromstärke: 1,0—1,5 Ampere.
Dauer: 20—25 Minuten.
Magen - Darm - Blasenschmerzen. Tee hn i k :
Siehe oben Rücken a. — Elektroden entsprechend
über Magen, Darm oder Blase legen.
Angina pectoris. (Sitz- oder Rückenlage.
Elektroden: 12 x 18 cm-Elektroden an Rücken
durch Unterlage, über der Herzgegend 10 x 10cm-
Elektrode mit der Hand und Sandsaek andrücken.
Stromstärke : 0,9—1,3 Ampere.
Dauer: 15 Minuten.
Allgemeine Nervenerschöpfung
mit Schlaf- und Appetitlosigkeit.
Technik: Ganzdiäthermie des Körpers.
Elektroden: Beide Füße stehen auf der
großen Fußelektrode, 25 x .30 cm, beide Hände
umfassen die Handelektroden, der Oberkörper
befindet sich in halbliegender Stellung.
Stromstärke: 0,8—1,0 Ampere.
Dauer: 20 Minuten.
Behandlung bei Erkrankungen der
Atmungsorgane.
Indikationen. Bronchitis (auch
chronische, mit Astmaerscheinungen),
Pneumonie, Pleuritis.
Prognose und Erfahrungen. Sehr
gut; bereits nach ein bis zwei Sitzungen
(je nach Schwere der Erkrankung) sehr
leichte, reichliche Expektoration, ge¬
ringerer Hustenreiz, schnelle Lösung ünd
Resorption der Exsudate. Schmerzen
lassen, bei Pleuritis sicca besonders deut¬
lich, meist schon während der ersten
Sitzung nach, Ja hören in vielen Fällen
nach einer Sitzung sogar auf.
, Technik:
Elektroden: Auf beiden Seiten des Thorax
je eine 12 x 18 cm-Elektrode in der Achselhöhlen¬
linie oder über der schmerzhaften Stelle 10 mal
12 cm und gegenüber 12 x 18 cm.
Stromstärke: 0,8—1,2 Ampere.
Dauer: 20—25 Minuten.
April Die . Therapie der Gegenwart 1917. - .141
Behandlung bei Erkrankungen des Herzens.
Indikationen. Hauptsächlich ch ro-
nische Entzündungen des Herzmuskels
(Myokarditis mit stenocardischen • Be¬
schwerden).
Prognose und Erfahrungen. Ganz
besonders eignen sich die Erkrankungen
der Koronargefäße, der muskulären De¬
generation des Herzens für die Behand¬
lung. Die stenokardischen Anfälle werden
bereits nach einigen Sitzungen leichter,
seltener und bleiben nach einer mehr¬
wöchigen Behandlung meist ganz fort.
In der Mehrzahl der Fälle werden die
Schmerzen schon während der ersten oder
zweiten Sitzung derart geringer, daß die
Kranken unaufgefordert ihre Erleichte¬
rung mitteilen.
Technik: Wie Angina pectoris (siehe oben).
Bei dieser kurzen Streife der Herzkrankheiten
möchte ich nicht unerwähnt lassen, daß ich in
allen Fällen von Hypertonie der Gefäße durch die
Diathermie (Ganzdiathermie: Hand- und Fu߬
elektroden) eine Herabsetzung des Blutdruckes
erzielte, die ih einzelnen Fällen recht beträchtlich
von 250 beziehungsweise 240 auf schließlich 180,
170, 160 R. R. innerhalb ungefähr vier Wochen
für Monate herunterging.
Über die Behandlung anderer innerer
Erkrankungen, wie die der Gonorrhöe,
der Nierenerkrankungen, Cystitis, Appen-
dicitis und anderer möchte ich in dieser
Abhandlung keine Richtlinien geben, da
ich bei der gewollten Kürze der Kritik
nicht Raum genug gewähren könnte.
Die Erfahrungen über die Wirkungen bei
diesen Erkrankungen sind noch nicht
übereinstimmend, das Urteil noch nicht
annähernd abgeschlossen, so daß es ver¬
früht ist, schon jetzt Normen für eine
Technik aufzustellen.
Bueky (Berlin) hat die Erfrierungen
in das Indikationsgebiet der Diathermie
gezogen; sicher ist der Gedanke gut und |
sollte zur Fortsetzung der Arbeit an- i
regen.
Kontraindikationen. Als solche
kommen vorwiegend alle Erkrankungen i
in Frage, bei denen die durch Diathermie |
geschaffene Hyperämie eine eventuell j
drohende Blutung akut werden lassen |
könnte. Es sind also von der Diathermie
auszuschließen:
Alle Lungenerkrankungen, bei denen
eine Hämoptoe entweder eben statt-
gefunden hat oder vorausgesehen werden
kann; ebenso alle Erkrankungen des
Magens, die auf das Vorhandensein eines
Ulcus verdächtig sind, alle Blasenerkran¬
kungen, die mit Blutungen einhergehen
und ähnliche.
Daß frische Eiterungen und Entzün¬
dungen, die zu^ Eiterungen erfahrungs¬
gemäß führen, nicht mit Diathermie be¬
handelt werden sollen, habe ich bei der
Besprechung der Gelenkerkrankungen be¬
reits erwähnt.
Ich habe in der vorliegenden Arbeit
mit den Andeutungen meiner Erfahrungen
nur Richtlinien und Anhaltpunkte und
damit eine leichtere Möglichkeit und mehr
Anregung geben wollen, der Diathermie
einen breiteren Raum bei der Behandlung-
mehrerer im Kriege häufig vorkommender
Erkrankungen und Folgezustände ein¬
zuräumen. Diese Behandlung wird sich
in erster Linie am leichtesten im Heimat¬
gebiet, aber auch ganz leicht im Kriegs¬
lazarett ermöglichen lassen, zumal die
Apparatur einfach ist und häufig leicht
mit ,der eines Röntgeninstrumentariums
verbunden werden kann.
Der Erfolg wird jeden, der sich mit
der Diathermie beschäftigt, recht bald
für die anfänglichen Kinderkrankheiten
jeder neuen Methode reichlich entschä¬
digen; diese Kinderkrankheiten möglichst
abzukürzen, sollte mit der Zweck dieser
Arbeit sein.
Mit den Verhältnissen, in denen die
Arbeit entstanden ist — im Felde, in
der Stellung —, möge die dürftige
Literaturangabe entschuldigt werden.
Literatur: Bucky, G., Zur Applikations¬
technik der Diathermieströme. (B. kl. W. 1914,
Nr. 2.) — Kowarschik, J., Die Diathermie. —
Nagelschmidt, F., Die Diathermie. — Nagel¬
schmidt, F., Über die klinische Bedeutung der
Diathermie. (D. m. W. 1911, Nr. 1.) — Siemens
u. Halske, Diathermie im Kriegslazarett. —
Stein, Alb. E., Die Diathermie bei der Behand¬
lung von Knochen- und Gelenkkrankheiten. (B.
kl. W. 1911, Nr. 23.)
Aphorismen über Sexualneurasthenie.
Von Dr. Erich Lewy-Berlin.
Daß nervöse Störungen im physiolo- beim Weibe ist dies stets beobachtet
gischen Verhalten des Menschen vielfach worden. Chronische Scheiden- und Ge-
der reflektorische Ausdruck pathologi- bärmutterkatarrhe, Prolapse, Menorrha-
scher Veränderungen der Genitalien sind, gien, Eierstocksgeschwülste und andere
ist eine bekannte Tatsache. Besonders i Erkrankungen der Genitalien verbergen
Die Therapie der Gegenwart 1917.. April
sich häufig hinter dem Symptomenkom-
plexe der Neurasthenie und Hysterie.
Auch die sexuelle Neurasthenie beim
Manne hängt ganz sicher von organischen
Veränderungen im Genitaltraktus ab, die
zwar nicht immer — auch nicht instru-
inentell — erkennbar sind, aber dem
therapeutischen Erfolg entsprechend vor¬
handen gewesen sein müssen.
Desormeauxin Paris, der ein Endo¬
skop erfunden hatte, das zwar primitiv
war, mit dem man aber die ganze Harn¬
röhre und sogar einen Teil der Blase
sehen konnte, war einer der ersten, der
diesen Dingen näher trat. Sein Instru¬
ment erwies sich besonders bei der Be¬
handlung hartnäckiger Gonorrhöen als
nützlich. Bei den Beleuchtungen mit
seinem Endoskop fand er nun die Ursache
der Reizbarkeit der Urethra posterior.
Die Schleimhaut der Pars prostatica, und
membranacea war in verschiedener Stärke
granuliert. Seine Behandlung dieser Zu¬
stände bestand in lokaler Applikation des
Höllensteines.
Die darauffolgende Ära vergaß sehr
bald diese, wenn auch mit bescheidenen
Mitteln gefundenen, dennoch aber nicht
weniger bedeutungsvollen Beobachtungen.
Man wandte sich mehr den Innervations¬
störungen der sexuellen Neurasthenie zu.
Mögen nun diese Störungen im Gehirn,
den Nervenbahnen oder an den Nerven-
endpunkten liegen, sie beruhen ganz ge¬
wiß auf organischen Veränderungen, die
von uns mit den uns bis jetzt zur Ver- !
fi'igung stehenden Hilfsmitteln nur noch 1
nicht wahrnehmbar sind. Bei einer nicht
kleinen Anzahl von Fällen von sexueller
Neurasthenie ist natürlich die Ursache
zum Teil sofort erkennbar und eine
therapeutische Handlungsweise dement¬
sprechend angezeigt. Anatomische Män¬
gel und Veränderungen der Genitalien,
die angeboren oder erworben sein können,
sind solche Ursachen.
Auch in den peripheren Nerven des
Genitalgebietes liegt zuweilen der Grund
für die. in funktioneller Weise zur Gel¬
tung kommenden Störungen. Daß orga¬
nische Erkrankungen, wie Tabes dorsalis,
progressive Paralyse, psychisch auf das
Erektions- und Ejaculationscentrum ein¬
wirkende Hemmungen, allgemeine Schä¬
digungen, wie Diabetes, Syphilis und
* Tuberkulose, Intoxikationen mit Alkohol,
Tabak, Opium, Morphium, Arsen, Cam-
pher, Lupulin und Brom, schwere Impo¬
tenzerscheinungen hervorrufen können, sei
nur der Vollständigkeit halber erwähnt.
Vom urolögischen Standpunkte aus
interessieren am meisten, die lokalen Ver¬
änderungen, die durch Onanie, Excesse
in venere, Coitus interruptus und Gonor¬
rhöe in der hinteren Harnröhre und ihrer
Umgebung hervorgerufen werden und die
Ursache für eine sexuelle Neurasthenie
bilden. Besonders der Colliculus seminalis
weist bei endoskopischer Untersuchung oft
erhebliche pathologische Veränderungen
auf.
Bei meinen dreijährigen poliklinischen
Beobachtungen stieß ich häufig auf krank¬
hafte Prozesse dieses Harnröhrenabschnit¬
tes. Je nach den verschiedenen Stadien,
in denen sich einem die. Veränderungen
darbieten, ist das endoskopische Bild be¬
schaffen. Im Anfänge zeigt sich eine Auf¬
lockerung und papilläre Beschaffenheit
der Schleimhaut, später sieht man Ver¬
dickungen, schwielige Degeneration und
Infiltrationen. Ich sage hiermit nichts
Neues. Es ist von manchem sachkundigen
Beobachter schon dasselbe gesehen und
beschrieben worden. Mit letztgenannter
Infiltration z. B. meint Finger, hängt
zweifellos jenes Symptom zusammen,
über das die Patienten meist klagen, daß
sie im Augenblick der Ejaculation, näm¬
lich, wenn eben das Sperma durch den
infolge der Infiltration verengten Ductus
ejaculatorius sich durchpreßt, einen Stich,
einen Schmerz empfinden. Auch die Sper-
matorrhöe findet in diesen Veränderungen
ihre Erklärung.
ln vielen Fällen von reizbarer Schwä¬
che findet sich mit den Erkrankungen des
Colliculus vergesellschaftet eine chronische
Prostatitis, worauf besonders Posner
hingewiesen hat. Ihre Ursachen sind
natürlich auch die chronische- Gonorrhöe,
Coitus interruptus und Onanie. In welcher
Weise diese lokalen Veränderungen ein¬
wirken, ob sie die spinalen Centren funk¬
tionell beeinflussen, ob eine Neuritis, die
rein peripherer oder gleichzeitig ascendie-
render Natur sein kann, die funktionelle
Störung hervorruft, das ist noch nicht
erforscht.
Die lokalen Prozesse bedürfen natür¬
lich einer lokalen Behandlung. Was
Lallemand und Desormeaux einst
taten, wird in verschiedenen Modifika¬
tionen noch heute geübt. Das Argentum
nitricum spielt dabei eine hervorragende
Rolle. Galvanokaustische Stichelungen
des Colliculus, Spülungen, Dehnungen mit
Bougies, besonders mit Hohlsonden, wer¬
den vielfach. angewendet. Hydrothera¬
peutische, baineologische, allgemein-diäte-
April
Die Therapie der Gegenwart 1917. 143
tische und medikamentöse Behandlungs¬
wege werden auch häufig, meistens von
neurologischer Seite, eingeschlagen. Die
Erfolge der Organotherapie sind nach
meinen Beobachtungen wohl noch etwas
zweifelhaft.
Was die Elektrotherapie betrifft, ste¬
hen sich die Ansichten über deren An¬
wendung teilweise schroff gegenüber. Fin¬
ger z. B. ist gegen die direkte Faradisa-
tion des Golliculus seminalis mit der
Kathodenelektrode. Er meint, daß diese
Behandlung schmerzhaft, aufregend und
geeignet wäre, die Neurasthenie des Pa¬
tienten zu steigern. Er läßt höchstens
eine Faradisation der Bulbusmuskulatur
gelten. Ebenso wird auch die intrarectale
Elektrotherapie von ihm verurteilt.
Andere Autoren wiederum melden
elektrotherapeutische Erfolge. P o ro ß,
. der in einer Atonie der Prostata die'
Hauptursache der sexuellen Neurasthenie
sieht, meint, daß auch dort die Krankheit
angegriffen werden muß und zwar durch
eine Tonisierung des Organes mit dem
faradischen Strome. Die theoretische Er¬
klärung mit der Ermüdung und Reizung
der Centren hält er für nicht stichhaltig,
da Pollutionen und Spermatorrhöe gleich¬
zeitig zugegen wären. Bei seinen anato¬
mischen Untersuchungen fand er ein acht¬
förmiges circuläres Muskelbündel der Pro¬
stata, das er Sphincter spermaticus nennt.
• Die pathologischen Funktionen des Mus¬
kels beschuldigt er für die Ursache von
Pollutionen, Spermatorrhöe und Impo¬
tenz;. Man muß zugeben, daß seine Mei¬
nung etwas für sich hat, wenn man be¬
denkt, daß in der nervenreichen Prostata
auch Ganglienknoten eingestreut sind, die
als periphere Centra für Harnentleerung
und sekuelle Funktionen dienen. Wenn
man ferner bedenkt, daß nach Prostat¬
ektomien, auch nach solchen, die per
laparotomiam ausgeführt werden, fast
immer Impotenz eintritt, kann man die
Ansicht Po roß’ nicht von der Hand
weisen. Auch Lydstone hält die Pro¬
stataveränderungen für die bedeutendste
Ursache der sexuellen Neurasthenie. Er
will beobachtet haben, daß auch diese
Veränderungen allein zu Verdauungs¬
störungen,' Koprostase, Kopfschmerzen,
Melancholie, Hypochondrie und manchen
anderen Erkrankungen führen, ja zu
einem Symptomenkomplex, der der Hy¬
sterie der Frau vollständig entspricht.
Man müßte, meint er, ihn logischerweise
Prostaterie nennen. Nebenbei bemerkt
sei hier noch, daß er durch die Resektion
der Vena dorsalis penis bei Impotenz
völligen therapeutischen Erfolg gehabt,
haben will.
Ich bin nun in der Lage gewesen, in
der Universitäts-Poliklinik für Hautkrank¬
heiten in Berlin eine Anzahl von Fällen
von sexueller Neurasthenie zu beobachten.
Bei den meisten gelang es mir, patholo¬
gische Veränderungen lokaler Natur fest¬
zustellen und gegen diese vorzugehen.
Die neurasthenischen Beschwerden er¬
gaben dann von selbst ein therapeutisches
Handeln. Anderen Fällen aber fehlte
jeder Befund. Systematische und indi¬
viduelle Behandlung war dann mehr denn
anderswo am Platze.
Einen besonders instruktiven Fall will
ich nicht unerwähnt lassen. Ein 28jähriger
Techniker suchte mich wegen seit einigen
Jahren bestehender Impotenz und neu-
rasthenischer Beschwerden im Gebiet der
Genitalien auf. Vor einigen Jahren Gonor¬
rhöe, keine Lues. Patient war mehrfach
wegen seines Leidens mit Bougies usw.
erfolglos behandelt worden. Ich endo-
skopierte ihn und fand den Colliculus
seminalis von mehreren Polypen über¬
wuchert, also einen sogenannten Colli¬
culus polyposus. Kaustik und mehrfache.
Ätzung beseitigten diesen Zustand. Die
anschließende urologische Behandlung
führte eine erhebliche Besserung seiner
sexuellen Neurasthenie herbei. Potenz trat
wieder in zufriedenstellender Weise ein.
Gewisse Ähnlichkeit bietet ein anderer
Fall dar:
Ein 40jähriger Fabrikarbeiter kam wegen
Impotenz in die Poliklinik. Die Endoskopie ergab
eine Urethritis granularis der Urethra posterior,
die durch jahrelang betriebene Masturbation her¬
vorgerufen war. Nach Beseitigung der Urethritis
wurde durch tonisierende Behandlung die Potenz
gehoben. ,
In neuerer Zeit bemerken oft Militär¬
personen, wenn sie längere Zeit im Kriegs¬
dienst tätig gewesen sind, danach eine
Schwächung ihrer P,otenz. Auch in diesen
Fällen deckt oft die genaue urologische
Untersuchung die oder wenigstens eine
Ursache des pathologischen Zustandes
auf.
Das A und 0 meiner Ausführungen
besagt also, daß die sexuelle Neurasthenie
streng individualisiert werden, daß jman
in jedem Falle den Kernpunkt des Übels
erforschen muß, um von dort aus den Weg
zur Heilung zu beschreiten.
144 Die Therapie der Gegenwart 1917.
April
Zusammenfassende Übersicht.
Zur Diagnose und Therapie der Pocken,
Da in der letzten Zeit, an verschie¬
denen Stellen Deutschlands die Pocken
in gehäufter Zahl aufgetreten sind, dürfte
den Lesern dieser Zeitschrift eine kurze
Darstellung der wesentlichsten Erschei¬
nungen und Probleme der Krankheit
erwünscht sein.
Wir geben dieselbe im folgenden auf
Grund der literarischen Darstellungen von
Jochmann und Mairinger..
Das ausgesprochene Krankheitsbild
macht wohl kaum diagnostische Schwie¬
rigkeiten. Dahingegen sind die Initial¬
symptome bei Variola derart, daß man
nicht sofort die richtige Diagnose stellen
kann. Sie ähneln denen der akuten In¬
fektionskrankheiten.
I. Initialstadium. Die unkompli¬
zierte Variola setzt mitten in vollster Ge¬
sundheit mitFrösteln, das seltener ein regu¬
lärer Schüttelfrost ist, und Fieber, das in
wenigen Stunden 39° und mehr erreichen
kann, ein. Es treten gleichzeitig mehr
oder weniger schwere subjektive Be¬
schwerden, wie Kopfschmerz, Schwindel,
starke Abgeschlagenheit auf. Entspre¬
chend der Temperatur ist die Pulszahl er¬
höht, ohne daß die Qualität eine wesent¬
liche Schädigung erfährt. Man findet
häufig eine einfache Angina catarrhalis.
Sonstige wirklich greifbare Abweichungen
der Organe sind nicht zu finden, höchstens,
wie Joch mann schreibt, gelegentlich
eine nur wenig vergrößerte Milz. Als wich¬
tigstes Symptom werden hochgradigste
Kreuzschmerzen von bohrendem, ziehen¬
dem Charakter und wechselnder Inten¬
sität in der Lumbosacralgegend ange¬
geben. Wenn auch Kreuzschmerzen an¬
deren Infektionskrankheiten eigen sind,
so sind sie als Initialsymptom bei der
Variola von außerordentlicher Heftigkeit.
Wir werden aber zugestehen müssen, daß
wir, die wir in Friedenszeiten nur höchst
selten Pocken sehen, bei einem Sympto-
menkomplex, wie ich ihn. kurz entworfen
habe, sicher eher an Influenza, Pneu¬
monie usw. denken als an Pocken. Jetzt
freilich, wo wir angesichts der zahlreichen
Pockenmeldungen aus dem ganzen Reiche
manchmal in übertriebener Angst hinter
jeder Influenza eine Variola wittern, kann
das Symptom der über Gebühr starken
Kreuzschmerzen bei genauer Beobach¬
tung des Weiterverlaufes ein wertvoller
Fingerzeig s’ein und man wird dann das
Auftreten des sogenannten Initialexan¬
thems, das dem eigentlichen Blattern¬
exanthem vorausgeht, wohl sicherlich
richtig auffassen. Dieses Initialexanthem
kann, losgelöst von dem sonstigen Krank¬
heitsbilde, falsch gedeutet werden. So be¬
richtet Jochmann von einem Kinde, bei
dem der Initialausschlag zuerst als Ma¬
sern gedeutet war: Meist erscheinen am
zweiten Tage zunächst im Gesicht, dann
am übrigen Körper, besonders an den
Streckseiten der Extremitäten blaßrote,
etwa linsengroße, nicht über der Haut
erhabene Flecken, die man mit dem Fin¬
ger fortdrücken kann. Bei Frauen sind
die Flecken häufig in der Umgebung der
Brustwarzen. In 12-—24 Stunden ist der
Ausschlag verschwunden. Er erinnert
lebhaft an Masern.
Außer diesem (morbillösen) Initial¬
exanthem gibt es noch ein sca'r 1 a t i n ö s e s.
Abgesehen von dem Aussehen • unter¬
scheidet sich diese Art von dem vorher be¬
schriebenen dadurch, daß es lokalisiert
auftritt und zwar hauptsächlich am
Schenkeldreieck und am Oberarm¬
dreieck. Das Exanthem wird oft hämor¬
rhagisch und läßt sich dann natürlich —
ein weiteres Differentialdiagnosticum ge¬
gen das morbillöse — nicht fortdrücken.
Es soll .auch gelegentlich bereits am ersten
Tage auftreten (das morbillöse meist am
zweiten Tage).
Von der Schwere der Initialerschei¬
nungen ka'nn man keine Schlüsse auf den
weiteren Verlauf der Krankheit ziehen.
Auf ein stürmisches Initialstadium folgt
nicht so selten nur eine Variolois. In
anderen Fällen kommt es überhaupt
nicht zur Entwickelung der eigentlichen
Blattern.
II. Sta d i u m Eru pti o n is. Am Ende
des dritten Tages lassen die Hauptsym¬
ptome nach, das Fieber fällt, die Kranken
fühlen sich schon alsRekonvaleszenten. Mit
dem Sinken der Temperatur zeigen sich
unter leichtem Juckreiz zuerst im Gesichte
und den benachbarten Teilen des Kopfes
hirsekorngroße, etwas erhabene Knötchen
von blaßroter Farbe. Sie greifen vom Ge¬
sicht auf Rumpf und Extremitäten über.
Am dichtesten ist der Ausschlag im Ge¬
sicht, während er an dem sonstigen Kör¬
per zerstreuter steht. Das einzelne Fleck¬
chen wird in den nächsten Tagen größer,
es bekommt am fünften Tage eine über
das Hautniveau ragende konische Spitze,
auf der sich dann am sechsten Tage ein
Die Therapie der Gegenwart 1917.
145
April
ganz kleines Bläschen ansetzt. Das Bläs¬
chen vergrößert sich, es erhält einen
serösen Inhalt, zeigt meist in der Mitte
eine Delle, den sogenannten „Pocken¬
nabel“. Sie sieht schließlich wie eine Perle
aus, die von einem schmalen roten Hof
umgeben ist. Dieser Zustand ist am
achten Tage erreicht.
Fast gleichzeitig mit dem Pocken¬
exanthem erfolgt auch das Exanthem, das
sämtliche Schleimhäute befallen kann:
Mund, Ösophagus, Nase, Conjunctiven,
Vagina, Urethra werden in Mitleiden¬
schaft gezogen. Daraus resultieren für die
Kranken die schlimmsten Beschwerden,
wie Speichelfluß, Heiserkeit, Unfähigkeit
zu schlucken usw.
Mit der eigentlichen Pockenentwicke¬
lung (dritten Tag) bis zur vollen Entwicke¬
lung (etwa sechsten) fällt die Temperatur.
Dann setzt das
III. Stadium suppurationis der
Pocken, ein, und mit ihm steigt
, das Fieber wieder an. Ungefähr am neun¬
ten Krankheitstage ist der Inhalt der ein¬
zelnen Blasen vollkommen vereitert. Es
vereitern zuerst die Pocken am Kopfe,
und erst daran anschließend die des Kör¬
pers; es wird also dabei die gleiche Reihen¬
folge innegehalten, wie beim Aufschießen
der Pocken/ Durch das Confluieren der
Höfe (Halo) um die einzelnen Pocken,
die im zweiten Stadium nur schmal, jetzt
aber größer und entzündet sind, kommt es
im Gesicht, wo ja' die Pocken dicht neben¬
einanderstehen, zu diffusem Ödem, sodaß
die Kranken ein unförmiges Aussehen bis
zur Unkenntlichkeit haben. Die Augen¬
lider sind ödematös, die Lippen verwan¬
deln sich in dicke Wülste, die Nasenflügel
sind ebenfalls verschwollen und verhin¬
dern die Nasenatmung. Der Zustand des
Patienten wird noch qualvoller durch die
Pusteln an der Schleimhaut. So zerfallen,
um nur ein Beispiel herauszugreifen, die
Pocken im Munde, am Rachen; es kommt
zu Ulcerationen, zu Nekrosen, deren un¬
heilvolle Folgen im einzelnen nicht ge¬
schildert werden brauchen. Die gleichen
Prozesse, wie am Mund, gehen in der Tra¬
chea, an der Harnröhre und After vor sich.
Bei vollentwickelter Krankheit wird häu¬
fig das Sensorium gestört, der Herzmuskel
versagt, in der Lunge etablieren sich Bron¬
chitis und Bronchopneumonien. Viele
Pusteln platzen und es entleert sich
dauernd Eiter, der in die Umgebung ab¬
fließt. Die Patienten geraten in Auf¬
regezustände, zumal sie schlaflos infolge
der Schmerzen sind.
' Eine Änderung tritt erst Ende der
zweiten Woche ein mit der Eintrocknung
der Pocken; es beginnt
IV. das Stadium exsiccationi s ; ,
das sich wieder zuerst im Gesichte bemerk¬
bar macht. Die Eintrocknung geht einher
mit Abnahme der Ödeme und der sonsti¬
gen Entzündungserscheinungen. Es bil¬
den sich Krusten von bräunlicher Farbe,
die dem Kranken durch starken Juckreiz
lästig fallen. Das Fieber fällt lytisch.
Inzwischen schwinden auch die Schleim¬
hautaffektionen. Der Allgemeinzustand
hebt sich allmählich.
Die Abstoßung der Borken dauert
verschieden lange. Nach dem Abfall der
Borken bleiben zunächst fast immer pig¬
mentierte Flecken zurück, die später einen
mehr bräunlichen Farbton annehmen.
Nach einiger Zeit verschwindet die Pig¬
mentierung. Als sichtbares Zeichen der
abgelaufenen Krankheit bleiben die be¬
kannten Pockennarben, die in leichteren
Fällen, bei denen der Suppuratiöns-
prozeß sich mehr auf die Haut beschränkt
und den Papillarkörper freiließ, fehlen.
.Damit dürfte die Symptomatologie der
Pocken in ihren für den Praktiker wissens¬
werten Grundzügen geschildert sein. Es
gibt noch einige besondere Formen:
I. Die Variola confluens ist durch
dichte Aussaat der Pocken, besonders im
Gesichte, charakterisiert. Alle oben ge¬
schilderten Symptome treten mit allen
möglichen Komplikationen in besonderer
Heftigkeit auf.
II. Die Variola haemorrhagica erhält
ihr Gepräge durch Hinzutreten einer
akuten hämorrhagischen Diathese. Zeigen
sich die Blutungen schon im Initialsta¬
dium, so spricht man von Purpura vario-
losa, treten sie erst im Eruptionsstadium
auf, von Variola haemorrhagica pustulosa.
III. Variolois ist eine abgeschwächte
und abgekürzte Form der Pocken. Jeden¬
falls. ist sie als eine richtige Blattern¬
erkrankung anzusehen. Das geht schon
allein daraus hervor, daß durch Variolois-
kranke Weiterinfektionen mit typischem
schweren Verlaufe erfolgen können. Man
findet sie heutzutage bei solchen Men¬
schen, die durch eine mehr oder weniger
lange Zeit zurückliegende Schutzpocken¬
impfung noch Reste von Immunität be¬
sitzen, die nur nicht ausreichten, um eine
Infektion zu verhindern.
IV. Bei der Variola sine exanthemate
bricht die Krankheit mit dem Abschlüsse
des Initialstadiums ab. Die Diagnose.wird
in erster Linie aus den Begleitumständen
19
46 Die Therapie der
gestellt, in dem entweder zweifelsfreie
Pockenkranke mit dem Betreffenden vor¬
her. in Berührung gekommen waren hat
(solche interessante Beobachtungen hat
vor kurzem Vorpahl in der B. kl. W.
Nr. 13 publiziert) oder aber es erfolgt
durch den Kranken Ansteckung von voll¬
entwickelter Variola.
Diff erentialdiagnose.
Im Initialstadium kommen Masern
und Scharlach differentialdiagnostisch
in Betracht:
1. Bei Masern steigt in der Prodromal¬
zeit die Temperatur bis zu 38° oder 39°,
fällt am zweiten Tage, um erst mit dem
Ausbruch des Exanthems wieder in die
Höhe zu gehen. Bei Pocken fehlt der
Temperaturabfall, das Fieber steigt am
zweiten und dritten Tage und fällt dann
mit der Eruption.
2. Bei Masern beherrschen in der Pro¬
dromalzeit katarrhalische Erscheinungen
der Bronchien, Nase und Augen stets das
Krankheitsbild. Diese Katarrhe fehlen
bei Pocken.
3. Bei Masern findet man häufig die
Koplikschen Flecken auf der Wangen¬
schleimhaut.
1. Bei Scharlach erreicht die Tem¬
peratur mit Auftreten des Exanthems 1
ihr Maximum und hält sich zunächst auf
der Höhe; bei Pocken fällt die Tempera¬
tur mit dem Auftreten des Exanthems.
2. Bei Scharlach hat der Rachen das
bekannte Aussehen, bei Pocken finden
sich schon kurz vor oder zugleich mit dem
Beginn der Hauteruptionen die charak¬
teristischen Efflorescenzen.
3. Bei Scharlach ist die Partie um
Mund und Nase frei vom Exanthem.
Die Differentialdiagnose hat im Ini¬
tialstadium der Pocken auch Pneumonie,
Meningitis und Influenza zu erwägen.
Im .Eruptionsstadium kommen fol¬
gende Krankheiten differentialdiagno¬
stisch in Frage:
1. Masern. Masern und Pocken ha¬
ben eine gleich lange Prodromalzeit. Das
anfänglich papulöse Blatternexanthem ist
von einem beginnenden Masernexanthem
kaum zu unterscheiden.
Bei Masern hält sich die Temperatur
nach Ausbruch des Exanthems auf der
Höhe.
Bei Pocken sinkt die Temperatur nach
Ausbruch des Exanthems rapid.
Bei Masern besteht im Blut Leukopenie,
geringe Zahl der Lymphocyten und
Mangel an Eosinophilen.
Bei Pocken ist mäßige Gesamtleuko-
Gegeriwart 1917. April
cytose, Lymphocytose, kein Fehlen der
Eosinophilen.
2. Flecktyphus hat in den ersten
Tagen große Ähnlichkeit mit Variola. Die
für Variola charakteristischen Kreuz¬
schmerzen kommen auch bei Flecktyphus
vor.
Die Exantheme beider Krankheiten
können leicht verwechselt werden. Hier
kann der typische Verlauf des Variola¬
fiebers den Ausschlag geben.
Ebenso ist der Fiebertyp das Differen-
tialdiagnosticum gegenüber dem Typhus
abdominalis.
4. Die Unterscheidung von Variola
und Varicellen ist im allgemeinen leicht.
Bei Varicellen entwickeln sich die mit ro¬
tem Hof umgebenen Blasen ohne das
Zwischenstadium eines Knötchens in weni¬
gen Stunden. Die Eruption geschieht in
verschiedenen Nachschüben, so daß stets
gleichzeitig alle Entwickelungsstadien vor¬
handen sind („Sternhimmel“). Bei Vari¬
cellen ist im Gegensätze zur Variola der
Körper mehr befallen als das Gesicht.
Schließlich geben Hauterkrankungen, wie
Syphilide, Impetigo contagiosa, ferner
pustulöse Exantheme bei septischen Er¬
krankungen zur Verwechselung mit Variola
| Anlaß.
Therapie.
Die Therapie der Pocken ist eine
symptomatische, die viel zur Linderung
des schweren Krankheitszustandes tun
kann. Es gilt, den Patienten durch Läu¬
figes Wechseln der Wäsche von dem
Pustelsekret zu befreien, ihn vor Decu¬
bitus zu bewahren, den Mund zu säubern,
für gute Luft zu sorgen usw. Während
des Fiebers verabreicht man am zweck¬
mäßigsten flüssige Diät und Breie; ge¬
würzte oder gesalzene Speisen müssen
ausscheiden, weil sie die ohnedies ent¬
zündliche Mundschleimhaut reizen. Gegen
Erbrechen gibt man kleine Eisstücke,
gegen die starken Schmerzen Aspirin-
Phenacetin usw. und im Bedarfsfälle
Morphium.- Die zuweilen auftretenden
Aufregungszustände erfordern Chloral-
hydrat oder andere Narkotica, mit denen
man nicht sparen soll; es kommt vor allem
darauf an, den Kranken einigermaßen zu
beruhigen und ihm das Dasein zu er¬
leichtern.
Was die Behandlung der Pocken¬
pusteln anlangt, so sind zwar eine große
Zahl von Mitteln zu ihrer Bekämpfung an¬
gegeben worden; man kann von ihnen
aber nicht behaupten, daß sie einen un¬
zweideutigen Nutzen stets gebracht hät-
April . Die Therapie der Gegenwart 1917. 147
en; es sei deshalb auf ihre Wiedergabe
verzichtet. Wohl kann man das Span¬
nungsgefühl in der Haut, unter dem die
Erkrankten beträchtlich zu leiden haben,
durch kühle, häufig zu wechselnde Um¬
schläge beziehungsweise Packungen, oder
durch Aufpinseln von Glycerin und Oli¬
venöl bekämpfen. Platzen die Pusteln,
so streut man Salicylstreupulver auf, um
die Bildung dicker, zusammenhängender
Krusten zu verhindern.
Sicherlich wird bei der jetzigen Pocken- i
epidemie das Verfahren von Niels Fin-
sen ausprobiert, das schon früher bei ge¬
legentlichen Variolaerkrankungen nach¬
geprüft wurde. Die Methode bezweckt,
die Eiterung einzuschränken und die hä߬
liche Narbenbildung zu verhüten. Die
Kranken sollen in Räumen von rotem
Licht liegen, auf diese Weise hält man —
nach Finsen — die chemisch wirksamen,
reizenden Lichtstrahlen fern und setzt
den Entzündungsprozeß herab. Die Nach¬
prüfungen haben widersprechende Resul¬
tate ergeben.
Das gleiche Ziel, wie Finsen^ strebt
Dreyer durch Bestreichen der Pocken
oder sogar des ganzen Körpers mit ge¬
sättigter Lösung von Kaliumperman¬
ganat an, das außerdem noch desinfizie¬
rende und desodorierende Eigenschaft be¬
sitzt. ln den ersten Tagen pinselt man
zwei- bis dreimal pro die, später nur ein¬
mal. Die Kranken sehen dadurch ganz
schwarz aus. Jochmann berichtet über
zwei Fälle, bei denen die Kaliumper¬
manganatbehandlung Ausgezeichnetes ge¬
leistet hätte, besonders lobt er das nar¬
benfreie Gesicht, das vorher mit Pocken
übersät gewesen sei.
Die Affektionen der Mundhöhle be¬
kämpft man durch Spülungen oder Pinse¬
lungen mit den bekannten adstringieren¬
den oder desinfizierenden Lösungen, wie
Wasserstoffsuperoxyd und ähnliche: BeJ
hochgradigen Schmerzen streicht man,
namentlich vor der Nahrungsaufnahme,
2 % ige Cocainlösung oder verstäubt An-
ästhesiepulver.
Um die Nasenschleimhaut einiger¬
maßen vor Verkrustungen, die die Nasen¬
atmung unmöglich machen, freizumachen,
j empfiehlt sich Einpinseln von Borvase¬
line. Aufmerksame Pflege erfordern
selbstverständlich die Augen: das Sekret
muß mehrmals am Tage vorsichtig aus¬
gewischt werden. Dauernde Borwasser¬
kompressen werden sehr angenehm emp¬
funden.
Störungen des Kreislaufes werden in
der bekannten Art angegangen. -
Im Stadium der Eintrocknung, die
mit starkem Juckreiz verbunden ist, achte
man streng darauf, daß die Patienten die
Borken nicht abkratzen; die Heilung er¬
fährt sonst eine Verzögerung. Häufige
Bäder mit Zusatz von Kleie lindern den
Juckreiz und beschleunigen den Abfall
der Borken, ebenso Seifenbäder. Auch
Borsalbenverbände oder Einreibungen mit
1 % ig er Mentholsalbe wirken in dieser
Hinsicht sehr günstig. Kindern bindet
man die Hände fest.
Die entstellenden Pockennarben will
Unna jr. durch Abreiben mit feinem
Sand beseitigen. Burri empfiehlt, durch
wiederholte Applikation von Resorcin-
salbe die Oberhaut zum Abschälen zu
bringen, die Reste des Papillarkörpers
zu heben und später unter Zinkleim¬
verband die Abheilung sich vollziehen
zu lassen. Dr. Schnell (Berlin).
Referate.
Kolle hatte Gelegenheit, im Felde
eine größere Anzahl von Fällen der
Alveolarpyorrhoe bakteriologisch zu
untersuchen und konnte feststellen, daß
besonders wenn das Material aus der
Tiefe des Krankheitsbildes entnommen
wurde (tiefes Eingehen mit der Platinöse
zwischen Alveolarfortsatz und Zahn¬
fleisch) entweder neben anderen Spiro¬
chäten, Fusiformen, Bacillen, Kokken
usw. oder in Reinkultur, stets aber über¬
wiegend sich eine Spirochätenart fand,
die im allgemeinen der Obermeierschen
ähnlich, 10 bis 12 Mikromillimeter lang ist
und vier bis sieben meist fünf flache Win¬
dungen zeigt mit Zuspitzung an den Enden.
Sie steht sonach der großen Form der
Mundspirochäten (Sp. buccalis) am näch¬
sten. Der Nachweis geschieht im Tusche¬
präparat (Burri)x)der im Gentianaviolett-
präparat, wo die Spirochäte gut gefärbt
erscheint. Die Behandlung mit dem Speci-
ficum gegen Spirochäteninfektionen, dem
Salvarsan, lag nahe und hatte vollen
Erfolg. Nach zwei, in älteren sehr schweren
Fällen drei bis fünf Injektionen von
0,3 g' Neosalvarsan, unterstützt von
lokaler Salvarsanbehandlung, doch ohne
die üblichen sonstigen Anwendungen,
schwand die Krankheit in einzelnen Fällen
schon nach zehn Tagen, in schweren Fällen
t natürlich später. Wichtig ist die Behand-
19 *
148 Die Therapie der
lung schon im gingivitischen Stadium,
wo der Nachweis der Spirochäten schon
möglich ist.
Die ätiologische Bedeutung der Spiro¬
chäten, für die er den Namen Spiro-
chaeta pyorrhoica vorschlägt, schließt
Kolle einmal aus dem Vorkommen in
allen darauf bisher beobachteten Fällen,
und zwar, soweit nicht -— oberflächlich —
eine Verunreinigung mit anderen Gliedern
der Mundflora und -fauna vorliegt, in
Reinkultur, sodann aber auch aus dem
wichtigen Umstande, daß die Spiro¬
chäte bei der Heilung entsprechend de'm
Rückgang der Krankheitserscheinungen
schwindet. Die Frage, ob sie der einzige
Erreger ist, oder ob, wie bei der Plaut-
Vincen tschen Angina, noch eine Misch¬
infektion mit einem Bacillus oder anderen
Spirochäten in Frage kommt, bleibt offen.
Aus Ko 11 es Feststellungen ergibt sich
ferner, daß die Versuche mit Vaccine¬
behandlung der Alveolarpyorrhoe ergeb¬
nislos bleiben mußten. Es ist sicher, daß
die bisherigen Anschauungen über die Ent¬
stehung der Krankheit der Korrektur be¬
dürfen. Waetzoldt.
(M. Kl. 1917, Nr. 3.)
Lewin untersuchte die Frage, ob
der Arsengehalt der Geschosse, besonders
der Schrapnellkugeln, eine toxische Rolle
spielt. Die 10 g wiegenden Kugeln ent¬
halten neben 0,8 bis 1,4 g Antimon
0,008 bis 0,042 g Arsen. im Magen
werden erfahrungsgemäß derartige Kugeln
verhältnismäßig schnell und stark an¬
gegriffen. Noch mehr aber von Fetten.
Es zeigte sich, daß nach 14tägigem Auf¬
enthalt bei 38° einer gut zerkleinerten
Schrapnellkugel in 0,25 % Salzsäure be¬
ziehungsweise Olivenöl vom Blei 1,1 %
beziehungsweise 2,0%, vom Antimon
0,02 beziehungsweise 0,57 %, vom Arsen
aber nur Spuren in Lösung gegangen
waren.
Da im Körper eingeschlossene Ge¬
schosse sich in alkalischem Medium be¬
finden, so wurden Versuche in dieser
Richtung gemacht, die ergaben, daß nach
14tägigem Aufenthalt in 0,2 % Soda¬
lösung 0,013% Antimon und 0,0002%
Arsen in Lösung gegangen waren. Es ist
also, selbst wenn besondere Verhältnisse
die Lösung stark beschleunigen sollten,
ausgeschlossen, daß eine Giftwirkung des
Arsens oder selbst des Antimons der Ge¬
schosse sich zeigt. Die Gefahr im Körper
verbleibender Geschosse beruht vielmehr
toxikologisch ausschließlich auf ihrem
Gegenwart 1917. April
Bleigehalt, dessen Wirkung natürlich von
der den Lösungsmitteln ausgesetzten Ober¬
fläche der Bleikörper abhängt.
(M. m. W. 1916, Nr. 47.) Waetzoldt.
Paul Krause gibt Beiträge zur Pa¬
thologie und Therapie der Typhus-
Bacillenträger, Im ersten Teil der Arbeit
bespricht der Autor zusammenfassend
die Pathologie der Typhusbacillenträger.
Er fand unter dem großen Material des
Genesungsheimes in Spa, das sieh aus
den Truppen der Westfront rekrutierte,
4% Typhuswirte in der von Fornet
aufgestellten Definition. ,,Typhusträger“
im engeren Sinne, d. h. Leute, die
Bacillen von sich geben, ohne jemals
an Typhus erkrankt zu sein, wurden
nur in ganz geringer Zahl festgestellt.
Bei den Dauerausscheidern handelte es
sich in 78 % der Fälle um Stuhlausschei¬
der, in 59 % um Urinausscheider und in "
37 % um Stuhl- und Urinausscheider.
Als Herde für die Typhusbacillen im
Magen- und Darmtraktus kommt am
häufigsten die Gallenblase in Betracht,
die sehr oft krankhafte Veränderungen
aufwies. Bei Gallenblaseherkrankungen
genügt eine dreimalige negative bakterio¬
logische Untersuchung keinesfalls, um
den Kranken als bakteriologisch genesen
anzusehen. Selbst nach zehnmaligen nega¬
tiven Befunden kann es noch Vorkommen,
daß durch Aufflackern des Krankheits¬
prozesses erneut Bacillenausscheidungen
eintreten. Weiterhin spielen oft chroni¬
sche Darmgeschwüre im Coecum und dem
unteren Teile des Ileum, ferner eine chro¬
nische, nach dem Typhus sich ent¬
wickelnde Appendicitis als Bildungsstätte
der Typhusbacillen eine Rolle. Typhus¬
genesene mit chronischer Appendicitis
sollten stets operiert werden, um von
ihrem kranken Appendix und dessen Ge¬
fahren befreit und von ihrer, Typhus¬
bacillenausscheidung geheilt zu werden.
Ob eine alimentäre Entstehungsursache
für das Dauerausscheidertum (wie oft bei
Paratyphus) in Betracht kommt, ist noch
nicht genügend geklärt. Bei 600 Fällen,
wo sorgfältig nach dem Vorkommen von
Typhusbacillen in der Mundhöhle bei
Zahnkrankheiten gefahndet wurde, ließen
sich einmal Paratyphus-B-Bacilleri, nie¬
mals aber Typhusbacillen nachweisen. —
Für die Urinausscheider kommt als Quelle
der Bacillenvermehrung zunächst eine
Cystitis typhosa in Betracht. Sie war in
Spa äußerst selten, ebenso die Nephritis
typhosa. Die häufigste Ursache ist hier
Therapie der Gegenwart. Anzeigen.
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18
April Die Therapie der
eine Erkrankung des Nierenbeckens, die
sehr chronisch und .symptomarm zu ver¬
laufen pflegt Ausscheidungen von Ty¬
phusbacillen durch Eiter aus Abscessen,
aus, Ohrentzündurigen und chronischer
Rhinitis und Pharyngitis gehören zu den
größten Seltenheiten. Ob es Typhuswirte
gibt, die klinisch wirklich völlig gesund
sind, hält Krause nach seinen Erfah¬
rungen für sehr zweifelhaft.
Im zweiten Teile der Arbeit werden
die allgemeinen Gesichtspunkte für die
therapeutische Beeinflussung der Typhus-
bacillenträger auf Grund pathologischer
Anschauungen und praktischer' Erfahrun¬
gen besprochen. Zunächst ist der all¬
gemeinen Behandlung während der Ty¬
phusgenesung die größte Sorgfalt zuzu¬
wenden. Besonders erfordert die Harn¬
untersuchung größte Aufmerksamkeit
und häufigste Wiederholung. Stauungen
in der Gallenblase muß man durch An¬
regung der Gallenproduktion zu verhin¬
dern suchen. Reichliche Fettbeigabe zur
Nahrung ist empfehlenswert. Durch
Überernährung, die durch, körperliche
Anstrengung genügend verarbeitet wurde,
wurde ungefähr ein Drittel der Badllen-
ausscheider geheilt. Wenn die Über¬
ernährung in vier Wochen nicht zum Ziele
führt, greife man zu Mitteln, die die
Gallensekretion anregen. Auch.salinische
Wässer sind hier empfehlenswert. Bei
Urinausscheidern sind zunächst die Harn-
desinfizientien zu versuchen (Hexa¬
methylentetramin und seine Ersatzprä¬
parate, Methylenblau, Fol. uv. urs. usw.),
erst bei ihrem Versagen die lokale Therapie
durch Ausspülungen. Innere' Desinfi-
zientin neben der Behandlung der be¬
treffenden organischen Erkrankungen (Sal-
varsan, Kollargol, Jod usw.) sind in
ihrer Wirkung höchst problematisch. Das
gleiche gilt von Kalomel und anderen
sogenannten Darmdesinfizientien. Bei der
vielgenannten Kohletherapie kann die
Kohle nur als Transportmittel für Des-
infizientien wie Thymol und Menthol an¬
gesehen werden. Für die Anwendung
specifischer Vaccinen und Sera fehlen die
theoretischen Grundlagen noch.
E. Bumke berichtet ausführlich über
die angestellten Heilversuche. Bei der
Autovaccinebehandlung wurde nur
bei einem der elf behandelten Stuhlaus¬
scheider und bei.keinem der sieben Urin¬
ausscheider ein Aufhören der Ausschei¬
dung festgestellt. Wahrscheinlich nur
eine Zufallswirkung. Neosalvarsan
versagte (ein Fall), ebenso Collargol
Gegenwart 1917. 149
(zyvei Fälle). Bei Natrum-salicylicum-
Behandlung standen einem Erfolg (Zu¬
fall ?) fünf Mißerfolge gegenüber. Von den
Harnantisepticis wurde zunächst Uro¬
tropin versucht: Einem scheinbaren Er¬
folge, der eine sehr prompte Wirkung des
Mittels Vortäuschen kann, stehen neun
absolute Mißerfolge bei Urinausscheidern
gegenüber/ Selbst eine. Behandlungsdauer
bis zu drei Monaten und eine Urotropin¬
menge biß zu 6 g täglich waren wirkungs¬
los. Bei Helmitolanwendung trat in
einem Falle Heilung ein, in drei anderen
trotz langer Anwendung und hoher Gaben
aber nicht. Saliformin wurde bei drei
Patienten vergebens gegeben; bei zwei
anderen, die geheilt wurden, ist es frag¬
lich, ob die Heilung auf Rechnung des
Mittels zu setzen war. Bei Anwendung
von Methylenblau konnte bei Stuhl¬
ausscheidern eine Heilwirkung nicht beob¬
achtet werden. Ebenso versagte das
Mittel bei fünf Urinausscheidern. Bei drei
weiteren Urinausscheidern, die 6—8 Wo¬
chen lang mit bis zu 0,8 Methylenblau
behandelt wurden, wurde einmal eine
Verringerung der Ausscheidung während,-
einmal nach Beendigung der Behandlung,,
einmal sogar Heilung festgestellt. Heil¬
versuche mit Kohle und Jodtinktur
waren ohne jeden Erfolg. Thymolkohl.e
versagte bei vier Dauerausscheidern in
der 22.—32. Woche nach Beginn des
Typhus vollkommen. Dagegen trat bei
zwei weiteren Fällen, bei denen der An¬
fang des Typhus erst 8—13 Wochen zu¬
rücklag, in dem einen Falle eine deutliche
Verminderung, in dem anderen eine völlige
Beseitigung der Typhusbacillen ein..
Wahrscheinlich lag hier aber ein spon¬
tanes Aufhören der Ausscheidung vor.
Nährhefe war bei neun Stuhl- und einem
Urinausscheider wirkungslos. Ebenso ver¬
sagten Levurinose, Furunkulin, Yoghurt
und, abgesehen von einem Fall (Spontan¬
heilung?), auch Zymin.
Die Behandlung der Bacillenträger
hatte demnach in den meisten Fällen
keinen Erfolg. Bei den vereinzelten ge¬
heilten Fällen lag vielfach die Annahme
nahe, daß die Bacillenausscheidung in der
Behandlungszeit spontan aufhörte.
Hetsch (Berlin).
(Beitr. z. KHn. d. Infekt.-Krkh. u. z. Immu¬
nitätsforsch., Bd. V, H. 1.)
Einen Fall von Beckenbruch mit iso¬
lierter Zerreissung der Vena iliaca be¬
schreibt C. Meyer. Eigentlich handelt
es sich um einen Fall von „Beckenring-
•Biegungsbruch“: Der horizontale Scham-
150
Die Therapie der Gegenwart 1917. April
beinast war infolge seitlicher Quetschung
-des Beckenringes gebrochen, die Vena
iliaea zerrissen. Die Symptome vor der
Operation waren irreleitend für die Dia¬
gnose, vor allem stark peritoneal (Span¬
nung, Schmerzen, Erbrechen), daneben
Harnverhaltung. Man mußte an direkte
Blasen- oder Darmverletzung denken.
Bei der zunächst vorgenommenen Laparo¬
tomie war am Befund auffallend, daß die
Organe (auch die Blase) stark nach, dem
Magen zu hinaufgedrängt, das' Becken¬
peritoneum weit hervorgewölbt, Blase
und Darm aber unverletzt waren. Ein
zweiter Schnitt über dem Poupartschen
Bande führte erst zur richtigen Diagnose
und zum Heilverfahren.
Verfasser zeigt an der Hand dieses
Falles, daß ein richtiges Hämatom bei
derartigen Gefäßzerreißungen nicht vor¬
handen zu sein braucht — das Blut kann
ins Beckenbindegewebe versickern, den
subperitonealen Raum ausfüllen und, wie
hier, durch Druck starke Verschiebungen
und die beschriebenen peritonealen Sym¬
ptome hervorrufen. Man dürfe sich bei
derartigen Verletzungen niemals damit
begnügen, den scheinbaren Sitz der zu¬
erst auffallenden Symptome aufzusuchen.
Bei dem Nichtauffinden ausreichender
Begründung für die Schwere des Zu¬
standes müsse mit dem Messer weiter ge¬
forscht werden.
Hagemann (Marburg).
(D. Zschr. f. Chir. Bd. 138, S. 233.)
Über einen Fall von Diabetes in-
sipidus, der, bei der ersten Schwanger¬
schaft entstanden, mit jeder neuen
Schwangerschaft stärker remittierte, be¬
richtet Novak.
Die 40jährige Patientin wurde mit
starken Oedemen der Beine (Urin ohne
pathologischen Befund) wegen Wehen¬
schwäche und Absterbens der reifen
Frucht aufgenommen und die Geburt
künstlich beendet. Sofort danach fand
sich ein Tumor der rechten Niere, der
sich als Hydronephrose durch Stauung
erwies. Im Wochenbett dann Harn¬
mengen von vier bis elf Litern. Die
Anamnese ergab bezüglich der Ver¬
wandten nichts Sicheres. Die Patientin
ist etwas eigentümlich, soll Alkoholikerin
sein und hat bisher neun Schwanger¬
schaften durchgemacht (ein Abort). Neun
von 13 Kindern sind tot. Seit der ersten
Schwangerschaft erhöhtes Flüssigkeits¬
bedürfnis während der Schwangerschaft,
so zwar, daß die Polydipsie und Polyurie
die Schwangerschaft anzeigt und mit der
Entbindung, besonders aber nach Wieder¬
eintritt der Periode zwei Monate nach der
.Entbindungschwindet, wie Sehstörungen,
Kopfschmerz oder andere cerebrale
Zeichen. Die Untersuchung ergibt außer
Strabismus convergens nichts Besonderes,
keine Akromegalie, keine Veränderungen
an der Sella turcica,Wassermann-Reaktion
negativ. Nach einem Jahre Feststellung
der Urinmenge außerhalb der Schwanger¬
schaft 1 y 2 bis 2 Liter täglich; Men¬
struation stets völlig regelmäßig, keine
Spur von Nephritis.
Der Fall zählt also zu den sehr seltenen
von Diabetes insipidus, der als Begleit¬
erscheinung . von Genitalveränderungen
auftritt, während im allgemeinen die
Genitalveränderungen bei den sporadi¬
schen Fällen von Diabetes insipidus als
sekundär aufzufassen sind und der here¬
ditäre gar jeder Beziehung zum Genitale
entbehrt.
Das nächstliegende zur Erklärung
wäre eine pathologische Steigerung der
fast normalen Schwangerschaftspolyurie.
Die Theorie von der Entstehung des
Diabetes insipidus durch Hyperfunktion
der Pars intermedia der Hypophyse
möchte Verfasser ablehnen, trotzdem die
physiologische Vergrößerung der Hypo¬
physe in der Schwangerschaft einen
Analogieschluß auf den Diabetes insi¬
pidus bei Akromegalie, Hypophysen¬
tumoren usw. zuließe, aber einesteils ist
hier eine solche Vergrößerung nicht fest¬
gestellt, anderenteils aber wird die diu-
retische Wirkung des Sekrets der Pars
intermedia nicht nur bestritten, sondern
ihm eine Diurese hemmende Wirkung zu¬
geschrieben.
Novak möchte daher annehmen,
daß alle Fälle von Polyurie nichtnephriti-
scher Natur auf eine Erregung eines sym¬
pathischen Reizleitungssystems zurück¬
zuführen seien, daß nicht nur an dem von
Claude Bernard gefundenen Punkte
des Polyuriestichs — vor dem Zuckerstich
im vierten Ventrikel liegt, sondern sich
auch in das Zwischenhirn erstreckt und
dadurch bei groben Veränderungen der
Hypophyse in Mitleidenschaft gezogen
wird. Er schließt sich so im wesentlichen
der Ansicht Aschners (2) an, der, von
der Tatsache ausgehend, daß das Pituitrin
zwar normal diuretisch, beim Diabetes
insipidus aber diuresehemmend wirkt,
ein Stoffwechselcentrum am' Boden des
dritten Vertrikels annimmt, wie ja eine
dort unter Schonung der Hypophyse ge¬
setzte Verletzung (Hypothalamuszucker-
April ' Die Therapie der Gegenwart 1917. 151
stich) zunächst eine Glykosurie, dann
eine Polyurie zur Folge hat; ganz ab¬
gesehen von den mannigfachen anderen
Wirkungen auf Kreislauf, Atmung, Sen¬
sibilität usw., die durch eine derartige
Verletzung hervorgerufen werden können,
wobei auch an die Wärmezentren im
Thalamus zu denken ist. Eine Erregung
dieser Bahn oder dieses Centrums des
Sympathicus ist bei der großen Beein¬
flußbarkeit desselben durch die Gravidität
natürlich leicht erklärlich. Waetzoldt.
(B. kl. W. 1917, Nr. 51 — M. m. W. 1917, Nr. 3.)
Zur operativen Behandlung der
Epilepsie äußert sich Dr. Otto Kalb
(Stettin). Im Gegensatz, zur genuinen
Epilepsie ist man heutzutage überein¬
stimmend der Meinung, daß die trau¬
matische und die Reflexepilepsie
eine Indikation zur chirurgischen Be¬
handlung bieten. Narben, Cysten und
vor allem Veränderungen in der motori¬
schen Rindenzone können Reflexepilepsie
auslösen. Von dort geht der Reiz für
eine bestimmte Muskelgruppe aus und
führt erst allmählich zu allgemeinen
tonischen ünd klonischen Krämpfen.
Schon Pritsch und Hitzig brachten
durch Exstirpation bestimmter Rinden¬
bezirke die Krämpfe zum Schweigen;
ebenso hörten die Krämpfe auf bei
Unterbrechung der motorischen Bahn,
z. B. im Anschluß an einen Schlaganfall.
Diese Tatsachen haben namentlich
Krause zur Annahme des primär¬
krampfenden Centrums und zur Exstir-
stirpation desselben geführt. Es ist klar,
daß sich nach der Operation starke, halb¬
seitige Bewegungsstörungen zeigen, doch
bilden sich diese meist zurück, wenn auch
Fälle- mit dauernden Lähmungen be¬
schrieben sind. Kalb hat nun in einem
Falle operiert, ohne daß ein primär
krampfendes Centrum festzustellen war
und ohne daß die anatomischen Ver¬
änderungen die Excision eines zusammen¬
hängenden Stückes gestattete. Ein
14jähriges Mädchen, dessen Großvater
an Epilepsie litt und das im ersten Lebens¬
jahr cerebrale Kindeslähmung überstand,
behielt spastische Parese der rechten
Körperhälfte mit Wachstumsstörung zu¬
rück. Seit dem 10. Lebensjahr epilepti¬
sche Anfälle, zweimal und öfter die
Woche. Allmählich spastisch paretisch
ataktischer Gang, ebenso die ganze rechte
Körperhälfte spastisch paretisch ataktisch.
Das Gedächtnis leidet, mäßige Intelligenz.
Die Anfälle beginnen nach einem Schrei
fast gleichzeitig-in der oberen und unteren
rechten Körperhälfte, erst nach wenigen
Sekunden den ganzen Körper ergreifend.
Da interne Maßnahmen ohne Erfolg
blieben, wird in Lokalanästhesie operiert.
Nach Freilegung der linken motorischen
Zone mittels eines handtellergroßen Haut-
Periost-Knochenlappens . und Eröffnung
der stark gespannten Dura zeigt sich die
Großhirnrinde der vorderen und hinteren
Centralwindung von zahlreichen linsen-
bis erbsengroßen braunrötlichen Stellen
durchsetzt, die zum Teil Cysten enthalten
(alte Blutungen). Da Totalexstirpation
sicherlich dauernde Lähmung bewirkt
hätte und das primär krampfende Cen¬
trum kaum herauszufinden war,- werden
inselförmige Exstirpationen dieser ver¬
änderten Partien vorgenannten, da¬
zwischen bleiben Rindeninseln stehen.
Anfangs danach stark herabgesetzte
Kraft-und Bewegungsfähigkeit rechts und
motorische Aphasie. Allmähliche Rück¬
bildung. Keine Krämpfe mehr, auch
selbst nicht nach l^jähriger Beob¬
achtung. Benecke (Berlin).
(D. m. W. 1917, Nr. 3.)
Klinische und pathologisch-
anatomische Beobachtungen beim
Fleckfieber teilt Bruno Wolff mit. Die
klinischen Mitteilungen des Autors be¬
treffen zunächst das Verhalten der Tem¬
peratur- und der Pulskurven in den von
ihm beobachteten Fällen. Die Fälle mit
der als . „typisch“ geschilderten Fieber¬
kurve, das heißt mit einer regelmäßigen
Continua von 10 bis 13 Tagen und mit
Tagesschwankungen während dieser von
etwa 0,8° scheinen • die leichter ver¬
laufenden Fälle zu sein. Die Fälle, die
mit schwerer Benommenheit und De¬
lirien einhergehen, sowie die tödlich ver¬
laufenden Fälle scheinen im allgemeinen
mehr das Bild unregelmäßiger Kurven
mit Remissionen und Pseudokrisen auf¬
zuweisen. Auch die Kurven, deren
Continua nur geringe Tagesschwankungen
(hohe Morgentemperaturen) zeigt, ent¬
sprechen meist einem schwereren Verlauf.
Die Pulsfrequenz geht zwar in besonders
schweren Fällen zuweilen stark hinauf;
gewöhnlich halten sich aber die Puls¬
zahlen in so mäßigen Grenzen, daß man
im Vergleich zu der Höhe des Fiebers
oft geradezu von einer relativen Brady¬
kardie beim Fleckfieber reden kann. In
der Rekonvaleszenz werden erstaunlich
geringe Pulszahlen beobachtet. In allen
Fällen zeigte sich eine geringe, in einigen
152 Die Therapie der Gegenwart 1917.
April
eine ganz außerordentlich geringe Zahl
von roten Blutkörperchen zur Zeit des
Fiebers, teilweise auch noch im Beginne
der Rekonvaleszenz. Während der Re¬
konvaleszenz trat immer eine Vermehrung
der Erythrocyten auf, und zwar mit¬
unter um sehr erhebliche Werte. Man
muß annehmen, daß während der Fieber¬
periode beim Fleckfieber eine bedeutende
Zerstörung von roten Blutkörperchen vor
sich geht. . Als Ursache für die in un¬
mittelbarem Anschluß an- Fleckfieber
häufig auf tretenden Gangränerkrankungen
muß auch nach Wolffs Ansicht eine
durch die Infektionserreger hervorgerufene
Gefäßschädigung angesehen werden. Auch
für die Ödeme und Transsudate, kann
man wohl nicht, wie dies Rumpel und
Levy tun, eine Mischinfektion mit Re¬
currens verantwortlich machen, sondern
— ebenso wie bei Recurrens — auch beim
Fleckfieber einen im Blute kreisenden
Giftstoff anschuldigen, der eine abnorme
Durchlässigkeit der Gefäße erzeugt. Eine
Nierenerkrankung ist keineswegs immer
die Vorbedingung für das Zustande¬
kommen der Transsudate.
Therapeutisch bewährten sich Ana-
leptika, Digitalispräparate, bei unruhigen
Kranken feuchte kühle Packungen, reich¬
liche Flüssigkeitszufuhr. Kaffeeklistiere
scheinen besonders günstig zu wirken.'
Ferner werden mit gutem, oft momen¬
tanem Erfolge subcutane Injektionen von
physiologischer Kochsalzlösung gegeben.
Das Bewußtsein wurde durch sie freier,
was wohl im Sinne einer Entgiftung des
Körpers zu deuten ist. In Fällen von
Gangrän und Ödemen schien Jodkalium
günstig zu wirken'. Den Schluß der
Arbeit bilden kurze Mitteilungen über die
Sektionsergebnisse. Hetsch .(Berlin).
(Beitr. z. Klin. d. Infekt.-Kjkh. u. z. Immu¬
nitätsforsch. Bd. V, H. 1.)
Unter Gastrohydrorrhö versteht Strauß
den Vorgang abnorm starker Abscheidung
einer von Salzsäure und Fermenten freien
Magenflüssigkeit. Strauß hat auch ge¬
zeigt, daß bei der ,,Hvperaciditas larvata“
ein gesteigerter Säurewert durch gleich¬
zeitigvorhandene reichliche Verdünnungs¬
sekretion verdeckt wird. Im Anschluß
an einen kürzlich von Einhorn be¬
schriebenen Fall kommt Strauß auf
seine früheren Beobachtungen zurück.
Bei dem Einhornschen Patienten be¬
stand bei Pyloruscarcinom mit Pylorus-
stenosierung, Gastritis gravis und Cirrhosis-
hepatis ein besonders markierter Magen¬
wasserfluß mit fehlender Salzsäure und
fehlenden Fermenten. Einhorn schloß
daraus, daß es sich um das Produkt eines
Stauungsvorganges handle.
Demgegenüber glaubt Strauß, daß
wie bei den von ihm beobachteten so
mannigfachen Kombinationen der .Hy-
drorrhö Stauung ayszuschließen sei, auch
in diesem Falle man ohne die Annahme
einer Stauung auskommt. Vor 6 Jahren
konnte Schlesinger durch das Röntgen¬
bild einerseits zeigen, daß bei Achlorhydrie
die Flüssigkeitsschicht im Magen meist
geringer und langsamer eintritt als beim
normal oder abnorm stark secernierenden
Magen, und andererseits daß trotz mo¬
torisch normal arbeitenden Magens sehr
ausgeprägte Flüssigkeitsmengen auftreten.
Strauß selbst sah bei schwerster sekreto¬
rischer Insuffizienz und normaler motori¬
scher Motilität solche abnorm stark und
rasch in die Erscheinung tretenden
Flüssigkeitsmengen bei Leuten, bei denen
auch das Probefrühstück’ trotz Fehlens
von Salzsäure große Flüssigkeitsmengen
mit einem niedrigenSchichtungsquotienten
ergab. Gerade bei Soldaten älteren Jahr¬
gangs zwischen 30 bis 40 Jahren konnte
er dies in letzter Zeit in den Lazaretten
häufig feststellen. Die Leute klagten über
Magendruck, Empfindlichkeit gegen grö¬
bere Speisen und Erbrechen. — Mit Rück¬
sicht auf obige Bemerkungen unterscheidet
er seit langem „Anaciditas hydrorrhoica“
und ,,Anaciditas anhydrorrhoica“. Die
erstere ist erheblich seltener. Eine Be¬
stätigung seiner Feststellungen sieht er
auch in Einhorns Fall, bei dem die
Pylorusstenose wohl die exzessiven Ver-,
hältnisse bedingt hat. Man findet also
die mannigfachsten Verhältnisse in der
Hydrorrhoea gastrica, teils mit, teils ohne
Störung der specifischen Sekretion, als
„Gastrorrhoea secretoria“ und als ,,Ga r
strorrhoea hyperacida“. Der erstere Fall
entspricht dem Einhornschen. Strauß
fand völlig neutral, selbst alkalisch re¬
agierende Flüssigkeit ohne Zeichen von
Stauung oder Gastromucorrhoe. Diese
Fälle weisen darauf hin, daß es sich bei
der Hydrorrhoea gastrica um einen selb¬
ständigen Vorgang handelt, der bisher
für Physiologie und Pathologie des Magens
nicht genügend gewürdigt ist.
(B. kl. W. 1917, Nr. 5.) Benecke Berlin).
Über Prodromalsymptome. der
Hirnhämorrhagie schreibt H. Kisch. Nach
den Untersuchungen des Verfassers an
700 Fettleibigen sind in etwa 16% deut-
April ■ ' Die Therapie der
liehe sklerotische Veränderungen nach¬
weisbar. Bei 110 Sklerotikern kam es
29malzur Hirnhämorrhagie. Von 18 Pa¬
tienten mit hochgradiger allgemeiner Fett¬
bildung und Fettumhüllung und Durch¬
wachsung des Herzens zeigten autoptisch
sechs als Todesursache eine Hirnblutung.
Bei 20 fettleibigen Individuen, die schein¬
bar aus voller Gesundheit heraus starben,
ergab die Sektion siebenmal eine Hirn¬
hämorrhagie. Demnach kann es keinem
Zweifel unterliegen, daß die Adipositas
eine solche Disposition zur Hirnblutung
abgibt. Wichtig ist es, deren Pro¬
dromalsymptome zu kennen, es sind
dies-: Zunahme der fühlbaren Gefäßspan¬
nung, dauernde Erhöhung des Blut¬
druckes, vergrößerte Herzdämpfung, vor¬
übergehende Cerebralerscheinungen, Albu¬
minurie, dauernde Verstopfung und Me-
.teorismus. Bei der gegebenen Disposition
wirken als auslösende Momente: Über¬
anstrengungen, Überfüllung des Magens,
Trinkexzesse, geschlechtlicher Verkehr,
Drängen bei hartem Stuhlgang, schneller
Wechsel warmer und kalter Witterung,
ferner auch plötzliche seelische Einwir¬
kungen. Im Material Ki s ch s überwiegen,
wie auch sonst bei Hirnblutungen, die
Männer. Interessant ist das Vorkommen,
•von Hirnblutungen bei Familienangehö¬
rigen in der Weise, daß der Schlaganfall
ungefähr in demselben Lebensjahre wie
bei den Eltern auftritt. Merkwürdig ist
die Beobachtung des Verfassers, daß vier
Brüder in dem gleichen Alter wie ihr
Vater an Apoplexie starben.
Leo Jacobsohn (Charlottenburg).
(M. XI. 1916, Nr. 10.)
Die Beziehungen des Icterus*epide-
micus zum Icterus catarrhalis und
zur WeiIschen Krankheit erörtert F.
1 ckert. Er beobachtete bei Soldaten eine
Reihe von Krankheitsfällen; deren klini¬
sches Bild im Einzelfalle dem einfachen
Icterus catarrhalis glich, bei denen aber
doch verschiedene Symptome auf eine
Allgemeininfektion hindeuteten, so daß
die Diagnose „Icterus epidemicus“ ge¬
rechtfertigt war. Die Fälle hatten mit
dem sogenannten Icterus epidemicus und
dem Icterus infectiosus (=Weilsche
Krankheit) gemeinsam: 1. die Neigung
zu Temperatursteigerungen, die in Perio¬
den von etwa 6 Tagen oder einem Viel¬
fachen davon auf treten können (6x Tage,
6 x + 1 Tage oder 6 x — 1 Tage) und
2. eine Inkubationszeit von 6 Tagen oder
einem Vielfachen davon (6 x oder 6x +
Gegenwart 1917.. 153
1 Tage). Der Icterus epidemicus und der
Icterus infectiosus unterscheiden sich
durch die Erreger. Für die letztgenannte
Krankheit ist der Erreger gefunden (Spiro-;
chaete icterohaemorrhagiae), für den Ic¬
terus epidemicus noch nicht. Es gelingt
aber, durch intraperitoneale Injektion von
Blut frischkranker Menschen bei Meer¬
schweinchen sechstageweise auftretende
Gewichtsverluste auszulösen, die typisch
sind. Beide Krankheiten werden wahr¬
scheinlich durch einen Zwischenwirt, viel¬
leicht durch ein Insekt übertragen.
Hetsch (Berlin).
(Beitr. z. Klin. d. Infekt.-Krkh. u. z. Immu¬
nitätsforsch., Bd. V, H. 1.)
Zur Frage der Kriegsneiigeborenen
stellte Tschirch an Material der Uni¬
versitätsfrauenklinik Jena fest, daß im
Kriege (1. September 1915 bis 31. August
1916) eine Verminderung des Durch¬
schnittsgewichts der Neugeborenen nicht
festzustellen war, daß dagegen der Durch¬
schnitt der Hausschwangeren — primi-
sowie pluriparae — um etwa *200 g mehr
wog als der der kreißend Eingelieferten.
Diesen Umstand führt Verfasser weniger
auf die bessere Ernährung in der Klinik
— ein solcher Unterschied bestand kaum—
als auf die sehr viel schwerere Arbeit der
Eingelieferten im Verhältnis zu den
Hausschwangeren zurück.
Einen Einfluß der Ernährung auf die
Eklampsiehäufigkeit konnte Tschirch
nicht finden. Eine Beeinflussung der
Lactation war gleichfalls nicht fest¬
zustellen. Es wurde regelmäßig und mit
sehr gutem Erfolge von allen Frauen ge¬
stillt. Waetzoldt.
(M. m. W. 1916, Nr. 47.)
Zur Frage der Kapitalabfindung der
Kriegsrentenempfänger nimmt P. Horn
Stellung. Eine Reihe von Zuständen
schließt nach Ansicht des Verfassers die
Kapitalabfindung aus. Es sind dies
Geisteskrankheiten, Epilepsie, Basedow,
hysterische Verwirjrtheit, völlig erwerbs¬
unfähige Neurotiker und mehr als 60%
erwerbsbesch-ränkte Individuen mit peri¬
pheren Verletzungen, organische Herz¬
erkrankungen, Lungenleiden, Stoffwech¬
selstörungen sowie die meisten Erkran¬
kungen innerer Organe, da die Prognose
aller dieser Zustände meist unsicher ist.
Vorsicht empfiehlt sich auch bei Ver¬
letzungen des Hirnes im Hinblicke auf
die möglichen Spätkomplikationen, die
Epilepsie, den Hirnabsceß und die post¬
traumatische Demenz. Wo durch Kriegs-
20
154 Die Therapie der Gegenwart 1917. April
Strapazen ein organisches Nervenleiden
ausgelöst oder ein bestehendes wesent¬
lich verschlimmert ist, ist ebenfalls die
Kapitalabfindung nicht am Platze, es sei
denn, daß. ein wichtiges therapeutisches
Interesse vorliegt. Der große Vorzug der
einmaligen Kapitalabfindung gegenüber
der Dauerrente liegt in der Ausschaltung
des Rentenkampfes, der namentlich bei
nervösen’Störungen den Ablauf des- Lei¬
dens ungünstig beeinflußt. Für Neuro¬
tiker mit Erwerbsbeschränkung bis zu
80% soll der vier- bis sechsfache Betrag
der Jahresrente der Kapitalabfindung
zugrunde gelegt werden, doch ist die An¬
legung in Grundbesitz der Barabfindung
vorzuziehen. Für die Mehrzahl der Neuro¬
sen ist die Kolonisierung nicht nur aus
ökonomischen, sondern auch therapeuti¬
schen Gründen'wünschenswert. Bei den
Neurosen ist auf eine möglichst baldige
Erledigung des Rentenverfahrens hinzu¬
wirken, bei allen anderen Erkrankungen
sollte mindestens ein Jahr gewartet wer¬
den. Für die Entgeltung des erlittenen
Schadens sollen besondere Ärztekommis¬
sionen gebildet werden.
Leo Jacobsohn (Charlottenburg).
(D. m. W. 1916, Nr. 13.) !
Wie Jessens (Referat Januarheft
dieser Zeitschrift) verwandte auch Koe-
nig (1) die Digitalis in einem Falle
von Lungenblutung bei offener Lungen¬
tuberkulose, die im Gebirgsklima (Harz)
aufgetreten war und drei Wochen lang
mit den üblichen Methoden behandelt
worden war, ohne daß eine dauernde,
wesentliche Besserung zu bemerken war. |
Vor der beabsichtigten Verlegung in die
Ebene (Goslar) machte Koenig einen
Versuch mit der Jessenschen Digitalis¬
behandlung, die zur Folge hatte, daß
schon nach zwei Tagen die Blutung end¬
gültig stand, der Patient, der nach fünf
weiteren Tagen aufstand, blieb auch fer¬
nerhin von Blutungen verschont.— Eine
absolute Ruhigstellung der Lunge wird
durch Pneumothorax erreicht. Der¬
selbe scheint daher, die Möglichkeit der
Anlegung vorausgesetzt, das Ideal für die
Behandlung gefahrdrohender Lungenblu¬
tungen. Über einen hierher gehörigen
Fall berichtet Windrath (2). Bei einem
älteren Manne mit fibrokavernöser Phthise,
besonders des rechten Unterlappens, die
schon vor einigen Jahren initiale Blutun¬
gen aufgewiesen hat, treten ziemlich
plötzlich bedrohliche Lungenblutungen
auf. Am dritten Tage derselben Anlegung
des Pneumothorax, die infolge des Be¬
stehens ausgedehnter Verwachsungen nur
höchst unvollkommen gelang (75 ccm),
nach sechs Stunden wieder 150 ccm. Da
wieder Blutungen auftraten, am nächsten
Tage morgens 150. ccm, nachmittags
200 ccm, eine Röntgenaufnahme ergab
durch pleuritische Stränge begrenzten
Pneumothorax im phrenfcocostalen Win¬
kel. Die Blutung sistiert, Patient fühlt sich
wohl. Am nächsten Tag morgens 300 ccm
eijngefüllt, dabei nicht mehr, wie früher,
Beschwerden, ebensowenig bei den abend¬
lichen Füllungen (300 ccm). Die Gasblase
hat sich, wie erneute Röntgenaufnahme
zeigt, vergrößert. Verwachsungen zum
Teil gelöst! Der Pneumothorax wird
jetzt, wie üblich, nachgefüllt (alle, fünf *
Wochen.500 ccm). Patient arbeitet bei
dauerndem Wohlbefinden. Es handelt
sich hier also nicht nur um die Be-’
kämpfung der Lungenblutung durch den
Pneumothorax, sondern durch Lösung
der Verwachsungen wird auch — zunächst
ganz unbeabsichtigt — die Grundlage
zu einer regulären Pneumothoraxbehand¬
lung gegeben. _ Waetzoldt
(M. Kl. 1917, Nr. 3. — M. m. W. 1917, Nr. 2.)
Zander beschreibt einige technische
Einzelheiten, die ihm die Ausführung
der Magenresektion (unmittelbare An-
astomöse der Dünndarmschlinge mit dem
noch offenen Magenlumen) vereinfacht
haben. Großes Gewicht legt der Ver¬
fasser auf die Lagerung des Patienten:
durch Beckensenkung starke Abknickung
des Thorax gegen das Abdomen;- die
Därme sinken nach unten, der Operateur
hat gute Bewegungsfreiheit und ver¬
größerten Raum.
Die in vier Akte eingeteilte Operation
beginnt, gleich nach Durchtrennung des
Lig. gastrocol., mit Anlegung des Meso¬
colonschlitzes — die oberste Dünndarm¬
schlinge wird mit Seidennaht fixiert.
Der zweite Akt ist die Durchtrennüng
und Versorgung des Duodenums aboral
vom Magentumor; Verschluß durch ein¬
stülpende Tabaksbeutel- oder Diagonal-
. naht nach einfacher Abbindung, Durch-
| stich- oder Steppnaht. Die Jejunum-.
| schlinge muß so an den Magenstumpf an¬
gelegt und ihm in der Länge angepaßt
werden, daß keine Stauung im Duodenum
auftreten kann — der Magen darf die
Schlinge nicht hochziehen, das Jejunum
(oder die Anastomose befestigende Meso¬
colonschlitznaht) den Magen nicht zu sehr
herunterziehen. Jetzt folgt als dritter Akt
April* Die Therapie der
die Änastomosenbildung—der Magen wird
zunächst ganz erhalten. Dies vereinfacht
die Anlegung der ersten Nahtreihe^zwi-
schen Magen und Jejünumschlinge, die
vorgezogen und parallel der beabsichtigten
Durchtrennungslinie an die Hinterfiäche
des Magens gelegt wird. Magen und
Darm werden nach Ausführung der Se-
rosanaht eröffnet und die hintere Naht,
die alle Schichten umfaßt, wird angelegt,'
dann erst wird der Magen abgeschnitten.
Für die vordere innere Naht empfiehlt
Verfasser eine fortlaufende U-Naht: die
Stiche gehen von der Serosafläche des
Magens durch alle Schichten und werden
abwechselnd am Darm und Magen'-aus¬
geführt.. Im vierten Akt wird der Meso-
colonschlitz am Magen vernäht, diesen
etwas nach unten ziehend. Die Methode
läßt sich auch für die quere Magen¬
resektion modifizieren.
Hagemann (Marburg).
(D. Zschr. f. Chir. Bd. 138, S. 195.)
Einen Beitrag zur Bakteriologie
der Meningitis cerebrospinalis epide¬
mica gibt H. Fischer. Er beschreibt
einen Fall von Genickstarre, in welchem
neben den nur in den Meningen
lokalisierten klassischen gramnegativen
Meningokokkus Weichselbaum speziell
ein hauptsächlich grampositiver, als
Diplococcus flavus bezeichneter Mikro¬
organismus aufgefunden und kulturell
festgelegt wurde, der im Gegensatz
zum Meningokokkus eine allgemein
septischpyämische Infektion hervorgeru¬
fen hatte. Auffallend wechselnd war das
Verhalten beider Mikroorganismen gegen
die Gramfärbung, im wesentlichen in Ab¬
hängigkeit vom Alter der Kultur. Ob es
sich hier um eine Mutation des Meningo¬
kokkus im Sinne von Baerthlein und
Köhlisch handelt, ist zweifelhaft, doch
unwahrscheinlich. H e tsch (Berlin).
(Beitr. z. KHn. d. Infekt.-Krkh. u. z. Immu-
nitätsforsch. Bd. V, H. 1.)
Moro gibt eine Übersicht über 39
operierte Fälle von Nervenverletzungen.
Operiert wurde, wenn die elektrische Er¬
regbarkeit erloschen war oder wenn Läh¬
mungen und Schmerzen sich nach langem
Abwarten nicht besserten. Meist wurde
zweieinhalb bis * vier Monate nach der
Verletzung operiert. Verfasser sah alle
Grade von motorischen Lähmungen und
bestätigt die Erfahrung anderer Autoren,
daß schwere Lähmungen mit geringen
makroskopischen) Veränderungen des
Nerven einhergehen können. Manchmal
Gegenwart 1917. 155
entspricht die Muskelinnervation nicht
ganz der Regel: zweimal war der Öpponeus■’
pollicis anscheinend hauptsächlich vorn -
Ulnaris innerviert, Shocklähmungem
konnten meist von wirklichen Nerven¬
lähmungen dadurch unterschieden wer-,
den, daß sie unter konservativer Behand¬
lung zurückgingen. Gelenkversteifungen
fielen sehr verschieden aus: nach Ansicht
des Verfassers versteifen die Gelenke
nach Lähmungen erheblich schneller,,
wenn der Patient über 30 Jahre alt ist.
Auf sensible Symptome legt der Verfasser
diagnostisch geringen Wert; Störungen
der Schweißsekretion hat er häufig ge¬
funden, aber auch hierauf gibt er nicht
viel, da sie auch bei Weichteilverletzungen
(ohne Beteiligung des Nervenstammes)
und psychogenen Lähmungen Vorkommen.
Für sehr wichtig hält der Verfasser
die Beeinflussung der Vasomotoren. Er
beschreibt drei Fälle von Verbrennung,
die bei Handbädern, Heißluft, Alkohol¬
umschlägen im Gebiet der verletzten
Nerven aüftrat. Diese erhöhte Vulne¬
rabilität schreibt er zum Teil dem
Fehlen des normalen Vasomotoren¬
reflexes zu.. Sie ist größer im Gebiete
eines entzündeten oder komprimierten
als in dem eines ganz durchtrennten
Nerven. Meist war die Continuität
des Nerven ganz , oder teilweise durch¬
trennt, aber . manchmal war die
Leistungsfähigkeit durch Druck von Nar¬
ben, Callus und — besonders schwer —
von Aneurysmen gestört. War der Nerv
teilweise durchtrennt, so gab es oft
spindelförmige Auftreibungen peripher
und central von der Verletzung, oft an
den Enden vollständig durchtrennter
Nerven knollige Neurome. Mit Narben¬
massen verwachsene Nervenbündel wiesen
öfter gequollenes, glasiges Aussehen auf.
,, Knopflochschüsse“ kamen nicht vor.
Bei zwei Reoperationen hatte Verfasser
Gelegenheit, zu beobachten, daß (bei der
ersten Operation) gut erhaltene Nerven¬
fasern nachträglich narbig degeneriert
waren — er zieht daraus den Schluß,
daß man nicht zu früh operieren dürfe.
Bei deutlich erhaltenen Nervenfasern
wurde die Neurolyse gemacht; Resektion
und Naht auch dann, wenn es unsicher
war, ob in der Narbe noch gesunde
Nervenfasern erhalten waren. Gute Re¬
sultate erzielte der Verfasser mit der
Adaptation durch Mobilisierung der
Stümpfe und Zug. War die direkte Adap¬
tation nicht möglich, so wurde auch die
v. Hof meist ersehe Doppelpfropfung (in
20*
156 Die Therapie der Gegenwart 1917. April
einem Fall mit sehr gutem Erfolge) an¬
gewandt. Meist operierte Verfasser in
Esmarchscher Blutleere, aber am Unter¬
arm wurde sie am Ende der Operation
gelöst, um eine exakte Blutstillung zu
ermöglichen. Zum Einscheiden oder Ein¬
betten der Nerven wurde je- nach den
Verhältnissen Fett- oder Muskellappen,
Kalbsarterie, Fascie (frei transplantiert
oder aus der Umgebung) verwandt.
Fixierungsverbände nach der Operation
blieben zwei bis drei Wochen liegen, dann
wurde der Nerv allmählich in Spannungs¬
lage übergeführt und es wurde mit
Kathodengalvanisation begonnen; bei
beginnender Bewegung in der gelähmten
Muskelgruppe wurde auch faradisiert und
mit warmen Bädern und Massage be¬
handelt.
Bei den Neurolysen hat Verfasser in
allen Fällen Besserung erzielt, deren Er¬
gebnis ihm bekannt ist; vollständige
Funktionstüchtigkeit des betreffenden
Gliedes wurde in 4 von 13 Fällen erreicht.
Bei den Nähten blieben von 29 Fällen
3 ergebnislos, in 3 wurde Funktions¬
tüchtigkeit, in den übrigen bekannten
verschiedene Grade von Besserung er¬
zielt. Hagemann (Marburg.)
(D. Zschr. f. Chir. Bd. 138, S. 264.)
Erfahrungen über Klinik und Pa¬
thogenese der Paratyphus B-Infek¬
tion teilt R. Stephan mit. Es ist nicht
richtig, von bestimmten Formen des.
Paratyphus zu sprechen. Die gastro-
enteritische und die typhöse „Form“
sind Stadien einer klinisch und patho¬
genetisch einheitlichen Erkrankung, bei
der sie prozentual nur in geringem Um¬
fange beobachtet werden. Und zwar
entspricht die Gastroenteritis dem Sta¬
dium der Inkubation, die „typhöse Form“
der eigentlichen Organismusinfektion. Bei¬
de „Formen“ sind durch ein starkes Her¬
vortreten von Einzelsymptomen charak¬
terisiert, die auch bei der weitaus häufig¬
sten Paratyphusinfektion stets, wenn auch
in viel geringerem Maße, vorhanden sind:
erstere durch eine höchst intensive Be¬
teiligung der Magendarmschleimhaut zu
Beginn des Infektes, letztere durch eine
längerdauernde Baciliaemie und eine durch
diese bedingte relative Schwere der Er¬
krankung. Die bisherigen „Haüptformen“
stellen demgemäß gewissermaßen die Ex- j
treme des eigentlichen klassischen- Para- |
typhus dar. Es ist aber keineswegs an- j
gängig, sie weiterhin als differente Krank- i
heiten zu betrachten. Wenn die Eintei- j
lung in Formen lediglich zum Verständnis
der klinischen Variationsmöglichkeiten
beibehalten wird, so wäre der Paratyphüs
B zu sondern in: I. Inkubationstypus:
a) gastroenteritische Form; b) dysenteri¬
sche Form. II. Typus der Allgemein-
infektiön: a) Typhoidform; b) typhöse
Form. Rein zahlenmäßig überwiegt die
Typhoidform weitaus. Etwa 80 % aller
Paratyphusinfektionen sind ihr zuzurech¬
nen. 10 % beträgt der Anteil der gastro-
enteritischen und typhösen, etwa 10%
der der dysenterischen Verlaufsart an der
Gesamterkrankung. Eine isolierte Organ¬
erkrankung im Sinne Schottmüllers
kann nicht anerkannt werden. Ausführ¬
liche klinische Angaben über die ver¬
schiedenen Verlaufsarten und deren Er¬
scheinungen, wie sie .vom Autor bei dem
Krankenmaterial eines großen Kriegs¬
lazarettes im Verlaufe eines ganzen Jahres
festgestellt wurden, werden zur Begrün¬
dung der vorstehenden Auffassung mit¬
geteilt. Hetsch (Berlin).
(Beitr. z. Kün. d. Infekt-Krkh. u. z. Immu¬
nitätsforsch. Bd. V., H. 1.)
Einen Vorschlag zum Ersatz großer
Tibiadefekte durch die Fibula macht
Moszkowicz. Bei vollkommenem Er¬
satz der Tibia durch die Fibula leidet
die Stabilität des Beines, trotzdem
die Fibula an Umfang erheblich zu¬
nimmt, dadurch, daß das untere Ende
des Wadenbeines für das # Fußgelenk zu
schwach ist. Um diesem Übelstande ab¬
zuhelfen, ist Verfasser so vorgegangen,
daß er den unteren Teil des Schienbeines
stehen läßt, von der dem Schienbein zu¬
gekehrten Fläche des Wadenbeines einen
Periostlappen abspaltet, der über den
Stumpf des Schienbeines gelegt wird und
so die Herstellung eines Brückencallus
ermöglicht. Hayward.
(Arch. f. klin. Chir. Bd. 108, Haft 2.)
Über die Leistungsfähigkeit der Tuber¬
kulin-Herdreaktion in der Diagnostik der
chirurgischen T uberkulose schreibt
Strohmeyer. Die Arbeit entstammt
der Lexerschen Klinik und faßt die
Beobachtungen zusammen, welche an
43 Patienten mit 55 Lokalisationen
chirurgischer Tuberkulose gewonnen wur¬
den. Es ergibt sich aus den Unter¬
suchungen, daß die Tuberkulin-Herdreak-
[ tion bei geschlossenen Fällen von' chirur-
| gischer Tuberkulose immer positiv ist.
| gleichgültig, ob die Fälle frisch oder alt
i sind. Die frischen Fälle reagieren im
! allgemeinen stärker als die alten. Bei
157
April Die Therapie der Gegenwart 1917.
den fistulösen Fällen von chirurgischer
Tuberkulose ist- die Herdreaktioh in
einem ganz geringen Prozentsatz negativ.
Ansgeheilte Fälle geben keine Reak¬
tionen mehr, sodaiß wahrscheinlich in der
Herdreaktion ein' wichtiges Kriterium
für die Ausheilung gegeben ist. Die Re¬
aktion ist specifisch für Tuberkulose,
denn nur tuberkulöse Fälle reagieren
positiv. Hayward.
(D. Zschr. f. Ctoir. Bd. 138, Heft 1 u. 2.)
Der Verlauf des Typhus abdominalis
hin er.sten Kriegsjahr. 1914 macht
Fejes zum Gegenstand der Erörterung.
Das 'klassische klinische Krankheitsbild
des Bauchtyphus, wie es von Wunder¬
lich, Curschmann und anderen ge¬
zeichnet ist, wurde im Frieden bei uns
kaum noch beobachtet, aber im Kriegs¬
jahre 1914 kam die Krankheit wieder in
ihrer ursprünglichen, von den Altmeistern
beschriebenen Form zur Erscheinung.
Fejes schildert seine diesbezüglichen Er¬
fahrungen. Auffällig war, daß die
schweren typhösen Darmprozesse, Blutung
und Perforation, außerordentlich selten
waren. Stellten sieh Darmblutungen ein,
so nahmen sie meist einen günstigen Ver¬
lauf und hörten nach ein- bis zweimaligem
blutigem Stuhl auf. Mit Eiterungs¬
prozessen verbundene Komplikationen
kamen dagegen recht häufig vor. Als
Erreger wurden meist ausschließlich
Typhusbacillen festgestellt. Bei der meist
plötzlichen Heilung der typhösen Eite¬
rungsprozesse spielte parallel mit der
Verbesserung des Allgemeinzustandes
allem Anschein nach auch das plötzliche
Überwiegen der Antikörper im Blut die
ausschlaggebende Rolle. Auch in tiefer¬
liegenden Organen, z. B. mehrfach in der-
Leber, wurden Eiterungsprozesse durch
den Typhusbacillus bedingt. Fast stets
wurde — im Gegensatz zu den Friedens¬
erfahrungen — tiefe Apathie und völlige
Teil-nah m-iosigkeit bei den Kranken beob¬
achtet. Peripherische Nervenentzün¬
dungen waren sehr häufig. Die Ursache,
daß dieser Kriegstyphus in so hohem
Maße von den gewohnten, im Frieden
ständig beobachteten Formen der Krank¬
heit abwich, ist in der Erschöpfung des
Organismus zu suchen, die einerseits
durch die großen Kriegsstrapazen der
Erkrankten, dann aber auch durch die
langen Transporte auf schlechten Wagen
und Wegen vor der endgültigen Lazarett¬
aufnahme zu überstellen waren. Die Er¬
schöpfung ist wohl auch der Grund, daß
häufiger Erscheinungen auftraten, die
sonst äußerst selten sind, schwere tief¬
greifende Gewebsnekrosen, symmetrische
Gangrän an den Extremitäten, Erschei¬
nungen, die den von Morvan. und
Raynau beschriebenen Krankheits¬
formen sehr nahe -standen. Auch die
Roseoleneruptionen waren unvergleich¬
lich reichlicher als beim Friedenstyphus.
Bei Leuten, die der Typhusschutz¬
impf ung^ unterzogen waren, war die
Krankheitsdauer bedeutend abgekürzt
und der Verlauf ein unvergleichlich, mil¬
derer. Die Allgemeinerscheinungen (Fieber,
Apathie usw.) waren, besonders im An¬
fang, meist ebenso schwer wie bei Un-
geimpften, aber die eigentliche Krankheit
dauerte nur wenige Tage, und nach
lytischem Temperaturabfall erfolgte meist
in der zweiten Woche schon die Ge¬
nesung. Eine längere Rekonvaleszenz
fehlte. Diarrhöen gehörten bei den Ge¬
impften zu den Seltenheiten.
Bei der Behandlung wurden aus¬
gezeichnete Erfolge von der gemischten
Diät gesehen. Je 100 Kranke aus
gleichen Stadien wurden einerseits aus¬
schließlich an flüssige Milchdiät, anderer¬
seits an gemischte reichliche Diät ge¬
halten. Sowohl der Ausgang der Krank¬
heit wie die Schwere des Verlaufes war
bei den letzteren bedeutend günstiger.
Die Mortalität betrug bei den mit Milch
Ernährten 11 %, bei den gemischt Er¬
nährten 3 %. Die reichlichere Ernährung
zog keine Darmkomplikationen nach sich,
weder Blutungen noch Perforationen
wurden beobachtet. Sie verhinderte sogar
weitgehend das Auftreten von Broncho¬
pneumonien, Decubitus, Parotitis usw.,
Folgeerscheinungen, die vorwiegend durch
die Erschöpfung des Patienten und die
Benommenheit des Sensoriums entstehen.
Daneben hatte die Pyramidonbehandlung
günstige Erfolge, anscheinend auch Luft-
und Sonnenbäder. Hetsch (Berlin).
(Beitr. z. Klin. d. Infekt.-Krkh. u. z. Immu¬
nitätsforsch. Bd. V, H.'l.)
Freudenberg mahnt aufs dringend¬
ste zur Vorsicht bei der Bewertung der
Wassermannschen Reaktion. Er übergab
in vier Fällen das gleiche Blut an vier
Untersucher und erhielt in drei Fällen
divergente Resultate, das heißt während
bei dem einen Untersucher das Blut stark
positiv reagierte, war die Reaktion des¬
selben bei einem anderen zweifelhaft oder
negativ. Von 44 Fällen ergab gleichzeitige
Untersuchung bei drei Untersuchern in
158
Die; Xherapie der ; Gegeriwaijt; 1917. April
26 Fällen Divergenz der Angaben. Von
96 Fällen' gleichzeitiger Untersuchung
bei nur zwei Untersuchungen divergierten
17 Fälle. Die gewählten Untersuchungs¬
stellen waren alle als zuverlässig bekannt,
eine Besserung der Resultate konnte Ver¬
fasser in sechs Jahren nicht konstatieren,
vielmehr ergaben sich im Durchschnitte
aller Untersuchungen stets zirka 33%
Divergenzen. Verfasser mahnt daher
dringend davon ab, sich mit einer Unter¬
suchung in zweifelhaften Fällen zu be¬
gnügen. (Auch Referent konnte seinerzeit
derartige Divergenzen zwischen zwei erst¬
klassigen Untersuchungsstellen beob¬
achten, bei Verwendung der gleichen
Blutportion und ,,durchaus zuverlässiger“
Extrakte.)
Anläßlich dieses Angriffs, der sich an
die Arbeiten von Heller und Saalfeld
anschließt, (Referat Februarheft dieser
Zeitschrift) ergreift nun Wassermann
selbst das Wort zur energischen Ant¬
wort. . Gegenüber der Behauptung der
genannten Autoren, daß bei' einwand¬
freier Technik die Wassermannsche
Reaktion in den Händen verschiedener
Untersucher verschiedene Resultate
ergebe , machte er einen Gegen-
versuch derart, daß 50 Sera von einem
Unbeteiligten geteilt und ohne nähere
Angaben, gleichzeitig zur Anstellung der
Reaktion, an die Kaiser-Wilhelms-Aka-
demie für das militärärztliche Bildungs¬
wesen und an das Kaiser-Wilhelms-In¬
stitut für experimentelle Therapie gesandt
wurden. Es stimmten nun in 48 Fällen
die Resultate genau überein, während
in zwei Fällen der eine Untersucher das
Resultat als zweifelhaft, der andere als
negativ bzw. positiv bezeichnete. Als
positiv wurden alle Reaktionen mit voll¬
ständiger oder fast vollständiger Hem¬
mung, als negativ solche ohne jede Spur
von Hemmung der Hämolyse bezeichnet,
alles andere als zweifelhaft (außer den er¬
wähnten noch sechs Fälle). Aus dem
Resultat dieser Untersuchung zieht Was¬
sermann den Schluß, daß bei gleicher
Methode die Reaktion in den Händen
verschiedener Untersucher gleiche Resul¬
tate ergibt, daß daher Differenzen auf un¬
gleiche Methodik oder ungleichmäßig ein¬
gestellte Reagenzien zurückgeführt wer¬
den müssen.
Er stellt weiter fest, daß sich aus die
Unterschiede, die die oben erwähnten
Autoren bei verschiedenen Untersuchun¬
gen in den Resultaten fanden, sie nicht zu
dem Schlüsse berechtigen, die Reaktion
als solche in Zweifel'zü. ziehen,:die ihre
Zuverlässigkeit in de;n letzten. :10 Jaliren
.so mannigfaltig erwiesen hat.
Daß. in einzelnen Fällen die Beurtei¬
lung der Reaktion schwierig ist, ist ein
Fehler, den die Wassermannsche Reak-.
tion mit noch vielen anderen chemischen
,und serologischen Reaktionen von un-
bezweifeltem Werte teilt.
. (Referent möchte darauf hinweisen,
daß er. wie auch andere die Aufsätze der
drei Autoren nicht als einen Angriff auf
die Wassermannsche Reaktion als sol¬
che empfand, sondern vielmehr .als eine
Warnung an die nicht spezialistisch ge¬
schulten Ärzte, zuviel auf den Ausfall
einer .einmaligen Reaktion zu vertrauen
und dem Resultat derselben unbedenklich
die klinische Überzeugung und darauf
gebaute Diagnose zu opfern.)
Waetzoldt.
(B. kl. W. 1917, Nr. 5).
Die von Carrel auf den französischen
Kriegsschauplätzen mit großer Emphase
eingeführte Behandlung der Wunden mit
Dakinscher (Hypochlorit-) Lösung wird
auch jetzt in Deutschland geübt. Eine
definitive Entscheidung für oder gegen
die Methode ist noch nicht erbracht worden.
Hirschberg hat das Verfahren im
Feldlazarett in zwölf Fällen angewendet
und stellt fest, daß die Resultate als
durchaus befriedigend anzusehen sind,
allerdings muß hierbei betont werden,
daß gleichzeitig auf operativem Wege
möglichst übersichtliche Wundverhält¬
nisse geschaffen wurden. Wieviel nun
auf Kosten der Lösung oder der Operation
oder der Kombination beider Methoden
geht, ist schwer zu sagen. Soviel steht
fest, daß die Dakinsche Lösung ein gutes
antiseptisches Mittel zur Wundbehand¬
lung ist. Hayward.
(D. m. W. 1916, Nr. 51.)
Über beschleunigte Wundheilungsvor¬
gänge nach Erysipel berichtet GoebeL
Die sogenannte heilende Wirkung des
Erysipels bei Geschwülsten ist bekannt.
Dahingegen ist der Einfluß, den eine ent¬
standene Wundrose auf die Heilung der
Wunde selbst ausübt, bisher im Frieden
noch nicht beobachtet worden. Erst jetzt
im Kriege hat sich gezeigt, daß in .zahl¬
reichen Fällen, in welchen Erysipele auf-
treten, und sie scheinen in den Lazaretten
sehr häufig zu sein, nach Abklingen der
Wundinfektion die Heilungstendenz der
Wunde ganz außerordentlich beschleunigt
Die Therapie -der* Gegenwart 1917.
159
ist..Goebel-erklärt die eigenartige Er-
sc'heinüög; -des- Multiplen 7 Äüftreteris des
Erysipels. - damit,- daß die Leute,- welche
vorherJdurCli den Aufenthalt in- frischer
Luft erheblich abgehärtet waren, viel¬
leicht auch-durch das mangelnde Bad eine
Widerstandsfähigere Haut gehabt haben.
Was die Heilende-Wirkung des Erysipels
betrifft, So möchte Goebel glauben, daß
sie durch die- erzeugte Hyperämie eine
hinreichende Erklärung findet.
(Zbl. f. Chir. 1917, Nr. 2.) Hay ward.
Ethisches im Kampf gegen die Volkskrankheiten.
Von San.-Rat Dr. B. Laquer -Wiesbaden,
z. Z. leitender Arzt eines Lazarettznges.
„Es muß der K'nubben nur den Knorren
hübsch vertragen.”
G. E. Lessing.
Der ,,Kursus für innere Mission“
(6.—8. März 1917 in Brüssel), an welchem
ich als Gast ,,vom anderen Ufer“ her teil¬
nahm, erbrachte für die Beurteilung und
Einschätzung sittlich-religiöser Wege in
der Bekämpfung der Geschlechtskrank¬
heiten mancherlei Anregendes; .vor allem
das anderthalbstündige. Referat des.Tü¬
binger Theologen Prof. v. Wurster: „Die
geschlechtliche Sittlichkeit als seelsorge¬
risches und wissenschaftliches Problem“;
200 Feldgeistliche von der Westfront
waren versammelt; den Kursus leiteten
Prof. Seeberg (Berlin) und Feldober¬
pfarrer Goens (Charleville); eine andere,
innerlichheiße’ lebendige Welt, erfüllt.von
Fragen, Zweifeln, Bekennen, .Kämpfen,
Sehnsucht, Wollen, Verkünden ! Wie .bei
unseren eigenen „Kriegstagungen“, such¬
ten die Vortragenden Akademiker ihre
früheren Zuhörer und Schüler zu belehren,
zu erfrischen und zu stählen im Kampfe
um die Seele des Feldgrauen, wie bei uns
um Wunden und Krankheit.
Niemals ist mir der von dem Philo¬
sophen Rickert (Heidelberg) aufgestellte
fast dramatische Gegensatz-zwischen der
ideographischen und nomothetischen Welt¬
anschauung so plastisch und zum Greifen
verlebendigt worden, wie auf diesem
Kursus! Und doch führen Brücken her-
und hinüber, und sie zu beschreiben, ist die
Absicht dieser Zeilen.
Zuvörderst eine Feststellung: es gibt
in unserer ärztlichen Literatur kein Werk,
welches die Anschauungen, Wege und
Ziele der Kirche über den Geschlechts¬
verkehr und seine Folgen so gründlich
und so sachlich .auseinandersetzte,, wie
dies Prof. Mahling, Ordinarius der prak¬
tischen Theologie an der Universität
Berlin, über unsere ärztlichen Mei¬
nungen und Kampfmöglichkeiten in seiner
Schrift': „Der gegenwärtige Stand der
Sittlichkeitsfrage“ (Sonderausgabe aus
Heft 1 der „Vierteljahrsschr. f. inn. Miss.“,
Gütersloh 1916, Bertelsmann, 125 Seiten,
2 M.) zuwege gebracht. Ethiker, wie
Mahling, gehen in ihren Bestrebungen
in erster Linie von dem gesunden Und
normalen Menschen aus und von der
Einzelbehandlung der kranken Seele; wir
Ärzte sehen vor allem den kranken Körper,
die Epidemie, die Massenerscheinung vor
uns und handeln dementsprechend; dem
Theologen sind Prostitution und Infek¬
tion Sünde und Folge des unbeherrschten
Triebes; für uns ein Erzeugnis von Anlage
und Umwelt! Darum paktiert jener nicht
mit der Wirklichkeit, deren grauenhafte
Tiefen die allerwenigsten aus eigener Er¬
fahrung kennen! Goethes erschüttern¬
des Bekenntnis: „Der Gott und die Baja¬
dere“ z. B. hat für jene nur in dem er¬
lösenden Schlüsse:
„Unsterbliche heben verlorene Kinder ^
Mit glühenden Armen zum Himmel empor!“
Geltung, aber keinesfalls in Anfang und
Mitte, welche für jene heidnisch sind und
bleiben.
Wir heben von den Einzelgegensätzen
folgendes hervor:
Das Wurstersche Referat lehnte
grundsätzlich die Empfehlung der Schutz¬
mittel ab; hierin stimmt mit dem rechts¬
stehenden Gelehrten auch die links¬
stehende Geistlichkeit überein; Mahling
(siehe oben S. 112) schiebt folgerichtig
dem Arzt die volkshygienisch aufzu¬
fassende Verantwortung für die Empfeh¬
lung der Schutzmittel zu, wie dies auch
v. Drigalski (Halle) von seinen Be¬
sprechungen mit den Feldgeistlichen des
Westens berichtet 1 ). Albert Neißer 2 )
ist in seiner Erwiderung gegen Mahling
und in der Aufstellung einer neuen Sitten¬
lehre viel zu weit und über die dem For¬
scher und Arzt gesetzten Schranken
x ) Sitzungsbericht der Brüsseler Besprechung
(8. Oktober 1915) als Manuskript gedruckt,
S. 17/18.
2 ) Maßnahmen zur Bekämpfung der Geschlechts¬
krankheiten. Berlin 1916, Springer.
Die Therapie der Gegenwart 1917.
April
ICO
hinausgegangen; wenn wir kraft unserer
Wissenschaft, die ja gerade im letzten
Jahrzehnt so Großes geleistet (Schap-
dinn, Wassermann, Ehrlich) und
kraft unserer sozial-hygienischen Technik
die Geschlechtskrankheiten nicht gerade
so einzudämmen imstande sind wie die
Tuberkulose — neue ethische Wege zu
eröffnen, wollen wir doch lieber denen
überlassen, welche nach Beruf und Übung
es besser vermögen als wir!
Es sind ja glücklicherweise Hundert¬
tausende unserer jungen Feldgrauen als
„Asbestseelen“ und „Animae candidae“
durch den furchtbaren Krieg hindurch¬
gegangen, wie dies unter anderen die
prachtvollen Feldpostbriefe 1 ) zweier vor
dem Feinde als Offiziere gefallenen jun¬
gen Theologen Heinz und Gotthold
von Rohden erhärten.
Felix Pincus hat im Schlußkapitel
seines Buches 2 ): „Enthaltsamkeit“
doch andere Wege als Neißer vorge¬
schlagen und entsprechend begründet; wir
sind in der Sexualpädagogik noch im An¬
fang unserer Mittel und Erfahrungen 3 ).
Wir haben gewiß keine Veranlassung, die
anglo-amerikanische Weltanschauung zu
rühmen; aber, die Bemerkung H. Taines
in seinem Reisebuch• „Sur TAngleterre“,
daß die britische Jugend (in den oberen
Schichten) später als bei uns dem wahl¬
losen Geschlechtsleben sich ergibt, ist
sicher berechtigt; das Tacituswort von
der „sera juvenum venus“ gehört leider
der Geschichte an; jedenfalls ist es auch
im Felde rätlich, bei der Empfehlung der
Schutzmittel Zweifler und von sittlichen
Bedenken Bedrückte an ihre Seelsorger
zu verweisen..
So ähnlich sprechen sich auch Uhlen-
huth und Drigalski (siehe oben) aus.
Wir Ärzte beurteilen unsere Umwelt zu
leicht und zu oft nach den trüben Er¬
fahrungen unserer Sprechstunden und
nach dem „Kulturschwaden“, der -—
wenigstens vor dem Kriege -— über un¬
seren Großstädten lagerte; glücklicher¬
weise wohnt aber in letzteren doch nur ein
Fünftel des deutschen Volkes.
J ) Bei J. C. Mohr (Tübingen) 1917.
2 ) Die Verhütung der Geschlechtskrankheiten.
Freiburg 1912, Speyer & Kärner.
3 ) Vgl. Timmerding, Sexualpädagogik. Leip¬
zig 1917, Teubner.
In einer an den Wursterschen Vqd-
trag sich anschließenden Aussprache, in
der ich auf die hier schon im September¬
heft 1915 erörterten Zusammenhänge zwi¬
schen „Krieg, Ernährung un( j[ i Alkoholiis-
mus“ hinwies, die alkoholfreie Derno-bili-
sation (Einsperrung aller Prostituierten
in Spitäler oder Barackenlager, Beseiti¬
gung aller Animierkneipen, Polizeistunde
um neun Uhr) anregte 1 ), die von einem
Stockholmer Arzt Dr. JvoBrattin Schwe¬
den eingeführten Branntweinkarten (ver¬
gleiche meinen Reisebericht in Preuß.
Jahrbüchern 1916, Septemberheft) Schil¬
derte, und einige Blaschkö 2 ) entnommene
Zahlen über die Verbreitung der Ge¬
schlechtskrankheiten im Frieden und im
Felde gab, forderte ich unter anderen die
anwesenden Feldpfarrer auf, schon jetzt
die Soldaten auf die von den Landesver¬
sicherungsämtern geplanten beziehungs¬
weise schon eröffneten „Beratungsstellen
für Geschlechtskranke“ 3 ) aufmerksam zu
machen und sich darauf vorzubereiten,
daß auch im Frieden in der Heimat im
engeren Kreise der Gemeinde, die o. e.
Beratung in erster Instanz dem Seelsorger
zur 'Kenntnis, zur Entscheidung zwecks
Abwehr von Familienkonflikten vorgelegt
werden dürfte.
Versuche des Austauschs von Theo¬
logen und Ärzten auf ihren Tagungen sind
dringend geboten, es gibt bei uns gerade
•soviel Geistliche als Ärzte; die Welt¬
kriegslage stellt auch nach dem erhofften
günstigen Frieden gewaltigste Anforde¬
rungen an uns alle; wir in den führenden
Schichten, welche ja nur ein Fünfzehntel
der Männer und Frauen umfassen, seilten
zum Aufbau des neuen Deutschland, das
wir ersehnen, und für die so unendlich wich¬
tige Bevölkerungs- und Regenerations¬
politik alles Trennende bei Seite stellen;
der für November 1914 geplante „Inter¬
nationale Kongreß für Sexualforschung“,
welchen der Krieg verschlungen, möge als
„deutscher Kongreß“ bald nach dem
Frieden wieder auf erstehen!
x ) Vgl. auch Hecht, Venerische Infektion und
Alkohol' (Zschr. z. Bek. d. Geschlechtskrank¬
heiten 1916, Märzheft),
3 ) Welche Aufgaben erwachsen dem Kampfe
; gegen die Geschlechtskrankheiten aus dem Kriege?
! Leipzig 1915, Bahrt.
3 )PaulKaufmann, Krieg,’ Geschlechtskrank-
!; heiten und Arbeiterversicherung. Berlin 1916,
1 Vahlen.
Für die Redaktion verantwortlich Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer in Berlin. Verlag von Urb an & Schwarzenberg
in Berlin und Wien. Gedruckt bei Julius Sittenfeld, Hofbuchdrucker., in Berlin W8.
Zur Ausfuhr zugelassen!
Sanitätsamt d. mit. Institute.
Nr. 2239 u . 2376 Z.
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Neueste Folge. XlX.Jahrg.
herausgegeben von
Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer
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5. Heft
Mai 1917
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Verlag von URBAN & SCHWAEZENBEEG in Berlin N 24 und Wien I
Die Therapie der Gegenwart erscheint zu Anfang jedes Monats. Abonnementspreis für -den
Jahrgang 10 Mark, in Österreich-Ungarn 12 Kronen, Ausland 14 Mark. Einzelne Hefte je 1,50 Mark
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herausgegeben von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer
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Mai
. Nachdruck verboten.
Aus dem Sanatorium für Lungenkranke in St. Blasien.
Über einige praktische Fragen aus dem Gebiete der
Phthisiotherapie.
Von Prof. Dr. Adolf Bacmeister.
Wenn ich im folgenden über einige
praktisch wichtige Fragen bei der Er¬
kennung und Behandlung der Lungen¬
tuberkulose sprechen will, so muß ich
gleich hervorheben, daß damit nichts
.prinzipiell 1 Neues gebracht werden soll.
Veranlaßt wurden diese Ausführungen
durch die sich immer wiederholende Er¬
fahrung, daß — vielleicht gerade wegen
der ungewöhnlich großen Literatur und
der darin niedergelegten recht differenten
Anschauungen berufener und nicht 1 be¬
rufener Autoren — in der Praxis eine
auffallende Unsicherheit und Ungewi߬
heit in praktisch wichtigen Punkten be¬
steht, die für die Erkennung einer tuber¬
kulösen Lungenerkrankung und für die
richtige Behandlung dieser Kranken ver¬
hängnisvoll werden kann.
Je früher die Diagnose der beginnen¬
den Lungenphthise gestellt wird, um so
besser sind die Heilungsaussichten des
Kranken. Gegen diesen selbstverständ¬
lich erscheinenden Satz wird noch immer
durch Verschleppung von seiten des
Patienten, durch mangelhafte und un¬
vollständige Beobachtung und Unter¬
suchung von seiten des Arztes sehr ge¬
sündigt. Es kann dem Arzt, an den der
Patient sich zunächst wendet, nicht aus¬
drücklich genug an das Herz gelegt wer¬
den, daß er bei Verdacht auf eine inci-
piente Lungentuberkulose sich bei der
Untersuchung niemals auf die Behor¬
chung und Beklopfung des Kranken allein
beschränkt. Es muß mit aller Entschie¬
denheit ausgesprochen werden, daß es
oft völlig unmöglich ist, eine beginnende
tuberkulöse Veränderung in der Lunge
durch eine einmalige Untersuchung
festzustellen. Dem nicht besonders ge¬
übten Arzt können leichte Schallfdiferen-
zen oder Atmungsveränderungen ent¬
gehen; abgesehen davon, sind aber mini¬
male Veränderungen in dieser Richtung
noch durchaus kein Beweis für eine vor¬
handene Lungentuberkulose. Bestehende
und abgelaufene Erkrankungen der ver¬
schiedensten nicht tuberkulösen Art,
Veränderungen des Herzens, der Schild¬
drüse, des Thymus, Abnormitäten im
anatomischen Bau und manche andere
Ursachen können derartige Veränderungen
hervorrufen. Eine bestehende Tuber¬
kulose heilt dagegen nur durch Narben¬
bildung. Eine völlig latent gewordene
oder anatomisch geheilte Tuberkulose
hinterläßt also stets Änderungen des Aus-
kultations- und Perkussionsbefundes, die
eine sofortige richtige Beurteilung bei
der ersten Untersuchung oft unmöglich
machen. Es ist aber die verantwortliche
Aufgabe des Arztes festzustellen, ob die
gefundenen Veränderungen überhaupt tu¬
berkulöser Natur sind, ob eine aktive der
Behandlung bedürftige Phthise besteht,
oder ob eine Latenz oder Heilung erreicht
ist.
Auf diese Frage kann meist nur eine
mehrtägige Beobachtung die Ant¬
wort geben. Eine gründliche Untersu¬
chung, die großes ärztliches Können und
ärztliche Erfahrung, ein genaues Studium
der Anamnese, eine sorgfältige Beob¬
achtung des Kranken, eine völlige Beherr¬
schung der Untersuchungsmethoden und
eine genaue Kenntnis der Krankheits¬
symptome umfaßt.
• Ein wichtiges Frühsymptom, das
noch relativ wenig beachtet wird, aber
sehr häufig vorkommt, ist die Ungleich¬
heit der Pupillen, welche auf Reizung des
Sympathicus infolge der Spitzenerkran¬
kung auf der befallenen Seite beruht. Sie
führt zu einer Erweiterung der ent¬
sprechenden Pupille. Bei der Auskul¬
tation und Perkussion soll hier nur auf
einige wichtige, aber in der Praxis wenig
beachtete Punkte hingewiesen werden.
Daß Veränderung des Klopfschalles für
die Art der Erkrankung, für die Ein¬
schätzung, ob latent oder progreß, nicht
beweisend sind, ist bekannt. Zu erinnern
ist dagegen daran, daß schon unter nor¬
malen Verhältnissen die rechte Lun¬
genspitze einen etwas schärferen und
lauteren Atemtyp sowohl bei der Inspi¬
ration wie bei der Exspiration zeigen kann.
21
162 Die Therapie der
Dies Verhalten, das nicht selten zu fal¬
schen Diagnosen führt, wird durch anato¬
mische Verhältnisse bedingt, durch den
verschiedenen Bau des Bronchiairaumes
rechts und links, durch ein differentes
Verhalten der Lungenkuppen zur oberen
Brustaperter. Sehr viel häufiger sind
Fehldiagnosen, welche die linke Spitze,
und zwar bei gleichzeitig bestehenden
Herzfehlern betreffen. Häufig werden
uns Patienten mit Mitralfehlern ein¬
gewiesen, bei denen fälschlich eine links¬
seitige Spitzenerkrankung angenommen
war. Bei diesem Vitium findet sich be¬
sonders bei jugendlichen Personen fast
regelmäßig eine Abschwächung des Klopf¬
schalles über der linken Lungenspitze
infolge Kompression der Lunge durch den
gestauten und erweiterten linken Vorhof.
Derselbe Grund führt zu Atemverände¬
rungen, feine Rasselgeräusche können
ebenfalls auftreten, als Folge der leichten
Ätelectase (Entfaltungsknistern). So ist
es verständlich, daß beim Auffinden
dieser Kardinalsymptome für eine Spitzen¬
erkrankung die falsche Diagnose gestellt
wird. Gerade bei Herzfehlern ist daher
eine genaue Untersuchung und mehr¬
tägige Beobachtung nötig.
Das Auffinden der Tuberkel¬
bacillen im Auswurf entscheidet sofort
die Diagnose. Es werden aber nur in 20 %
der klinisch manifesten Fälle der initialen
Phthise Tuberkelbacillen im Auswurfe ge¬
funden. Der positive Erfolg hängt aber
sehr oft von der Art und der Gründlich¬
keit der Untersuchung ab. Wir befolgen
die Regel, daß, wenn wiederholte Unter-
suchungen mit der Ziehlschen Färbung
ein negatives Resultat hatten, die Pikrin-
säurefärbemethode anzuwenden ist.
1. Färben mit Karbolfuchsin (wie bei
der Ziehl-Neelsenschen Methode).
2. Abgießen der heißen Farbflüssigkeit.
Auf das Präparat wird ohne Abspülen
Pikrinsäure-Alkohol gebracht (Es¬
bach sches Reagens — Alcohol ab'so-
lutus zu gleichen Teilen). Dauer der
Einwirkung wenige Sekunden.
3. Entfärben mit Salzsäure-Alkohol wie
bei Ziehl-Neelsen.
4. Kontrastfärbung mit Pikrinsäure-Al¬
kohol (Zusammensetzung wie bei 2,
zirka eine halbe Minute), abspülen,
Trocknen.
In einem gelblichen Grunde, in dem
die zeitigen Elemente nur schlecht zu er¬
kennen sind, liegen die rot gefärbten
Tüberkelbacillen.
Mit dieser Methode gelingt es noch
Gegenwart! 917. * Mai
häufig, Bacillen färberisch aufzufinden,
wenn .die Ziehlsche Methode versagte.
Es liegt das daran, daß so auch- nach
schwer hüllengeschädigte Bacillen zur
Darstellung kommen. Sehr häufig kann
man sich durch diese Methode die etwas
umständlichere und zeitraubendere Anti-
formin-Anreicherungsmethode sparen, die
aber auch eine sehr wertvolle Bereicherung
unseres diagnostischen Könnens bedeutet
und für alle Fälle, bei denen die Bacillen
beim gewöhnlichen Ausstrich nicht ge¬
funden werden, nicht warm genug emp¬
fohlen werden kann.. .
Ein kleiner Kunstgriff, der mir häufig
sehr wertvoll geworden ist und auch in
der Praxis leicht auszuführen ist, besteht
darin, daß man in Fällen, wo man eine
•Phthise vermutet und kein oder nur sehr
spärliches Sputum produziert wird, dieses
durch ein Expektorans künstlich ver¬
mehrt und verflüssigt. Besonders gut
eignet sich dazu das Jod (Kalii jodati 8,0,
Aqua dest. ad 200,0 zweistündlich .einen
•Eßlöffel 1 bis 3 Tagedang). In dem sorg¬
fältig gesammelten Sputum werden nun
oft die Bacillen gefunden.
Die Erkenntnis, daß die Temp.era-
turmessung von der größten Bedeutung
für die Erkennung und die Behandlung
der Lungentuberkulose ist, bricht sich
glücklicherweise immer mehr Bahn. Die
für die initiale Phthise maßgeblichen ge¬
ringfügigen, subfebrilen Temperaturstei-
gerungea können mit Sicherheit nur
durch die rectale Messung nachgewie¬
sen und gewürdigt werden. Infolge der
anhaftenden Fehlerquellen ist auch' die
Mundmessung nicht als genügend scharf
und sicher zu bezeichnen. Immer wieder
erleben wir'es, daß Patienten, denen aus
äußeren Gründen die Mundmessung äuf-
erlegt wird, auch bei sorgfältigster Unter¬
weisung und Kontrolle normale Tempe¬
raturen aufweisen, besonders wenn die
Messungen Im Freien auf der'Liegehalle
vorgenommen werden, daß aber rectale
Messungen Temperatursteigerungen auf¬
decken, die ein ganz anderes Regime in
der Behandlung verlangen. Bei den
diagnostisch zu verwertenden Messun¬
gen, die wieder m.ehrere Tage durch¬
zuführen sind, sollen prinzipiell nur
rectale Temperaturen berücksichtigt
werden. Unter Würdigung der bekannten
Tatsache, daß gerade bei initialen oder
latenten Tuberkulosen eine größere Labi¬
lität der Temperaturen, höheres'Ansteigen
der Körperwärme bei' Bewegungen 'und
Anstrengungen und langsameres Abfallen
Mai Die Therapie der
nach körperlicher Bewegung eiritritt, soll
die diagnostische Messung mindestens
zwei Tage umfassen und zwar einen Tag
bei absoluter Ruhe mit zweistündlichen
rectalen Messungen, einen Tag mit körper¬
licher Belastung (zweimal einstündiger
Spaziergang und zwar morgens und nach¬
mittags) mit rectalen' Messungen direkt
vor und nach der Bewegung und eine
halbe Stunde nach der Rückkehr nach
einer halbstündigen Ruhe auf dem Liege¬
stuhl. Bei der Behandlung kommen da¬
gegen nur die Temperaturen in Frage, die
in der'Rühe gemessen'werden. Hier ist
also bei der Festlegung der Kurregeln
darauf zu achten, daß stets mindestens
eine halbe Stunde der völligen Ruhe der
Messung vorausgegangen ist, daß nicht
durch direkt vorhergehendes Treppen¬
steigen, durch lebhafte Unterhaltung,
Briefeschreiben usw. verursachte Tempe¬
raturerhöhungen falsch eingeschätzt .wer¬
den.
So ungemein wichtig die genaue Tem-
peraturmessung sich für die Frühdiagnose
der'Tuberkulose erwiesen hat, so wichtig
und ausschlaggebend' die Temperatur¬
beobachtung für die Behandlung der
Phthise ist, so muß aber doch darauf hin¬
gewiesen werden, daß nicht jede Tem--
peratursteigerung auf eine incipiente
Phthise bezogen werden darf, daß nicht
jede Temperaturerhöhung bei einer sicher
bestehenden Tuberkulose auf den Lungen¬
prozeß' zurückgeführt werden muß. Der
•Mensch' besteht nicht aus Lungen allein.
Störungen im Verdauungstraktus, chro¬
nische Rachen- und Nasenkatarrhe, Er¬
krankungen der Ohren, Erkältungen, Ton-
sillarpfröpfe mit reaktiven Erscheinungen,
Störungen im Gebiß und viele andere Ur¬
sachen können vereinzelte aber, auch an¬
haltende subfebrile Temperaturen bei rec¬
taler Messung bewirken. Häufig wird die
Hyperthyreose, die mit ihren Symptomen:
Lymphocytose, nervöse. Beschwerden,
Temperatursteigerungen usw., sehr schwer
von der beginnenden Tuberkulose .zu
trepnen ist, für eine solche angesprochen.
Der Status lymphaticus der Kinder, die
exsudative Diathese mit ihren Folgen
sind hier zu erwähnen.
Gerade in'solchen - Fällen ist die Stel¬
lung des verantwortlichen Arztes eine
außerordentlich schwere, da klinisch der¬
artige Erkrankungen von der beginnenden
Tuberkulose oft nicht zu trennen sind:
Außerdem wissen wir, daß .gerade auf
dem Boden des Status lymphaticus, der
•exsudativen ' Diathese. leicht eine wirk¬
Gegenwart 1917. 163
liehe Tuberkulose erwächst. Das Ver¬
schwinden der Hausarztinstitution ist
gerade hier außerordentlich zu bedauern.
Ein Arzt, der eine Reihe von Kindern in
derselben Familie hat aufwachsen sehen,
ist viel sicherer in der Lage, die Konsti¬
tution der einzelnen Familienglieder
zu beurteilen. Wir waren oft in der Lage,
besorgte Eltern beruhigen zu können,
wenn Störungen dieser Art bei jüngeren
Kindern auftraten, die wir bei älteren Ge¬
schwistern ebenfalls gesehen und im Ver¬
laufe der Jahre ohne Folgen verschwinden
sahen. Auch hier wieder ist die strenge
Forderung zu erheben, in solchen Fällen
niemals nach einer Untersuchung in der
Sprechstunde ein Urteil abzugeben, wie
es gerade in der konsultativen Praxis so
häufig gefordert wird. Praktisch tut man
aber immer gut, bei Temperatursteigerun¬
gen ohne ersichtlichen Grund denVerdacht
auf Tuberkulose festzuhalten und den Pa¬
tienten dementsprechend zu beobachten.
An dieser Stelle möchte ich ein Wort
über den Wert und die Anwendung
der diagnostischen subcutanen Tu-
berkulirireaktion sagen. Meiner Mei¬
nung nach wird sie viel zu häufig vor¬
genommen. Ich bin der . Ansicht, daß in
den bei weitem meisten Fällen die Be¬
urteilung der Anamnese, eine genaue
physikalische Untersuchung, eine genaue
Temperaturbeobachtung in der Ruhe und
in der Bewegung, de Sputumunter¬
suchung in der oben geschilderten Art, die
Blutuntersuchung und vor allen Dingen
das Röntgenverfahren die subcutane Tu¬
berkulinprobe unnötig machen und daß
sie möglichst dem Patienten erspart
bleiben soll. Aber gerade in den oben ge¬
schilderten Fällen, bei denen kleine Tem¬
peratursteigerungen den Verdacht auf
Tuberkulose erwecken können, beim Sta¬
tus lymphaticus, bei der exsudativen
Diathese, bei den Veränderungen in der
linken Lungenspitze bei Mitralfehlern
(siehe oben), bei der Hyperthyreose usw.
kann sie die Entscheidung bringen und
die Diagnose sichern. Dasselbe gilt für
die Beurteilung indurierender Pro¬
zesse, die recht oft unter dem Namen
der Tuberkulose segeln und weder durch
die physikalische Untersuchung noch
durch die Röntgendiagnostik von ihr zu
trennen sind. Ich erinnere an die chroni¬
sche Pneumonie, die, Pneumokoniosen,
die Actinomykose, die fast regelmäßig als
Tuberkulose aufgefaßt wird, weil man bei
ihrer relativen Seltenheit an sie gewöhn¬
lich nicht denkt, die Syphilis usw.,
21*
16*4 Die Therapie der
Einen Punkt bei der Temperatur¬
messung, der mir bei der Behandlung der
Lungenkranken wichtig geworden ist,
möchte ich hier noch hervorheben. Daß
die subfebrilen und febrilen Abend¬
temperaturen für die Phthise charak¬
teristisch sind, brauche ich nicht mehr zu
betonen. Von großem Werte ist aber
gerade bei der Behandlung auch die
Beurteilung der Morgentemperaturen.
Bei ihnen zeigt sich gewöhnlich zuerst
die Besserung des Zustandes dadurch, daß
sie anfangen, herunterzugehen (zu ver¬
werten natürlich nur bei Patienten, die
nicht an Nachtschweißen leiden). Bei der
Tagestemperatur spielen so viel äußere
und innere Einflüsse und Reize mit, die
man nicht ausschalten kann, die unter
Umständen die Temperaturen beein¬
flussen. Das Heruntergehen der
Morgentemperaturen ist gewöhnlich
das erste Zeichen, daß eine Besserung
eintritt, dem gewöhnlich auch das Herab¬
sinken der Abendtemperaturen folgt.
Ebenso warne ich stets vor irgendwelcher
körperlichen Belastung oder zu frühzeiti¬
gem Aufstehen, wenn die Temperaturen
bei rectaler Messung im Verlaufe des Tages
zwar unter 37,5 bleiben, aber die Morgen¬
temperaturen sich noch über 37 halten.
In solchen Fällen sicherer Tuberkulose
nehme ich noch keine völlige Ent¬
fieberung an und fast regelmäßig zeigt
sich bei stärkerer Belastung' das Auf¬
treten neuen Fiebers.
Hier möchte ich ein Wort über die
Behandlung des tuberkulösen Fie¬
bers anschließen. Das Fieber ist, diese
Erkenntnis fehlt gerade in den Kreisen
der praktischen Ärzte noch sehr, nur ein
Symptom der Krankheit, es zeigt den
Kampf des Körpers mit den eingedrun¬
genen Bakterien an. Für den Patienten,
der gerade bei dieser Krankheit oft keiner¬
lei Beschwerden hat, ist die erhöhte
Temperatur das, was ihn ängstigt; mit der
künstlichen Beseitigung des Fiebers glaubt
er die Krankheit gehoben. Diesem Ver¬
langen kommt der Arzt sehr häufig ent¬
gegen, indem er auch kleinere Steige¬
rungen der Temperatur mit Fieber¬
mitteln zu unterdrücken sucht. Dies
Vorgehen ist aber falsch und unlo¬
gisch. Eine normale Temperatur mit
medikamentösen Mitteln auf jeden Fall
erzwingen wollen, heißt in die Schutzvor¬
richtungen des Körpers eingreifen und ihn
in seinem Abwehr- und Heilungsbestreben
schädigen. Es kommt vielmehr alles
darauf an, die Reaktion des Körpers
Gegenwart 1917.* Mai
durch entsprechende Maßnahmen, abso¬
lute Ruhe, Ausschaltung aller Reize,
beste klimatische Versorgung, kräftigende
Ernährung zu einer erfolgreichen zu
machen — dann geht das Fieber von
selbst herunter —, nicht aber den Körper
durch falsche Anwendung der Antipyre-
tica in seiner Reaktionskraft zu h e m m e n.
Es ist nicht zu verkennen, daß das
Handeln des Arztes oft durch das Ver¬
langen des Kranken bestimmt wird, der
sehen will, daß etwas geschieht, daß der
Arzt der Krankheit direkt zu Leibe geht.
Dieser Forderung kann man durch hydro¬
therapeutische Maßnahmen, besonders
durch den Gebrauch der Brustkreuz¬
wickel, die man in allen febrilen Fällen
ausgiebig benutzemsoll, entgegenkommen;
der reiche Schatz unserer Kräftigungs¬
mittel steht uns hier zu Gebote, Eisen¬
arsenkuren, Campherkuren, Kreosot in
irgendeiner Form, bei reichlichem Aus¬
wurf die Zufuhr von Kalk, sollen hier
unter anderem nur angedeutet werden.
Ein Eisenarsenpräparat, das ich mit Vor¬
liebe anwende, das auch von den schwäch¬
lichsten Leuten immer gut vertragen
wird, möchte ich hier nennen:
Rp. Liq. Ferri pornati
Liq. Fowleri ää 7,5
S. 3 X täglich 10 bis 15 Tropfen nach
dem Essen.
Nur wenn durch lange andauerndes
oder hohes Fieber Störungen des All¬
gemeinbefindens, Schädigungen des Ner¬
vensystems, Schlaflosigkeit, Mangel an
Appetit, Verdauungsstörungen und
Kräfteverfall auftreten, soll man durch
möglichst kleine Dosen von Fieber¬
mitteln die Temperaturen herabzusetzen
versuchen. Auch hier möchte ich einige
praktische Winke geben, welche uns die
Erfahrung lehrte. Es kommt darauf an,
gerade bei dieser chronischen Krankheit
durch möglichst kleine Mengen der
Mittel einen möglichst großen Effekt
zu erreichen. ' Wir wissen, daß viele
pharmakologisch wirksame Mittel mit
anderen kombiniert bereits in kleineren
Dosen wirksam werden als sie, einzeln
gegeben, erwarten lassen. Diese Tatsache
hat sich uns auch bei der Behandlung
des tuberkulösen Fiebers bewährt. Wir
bevorzugen jetzt eine Kombinations¬
therapie, die uns gestattet, mit sehr
kleinen Mengen der Fiebermittel aus¬
zukommen. Am liebsten kombinieren
wir das Pyramidon mit Aspirin und zwar
in Mengen von 0,05 Pyramidon + 0,25 As-
165
Mai Die Therapie der Gegenwart 1917.
. pirin zwei bis dreimal täglich. Wir haben
in .dieser Kombinationstherapie sehr viel¬
seitige Möglichkeiten, individuell vor¬
zugehen, viele Patienten haben größere
subjektive und objektive Erleichterung
vom Diplosal, bei welchen die Neigung'
zum Schwitzen mehr zurücktritt, das
daher in kleinen Mengen mit dem Pyra-
midon kombiniert (0,05 Pyramidon -f 0,25
Diplosal) oft sehr gute Resultate gibt.
Für alle Menstruationsbeschwerden mit
und ohne Fieber kann ich das Salipyrin
nicht genug empfehlen. Auch hier sind
durch Kombination schon kleine Mengen
wirksam. Kleine Salicylmengen, mit
0,1 Chinin zusammen gegeben, haben
durch die Vereinigung der Einwirkung
auf die Wärmebildung u.nd Wärmeabgabe
oft sehr guten Erfolg. Ich möchte hier
nur ganz kurz auf die großen Vorteile
dieser Kombinationstherapie beim tuber¬
kulösen Fieber hinweisen. Wir werden
an anderer Stelle ausführlich über unsere
Erfahrung berichten. Die Vorteile sind
einleuchtend, je weniger Medikamente
wir einzuführen brauchen, um so geringer
sind die Störungen, welche die Medikation,
. die gerade bei der Tuberkulose oft längere
Zeit durchgeführt werden muß, hervor¬
ruft. Die Möglichkeit, durch verschiedene
Kombination die Mittel häufig zu
wechseln, ist für die Wirksamkeit und
etwaige nachteilige Folgen von Bedeutung.
Seitdem wir diese Regel befolgen, sehen
wir viel weniger Störungen von seiten
des Magendarmkatarrhs, des Appetits,
weniger unerfreuliche Einwirkung auf
Gemüt und Stimmung, viel weniger
Neigung zu Kopfschmerzen, Ohrensausen,
nervöser Überreizung usw., Symptome,
die uns früher häi^ig veranlaßten, gerade
Fiebermittel auszusetzen oder zu wechseln,
bei überraschend gutem Erfolg für die
beabsichtigte Herabsetzung der Tem¬
peratur und Hebung des Allgemein¬
befindens. Die Tuberkulose bringt schon
so viel Toxine in den Körper, daß man
jedes Medikament, das nicht wirklich
nötig ist, sparen soll. Für die Erreichung
dieses Zieles hat sich nun unsere Kom¬
binationstherapie gegen das- tuber¬
kulöse Fieber außerordentlich bewährt
und ich möchte sie auf das wärmste
empfehlen.
Aus der I. medizinischen Abteilung des städtischen Krankenhauses Moabit in Berlin
(Geheimrat G. Klemperer.)
Die Ätiologie der Colitis suppurativa, des Ulcus chronicum recti
und der Dysenterie.
Von Lasar Dünner.
Die, Diagnose der Ruhr kann in einer
sehr großen Zahl von Fällen nur mit
Hilfe der Agglutination gestellt werden;
die bakteriologische Untersuchung des
Stuhles läßt fast immer im Stiche.
Zwischen der Ruhr und der Colitis sup¬
purativa, die uns aus der Friedenspraxis
geläufig ist, besteht eine gewisse Ähnlich¬
keit,so daß einige Autoren sie der echten
Dysenterie zurechnen zu müssen glauben.
Für diese Anschauung schien eine Mit¬
teilung von H. Strauß 1 ) zu sprechen,
der bei dieser Colitis, bei der bisher ein
Erreger noch nicht gefunden war, Agglu-
tinine gegen Dysenteriebacillen im Serum
■fand. Dabei hat freilich Strauß keinen
Unterschied gemacht zwischen grobkör¬
niger Agglutination (Fri edemann) 2 ), di£
allein specifisch für Dysenterie ist, und
feinkörniger Agglutination, die sich bei
*) H Strauß, Boas Arch., Bd. 21 u. D. m. W.
.1915, Nr 36.
2 ) Dünner, B kl. W. 1915, Nr. 46, Friede¬
mann & Steinbock, D. m W. 1916, Nr. 8,
Jacobitz, B. kl W. 1916, Nr. 26. Schiemann,
Zschr. f. Hyg. 1916.
verschiedenen anderenKrankheiten findet.
In neuester Zeit neigt R. Ehrmann x ),
der bei seinem Colitismaterial grob¬
klumpige Agglutination fand, der Meinung
von Strauß zu.
Meine eigenen Erfahrungen, die bei
unsern früheren Veröffentlichungen 2 )
über dieses Thema nicht zahlreich genug
waren, gestatten mir heute eine Stellung¬
nahme, die nicht in allen Punkten mit der
von Strauß und besonders Ehrmann
übereinstimmt.
Es mag das zum Teil dadurch begrün¬
det sein, daß Ehrmann den Begriff der
Colitis suppurativa wesentlich weiter faßt
als ich es tue: G. Klemperer uhd ich
haben (1. c.) darauf hingewiesen, daß man
von der Colitis suppurativa ein Krank¬
heitsbild abtrennen kann, das die Patho¬
logen als Ulcus chronicum recti bezeichnet
haben. (Ich will zugestehen, daß dieser
!) R. Ehrmann, B. kl. W. 1916, Nr. 48.
2 ) G. Klemperer & Dünner, Ther. d.
Gegenw. 1915, Nr. 11 u. 12. Dünner, Ther. d.
Gegenw. 1916, Nr. 8.
166
Die Therapie der
Name nicht gut ist und irreführen kann.)
Gemeint ist damit ein Prozeß des Dick¬
darms, der sich auf dem Boden einer mehr
oder weniger lange Zeit zurückliegenden
Erkrankung des Dickdarms wie z. B.
Lues, Gonorrhöe, Tuberkulose, Dysen¬
terie entwickelt, der chronisch ist und
sich durch große Ulcera auszeichnet.
Die Geschwüre heilen auf der einen Seite
üpter Narbenbildung, kriechen aber auf
der anderen Seite weiter und können das
gesamte Colon befallen bis zur Ileocoecal-
klappe. Gleichzeitig werden die ganze
Darmwand bis zum Bteritoneum und so¬
gar dieses selbst in den Prozeß hinein¬
bezogen; es resultieren dann unter Um¬
ständen Stenosen. Von diesem Ulcus
chronicum recti unterscheidet sich, wie
wir ausführten, die Colitis suppurativa
vornehmlich dadurch, daß bei ihr nicht
Geschwüre, sondern eine hochgradige Ent¬
zündung der Schleimhaut mit starker
Eitersekretion — daher die Bezeichnung
suppurativ — im Vordergründe steht.
Bei ihr kommen zwar auch Geschwüre
vor, die aber in der Regel sehr klein
sind und oft infolge des außerordent¬
lich starken Entzündungszustandes der
Schleimhaut von dieser überlagert sind
und dem Auge bei der Rectoskopie leicht
entgehen. Ob eine Colitis suppurativa
.nach sehr «langem Bestehen in Ulcus
chronicum übergehen kann, kann ich
nicht mit Sicherheit sagen. Vielleicht
kann es auch zum Ulcus chronicum recti
im Anschluß an andere Infektionen des
Dickdarms kommen, wie etwa Amoeben-
dysenterie, Paratyphus 1 ).
Je größer meine Erfahrungen gewor¬
den sind, um so mehr habe ich mich von
der Zweckmäßigkeit der Zweiteilung in
Colitis suppurativa und Ulcus chronicum
recti überzeugt. Man kann sogar ab und
zu ohne Anamnese und Kenntnis der
bakteriologischen Untersuchung ledig¬
lich durch die Rectoskopie in ausgespro¬
chenen Fällen die Diagnose stellen.
Da nun beim Ulcus chronicum recti sich
der ulceröse Prozeß auf dem Boden einer
vorangegangenen Gonorrhöe, Lues, Tuber¬
kulose und Dysenterie usw. entwickelt,
so ist es durchaus verständlich, daß uns
Fälle begegnen, bei denen wir eine grob¬
klumpige, specifische Agglutination von
Dysenteriebacillen finden. Das sind dann
eben Kranke, die früher einmal eine
Dysenterie erworben haben, die nicht
vollkommen ausgeheilt ist, bei der sich
vielmehr, wahrscheinlich wohl durch eine
Gegenwart 1917. Mal
weitere (unbekannte) Infektion der ge¬
schilderte ulceröse, infiltrative Prozeß
entwickelt hat. Wenn man die Kranken¬
geschichten Ehrmanns auf ihre Zuge¬
hörigkeit zur Colitis suppurativa bezw.
Ulcus chronicum recti prüft, so stellt
sich heraus, daß es sich tatsächlich bei
einzelnen um Ulcus chronicum recti
handelt. Und wenn man dann noch
erfährt, daß der Kranke früher ein¬
mal eine Dysenterie durchgemacht hat,
so ist es weiter nicht verwunderlich, daß
bei ihm grobklumpige Agglutination be¬
steht. So heißt es z. B. bei Fall Ma.:
„Hatte 1867 Typhus und 1871 als Soldat
während des französischen Feldzuges die
Ruhr. 1908 erkrankte er an blutigeitrigem
Dickdarmkatarrh mit hohem Fieber. Di¬
gital und rectoskopisch zeigte sich Ge¬
schwürbildung im Mastdarm mit starken
Exkrescenzen, so daß von anderer Seite
inoperables Mastdarmcarcinom angenom¬
men wurde.“ Oder FalKHo.: „Er hatte
während seiner 13jährigen Militärdienst¬
zeit häufig Abgänge von etwas Blut....
Es trat Durchfall hinzu, schließlich Drän¬
gen, Abgang von Eiter und zunehmend
hohes Fieber. Rectoskopisch sah man
zwei tumorartige Exkrescenzen, die so sehr
an Carcinom. erinnerten, daß von anderer.
Seite mikroskopische Carcinomunter-
suchungen vorgenommen wurden“ usw.
Besonders die Bemerkung, daß das
rectoskopische Bild den Verdacht von
Carcinom erweckte, veranlaßt mich, diese
beiden Fälle als Ulcus chronicum recti
zu betrachten, denn Exkrescenzen, von
denen die Rede ist, gehören nicht zum
Symptomenbild der Colitis suppurativa,
die durch eine primäre hochgradige Ent¬
zündung charakterisiert ist. Ich selbst
verfüge über ähnliche Kranke aus der
Kriegszeit, die vor etwa 1 y 2 Jahren
Dysenterie erworben hatten, die 'keine
Tendenz zur Heilung zeigten. Recto¬
skopisch fand ich große Geschwürsflächen
neben Narben, also den Symptomenkom-
plex des Ulcus chronicum recti. Da grob¬
klumpige Agglutination nachgewiesen wer¬
den konnte, schloß ich auf Ulcus im An¬
schluß an Dysenterie. -Ich halte es für
wahrscheinlich, daß die Jahre nach dem
Kriege noch viele derartige. Kranke brin¬
gen werden. Dabei ist es von unter¬
geordneter Bedeutung, ob sich der ulce¬
röse Prozeß direkt an die Dysenterie an¬
schließt oder ob zwischen Dysenterie und
dem Beginne des einwandfreien Ulcus
chronicum ein längerer Zwischenraum
liegt. Oft ist mit dem Verschwinden der
x ) Dünner, Ther d. Gegenw. 1916, Nr. 8.
Mai
. Die Therapie der Gegenwart 1917. 167
Beschwerden der Dysenterie nicht gleich¬
zeitig anatomische Heilung verknüpft; ich
habe bei vielen Dysenteriekranken, die
wieder normalen Stuhl hatten, noch ver¬
einzelte Geschwüre angetroffen. Solche
kleinen Ulcera können den Ausgangspunkt
für das Ulcus chronicum recti abgeben.
Außer dem Ulcus chronicum recti mit
dysenterischer Ätiologie gibt es noch
solche auf luetischer Basis. Auch von
dieser Gruppe sah Ehrmann einen Fall.
Ob auch bei diesem grobklumpige Agglu¬
tination bestand, ist nicht mit absoluter
Sicherheit aus der Arbeit zu ersehen. Da
Ehrmann von multiplen luetischen Ge¬
schwüren spricht, so dürfte wohl die
Agglutinationsprobe negativ sein. Sonst
würde dieser Fall mit sicherer Syphilis
die Unspecifität der grobkörnigen Agglu¬
tination zeigen; diesen Standpunkt ver¬
tritt Ehrmann nicht, für ihn ist ja gerade
die Specifität der grobklumpigen Agglu-"
tination der Ausgangspunkt seiner Be¬
trachtungen. Oder man müßte annehmen,
daß Lues und Dysenterie gleichzeitig
bestanden.
Die anderen ätiologischen Faktoren
(s. o.) des Ulcus chronicum recti zu er¬
örtern, erübrigt sich hier; sie spielen bei
dem Material von Ehr mann keine Rolle.
Über eigene diesbezügliche Beobachtun¬
gen verfüge ich nicht.
. Nun bleiben noch die Fälle, die reine
Colitis suppurativa sind; ich habe sie oben
bei der Differentialdiagnose gegen das
Ulcus chronicum recti geschildert. Es ist
die Frage, ob sie, wie Ehrmann meint,
eine grobklumpige Agglutination haben
und deshalb zur Dysenterie gehörig sind
oder nicht. Zuvor möchte ich darauf hin-
weisen, daß nach meiner Meinung recto-
skopisch zwischen Colitis suppurativa und
Dysenterie ein Unterschied besteht, in¬
sofern bei der Dysenterie deutliche Ge-
schWüre von wechselnder Größe das
Bild beherrschen,, die aber häufig, im
Beginne wenigstens, nicht etwa so tief
und so groß sind wie beim Ulcus chroni¬
cum. Andererseits imponiert bei der sup-
purativen Colitis die Entzündung d.er
Schleimhaut; die Geschwüre, die oft nur
stecknadelkopfgroß sind, treten ganz zu¬
rück, man sieht sie in der hochroten,
geschwollenen, ödematösen Schleimhaut
oft gar nicht. Mir ist bisher noch kein
Fall von Colitis suppurativa begegnet mit
grobkörniger Agglutination. Ich erspare
mir eine ausführliche Schilderung der
einzelnen Fälle. Ich habe mich dabei
freilich bei der Differentialdiagnose Colitis
suppurative — Ulcus chronicum recti —
Dysenterie an die oben skizzierten Sym¬
ptome gehalten. Außer dem rectoskopi-
schen Bilde und der negativen Aggluti¬
nationsprobe spricht gegen die dysen¬
terische Natur der Colitis noch ein Um¬
stand, nämlich die geringe Infektiosität.
Wir sehen die Colitis (im Frieden)
manchmal ganz plötzlich auftreten. Es
erfolgt nicht Erkrankung anderer Fami¬
lienmitglieder oder von Personen, die
mit dem Patienten in Berührung kom¬
men, wie es der echten Dysenterie
eigen ist. Dabei befinden sich unter
meinen Kranken mehrere aus der Ar-
beiterbeyölkerung Berlins, also Leute,
die in kleinen Wohnungen leben, wo¬
möglich mit Angehörigen im selben Bett
schlafen. Nach alledem möchte ich ebenso
wie A. Schmidt und andere nicht an¬
nehmen, daß zwischen Colitis suppurativa
und Dysenterie eine Beziehung besteht.
Findet man positive Agglutination, so
handelt es sich nicht um Colitis suppu¬
rativa, sondern um Dysenterie, wenn man
Ulcus chronicum recti ausschließen kann.
Man gewinnt am besten Klarheit in
der Frage nach der Ätiologie der Colitiden,
wenn man die Trennung in Colitis suppu¬
rativa, Ulcus chronicum recti und Dysen¬
terie vornimmt. Man darf däbei nicht so
Vorgehen, daß man Fälle, die nach der
Anamnese schon als Dysenterie anzusehen
sind, einfach zur Colitis suppurativa
rechnet. Bei ihnen ist selbstverständlich
grobklumpige Agglutination. Das gilt
— zum Teil wenigstens — für den Fall
Mo. Ehrmanns, der im Felde Dysen¬
terie hatte. Dieser Kranke hatte aller¬
dings vorher auch schon Abgang von
Schleim und Blut. Die Agglutinations¬
probe wurde aber erst angestellt, nachdem,
er seine reguläre Dysenterie .erworben
hatte. Wie sie vorher gewesen war, kann
man natürlich nicht sagen. Der recto-
skopische Befund ist nicht angegeben.
Möglicherweise handelt es sich um ein
Ulcus chronicum recti im Anschluß an die
Dysenterie; es entwickelte sich nämlich
später eine Striktur. Eine Colitis suppu¬
rativa dürfte abzulehnen sein. Ähnliche
Bedenken wie bei Mo. sind bei dem
Kranken Dr. Kl. Ehr man ns zu erheben.
Ich glaube auch nicht, daß die unter¬
schiedlichen Resultate bei Ehrmann und
mir durch die benutzten Dysenterie¬
stämme bedingt waren; man kanh, wie
ich früher zeigen konnte 1 ), nicht jeden
Dysenteriestamm zur Agglutinationsprobe
x ) Dünner u. Lauber, B.kl. W. 1916, Nr. 47,
168 - Die Therapie der Gegenwart 1917. Mai
nehmen. Ehr mann hat aber seine
•Reaktionen — zum Teil wenigstens —
durch Professor Friede mann im Kran¬
kenhaus Moabit machen lassen, der die¬
selben Stämme gebrauchte wie ich. :
Zusammenfassung.
Man scheidet zweckmäßig von der
Dysenterie die Colitis suppurativa und
das Ulcus chronicum recti; dieses .letz¬
tere stellt sich im Gefolge von Gonor¬
rhöe, Lues, Dysenterie usw. ein. Außer
! der Dysenterie zeigt das Ulcus chronicum
| recti grobklumpige, specifische Dysenterie¬
bacillenagglutination wenn es si-ch im
Anschluß an Dysenterie entwickelt. Die
grobkörnige Agglutination fehlt bei Colitis
suppurativa; sie ist nicht dysenterisch.
Dosierungs=Tripperspritze mit Tagesfüllung.
Von Dr. med. Dreuw-Berlin.
Die Behandlung der meisten Fälle von
Gonorrhöe geschieht ambulant, nicht kli¬
nisch, da die wenigsten Patienten in der
Lage sind, ihren Beruf einer Gonorrhöe
wegen auszusetzen. Ich verordne wie
üblich eine Tripperspritze und eine. Flasche
•irgendeines Antigonorrhoicums ä 200 g
und eine kleine in der Tasche mitzu¬
führende leere Flasche ä 50 g mit weitem
•Hals. Diese soll der Patient sich morgens,
wenn er in seinen Beruf geht, füllen.
Auf der Toilette soll, er dann jedesmal,
wenn er uriniert hat, sofort hinterher
eine Injektion von etwa 5 ccm machen.
Man verordnet zweckmäßig nicht: ,,drei¬
ßig vier- oder fünfmal am Tage
injizieren“, sondern immer: „nach
jedesmaligem Urinieren“. Denn es
scheint, daß die Gonokokken auf der mit
Urin durchtränkten Schleimhaut einen
besseren Nährboden finden, als auf der
jedesmal mit einem Desinficiens benäßten.
Nun haben viele Patienten, namentlich
Arbeiter, nicht den Platz in ihrer Klei¬
dung, um eine Tripperspritze und Flasche
bei sich zu tragen. Es empfiehlt sich
daher, 'beides möglichst in einer klein¬
voluminösen Packung zu vereinigen.
Diese Packung ist gewährleistet durch
die von mir angegebene Luftdruck¬
salbentube. (Abb. 1.)
Füllt man eine wasserlösliche Salbe
in die Luftdrucksalbentube, so hat man
eine gefüllte Tripperspritze. Leider fehlt
während des Krieges Gummi, so daß in
der Praxis diese .Idee vorläufig undurch¬
führbar ist. Es lag daher nahe, den
Kolben mit dem Fingerdruck vorwärts
zu bewegen. Aber da ergab sich die
Schwierigkeit, daß der Korken bei den
meist ungleich geblasenen Glasröhren ent¬
weder zu fest oder zu locker saß, so daß
^entweder die Salbe an der Seite des
, Korkes hervorquoll, oder aber der Korken
so fest saß, daß er mit dem Finger
schlecht vorwärts getrieben werden konnte.
Eine einfache Vorrichtung schafft hier
Abhilfe (Abb. 2). Durchbohrt man näm¬
lich den konisch nach vorne ver¬
laufenden Korken bis zur Mitte b,
so gibt dieser Teil des Korkens
wegen der Elastizität seitlich
nach, das heißt er schmiegt sich
angenehm und leicht dem Glase
an und er läßt weder an der Seite
Salbe austreten noch ist er schwer
verschiebbar. Es genügt viel-
Abb. 2 . mehr der Fingerdruck, um den
Kolben leicht vorwärts zu treiben.
Da diese mit nichtfettender Salbe gefüllte
Tripperspritze nur die Länge des Zeige¬
fingers hat, so kann man bequem mit dem
Zeigefinger einer Hand das Antisepticum
in die Harnröhre befördern, sei es zu pro¬
phylaktischen, abortiven oder zu
therapeutischen Zwecken.
A. Was zunächst die
Prophylaxe betrifft, so ver 7
wendet man zwei kleine
Tuben, die entweder ge¬
trennt jede für sich oder
beide in einem kleinen
Etui zusammen in den
Handel kommen unter dem
Namen „Aldestar-Prophy-
lacticum“. Die eine nicht¬
fettende braune Salbe ent¬
hält 20% Argentum pro-
teinicum, das in dieser Dosierung zwar die
Gonokokken abtötet, aber durch die
salbenartige Umhüllung weniger reizt
als eine 20 % ige Argentum-proteinicum-
Abb. 1.
Drückt man mit dem Daumen
auf das Loch des abschraub¬
baren und für jede Tube
wieder verwendbarenOummi-
ballons, so wird mittels der
komprimierten Luft der Kol¬
ben und mit demselben die
Salbe herausgepreßt.
Mal Die Therapie der
Lösung. Die andere weißliche enthält
eihe Sublimat-Calomel-Salbe (20 % Calo-
mel und 0,2 % Sublimat).
Zur systematischen Bekämpfung der
Geschlechtskrankheiten muß die Parole
lauten: Aufklärung über die Gefahren
und ihre Verhütung. Die Aufklärung
muß sich erstrecken: 1. auf die Gefahren
des Geschlechtsaktes, 2. auf die Ver¬
wendung der Mittel, die mit 'einer an
Sicherheit, grenzenden Wahrscheinlich¬
keit die venerischen Krankheiten ver¬
hüten.
,,Der Hunger und die Liebe beherr¬
schen das Weltgetriebe“, diese Worte
sagen mehr, als hundert Predigten über
Abstinenz, die. gegebenenfalls doch nicht
befolgt werden, da eben die Sexualver¬
hältnisse meist stärker sind als der Wille
des einzelnen. Mit Vogelstraußpolitik
aber kann man keine Gonorrhöe ver¬
hindern. Für uns Ärzte kommt es darauf
an, der Gefahr zu. begegnen jnit prak¬
tischen Vorschlägen, nicht mit Anschau¬
ungen, deren Ursprung in nichtärztlichen
Kreisen z,u suchen ist.
Wir verwenden zur Prophylaxe: 1. Mit¬
tel, die vor dem Beischlaf verwandt wer¬
den (Condom, prophylaktische Salben¬
anwendung),' 2. Mittel, die bald nach
dem Beischlaf Verwendung finden (In¬
jektionen in die • Harnröhre, antisepti¬
sche Waschungen und Salbenbehand¬
lung). Der Condom ist, wie Ri cord sich
ausdrückt, ,,ein Panzer gegen das Ver¬
gnügen und ein Spinngewebe gegen
die Ansteckung“. Bleibt er unzerrissen,
so ist er- ein ziemlich sicherer Schutz.
Ich halte daher die Empfehlung des
Condoms für angezeigt, wenn nebenher
noch die Mittel zu 2 vorhanden sind.
Häufig wird der Condom im letzten Mo¬
ment perhorresziert, eben wegen der
Panzerung gegen das Vergnügen.
Was die Mittel zu 1 und 2 anbetrifft,
so kommen für ein Prophylacticum fol¬
gende Vorschriften und Eigenschaften in
Frage:
1. Es darf nicht reizen, daher ist die
Salbenform die gegebene, da die Reiz¬
wirkung durch ein salbenförmiges Vehikel
herabgesetzt oder aufgehoben wird, wie
z. B. der Salbenzusatz zu reizenden Seifen,
der die Reizwirkung mildert, beweist
(überfettete Seifen). Auch Ne iss er ver¬
wendet alsAbortivum eine sechsprozentige
Protargolsalbe.
2. Es muß in einer kleinvoluminösen
Packung bequem und einfach zu hand¬
haben sein.
Gegenwart 1917. : 169
3. Es muß nach dem Gebrauch leicht:
gereinigt werden können. Die Packung
soll daher am besten aus dickem schwer
zerbrechlichem Glas, bestehen.
4. Auf der Packung soll auf die Ge¬
fahren des außerehelichen Beischlafs hin¬
gewiesen ' werden, damit nicht der An¬
schein erweckt werden kann (was der
Prophylaxe vielfach vorgeworfen wird),,
als würde durch die Prophylaxe die An-,
steckungsgefahr infolge des allzu großen
Vertrauens auf die sichere Wirkung des
Prophylacticums vermehrt.
, . Ich schlage hierfür folgende Fassung
vor:
,,Fast jeder außereheliche Beischlaf,
ist ansteckend. Tripper, Syphilis und
Schanker sind die traurigen Folgen.
Meide deshalb den Beischlaf. Denke an 1
deine Frau, Kinder, Eltern, Geschwister, 1
die auch gefährdet werden können, wenn,
du dich angesteckt hast. Hast du dich
aber verleiten lassen, allen Warnungen
zum Trotz, dann verwende entweder, vor
dem Beischlaf einen Gummiüberzug, oder,,
falls dieser zerreißen oder nicht zur Hand
sein sollte, das Vorbeugungsmittel nach
dem Beischlaf.- Völlig schützt aber auch
dieses nicht. Selbst ärztlich kontrollierte
Dirnen sind gefährlich. Hüte dich vor
der Trunkenheit, denn im Rausche unter¬
liegst du zu leicht der Verführung und
weißt im gegebenen Moment nicht, was.
du tust. Daher nochmals: ,,Der beste
Schutz ist die Selbstbeherrschung und.
Enthaltung.“
Folgendes ist die Vorschrift für.dfe
Verwendung der beiden Glastuben, der
braunen und der weißen:
1. Vor dem Beischlaf einen Gummi¬
überzieher anlegen.
2. Wenn dieser nicht vorhanden ist
oder entzwei reißt:
a) vor dem Beischlaf die Eichel
und Vorhaut mit einer erbsengroßen
Menge der weißen Salbe eine halbe Mi¬
nute lang einreiben;
b) nach dem- Beischlaf durch den
Fingerdruck einen Tropfen der braunen
Salbe in die Harnröhre drücken. Vorher
die Spitze der Tube auf die Harnröhren¬
öffnung setzen. Bevor die Glasröhre weg¬
genommen wird, die Harnröhre eine Mi¬
nute lang mit Daumen und Zeigefinger
zuhalten. Erst dann die braune flüssige
Salbe herauslassen. Die Harnröhre mit
Papier oder Stückchen Stoff abwischen
und mit der weißen Salbe nochmals
Eichel und Vorhaut 1 Minute lang ein¬
reiben. Waschung der Eichel und Vor-
22
170 Die Therapie der Gegenwart 1917. Mal
haut wird, wenn möglich, vor der Salben¬
einreibung gemacht. Durch diese Methode
sind wir in der Lage, mit großer Wahr¬
scheinlichkeit Gonorrhöe, Syphilis und
weichen Schanker zu verhindern.
B. Zur eigentlichen Behandlung des
Trippers verwendet man eine Dösierungs-
Tripperspritze, die etwa 30 g Inhalt hat
und mit einer nichtfettenden Salben¬
grundlage gefüllt ist, und zwar bringt
der Patient jedesmal nach dem Urinieren
zirka 5 ccm der Salbe in die Harnröhre,
indem er mit dem rechten Daumenfinger
den perforierten Korken abwärts drückt.
Hierbei befindet sich die konisch zu¬
laufende Spitze zwischen Zeige-und Mittel¬
finger der rechten Hand. Die Salben¬
tripperspritze ist graduiert. Jeder der
7 Striche zeigt an,, daß 5 ccm heraus¬
gedrückt sind, wenn der perforierte Korken
bis zum nächsten Strich gedrückt ist.
Nach dem Injizieren. in die Harnröhre
verreibt man mit der rechten Hand leicht
% Minute lang die Masse, indem man
mit Zeige- und Mittelfinger der linken
Hand die Harnröhrenöffnung zuhält,
3 Minuten lang.
Die Behandlung geschieht in der Weise,
daß beim akuten Tripper etwa acht Tage
lang jedesmal nach dem Urinieren 5 ccm
einer nichtfettenden gonokokkentötenden
2°/ 0 igen Argentum-proteinicum-Salbe in-
jiziert werden. Dann etwa acht Tage lang
eine Übergangssalbe bestehend aus Zinc.
sulf. 1,0, Plumb. acet. basic. 2,0, Argent.
proteinic. 1,0, Salbe.nmasse ad 200,0.
Sobald die Reizerscheinungen völlig ge¬
schwunden sind, wird eine reine adstrin¬
gierende Salbe Zinc. sulf. 1,0, Plumb.
acet. basic. 2,0, Salbenmasse ad 200,0 an¬
gewandt.
Zur Abortivbehandlung dient eine
6°/ 0 ige Argentum-proteinicum-Salbe.
• Mittels dieser prophylaktischen, abor¬
tiven und therapeutischen Methode erzielt
man eine saubere, bequeme und unauf¬
fällige Injektion unter Vermeidung all der
Unbequemlichkeiten, die der Gebrauch
der Tripperspritze mit sich brachte. Die
Dosierungs-Tripperspritze mit Tagesfül¬
lung wird von der Chemischen Fabrik
Max Ludewig & Cie., Charlottenburg,
Grolmannstr. 3, unter dem Namen Do¬
trimita Nr. I (gonokokkentötende Salbe),
Dotrimita Nr. II (Übergangssalbe), Do-
trimita Nr. III (Adstringierende Salbe),
Dotrimita Nr. IV (Abortiv-Salbe) her¬
gestellt.
Zur Organtherapie urosexueller und dermosexueller Störungen.
Von Max Marcuse-Berlin.
Im Aberglauben aller Völker und
Zeiten spielt der Liebeszauber eine un¬
geheure Rolle. Er hat im wesentlichen
die Bekämpfung erloschener oder uner¬
wünscht gerichteter Liebesgefühle zum
Ziel und entnimmt seine am meisten ge¬
schätzten Heilmittel dem Menstrual-
blut des Weibes und dem Samen des
Mannes. Schon die chinesische Arznei¬
mittellehre des dritten vorchristlichen
Jahrtausends kennt den Blut-Liebestrank,
und über die von den ältesten Zeiten bis
heutigentags beim Volke in hohem An¬
sehen stehende Verwendung des Samens
im Mittelalter sagt J. J. Becher 1 ):
,,Wenn Zwey durch Zauberey einander
nit mehr lieben — So wird durch Men-
schen-Sam solch böses Werk vertrieben.“
Dem menschlichen Samen galt schon von
jeher derjenige von solchen Tieren als
gleichwertig, die entweder sexuell als sehr
kräftig, wie z. B. Hirsch, Pferd, Hahn —
oder als sehr fruchtbar erschienen, wie
z. B. Kaninchen, Hase .und andere.
,,Aberglauben“ nennt man solche
l ) Parnassus medicinalis. Ulm 1663.
Volksmedizin, und dennoch steckt in ihr
oft ein Instinkt, den spätere wissenschaft¬
liche Forschung rechtfertigt, eine Beob¬
achtung, die oft nach langen Zeiträumen
erst in wissenschaftlichen Laboratorien
Bestätigung und Aufklärung findet. Auch
der sogenannte Liebeszauber hat sich von
beträchtlich höherem Werte erwiesen, als
ihn die Einschätzung als bloßen Aber¬
glauben annahm, und seine Wirkungen
sind oft genug nicht ,,Zauberei“, sondern
physiologisch bedingt und nunmehr von
der modernen Therapie in erheblichem
Umfange anerkannt und benutzt. ,,Die
Vorstellung,“' erklärt H. Magnus 1 ) —
,,auf welcher die ganze Blut-Liebestrank-
Geschichte beruht, ist nun etwa keines¬
wegs eine folkloristische, sondern wurzelt
nur in der Organtherapie“, und die pri¬
mitiven hier zugrunde liegenden An¬
schauungen kennzeichnet Schindler 2 ) fol¬
gendermaßen: ,,Das Gehirn wirkt auf das
Gehirn; die Lunge auf die Lunge; ....
So sucht mail, um Liebe zu erzeugen,
x ) Die Organ-und Bluttherapie. Breslau 1906.
2 ) Der Aberglaube des Mittelalters. Breslau
1858.
Die Therapie der Gegenwart 1917.
171
IVIäi
Tiere, welche viel lieben, und zwar von
ihnen die Teile, in denen die Triebe sitzen,
das Herz, die Testikel, den Samen, und
zwar zu einer Zeit, wo sie florieren.“ Es
ist also unbezweifelbar, daß in der an¬
scheinend rein abergläubischen Verwen¬
dung des ,,Liebeszaubers“ die volkstüm¬
liche Quelle der wissenschaftlichen Or¬
gantherapie zu sehen ist, wie sie sich
auf die Erkenntnisse -von der ,, inneren
Sekretion“ gründet; Sie hat auch,
ganz wie in der Volksmedizin, den reich¬
sten Ertrag gerade für die Behandlung
von Krankheiten, Störungen und Abar¬
tungen in der Sexualsphäre gezeitigt.
Das beruht vornehmlich darauf, daß die
gesamte wissenschaftliche Lehre von den
endokrinen Drüsen von den Berthold-
schen 1 ) Experimenten an den Genitalien
von Hähnen ihren Ausgang und immer
wieder an Hoden- und Eierstockexperi¬
menten der verschiedensten Art ihre wei¬
tere- Entwicklung genommen hat. Erst
nachdem schon einigermaßen Einsicht in
die innere Sekretion der Keimdrüsen
gewonnen war, wurde die Existenz noch
anderer ,,Blutdrüsen“ erkannt und er¬
forscht — mit dem Ergebnis, daß aber auch
diese in enger Beziehung zur Sexual¬
funktion und -konstitution und daß die
„Phänomene der Liebe“ unter dem ent¬
scheidenden Einfluß auch ihrer „Hor¬
mone“ stehen. Namentlich die Thyreoi¬
dea erwies sich, insbesondere für das
weibliche Geschlecht, als erheblich be¬
teiligt an der Regulierung der (jeschlechts-
vorgänge, und so brachte in Übereinstim¬
mung damit auch vor allem die Schild¬
drüsentherapie in Fällen von Störun¬
gen der weiblichen Sexualfunktionen nicht
selten Besserung und Heilung 2 ). Die be¬
friedigenderen Erfolge freilich blieben,
sowohl .bei männlichen wie bei weiblichen
Sexualinvaliden, der direkten Organ¬
therapie zu'danken, das heißt der Ein¬
führung unmittelbarer Keimdrüsen¬
hormone. Das kann namentlich nach
den Experimenten von Steinach 3 ) nicht
wundernehmen, die die ,,Erotisierung
des Centralnervensystems“ durch
die „‘Pube rtätsdrüse“ dargetan haben.
x ) Transplantationen usw. Arch. f. Anat. Phys.,
1849.
2 ) Siehe u. v. a. z. B. Schmauch, Die Schild¬
drüse der Frau usw. Mschr. f. Geburtsh. 1913,
Nr. 6.
3 ) Umstimmung des Geschlechtscharakters usw.
Zbl. f. Physiol. 1911, 17; Willkürliche Umwand¬
lung usw., Arch. f. d. ges. Physiol. 1912, 144;
Feminierung von Männchen usw,, Zbl. f. Physiol.
1913, 14; Pubertätsdrüseij und Zwitterbildung,
Arch. f. Entwicklungsmech. 1916, 3.
Natürlich konnten als die „Zaubermittel“
nicht mehr Hoden und Eierstock vor den
neuerworbenen Erkenntnissen bestehen,
sondern die Wirksamkeit war nur von den
in diesen Organen enthaltenen und von
ihnen produzierten spezifischen Reiz¬
stoffen, eben den „Hormonen“ zu er¬
warten. Die pharmazeutische Wissen¬
schaft und Technik nahmen sich der hier
ihrer harrenden Aufgabe mit Eifer an,
und groß ist die Zahl der aus den Ge¬
schlechtsdrüsen gewonnenen und gegen
sexuelle Gebrechen und Beschwerden
empfohlenen Organpräparate.' Um
ihnen einen größeren Nutzen zu sichern,
ist der Mehrzahl von ihnen eines der nicht-
organischen Aphrodisiaca zugesetzt, wo¬
durch allein schon die Fragwürdigkeit des
tatsächlichen Wertes jener Mittel und
die Problematik nicht der organothera-
peutischen Theorie, aber der Praxis ge¬
kennzeichnet ist. In der Tat lassen alle
bisher bekannten derartigen. Medikamente
gelegentlich völlig im Stich oder, was mit
ihnen erreicht wird, bleibt oft unzuläng¬
lich ; andererseits erweisen sie sich dennoch
in vielen Fällen als so erfolgreich und
jeder anderen Behandlungsart als so über¬
legen, daß nicht nur im Hinblick auf die
•wissenschaftlichen Erkenntnisse, durch
die ihr Prinzip gerechtfertigt wird, son¬
dern auch auf Grund der praktischen
Erfahrungen an ihrer Vervollkommnung
weitergearbeitet werden muß und auf
diese mit Zuversicht gerechnet werden
darf.
Eine erhebliche Annäherung an das
Ziel bringt nun allem Anschein nach das
sog. Hormin, dessen Zusammensetzung
G. Berg 1 ) theoretisch begründet und
das sich ihm sowohl an Tierexperimenten
wie in praktisch-therapeutischer Anwen¬
dung durchaus bewährt hat, das ferner
C. Posner 2 ) zu weiterer eingehender
Prüfung empfiehlt. Es nutzt im Gegen¬
sätze zu den anderen Organpräparaten
die wissenschaftliche Erkenntnis von
dem „Consensus partium“ aus,
indem es sich auf die bereits erwähnten
Feststellungen einer weitgehenden Ab¬
hängigkeit der Sexualphysiologie und
-pathologie von noch anderen Blutdrüsen
als nur den Keimdrüsen stützt und
auf Grund dieser die Extrakte von Ho¬
den, Samenblasen undProstataeiner-
seits, von Corpus luteum und Mamma
x ) Über die Beziehungen der inneren Sekretion
usw. Würzburger Abhandlgn. XV, 3.
2 ) Geschlechtliche Impotenz und innere Sekre¬
tion, Ther. d. Gegenw. 1916, 8.
22*
172 Die Therapie der
andererseits, ferner von Leber, Hypo¬
physis, Pankreas und Schilddrüse
in sich vereinigt. Seine chemische und
pharmakologische Beschaffenheit ist den
ausführlichen Darlegungen von Berg zu
entnehmen; an dieser Stelle sei nur be¬
tont, daß es den Indikationen guter Li¬
poidlöslichkeit und, da seine Anwen¬
dung auch als Injektion vorgesehen ist,
gänzlicher Eiweißvakanz gerecht zu wer¬
den scheint. Von anderen, den gleichen
Zielen dienenden Orgänpräparaten unter¬
scheidet es sich auch dadurch, daß es zu
dem organtherapeutischen Prinzip und
der Art, wie es aus diesem seine Nutz¬
anwendung zieht, genügend Vertrauen
besitzt, um auf die sonst üblichen „Adju¬
vantien“, insbesondere das Yohimbin, zu
verzichten. Der Vorteil davon ist offen¬
bar, wenn man bedenkt, wie außerordent¬
lich fragwürdig noch der Wert gerade
dieses sogenannten Aphrodisiacums ist
und welche Vorsicht im Hinblick auf die
oft nicht unbedenklichen Nebenwirkungen
seine Anwendung erheischt. Was die Aus¬
wahl dei* Organe betrifft, deren „Hor¬
mone“ das Präparat für sich ausnutzt, so
sei hier nur darauf hingewiesen, daß sein
Gehalt an Prostataextrakt für mich
von ganz besonderem Interesse sein
mußte, weil ich schon vor längerer Zeit
und seitdem wiederholt die inner¬
sekretorische Bedeutung der Pro¬
stata für viele Fälle von ursosexuellen
Störungen auf Grund klinischer Befunde
und Beobachtungen vermutet habe 1 ).
Ich habe nun das Hormin in den mir
von der Fabrik Wilhelm Ratterer in
München zur Verfügung gestellten For¬
men, das heißt anfangs nur in Tabletten
und Suppositorien, und zwar nur das
Hormin. mascul., später auch und be¬
sonders als Injektionen, und dann auch
das Hormin. fern in. angewandt — im
ganzen in 25 Fällen von urosexuellen
und in 5 Fällen von dermosexuellen
Störungen; ich habe einige dieser Kran¬
ken noch wochen-, vereinzelte über ein
Jahr lang nach Beendigung der (ersten)
Kur weiterbeobachtet und will gleich
vorweg erklären, daß meine Versuche
mich im allgemeinen durchaus be-frie-
digten, die ausgezeichnete Wirkung des
Mittels in manchen Fällen aber sowohl
den Patienten wie mich geradezu über¬
raschten. Einen vollständigen Miß.-
*) a) Über Atonie der Prostata, M. Kl. 1912;
b) Zur Kenntnis des Climacterium virile usw.,
Neurol. Zbl. 1916; c) Zur Kenntnis des Männer¬
und Kriegs-Basedow, D. m. W. 1917.
Gegenwart 1917. . Mai -
erfolg hatte es nur in zwei Fällen, da¬
gegen wurde die Bekömmlichkeit der
Tabletten für den Magen, der Supposi¬
torien für die Darmfunktion von einigen
Patienten bemängelt; im mittelbaren oder
unmittelbaren Anschluß an die Injek¬
tionen sah ich ausnahmsweise Störungen
des Allgemeinbefindens, in einem Falle
im Vereine damit regelmäßige Anschwel¬
lung der Schilddrüse. In der weitaus
großen Mehrzahl der Fälle wurde das
Präparat ohne jede Nebenwirkung gut.
vertragen.
Der Krankheit nach verteilt sich
das Material, bei dem ich das Hormin —
und zwar zunächst immer ohne jede an¬
derweitige Behandlung — versuchsweise
angewendet habe, folgendermaßen:
Männliche Patienten.
6 Climacterium virile
4 sexuelle Neurasthenie
4 Enuresis noct. (Erwachsener) mit.
Atonie oder Atrophie der Prostata
2 Pubertätsakne
2. Phosphaturie ohne andere Krank¬
heitserscheinungen
1 Pubertätshyperhidrosis
1 Morbus Basedowii
1 Eunuchoidismus
1 Juvenilismus
1 Satyriasis.
Weibliche Patienten.
3 Dysmenorrhöe
1 Defluv. capillitii, Amenorrhoe, Chlo¬
rose
1 Frigiditas
1 Tabes incip. im Klimakterium
1 recid. menstruelles Gesichtsödem.
Ich will in der vorliegenden Veröffent¬
lichung nun nicht über die einzelnen Fälle
berichten, sondern nur allgemein bemer¬
ken, daß die erwähnten beiden gänzlichen
Mißerfolge den Eunuchoiden und den'
Satyriatiker betreffen, daß ich wegen zu
kurzer Beobachtungsdauer mit meinem
Urteil über den Erfolg der Hormin¬
therapie in dem Falle von Basedow beim
Manne und von Tabes bei einer zugleich
mit klimakterischen Beschwerden be¬
hafteten Patientin noch zurückhalten
muß, obwohl mir die gute Wirkung hier
nicht zweifelhaft ist, und daß zwei Fälle,
von sexueller Neurasthenie wegen vor¬
zeitiger Beendigung der Behandlung
nicht verwertet werden können. Aber
einige Fälle möchte ich, wenn auch in
diesem Zusammenhänge nur skizzenhaft,
besonders herausheben.
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•
Mai Die Therapie der
1. Climacterium virile. 45jähriger Kauf¬
mann, immer gesund, niemals geschlechtskrank
gewesen, familiär nicht belastet, seit 12 Jahren
verheiratet, ein Kind von 11 Jahren, seitdem
meist Coit. interr., keine Schwängerung mehr.
Ehe und Geschlechtsleben ohne Besonderheiten,
bis vor einem Jahre. Allmähliche Abnahme der
Potenz bei anfänglich sehr gesteigerter Libido;
seit drei Monaten erstere völlig, letztere fast völlig
erloschen. Depressionen. Obstipation. Fettan¬
satz. Herzklopfen. Eheliche Zwistigkeiten.
Nervenärztliche Behandlung mit Duschen, Elek¬
trizität, Yohimbin, ohne jeden Erfolg. — Psychi¬
scher Befund: der Vorgeschichte entsprechend;
somatischer Befund: latente Phosphaturie und
Prostata-Atonie; sonst gar nichts Abnormes. —
Vom zweiten Horminzäpfchen ab auch beim
Kochen keine Urintrübung mehr, nach sechstem
Zäpfchen trotz Abstinenzgebots wegen starker
Libido: Coitus: ,,sehr gut, nur etwas rasch“.
Besserung aller Beschwerden. Patient erklärt sich
nach dem zehnten Zäpfchen für geheilt. Prostata
erheblich fester geworden. [Ich habe diesen Fall
schon an anderer Stelle andeutungsweise er¬
wähnt 1 ).]
2. Climacterium virile. 45 Jahre, Kauf¬
mann, zurzeit Hauptmann, 1896 J 1 , 1900 Rheu¬
matismus, vom. Arzt für syphilisverdächtig erklärt:,
mehrmaliger Wassermann negativ. Von Anfang
an im Felde; zweimal Heimaturlaub nach je zehn-
monatiger Abwesenheit und strengster Abstinenz:
sehr schwache Potenz beim Verkehr mit der Ehe¬
frau, etwas besser beim extramatrim. Coitus.
Kein Orgasmus. Seit vier bis fünf Monaten häu¬
figer Harndrang, öfter Incontinentia, neuerdings
Enuresis nocturna mit ,,Wasserträumen“. Seit
ebenso lange Anschwellung der linken Brust und
gelbliche Absonderung aus dieser: ,,Hemde an
dieser Stelle immer klebrig-feucht“. Sexualpsy¬
chisch nichts Abnormes, Stimmung und derglei¬
chen: fühlt sich ,,nicht mehr wie ein preußischer
Offizier — zu weich“! — Befund: Linke Brust
wie die einer Jungfrau von 18 bis 20 Jahren,
kugelig vorgewölbt, fest, nach dem palpatorischen
Eindruck mit kräftigem Drüsengewebe, kein Fett¬
ansatz; Warzenausführungsgang durch dünne
gelbweiße Borke verklebt, läßt auf Druck zwei bis
drei Tropfen gelbliche, durchsichtige, klebrige
Flüssigkeit austreten, die unter dem Mikroskop
ganz und gar das Bild des Colostrums bietet.
Phosphaturie. Prostata rechts stark vergrößert,
hart. — Nach 20 Tabletten in fünf Tagen Harn¬
drang viel geringer, Enuresis in der letzten Nacht
seit langem zum ersten Male ausgeblieben. Nach
weiteren acht Tagen mit je vier Tabletten Harn¬
beschwerden und Phosphaturie beseitigt. Stim¬
mung „sehr gehoben“, so daß er — im Gegensatz
zu der letzten Zeit vor der Behandlung — wieder
ins Feld möchte. Zustand der Brust und Prostata
unverändert. Fortsetzung der Kur mit Supposit.
statt Tabletten. Nach zehn Zäpfchen „wieder
ganz der Alte“. Brust und Prostata weiter un¬
verändert. — Ende des Urlaubs. „Abschieds¬
coitus famos“.
3. Climacterium virile. 50 Jahre, Kauf¬
mann, verheiratet. Vor 30 Jahren F, sonst immer
gesund. Seit einem Jahre Schwerhörigkeit; vom
Ohrenarzt 2 vermutet: Blut- und Liquor-Wasser¬
mann negativ. Gleichzeitig Nachlassen der Libido
und Potenz, Fettansatz an Leib und Brüsten.
Seit drei Wochen Harndrang, trüber Urin, heller,
glasiger Ausfluß. Fetischistische Neigungen
1 ) Max Marcuse, Zur Kenntnis des Climac¬
terium virile usw., a. a. O.
Gegenwart 1917. 173
(Damen-Halbschuhe und -Handschuhe). — Be¬
fund: Phosphaturie, Fäden (Ep + Ek ++ Ba—),
Prostata kaum zu fühlen. Vor dem Urinieren
Drucksekret (Mikr: s. o.). Auf der Glans^ mehrere
rundliche oberflächliche weiche Narben (?). Radi- :
aliswand weich. — Nach vier Zäpfchen Harn klar.
Nach acht Zäpfchen starke Erektion auf feti¬
schistische Reize; Patient hat Bedenken, das
Mittel weiterzunehmen, weil der Geschlechtstrieb
„vielleicht bei der falschen Gelegenheit auf tritt“.
Trotzdem Fortsetzung der Behandlung. Nach
acht Tagen wird die Kur abgebrochen, weil Pa¬
tient darunter „ganz wild“ wird; Libido und
Potenz bei normalen Reizen ,,ganz minimal“.
Übriger Befund unverändert.
4. Juvenilismus. 29 Jahre, Handlungs¬
gehilfe, ledig. Mit neun Jahren Onanie, ein Jahr
lang nur gegenseitig mit Schulfreund, später
allein, aber nur vereinzelt. Auf Grund väterlicher
Ermahnungen vom zwölften Jahre ab nicht mehr;
nur selten Rückfälle; seit zwölf Jahren überhaupt
nicht mehr. Bis 12., 13. Lebensjahr beim Onanie¬
ren sehr heftiger Orgasmus, aber keine Ejaculation;
im 15., .16. Jahre erste Pollution, dann alle 8 bis
14 Tage. Bis zum 26. Jahre kein Geschlechtsver¬
kehr infolge der Abstinenzermahnungen im Natur¬
heilverein, dem ..die ganze Familie angehört. In
den letzten drei Jahren im ganzen etwa zwanzig¬
mal Coitusversuche; immer hochgradige Erregung
und Ejaculatio praecox aus fast schlaffem Penis.
„Richtiger“ Coitus noch nie gelungen. Sehr
deprimiert, weil „in so jungen Jahren schon im¬
potent“; leichtes Erröten, Gefühl der Befangen¬
heit, folgt oft jungen Mädchen heimlich mit einer
gewissen „Sehnsucht“. — Oberrealschule bis zum
Einjährigen; guter Schüler. Sehr musikalisch,
will zur Bühne als Sänger. — Mit 15 Jahren an
Phimose operiert, sonst immer gesund. Einziges
Kind. Vater gesund, 63 Jahre, Mutter „immer
melancholisch“, 66 Jahre. — Groß, schlank, völlig
bartlos, blonde „Künstlertolle“, sieht wie höch¬
stens 19 Jahre alt aus, hat auch ganz jüngling-
haftes Wesen. Penis und Scrotum mit nur einem
Testis klein; ebenso Prostata. Lordosis sacralis
mit leichter Hypertrichosis. Scham- und Achsel¬
behaarung gering. Intelligenz sehr gut, aber in
seinen Ansichten und Äußerungen über Politik,
Religion, Familie usw. usw. richtig „unreif“.
Etwas Exophthalmus (Schilddrüse, Puls usw.
ohne Besonderheiten). — Jeden zweiten Tag eine
Ampulle. Nach der dritten Injektion sogleich starkes
Herzklopfen: Puls 100, Blässe; nach zwei Minuten
vorüber. Die nächsten Male nur x / a Ampulle; gut
vertragen; 1 von dann ab wieder eine ganze, zu¬
sammen 10/1 ohne Zwischenfälle. Während der
Kur (Geschlechtsverkehrverbot) fortschreitende
Besserung: fühlt sich „ganz anders“, ruhiger, kräf¬
tiger, „männlicher“; möchte nach der sechsten
Einspritzung „es mal riskieren“, glaubt sicher
an „Erfolg“. Weitere Zunahme der Libido, aber
trotzdem nicht so erregt dabei. Auffallend guter
Nachtschlaf und entschiedene Steigerung der
Arbeitsfähigkeit, sowohl im derzeitigen Beruf wie
in den Musikstudien. Beim Besuch zwecks zehnter
Injektion ausgelassen fröhliches Geständnis eines
gelungenen Coitus. Will „die Regenerationskur
unbedingt alle drei Monate wiederholen“. Kör¬
perlicher Befund: stat. id.; psychischer Befund:
zielbewußter, verständiger — wenn auch nach
.wie vor „jünglinghaft“. — Nach Beendigung
der Kur noch vier Wochen lang in regel¬
mäßiger Beobachtung: Patient hat sich „ein
kleines Mädchen angeschafft“ und ist mit seinen
sexuellen Leistungen sehr zufrieden; hat auch noch
nie so stramm gearbeitet. Der Vater, der nichts von
174
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Mat
seiner „Krankheit“ und der ärztlichen Behandlung
wußte, wundert sich, was mit ihm „eigentlich
vorgegangen“ ist.
5. Frigiditas femin. 32 Jahre, Werkzeug¬
macherfrau. Neun Jahre verheiratet in steriler
Ehe. Vor der Ehe mit „Zimmerherrn“ der Eltern
ein Kind — „ganz ahnungslos dazu gekommen“;
angeblich nur dreimal cohibitiert, „wußte nichts
von Gott und der Welt“. Beim Geschlechtsver¬
kehr vor der Ehe niemals Orgasmus oder auch nur
Voluptas. Ebenso während der ganzen Ehe beides
nie kennen gelernt, außer vereinzelten Malen nach
voraufgegangener Masturbation durch den Mann.
Gibt sich „alle Mühe, um etwas zu empfinden,
'schon um dem Manne eine Freude zu machen und
ihn fester an sich zu binden“. Liebt ihn sehr,
hat ihn aber jetzt extramatrim. Verkehrs in Ver¬
dacht, weil sie selbst ihn „nicht befriedigen“
könne und ist darüber sehr unglücklich. Libido
in den ersten Ehejahren sehr stark, seit drei Jahren
sehr gering — aber immer nur mit dem Ziel von
allgemeinen Liebkosungen, nicht des Coitus. Be¬
schwerden beim Akte, nicht. — Untersuchungs¬
befund ohne jede Regeiwidrigkeit: körperlich sehr
wohlgebildet, intellektuell ziemlich hochstehend.
— Nach vier Zäpfchen deutliche Steigerung der
Libido, auch mit Coituswünschen; beim Coitus
selbst aber nach wie vor keine Voluptas. Fort¬
setzung als Injektion, da Patientin Verstopfung
auf die Zäpfchen zurückführt. Nach der vierten
Injektion erklärt Patientin, daß sie nicht
geglaubt hätte, „daß man die Natur so ver¬
ändern“ könne. — 14 Tage nach Aufhören mit
der Kur: Nachlassen der „Erfolge“. Auf
Wunsch der Patientin Wiederholung, „damit
mein Mann gar nichts erst gewahr wird“. Erfolg
nach Angabe der Patientin: „ganz wie beim ersten¬
mal“! — Bleibt nach der fünften Einspritzung
fort und gibt den telephonischen Bescheid, daß
ihr Mann „die Hände über den Kopf zusammen¬
schlägt“.
6. Chlorose, Amenorrhoe, Defluv. ca-
pill. 21 Jahre, ledig, Korrespondentin. Immer
blutarm und nervös gewesen. Entwicklungszeit
spät und mit vielen Beschwerden. Seit zehn
Wochen keine Menses mehr, stechende Schmerzen
in den Brüsten. Büschelweises Ausfallen des bisher
ungewöhnlich dichten Haares. Ständig Kopf # weh.
Noch kein Geschlechtsverkehr, aber sehr erregt.
Onanie geleugnet, jedoch verdächtig. Keinerlei
familiäre Belastung. — Augen- und Mundschleim¬
haut sehr blaß, im Gesicht Teleangiektasien. Im
Kopfhaar viele unregelmäßige Lichtungen, Haare
leicht ausziehbar, vereinzelt am Ende gespalten,
keine sonstige Anomalie am Haar oder auf der
Kopfhaut. Schilddrüse links und rechts ver¬
größert, teigig. Brustorgane ohne Besonderheiten.
Hymen, halbmondförmig, anscheinend intakt,
stark gerötet. Ebenso Urethra und Labia minora,
aber nirgends Fluor oder Drucksekret; Touchie-
rung des Uterus und der Adnexe mit einem
Finger ergibt normalen Befund. — Täglich vier
Tabletten Am folgenden Tag: Patientin muß
sich nach jeder Tablette erbrechen. Suppositorien,
täglich ein Stück. Nach drei Tagen klagt Patientin
über Verstopfung und stärkere Kopfschmerzen.
Trotzdem Fortsetzung der Kur. Nach zehn
Zäpfchen fühlt Patientin sich „unvergleichlich
wohler“. Haarausfall hat' ganz nachgelassen,
stechende Schmerzen in der Brust verschwunden,
viel mehr Appetit. Kopfweh noch stark, aber
geringer und weniger beständig. Nach sechs¬
wöchiger Behandlung Menses zu einer Zeit, zu der
sie schätzungsweise fällig gewesen wären. Reich¬
lich und örtlich ohne Beschwerden, aber unter
Anschwellung der Thyreoidea und der finken
Brust. Aussetzen der Behandlung, Beobachtung.
Befinden bleibt unverändert. Nach 20 Tagen
schwache Periode mit Wiederholung der Begleit¬
erscheinungen. Wiederbeginn des Haarausfalles,/
aber nur gering. Übriges Befinden „fast tadellos“.
Injektion jeden zweiten Tag. An den Abenden
der Injektionstage Anschwellung der Schilddrüse
und fiebriges Gefühl, aber ohne Temperatur¬
erhöhung. Fortschreitende Besserung an den
dazwischenliegenden Tagen. Haarausfall wieder
ganz beseitigt, Kopfweh kaum noch, Appetit und
Schlaf vorzüglich, nächste Menses nach 24 Tagen,,
sonst normal, auch ohne Brust- und Schilddrüsen¬
anschwellung. Objektive Symptome der Chlorose
unverändert, aber Teleangiektasien schwächer.
Geschlechtliche Erregung nur selten und weniger
erheblich. Nach Aussetzen der Injektionen ver¬
schwinden die letzten Reste der Beschwerden, und
Patientin ist „für alle Zeit dankbar“.
Es versteht sich von selbst, daß aus
den vorstehenden „Paradefällen“ schon
weitgehende Schlüsse auf den Wert des
Hormins zu ziehen nicht statthaft
ist. ich hatte ja auch vermerkt und wie¬
derhole es hier, daß völlige Mißerfolge
nicht ausgeblieben sind, und die für alle
Umstände gewährleistete Unschädlich¬
keit des Mittels scheint mir nach den er¬
wähnten gelegentlichen Erfahrungen doch
noch nicht durchaus verläßlich. Ebenso
erscheint mir die Dauer der Erfolge
mitunter zweifelhaft. Daß das neue
Präparat aber gerade in Fällen, die
der üblichen Therapie sehr hartnäckig
zu widerstehen pflegen, vielfach Gutes,
nicht ganz selten Ausgezeichnetes lei¬
stet, kann nicht mehr bezweifelt werden.
Fragt sich nur, ob es sich dabei um eine
specifische Wirkung des Organprä¬
parates als solches und insbesondere
seiner von Berg ersonnenen Zusammen¬
setzung oder aber um andere therapeu¬
tische Beziehungen handelt. Da gäbe es
vor allem zwei Möglichkeiten. Es mag
zunächst an suggestive Einflüsse ge¬
dacht werden; die psychischen Voraus¬
setzungen dazu würden insofern vielfach
sehr wohl gegeben sein, als ich den mei¬
sten Patienten, namentlich den männ¬
lichen, die Beschaffenheit und den „Sinn“
des Präparates erläutert habe, ehe ich
die Behandlung begann. Es kommt
hinzu, daß die Störungen, an denen die
Kranken litten, zum Teil sogenannte
„psychogene“ sind, wobei freilich zu be¬
achten bleibt, daß die Erkenntnisse, die
das wissenschaftliche Fundament des
Hormins und verwandter Präparate dar¬
stellen, die Ansicht von der psychogenen
Natur der betreffenden Leiden geradezu
widerlegen und ihre „chemogene“ zu
erweisen scheinen. Ich glaube nun aber -—
ohne dieses wissenschaftliche Problem’
Mai
Die Therapie der Gegenwart 1917. 175
hier weiter erörtern und auch ohne die
Frage nach der theoretischen Möglich¬
keit einer Suggestionswirkung behandeln
zu wollen — auf Grund der Sonderart, der
Vorgeschichte und des Verlaufes der kon¬
kreten Fälle einen derartigen „psychi¬
schen“ Zusammenhang zwischen Behand¬
lung und Erfolg ausschließen zu dürfen.
Sehr viel schwieriger — und für mich
überhaupt nicht möglich — ist eine Ent¬
scheidung bezüglich der Frage, ob nicht
ein anderer Bestandteil des Präparates
als der eigentliche Organextrakt die wirk¬
same Substanz darstellt — eine Frage,
die z.B.Köhler 1 ) auf Grund seiner Erfah¬
rungen bei der Behandlung der Amenor¬
rhoe mittels der allerverschiedensten
Organpräparate, die sämtlich gleich
guten Erfolg brachten, aufgeworfen hat;
er vermutet, daß die Wirkung der Organ¬
präparate einer Aminosäure zu danken
ist, die sie anscheinend durchweg ent¬
halten. Ich betonte bereits, daß ich mich
für völlig inkompetent erachten muß, um
zu diesem Zweifel Stellung zu nehmen.
Ich kann und will hier nur auf den tat¬
sächlichen— sicherlich aber nicht sug¬
gestiv bedingten! — praktischen Effekt
hinweisen, den das Hormin in einer
Reihe von Krankheiten, die erfahrungs-
x ) Beitrag zur Organotherapie der Amenorrhoe.
Zbl.f. Gyn. Bd. 39, Nr. 30.
gemäß für Arzt und Patient zu den
b e s c h w e f 1 i ch;s te n gehören, gezeitigt
hat und der durchaus dazu nötigt, der von
Posner gegebenen Anregung eingehender
Prüfung des Präparats Folge zu leisten.
Man wird dabei die ihm von Berg selbst
gezogenen , Indikationsgrenzen insofern
überschreiten dürfen, als es auch in sol¬
chen Fällen versuchsweise angewendet zu
werden verdient, in denen die Krankheit
nicht in der Urosexualsphäre lokalisiert,
aber durch Störungen in dieser bedingt
oder auch nur mitverursacht ist. Ich
denke hier namentlich-auch an gewisse
Dermatosen — unter Hinweis auf ihre
von mir in anderem Zusammenhänge dar¬
gestellten Beziehungen zur Sexualität 1 ).
Meine Versuche nach dieser Richtung hin
ermutigen zur Fortsetzung, wie der vor¬
liegende Bericht erweist. Und ferner
dürfte eine Verschiebung der Mischungs¬
verhältnisse der verschiedenen in dem
Medikament enthaltenen Hormone die
therapeutischen Möglichkeiten noch weiter
ausdehnen. Schließlich will ich noch
auf den „erfolgreichen Mißerfolg“- im
Falle 3 ausdrücklich aufmerksam machen
und damit die wissenschaftlich-sexual-
patologischen Probleme andeuten, die
sich hier erheben.
x ) Hautkrankheiten und Sexualität. Wiener
Klin. 1906.
Zusammenfassende Übersicht
Paratyphus B.
Von Stabsarzt Dr. Wolf, z. Zt. im Felde.
Der Bac. paratyphus B (Schottmüller)
ist morphologisch demTyphusbacillus sehr
ähnlich, nur etwas beweglicher - als dieser,
aber kulturell von ihm und dem Para¬
typhus A verschieden, da er Trauben¬
zuckerneutralagar sprengt und entfärbt,
Milch allmählich aufhellt und Lackmus¬
wolke anfangs rötet und später bläut; aber
auch serologisch läßt er sich unterscheiden.
Wenn das Eindringen von Paratyphus¬
bacillen in den Magendarmkanal zu einer
Erkrankung führt — das ist keineswegs
stets der Fall, wie die gesunden Dauer¬
träger und -ausscheider beweisen —, dann
kann, sich das Krankheitsbild in ganz ver¬
schiedener Weise darstellen. Die Ursache
ist zu suchen 1. in dem Zustand der be¬
fallenen Verdauungsorgane, 2. in dem
schwankenden Giftigkeitsgräde der ein¬
gedrungenen Bacillen, 3. in einer plötz¬
lichen Endotoxinüberschwemmung des
Körpers, 4. in der Menge der eingeführten
Bacillen. Die Epidemien treten oft ex¬
plosionsartig auf nach Genuß von
Schlachtprodukten, Milch, Käse, Back¬
werk, Gemüsen, Mehl-, Vanille- und
Sahnenspeisen, Krusten- und Schalen¬
tieren u. dgl., enden aber bald, ohne viel
Nachläufer zu hinterlassen. Die Infektion
der Nahrungsmittel geht öfter von Ba¬
cillenträgern aus, die mit der Zubereitung
beschäftigt sind; in sporadischen Fällen
ist die Infektionsquelle meist nicht zu
ermitteln. Die größte Häufigkeit fällt in
die heißen Monate. Die Verbreitung der
Paratyphusbacillen in der Außenwelt ist
außerordentlich groß. Nur solche Stämme
sind für Menschen pathogen, die auch
tierpathogen sind. Die Infektion der
Nahrungsmittel kann entweder primär
(bei einer Reihe von Tierkrankheiten)
oder sekundär sein. Für das Zustande¬
kommen der Vergiftung spielen.Virulenz
und Pathogenität der Bacillen eine große
176
Dfe Therapie der Gegenwart 1917.
Mai
Rolle, ferner die Menge der aufgenomme¬
nen Bacillen, sowie die Art der Aufbe¬
wahrung und der Zubereitung der Speisen.
Sehr oft haben sich an den Genuß von¬
rohem Hackfleisch Erkrankungen ange¬
schlossen.
Die klinischen Erscheinungen der Ver¬
giftung mit dem. Enteritisbacillus ent¬
sprechen der der Gastroenteritis para-
typhosa. Eine derartige Epidemie be¬
schreiben Liefmann und Ickert. (1)
Neuerdings hat man nachgewiesen, daß die
Mäusetyphusbacillen, die sich biologisch
in keinem Punkto von den Paratyphus¬
bakterien unterscheiden, nichts weiter
sind als durch Mäusepassagen für diese
Tierart virulent gewordene Paratyphus¬
bacillen. Daher sind die Mäusetyphus¬
bacillen für den Menschen absolut nicht
harmlos.
Was die Häufigkeit der Krankheit
betrifft, so wurden z. B. seitens der or¬
ganisierten Typhusbekämpfung im Süd¬
westen Deutschlands 1906/07 auf 3560
Fälle an Typhus 307 an Paratyphus ge¬
zählt. Die Verteilung* des Paratyphus
ist jedoch sehr ungleich. Woher es kommt,
daß oft ein als harmloser Darmparasit
vorkommender Bacillus virulent wird,
ist unbekannt.
Päratyphus B kann auch kombiniert
mit Typhus Vorkommen und auch spe¬
zielle Organerkrankungen hervorrufen,
z. B. desUrogenitalapparates. Die Inkuba¬
tionszeit beträgt bei der gastroenteri-
tischen Form einige Stunden, bei der
typhösen Form 4 bis 6 Tage. Lentz (3)
berichtet ausführlich über 120 Fälle, die
im wesentlichen drei Epidemien an¬
gehörten.
Derselbe Verfasser (4) erwähnt die
Spreewaldepidemien (1905) und im Kreise
Wetzlar, die zunächst als Chöleraepide-
mien imponierten. Hilgermann (5)
veröffentlicht 194 Fälle aus vier Jahren,
in denen 64 Einzelerkrankungen waren.
Stolkinol (6) unterscheidet eine typhöse,
gastrointestinierte, choleraähnliche und
influenzaähnliche Form. v. Bolten¬
stern (7) nennt nur die drei ersten For¬
men. His(8) zählt folgende Formen auf:
1. Gastroenteritis paratyphosa. (Nach
einer Inkubation von 12 bis 48 Stunden
plötzlich Leibschmerzen, Durchfälle,meist
fieberlos, mit mehr oder minder ausge¬
prägten Allgemeinsymptomen.)
2. Cholera nostra paratyphosa (hef¬
tiges Erbrechen, Schlucken, häufige Ko¬
liken und sehr häufige Durchfälle; ist
oft sehr stürmisch und tödlich).
3. Paratyphus abdominalis (kürzere
Inkubation, oft Schüttelfrost und Er¬
brechen); auch kann sich diese Form an
die unter 1 genannte anschließen.
Nach Ortner fängt der Paratyphus
fast immer mit Schüttelfrost an, die
Temperatur ist von Anfang an hoch,,
schon in den ersten Tagen bestehen
Diarrhöen, Leibschmerzen. Erbrechen,
Herpes facialis, Neigung zu Schweißen.
Die Roseolen sind reichlich, die Leuko-
cytenwerte normal, die Krankheitsdauer
ist kurz. Häufig überwiegen die Sym¬
ptome einer akuten Gastroenteritis
(Fleischvergiftung).
Die bakteriologisch festgestellten Fälle
von Paratyphus B (9) zeichneten sich aus
durch ihre Harmlosigkeit: völliges Fehlen
von Benommenheit und Circulations-
schwäche selbst bei den höchsten Tempe¬
ratursteigerungen. Schon in den ersten
Wochen finden sich tiefe Morgenremissi¬
onen, so daß Tagesausschläge von mehre¬
ren Graden wie bei Recurrens Zustande¬
kommen. Die Paratyphusmilz ist beson¬
ders groß, derb und schmerzhaft, die
Paratyphusroseoie eine große, stark er¬
habene, sich derb anfühlende Papel.
Oft finden sich initial diffuse fleckige
Erytheme, die masernartigen Charakter
annehmen können (Verwechselung mit
Fleckfieber!). Der Puls ist meist be¬
schleunigt, sehr oft bestehen Herpes,
Nasenbluten und flüchtige Gallenblasen¬
entzündungen (letztere auch bei Ty.) und
im Gegensätze zum Typhus von vornherein
profuse Schweiße.
Stephan (10) hat in 80% der beob¬
achteten Fälle eine sogenannte Typhoid¬
form gesehen mit subfebriler Temperatur,
Milzschwellung und universeller Drüsen¬
schwellung, in 10% eine Gastroenteritis
paratyphosa (richtiger Gastroenterocoli-
tis) und in 10% eine dysenterische Form.
Roessle (11) weist auf die Schwierig¬
keit der Diagnose bei den einzelnen For¬
men des Paratyphus hin, möchte aber
eine sogenannte Dysenterie paratyphosa
nicht anerkennen. Bei den lang sich hin¬
ziehenden Fällen kommt es zu ausgedehn¬
ten ulcerösen Zerstörungen des Dick¬
darmes. Der Paratyphus ist keine System¬
erkrankung des abdominalen Lyjmph-
apparats. Es fehlen die Milzschwellungen,
die markigen Schwellungen der Mesente¬
rialdrüsen und der selitären und gehäuften
Darmfollikel; dementsprechend haben die
Geschwüre einen flachen und keinen
markigen Rand, sind meist quergestellt,
scharfrandig, wie ausgestanzt, und selten
Mai
Die Therapie der Gegenwart 1917.
177
tiefer als .die Submocosa. Gleichzeitiges
Vorkommen von Typhus und Parathyphus
ist sichergestellt. Ein anatomischer Unter¬
schied zwischen Para-A und -B ist
nicht vorhanden. Die mikroskopischen
Befunde sind in keiner Weise eigenartig,
teilweise gleichen sie denjenigen beim
Typhus.
- Über verschiedene Formen berichten
Sluka und Pollak(12): Unter 105 von
den Autoren beobachteten Paratyphus¬
fällen endeten fünf, denen Dysenterie
vorausgegangen war, mit dem Tode.
Sluka unterscheidet eine typhoide, eine
enteritische, eifte ruhrartige, eine septische
und eine asthenische Form. Bei der ente-
ritischen Form des Paratyphus wird 1 oft
gewöhnlicher Magendarmkatarrh ange¬
nommen. Erst die allgemeine Abge-
schlagenheit des Mannes, wenn er das
Bett verläßt, läßt die Wahrscheinlich¬
keitsdiagnose Paratyphus stellen. Blutige
Stühle mit fieberhaftemKrankheitsverlauf,
die bei der ruhrartigen Form Vorkommen,
sind ebenfalls geeignet, Verdacht auf
Paratyphus zu gründen. Die septische
Form wird durch folgende Symptome
charakterisiert: Verlauf eintönig, lang¬
wierig. Der Kranke liegt apathisch da, die
Entfieberung nach vier bis fünf Wochen
bleibt aus; es besteht hochgradige Ab¬
magerung. Bei der asthenischen Form
erfahren Kliniker und Bakteriologen die¬
selbe Enttäuschung wie bei der Ruhr.
Der Kliniker stellt die Diagnose Typhus
oder Paratyphus. Die Agglutination ver¬
läuft aber negativ. Der weitere Krank¬
heitsverlauf bestätigt dem Kliniker
seine Diagnose, die Agglutination kann
jedoch dauernd negativ bleiben oder erst
später positiv werden. Pollak erklärt
das Fehlen der Reaktion in einer Reihe
klinisch sicherer Fälle dadurch, daß vor¬
ausgegangene Kriegsstrapazen, Entbeh¬
rungen unregelmäßige Lebensweise zur
Folge haben, daß der kranke Körper nicht
die Kraft aufbringt, die Stoffe zu bilden,
die in einem ungeschwächten Körper
sonst entstehen. Wenn dann durch Bett¬
ruhe, Ernährung, Pflege im Kranken¬
hause bessere Verhältnisse einsetzen, kann
es zur Bildung von Agglutininen kommen.
Aber auch die wiederholten Schutzimp¬
fungen sind vielleicht imstande, die die
Agglutinine bildenden Substanzen zu er¬
schöpfen oder aufzubrauchen, so daß es
erst nach reichlicher Vermehrung der
Bakterien im Körper zur Bildung von
Antikörpern kommen würde. Zweifellos
muß der Kliniker wissen, daß in einer
Reihe von Fällen die Wi da Ische Reaktion
versagt, daß sie, einmal ausgeführt, öfter
wertlos sein kann, daß aber Schwankun¬
gen im positiven, aber auch, im negativen
Sinne Bedeutung zukommt.
Jastrowitz (13) weist auf die oft
schwierige Differentialdiagnose zwischen
Cholera und der Cholera nostra paraty-
phosa hin; oft entscheidet nur die bäue¬
rische Untersuchung. Selter (14) faßt
seine Ansicht über die Beziehungen des
Paratyphus zur Hogcholeragruppe dahin
zusammen, daß die Erreger der Tier¬
krankheiten (Schweinepest, Kälberruhr,
Psittakosis) mit den Paratyphusbakterien
des Menschen im allgemeinen nicht iden¬
tisch sind und sich von ihnen durch Agglu¬
tination mit hochwertigen monovalenten
Seren trennen lassen. Die letzteren zer¬
fallen, auch wenn wir von den Bac. p.ara-
typhosus A und enteritidis absehen, in
mindestens zwei selbständige Gruppen.
Dementsprechend können wir von ihnen,
wenigstens in der Mehrzahl der Fälle,
annehmen, daß sie nicht von kranken
Tieren auf den Menschen übertragen
werden, sondern vom Menschen stammen
und entweder unmittelbar oder mittelbar,
durch Fleisch, das mit ihm verunreinigt
ist, auf den Menschen zurückgelangen.
Nach Stephan (15) kommt epide¬
miologisch zweifellos der Kontaktinfek¬
tion die weitaus größte Bedeutung zu.
Es genügt, in dieser Hinsicht zu betonen,
daß nach unseren Erfahrungen für den
Paratyphus B der gleiche Verbreitungs¬
modus in' Frage kommt wie für den
Typhus abdominalis. Die Bedeutung der
Bacillenträger ist hier wie dort die gleiche,
ihr prozentuales Vorkommen ohne er¬
kennbaren Unterschied. .Die Paratyphus-
B- Infektion als Nahrungsmittelver¬
giftung schlechthin aufzufassen, ist nicht
angängig. Die Infektion durch Nahrungs¬
mittel, insbesondere durch Fleisch, ist
nur eine der vielen Möglichkeiten; ihre
Bedeutung in epidemiologischer Hinsicht
tritt gegenüber der Verbreitung durch
Kontaktinfektion sehr zurück. Die in¬
direkte Rolle der Nahrungsmittel als
Zwischenglied der Kontaktinfektion ist
beim Typhus die gleiche wie beim Para¬
typhus B. Für den letzteren müssen wir
wohl nur eine ins Vielfache gesteigerte
Wachstumenergie auf denn natürlichen
Nährboden (Fleisch, Konserven, Milch
usw.) und eine wesentlich höhere Wider¬
standsfähigkeit gegen chemische, ther¬
mische und mechanische Schädigungen
annehmen wie beim Typhusbacillus.
23
178
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Mai
Ein Fall von intrauteriner Übertragung
von Paratyphus berichtet Schmidt (16).
Übertragung von Typhusbacillen mit dem
Blute der Mutter auf das ungeborene
Kind ist mehrmals beobachtet; von Para-
typhus-B-Bacillen war sie bisher nicht
bekannt. Die Paratyphusstäbchen wurden
im Blut und Kot der Mutter vor der Ge¬
burt durch Gallefleischbrühe (vergl. d.
Zschr. 1916, S. 469) nachgewiesen*
aus dem Blute des Kindes wurden sie
zugleich mit Kettenkokken am Tage nach
der Geburt massenhaft gezüchtet, aus dem
Kote erst am vierten Tage. Dann starb das
Kind, das fieberlos geblieben war, an Rose.
Die Leichenöffnung ergab doppelseitige
Lungenentzündung und Milzschwellung;
das Herzblut, Galle, Harn, Milzsaft ent¬
hielten zahlreiche Paratyphusstäbchen.
Der Verfasser nimmt hieraus Veranlassung,
auf die Ansteckungsgefahr durch die
Abgänge bei der Geburt und durch das
Kind in derartigen Fällen hinzuweisen..
Stintzing (17) nimmt zwei Arten des
Infektionsmodus an. Bei der gastroente-
ritischen Form handelt es sich um eine
örtliche Einwirkung der Bacillen und
ihrem Gift auf den Magendarmtraktus,
während bei der typhösen Form die
Bacillen vom Darme aus in den Lymph-
apparat und durch diesen ins Blut ge¬
langen, also ein Bakterium erzeugen.
Der akute Beginn, ebenso das öfter be¬
obachtete Auftreten der Roseola (am
sechsten Tage) spricht dafür, daß die
Bacillen rascher ins Blut gelangen als
bei Typhus. Die choleraartige Form war
im Harneselten; die Gastroenteritis para-
typhosa und der eigentliche Paratyphus
B halten sich nach der Häufigkeit an¬
nähernd die Wage. Bis die Erkrankten
bacillenfrei wurden, dauerte im Durch¬
schnitte einviertel Jahr, im maximum
47 Wochen. — Freun d (18) fand in zwei
Fällen Paratyphusbacillen in einem schon
längere Zeit bestehenden Blutergusse im
Brustfellraume. Paratyphusbacillenbefun¬
de und paratyphöse Erkrankungen im
frühen Kindesalter bespricht Dr. Speise¬
becher-München (19). Bei einigen
Magendarmerkrankungen von Kindern
fand er in den Entleerungen Paratyphus¬
bacillen, die sich in den meisten Fällen
durch die serologische Prüfung des Blutes
als die specifischen Krankheitserreger
nachweisen ließen. Diese Erkrankungen
verliefen unter dem Bilde einer Gastro¬
enteritis und zeigten, abgesehen von dem
meist ziemlich stürmischen Verlaufe, kli¬
nisch keine besonderen Merkmale. Be¬
sonders auffällig erschien es , daß die
Mehrzahl der Erkrankungen Kinder der
ersten Lebensjahre betraf, und man kam
zu der Vermutung, daß unter den häufigen
Darmstörungen dieses Alters öfter para¬
typhöse Erkrankungen sich. finden wür¬
den, als man bisher angenommen hat.
Man müßte infolgedessen in der Umgebung
von Kindern, die an akuter Gastroente¬
ritis erkrankt sind, Maßnahmen zur Ver¬
meidung von Kontaktinfektionen treffen
und andererseits dafür Sorge tragen, daß
Kinder in der Umgebung solcher Per¬
sonen, die an unklaren Magen-Darm-
erkrankungen leiden, vor Kontaktinfek¬
tionen geschützt werden, denen sie an¬
scheinend leicht zugänglich sind. Die
pathologisch-anatomische Untersuchung
eines an Gastroenteritis paratyphosa ge¬
storbenen Kindes ergab das Bild einer
schweren Gastroenteritis, das mit den
bisher veröffentlichten Sektionsberichten
von Erwachsenen, die an paratyphöser
Gastroenteritis gestorben waren, überein¬
stimmte.
Wagner und Emmerich (20) weisen
darauf hin, daß Bact. Paratyphus B in
allen seinen Eigenschaften außerordentlich
labil ist. Nach Müller (21) werden Per¬
sonen, die viel mit Fleisch oder Schlacht-
vielTzu hantieren haben, besonders häufig
zu Paratyphuskeimträgern, bzw. unter¬
liegen Paratyphusinfektionen. . Tra-
winski(22) konnte im Darminhalt von
500 gesunden Schweinen 26 Stämme
züchten, von denen zwei zur engen Para-
typhus-B-Gruppe gehören (Bact. suipesti-
fer), acht paratyphusähnliche und 16
als Pseudoparatyphusbacillen zu bezeich¬
nen sind. Eine scharfe Trennung zwischen
den einzelnen Vertretern der engen Para-
typhus-B-Gruppe ist nicht möglich.
Fischer (23) fand in einer Irrenan¬
stalt 17 Paratyphus-Bacillenträgerinnen,
davon sechs dauernd. Gaethgens konn¬
te von 27 Paratyphuskranken in drei
Jahren einen Bacillenträger feststellen.
Trippe und Sachs-Mücke berichten von
108 Paratyphusausscheidern, davon 70
Dauerausscheidern. Konrich sah eine
Paratyphusepidemie, die auf zwei Ba¬
cillenträger zurückzuführen war. Liebe-
treu beschreibt eine Epidemie, die sicher¬
lich durch Bacillenträger hervorgerufen
war. Aber auch Kontaktinfektionen
spielen eine Rolle. — Müller (24) sah eine
Epidemie in einer württembergischenKran-
kenanstalt, die von einem Dienstmädchen
ausging, die Bacillenträgerin war, ohne
selbst krank gewesen zu sein.
Die Therapie der Gegenwart 1917.
179
JVlai
Über Speisevergiftungen durch Para¬
typhusbacillen berichtet v. Boltenstern
'(7), auch Hilgermann (5) führt zwei
Gruppenerkrankungen auf verdorbene
Nahrungsmittel .zurück, eine dritte auf
verseuchtes Bachwasser. Bei Sichtung
des vorliegenden Materiales nimmt er (25)
an, daß in epidemiologischer Beziehung
für über die Hälfte der Erkrankungsfälle
an Paratyphus B der kranke Mensch als
Infektionsquelle in Betracht kommt, sei
es durch direkte Übertragung von Körper
zu Körper, sei es durch von Erkrankten
infizierte Nahrungsmittel oder Abwässer.
Ein weiterer Teil der Erkrankungsfälle
ist auf Nahrungsvergiftungen zurückzu¬
führen.
B r i n k m a n n (26) veröffentlicht eine
größere Paratyphusepidemie aus Dolgen
(Kreis Dramburg), die wahrscheinlich
durch Genuß von Seewasser entstanden
war; das bakteriologische Ergebnis er¬
örtert Geißler.
Die Gesamtsumme der zur Kenntnis
gelangten Erkrankungsfälle in epide¬
mischer Ausbreitung betrug ungefähr 7
bis 800, doch ist die Zahl der nicht zur
ärztlichen Behandlung gekommenen un¬
gleich größer. Das klinische Bild sämt¬
licher Epidemien war im wesentlichen
das gleiche, charakterisiert durch eine
schnelle Verlaufstendenz, mäßig hohes,
höchstens zweitägiges Fieber, akutes Ein¬
setzen mit choleraähnlichen Symptomen
(daher in 2 Fällen vom Arzt Choleraver¬
dacht gemeldet) usw. Der Zusammenhang
mit Schweinepest und Paratyphusepide¬
mie wird vor allem durch das Auffinden
des Bacillus suipestifer bei einer Anzahl
von Erkrankungen sowie durch deren
serologische Befunde gestützt. Klinisch
waren die Personen, bei denen man die
Erreger fand, zur Zeit der Materialabgabe
alle krank. Von Rekonvaleszenten oder
von der gesunden Umgebung waren posi¬
tive Befunde nicht zu erhalten. Es ist be¬
kannt, daß Pommern sehr vid endemische
Zentren für Schlachttier - Fleischvergif¬
tungen und Fleischwarenvergiftungen auf¬
weist, die fast sämtlich im Reg.-Bezirk
Köslin und merkwürdigerweise gerade
in den Bezirken liegen, wo die Epidemien
beobachtet sind. Die Möglichkeit ist dabei
nicht ausgeschlossen, daß die eine oder die
andere' Epidemie durch einen tierischen
Bacillenträger oder Dauerausscheider her¬
vorgerufen sein kann. Verfasser wirft
zum Schluß die Frage auf, ob nicht die
Säuglingssterblichkeit, bei der gerade die
Magen-Darmstörungen in erheblichem
Prozentsatz beteiligt sind, angesichts der
traurigen hohen Mortalitätszahlen für
Pommern in Einklang zu bringen sind
mit der auffallenden Verbreitung des
Suipestifer durch die endemischen Herde
in der genannten Provinz.
Eine Paratyphusepidemie, veranlaßt
durch Verseuchung einer Centralwasser¬
leitung, beschreibt Prigge(27). Es er¬
krankten in zwei Ortschaften von 6227
Einwohnern 744 unter den Erscheinungen
des Paratyphus. Die Erscheinungen setzten
plötzlich ein und * bestanden in Durch¬
fällen, Leibschmerzen, Erbrechen und
starkem Krankheitsgefühl. Bakteriolo¬
gisch wurden Paratyphusbacillen nach¬
gewiesen. Der Verdacht der Infektion
lenkte sich auf die Wasserleitung, zumal
von zahlreichen Erkrankten der Tag einer
vorübergehenden Wasserverschlechterung
als Beginn der Erkrankung angegeben
wurde. Die Keime waren durch einen
Riß in der Brunnenstube in das Innere
der ^Leitung gelangt.
Über eine geschlossene Paratyphus¬
epidemie bei einer Kompagnie berichtet
v. Reuß und Schiller (28), bei der 44
Fälle von Paratyphus B genau beobachtet
wurden, die durch die Verunreinigung
eines zur Trinkwasserversorgung benütz¬
ten Baches von den benachbarten Latri¬
nen entstanden sind. Im Wasser und in
der Erde wurden Paratyphusbacillen nach¬
gewiesen.
Ko epp e (29) veröffentlicht die im
vorigen Jahre in Zell ausgebrochene
Paratyphusepidemie, die 185 Personen
betraf und mit influenzaähnlichen Er¬
scheinungen begann; Widal war stets
positiv für Paratyphus; nur 75 Personen
zeigten die typische Form. Durch einen
alten schadhaften Kanal war Jauche aus
Dungställen und Abortgruben, welche die
Bleirohre der Hausanschlüsse angefressen
und durchlässig gemacht hatte, in das
Leitungswasser gelangt. In den Häusern
der Umgebung dieser Stelle lagen die
meisten Kranken. Ohne die bakterio¬
logische Untersuchung waren die meisten
Fälle als Typhus angesprochen worden.
DerVerfasser kommt zu folgendem Schluß:
1. Bei allen plötzlich und gehäuft auftre¬
tenden Erkrankungen mit influenzaähn¬
lichen Erscheinungen ist, namentlich im
Sommer, sofort die bakteriologische Un¬
tersuchung anzuwenden. 2. Zu Hausan¬
schlüssen sind nach diesen Erfahrungen
nur nahtlose Mannesmannrohre zu be¬
nutzen.
Rommeier sah mehrere Paratyphus-
23*
180
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Mai
epidemien, die auf die Verwendung von
Roh-Natureis zur Frischhaltung von See¬
fischen zurückzuführen waren. Nach
v. Korczunski (30) wurden in Sarajewo
in der Zeit vom Januar 1914 bis Ende
Juni 1915 50 paratyphöse Erkrankungen
beobachtet und sichergestellt. Für die
Verbreitung erschienen ganz besonders
Würste und Selchfleisch verdächtig. In¬
wieweit das Trinkwasser mitbeteiligt ist,
läßt sich nicht genau feststellen; nach den
Mitteilungen des bakteriologischen Labo¬
ratoriums des k. und k. Festungsspitals
sind jedoch im Leitungswasser vielmals
Paratyphusbacillen gefunden worden. Im
Verhältnis sehr stark beteiligt waren die
in einer Straße wohnenden Prostitüierten,
die ihre Eßwaren wahrscheinlich aus
einem nicht einwandfreien Geschäft be¬
zogen. 18 Fälle boten das Bild des Bauch-
typhus mit z. T. sehr kurzem Inkubations¬
stadium und ohne deutliche Prodrome.
Neumann(31) bespricht die Epidemie
beim Militär, die zwei Schwadronen betraf,
die von den übrigen getrennt untergebracht
waren. Sie war veranlaßt durch Fleisch¬
waren aus der Kantine, die aus einer be¬
stimmten Metzgerei bezogen waren. Der
klinische Verlauf war typhusähnlich in
der Hälfte der 40 Krankheitsfälle, aber
kürzer als beim echten Typhus. Die
bakteriologische Diagnose gründete sich
auf den Nachweis der Erreger im kreisen¬
den Blut bzw. positive Serumreaktion;
in den Ausscheidungen fanden sich Para¬
typhusbacillen noch vier bis fünf Wochen
nach der Entfieberung. Außer den 40
Kranken wurden 20 Mannschaften er :
mittelt, die positive Agglutination für
Paratyphus in ihrem Serum (V 100 ) zeigten;
bei einem dieser Leute, die in Beobachtung
genommen waren, wurden die Erreger in
den Faeces nachgewiesen.
Stumm (32) berichtet über 93 Er¬
krankungen (davon zwei tödlich) infolge
Genusses von Pferdefleisch, und vor¬
wiegend von rohem Hackfleisch, die ein¬
mal unter dem Bilde einer Magendarm¬
entzündung einsetzend sich bis zu einem
der Cholera asiatica ähnlichen Bilde sich
steigerten, manchmal auch das Bild einer
schweren Influenza boten. .
Auch nach Genuß von Seefischen,
Krebsen, Krabben, Austern, Muscheln
hat man Paratyphuserkrankungen be¬
obachtet. Hübner und Uhlenhut
wiesen in der Milch von kranken Kälbern
Paratyphusbacillen nach. Nach Genuß
von Käse erkrankten, wie Symanski
und Günther (41) mitteilen, 38 Personen
unter den Symptomen schwerster Magen-
Darminfektion, ohne daß es gelang, fest¬
zustellen, wie die Bacillen in den Käse
gelangt sind. Der Bacillennachweis war
in 72% der Fälle im Stuhle positiv, und
zwar meist in der ersten Woche. In einem
Schwarzwalddorf erkrankten nach einer
Beobachtung von Langer und Tho-
m a n n (42) 11 Personen benachbarter
Familien nach dem Genüsse von am glei¬
chen Morgen frisch bereitetem, sogenann¬
tem FleischküchLe, einem aus paniertem
Hackfleische durch Braten bereiteten Ge¬
richt (Frikandellen), unter den Erschei¬
nungen eines fieberhaften Brechdurchfalles-
und starken Kräfteverfalles (Paratyphus).
Die in Frage stehenden Fleischküchle
hatte der betreffende Metzger aus frischem
Rind- und Schweinefleische unter Ver¬
wendung von fabrikmäßig hergestelltem
Paniermehle zubereitet. Es wurde nach¬
träglich bekannt, daß innerhalb der letzten
vier Monate vor dem Auftreten der Epide¬
mie in der betreffenden Metzgerei Mäuse¬
typhuskulturen gelegt worden waren. Die
Vorkommnisse weisen darauf hin, daß
für das Auslegen von Mäusetyphusba¬
cillen größte Vorsicht geboten ist. Außer¬
dem ist aber zu fordern, daß die Abgabe
von Mäusetyphuskulturen nur solchen
Instituten erlaubt wird, bei denen unbe¬
dingte Garantie für sachgemäße Prüfung
der Mäusetyphuskulturen gegeben ist;,
jeglicher Zwischenhandel wäre auszu¬
schalten.
Jacobitz undKayser sahen einePara-
typhusepidemie von 112 Erkrankungen
nach Genuß von fertig gekauften Nudeln.
Mosebach konnte in einer Abort¬
grube / Paratyphusbacillen nachweisen.
Die Diagnose kann in den meisten
Fällen nur bakteriologisch gestellt werden.
Kulke(45) empfiehlt einen einfachen
Differentialnährboden für die Paratyphus¬
gruppe mit Traubenzucker und Lackmus¬
tinktur. Gildemeister (46) berichtet
ausführlich über Stuhluntersuchungen von
Darmausscheidern. Die Prognose ist,
abgesehen von den sehr selten choleri-
formen Fällen, günstig. Therapeutisch
hatte Wilucici (48) mit Bolus alba gute
Erfolge. Verfasser gab dreimal täglich
100 g in je 300 ccm Milch durch fünf
Tage. Zunächst Probegabe von 50 g,
welche zumeist anstandslos vertragen
wurde. Schon in den ersten Tagen be¬
fanden sich die Patienten wohler, die
Temperatur fiel kritisch ab. Zurückblei¬
bende Verstopfung wurde durch Abführ¬
mittel behoben. Die bakteriologische
Mai
Die Therapie der Gegenwart 1*917.
181
Untersuchung hielt Schritt mit dem ob¬
jektiven Befunde, da die Bacillen alsbald
aus dem Darme schwanden.
S t i n t z i n g (20) empfiehlt Ausdeh¬
nung der Schutzimpfung auf die beiden
Formen des Paratyphus. In Frage käme
bei Wiederimpfung einmalige Impfung
mit kombiniertem Impfstoffe, Nachimp¬
fungen mit solchem mit Para- und B,
bei Neuimpfung drei- bis viermalige^Imp¬
fung mit ersterem.
Zur Verhütung des Paratyphus wird
man nach Hilgermann (5) den Schwer¬
punkt der Schutzmaßnahmen dorthin
verlegen, wo Fleisch und Nahrungsmittel
erzeugt, aufbewahrt und verkauft werden.
Demgemäß muß man auf eine peinlich
genaue Vieh- und Fleischbeschau, auf
die größte Reinlichkeit in den Schlacht¬
häusern, den Verkaufs- und Lagerräumen
der Fleischer und in den Nahrungsmittel¬
geschäften sowie bei der Zubereitung
gesehen werden* daß jede Berührung des
Fleisches usw. mit Fäkalien mit Sicher¬
heit vermieden wird. Die Fleischbeschau
wird auf die bakteriologische Untersu¬
chung des Fleisches krankheitsverdäch¬
tiger und notgeschlachteter Tiere aus¬
zudehnen sein. Allerdings wird auf Grund
der Feststellungen über die weite Ver¬
breitung von Paratyphusbacillen in den
Organen dieser Tiere und auf Grund von
Versuchen nur solches Fleisch zu bean¬
standen sein, aus welchem bei der bakte¬
riologischen Untersuchung bereits nach
24 Stunden eine reichliche Anzahl'von
Bacillen gezüchtet werden kann. Streng
quantitative Untersuchungen werden her¬
anzuziehen sein. Von seiten der Gerichts-,
Polizei- usw. Behörden wäre darauf zu
achten, daß bei Fleisch-, Wurst- und
dergleichen Vergiftungen die als Ursache
der Erkrankung angeschuldigten Nah¬
rungsmittel bakteriologischen Instituten
zur Untersuchung überwiesen werden.
Auf den Schlachthöfen müßten hygie¬
nische Maßnahmen sorgfältig durchge¬
führt und im besonderen darauf geachtet
werden, daß nicht übermüdetes und abge¬
triebenes Vieh zur Schlachtung gelangt.
Das Personal ist zur größten Reinlichkeit
anzuhalten; dasselbe ist auch in der
Küche der Gasthäuser usw. und im Haus¬
halte zu beachten. Die Beseitigung des
Ungeziefers (Fliegen!) ist durchzuführen,
das Lagern der Nahrungsmittel auf Natur¬
eis zu verbieten. Molkereien, Bäckereien,
Fischläden und andere sind streng zu
überwachen. In der heißen Zeit soll man
Speisen, z. B. Kartoffelsalat, frische
Wurstwaren, Eier-, Vanillespeisen usw.
nicht lange aufheben und Milch nur ge¬
kocht aus sauberen Gefäßen trinken.
Konserven, die einen verdächtigen^ ran¬
zigen Geruch haben oder Bombage zeigen,
sind von der Nahrung auszuschließen
und alle anderen nur nach gründlicher
Abkochung zu genießen. Das Verbot
des Genusses von Hackfleisch ist wohl
nicht durchzuführen, obwohl es von vielen
Seiten verlangt wird.
Sonst sind die beim Typhus üblichen
Maßnahmen durchzuführen (Anzeige der
Erkrankungs- und Todesfälle, Absonde¬
rung der Kranken, fortlaufende und
Schlußdesinfektion, Belehrung der Ba¬
cillenträger).
In zweiter Linie werden durch all¬
gemein-hygienische Maßnahmen am ehe¬
sten Paratyphusherde und Spätkontakte
ausgerottet. Des ferneren muß die Be¬
völkerung allmählich zur Befolgung der
einfachsten Regeln der Sauberkeit und
Hygiene erzogen werden. Viel Gutes in
dieser Hinsicht werden sicherlich die in
den Krankenpfleger-., Schwestern- und
Pflegerinnenkursen an den Desinfektoren¬
schulen ausgebildeten Personen leisten. Be¬
kannt und vertraut mit den Grundsätzen
der Desinfektion und der Hygiene sollen
sie als Pioniere der Volkshygiene wirken.
Literatur: 1. M. m. W. 1908, Nr. 4.—
2. Zbl. f. Bakt. 1915, Bd. 77. — 3. Zbl. f. Bakt.,
Bd. 38. — 4. M. Kl. 1907, Nr. 10. — 5. Klin. Jb.
1910, Bd. 24. — 6. Würzburger Abhandlungen
Bd. XII, H. 7.-7. Zschr. f. ärztl. Fortbild. 1911,
Nr. 15. — 8. M. Kl. 1914, Nr. 31. — 9. Selubr.-
Komm. des 2. k. u. k. A.-K- — 10. M. m. W. 1916,
Nr. 33. — 11. Jkurs f. ärztl. Fortbild. 1917, Nr. 1.
— 12. W. kl. W. 1916, Nr. 44. — 13. D. m. W.
1916, Nr. 32. — 14. Zschr. f. Hyg., Bd. 81, H. 3. —
15. Beitr. z. Klin. d. Infekt., Bd. V, H. 1. — 16. D.
m. W. 1915, S. 911. — 17. W. kl. W. 1916, Nr. 44.
— 18. Ing.-Diss. Harburg 1907. — 19. Vrtljschr.
f. gerichtl. M. X, L. I, 2. Suppl.-H. — 20. Ver¬
handlungen der Tagung des D. Kongresses für
innere Medizin in Warschau 1916. — 21. D. m. W.
1917, Nr. 1. — 22. Ing.-Diss. München 1914. —
23. Zbl. f. Bakt., Bd. 79, H. 1. — 24. M. m. W.
1917, Nr. 1. —25. Zschr. f. Hyg., Bd. 83, H. 1. —
26. Zbl. f. Bakt.^Bd. 71. —27. Ing.-Diss. Tübingen
1913. — 28. D. Med.-Ztg. 1912, Nr. 25. — 29.
Öffentl. Gesundheitspflege 1916, Nr. 11. — 30.M.
Kl. 1916, Nr. 2—3. — 31. B. kl. W. 1912, Nr. 47.
— 32. Prakt. Desinfektor 1912, Nr. 3. — 33. Zschr.
f. Med.-Beamt. 1913, Nr. 20. — 34. D. m. W. 1916,
Nr. 32. — 35. Der Militärarzt 1915, Nr. 27. —
36. Zschr. f. Med.-Beamte 1913, Beil. 1. —37. M.
Kl. 1916, Nr. 2—3. — 38. Beilage zur Zschr. f.
Med.-Beamte 1911, Nr. 1. — 39. Zschr. f. Med.-
Beamte 1917, Nr. 2. — 40. Zschr. f. Med.-Beamte
1913, Nr. 18. — 41. D. m. W. 1914, Nr. 10. —
42. Zschr. f. Med.-Beamte 1911, Nr. 13. — 43.
M. Kl. 1917, Nr. 3.-44. M. m. W. 1917, Nr. 1.—
45. Zbl. f. Bakt. Orig.-Bd. 78. — 46. Österr.
Sanitätswesen 1916, Nr. 36—43. — 47. Arch. f.
Schiffs u. Trop. Hyg. 1916.
182
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Mai
Verhandlungen der Kriegsärztlichen Abende, Berlin.
Bericht von Dr. Hayward-Berlin.
Sitzung vom 16. Januar 1917.
Wollenberg: Hand- und Finger¬
verletzungen Kriegsverwundeter.
Es läßt sich gar nicht übersehen, wie
groß die Zahl, der Versteifungen von
Hand- und Fingergelenken ist, die ihre
Ursache Verbänden verdankt, welche zu
lange liegen geblieben sind. Gerade diese
Gelenke muß man möglichst von ruhig
stellenden Verbänden ausschließen. Es
ist falsch, Immobilisierung anzuwenden,
wenn der Schußkanal nicht infiziert ist.
Selbst bei frischen Verletzungen soll so¬
fort durch die Hand des Arztes mit Be¬
wegungen begonnen werden. Anderer¬
seits soll man in Fällen, in welchen die
Sehnen sicher verletzt sind, sich nicht auf¬
halten mit unnützer Medikomechanik,
sondern die Sehnen freilegen und über¬
brücken. Hierbei hat sich die Ersetzung
des Defektes durch Seide außerordentlich
bewährt. Die Schwierigkeit, erneute Ver¬
wachsungen hintanzuhalten, kann man
dadurch beseitigen, daß man die Sehne
verlagert, durch Fettgewebe führt oder
eine Sehnenscheidenauswechselung vor¬
nimmt. • Mit Erfolg hat Vortragender
hierzu die Sehnenscheiden der Zehen¬
muskeln benutzt. Die erreichten Resul¬
tate werden durch Demonstration der
betreffenden Patienten vorgeführt.
Sitzung vom 6. Februar 1917.
Kirchner: Neue Wege für die
Bekämpfung übertragbarer Ge¬
schlechtskrankheiten.
Um die großen Verluste dieses Krieges
zu ersetzen, muß eine Steigerung des
Geburtenüberschusses angestrebt wer¬
den. Dieses Ziel ist jedoch nur zu
erreichen durch einen systematischen
Kampf gegen die Geschlechtskrank¬
heiten. Von 40 bis 50 000 Todesfällen
der Kinder sterben 20000an Lebens¬
schwäche, von der eine häufige Ursache
die angeborene Syphilis darstellt. Die
Behandlung der Lues ist unter allen Um¬
ständen eine diskrete. Die Anzeigepflicht
vom Jahre 1835 hat sich nicht bewährt.
Auf große Schwierigkeiten stößt die
Überwachung der Prostitution nament¬
lich deshalb, weil die einschlägigen ge¬
setzlichen Bestimmungen sich teilweise
widersprechen (Kuppeleiparagraph). Die
Beratungsstellen, die sich bei Tuberkulose,
Krebs und Säuglingserkrankungen so gut
bewährt haben, werden auch bei der Be¬
kämpfung der Geschlechtskrankheiten
Gutes leisten, wie die in 100 derartigen
Stellen gemachten Erfahrungen beweisen.
Redner verbreitet sich dann eingehend
über die verwaltungstechnische Seite die¬
ser Einrichtungen. Die gegenseitige Über¬
tragung der Lues durch Säuglinge und
Ammen bedarf der gesetzlichen Regelung.
Daneben ist eine zweckmäßige Aufklärung
der heranwachsenden Jugend am Platze,
durch die der Ansteckungsgefahr vorge¬
beugt werden muß.
Sitzung vom 13. Februar 1917.
Oberbürgermeister Geib, Leiter der
Geschäftsstelle des Reichsausschusses der
Kriegsbeschädigtenfürsorge: Die Orga¬
nisation der Kriegsbeschädigten-
f ürsorge. Die Zahl der Kriegsbeschädig¬
ten ist heute schon größer als im Jahre
1870. In Preußen ist die Kriegsbeschädig¬
tenfürsorge gestützt auf provinzielle Ver¬
waltungen; sie geht entweder von diesen
direkt aus oder von Verbänden, welche
ihnen angegliedert sind, während in an¬
deren Bundesstaaten die Fürsorge sich
an Landesbehörden anschließt. In den
Centralstellen sind Beiräte vorhanden,
welche aus Ärzten, Industriellen usw. be¬
stehen, welchen Vertreter des Handwerks
und der Landwirtschaft ang'egliedert sind.
Im September 1915 wurde die oberste
Centrale des Reichsausschusses gegründet,
dessen Arbeitsgebiet folgende Teile um¬
faßt : Heilbehandlung, Berufsberatung,
Berufsausbildung und Arbeitsvermitte¬
lung. In welcher Weise dieses Programm
zur Durchführung gelangt, wird vom Vor¬
tragenden eingehend erörtert. Zum
Schlüsse kommt er auf die Frage der An¬
siedelung der Kriegsbeschädigten und
deren Erleichterung durch das Kapital¬
abfindungsgesetz zu sprechen.
Sanitätsrat Dr. Aschoff (Berlin): Die
Bedeutung der Lazarettzüg’e für
den Transport Schwerverwundeter.
Redner ist bisher als leitender Arzt eines
Lazarettzuges tätig gewesen und gibt
seine hierbei gemachten Erfahrungen wie¬
der. Die Verwendung des Lazarettzuges
als fahrendes Feldlazarett, wie sie während
des Bewegungskrieges 1914 nach der
Schlacht bei Tannenberg notwendig war,
hat sich sehr bewährt und es ist die Frage
durchaus berechtigt, ob der nähere Aus¬
bau dieses Notbehelfes nicht zu befür¬
worten wäre. Als schlecht transportfähig
-Mai Die Therapie der Gegenwart 1917. 183
haben sich Schädelschüsse und fiebernde
Bauchschüsse erwiesen, während Brust¬
schüsse den Transport gut überstanden
haben, auch Pneumonien wurden nicht
geschädigt, im Gegensätze zu den Nieren¬
entzündungen. Die Gesamtmortalität
beträgt 0,28%. Unterwegs wurden
6% ausgeladen, darunter 10% der Nieren¬
kranken.
Sitzung vom 27. Februar 1917.
Geh. Obermedizinalrat Krohne vom
Ministerium des Innern: Empfängnis
Verhütung und Schwangerschafts¬
unterbrechung vom bevölkerungs¬
politischen und ärztlichen Stand¬
punkt.
Im Jahre 1876 betrug die Geburten¬
zahl in Deutschland 40°/ 00 , 1900-= noch
-36 und vor dem Kriege 27. Es geht hier¬
aus hervor, daß der Geburtenrückgang in
rapider Weise schon vor dem Kriege ein¬
gesetzt hat und naturgemäß durch den.
Krieg selbst noch erheblich beeinflußt
wird. Demgegenüber ist der Sterblich¬
keitsrückgang nicht in gleicher Weise
.zurückgegangen. Auch die viel verbrei¬
tete Meinung, daß nach dem Kriege eine
erhebliche Zunahme der Geburten wieder
•stattfinden werde, analog den Verhält¬
nissen von 1870, besteht nicht zu Recht,
denn damals hatten wir nur einen Verlust
von 40 000 Männern, der schon heute weit
überschritten ist. Der Vertrieb empfäng¬
nisverhütender Mittel, wie er heute in
Deutschland herrscht, ist als ein öffent¬
licher Skandal zu bezeichnen. Aber auch
die Unterbrechung der Schwangerschaft
wird vielfach von Ärzten geübt unter
Außerachtlassung strengster Indikations¬
stellung. Ferner hat die künstliche Steri¬
lisierung der Frauen in erschreckender
Weise zugenommen, wofür eine Reihe
'von Beweisen aus der Literatur beige¬
bracht werden. Dfe juristische Seite der
Frage wird eingehend erörtert und dar¬
gelegt, unter welchen Bedingungen der
künstliche Abort überhaupt zulässig ist.
Die soziale Indikation zur Einleitung des
künstlichen Abortes ist als durchaus ab¬
wegig zu bezeichnen, obwohl sie in der
letzten Zeit mehr Anhänger gefunden hat.
Sitzung vom 13. März 1917.
Albu: Krieg und Diabetes. Der
gesamte Prozentsatz von Zuckerkranken
beim Heere ist gering und beträgt nicht
mehr wie 1 % an innerlich Kranken.
Hierbei ist bemerkenswert., daß über die
Hälfte der Fälle schon vorher nachweis¬
lich krank waren. Trotzdem haben eine
große Zahl von Offizieren die Kost und
die Strapazen des Feldzuges oft ein bis
zwei Jahre ertragen. Von Begleit¬
erkrankungen des Diabetes sind zu nennen
namentlich die Furunkulose, dann ner¬
vöse Reizbarkeit und endlich' frühzeitig
beginnende Atherosklerose. Unter ent¬
sprechender Therapie war in verhältnis¬
mäßig kurzer Zeit die alte Toleranzhöhe
wieder erreicht. Albu glaubt nicht, daß
der- Diabetes eine Kontraindikation für
den Militärdienst darstellt, solange eine
Kohlehydrattoleranz von 100 g vorhanden
ist. Dasselbe gilt für diejenigen Fälle,
bei denen der Krieg als auslösende Ur¬
sache für die Erkrankung anzusehen ist.
Friede mann: -Über Pocken¬
erkrankungen mit besonderer Be¬
rücksichtigung der Diagnose. Vor¬
tragender, Vorstand der Infektionsabtei¬
lung am Rudolf-Virchow-Krankenhaus, in
welches sämtliche Fälle von Pockenerkran¬
kungen aus Berlin eingeliefert werden, gibt
die Erfahrungen wieder, die er an dem
Material des Krankenhauses, gestützt auf
108 Fälle, gesammelt hat. Der Ausgangs¬
punkt der Epidemie und die Ausbreitungs¬
weise sind genau zu verfolgen: Sie wurden
von wolhynischen Ansiedlern, die zur Zeit
der russischen Offensive noch im Inku-
bationsstadium nach Ostpreußen transpor¬
tiert wurden, eingeschleppt. Auf diese
Weise bildeten sich in den Städten, in
welchen diese Arbeiter tätig waren, Pocken¬
herde, so in Hamburg, Lüneburg, Münster,
Rathenow. Von der letzten Stadt und
von Fürstenwalde aus nahm die Pocken¬
epidemie in Berlin ihren Ausgang. Vor¬
nehmlich wurde das Asyl für Obdachlose
befallen und von hier aus kamen erst
die Fälle in der Berliner Bevölkerung
zum Ausbruche. An Hand zahlreicher
Beispiele werden vom Vortragenden die
Beweise für die enorme Infektiosität der
Erkrankung beleuchtet. Bei der befallenen
Bevölkerung^ die ja durchgeimpft ist,
kam es nie zum Ausbruch der Variola
vera, sondern nur der Variolois. Es ist
eine irrige Ansicht, daß man Impfschutz
noch erlangt, wennmansich in der Pocken¬
inkubationszeit, die 13 bis 14 Tage dauert,
impfen läßt. Die Pockenerkrankung be¬
ginnt mit hohem Fieber und meist sehr
starken Kreuzschmerzen. Sobald das
Exanthem einsetzt, hört das Fieber auf,
um allmählich mit der Suppuration der
Pusteln wieder anzusteigen. Der Aus¬
schlag ähnelt zunächst sehr den Masern,
doch fehlen die hier nie vermißten katar-
184
Die Therapie T der Gegenwart ,1917.
Mai
rhalischen Erscheinungen. Große Schwie¬
rigkeiten kann die Differentialdiagnose
gegenüber den Varicellen machen. End¬
lich ist noch zu bedenken, daß bei der
Eigenart des Materials (Asylisten) die
Differentialdiagnose gegenüber der Fu¬
runkulose und dem pustulösen Syphilid
oft nicht leicht ist.
Bücherbesprechungen.
L. Aschoff. Über die Benennung der
chronischen Nierenleiden.
Friedrich Müller. Bezeichnung und
Begriffsbestimmung auf dem Ge¬
biete der Nierenkrankheiten. (Ver-
' öffentlichungen aus dem Gebiete des
Militär-Sanitätswesens, Heft 65.) 77 S.
Preis 2,80 M. Berlin 1917. Verlag'von
Aug. Hirschwald.
Im Anschluß an die Besprechung der
Straußschen Monographie über die Ne¬
phritiden (im Januarheft) möchte ich auf
die eben erschienenen Aufsätze von
Aschoff und Fr. Müller hinweisen,
welche als Referate auf einer Sitzung in
Heidelberg im Oktober 1916 vorgetragen
worden sind. Sie beabsichtigen, eine Eini¬
gung in der viel umstrittenen Frage der
Namengebung und Begriffsabgrenzung
der Nierenleiden zu erzielen. Da thera¬
peutische Probleme nicht gestreift werden,
soll an dieser Stelle auf den Inhalt nicht
eingegangen werden. Doch wird jeder,
der sich mit Fragen der Nierenpathologie
beschäftigt, von demselben Kenntnis neh¬
men müssen. Die erschöpfenden - und
durchsichtig klaren Ausführungen^ Fr.
Müllers, die einen vollkommenen Über¬
blick über die Klinik der Nierenkrank¬
heiten geben, werden für jeden ärztlichen
Leser von Interesse sein. G. K-
Dr. Wilhelm Schlesinger. Vorlesungen
über Diät und Küche. 168 S. Berlin
und Wien, Urban & Schwarzenberg
1917. Preis 6,50 M. brosch.
Wenngleich wir eine Reihe von Schrif¬
ten über ■ die ärztliche Bedeutung der
Kochkunst besitzen, unter denen nament¬
lich die Arbeit von Strauß hervorragt, ‘
darf doch dies neuerschienene Buch als
eigenartig empfohlen werden. Es ist da¬
durch charakterisiert, daß der Verfasser
einesteils die physikalischen und chemi¬
schen Verhältnisse der einzelnen Koch¬
prozesse nach Möglichkeit analysiert, an¬
dererseits dem eigentlichen Küchen¬
kapitel stets die diätetische Nutzanwen¬
dung hinzufügt, indem er die Eignung
des Kochproduktes für die Diätetik der
einzelnen Krankheitsformen auseinander¬
setzt. So spricht er die einzelnen Nah¬
rungsmittel in den verschiedenen Ka¬
piteln durch, danach die diätetischen
Kostformen und Ernährungskuren, wo¬
bei er häufig Gelegenheit zu ärztlichen
Hinweisen findet, die von besonderer
klinischer Erfahrung zeugen. Den Be¬
schluß machen 88 Kochrezepte. Das sehr
fließend geschriebene Buch ist vorzüglich
geeignet, Studierenden und Ärzten als
Leitfaden, in dem praktisch so wichtigen
Gebiet zu dienen und verdient beste
Empfehlung. Schnell.
Heinrich Kisch. Das Geschlechtsleben
des Weibes in physiologischer,
pathologischer und hygienischer
Beziehung. Dritte vermehrte Auflage
mit 127 zum Teil farbigen Abbildungen,
776 Seiten. Berlin-Wien 1917, Urban
& Schwarzenberg. Preis: Ungebunden
25 M., gebunden 27,50 M.
Wie Bölsche in seinem Buche
,,Liebesieben in der Natur“ in einer
formvollendeten Weise einen Einblick in
die Dinge gewährt hat, die auch jeder
Arzt, welcher nicht einseitig werden will,
kennen muß, ist uns Kisch in diesem
Werke, das jetzt in erweiterter Form,.
3. Auflage, erschien, ein stets zuver¬
lässiger Führer auf den so oft unsicheren
Wegen im Geschlechtsleben der Frau,
dem sich jeder anvertrauen muß. Nicht
nur der Arzt findet hier auf jede Frage
eine Antwort; ’ jedem Erzieher sei an¬
geraten, das Buch in die Hand zu nehmen.
Man darf nicht übersehen, wie er¬
schreckend groß und ebenso unbrauchbar
die sogenannte Aufklärungsliteratur ist;
man denke nur an Broschüren wie ,,Kalte
Frauen“ usw. In einem glänzenden
Deutsch sind hier Erfahrungen nieder¬
gelegt worden, die in einer langjährigen
Praxis gesammelt wurden, wobei natür¬
lich die einschlägige Literatur, auch die
schöngeistige, in jeder Weise berück¬
sichtigt wurde. In jedem der natürlich
gegebenen drei Teile — Geschlechts¬
epochen der Menarche, der Menakme und
der Menopause — ist in äußerst klarer
Weise die-diesbezügliche Physiologie und
Hygiene abgehandelt, während für die
Pathologie nur das Notwendigste ge¬
bracht wird, da hierfür ja die gynäkolo¬
gischen Lehrbücher vorhanden sind. Der
erste Teil wird dem Kinder- wie auch
dem Schulärzte besonders in den Ab-
Mai
Die Therapie der Gegenwart 1917.
. schnitten ,,Menstruation und Geschlechts-
tfitebe“ S. 184ff. Material zur Aufklärung
für sich selbst, wie für die zur Entlassung
kommende Schuljugend geben. Wichtig
für den Arzt, der ein taktvoller Berater
seiner Klientinnen seih will, ist der
zweite Teil; ich kenne kein Buch, in dem
in so feinsinniger Weise die Geschlechts¬
empfindung des Weibes (S. 604ff.) be¬
sprochen wurde, weiß aber auch aus
Erfahrung, wieviel Eheglück zerstört
werden kann, wenn der einzig allein hier¬
für bestimmte Berater so manche Sorge
der jungen Frau mit der Diagnose „Ner¬
vosität“ abtut. Hier kann er mehr helfen,
als wenn er die Beschwerden auf eine Re-
troflexio bezieht, und alles Heil in einer
lageverbessernden Operation gesucht wird
(S. 597). So manche Frauenrechtlerin
sollte nur die fundamentalen Sätze über
den Wert des Weibes lesen, welche Kisch
aus der Literatur anführt (S: 229). Die
moderne Mädchenerziehung mit ihrer
Vielsprachigkeit und Vielwisserei be¬
günstigt eine oberflächliche Verstandes¬
entwickelung, macht das Weib anspruchs¬
voller, ohne daß es dabei anziehender
würde (Marnholm). Aus der Reihe der
vielen Kapitel, die jedes für sich als eine
Einzelstudie angesehen werden muß
-— Conception, Vaginismus... — sei nur
eins herausgenommen, die Dyspareunie,
welche auch den Nervenarzt oft genug be¬
schäftigt und bei oberflächlicher Be¬
wertung zu dem streng zu verurteilenden
Verschreiben von Narkoticis führt (S.407).
Eine nicht geringere Bewunderung über
Stil und Reichhaltigkeit des Inhalts
verlangt der dritte Teil dieses Werkes
,,Die Geschlechtsepoche der Menopause“.
Etwas ausführlicher hätte die Therapie
des Pruritus sein können, der ganz
richtig als eine Neurose des Genitale an¬
gesehen wird. Meisterhaft geschildert
sind die Krankheiten der Circulations-
organe, die auch auf S. 725 gut eingeteilt
sind; hier zeigt sich der erfahrene, wahre
Badearzt als guter Internist. Zum Schlüsse
sei auf das vorletzte Kapitel „Klimakte¬
rische Psychosen“ hingewiesen, in dem
z. B. das Leben zweier Frauen geschildert
wird, der ruhig dahinlebenden und der
durch mannigfache Schicksalsschläge
mürbe gewordenen, bei der das Klimak¬
terium das Eintreten der Psychose hervor¬
ruft. Alles in allem ein Werk, das in
dritter Auflage erscheinen konnte und ein
herrliches Zeichen deutscher Gründlich¬
keit ist, wobei auch auf die Schönheit
der Form Wert gelegt wird, so daß ich
185
mich für berechtigt halte, es jedem Arzte,
wie auch Volkserzieher auf das wärmste
zum eifrigen Lesen zu empfehlen. Daß
der Druck, wie die Ausstattung : des
Werkes dem bewährten Rufe des Ver¬
lages entspricht, möchte ich zum Schlüsse
nicht unerwähnt lassen..
D. Pulvermacher (Cfiarlottenburg).
Ing. Fr. Dessauer und Dr. B. Wiesner,
Leitfaden des Röntgenverfah¬
rens. V. Auflage. Leipzig 1916, Otto
Nemnich.
Die Einteilung auch der neuen Auf¬
lage ist eine sehr praktische, indem der
erste Teil die physikalischen Grundlagen
des Röntgenverfahrens, der zweite den
technischen Teil erläutert. . Beide Teile
sind imwesentlichen von Ingenieur
Dessauer bearbeitet und geben sowohl
dem Laien, als auch dem Fachmann vor¬
zügliche Aufklärungen, über alle ein¬
schlägigen Fragen. Vom einfachen physi¬
kalischen Vorgang ausgehend führt uns
der Verfasser in die verwickeltsten tech¬
nischen Fragen, welche restlos gelöst
werden. Die genaue Beschreibung des
Instrumentariums, die Unterschiede in
der Brauchbarkeit und Anwendungsmög¬
lichkeit der einzelnen Röhrensysteme er¬
leichtern dem Röntgenologen die Auswahl
der Röntgenröhren. Auch der Technik
des Aufnahmeverfahrens, welche Wies¬
ner behandelt, ist große Sorgfalt zu¬
gewandt, so daß auch hier für den Rönt-
gentechnikergsehr wertvolle Fingerzeige
gegeben werden. Nichts nur die all¬
gemeine Technik des Aufnahmeverfahrens
wird hier klargelegt, sondern auch jedes
einzelne Glied wird besonders in bezug
auf die Aufnahmetechnik behandelt.
Neben den Extremitäten sind einzelne
Kapitel den Zahnaufnahmen^und den
innerem Organen gewidmet.
Vorzüglich ist das Kapitel über die
Stereoskopie im Röntgenverfahren von
Professor Hildebrandt. Im medizini¬
schen Teil, welcher von Holzkr^echt
und Bense bearbeitet ist, wird zuerst
das Röntgenverfahren zwecks Diagnostik
in der inneren Medizin, dann das Röntgen¬
verfahren in der Chirurgie und zuletzt
die Röntgentherapie ausführlich be¬
handelt. Gute Abbildungen erleichtern
durchweg das Verständnis. Zum Schlüsse
gibt Dessauer, noch gute Anweisungen
über das photographische Verfahren. Das
Buch ist wohl geeignet, über alle ein¬
schlägigen Fragen Aufklärung zu geben.
Taendler (Berlin). .
24
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Mai
1$6
Referate.
In einer Arbeit zur Frage der Behand¬
lung des Asthma bronchiale weist Weick-
sel darauf hin, daß man durch subcutane
Adrenalininjektionen den Asthmaanfall
in wenigen Minuten kupieren kann. Das
Adrenalin erhöht den Tonus des Sym-
pathicus und setzt wahrscheinlich den er¬
höhten Tonus des autonomen Systems
herab. Der Erfolg ist noch i besser,
wenn man die Wirkung des Adrenalin
durch gleichzeitige Injektionen von Hy-
pophysin verstärkt. Sehr bekannt ist
die Verwendung von Asthmolysin (Neben¬
nieren- und Hypophysinextrakt). Die
Wirkung hält etwa 12 bis 24 Stunden vor.
Während der Zeit der Wirkung soll nun
der Arzt psychisch auf den Kranken ein¬
zuwirken suchen, der jetzt, nachdem er
die Beschwerden verloren hat, blindlings
jede weitere ärztliche Maßnahme, wie
Weicksei glaubt, befolgt. Man soll dem
Kranken eine strenge Diät verordnen
und ihn ermahnen, sich möglichst von
psychischen Aufregungen fern zu halten.
Die Diät besteht in milder Kost; es muß
für regelmäßigen Stuhlgang gesorgt wer¬
den. Nachts sollen die Patienten bei
offenem Fenster schlafen. Weicksel
verordnet auch Kalk und zwar in sehr
großen Dosen. Man kann täglich 10—15 g
Calcium lacticum geben ohne jegliche Ne¬
benwirkung. Mit dieser Behandlung will er
selbst schwere Asthmatiker auf lange Zeit
pinfallsfrei gehalten haben. Erweist freilich
daraufhin, daß man das Asthma als sol¬
ches nicht heilen kann, da es auf einer
neurotischen Disposition beruhe, die man
nicht beseitigen kann. Man kann die
Neurose aber bessern. Dünner.
(M. m. W. 1917, Nr. 9.)
A. Lehndorff hat diePathogenese'der
typischen Krankheitserscheinungen bei
Cholera asiatica zum Gegenstände
näherer Untersuchungen gemacht. Er
skizziert den Ablauf der Krankheit fol¬
gendermaßen : Im Prodromalstadium
(prämonitorische Diarrhöen) äußert sich
bloß die lokale Reizwirkung der im Darme
angesiedelten Bakterien. In der ersten
Krankheitsperiode (Stadium algidum,
Stadium asphycticum) tritt die für . das
Choleragift specifische schwere Vaso¬
motorenlähmung vorwiegend im Gebiete
des Splanchnicus auf. Durch die re¬
sultierende charakteristische Circulations-
• Störung entsteht der Symptomenkomplex
dieses Stadiums, wird andererseits aber
die Weiterverbreitung der Endotoxine in.
die allgemeine Circulation verzögert; da¬
her treten die allgemeinen Vergiftungs¬
erscheinungen zurück. In der zweiten
Kränk heitsperiode (Choleratyphoid,
Stadium comatosum) ist die Circulations-
störung behoben, aber eben dadurch
kommt es zur plötzlichen Einschwem¬
mung‘großer Mengen von Endotoxinen
aus dem Splanchnicusgebiete in die all¬
gemeine Circulation. Daher treten jetzt
die allgemeinen Vergiftungserscheinungen
stark hervor. Ein atypischer Verlauf der
Erkrankung ließe sich folgendermaßen
erklären: Hat der Organismus schon in
einem früheren Stadium Gelegenheit ge¬
habt, sich hinreichend zu immunisieren,
dann kann naturgemäß die zweite Krank¬
heitsperiode fehlen. Bei den unter dem
Bilde einfacher Choleradiarrhöen ver¬
laufenden leichteren Erkrankungsformen
. ist es eben zu keiner stärkeren Vaso¬
motorenlähmung gekommen.
Hetsch (Beriin).
(Beilr. z. KHn. d Infekt -Krkh. u. zur Immun.-
• Forschung. Bd. V, H. 3.)
Zur Behandlung der primären Coii-
pyelitis und Colfcystitis äußert sich Gg.
Haas.
Lenhartz hat hauptsächlich die
Durchspülung und Auswaschung des
Nierenbeckens von oben durch tägliche
Verabreichung großer Flüssigkeitsmengen
in Form von Mineralwassern usw. emp¬
fohlen. In Verbindung mit dieser Behand¬
lung werden Harnantiseptica besonders
empfohlen; Ein drittes Mittel ist die Be¬
kämpfung der Coliinfektion mit.Vaccina-
tionstherapie und viertens sind Spülungen
des Nierenbeckens und der Blase mit des¬
infizierenden Lösungen empfohlen worden.
Eine weitere Methode von Meyer-
Betz beruht auf der Beobachtung, daß
stark saure konzentrierte Harne das
Bakterienwachstum hemmen, deshalb
schränkte er die. Flüssigkeitszufuhr so¬
weit als möglich ein,, gab nur Fleisch und
Milch als Nahrung und um die Acidität
des Harnes zu erhöhen, eine Limonade,
die durch Phosphorsäure stark angesäuert
war. Das Ziel der Behandlung muß natür¬
lich sein, den Urin bakterienfrei zu be¬
kommen.
Haas hat nun eine neue Methode ver¬
folgt, die sich auf die Beobachtungen von
Hoppe-Seyler und Höst stützt. Hop¬
pe- Seyler sah nämlich, daß in konzen-
Mai Die Therapie der Gegenwart .1917. 187
trierte' Harne eingeimpfte Colikulturen
zugrunde gehen, deshalb wollte Hoppe-
.Seyler die Colicystitis durch starke Kon¬
zentrierung des Harnes bekämpfen. Ferner
fand Höst, daß die desinfizierende Kraft
des Urotropin sich nur in saurer Lösung
entfalten kann. Deshalb kann bei alkali¬
schen, neutralen und selbst bei schwach¬
sauren Harnen der desinfizierende Effekt
des Urotropins für das. Nierenbecken nur
ein minimaler sein. Die Wirkung kann
wohl noch besser werden, wenn wir dafür
sorgen, daß der Harn stark sauer und
die Konzentration des Urins eine er¬
höhte ist. Dies will nun Haas durch
Schwitzkuren, durch Einschränkung der
Flüssigkeitszufuhr und durch saure Diät
. erreichen. Er versuchte außerdem die
Desinfektionskraft des Harnes zu erhöhen
durch Darreichung von Salicylpräparaten.
Er geht folgendermaßen vor:
Am Tage vor Beginn der Schwitzpro¬
zedur Einschränkung der Flüssigkeitszu-
fuhr auf 600 ccm Flüssigkeit einschließlich
der 300 ccm Phosphorsäurelösung (Acid.
phosphor. 15% 50,0, Sirup Rub. Idaei
50,0, Aqua destillatad 1000,0), die er den
Patienten zu trinken gibt. Dazu 3 g Uro¬
tropin und 4 g Melubrin oder Aspirin oder
Natrium salicylicum. In den darauffolgen¬
den Tagen der Schwitzprozedur sind die
Medikamente und die Flüssigkeitsbe¬
schränkung beizubehalten. Die Schwitz¬
prozedur wurde derartig vorgenommen,
daß die Patienten einen auf 40—50° vor¬
gewärmten elektrischen Lichtkasten auf¬
suchten, in demselben 20—25 Minuten
verblieben, während die Temperatur auf
55° gesteigert wurde. Bei kräftigen In¬
dividuen wurde sogleich mit dem ersten
Tag früh und nachmittags ein solches
Schwitzbad appliziert, bei empfindlicheren
Personen am ersten Tage nur eins, an den
folgenden Tagen zwei derartiger Bäder.
Je nachdem das specifische Gewicht des
Harnes mehr oder minder rasch in die
Höhe ging, erstreckte sich die Schwitz¬
prozedur auf drei oder vier Tage.
Gelingt es nicht, die Konzentration
des Harnes innerhalb drei Tagen minde¬
stens auf der Höhe des specifischen Ge¬
wichtes von 1020 zu halten, so ist der
Erfolg der Kur ein zweifelhafter. Bei sol¬
chen Fällen ist ohnedies schon an eine
Erkrankung der Nieren zu denken, in
Anbetracht der mangelnden Konzentra¬
tionsfähigkeit derselben. Zur Linderung
des auftretenden Durstes können Eis¬
stückchen gegeben werden. Soll die Kur
wirksam sein, so ist ein ausgesprochenes
Durstgefühl nicht zu umgehen. Man klärt
diesbezüglich die Patienten am besten im
voraus auf, damit sie nicht hinter dem' '
Rücken des Arztes Wasser trinken. : Mit¬
unter treten während der Schwitzprozedur
brennende Schmerzen beim Wasserlassen
und in der Blase auf.; dieselben hatHaas
durch Morphium und^Belladonna^sym-
ptomatisch bekämpft.
Die Erfahrungen, die er damit ge¬
macht hat, sind günstige. Er erreicht in
allen Fällen die Keimfreiheit des Urins.
Dünner.
(D. Areh. 1 kl. Med. Bd. 121, 4.-6. H.)
Brix beschreibt ein Verfahren zum
Verschluß von Dickdarmfisteln, welches
in Anwendung kommt bei Dickdarm¬
fisteln, die im Anschlüsse an Appendi-
citiden oder Schußverletzungen des Dick-
darms sich entwickeln: Zunächst wird
eine Darmquetsche zur Beseitigung des
Sporns angelegt. Dann nach etwa acht
bis vierzehn Tagen die Fistel ringsherum
angefrischt und die Schleimhaut vernäht,
darüber wird die Fascie geschlossen, wel¬
che zuvor durch zwei seitliche Einschnitte,
die in einer Entfernung von ungefähr
5 cm von der Wunde angelegt werden,
mobilisiert worden ist. Von dieser Stelle
aus wird ein kleiner Docht bis in die Nähe
der geschlossenen Fistel eingeführt. Der
beabsichtigte Zweck wird öfter nicht so¬
fort erreicht, sondern es bilden sich kleine,
schräge Fisteln, welche aber in der Regel
von allein ausheilen. Hayward.
(Zbl.f. Chir. 1917, Nr. 8.)
v. Haberer liefert einen Beitrag zum
arteriomesenterialen Duodenalverschluß.
Er knüpft dabei an eine eigene Arbeit über
dasselbe Thema aus dem Jahre 1913 an.
Vor allem verficht er den Standpunkt,
daß der arteriomesenteriale Duodenalver¬
schluß ein klares, von der alleinigen
Magendilatation ' verschiedenes Krank¬
heitsbild gebe. Es braucht nicht einmal
Magendilatation daneben zu bestehen.
Das Bild ist das eines hochsitzenden
Ileus; oberhalb des Verschlusses besteht
zunächst rege Magenperistaltik, unterhalb
sinkt der Leib immer mehr ein, das Er¬
brechen ist gallig. Die hohe Pulsfrequenz,
anders als bei der alleinigen Magen¬
dilatation, bleibt durch eine künstliche
Magenentleerung unbeeinflußt. Der Zu¬
stand ist anatomisch als eine Kom¬
pression des Duodenums durch die Radix
mesenterii zu beschreiben, die durch das
Zusammenwirken folgender Komponenten
entsteht: Zug nach unten, Druck von
24 *
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Mai,
. 188
oben nach unten und Druck von vorne
nach hinten. In dem vom Verfasser
operierten und sehr eingehend be¬
schriebenen Falle wurde der Zug des
Mesenteriums nach unten durch die Ver¬
lagerung des Dünndarms in das kleine
Becken veranlaßt, der Druck von oben
nach unten war, da kein diktierter Magen
bestand, nicht erheblich, er war wohl nur
durch die Verlagerung des großen Netzes
nach oben über den.Magen bedingt, der
von vorne nach hinten dagegen besonders
groß, da durch die vorangegangene
Operation zur Behebung einer großen
Rectusdiastase die sehr verschmälerte
vordere Bauchwand stark gespannt und
die Entfernung zwischen vorderer und
hinterer Bauchwand sehr verringert war.
Da der sehr bedrohliche Zustand durch
die angezeigte konservative Therapie:
— Magenwaschungen und die verschieden¬
sten Lageveränderungen — unbeeinflußt
blieb, wurde am siebenten Tage nach dem
ersten Eingriff von neuem operiert: der
Dünndarm wurde aus dem kleinen Becken
herausgehoben, worauf die Spannung der
Mesenterialwurzel aufhörte und die durch
Venenstauung hervorgerufene blaurote
Färbung der Dünndärme sofort der nor-
malenwich. Aber wegen unvollkommener
und träger Füllung des obersten Jejunums
wurde eine hintere Gastroenterostomie
angelegt. 22 Tage nach der ersten
Operation wurde die Patientin geheilt
entlassen. Die Gastroenterostomie,/ die
hier vorzügliche Dienste leistete, ist bei
einer ausgebildeten irreparablen Magen¬
dilatation, sei es allein, sei es in Ver¬
bindung mit dem arteriomesenterialen
Duodenalverschlusse, nutzlos. Schon da¬
rum ist die diagnostische Unterscheidung
zwischen Magendilatation einerseits und
arteriomesenterialem Duodenalverschlusse
andererseits von höchstem Werte.
Es kann eine Magendilatation primär
bestehen und durch Druck von oben nach
unten zu einem arteriomesenterialen Du¬
odenalverschlusse verhelfen, oder aber es
kann auch infolge eines solchen Ver¬
schlusses sekundär zu einer Magendila¬
tation kommen, wenn nicht rechtzeitig
eingegriffen wird.
Neben einer Operation in Narkose
wirken hochgradige Abmagerung und
Enteroptose prädisponierend für die Er¬
krankung. Hagemann (Marburg).
(Arch. f. klin. Chir. Bd. 108, H. 3.)
Ein Vortrag, welchen G. v. Hofmann
über Rassenhygiene und Fortpflan-
liner Gesellschaft für Rassenhygiene hielt,
galt der Klarstellung der verschiedenen
zungshygiene (Eugenik) in der Ber-
dies Thema betreffen den Bezeichnungen,
wie Eugenik,Rassenhygiene, Rassendienst,
Entartungslehre, Regenerationslehre, Auf¬
artung, Phylo- und Idiohygiene, Wohl¬
geborensein, Nationalhygiene, Sozial-, Ge¬
sellschafts-, Kultur- oder Volkshygiene,
die jüngsthin viel erörterte Bevölkerungs¬
politik nicht zu vergessen, nach deren .
Aufzählung er mit Recht äußert, daß da,
wo ein solches Durcheinander von Be¬
zeichnungen herrsche, eine Einigkeit hin¬
sichtlich des Gemeinten fehlen müsse.
Im Grunde genommen soll doch all das
in den Dienst zur Veredelung des Men¬
schen gestellt sein, die wissenschaftliche
Grundlage hierzu bildet die Lehre Dar¬
wins, die Vererbungslehre überhaupt, ln
den Ausführungen leuchtet das weit um¬
spannende Forschungsgebiet der deut¬
schen Rassenhygiene gegenüber der eng¬
begrenzten Eugenik der Engländer und
Amerikaner hervor, welche den Menschen
mit dem Auge des Tierzüchters betrachten,
seine angeborene Anlage für alles, seine
Umwelt als ein Nichts bewerten, ihr
Augenmerk lediglich auf Ausmerzung und
Auslese richten, der herabgesetzten
Fruchtbarkeit der Minderwertigen, der
erhöhten Fruchtbarkeit der Tüchtigen
ihre Aufmerksamkeit widmen. Wie weit
das geht und welche Konsequenzen dies
haben muß, belegt Vortragender an einigen
Beispielen, indem er auf das Unsinnige
solcher extremen Anschauungen mit vollem
Recht hinweist; so wird unter anderem
die Bekämpfung der Trunksucht für
schädlich erachtet, weil dadurch das Aus¬
sterben der trunksüchtig Veranlagten ver¬
hindert werde (!). Positive Eugenik
treiben mit dem Endziel: tüchtige Men¬
schen regelrecht zu züchten, ist ein
Unding. Es kommt darauf an, die Wohl¬
fahrt der Rasse, die Tüchtigkeit und
Leistungsfähigkeit der Nachfahren an¬
zustreben, also auf eine möglichst große
Anzahl tüchtiger Nachkommen hinzu¬
arbeiten, die Einzelwesen in ihrer Ge¬
samtheit zu erfassen. Der Untersuchungs¬
gegenstand übertrifft somit die Familie,
die Sippschaft, die Horde oder den
Stamm, das Volk,, die Nation oder die
Gesellschaft; dies sind keine Träger
dauernden Lebens. Dafür haben wir nur
den Begriff: Rasse. Die Lehre, welche
eine bestmögliche Entwicklung des Einzel¬
individuums anstrebt, heißt: Hygiene,
eine Unterabteilung der Biologie. Die
5. Heft
Therapie der Gegenwart. Anzeigen.
1Ö1*
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15
Therapie der Gegenwart. Anzeigen.
5. Heft
Das bekannte
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zustände der Adnexe, Erosionen der Portio, Oophoritis, Tumoren
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16
Mai* Die Therapie der Gegenwart 1917- 189
Lehre mit dem Ziel bestmöglicher Ent¬
faltung der Rasse ist als Rassenhygiene,
als Unterabteilung der Rassenbiologie an¬
zusprechen* Wohl gibt es eine Volks-,
eine Sozial- oder Gesellschaftshygiene, sie
befaßt sich mit der Individual- und
Rassenhygiene als einer Summe von ge¬
sellschaftlichen Maßnahmen. Die Ge¬
sellschaft aber ist kein Lebensträger, kein
Organismus, kein, biologischer Begriff,
deshalb kann es auch keine Hygiene der
Gesellschaft, noch viel weniger gar eine
Gesellschafts- oder Sozialbiologie geben.
Die Gesamtheit der Rassenhygiene läßt
sich in eine quantitative, die Geburten¬
häufigkeit und die Sterbeziffer betreffend,
und in eine qualitative, welche in der Aus¬
lese, in der Fortpflanzungshygiene (Zeu¬
gung, Vererbung, Variabilität, Schwanger¬
schaft), in der Hygiene der Fortpflanzungs¬
kräfte und in der Pflege der körperlichen
und geistigen Leistungsfähigkeit in dem
Kampf um das Dasein ihren Ausdruck
findet, einteilen. Die Bevölkerungspolitik
hingegen ist ein Zweig der Volkswirtschaft,
ihr Arbeitsfeld fällt mit dem der Rassen¬
hygiene zusammen. Es gilt aber, nicht
einseitig Bevölkerungspolitik zu treiben,
sondern das alles umspannende Gebiet
der Rassenhygiehe zu pflegen und zwar
in deutschem Geiste, in deutschem Sinne.
J. Waldschmidt (Nikolassee.)
(Öffentl. Gesundheitspflege 1917, H. 1.)
Über die Behandlung des Fleckfiebers
mit Nukleohexyl berichtet F. Levy.
Das Mittel, neutrales nukleinsaures Hexa¬
methylentetramin, entfaltet bei mehr¬
fachen intravenösen Injektionen' zehn¬
prozentiger Lösung beim Fleckfieber im
allgemeinen günstige Wirkungen, indem
es den Kranken Schlaf und Erleichterung
schafft und Temperaturremissionen her¬
vorruft. Der Krankheitsverlauf wird nach
seiner Anwendung milder und erträglicher.
Ein Specifikum ist das Nucleohexyl für
das Fleckfieber nicht.* Es wirkt chemi-
therapeutisch etwa wie die Halbspecifica,
z. B. Typhus- oder Colivaccine beim
Unterleibtyphus. Steigt das Fieber nach
dem der ersten Injektion folgenden kriti¬
schen Abfall erneut an, so soll eine er¬
neute Injektion von 10 ccm der zehn¬
prozentigen Lösung gegeben werden, so¬
bald die frühere Fieberhöhe wieder er¬
reicht ist. Hetsch (Berlin).
(Beitr. z. Klin. d. Infekt -Krkh. u. zur
Immun.-Forschung Bd. V, H. 3.)
Über die Fleckfieberepidemie in der
Zivilbevölkerung des General-
| gouvernements Warschau in den
Jahren 1915/16 berichtet Medizinalrat
Dr. Frey (Warschau), womit er ein¬
anschauliches Bild von der ’ enornten
Arbeitslast zur Bekämpfung und Ver-'
hütung der'uns im Heimatlande so gut
wie unbekannten Erkrankung bietet und
uns zeigt, in welch hervorragendem Maße
auch hinter der Front gegen ,,innere
Feinde“ vorgegangen wird, welche russische
Unkultur uns nebenbei auferlegt hat. In
der Tat, man kann dem bezeichneten Vor¬
gehen und den dadurch erzielten Erfolgen
die höchste Anerkennung nicht versagen,
besonders w^nn man die erschwerenden
Umstände in Betracht zieht, unter welchen
die Arbeit vor sich’ ging und geht. Hat
man es doch mit einer Bevölkerung zu
tun, die seit Jahrhunderten gleichsam im
Schmutz erstarrt, unwissend und un-
belehrt, wenn auch nicht unbelehrbar ist.
Es handelt sich vorwiegend um die.
jüdischen Bewohner jener Gegend, welche
95 % der Erkrankung betraf, die sich
im übrigen auf solche Personen erstreckte,.*
welche in engstem Verkehr zu den Juden
standen. Von den 14 354 beobachteten
Fleckfieberfällen im Verwaltungsbezirk
gingen 1357 tödlich aus. In Lodz kamen:
3057 Erkrankungen mit 357 Todesfällen
vor; in Warschau nebst Vororten waren
die betreffenden Zahlen 4059 beziehungs¬
weise-260; sonach waren die beiden
größten Städte mit rund 50 % beteiligt.
Die Epidemie begann am 20. November
1915, sie erlosch am 1. Oktober 1916.
Bezüglich der Bekämpfurigsmaßnahmen
wird berichtet, daß die strickte Durch¬
führung des deutschen Seuchengesetzes
eine glänzende Feuerprobe angesichts der
unglaublichen hygienischen Mißstände be¬
standen habe. Die Quarantäne wurde
bei Ansteckungsverdächtigen auf drei
.Wochen erweitert; Anzeigepflicht,, aus¬
giebiger Nachrichtendienst eingeführt,
Merkblätter verfaßt und vertrieben, Ab¬
sonderungshäuser (300) ins Leben gerufen,
bakteriologische' Untersuchungsstationen
errichtet, Dampfdesinfektionsapparate be¬
schafft, besondere Leichenhallen mit
Leichenschau und vor allem Entlausungs¬
anstalten (141) traten in Wirksamkeit.
Ein besonderes Augenmerk hatte man
auf die Flößer'auf dem Bug, dem Narew
und der Weichsel; es wurden im August
allein 884 solcher Personen untersucht.
Fahrenden Gesellen und Vagabunden
wurde eine ganz besondere Aufmerksam¬
keit gewidmet, sie wurden teilweise in
Gefängnissen gehalten, beobachtet und
190
Mai
Die Therapie der Gegenwart 1917.
behandelt. Schließen, Entlausung und
Reinigung der jüdischen Chederschulen
und Bet- und Badehäuser, ebenso auch
der öffentlichen Lokale, selbst auch der
Privatwohnungen mit nachfolgender Rei¬
nigung, Verbrennung von Unrat mußte
vielfach angeordnet werden; das Abhalten
von Märkten wurde zeitweilig verboten
und der Verkehr überhaupt nach Möglich¬
keit beschränkt. Um die verlausten
Städte ward ein doppelter Sperrgürtel
gezogen, wodurch ein kontrolloses Ab¬
wandern zur Unmöglichkeit wurde.
Streng durchgeführte Maßnahmen haben
es vermocht, eine Übertragung auf die
zirka 100 000 Besatzungstruppen auf ein
Minimum (es kamen nur 55 Erkrankungen
darunter vor) zu reduzieren; ebenso gelang
es, die rund 180000 Ab wandernden nach
Deutschland so gut wie gesund über die
v Grenze ziehen zu lassen; es stehen hier
•sogar nur zwölf Erkrankungen verzeichnet,
wovon acht Juden betrafen. In der
deutschen Zivilbevölkerung kamen fünf
Fälle vor. Bei dem kulturellen Tiefstand
'der Juden, welche im Verwaltungsbezirk'
mit rund 1 700 000 Köpfen vertreten
sind, angesichts des unruhigen Umher¬
ziehens im Lande, bei dem unsäglichen
Schmutz ihrer Behausungen und Handels¬
objekte ist die Beherrschung der- Fieber¬
erkrankung außerordentlich. Es ist er¬
wiesen, daß die Laus und zwar die
Kleiderlaus (nicht die häufig vorkommende
Kopflaus) durch ihren Stich Fleckfieber
hervorzurufen imstande ist, sofern sie
Fleckfieberkeime in sich birgt; die Laus
ist also lediglich der Keimträger. Ehe
die letzte Laus in Polen vertilgt ist und
die Bevölkerung gegenüber diesem Feinde
selbständig Maßnahmen ergreift, wird
wohl noch einige Zeit ins Land gehen.
Zur Belehrung sind große Flugblätter in
jiddischer Sprache zur-Verteilung ge-,
kommen, an allen öffentlichen Gebäuden
und Plätzen bekannt gegeben, in Schulen
und Synagogen dafür gewirkt. Die be¬
sprochene Epidemie umfaßte gleichmäßig
beide Geschlechter. Kinder sind im all¬
gemeinen leichter über die Erkrankung
hinweggekommen, das Exanthem ist bei
diesen gering, oftmals gar nicht vor¬
handen; Todesfälle sind bei Kindern
selten; in Warschau starben daran 1,5%,
in Lodz nur 0,7%, gegen 7,8% be¬
ziehungsweise 17,2 % bei Erwachsenen.
Die höhere Sterbeziffer in Lodz wird
darauf zurückgeführt, daß vielfach Lungen¬
tuberkulose gleichzeitig vorkam.
Es ist oft schwer, Fleckfieber von Ab¬
dominaltyphus zu unterscheiden; be¬
sonders wenn Typhusepidemien vorhanden
sind, bleiben Irrtümer nicht aus. Hier
kann nur die bakteriologische und sero¬
logische Untersuchung helfend den Aus¬
schlag geben. Immerhin ist die Sache
nicht so einfach, denn positiyer Widal
kann sowohl bei bestehendem wie bei über¬
standenem Typhus Vorkommen, auch die
Folge von Schutzimpfung sein; negativer
Widal kann für Fleckfieber sprechen,
widerspricht aber auch zuweilen dem
Vorliegen eines Typhus nicht. Widal--
Untersuchungen ergeben also erhebliche
Schwierigkeiten bei der Beurteilung; die
klinische Beobachtung bleibt die Haupt¬
sache. — In neuester Zeit scheint es, als
ob die serologische Untersuchung nach
Weil-Felix die Diagnose entscheiden
könne. J. Waldschmidt (Nikolassee).
(Öffentl. Gesundheitspflege 1917, H. l.j
In einer ungewöhnlich interessanten
Form legt Hagedorn die Erfahrungen
über Behandlungsziele und -ergebnisse bei
Schußverletzungen der Gelenke und
ihrer Umgebung nieder, die sich ihm
im Laufe dieses Krieges bei Gelenkschuß-
verletzungen im Heimatlazarett ergeben
haben. Es wird von der Anführung
einzelner Krankengeschichten Abstand
genommen und bei jedem größeren Ge¬
lenke kritisch besprochen, welches die
besten Ergebnisse sind, die wir in den
verschiedenen Fällen zu erwarten haben
und welche Arten von Maßnahmen uns
zur Verfügung stehen, um jeweils das
beste Resultat zu erzielen. Es ergibt sich
hierbei, daß es ganz unmöglich ist, prin¬
zipielle Regeln aufzustellen, sondern es
muß von Fall zu Fall entschieden werden,
ob und welche Operation notwendig ist,
wann und wie mit der medico-mechani-
schen Behandlung anzufangen ist. Es
kann nicht im Rahmen eines Referates
liegen, die Ausführungen des Verfassers
hier wiederzugeben, sondern es muß .
darauf hingewiesen werden, daß jeder,
der .sich mit hierher gehörigen Fällen zu
befassen hat, die Hagedornsche Arbeit
genau studiert. Er wird sicher ihr vieles
Neue und manche Anregung verdanken.
(D. Zschr. f. Chir. Bd. 138.) Hay ward.
Über abortive Behandlung von aku¬
tem Gelenkrheumatismus macht A. Edel-
mann in einer vorläufigen Mitteilung Vor¬
schläge. Er knüpft an die Arbeit von
Saxl über die pyrogenen Eigenschaften
der parenteral dargereichten Milch an
Mai ; Die Therapie der
und weist darauf hjn, daß man bei Bu¬
bonen die Milchinjektionen mit Erfolg
angewandt hat (R. Müller). Ferner hat
in der letzten Zeit L. Müller sehr gute
Resultate mit Milchinjektionen bei akuten
entzündlichen Erkrankungen des Auges
erreicht. Edelmann stellte nun ähnliche
Versuche mit Milch bei Gelenkrheumatis¬
mus an. Allerdings sind seine Resultate,
soweit sich dies aus seiner vorläufigen
Mitteilung entnehmen läßt, nicht ganz
eindeutig/ weil er gleichzeitig Salicyl-
präparate gibt. Die Technik ist sehr, ein¬
fach. Man injiziert 10 cm sterilisierte
Milch in die Oberschenkel. Vier bis fünf
Stunden nach der Injektion tritt Schüttel¬
frost auf, der aber schnell wieder abklingt,
und Temperatursteigerung. Schon am
nächsten Tage fällt die Temperatur wieder
zur Norm ab. Nach dem Schüttelfröste
wird Salicyl verabreicht; Bereits zwölf
Stunden nach der Injektion sollen die
• Schmerzen nachlassen und die Erschei¬
nungen des Rheumatismus zurückgehen.
Edelmann sah in keinem Falle eine
Endokarditis, obwohl es sich zum Teil um
schwere Fälle handelte. Salicyl wurde
noch eine Woche hindurch in Dosen von
5 g pro Tag, darauf drei Tage lang 3 g
und am nächsten Tage 1. g gegeben.
(W. kl. W. 1917, Nr. 10.) Dünner.
Über die operative Entfernung tief im
Knochen liegender Geschosse berichtet
Wolff. In vielen Fällen machen selbst
bei reaktionslosem Wundverlaufe im Kno¬
chen sitzende Geschosse dem Träger er¬
hebliche Beschwerden, so daß man zu
deren Entfernung schreiten muß. Die
übliche Methode besteht darin, daß nach
Aufmeißelung des Knochens und Entfer¬
nung des Projektils in den Knochen eine
flache Mulde gemeißelt wird, in die sich
dann die Weichteile wieder hineinlegen.
Ist der Sitz des Geschosses in der Epi¬
physe, dann nimmt man durch einen
lappenförmigen Hautschnitt schon auf
diese Verhältnisse Rücksicht. Die Kon¬
solidierung des Knochens nimmt natur¬
gemäß eine gewisse Zeit in Anspruch. In
einem hierher gehörigen Falle ist Ver¬
fasser so vorgegangen, daß er ein keilför¬
miges Stück aus dem Knochen heraus¬
meißelte, das Projektil entfernte und dann
das Knochenstück wieder an seinen alten
Platz brachte, wo es reaktionslos ein¬
heilte. Dieses Verfahren ist natürlich nur
da anwendbar, wo keinerlei Abscedierung
im Knochen vorhanden ist. Findet man
dagegen eine Eiterung, so ist nichts ge-
Gegenwart 1917. 191
schadet, sondern die Operation kann in
der althergebrachten Weise zu Ende ge¬
führt werden. Hayward.
(D. m. W. 1917, Nr. 8.) 1 •
Über Gonokokkerisepsis, ausgezeichnet
durch gonorrhoisches Exanthem und go¬
norrhoische Phlebitis berichtet Rudolf
Massini aus der Medizinischen Klinik in
Basel. Der Fall bietet besonderes Inter¬
esse durch das Fehlen von Urethra¬
erscheinungen und Gelenkschmerzen, wo¬
durch die Diagnose erschwert- wurde, und .
durch Lokalisation der Sepsis in der Vena
temoralis bei Freibleiben der Herzklappen,
und eine ungewöhnliche Form des Exan¬
thems. Fälle von Meningitis mit fast ‘
gleichen Symptomen sind nicht ganz
selten beobachtet worden. Auch an die
Diagnose Flecktyphus wurde anfangs ge¬
dacht, der Patient wurde mit dieser
Diagnose ins Lazarett geschickt.
Es handelte sich um ein-en 25jährigen
Kaufmann, der außer Masern keine andere
Erkrankung durchmachte. Zwei Tage vor
Eintritt ins Lazarett klagte er über Kopf¬
weh und Schwäche in den Beinen. Am
nächsten Tage kam- dazu Ausschlag an
den Händen und Temperatur von .39°.
Bei der. Aufnahme hat sich das Exanthem
ausgebreitet, ist stellenweis hämorrha¬
gisch geworden. Geringe Druckempfind¬
lichkeit der Gelenke und Muskeln. In
den nächsten Tagen Auftreten von neuen
Flecken, der Stuhl häufig etwas dünn,
Zahnfleischblutungen, geringe Leuko-
cytose. Das Exanthem-fängt an in den
nächsten Tagen abzublassen. Blut¬
kulturen ergeben Gonokokken. Remit¬
tierendes Fieber zwischen 39 und 40°.
Aus der Urethra läßt sich kein Sekret
gewinnen, Zweigläserprobe negativ. Am
rechten Nebenhoden kleine wenig schmerz¬
hafte Verdickungen, Prostata o. B. 14Tage.
Später zahlreiche, den ganzen Körper,
auch das Gesicht bedeckende Papeln,
in der Mitte vesikulös, stellenweis blau¬
rote Hämorrhagien. Auch auf der Mund¬
schleimhaut, besonders an der Innenseite
der Unterlippe und am harten und
weichen Gaumen Exanthem. An den
Streckseiten der Extremitäten ist das
Exanthem sehr viel reichlicher als an den
Beugeseiten vorhanden.
Aus der Tiefe des leicht geröteten
Orif. urethrea läßt sich- mit der Öse
etwas schleimiges Sekret herausholen.
Rechter Funiculus spermaticus ist derber
und dicker als linker. Cauda epididymis
ist rechts überbohnengroß, derbe Ver-
< härturig, die sich in den Funiculus sper-
maticus fortsetzt. (Typische Epididymitis
gonorrhoica.)
Die Kräfte des Patienten nehmen ab,
Puls wird unregelmäßig. Sekret aus der
Fossa navicularis ergibt unter anderen
auch gramnegative Kokken.
In den folgenden Tagen. Leber¬
schwellung, systolisches Geräusch am
Herzen. Auch neue Efflorescenzen. Trotz
intravenöser Electrargolgaben, auch eines
Versuchs mit. Optochin am. .30.' Tage
Exitus letalis. Die anatomische Diagnose
ergab Gonokokkensepsis; Epididymitis •
dextra. Thrombose des Plexus prostaticus,
der Vena hypogastrica und der Vena
femoralis mit eitriger Einschmelzung der¬
selben. In den Thromben der Vena
femoralis konnten nach längerem Suchen
gonokokkenartige intracelluläre Bakterien
nachgewiesen werden.
Besonders auffallend in dem Verlauf
dieses Falles war das Fehlen der Zeichen
der Urethraerkrankung bei ausgesproche¬
ner gonorrhoischer Sepsis. Es ist aber
nicht selten, daß zu Beginn einer fieber¬
haften Erkrankung . der Ausfluß ver¬
schwindet und nach Ablauf derselben
wiederkehrt. Auch das Gegenteil, Ver¬
mehrung des Ausflusses mit Ausbreitung
des Prozesses, kommt vor. Eine sichere
Erklärung für das Verschwinden des Aus¬
flusses bei Allgemeinerkrankung ist nicht
zu geben. Vielleicht werden die Gono¬
kokken durch das Fieber abgeschwächt,
aber sie wachsen doch auch in anderen
Fällen trotz lange dauernden ' hohen*
Fiebers. E. Benecke (Berlin).
(Zschr. f. klin. Med. Bd. 83 H. 1/2.)
Ringel stellt den Satz auf, daß jeder
Knochenbruch der Extremitäten, welcher
sich auf unblutigem Wege nicht so weit
reponieren läßt, daß ein gutes funktionelles
Resultat mit Sicherheit zu erwarten ist,
der operativen Osteosynthese zugeführt
werden muß. Außer dieser relativen In¬
dikation kennt er noch eine absolute für
die Pseudarthrosen und die in schlechter
Stellung geheilten Brüche. Er erwähnt
zunächst die Gründe, welche eine voll¬
kommene Reposition verhindern. Als
solche Repositionshindernisse hat er Ver¬
haken der Bruchenden, Verdrehung der
Fragmente gegeneinander und Durch-
spießung eines Bruchendes durch einen
kleinen Periostriß und Weichteilinter¬
positionen gefunden. Als die geignesten
Methoden für die blutige Vereinigung von
Knochenbrüchen hält er die einfache
blutige Reposition und Verzahnung' der
Fragmente, die Knochennaht, die Bolzung
mit lebendem autoplastischen Knochen¬
material nach Lexer. Bei der Operation
ist ganz besonderer Wert auf eine sorg¬
fältige Desinfektion zu legen. Die Wunden
müssen möglichst glatt sein, das Periost
darf aus seiner Verbindung mit den Weich¬
teilen nicht gelöst werden. Genügt die
einfache Verzahnung nicht, so kann man
mit einer dicken Seidennäht oder einer
Drahtnaht, besonders bei Schrägbrüchen,
zum. Ziele kommen. Wird auch hierdurch
eine feste Fixierung nicht erreicht, so ist
die Bolzung mit einem Periostknochen¬
stücke der Tibia oder mit einem sub¬
periostal ausgelösten Fibulastücke, das die
ganze Dicke dieses Knochens umfaßt,
das gegebene Verfahren. Es muß dabei
besonders darauf geachtet werden, daß
die Bolzen fest eingekeilt werden. Eine
Schädigung des Unterschenkels durch
Entnahme des 'Fibulabolzens entsteht
nicht, da von dem erhaltenen Periost
die Fibula schnell wieder gebildet wird.
Bei der Naht komplizierter Frakturen
muß mit der Operation lange Zeit ge¬
wartet werden, da sonst sehr leicht eine
Eiterung den Erfolg zunichte machen
kann. Die guten Erfolge dieser Methoden
werden durch 44 Krankengeschichten mit
den dazugehörigen Röntgenbildern illu¬
striert. Hagemann (Marburg).
(D. Zschr. f. orth. Chir. Bd. 139, H. 5 u. 6.
Schmincke berichtet über die Be¬
handlung der Krätze durch das Schwe¬
felbad, das er im Genfer Bürgerhospital
kennengelernt hat. Das Verfahren stammt
von Vlemingk.
Es befinden sich in einem Neben¬
gebäude des Hospitals drei Badezellen
und ein durch Gasflammen zu erwärmen¬
der Heißluftschrank zur Kleiderdesinfek¬
tion. Mit der Behandlung der Kranken ist
ein Wärter und eine Wärterin beauftragt.
Nachdem der Kranke sich entkleidet
hat, werden seine Kleider in den auf 150°
erhitzten Schrank gehängt, in welchem
dieselben während, der ganzen Prozedur
bleiben. t Der Patient tritt nun auf ein
weißes Tuch und wird mittels einer
Wurzelbürste mit grüner Seife bis an den
Hals sorgfältig bestrichen. Darauf kommt
er mit der Seifenlösung in ein Wasserbad
von 39° C 20 Minuten lang.
Während des Badens achtet der Wär¬
ter darauf, daß der Kranke bis zum Hals
vollständig untergetaucht ist. Nach dem
Bade wird er mit einem Frottiertuche ab-
Mai
193 '
Die Therapie clet
gerieben und gut abgetrocknet. Hierauf
wird der ganze Körper wiederum mit einer
anderen Bürste und Calciumsulfatlösung
eingebürstet und. darauf vor dem offenen
Gasfeuer, das den Heißluftschrank er¬
wärmt, zehn bis fünfzehn Minuten ge¬
trocknet. Darauf kommt er in ein frisch¬
bereitetes Schwefelbad von 39° C wiederum
für 20 Minuten. Dieses wird dadurch her¬
gestellt, daß man in einem Wasserbade
den Rest der Calciumsulfatlösung, welche
zum Einbürsten des Körpers verwandt
wurde, verrührt. Es wird pro Patient 1 1
Calciumsulfatlösung verwandt. Nach dem
Bade wird der Patient abgetrocknet und
erhält seine desinfizierten Kleider. Es
wird ihm dann noch aufgetragen, seine
Bettwäsche zu wechseln. Im ganzen
dauert die Prozedur, etwa anderthalb
Stunden. Dünner.
(M. m. W. 1917, Nr. 9.)
Sieb eit macht auf einen ätiologischen
Faktor für die gewöhnlich unter der
Bezeichnung Kriegsherz zusammenge¬
faßten Zustände des Herzens aufmerksam,
der wohl .nicht allgemein genügend be¬
achtet werden mag. Das ist der Tabak,
dessen Gebrauch und Mißbrauch der
Krieg ungeahnt entwickelt hat. Ob man
nun das Nicotin als den hauptsächlichen
Faktor der Giftwirkung des Tabaks an¬
sieht oder die Pyridinbasen, feststehend
ist die Wirkung auf das Circulations-
system, sei es auf dem Umweg über das
Nervensystem oder direkt. Unter den
Herzneurotikern fanden sich denn auch
besonders unter den jüngeren Jahrgängen
.auffallend zahlreiche Fälle, die bei starker
Unruhe und ,,Tabakshunger ,, ana¬
mnestisch einen schweren Tabakmi߬
brauch zugaben (bekanntlich wird auch
der Tabakverbrauch wie der Alkohol¬
verbrauch anamnestisch meist zu gering
angegeben). Die Schädigung traf hier
also jugendliche, oft an Tabakgenuß
vorher nicht gewohnte Leute in Kon¬
kurrenz mit den übrigen Schäden.
Therapeutisch wird bei Herzneurosen
einmal auf den Tabakverbrauch zu achten
sein und absolutes Rauchverbot einzu¬
treten haben — die Ausfallserscheinungen
sind ja sehr gering —, sodann aber neben
Entzug des Alkohols eine milde Bäder¬
behandlung (bis 35° 20 bis '30 Minuten
lang, auch mit aromatischen Zusätzen)
änzuwenden mit folgender Bettruhe.
Mit C0 2 -Bädern, besonders künst¬
lichen und Moorbädern, ist einige Vor¬
sicht am Platze, da sie meist mehr er¬
regen wart 1917.
regend wirken, dagegen bewährten sich
hier und da kühle Berieselungen der
Herzgegend im lauen Bade.
(M. Kl. 1917, Nr. 3) Waetzoldt.
Lidplastik bei gleichzeitigem
Bindehautdef ekt hat Kalb ausgeführt.
Plastische Operationen im Gesicht müssen
jetzt verhältnismäßig oft vorgenommen
werden. Bei Defekt eines Unterlids bei
gleichzeitigem Verluste des Auges hat sich
dem Verfasser folgendes Verfahren gut
bewährt: In Lokalanästhesie wird ein
Hautlappen gebildet, dessen Basis an
der gleichseitigen Schläfe liegt, während
die Spitze des zungenförmigen Lappen¬
etwas seitlich vom Mundwinkel sich bes
findet. Während der obere Teil des
Lappens lediglich aus Haut und Unter¬
hautfettgewebe besteht, wird bei dem
unteren Drittel die Mundschleimhaut mit¬
genommen. Der ganze Lappen wird jetzt
nach.oben geschlagen und so in den Defekt
in die Orbita hineingelagert, daß die
Mundschleimhaut zur Conjunctiva wird.
Später kann dann noch je nach Bedarf
zur Stütze für das Lid ein Stückchen
Knorpel frei transplantiert werden.
(Zbl.f. Chir. 1916, Nr. 30.) Hayward.
Über tödliche Luftembolie nach
Lufteinblasung in die Oberkiefer¬
höhle berichtet Neugebauer. Der Fall,
der ein großes praktisches Interesse
hat, betrifft einen 26 Jahre alten
Menschen, welcher an einer sechs
Wochen lang bestehenden Eiterung der
Oberkieferhöhle litt. Es wurde eine
Probepunktion der rechten Oberkiefer¬
höhle vom unteren Nasengang her nach
Cocainisierung vorgenommen. Die Punk¬
tion verlief ohne Komplikationen und es
wurde in der üblichen Weise mit einer
Spritze Luft eingeblasen, wobei man ein
Brodeln hörte, als wenn Luft und Flüssig¬
keit sich mengt; dieses Geräusch wurde
nach der zweiten Lufteinblasung nicht
mehr vernommen. Sofort im Anschlüsse
an diese wurde der Kranke ohnmächtig
und zeigte vorübergehende Zuckungen.
Hierbei war der Puls sehr verlangsamt
und unregelmäßig. Nach einer halben
Stunde kehrte das Bewußtsein langsam
wieder und' etwa eine Stunde nach der
Punktion machte der Patient einen voll¬
kommen normalen Eindruck. Er setzte
sich dann im Bette aufj brach plötzlich
zusammen und starb nach wenigen Minu¬
ten. Bei der Sektion wurden die typischen
Zeichen der Luftembolie gefunden. Es
25
194
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Mai
war Luft außer im Herzen, in dem jegliche
Spur von Blut fehlte, vorhanden in den
Venen der Pia, Jugularvenen, in der
Leber und in den Mesenterialgefäßen. Die
Durchsicht der Literatur beweist, daß
sogenannte üble Zufälle nach der Luft¬
einblasung nicht selten sind, und Verfasser
betont mit Recht, daß man die Ursache
dieser üblen Zufälle in ähnlichen Verhält¬
nissen zu suchen hat, wie in seinem Falle.
(Zbl. f. Chir. 1917, Nr. 7.) Hayward.
E d e n bringtVersuche über die spontane
Wiede rvereinigung durchtrennter Ner¬
ven im strömenden Blut und im leeren Ge¬
fäßrohre. Die interessanten experimen¬
tellen Untersuchungen entstammen der
Lexerschen Klinik.. Nachdem es sich
gezeigt hat, daß die Zwischenlagerung
verschiedener Substanzen bei durchtrenn¬
ten Nerven, deren Diastase so erheblich
ist, daß die Idealmethode, die Vereinigung
durch die Naht, nicht ausführbar ist,
oft in Stich läßt sind inader letzten
Zeit verschiedene Methoden angegeben
worden, welche dem erhofften Ziele
näherbringen sollten. Das bekannte
Verfahren von Edinger hat heute als
abgelehnt zu gelten. Wichtig und inter¬
essant sind dieUntersuchungen von Be the,
welcher Leichennerven erfolgreich zu¬
nächst beim Tier eingepflanzt hat. Die
Resultate von Eden, welche bisher eben¬
falls nur am Tiere haben gewonnen werden
können, stützen sich auf folgende Ex¬
perimente: Er durchtrennte .Nerven,
welche in der Nähe großer Gefäße ver¬
laufen und pflanzte bei einer Öiastase
von einigen Zentimetern die Nerven-
stümpfe in das benachbarte Gefäßrohr
ein, teils in die Vene, teils in die Arterie.
Blieb der Kreislauf erhalten, was nicht
immer der Fall war, so wurde ein Aus¬
wachsen der Nerven im strömenden Blute
beobachtet, welches schließlich zur Ver¬
einigung der Nervenstümpfe führte. War
dagegen das Gefäßrohr leer, dann trat
niemals eine Vereinigung ein. Die Dauer
bis zur' Wiederherstellung eines normalen
Nervenstücks betrug 62 Tage.
Hayward.
(Arch. f. klin. Chir. Bd. 108.)
Reinhard geht in einer ausführ¬
lichen Arbeit auf die Novcciinleitungs-
anästhesie ein. Er schildert zunächst die
im wesentlichen bekannten Vorteile dieser
Methode gegenüber der Inhalationsnarkose
und die für die Anwendung der Lokal¬
anästhesie bekannten Kontraindikationen.
Das eigentliche Thema seiner Arbeit be¬
handelt die centrale Leitungsanästhesie
des N. trigeminus, die paravertebrale, die
sakrale und parasakrale Anästhesie, die
thorakale Anästhesie der nn. intercostales,
die Plexusanästhesie nach Kulenkampff,
die paravertebrale und sakrale Anästhesie
der Beinnerven. Er geht genau auf die
bekannte Technik dieser Methoden ein.
Er ist mit den geschilderten Methoden
so außerordentlich zufrieden, daß, seiner
Ansicht nach, jede Operation in Leitungs¬
anästhesie möglich ist. Die angeschfossene
Statistik über 584 Operhtionen in zen¬
traler Leitungsanästhesie führt fast sämt¬
liche größere Operationen im Bereich des
Gesichtes, des Halses, der Brust, des
Bauches, des Beckens, der Arme und der
Beine auf. Hagemann (Marburg).
(D. Zschr. f. Chir. Bl 139 H. 5 u. 6.)
Die eitrige Osteomyelitis der Patella
stellt eine seltene Erkrankung dar. In
der Literatur sind bisher nur 13 Fälle
beschrieben, denen Walther zwei weitere
Beobachtungen zur Seite stellt, welche in
der Lexerschen Klinik haben gemacht
werden können. In dem einen Falle ent¬
stand das Leiden bei einem ’öjährigen
Jungen im Anschluß an ein Trauma,
während der zweite Fall bei einem
11jährigen Knaben sich ohne erkennbare
Ursache entwickelte. Der erste Kranke
kam in akutem Stadium in die Klinik,
bei dem anderen war bereits das chroni¬
sche Stadium erreicht und Fistelbildung
vorhanden. Die Diagnose der akuten
Patellarosteomyelitis ist kaum zu stellen,
denn das Krankheitsbild unterscheidet
sich durch nichts von der Bursitis prae-
patellaris, während im chronischen Sta¬
dium die Diagnose, namentlich durch die
Kontrolle desRöntgenbildes, keineSchwie-
rigkeiten macht. Die Therapie ist eine
operative, die Prognose ist günstig.
Hayward.
(Arch. f. klin. Chir. Bd. 108.)
Wilms wendet die Drainage des
Douglas nach dem Mastdarm in
schweren Fällen von Peritonitis beim
Manne an. Während der Operation geht
er mit einer Kornzange bis an den tiefsten
Punkt des Douglas, durchsticht das Rec¬
tum unter Kontrolle zweier in den Mast¬
darm eingeführter Finger. Mit dieser
Kornzange 'wird dann ein Gummirohr
durch den Anus in den Bauchraum hinauf
gezogen. Das Gummirohr muß so lang
sein, daß es durch den Anus hindurch
nach außen endet. Dann beginnt die
Spülung der Bauchhöhle, welche infolge
Mai
Die Therapie der Gegenwart 1917.
195
des Abflusses des Inhalts der Bauchhöhle
durch das Drainrohr besonders gründlich
erfolgen kann. Das Drain bleibt dann
während der Nachbehandlung liegen. Ist
das Loch in der Darmwand so klein, daß
es das Drainrohr fest umschließt, so
können auch Dauerklistiere neben dem
Drainrohr ohne Störung gegeben werden.
Hag"mann fMarburg).
(D. Zschr. f. Chir. Bd. 136. H5u6.)
Regeneration und Narbenbildung in
offenen Wunden, die Gewebslücken auf¬
weisen, war der Gegenstand eines Vor¬
trages, welchen Bier am 7. Februar 1917
in der Berliner Medizinischen Gesellschaft
gehalten hat. Der Vortrag stellt' einen
Teil von Ergebnissen dar über Unter¬
suchungen auf dem Gebiete der Re¬
generation, deren Veröffentlichung für
später in Aussicht gestellt wird. Ver¬
fasserbetont, daß die moderne Chirurgie,
welche vollkommen auf die aseptische
Wundbehandlung eingestellt ist, das wich¬
tige Kapitel der Regeneration stark ver¬
nachlässigt hat. Die Hauptbedingungen
für die Regeneration fortgefallenen Ge¬
webes beim Menschen sind: 1. die Er¬
haltung'der Lücke, das heißt wenn man
z. B. zu Transplantationszwecken ein
Stück aus dem Schienbein wegnimmt,
muß man die Haut darüber vollkommen
exakt schließen, ohne daß sie sich in den
Defekt einstülpt. Dann läuft die Höhle
voll von Blut, es kommt in. kürzester
Zeit zur vollkommenen Wiederherstellung
des Knochens und die Narbe der Haut
bleibt auf der Unterlage verschieblich;
2. der Nährboden: nicht jedes Gewebe
gibt für die Regeneration den gleichen
Nährboden ab; es gibt anspruchsvolle und
anspruchslose Gewebe; 3. das Blut bietet
bei genügender Blutzufuhr allen Geweben
die nötige Nahrung, welche sie bedürfen;
4. Fremdkörper sind für die Regeneration
störend; 5. die größte Gefahr bietet die
Infektion; 6. um eine richtige Ausfüllung
der Lücke zu erzielen, bedarf das be¬
treffende Glied der Ruhe; 7. die Wärme
stellt ein ausgezeichnetes Unterstützungs¬
mittel dar, ebenso wie die Feuchtigkeit
und endlich ist von besonderem Einfluß
das Alter des betreffenden Individuums.
Wenn man diesen Gesichtspunkten,
welche den regenerativen Vorgängen der
geschlossenen Wunde entnommen sind,
bei der offenen Wunde nachgeht, so er¬
gibt sich, daß nur ein ganz geringer Teil
bei diesen zutrifft. Wir sind daher ge¬
wohnt, bei offenen Wunden mit einer
Narbenbildung zu rechnen, welche mit
den Narben der erst beschriebenen Art
keinen Vergleich aushält. Die Ursachen
für diese Erscheinung werden an dem
Beispiele der schlechten Heilung einer
Knochenhöhle dargelegt. Genaue Beob¬
achtungen bei der Thierschschen Trans¬
plantation zeigen, daß in dem Augen¬
blick, in dem die Epidermisläppchen zur
Anheilung kommen, eine derbe Narben¬
bildung der Unterlage einsetzt, wofern
man auf Granulationen und nicht auf
frische Wundflächen transplantiert.
Auch hier fehlt die regenerative Eigen¬
schaft des Blutergusses. Ein weiteres
Beispiel: In Fällen, in denen es zu einer
tiefen Einziehung der Hautnarbe nach
Knocheneiterungen gekommen ist, nützt
die subcutane Abtrennung der Narbe mit
gleichzeitiger Saugbehandlung ganz außer¬
ordentlich, während die Saugbehandlung
allein nicht zum Ziele führt. Alles in
allem kann man sagen, daß die Aus¬
füllung einer Knochenhöhle durch Gra¬
nulationsgewebe nicht in hinreichendem
Maße stattfindet, um für das von der
Haut her herankriechende Epithel einen
günstigen Mutterboden abzugeben. Ge¬
lingt es, die Ursachen der schlechten
Narbe zu vermeiden, so muß es möglich
sein, bessere Heilungen zu erzielen. ’ Hier
leitet uns das Beispiel der subcutanen
Regeneration. Wurde eine offene Knochen¬
wundhöhle mit wasserundurchlässigem
Stoff so bedeckt, daß dieser die Höhle
überbrückte, so füllt sie sich bald mit
Wundsekret, welches sich bald in Eiter
verwandelt. Läßt man einen derartigen
Verband vier Wochen liegen, so ergibt
sich, daß die Höhle nach Abspülen des
Eiters mit ausgezeichneten Granulationen
bedeckt ist, daneben haben sich Rand¬
schorfe gebildet, unter denen die neuge¬
bildete Epidermis sich vorgeschoben hat.
Hieraus ergibt sich, daß der Eiter einen
guten Nährboden für die Granulations-
bildung abgibt, wobei eine vorzeitige
Epithelisierung verhindert wird. Legt
man jetzt einen Salbenlappen auf, so
geht die Epithelisierung über diese gute
Granulation schnell vor sich, wobei die
Epidermis einen wesentlich besseren Ein¬
druck macht, als wir sie sonst zu sehen
gewohnt sind.
Im zweiten Teil der Arbeit kommt
Bier zunächst auf den Vorgang der
Heilung bei den nicht aseptischen Höhlen
zu sprechen. Es war auffallend, daß die
Methode, welche doch nach landläufigen
Ansichten zu einer Verhaltung führen
25*
196
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Mai
müßte, niemals zu Erysipelen, Furunkeln
itsw. Veranlassung gegeben hat. ln den
14 Fällen blieb nur ein einziges Mal eine
befriedigende Ausfüllung der Knochen¬
höhle aus. Viermal blieb eine kleine
Fistel zurück, welche nach Entfernung
-eines Nachsequesters ausheilte. Weiter¬
hin wurde das Verfahren' ausgedehnt auf
die Behandlung von Unterschenkelge¬
schwüren und Amputationsgeschwüren
bei Verwundeten. Hier heilten von neun
sehr hartnäckigen Geschwüren vier voll¬
kommen aus, aber auch bei den Mi߬
erfolgen war die gute Granulationsbildung
unverkennbar. Als unterstützend kommen
in Betracht der feuchte Verband, die
offene Wundbehandlung, die Lichtbehand¬
lung und die von Bier in seinem Buche
,, Hyperämie als Heilmittel“ angeführte
Verbandmethode mit dem Handtuchver¬
band. Die interessanten* Ausführungen
werden in einer Reihe von Leitsätzen
zusammengefaßt, aus denen hier re¬
ferierend folgendes angeführt werden soll:
Alle Verletzungen sollen, wenn irgend
möglich, durch die Naht geschlossen
werden. Schlechte Narben sollen auf das
gründlichste herausgeschnitten und die
Lücken durch Haut gedeckt werden.
Eine der häufigsten Ursachen schlechter
Narbenbildung ist die weite Spaltung der
Abscesse mit nachfolgender Drainage und
Tamponade, wie von Bier schon seit
vielen Jahren bei der Behandlung der
Brustdrüsenentzündung der stillenden
Frauen gezeigt wurde. Hayward.
(B. kl. W. 1917, Nr. u. 10.)
Über die flächenhafte Unterschnei¬
dung motorischer Gehirnrindencentren
zur Bekämpfung der traumatischen
Rindenepilepsie macht Kirschner neue
Mitteilungen. Seine Ausführungen be¬
ziehen sich auf diejenigen Fälle von Epi¬
lepsie, welche im Anschluß an ein Trauma
•sich entwickeln und stets im gleichen
Muskelgebiete beginnen. Es ist nicht ohne
weiteres gesagt, daß in diesen Fällen regel¬
mäßig Veränderungen in der motorischen
Rindenregion gefunden werden. Immerhin
indiziert das Auftreten der Krämpfe einen
operativen Eingriff. Abgesehen von den
Fällen, in welchen man Knochensplitter,
Fremdkörper, Cysten und dergleichen
findet, lassen sich oft Verhältnisse nach-
weisen, deren Beseitigung schwer er¬
scheint: flächenhafte Verwachsungen der
Gehirnoberfläche mit den bedeckenden
Gewebsschichten oder Narbenbildungen
in der Gehirnrinde. Die einfache Lösung
dieser Verwachsungen genügt nicht zur
Herbeiführung einer Dauerheilung,ebenso¬
wenig sind die Resultate der Überpflan¬
zung von Eett und dergleichen zufrieden¬
stellend.
Krause hat auf Grund dieser Mi߬
erfolge die vollkommene Excision der er¬
krankten Centren erfolgreich ausgeführt.
Kirsch ner stützt sich bei seiner Methode
der Unterscheidung auf die Untersuchun¬
gen des Physiologen Trendelenburg.
Er geht folgendermaßen vor: In Lokal¬
anästhesie wird der erkrankte Hirnäb-
schnitt freigelegt; dann wird mit schwa¬
chen faradischen Strömen die in Betracht
kommende Stelle der motorischen Region
aufgesucht, wobei häufig ein typischer
epileptischer Anfall ausgelöst werden kann.
Diejenigen Abschnitte, welche den durch
die klinische Beobachtung festgestellten
Centren entsprechen, werden durch kleine
Punkte mit einer Methylenblaulösung
markiert und durch die Anhäufung dieser
blauen Punkte das erkrankte Rinden¬
gebiet erkannt. Interessant ist hierbei,
daß gelegentlich Abschnitte angetroffen
werden, welche makroskopisch vollkommen
normal erscheinen. Dann wird am besten
mit einem doppelschneidigen Messer mit
parallelen Schneiden das betreffende Ge¬
biet in ungefähr 2—3 mm Dicke unter¬
schnitten. Durch eine sofortige Kontrolle
mit dem elektrischen Strom wird die Voll¬
ständigkeit des Eingriffes geprüft und die
Schädelwunde vollkommen geschlossen.
Das Verfahren wurde in sechs Fällen in
Anwendung gebracht; zweimal konnten
Lähmungen, die erst im Laufe der Zeit
nach der Verletzung entstanden waren,
wieder behoben werden. Bewegungs¬
behinderungen und Lähmungen, welche
sich im Anschlüsse an die Operation ein¬
stellten, gingen sämtlich in zwei bis drei
Wochen zurück. In den ersten Tagen
nach der Operation traten bisweilen noch
mehrmals Zuckungen und gelegentlich
leichte Krampfanfälle auf, aber im Laufe
von zwei bis drei Wochen sistierten diese
Anfälle vollständig. Die Erfolge sind
eklatant, über die Dauerresultate kann
erst die Zukunft entscheiden.
(Zbl. f. Chir. 1917, Nr. 8.) Hayward.
Bakteriologische und klinische Er¬
fahrungen über die Ruhr auf dem öst¬
lichen Kriegsschauplätze teilt H. K. Bar-
renscheen mit. Bei der bakteriologi¬
schen Diagnose kann man sich bei Zeit¬
mangel unbedenklich damit begnügen,
festzustellen, ob Shiga-Krusesche oder
Die Therapie der Gegenwart 1917.
197
Mai.
Bacillen der giftarmen Typen vorliegen;
eine nähere Differenzierung der letzteren
ist praktisch unnötig. Die bakteriologi¬
sche Stuhluntersuchüng bei Ruhr gibt
aber ganz allgemein, speziell unter Feld¬
verhältnissen, schlechte Resultate und
bietet einige Aussicht auf Erfolg nur,
wenn Material von frischen Fällen vor¬
liegt, wenn dieses Material alsbald nach
der Entleerung zur Untersuchung kommt,
also ein Überwuchern der sehr hinfälligen
Ruhrbacillen durch Saprophyten ver¬
mieden werden kann, und wenn Material
von dem gleichen Kranken mehrfach
untersucht werden kann. Der Mangel
eines elektiven Nährbodens und eines
Änreicherungsverfahrens macht sich sehr
fühlbar. Bessere Ergebnisse als mit der
Stuhluntersuchung lassen sich durch die
Agglutinationsreaktion erhalten, bei der
allerdings alle Fehlerquellen sorgfältig
ausgeschaltet und die zu verwendenden
Teststämme richtig ausgewählt werden
müssen. Barrenscheen erhielt in der
zweiten Krankheitswoche mit der Agglu¬
tinationsprobe in 72 % der Fälle ein
positives Resultat, dagegen mit der
Stuhluntersuchung nur bei 12,15% der
Fälle.
Auch die Flexnerruhr kann klinisch
unter Umständen so schwer verlaufen
wie die Shiga-Kruse-Ruhr. Für den
Verlauf ist die Jahreszeit bedeutungsvoll,
ferner aber auch der Umstand, ob eine
Truppe frisch in ein verseuchtes Gebiet
kommt oder ob sie schonGelegenheit hatte,
sich allmählich durch Überstehen leichter
Erkrankungen zu immunisieren. Sehr
schwer ist der Verlauf bei Mischinfektionen
von Cholera und Ruhr, bei denen letztere
die Symptome von seiten des Darmes zu
beherrschen pflegt. Pathologisch-anato¬
misch war neben schwersten und aus¬
gedehnten Dickdarmveränderungen meist
auch eine Beteiligung des Dünndarmes bis
weit hinauf ins Ileum festzustellen. Für
die Nachkrankheiten und Komplikationen
ist der Genius epidemicus bedeutungsvoll.
Besonders werden Konjunktivitiden und
rheumatische Gelenkaffektionen beob¬
achtet. Therapeutisch wurden von der
Tierkohle in Verbindung mit Kalomel
oder Ricinus die denkbar besten Erfolge
gesehen. Daneben ist Atropin zur Herab¬
setzung des Vagustonus besonders emp¬
fehlenswert. Adrenalinanwendung ist
weniger rationell. Sehr günstige Ergeb¬
nisse hatte auch die Injektion von anti¬
toxischem Shiga-Kruse-Seriim oder von
polyvalentem Ruhrserum. Man muß aber
genügende Mengen, selbst bis zu 100 ccm,
einspritzen. Hetsch (Berlin).
(Beitr. z.Klin d Infekt.-Krankh. u. z Immun.*
Forschung Bd. V, H. 3 )
Über die moderne Behandlung des
Tetanus schreibt Kreuter. Er schildert
unter besonderer Berücksichtigung der
jetzigen Kriegserfahrungen zusammen¬
fassend die neuzeitlichen Verfahren der
Wundstarrkrampfbehandlung und die ex¬
perimentellen Forschungsergebnisse, die
ihnen zugrunde liegen. Wenn auch in der
vorbeugenden Antitoxinbehandlung bei
jeder als Eintrittspforte der Tetanus¬
bacillen dienenden Kriegsverletzung ein¬
zig und allein der Schwerpunkt liegt, so
darf die Wunde doch s.elbst nicht ver¬
nachlässigt werden. Komplizierte Wun¬
den sind durch Incisionen, Entfernung
der Nekrosen, die reduzierend wirken und
anaerobe Bedingungen herstellen, tun¬
lichste Eliminierung eingedrungener
Fremdkörper, Schaffung günstiger Ab¬
flußverhältnisse für die Wundsekrete und
genügende Offenhaltung in einfache zu
verwandeln: Abzulehnen ist nach all¬
gemeiner Anschauung jede Verätzung und
Verbrennung der. Wunde, da jeglicher
Schorf die anaeroben Erreger begünstigt.
Allenfalls könnte von der Behandlung der
Wunden mit Wasserstoffsuperoxyd und
mit Jod Nutzen erwartet werden, wenn
vielleicht auch nur in dem Sinne, daß
diese Antiseptikadie Saprophyten schädi¬
gen, die als Sauerstoffzehrer die Ent¬
wickelung der Tetanuserreger fördern
könnten, aber auch ohne antiseptische
Wundbehandlung ist seit Einführung der
obligatorischen Serumprophylaxe der
Tetanus sicher vermeidbar. Die mehrfach
empfohlene Behandlung der Wunden mit
Perubalsam, Chlor, Carrel-Dakinscher Lö¬
sung, Rovsingscher Lapisgaze, Stau- und
Saugbehandlung nach Bier, Heißluft¬
duschen, künstlicher Höhensonne usw.
hat eine nur untergeordnete Bedeutung.
Die lokale Wundbehandlung mit Tetanus¬
antitoxin in trockener oder flüssiger Form
leistet weniger als die anderen Methoden
der Serumanwendung.
Die Kriegserfahrungen haben gezeigt,
daß eine einmalige subcutane Gabe von
20 Antitoxineinheiten Tetanusserum die
Infektion mit genügender Sicherheit ver¬
hindert. Der Ort der Einspritzung ist
gleichgültig. Sofort nach der Verletzung
zu spritzen, ist die Hauptsache. Dann
ist auch die Dauer des Impfschutzes aus¬
reichend. Ist aus irgendwelchen Gründen
198 Die'Therapie,der
längere Zeit, vielleicht sogar ein Tag ver¬
gangen, bis. die Impfung vorgenommen
werden kann, dann .wird sich der Vor¬
schlag Kochers empfehlen, die Injek¬
tion nach 5, 8 und 12 Tagen zu wieder¬
holen. Die Kriegslehren müssen in die
Friedenspraxis übergehen. Jeder Arzt
müßte zur Verantwortung gezogen wer-
• den, der bei einer verdächtigen Verletzung
versäumte, Serum prophylaktisch anzu¬
wenden. Ein eiserner Bestand von Teta¬
nusserum sollte behördlich von jedem
Praktiker verlangt werden. Eine ernstere
Anaphylaxiegefahr ist nur dann zu be¬
fürchten, wenn nach subcutaner Schutz¬
impfung (Sensibilisierung durch das art¬
fremde Eiweiß) nach 10—14 Tagen intra¬
venös — wegen etwa auftretender teta-
hischer Symptome — nachgespritzt wird.
Das ist streng zu vermeiden. In solchen
Fällen wird man sich höchstens zu intra¬
spinaler Serumzufuhr entschließen, wenn
man nicht besser ganz .darauf verzichtet
und rein symptomatisch vorgeht.
Die Serumbehandlung des. aus-
gebrochenen Tetanus ist trotz ihrer schon
theoretisch beschränkten Leistungsfähig¬
keit in jedem Falle eine wissenschaftlich
wohl begründete Forderung, da man dem
beginnenden Falle nicht ansehen kann,
ob die central schon verankerte und damit
als solche unbeeinflußbare Giftmenge die
tödliche Dosis erreicht oder überschritten
hat, und von einer rationellen Serum¬
therapie erwartet werde'n kann, daß nach
ihrer Einleitung eine weitere centrale
Giftverankerung verhindert wird. Die
subcutane Anwendung ist als Behand¬
lungsmethode nicht zu empfehlen. Bei
jedem ausbrechenden Falle von Tetanus
beginne man sofort mit intravenösen
Seruminjektionen und scheue große Dosen
nicht. Man gebe täglich, weil eine ge¬
wisse Überschwemmung des Blutes nötig
ist und das Antitoxin rasch ausgeschieden
wird, 200—500 A. E. und gehe mit dem
Abklingen der Erscheinungen zurück. Im
, allgemeinen setze man (wegen Anaphy¬
laxiegefahr) die intravenösen Gaben nicht
über zehn Tage fort. Die endöneurale 1
und intraspinale Seruminjektion haben
die Aufgabe der Giftsperre in der Nerven¬
leitung. Namentlich die letztere, durch
die das Antitoxin nicht nur sehr rasch in !
Blut und Lymphe aufgenommen, sondern
noch in Nerven wanderndes Toxin ver¬
hindert wird, das Rückenmark zu errei¬
chen, ist in letzter Zeit Gemeingut .der
Serumtherapie geworden. Man infun¬
diere- — nötigenfalls in Narkose— lang-.
Gegenwart 1917. Mai
sam nach Ablässung einer entsprechenden
Liquormenge 100—150 A. E. und bringe
nachher Oberkörper und-Kopf in schräge
Tieflagerung, um eine möglichst gleich¬
mäßige und hoch hinaufgehende Vertei¬
lung des Antitoxins im Rückenmarks¬
raum zu erreichen. Die intraspinalen . In¬
jektionen können mehrere Tage nachein¬
ander wiederholt werden. Ihnen folgen
oft Temperatursteigerungen und Exan¬
theme. Die intracerebrale, intraarterielle
und epidurale Injektion ist nicht empfeh¬
lenswert. Durch intravenöse und sub¬
durale Injektion großer Antitoxinmengen
ließ sich die Tetanusmortalität, die in
der Vorserumzeit 80—90 % betrug, auf
35,5 % (Kreuter), 31,5 % (Dreyfus und
Unger), sogar auf 17 % (Lexer) herab¬
drücken.
Bei der Besprechung der sympto¬
matischen Behandlung des Tetanus
wird zunächst die Anwendung des Magne-
siumsulfats nach Indikation, Dosierung
und bisherigen * Erfahrungen geschildert:
Subcutän wird nach Stadler eine 30 bis
40 %ige Lösung gegeben, und zwar pro
injectione 5 g und pro die 15—25 g Ma¬
gnesiumsulfat. Bei Kindern, wo die sub¬
cutane Anwendung besonders empfeh¬
lenswert ist, wird , eine Tagesdosis von
0,5—0,7 g pro kg Körpergewicht berech¬
net. Bei der bisher am wenigsten er¬
probten intravenösen und intramusku¬
lären Injektion ist die Wirkung flüchtig
und schädliche Nebenwirkungen auf das
Kreislaufsystem sind zu befürchten. Das
intraspinale Verfahren, bei dem im all-,
gemeinen 0,03 g Magnesiumsulfat pro kg
Körpergewicht gegeben wird, bleibt für
schwerste Fälle reserviert. Der Kranke
ist dauernd zu überwachen. Zur Be¬
kämpfung des drohenden Atemstillstan¬
des müssen alle Maßnahmen getroffen
sein. Bei ganz schweren Störungen ver¬
mag nur die künstliche Atmung unter
Überdruck zu helfen. Ein endgültiges
Urtei} über die Leistungsfähigkeit der
intraspinalen Magnesiumbehandlung ist
noch nicht möglich.
Über die Karbolbehandlung nach
Bacel'li gehen die Urteile der Autoren
noch sehr auseinander. Das Verfahren
besteht in subcutanen Einspritzungen
einer 2—3 % igen Karbollösung., ’ Eine
Wirkung wird nur von hohen,- bis über
die Maximaldosis (1,5 g) hinausgehenden
Gaben erwartet, die im allgemeinen gut
vertragen werden.
Von anderen symptomatischen' Mit¬
teln hat sich u. a. die Narko-se'bewährt,
Mai jDre- Ther^pie^der
~ 7^~ ’ " J ~ “ r “
besonders die Cftloroformanwendung.
Chi oral gibt man am besten in. Fpcm
von Klysmen (Chloral 10,0, Mucil. sajep
ad 250,0 ; innerhalb 24 Stunden 5—6 Klys¬
men zu 50 g). .Auch die Kombination von
Chloral, mit anderen Narkoticis ist emp¬
fehlenswert. Morphium ist besonders
gegen den so gefährlichen Zwerchf ell-
glö'ttiskrampfkomplex wichtig und be¬
währt. Man- braucht vor .hohen Dosen
nicht zurückzuschrecken, wenn man nur
zur künstlichen Respiration gerüstet: ist.
Weiterhin kommen Pantopon, Brom¬
kali (bis zu 10g), Cocain'(0,01—0,03 g
pro die), Urethan (bis zu 15 g), Sulfo-
nal, Opium'.usw. in Betracht. Kurare
und Kurarii werden verschieden beur¬
teilt und haben keine größere Verbreitung
•gefunden. Neuerdings wird Luminal
besonders empfohlen (.1—2 g Luminal- !
nätrium am Tage), auch' in Kombination
mit Morphium oder Chloralhydrat. Bei
der von Rothfu.chs empfohlenen Sal-
varsananwendung ist wohl die gleich¬
zeitig vorgenommene Serumbehandlung
das ausschlaggebende gewesen.
Von den chirurgischen symptomati¬
schen Maßnahmen ist die Tracheoto¬
mie bei'schweren Fällen und plötzlicher
Asphyxie unersetzlich. Kocher empfahl
sie auch als prophylaktischen Eingriff, bei
•der Magnesiumtherapie. Die doppel¬
seitige Phrenikotomie (evtl, mit Trache¬
otomie kombiniert) erstrebt eine Läh¬
mung des Zwerchfells zur Beseitigung der
Krämpfe und ermöglicht infolge der Er¬
schlaffung der Muskeln eine ausgiebige
künstlicheLungenatmung (S au e r b r u c h).
Gastrostomie und Ösophagostomie
sind nur bei Gefahr des Verhungerns und
Verdurstens indiziert. Die sachgemäße
A11 g e m e i n b e h a n d 1 u n g — Isolierung,
Fernhaltung aller Reize, beste Pflege,
protrahierte heiße Bäder, Quarzlampen¬
bestrahlung, sorgsamste Ernährung —
darf nicht vernachlässigt werden.
Hetsch (Berlin).
(Beitr. z. Klin. d. Infekt.-Krkh. u. z. Immu-
nitätsforsch. Bd. V, H. L)
Theorie und Technik der extra-
.pleuralen ’ Thorakoplastik behandelt
Hans Kronberger (Davos).
Der Wert der bei der Lungenphthise
angewendeten Eingriffe wird verschieden
beurteilt. Bei Resektion ist das Resultat
nicht immer zufriedenstellend. Eine In¬
dikation für eine Thorakoplastikoperation
besteht: 1. wenn der Patient ohne chir¬
GegenwartjigiT.
urgischen Eingriff voraussichtlich zu¬
grunde gehen würde; 2. wenn die Lungen¬
erkrankung einseitig und ausgedehnt ist;
3. wenn infolge ausgedehnter Pleura¬
adhäsionen die Anlegung eines künstlichen
Pneumothorax nicht- mehr ..möglich ist.
Die Vorbedingungen für eine Plastik sind
dann erfüllt, 1. wenn der allgemeine
Kräftezustand des zu Operierenden noch
ausreichend gut ist; 2. wenn die eine der
beiden Lungen wenigstens praktisch in
dem Sinne,gesund ist, daß sie wahrschein¬
lich den postoperativen erhöhten Anforde¬
rungen an Respiration und Circulation
ungefährdet gerecht werden kann. Kon¬
traindiziert ist die Thorakoplastik' trotz
gegebener Indikation und bei sonst er¬
füllten Vorbedingungen, wenn ein großer
Teil der zu operierenden Lunge (ein Lap¬
pen und mehr) derb käsig-pneumonisch
infiltriert ist, — Die heute am meisten
geübten Methoden sind die:nach Brauer-
Friedrich, Wilms und Sauerbruch.
Sie bezwecken die Mobilisierung des
starren Thorax, um der erkrankten Lunge
die Möglichkeit zum Kollabieren, zur Ein¬
leitung ausgiebiger Schrumpfungsprozesse
und damit zur Heilung, zu geben. Wenn
die Plastik Erfolg hat, so schließen sich
der Kompression bald die Schrumpfungs¬
prozesse an. Der Thorax paßt sich durch
Zusamriienrücken der Rippenenden sei¬
nem verkleinerten Inhalt an, es kommt
zur hochgradigen Retraktion der Thorax¬
wand.
Diese Methoden haben mancherlei Ge¬
fahren und Komplikationen: Todesfälle
-infolge von Operationsshock, Aspirations¬
pneumonie, zu deren Vermeidung man
zunächst die Unterlappenplastik macht.
Ferner hat die kollabierte Lunge durch
die Resektion ihre Expirationskraft so
sehr eingebüßt, daß der Patient, der außer¬
dem jede schmerzhafte Atembewegung
allzu ängstlich meidet, das Sputum nicht
aushusten kann; entweder erreicht es die
Bifurkation der Trachea überhaupt nicht
oder es wird von hier aus in die gesündere
Lunge angesaugt und gibt Veranlassung
zu frischer Infektion. Durch die Schrump¬
fungsprozesse gibt es auch Störungen in
der Blutcirculation und schließlich bilden
sich bei ausgedehnten Operationen im
Laufe der Zeit starke Thoraxdeformie-
rungen aus.
. Verfasser schildert nun eine Methode,
bei der er, statt wie bei den bisherigen
Verfahren, eine Folge unmittelbar neben¬
einander liegender Rippenstücke.:-zu ent-
vfernen, die alternierende Resektion vor-
200
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Mai
nimmt, die darin besteht, daß der Thorax
in Breiten von je ein bis zwei Intercostal-
räumen mobilisiert wird und daß dem¬
entsprechend dazwischen je eine oder zwei
Rippen vollständig erhalten bleiben. Vor¬
teilhaft ist die Resektion möglichst langer
Rippenanteile. Die Größe des Eingriffes
richtet sich nach der Ausdehnung der Er¬
krankung. . Diese Plastik kann an der
Vorder- wie Hinterfläche des Thorax
ebensogut wie an den lateralen Partien
vorgenommen werden, unter Umständen
auch zweizeitig. Dünner.
(D. m. W. 1917, Nr. 10.)
Therapeutischer Meinungsaustausch.
Über Ergotin-Merck
(Kurze Mitteilung aus der Praxis).
Von Dr. F. Baum-Berlin.
Obwohl die meisten Kliniken als beste
Secale-Verordnung nur das frische In-
fusum Secalis cornuti oder Pulvis Secalis
cornuti empfehlen, was man für die Ge¬
burtshilfe auch befolgen kann, so gibt es
in den gynäkologischen Fällen der all¬
gemeinen Praxis doch sehr viele Gelegen¬
heiten, bei denen man lieber zu einem der
handlichen modernen Präparate greift,
teils wegen ihrer angenehmeren Dar¬
reichung, teils wegen der Ausschaltung
gewisser Nebenwirkungen. An der Ver¬
besserung und Verfeinerung der Secale-
wirkung ist ja in den letzten Jahren viel
gearbeitet worden. Man erkannte im
Ergotoxin die Ursache des Secalegangräns
und stellte fest, daß eine Hauptwirkung
des Mutterkorns als Hämostatikum und
wehentreibendes Mittel in den basischen
Verbindungen Imidazolyläthylamin und
Paraoxyphenyläthylamin enthalten ist.
Die Körper wurden auch auf syntheti¬
schem Wege dargestellt und als Ersatz
für Secale cornutum in den Arzneischatz
eingeführt. Bis jetzt haben sie aber die
Droge und die daraus hergestellten phar¬
mazeutischen Präparate nicht verdrängen
können, so daß im Gegenteil immer wieder
neue der letzten Art dazu gekommen sind.
Hierzu gehört auch das „Ergotin-Merck“,
das ich seit seiner Einführung bei den
Berliner Krankenkassen, also schon über
ein Jahr, ziemlich ausgiebig verwende.
Ergotin-Merck ist ein Extrakt, dessen
Darstellung auf die unveränderte Er¬
haltung der wirksamen Gesamtbestand¬
teile des Mutterkorns, dagegen auf eine
Ausschaltung von nebensächlichen Ballast¬
stoffen hinausgeht. Das Wirkungsverhält¬
nis zum Secale cornutum ist so, daß ein
Teil des Extraktes vier Teilen Droge
gleichwertig ist. Die tiefbraune, klare
Flüssigkeit ist sterilisiert und kann aus
den bei den Kassen zugelassenen Original¬
gläschen zu 5 g, wenn sie frisch an¬
gebrochen sind, .auch injiziert werden.
Ich verwende Ergotin-Merck in fol¬
genden Fällen:
1. Regelmäßig nach Ausräumung von
Fehlgeburten, bei stärkeren Blutungen
1 bis 4 ccm intramuskulär, sonst innerlich
3 mal täglich 15 Tropfen.
2. Bei konservativer Behandlung der¬
jenigen Aborte, bei welchen eine sofortige
Ausräumung kontraindiziert war, in Ver¬
bindung mit Chinin, mur. pulv. (vier¬
stündlich Chinin 0,5 bis zum Eintritt von
Wehen, darauf dreimal 30 Tropfen Er-
gotin) oder in Verbindung mit intra¬
muskulären Injektionen von Hypophysen¬
präparaten.
3. Nach manueller Placentalösung.
4. Bei subinvolutio uteri.
5. In gynäkologischen Fällen:
a) bei Menorrhagie vom zweiten
Tage ab (dreimal täglich
15 Tropfen);
b) bei ausgebluteten Myomfällen in
Verbindung mit Digipuratum
Rp . Digipurat solut. — c n
Ergotin-Merck aa ö ’ u
3 X tgl. 10 Tropfen.
Die Wirkung war stets prompt. Ver¬
sager habe ich nie gesehen. Knoten nach
intramuskulären Injektionen, wie sie bei
anderen Mutterkornpräparaten Vorkom¬
men, öder Magenstörungen nach inner¬
licher Darreichung habe ich nie beob¬
achtet.
Ich kann somit Ergotin-Merck dem
Praktiker aufs wärmste empfehlen.
Für die Redaktion verantwortlich Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer.in Berlin. Verlag von Urb an & Schwarzenberg
in Berlin und Wien. Gedruckt bei Julius Sittenfeld, Hofbuchdrucker., in Berlin W8.
1917
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'Urban & Schwarzenberg, Berlin u. Wien, betr.: „Kisch, Geschlechtsleben des Weibes“..
Die Therapie der Gegenwart
1917
herausgegeben von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer
in Berlin.
Juni
Nachdruck verboten.
Aus der III. medizinischen Abteilung des k. k. allgemeinen Krankenhauses in Wien.
Einige Bemerkungen über die multiple Sklerose
nach eigenen Erfahrungen.
Von Professor Dr. Hermann Schlesinger.
(Ärzte «Vorlesung.)
Meine Herren! Ihnen wird aufgefallen
sein, daß im Verlaufe des Krieges uns
verhältnismäßig viele Fälle von multipler
Sklerose zugewachsen sind und zwar so¬
wohl auf den Militär- als auch auf den
Zivilzimmern der Abteilung. Dies gibt
mir den Anlaß, über einige Punkte der
Pathologie dieser. Krankheit zu sprechen,
welche vielen Ärzten weniger bekannt
sein dürften. In den nachfolgenden Aus¬
führungen stütze ich mich hauptsächlich
auf meine eigenen Erfahrungen und be¬
absichtige nicht, das ganze Bild der
multiplen Sklerose Ihnen zu zeigen. Viel¬
leicht werden sie aber dazu beitragen,
Ihnen die relative Häufigkeit dieser Af¬
fektion in der jetzigen Zeit zu erklären
und Ihnen einige Richtlinien für die Be¬
handlung zu geben.
Obgleich einige Symptomenkomplexe
der multiplen Sklerose schon früher be¬
kannt waren, haben erst die letzten zwei
Dezennien eine mächtige Erweiterung und
Vertiefung der Kenntnisse dieses Leidens
herbeigeführt. Angeregt wurde das in¬
tensive Studium der Krankheit nament¬
lich durch die Diskrepanz der Häufigkeit
klinisch erkannter und anatomisch nach¬
gewiesener Fälle.
Die alte Charcotsche Symptomen-
trias: Intentionstremor, skandierende
Sprache und Nystagmus ist stets nur in
einer relativ kleinen Zahl von Fällen vor¬
handen. Solange man nur dann sicher
zu gehen glaubte, wenn das gleichzeitige
Vorhandensein der obengenannten Er¬
scheinungen die Diagnose einer multiplen
Sklerose gewährleistete, ward diese Ner¬
venerkrankung klinisch nicht allzuoft er¬
kannt. Der Kliniker betrachtete längere
Zeit hindurch die inselförmige Sklerose
als selteneres Nervenleiden. Erst zu¬
nehmende anatomische -Erfahrungen lehr¬
ten, daß diese Anschauung falsch war.
Die Zahl der anatomischen Beobachtungen
wuchs rapide, als man erkannte, daß viele
Fälle, welche als Myelitis chronica ge¬
gangen waren, der Sclerosis multiplex
zuzurechnen sind. An dem nun folgenden
Um- und Ausbau der klinischen Lehre
von der multiplen Sklerose haben viele
namhafte Neurologen Anteil, namentlich
Oppenheim, Nonne, Strümpell, sein
Schüler E. Müller, Redlich, Marburg,
H. Curschmann, Mendel, Cassirer,
H. Schlesinger, Finkeiburg u. a.,
welche durch einschlägige Arbeiten von
Fachärzten, wie des Ophthalmologen
Uhthoff, des Otiaten Beck, sehr
unterstützt wurden.
Die multiple Sklerose ist sehr häufig;
daran kann jetzt nicht mehr gezweifelt
werden. Wir haben seit vielen Jahren
an unserer Spitalsabteilung stets mehrere
Fälle von multipler Sklerose trotz ziem¬
lich raschen Wechsels der Kranken liegen,
ohne daß wir uns die Patienten auswählen
würden. Ich habe durch Rücksprache mit
vielen Kollegen ersehen, daß die multiple
Sklerose überall dort häufig ist, wo es
Ärzte gibt, welche das klinische Bild
derselben kennen. Mir haben viele, auch
ausländische Schüler mitgeteilt,, daß sie
in ihrer Gegend häufig Sclerosis multiplex
gesehen hätten, auch wenn dieselbe bis
dahin nur selten beobachtet worden war.
Die Diagnose der atypischen
Formen — und das ist die Mehrzahl der
Fälle — ist zumeist leicht zu stellen,
wenn man auf einige Symptome und
Verlaufseigentümlichkeiten achtet, deren
große Wichtigkeit die klinische Erfahrung
erwiesen hat. Sind daneben einige der
früher bekanntem Erscheinungen oder gar
die ganze Charcotsche Symptomentrias
vorhanden, so unterstützt das die Er¬
kennung des Leidens, unbedingt erforder¬
lich sind aber diese Zeichen für die
Diagnose nicht..
Ich möchte nach meinen, nicht un¬
erheblichen Erfahrungen das Schwer¬
gewicht für die Diagnose vieler Fälle
auf folgende drei Punkte verlegen:
1. Auf das Vorhandensein des Sym-
ptomenkomplexes der spastischen Spinal-
26
202
Die Therapie der
paralyse.^n den Beinen bei Verlust'der
Bauchdeckenreflexe.
2. Auf das Verhalten der Augen, re¬
spektive des Fundus.
3. Auf den (ständig wechselnden) Ver¬
lauf der Erscheinungen.
Die Mehrzahl der Beobachtungen läßt
diese neue Trias von Kardinalsymptomen
erkennen, auf welche wir nun etwas näher
zu sprechen kommen.
Die spastische Parese der Beine
ist bei der multiplen Sklerose ungemein
häufig; namentlich Oppenheim hat mit
Recht auf die Wichtigkeit dieses Sym-
ptomes hingewiesen. Lähmung und Ri¬
gidität sind bald nur angedeutet, bald
wiederum sehr ausgesprochen. Die Sehnen¬
reflexe an den unteren Extremitäten
pflegen gesteigert zu sein; Fußklonus ist
gewöhnlich nachweisbar. Entsprechend
diesen Erscheinungen, welche auf einer
Läsion der Pyramidenbahnen beruhen, ist
in der Regel das Babinskische Zehen¬
phänomen und das Oppenheimsche
Unterschenkelphänomen auslösbar, und
zwar geht die große Zehe dorsal.
Die Sensibilität ist in der Regel
gar nicht oder nur vorübergehend gestört.
. Die Bauchdeckenreflexe fehlen zu¬
meist. Dieses wichtige Symptom haben
Strümpell und seine Schüler, namentlich
E. Müller mit Nachdruck hervorgehoben.
Ich kann bestätigen, daß die Bauch¬
deckenreflexe fast regelmäßig schon in
den Frühstadien der multiplen Sklerose
verloren gehen und im späteren Krank¬
heitsverlaufe nicht wiederkehren. Das
gegensätzliche Verhalten zwischen dem
Erlöschen der Bauchdeckenreflexe, dem
gut nachweisbaren Babinskischen Phä¬
nomen und der Steigerung der Sehnen¬
reflexe an den unteren. Extremitäten ist
auch nach meiner Überzeugung von
größtem diagnostischen Werte.
Da Blasen- und Mastdarmstörungen
bei dieser Symptomengruppierung wenig¬
stens in den Frühstadien zumeist fehlen,
so ist oft der Symptomenkomplex der
spastischen Spinalparalyse plus Verlust
der Bauchdeckenreflexe der einzige, wel¬
cher krankhafte Störungen im Nerven¬
system anzeigt.
Das junge Mädchen, welches ich Ihnen heute
zeige, läßt nur die eben genannten Erscheinungen
erkennen. Das übrige Nervensystem ist mit Aus¬
nahme eines geringfügigen Einstellungsnystagmus
normal.
Jedoch hören wir in der Anamnese des Mäd¬
chens, daß vor Jahren Diplopie vorhanden war;
es ist von Störungen des Sehvermögens be¬
richtet, von vorübergehenden Schwächezuständen
Gegenwart 1917. Juni
eines Armes, kurz von Zuständen, welche sich
kaiim anders als durch multiple Schädigung des
Nervensystems erklären lassen.
Die Erfahrung lehrte, daß die spasti¬
sche Spinalparalyse in einem guten Teil
der Fälle der multiplen Sklerose, in
einem kleineren der Lues spinalis, der
Syringomyelie, den Tumoren, der Spon¬
dylitis und anderen Erkrankungen ihre
Entstehung verdankt. In jedem Falle
sollte zuerst an multiple Sklerose gedacht
und dieser Veracht erst fallen gelassen
werden, wenn zwingende Gründe da¬
gegen sprechen. Handelt man so, dann
wird man viele Fälle von multipler
Sklerose entdecken.
Von fundamentaler Wichtigkeit ist
das Verhalten der Bulbi, respektive des
Fundus bei „der multiplen Sklerose, wel¬
ches besonders von Uhthoff und Oppen¬
heim studiert worden ist.
Charcot hatte auf die Häufigkeit des
Nystagmus aufmerksam gemacht, wel¬
cher, wenigstens als Einstellungs¬
nystagmus bei seitlicher Blickrichtung
auch bei den atypischen Formen sehr oft
beobachtet wird. Ein anderes häufig auf¬
tretendes Symptom sind Augenmuskel¬
paresen. Es dürfte kaum ein Augen¬
muskel, respektive Augennerv von Läh¬
mungen bei der multiplen Sklerose ver¬
schont bleiben. Diese Paresen setzen oft
schon frühzeitig ein, sind häufig das erste
Krankheitssymptom, aber sie pflegen
nicht zu persistieren. Mit oder ohne Be¬
handlung pflegen sie sich nach einigen
Wochen oder Monaten zurückzubilden,
können allerdings in einer späteren Krank¬
heitsperiode wieder auftauchen.
YVie oft mag hinter einer ,,geheilten
rheumatischen“ Augenmuskelläh¬
mung sich eine multiple Sklerose ver¬
stecken! Mir haben wenigstens wieder¬
holt Kranke davon erzählt, daß diese
Diagnose bei ihnen in früherer Zeit ge¬
stellt worden war.
Nebenbei erwähnt, die Zeit der
,,rheumatischen Augenmuskellähmungen“
scheint vorüber zu sein. Dieses Krank¬
heitsbild dürfte, wie so manche andere,
mit der besseren Kenntnis vom Verlaufe
und von den Früherscheinungen mancher
Nervenkrankheiten allmählich zu den
obsoleten gehören. Ein Teil der Fälle
ist der Tabes, ein anderer der cerebro¬
spinalen Lues, wieder ein anderer der
multiplen Sklerose oder anderen Hirn¬
prozessen zuzurechnen; manchmal mag
auch ein peripherer Prozeß die Augen-
nuiskellähmung verursachen.
Juni Die Therapie der
Die inneren Augenmuskeln nehmen im
Gegensätze zu den äußeren nur selten bei
der multiplen Sklerose Schaden. %
Die Fundusveränderung ist so
charakteristisch, daß häufig aus ihr die
Diagnose erschlossen werden kann. Die
Papille ist abgeblaßt, jedoch ist der
Farbenton oft ein anderer als bei der
gewöhnlichen Atrophie; er ist oft eigen¬
tümlich graubraun. Mir haben wiederholt
gute Ophthalmologen beim ersten Blick
erklärt, der Farbenton erinnere sie an
das Fundusbild bei multipler Sklerose,
auch wenn sie die Diagnose noch nicht
kannten. Die Abblassung kann auch
partiell sein.
Gar nicht selten ist die Fundusver¬
änderung ein zufälliger Befund; der
Kranke klagt über keine Sehstörungen.
Oft aber sind Skotome oder Störungen
der Sehschärfe oder auch Achromatopsie
vorhanden. Bisweilen nimmt das Seh¬
vermögen rapid.ab; häufiger nach meinen
Erfahrungen an einem als an beiden
Augen. Die Sehstörung kann so weit
fortschreiten, daß nur mehr licht und
dunkel unterschieden wird. So gut wie
nie aber tritt völlige Erblindung
ein. Das ist prognostisch außerordentlich
wichtig. Man kann dem Kranken mit
großer Bestimmtheit eine baldige Besse¬
rung prophezeien, ohne daß man durch
den weiteren Verlauf Lügen gestraft
würde. Ich habe wiederholt auf der Ab¬
teilung Kranke beobachtet, welche nur
mehr licht und dunkel unterscheiden
konnten; dieses Stadium dauerte nur
ausnahmsweise länger als einige Wochen.
Dann begann wieder das Sehen, zuerst
größerer Gegenstände in verschwommener
Weise, dann auch der kleineren. Ein
Lehrer, welcher vor acht Jahren auf
meiner Abteilung lag und auf einem
Auge zu erblinden fürchtete, kann jetzt
kleine Schrift sehr gut lesen; allerdings
handelt es sich um eine benigne Form der
multiplen Sklerose. Aber ich habe mehr¬
mals eine überraschend gute Rückkehr
des Sehvermögens konstatiert.
Zurzeit liegt auf einem Männersaale
der Abteilung ein Kranker mit normaler
Sehschärfe, welcher angeblich vor drei
Jahren an einem Auge vorübergehend
erblindet war.
Ich halte die Kenntnis dieser Seh¬
störung und ihres eigentümlichen Ver¬
laufes deshalb für den Praktiker besonders
wichtig, weil dadurch einige andere
Krankheitsbilder ihre Erklärung finden.
Gegenwart 1917. 203
Jeder Arzt, welcher viele Fälle von
multipler Sklerose gesehen hat, weiß, wie
oft hysterische und neurasthenische Er¬
scheinungen zu dieser Krankheit hinzu¬
treten. Wir werden sogleich darauf zu¬
rückkommen; nur möchte ich schon hier
hervorheben, wie groß dadurch die Gefahr
wird, daß nur Hysterie angenommen und
die multiple Sklerose übersehen wird.
Seit etwa 20 Jahren, seitdem mir das
klinische Bild der multiplen Sklerose ge¬
läufiger ist, habe ich keinen Fall von
,,hysterisch er Amaurose“ gesehen;
alle uns unter dieser Diagnose (auch von-
Okulisten) zugewiesenen Kranken hatten
multiple Sklerose. Es ist sehr wahr¬
scheinlich, daß die ,,hysterische Am¬
blyopie“ eine ziemlich seltene Affektion
ist, wenn sie überhaupt existiert. Daher
soll man es sich zur Regel machen,
bei Hysterischen mit schweren
Sehstörungen, normalem Spiegel¬
befunde und erhaltener Pupillar-
reaktion an multiple Sklerose und
nicht an funktionelle Amaurose zu
denken.
Ein anderes Leiden, welches in letzter
Zeit wieder viel mehr genannt wird und
sicher nahe Beziehungen zur multiplen
Sklerose hat, ist die sogenannte retro¬
bulbäre Neuritis. Man versteht
darunter eine Neuritis des Nervus opticus
von verschiedener Genese, welche zu
schweren Sehstörungen führt und Neigung
zur Heilung hat. Auch die Fälle von
retrobulbärer Neuritis, welche uns zur
Untersuchung überwiesen wurden, ebenso
wie diejenigen, welche ich pro consilio
gesehen habe, erwiesen sich durchweg
als multiple Sklerose. Sowohl das Bild
der hysterischen Amaurose als auch das
der retrobulbären Neuritis kann in den
Frühstadien des uns beschäftigenden Hirn-
und Rückenmarksleidens Vorkommen und
bei der Geringfügigkeit der anderen Er¬
scheinungen ein selbständiges Leiden Vor¬
täuschen. Eine genaue Untersuchung
wird aber fast immer schon zu dieser
Zeit Klarheit bringen; wenn die erste
Untersuchung nicht zum Ziele führt, so
kann man mit Sicherheit auf die Ermög¬
lichung der Diagnose durch die weitere
Beobachtung rechnen. Die Existenz der
retrobulbären Neuritis sei nicht ganz in
Abrede gestellt, obgleich ich nicht recht
an sie glaube, denn in all den vielen
Dutzenden von Fällen, welche im Laufe
der Jahre genau untersucht werden
konnten, war stets das Fazit eine un¬
zweifelhafte Sklerosis multiplex. So habe
26*
204
Die Therapie der
ich Fälle gesehen, bei welchen eine „re¬
trobulbäre Neuritis“ als Folgezustand einer
Nikotinintoxikation angesehen wurde; die
anscheinende „Heilung“, will sagen Besse¬
rung der Sehstörungen schien für die
Auffassung der Vergiftung des Organismus
zu sprechen, während die neurologische
Untersuchung schon in diesem Zeitpunkte
oder, bald nachher das Vorhandensein
mehrfacher Störungen des Nervensystems,
erwies. In einem von mir beobachteten
Falle hatte ein sehr bewährter Okulist
die Annahme einer Lactations-Neuritis
des Opticus gemacht, weil alle Erschei¬
nungen von seiten des Auges mit den in
der Literatur niedergelegten bei stillenden
Frauen übereinstimmten. Schon,wenige
Monate später waren die von mir ge¬
äußerten Zweifel an der Diagnose durch
die rasche Entwickelung einer typischen
multiplen Sklerose gerechtfertigt. Das
gleiche konnte ich bei retrobulbärer Neu¬
ritis nach Infektionskrankheiten, bei Al¬
koholikern und nach anderen Intoxi¬
kationen beobachten. Daher soll stets
bei retrobulbärer Neuritis solange
an dem Verdachte einer multiplen
Sklerose festgehalten werden, bis
eine jahrelange Beobachtung und
wiederholte genaue Untersuchung
ihn hinfällig erscheinen läßt. Ich
wiederhole, daß es mir in den letzten
Dezennien nicht beschieden • war, einen
Fall von retrobulbärer Neuritis zu sehen,
welcher schließlich eine andere Deutung
zuließ.
Auch der wechselvolle, eigenartige
Verlauf der multiplen Sklerose war
früher nicht so gut gekannt, wie der
jetzt, an Tausenden von Fällen studierte.
Das Charakteristische, wenigstens in
den früheren Stadien der Affektion, ist
der ständige Wechsel vieler Er¬
scheinungen, welcher mit eine der Ur¬
sachen für den erstaunlichen Formen¬
reichtum der multiplen Sklerose darstellt.
So kann eine Monoplegie eines Armes
oder Beines das Krankheitsbild einleiten
und nach wochen- oder monatelangem
Bestände verschwinden; eine Hemiplegie
kann kommen und allmählich vergehen,
in gleicher Weise kann sich auch eine
Paraplegie verhalten. Aber auch die
motorischen Hirnnerven sind mitunter
schon frühzeitig gelähmt, einmal der
Facialis, ein andermal die Augennerven,
wieder ein anderes Mal die bulbären;
alle diese Lähmungen, ob sie nun plötzlich
oder allmählich sich entwickelt haben,
haben keinen Bestand.
Gegenwart 1017* Juni „
Von besonderem Interesse sind die
sensiblen Störungen, welche als passageres
Syihptom viel häufiger sind, als man
früher geahnt hatte. Ich habe als aller¬
erstes Symptom einer multiplen Sklerose
eine Analgesia dolorosa im Trigeminus¬
gebiete gesehen. Die Begrenzung des Sen¬
sibilitätsdefekts war segmentaler Natur.
Sensible Reizungs- oder Ausfallerschei¬
nungen am Rumpfe oder an den Extremi¬
täten sind nicht extrem selten; aber nur.
ganz ausnahmsweise persistieren sie.
Blasenstörungen sind mitunter in den
Frühstadien vorhanden; sie ändern dann
manchmal derart ihren Charakter, daß
der Arzt, selbst der Urologe an „reiz¬
bare Blase“ denkt. Bald prävaliert
dann die Harnverhaltung, bald die In¬
kontinenz im bunten Wechsel mit motori¬
schen Reizungszuständen der Blase (Bla-
sentenesmus mit Sphinkterkrampf jäh
alternierend). Die Blasenstörungen können
dann stark zurücktreten, um nach Jahren
neuerlich zu kommen.
Anfängliche Gangstörungen von cere-
bellarem Typus mit starkem Taumeln
und Neigung, nach rückwärts zu stürzen,
können fast ganz verschwinden.
Des Wechsels im Sehvermögen haben
wir bereits gedacht; auch Gehstörungen
sind, wenn einmal ausgebildet, nicht
immer von der gleichen Intensität und
Qualität. .
Dies ließe sich noch viel weiter aus¬
führen. Das wesentliche ist das
ständige Kommen und Vergehen
von Erscheinungen, wenn auch das
Vergehen oft nur ein vorüber¬
gehendes Zurücktreten des Sym¬
ptom es bedeutet.
Man muß diese Eigentümlichkeit der
multiplen Sklerose gut kennen und sie
sich immer wieder vor Augen halten, um
ja nicht bei der Diagnose zu straucheln.
Denn das proteusartige Bild, die ständigen
Wandlungen der Erscheinungen lassen
gar zu gerne an ein funktionelles Leiden
denken. Wenn eine motorische oder
sensible Lähmung nur einige Tage währt
und der Rückgang der Erscheinungen
zeitlich mit einer suggestiven Behandlung
koinzidiert, so liegt für den behandelnden
Arzt der Trugschluß sehr nahe: Post hoc
propter hoc. Wir haben schon bei den
Sehstörungen gehört, wie oft dieselben
als hysterische angesprochen werden; das
gkiche gilt aber auch für die motorischen,
den sensiblen, die Blasenstörungen usw.
Sie werden in der Praxis unendlich
häufig als hysterisch diagnostiziert.
Jurti ' Die Therapie der Gegenwart 1917. ' 205
Die Täuschung wird noch leichter, da
der Kranke mit multipler Sklerose in der
Tat außerordentlich oft an Hysterie
leidet. Ist keine Hysterie vorhanden, so
werden kaum je neurasthenische Züge im
Krankheitsbilde fehlen.
Es ist das typische Schicksal
der armen Kranken mit multipler
Sklerose, daß ihr Leiden lange
Zeit für Hysterie gehalten wird,
bis ein erfahrener Arzt die eigentliche
Krankheit richtig erkennt. Rücksprache
mit vielen bedeutenden Neurologen ver¬
schiedener Länder haben mir gezeigt, daß
der gleiche Irrtum im Beobachten und im
diagnostischen Schlußfolgern von den
Praktikern verschiedener Länder und
Sprachen begangen wird. Ist einmal die
Diagnose auf Hysterie bei den beklagens¬
werten Patienten gestellt, so werden alle
Erscheinungen auf diese Krankheit be¬
zogen und die Behandlung dement¬
sprechend eingeleitet. Häufig gereicht
den Kranken diese Annahme zu schwerem
Nachteile.
Wie oft habe ich nicht in der Kon-
siliarpraxis junge Frauen mit multipler
Sklerose gesehen, zu welchen ich wegen
vermeintlicher hartnäckiger hysterischer
Beschwerden gerufen wurde. Eine sorg¬
fältige Anamnese ergab dann regelmäßig,
daß die Anfänge des Leidens sich schon
in der Mädchenzeit zeigten. Wenn ich
an meine Erfahrungen zurückdenke, so
erinnere ich mich an Kranke, bei welchen
flüchtige Paresen von Extremitäten,
Blasen- und Augenstörungen vom Haus¬
arzte als hysterische angesprochen worden
waren. Unter den Kollegen waren viele
tüchtige Praktiker, welche sich aber durch
die zweifellos vorhandene Hysterie in der
Gesamtauffassung des Falles hatten be¬
stimmen lassen. •
Es ist nun auffallend, wie oft die mul¬
tiple Sklerose in solchen Fällen in der
Mädchenzeit relativ benigen verläuft und
wie häufig sie in den ersten Jahren der
Ehe rapide fortschreitet. Ich deute
diesen, oft von mir erhobenen Verlauf
auf folgende Weise: Die Gruppe der
Kranken, welche ich im Auge habe, be¬
trifft durchwegs Frauen der wohlhabenden
Kreise. Die Mädchen aus sogenanntem
guten Hause werden nicht durch schwere
Arbeiten, Sorgen oder gar durch Nahrungs¬
mangel niedergedrückt. Daher wird das
Nervenleiden relativ gut ertragen, be¬
sonders weil Gelegenheit zur ausgiebigen
Schonung bei größeren Beschwerden ge¬
geben ist. Die Heirat ändert diese Ver¬
hältnisse mit einem Schlage. Die Gründung
des neuen Haushaltes bringt viele neue
ungewohnte Sorgen, auch wächst oft mit
der Änderung der Lebensweise die rein
körperliche Anstrengung. Dazu kommen
bei den neuropathisch veranlagten In¬
dividuen die Erregungen des sexuellen
Verkehres und schließlich eine Schwanger¬
schaft mit den gewaltigen Umwälzungen
des Organismus. Alle diese Faktoren ver¬
mindern die Widerstandskraft des Nerven¬
systems, die Kranke, deren Leiden lange
stationär oder nur wenig progressiv .war,
bemerkt zu ihrem Schrecken in rascher
Folge neue Erscheinungen, welche ihrer¬
seits wieder neue hysterische Symptome
auslösen können.
Mädchen, weiche sich nicht so schonen
können, sondern schon früh in den
Existenzkampf eintreten mußten, brechen
auch früher zusammen und so erklärt
sich auch der Umstand, daß wir im
Krankenhause häufig, in der Privatpraxis
relativ selten schwere Formen von mul¬
tipler Sklerose bei Mädchen sehen.
Unter Berücksichtigung der früheren
Darlegungen ist dringend zu raten, in
jedem Falle*von Hysterie, in wel¬
chem durch längere Zeit hindurch
über Versagen von Gliedmaßen, Seh¬
störungen, Sensibilitätsstörungen, kurz
über körperliche Symptome ge¬
klagt wird, an die Möglichkeit
einer konkomitierenden multiplen
Sklerose zu denken. Verlust der
Bauchdeckenreflexe, Steigerung
der Sehnenreflexe an den unteren
Extremitäten, dorsal gerichtetes
Babinskisches Zehenphänomen
gibt diesem Verdachte eine festere
Grundlage.
Der Verlauf der multiplen Sklerose
geht oft mit schubweisen Verschlim¬
merungen und mit spontanen Re¬
missionen einher. Sehr oft kann man
Gelegenheitsursachen ausfindig machen,
welche einer Progression der Erschei¬
nungen vorausgegangen sind. Seelische
Erregungen, körperliche Anstrengungen,
Unterernährung, Infektionen und Intoxi¬
kationen, Witterungse.inflüsse, namentlich
Durchnässungen, bei Frauen eine Schwan¬
gerschaft sind solche Gelegenheitsursachen,
nach deren Einwirkung auf den Organis¬
mus die Krankheitserscheinungen eine
Verschlimmerung zu zeigen pflegen.
Die Kenntnis dieser Exacerbationen
und ihrer Ursachen ist therapeutisch
wichtig. Gelingt es,.die schädlichen. Ein¬
flüsse auszuschalten, kann man die Kran-
206 Die Therapie der Gegenwart 1917. Juni
ken an einem ruhigen Orte, geschützt
vor psychischen Emotionen, pflegen und
gut ernähren, so kann man oft eine
Remission herbeiführen. Ein Rück¬
gang der Erscheinungen ist um so leichter
zu erzielen, je größer der Unterschied in
der Lebensführung und Pflege vor und
nach Einleitung der Behandlung gewesen
war. Anämische, unterernährte Kranke,
welche unter unhygienischen Verhält¬
nissen gelebt hatten, vielen Erregungen
ausgesetzt waren, geben eine relativ
günstige Prognose, wenn sie in das Kran¬
kenhaus überführt werden. Wir sehen
beinahe regelmäßig im Spital eine Re¬
mission schon bald nach der Einlieferung
einsetzen. Dieses Verhalten ist ein so
regelmäßiges, daß ein Zufall wohl aus¬
zuschließen ist. Dabei ist die Behand¬
lung vorwiegend eine exspekative und
symptomatische. ' Die Kranken halten
strenge Bettruhe, werden überernährt,
dürfen nicht viel und keine langen Be¬
suche erhalten. Alkoholgenuß jeder Art
ist ausgeschlossen; Rauchen ist verboten.
Es werden tägliche lauwarme Bäder von
zehn bis zwölf Minuten Dauer oder auch
lauwarme Einwickelungen des Rumpfes
und der unteren Extremitäten von halb-
bis einstündiger Dauer verordnet. Mit¬
unter wird zu den Bädern ein kräftiger
Absud von Kamillen (etwa ein Liter des
Absuds auf ein volles, mittelgroßes Bad)
hinzugesetzt oder etwas Fichtennadel¬
extrakt hinzugegossen. Nach dem Bade
kommen die Kranken in das vorgewärmte
Bett. Bei Wickelungen geben wir eine
Wärmflasche zu den Füßen, einen kalten
Umschlag auf den Kopf der Kranken.
Jede erregende hydriatische Prozedur
(Douchen, Abreibungen, kalte oder heiße
Bäder) wird von uns vermieden.
Regelmäßig pflegen wir eine Arsen¬
behandlung einzuleiten, am liebsten in
Form von Kakodylinjektionen (täglich
0,03 g Natrium Kakodylicum oder Me-
tharsinate-Natrium methylarsenicicum-
Merck subcutan). Die Zahl der In¬
jektionen einer Serie beträgt an unserer
Abteilung in der Regel 30, und zwar geben
wir die Einspritzungen täglich, bei emp¬
findlichen Kranken jeden zweiten Tag.
Daneben geben wir in der Regel innerlich
ein Eisenpräparat, ohne daß wir ein
bestimmtes besonderes bevorzugen wür¬
den.
Recht bewährt hat sich mir Eisen
innerlich in Verbindung mit Nux vomica
und Natrium kakodylicum. Ich verordne
dann in der Regel:
Rp. Ferratin (oder Triferrin) 10,0
Natr. Kakodyl.
Extr . nuc. vomic. ad 0,25
Massa pilul. qu. s. u. f. pilul 100
D'S. 4 Pillen täglich.
Die Pillen werden durch drei bis vier
Monate hindurch täglich genommen. Da
sie appetitanregend sind und da sich der
Kranke bei ihrem «Gebrauche wohl fühlt,
so hält der Patient in der Regel große
Stücke auf das Medikament.
Wenn es sich irgendwie ermöglichen
läßt, lagern wir den Kranken im Freien;
im Sommer auch den ganzen Tag. Wenn
der Kranke die Sonne verträgt, so lasse
ich Sonnenbäder brauchen, zuerst von
ganz kurzer Dauer (zehn Minuten), später¬
hin bis % Stunden, auch bis zu . einer
Stunde. Die Kranken müssen sich aber
wiederholt umdrehen, um eine möglichst
gleichmäßige Einwirkung der Sonne auf
die Haut zu erzielen. Bei Schwindel¬
anfällen, Kongestionen, Kopfschmerzen
sind die Sonnenbäder kontraindiziert.
In unserem Krankenhause steht uns
Radium in großer Menge zur Verfügung.
Wir lassen in unserem Emanatorium,
dessen Luft mit 50 bis 60 Mache-Einheiten
pro Liter geschwängert ist, die gehfähigen
Kranken mit multipler Sklerose täglich
anfangs 20 Minuten, später bis zu einer
Stunde verweilen. Uns scheint es, wie
wenn durch das Radium die Rückbildung
mancher Erscheinungen, namentlich sen¬
sibler Reizerscheinungen, begünstigt
würde.
Den gleichen Eindruck haben wir von
Kuren in Bädern mit stark radium¬
haltigen Wässern, so in Bad Gastein,
Joachimsthal, Ragaz-Pfäffers und in
vielen ,,Wildbädern“. Jedoch warne ich
dringend vor Anwendung zu heißer Bäder.
Es können unmittelbar nach dem Bade
Körperlähmungen auftreten.
Die Prognose des Umfanges und der
Dauer einer Remission ist schwer zu
stellen. Bei nicht anämischen, wohl¬
genährten Individuen ist es überhaupt
zweifelhaft, ob man durch äußere Ma߬
nahmen eine Remission herbeiführen
kann. Die Prognose einer auch nur mäßig
progredienten multiplen Sklerose ist im
allgemeinen schlechter, wenn das Fort¬
schreiten der Symptome in einem Zeit¬
punkte eingesetzt hatte, in welchem der
Ernährungszustand ein guter und eine
Gelegenheitsursache für die Verschlim¬
merung nicht erkennbar war.
Juni
Die Therapie der Gegenwart 1917. 207
Die Remissionen können nicht selten
so erheblich werden, daß der_optimistisch
veranlagte, neurologisch wenig geschulte
Arzt an Heilung denkt. Auch wenn alle
Erscheinungen zurückgegangen sind,
bleibt das gegensätzliche Verhalten der
Bauchdecken- und Sehnenreflexe be¬
stehen als Warnungszeichen, daß die
Ruhe nur eine trügerische ist.
Wenn der Kranke ein ruhiges, gleich¬
mäßiges Leben führen kann, Jeeine Nah¬
rungssorgen hat und keinen Überanstren¬
gungen ausgesetzt ist, so kann der Rück¬
gang der Erscheinungen jahrelang an-
halten.
Vor Jahren habe ich bei einem Ju¬
risten Sehstörungen, Intentionstremor und
eine Hemiparese sich so weit rückbilden
sehen, daß sich der Kranke für voll¬
kommen genesen hielt. Nach einer zwei¬
jährigen Ruhepause vollendete der Kranke
gegen meinen Rat ein wissenschaftliches
Werk, welches viele mühsame Arbeit,
auch Nachtarbeit erforderte. Unmittelbar
nach Vollendung des Buches entwickelte
sich ein schwerster Rückfall der Krank¬
heit; die rasch fortschreitenden Sym¬
ptome (bulbäre Störungen, Blasenätörun-
gen, motorische Paresen) führten in
weniger als einem Jahre den Tod des
hochbegabten Mannes herbei.
Im Gegensätze hierzu beobachtete ich
eine Frau, bei welcher vor zwölf Jahren
nach schwersten Erscheinungen eine Re¬
mission eingetreten war, welche allerdings
nur die Lähmung der Arme und nicht die
der Beine behob. Die Kranke ist bei sorg¬
fältigster Pflege ihren Kindern erhalten
geblieben.
Meine Bemerkungen betreffen nur
einige Punkte in dem unendlich mannig¬
faltigen klinischen Bilde der .multiplen
Sklerose. Sie werden die Erkennung
mancher Fälle erleichtern und sie über¬
zeugen, daß die Prognose oft nicht so
tsaotlos ist, wie viele Ärzte vermuten.
Zur Behandlung der Lungenentzündung mit Optochin.
Von Prof. Dr. H. Rosin-Berlin.
Wir besitzen bekanntlich nicht viele
chemische Mittel, die auf Mikroorganis¬
men specifisch wirken. Von den älteren
ist nur das Chinin bei der Plasmodien¬
krankheit der Malaria, also einer nicht
bakteriellen, bekannt. Ob die Salicyl-
präparate bei der Polyarthritis specifisch
wirken und zwar parasiticid, erscheint
mehr als fraglich. Später hat dann Ehr¬
lich zuerst experimentell und zielbewußt
die Arsenpräparate gegen die Spiro¬
chätenkrankheiten angewendet, zu denen
auch die Lues zu rechnen ist. Seinem
Schüler Morgenrot h ist es schlie߬
lich gelungen, erstmalig ein echtes spe-
cifisches bakterientötendes Mittel
zu finden, nämlich das Optochin, eine
dem Chinin chemisch verwandte Sub¬
stanz, eigentlich Äthylhydrocuprein, das
in millionenfacher Verdünnung die Pneu¬
mokokken (und nur diese in so starker
Verdünnung) in Kulturen und im Tier¬
körper tötet.
Nachdem das Mittel in die klinische
Behandlung der Pneumokokkenkrank¬
heiten seit mehreren Jahren eingeführt
worden ist, hat sich eine umfangreiche
Literatur über dieses Specificum ent¬
wickelt. Freunde und Gegner des Mittels
traten auf den Plan, und es ist für den¬
jenigen Praktiker, der es selbst noch nicht
oder nicht genügend angewendet hat,
nicht leicht, sich ein Urteil zu bil¬
den, wie er sich zu der Anwendung
des Mittels stellen solle. Ich möchte
auf Grund der Erfahrung, die ich gleich
nach Einführung des Optochins bis heute
gesammelt habe, in diesem der Therapie
gewidmeten Blatte ein eigenes, möglichst
objektives Urteil abgeben.
Das Mittel wird in verschiedenen Ver¬
bindungen von der Firma Zimmer & Co.
in Frankfurt angefertigt und den Apothe¬
kern zugestellt. Am häufigsten findet
sich das älteste Präparat in den Apo¬
theken, nämlich das leichtlösliche Op-
tochinum hydrochloricum. Nicht
überall bis jetzt zu haben ist die schwer¬
lösliche Base des Salzes, Optochi-
num basicum, neuerdings wird auch
das schwerlösliche Optochinum tan-
nicum dargestellt; es findet sich noch
wenig im Handel. Endlich gibt es noch,
fast schon von Beginn der Einführung
des Mittels 'an, den Optochinsalicyl-
ester, ebenfalls schwerlöslich.
Ich will hier nur auf das Optochi¬
num hydrochloricum und basicum
eingehen. Die Eigenschaften dieser beiden
Präparate sind zwar in bezug auf die Ab¬
tötung der Pneumokokken bei gleicher
Dosierung identisch, sie sind aber von
außerordentlich großer toxikolo¬
gischer Verschiedenheit beim Auf¬
enthalt im menschlichen Körper.
Das Optochinum hydrochloricum wird
208
Die Therapie der Gegenwart 1917. Juni
außerordentlich rasch resorbiert,
überschwemmt daher den Organismus,
wird dementsprechend ebenso leicht aus¬
geschieden und seine Wirkung ist rasch
zu Ende. Die Optochinbase, im Organis¬
mus äußerst schwer löslich, wenn man
nur dafür gesorgt hat, daß nicht
etwa im Magen die salzsaure Ver¬
bindung sich entwickelt, geht gleich¬
sam tröpfchenweise durch Resorption in
den Blut- und Säftestrom, kommt in¬
folgedessen zwar in kleineren Mengen,
aber viel länger mit den Pneumo¬
kokken in Berührung, ohne sonst bei
geeigneter Dosierung toxisch zu wirken,
und gelängt naturgemäß auch langsamer
zur Ausscheidung. Mendel in Essen hat
auf diese Verhältnisse in klarster Weise
hihgewiesen.
Gegner sind dem Mittel hauptsäch¬
lich aus einem einzigen, allerdings schwer¬
wiegenden Grunde entstanden: es sind
wiederholt Amblyopien, ja in ganz
wenigen Fällen sogar dauernde Amau¬
rosen beobachtet worden. Würde in der
Tat diesem schweren Schaden nicht ab¬
zuhelfen sein, sö würde leider die Aus¬
sicht gering sein, daß dieses in seiner
Art einzige wahrhaft specifisch
bactericide Mittel seine ihm sonst ge¬
bührende Position sich erringen wird.
Diesen Sehstörungen kann man aber
mit Leichtigkeit entgehen, wenn man
1. die Dosen nicht zu hoch nimmt und
vor allem 2., wenn man innerlich nie¬
mals das leichtlösliche salzsaure
Salz, sondern die schwerlösliche Op¬
tochinbase anwendet, wobei man jedes¬
mal bei der Darreichung die Salzsäure
des Mageninhalts durch reichliches
Alkali vorübergehend überneutra¬
lisiert.
Ich habe im Laufe der letzten drei
Jahre das Mittel in etwa 200 Fällen in
dieserWeise angewendet und niemals auch
nur die geringste Sehstörung erfahren.
Ich verfahre in der Dosierung folgender¬
maßen: Pro dosi wird 0,25 g Op-
tochinum basicum in Kapseln (das
Mittel ist äußerst bitter) dargereicht.
Da leider in den Apotheken das salz¬
saure Salz öfter als die Base anzutreffen
ist, so muß der Apotheker ganz besonders
scharf durch Unterstreichung des
Wortes basicum darauf aufmerksam
gemacht werden, um nicht etwa, wie es
leider geschieht, an Stelle der Base das
lösliche Salz zu verabfolgen. Eventuell
untersuche man den Inhalt der ersten
Kapsel, ob er sich in Wasser leicht löst.
Am besten wäre es freilich, wenn die
Fabrik Zimmer & Co. sich entschließen
könnte, was sie noch nicht getan hat, das
lösliche Salz lediglich zur äußeren An¬
wendung in der Augenheilkunde anzu¬
fertigen und in diesem Sinne den Apo¬
thekern zu überweisen. Man gibt dann
das Mittel nach Mendels Vorschrift nur
alle fünf Stunden, freilich ohne
Pause, auch nach.ts. Man gibt im
allgemeinen nur zehn Dosen innerhalb
50 Stunden; in zwei Tagen ist man damit
fertig. Und in dieser Zeit ist auch die
stets lytische Entfieberung oft schon
vollzogen. Ist der Patient schon früher
fieberfrei, so hört man natürlich früher
auf. Handelt es sich nur um eine Pseudo¬
krise, so kann man den Rest der Kapseln
weitergeben. Ich war nur bei Wander¬
pneumonien genötigt, statt der 2,5 g (im
ganzen) etwas mehr, etwa 15 Dosen
(3,75 g) zu verabfolgen.
Von größter Wichtigkeit ist, daß man
vor der Darreichung einer jeden Kapsel
den Mageninhalt mit einem gehäuften
Teelöffel doppelkohlensaurem Na¬
tron am besten in etwas Fachinger
Wasser neutralisiert. Wem Milch
zu Gebote steht, der mag zugleich Milch
geben, welche die Salzsäure auch noch
durch das Casein bindet. Man vermeide
auch bei der Ernährung alle den Magen
reizenden und Salzsäure produ¬
zierenden Nährstoffe, vor allem, die
Eiweißkörper von Fleisch, Fisch und
Eiern, ferner Bouillon und endlich Pflan¬
zensäuren. Am besten eignen sich un¬
gesalzene Mehle, Milch, Butterfett und
Gemüsebrei. Ich empfehle übrigens
dringend, die Anfertigung von Gelodunt-
kapseln mit 0,25 g Optochinum basicum;
durch diese Form werden alle Schwierig¬
keiten ausgeschaltet, die sich aus der
Magensalzsäure ergeben.
So angewendet, wird sicherlich das
Optochinum basicum vor allem keinen
Schaden stiften. Die Wirkung aber ist,
wie ich versichern kann, besonders wenn
das Mittel rechtzeitig angewendet
wird, überraschend und oft lebensrettend.
Je früher Optochin angewendet, um so
größer sein Erfolg. Ist die Pneumokokken¬
sepsis sehr hochgradig, mit den ominösen
meningealen Symptomen kompliziert, so
hängt sogar alles davon ab, daß nicht
lange gezögert wird und die gefahr¬
drohende Herzschwäche sich nicht allzu
intensiv entwickelt. Aber auch nach ein¬
wöchiger Dauer habe ich bei schwerster
Erkrankung alter Leute rasche Heilung
Juni Die Therapie der Gegenwart 1917. 209
da erfolgen sehen, wo sonst die Prognose
letal zu stellen gewesen wäre. Nur wenige
Beispiele mögen hier angeführt werden:
68jährige Patientin. Leidet seit Jahren an
Angina pectoris und Hypertension. Erkrankt an
Pneumonie des rechten Unterlappens mit sofort
einsetzender hochgradiger Atemnot und Puls¬
beschleunigung über 120. Am vierten.Tage der
Erkrankung wurde die Patientin mit Optochinum,
basicum fünfstündlich V 4 g, im ganzen zehn
Dosen behandelt. Das Fieber fiel innerhalb von
drei Tagen lytisch zur Norm ab. Patientin wurde
ohne Komplikationen gesund. Sie leidet noch
immer an Hypertension,'doch ist das Herz seit
der Erkrankung vor zwei Jahren dauernd funk¬
tionstüchtig geblieben.
72jähriger Herr. Pneumonie rechts unten
und links oben. Patient ist bereits vor sechs
Tagen mit Schüttelfrost erkrankt'. Seit gestern
ist er .benommen. Puls nicht sehr beschleunigt
(90), genügend voll. Systolisches Geräusch an
der Aorta. Hohes Fieber, meist um 40. Mit zehn
Dosen Optochin geht die Temperatur nach zwei
Tagen bis auf 38. Optochin wird ausgesetzt. Am
dritten Tage wieder Anstieg. Es zeigt'sich jetzt
ein Herd links unten, während die Herde rechts
unten und links oben sich in Resolution befinden.
Wanderpneumonie. Patient ist wieder sehr be¬
nommen, der Puls beschleunigt, ,120. Es werden
nochmals zehn Dosen Optochin gegeben, wonach
der Patient fieberfrei wird. Es tritt Heilung ohne
Komplikation ein. Patient ist seit einem halben
Jahre gesund und tätig.
72jährige Frau. Pneumonie rechts unten.
Sechster Täg nach dem Schüttelfröste. Starke
Atemnot, Puls 110. Nach zehn Dosen Optochin
wird die Patientin innerhalb dreier Tage lytisch
fieberfrei. .
Schwere Fälle von Pneumonie bei
Arteriosklerotikern und alten Leuten ha¬
ben in der Regel bekanntlich eine für das
Leben ungünstige Prognose. Fälle, wie
die vorstehenden, sollen ein Beispiel dafür
sein, daß auch prognostisch ungünstige
Fälle durch Optochin erhalten werden
können. Sie wären mit großer Wahr¬
scheinlichkeit sonst der Infektion erlegen,
obwohl sie selbstverständlich, wie alle
Fälle von Pneumonie, mit Digitalis gleich¬
zeitig behandelt worden sind. Jeder Er¬
fahrene weiß, daß die Schwere der Pneu¬
monie durchaus sich nicht nach dem
Alter richtet. Es gibt jugendliche Fälle
von Pneumokokkensepsis, die vor der
Optochinbehandlung unfehlbar verloren
waren; die frühzeitigen Delirien solcher
Fälle, die keineswegs immer auf Alkoholis¬
mus zurückgeführt werden können, kün¬
digten gleich von den ersten Tagen der
Erkrankung den üblen Ausgang an. Und
umgekehrt kennt man Greisenpneumonien
bei hochgradiger Arteriosklerose, die einen
sehr gutartigen Verlauf nahmen. Allein
ich verfüge über eine sehr große An¬
zahl von solchen Greisenpneumonien, bei
denen die Prognose außerordentlich übel
erschien und die sicher zugrunde gegangen
wären, wenn mir das Optochin nicht zu
Gebote stand, das mir seither das Gefühl
weitaus vermehrter Sicherheit den Pneu¬
monien gegenüber gewährt und sich
immer aufs neue bewährt hat.
Es wird sich verlohnen, das vorhandene
Material an anderer Stelle statistisch zu
verwerten. Hier sei das Mittel dem
P'raktiker aufs wärmste empfohlen.
Nochmals sei vor der Anwendung des
Optochinum hydrochloricum gewarnt und
darauf hingewiesen, daß der Apotheker
sich davor hüten sollte, aus seinen Be¬
ständen an salzsaurem Optochin das ver-
ordnete basische Optochin zu ersetzen
(z. B. wenn nur ,,Optochin“ verschrieben¬
ist). Daß dieser Fall Vorkommen kann,
lehrt die Publikation von, Ginsberg
(Danzig), welcher angab, bei basischem
Optochin Sehstörungen beobachtet zu¬
haben, während nachträglich sich heraus--
stellte, daß die von ihm verschriebene
Base durch das salzsaure Salz vom Apo¬
theker ersetzt worden war. Es ist, wie
schon erwähnt, zu bedauern, daß die
Fabrik, welche das Mittel anfertigt, das
salzsaure Salz noch immer zur internen
Behandlung gleichmäßig mit dem basi¬
schen zur Verteilung bringt.
Es sei zum Schlüsse nur darauf hinge¬
wiesen, daß Fritz Meyer eine Methode
der subcutanen Darreichung des Optochin--
esters ersonnen hat, die bei schweren
Fällen großen Nutzen verspricht, und
ferner, daß die Digitalistherapie der Pneu¬
monie neben dem Optochin nicht ver¬
nachlässigt werden soll.
Aus dem Krankenhaus in Horitz (Böhmen).
Zur Therapie der Genickstarre.
Von Josef Kudruäc.
Wenn wir die in der letzten Zeit er¬
schienenen Arbeiten über die Behandlung
der Meningitis cerebrospinalis epidemica
betrachten, so sehen wir, daß die Lumbal¬
punktion die besten Erfolge liefert, wenn
sie systematisch, das heißt bei jedem ge¬
ringen Zeichen des erhöhten Interlumbal¬
druckes durchgeführt wird, mit nach¬
folgender Applikation des specifischen
Serums. Dabei scheint die einfache Lum¬
balpunktion— das heißt die rein sympto¬
matische Therapie — gegenüber der spe-
27
210
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Juni
cifischen Therapie stark im Vordergründe
zu stehen. Alle, die auf diesem Gebiete
gearbeitet haben, stimmen in dieser Hin¬
sicht überein.
Die specifische Therapie hat bisher bei
den Meningokokkeninfektionen keines¬
wegs so schöne Resultate gezeigt, wie es
bei einigen anderen Infektionen, insbe¬
sondere der Diphtherie, der Fall ist. Bei
der Meningokokkensepsis z. B. hat sie
uns vollkommen im Stiche gelassen. Un¬
längst hat J. Zeisler und F. Riedel (1)
zwei solche Fälle von Meningokokken¬
sepsis ohne Meningitis beschrieben. Nach
diesen Autoren sind manche Fälle von
sogenannter kryptogener Sepsis durch
Meningokokken verursacht; die Diagnose
solcher Meningokokkämie gründet sich
auf den positiven Blutbefund. In einem
Falle hat die angewendete Serumbehand¬
lung gänzlich versagt, im anderen führte
intravenöse Injektion von Aqua destil-
lata zum Erfolge.
Ebenso unsichere Resultate hat die
Serotherapie bei der Behandlung der
Meningokokkenmeningitis, wenn sie allein
angewendet ist. Friedemann hat z. B.
bei den nur mit Serum behandelten Pa¬
tienten 50% Mortalität gehabt.
Bessere Erfolge sind, wie oben gesagt,
durch systematische Lumbalpunktionen
mit nachfolgender Serotherapie erzielt
worden. Nach Goebel und Heß (2)
wurde durch diese kombinierte Therapie
die Gesamtsterblichkeit auf 28,5 % herab¬
gedrückt. Brach und Fröhlich (3) re¬
ferieren über zehn auf diese Weise be¬
handelte Fälle, von denen nur ein Fall
ad exitum kam. Auch Foster (4) hat
durch wiederholt angewendete Lumbal¬
punktionen und Ablassen von 15 bis
35 ccm Liquor mit nachfolgender Injek¬
tion des Meningokokkenserums in den
Duralsack ausgezeichnete Resultate er¬
zielt.
Götz und Haufland (5) berichten
über 61 Fälle mit einer Gesamtsterblich¬
keit von 24,5'%. Auch hier wurden mehr¬
mals wiederholte Lumbalpunktionen mit
nachfolgender Einspritzung des auf Kör¬
perwärme gebrachten Meningokokken¬
serums gemacht. Bei Mischinfektionen
haben die Autoren den Lumbalkanal mit
30—70 ccm Ringerscher Lösung durch¬
gespült.
0 D. m. W. 1917, Nr. 9.
2 ) M. m. W. 1915, Nr. 48.
: ) W. kl. W. 1915, Nr. 20.
4 ) Br. med. J., 27. März 1915.
s ) D. m. W. 1916, Nr. 42.
Soweit sich aus diesen Angaben schlie¬
ßen läßt, kommt bei der Behandlung dieser
Krankheit vielmehr die systematische
Punktion des Lumbalkanals in Betracht
als die Serotherapie selbst. Schon Foster
beweist das, indem er betont, daß die
Serotherapie hier keine besseren Resul¬
tate gibt als die einfache Punktion. Neuer¬
dings hat Riedl über fünf Fälle und fünf
Heilungen berichtet. Die Kranken wurden
zwischen dem zweiten und fünften Tage
nach dem Beginne der Krankheit einge¬
liefert. Alle boten das typische Krank¬
heitsbild dar. Es wurde sofort Liquor ab¬
gelassen und dann in der ersten Zeit täg¬
lich, später nur bei bedrohlichen menin-
gealen Erscheinungen. Innerlich wurde
Urotropin gegeben. Als Indikation zur
neuen Punktion gibt er jede Fiebersteige¬
rung, Liquortrübung, Auftreten der me-
ningealen Symptome an. Die Punktionen
wiederholte er je nach dem Bedarf bis
in die vierte, ja sogar fünfte Woche hin¬
ein, so daß in einem Falle im ganzen
18 Punktionen gemacht wurden. Besse¬
rung trat nach jeder Punktion ein, gänz¬
lich aber verschwanden die Erscheinungen
nicht. In allen Fällen kam es zu voll¬
kommener Heilung.
So darf man sagen, daß die Lumbal¬
punktion, deren günstiger Einfluß auf die
Krankheit durch das Ablassen des Liquors
und also durch die Herabsetzung des
Intralumbaldruckes verständlich ist, die
Therapie der Meningitis vollständig be¬
herrscht.
Etwas Neues hat Fried mann (1) in die
Therapie der Genickstarre eingeführt.
Er hat acht Fälle mit intralumbalen Opto-
chininjektionen behandelt und geheilt,
obwohl, wie er betont, die Krankheit
meist einen bösartigen Eindruck machte.
Soweit ich weiß, ist die Optochintherapie
anderwärts noch nicht angewandt worden.
Unlängst hat Bamberger über einen
Fall von Meningitis cerebrospinalis refe¬
riert, in welchem er durch eine einfache
Methode — intravenöse Einspritzung von
1% Milchsäure und zwar an zwei Tagen
hintereinander je eine Spritze — schnell
vollständige Heilung erzielt hat.
Die intravenöse Injektion der 1 %igen
Milchsäurelösung hat Prof. Jessen in
die Therapie eingeführt. Wie er ängibt,
wirkt auf diese Weise angewendete Milch-
säqre zuerst bactericid — wo sie mit Bak¬
terien in Berührung kommt — und dann
hämolytisch; durch Auflösung roter Blut-
2 ) B. kl. W. 1914, Nr. 16.
Juni Die Therapie der
körperchen werden die darin enthaltenen
Eigenschutzkörper frei. Auch das Proto¬
plasma der Leukocyten löst sich auf, die
Kerne bleiben aber intakt.
Günstige Resultate von intravenösen
' Milchsäureinjektionen hat Prof. J es s e n bei.
beginnender Tuberkulose gesehen, über
die er in der Ztschr. f. Tbc. Bd. 24, Nr. 3,
referiert hat. Man muß. hier sehr vor¬
sichtig vorgehen, um große Reaktionen
zu vermeiden. Weitere Versuche bei Sep¬
sis, Gelenkrheumatismus und Endokar¬
ditis haben ebenfalls gute Erfolge gezeigt.
Was man bei dem Gelenkrheumatismus
durch hohe Dosen reiner Salicylsäure —
dabei kommt noch die eventuelle Nieren¬
reizung in Betracht — erzielt hat, das
kann man anscheinend auch durch ein¬
fache intravenöse Injektion erreichen.
Freilich wird man sich stets vor Augen
halten müssen, wie kritisch man kleine
Beobachtungsreihen gerade bei der Thera¬
pie solcher Infektionskrankheiten be¬
trachten muß, die nicht durch einen ge¬
setzmäßigen Verlauf gekennzeichnet sind.
Immerhin ist es bedauerlich, daß die Ver¬
suche von Prof. Jessen bisher unbeachtet
geblieben sind. Bei uns kommen nur
sporadische Meningokokkenmeningitiden
vor und ziemlich selten. In der letzten
Zeit standen nur zwei Fälle in Behand¬
lung. Einer von diesen —? durch Lumbal¬
punktionen und Serotherapie behandelt —
ist gestorben.
Im anderen Falle bin ich mit der
intravenösen Milchsäuretherapie zu ebenso
gutem und raschem Erfolge gekommen
wie Bamberger.
Die Krankengeschichte dieses Falles
ist folgende:
J. M., 4 Jahre alt. Am 4. Januar 1917 auf¬
genommen.
Eltern und Geschwister gesund, bisher nie.
krank gewesen. Seit zirka fünf Tagen fühlte sich
etwas unwohl. Appetit verloren, über Müdigkeit,
ziehende Rücken- und Gliederschmerzen geklagt.
Vor drei Tagen auf einmal Verschlimmerung
des Zustandes. Erbrechen, große Kopf- und
Rückenschmerzen, Unruhe, Schlaflosigkeit, ist
stark hyperästhetisch gegen Licht und Geräusche.
Langsam entwickelt sich die Nackensteifheit, die
sich weiter auf die ganze Wirbelsäule ausdehnte.
Jetzt ist die Genickstarre so ausgebildet, daß das
Kind den Kopf in die Kissen bohrt.
Status praesens: Kind anämisch, apathisch,
das Hinterhaupt an die Wirbelsäule angezogen,
der Rumpf im Bogen fixiert.
Gegenwart 1917. 211
Läßt Urin und Stuhl unter sich. Pupillen weit,
träg auf Licht reagierend. Lungen und Herz ohne
Befund. Bauch eingezogen, die unteren Extremi¬
täten in Knien gebeugt und an den Bauch an¬
gezogen. An der Brust und oberen Extremi¬
täten purpurrote Flecken, Kernig stark positiv,
Patellarreflexe nicht gesteigert. Stark ausgebil¬
deter Dermographismus. Urin enthält Eiweiß.
Lumbalpunktion: Liquor quillt unter er¬
höhtem Drucke aus, trüb, stark sedimentierend.
Im Sedimente pölynucleäre Leukocyten mit Di¬
plokokken. Im Ausstrichpräparate von Nasen¬
schleim gramnegative Diplokokken.
Am zweiten Tage nach der Aufnahme meta-
stastischer Absceß, faustgroß, an der äußeren un
teren Seite des linken Oberschenkels. Nach
Incision große Menge von schmutzig gefärb¬
tem Eiter.
Am 6. Januar (siehe Tabelle) wurde mittags
zuerst V 2 ccm l%ige Milchsäurelösung in die Vena
mediana - cubiti eingespritzt. Abends, leichtes
Frösteln, Erhöhung der Temperatur bis zu 39,9°.
Am nächsten Tage leichter Abfall der Temperatur,
sonst bleibt der Zustand unverändert.'
Am 9. Januar zweite Injektion von 1 ccm
Reaktion bestand wieder im leichten Frösteln,
Temperaturerhöhung. Schon am zweiten Tage
fällt die Temperatur kritisch ab und Hand in
Hand mit dem Temperaturabfalle lassen auch
die anderen Erscheinungen nach.
Bald darauf hellte sich das Bewußtsein auf,
die Schmerzen lassen nach, Schlaf von jetzt ab
ungestört, Appetit bessert sich, Pupillen reagieren
prompt auf Licht, Nacken- und Wirbelsteifigkeit
lassen nach. Am längsten dauerte das Kernig-
sche Zeichen.
Geheilt entlassen.
Ich habe also dasselbe Heilresultat er¬
halten wie Bamberger. Doch bin ich
weit entfernt, daraus entscheidende
Schlüsse ziehen zu wollen. Es sind ja
bisher nur diese zwei Fälle bekannt. Das
ist aber auch nicht der Zweck meiner
Mitteilung. Ich möchte nur die Kollegen
anregen, diese einfache und wie es scheint
gute Methode an einem größeren Material
nachzuprüfen.
27*
212
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Juni
Colitis chronica gravis und Bacillendysenterie in ihren
Beziehungen.
H. Strauß-Berlin.
Von Professor Dr.
In den beiden letzten Jahrgängen
dieser Zeitschrift ist die Frage der sero¬
logischen Unterscheidung der Dysenterie
und der Colitis gravis (Rosenheim) be¬
ziehungsweise ulcerosa (Boas) oder sup¬
purativa (A. Schmidt) mehrfach Gegen¬
stand einer Erörterung gewesen. Nach¬
dem ich gezeigt hatte 1 ), daß die Sero¬
diagnostik ein neues Mittel darstellt, das
sich zur Unterscheidung dysenterischer
und nichtdysenterischer Formen von Cp-
litis chronica gravis sehr gut eignet, haben
sich mit dieser Frage außer mir vor allem
Dünner 2 ) und Ehr mann 3 ) beschäftigt.
Meine eigenen vor zwei Jahren mitge¬
teilten Untersuchungen hatten mich zu
der Auffassung geführt, ,,daß unter den
Fällen von chronischer unspecifischer Co¬
litis gravis eine größere Anzahl als die
Mehrzahl der Autoren bisher annahm, der
Dysenterie zuzurechnen ist“ und daß
,,die Agglutinationsprobe zur Unterschei¬
dung von dysenterischen und nichtdysen¬
terischen Formen von chronisch hämor¬
rhagischer Proctitis beziehungsweise Co¬
litis in Zukunft in praxi einer weit größeren
Beachtung bedarf, als ihr bisher auf
diesem Gebiete an den meisten Stellen
geschenkt worden ist“. Diesen Satz hatte
ich auf Grund von Untersuchungen an
14 Fällen von chronischer Procto-Sigmoi-
ditis haemorrhagico-purulenta — ich habe
diesen Ausdruck gewählt, weil neben der
Eiterabscheidung auch die Blutabschei-
dung der Krankheit ihr besonderes Ge¬
präge- verleiht, — ausgesprochen, von
welchen sechs beziehungsweise sieben, also
nahezu die Hälfte, eine Agglutination auf
Dysenteriebacillen im Verhältnis von min¬
destens 1:100 dargeboten hatten. Noch
weiter als ich ist Ehr mann in seinem
Urteile in einer jüngst erschienenen
Arbeit gegangen, indem er auf Grund
von sieben gleichfalls auf serologischem
Wege untersuchten Fällen nicht nur
meine Auffassungen bestätigte, sondern
direkt die Ansicht aussprach, daß
das Krankheitsbild der Colitis ulce¬
rosa suppurativa nicht weiter aufrecht zu
erhalten sei, und ,,daß es sich bei den
1 ) H. Strauß, Arch.f. Verdauungsk., Bd.21
und D.m.W. 1915 Nr. 36.
2 ) Dünner, Med. Kl Wochenschr 1915 Nr.46
und 1916 Nr. 47, Ther. d. Gegenw. 1916 Nr. 8 und
1917 Nr 4
:} ) Ehrmann, Berl. Med. Kl. Wochenschr.
1916 Nr. 48.
unter dem Bilde der Colitis ulcerosa sup¬
purativa verlaufenden Fällen meistens um
eine chronische atöxische Ruhr, zum
mindesten um Ruhr gehandelt hat“. Er
hält es „jetzt schon als sehr wahrschein¬
lich, daß bei der sogenannten Colitis ulce¬
rosa nichts anderes als eine chronische
Bacillen- oder Amöbenruhr oder andere
infektiöse Erkrankungen vorliegen“.
Dünner hat auf Grund serologischer
Untersuchungen gegen die von mir und
Ehr mann geäußerten Auffassungen Ein¬
wände erhoben. Gegenüber meinen Auf¬
fassungen macht er geltend, daß bei mei¬
nen Untersuchungen die Frage nicht be¬
rücksichtigt wurde, ob die Agglutination
eine fein- oder grobkörnige war. Gegen¬
über den Ausführungen von Ehr mann,,
welcher grobkörnige Agglutination fest¬
stellte, betont er, daß die Beziehungen
zwischen dem anamnestisch und serolo¬
gisch sichergestellten Dysenterieinfekt und
den klinisch festgestellten Krankheitsbil¬
dern seiner Fälle nicht immer über jeden
Zweifel erhaben sei. Ich gebe gern zu, daß
die von Dünner in bezug auf meine eigenen
Untersuchungen gemachten Bemerkungen
zutreffen und zwar aus dem einfachen
Grunde, weil zur Zeit, als ich meine Unter¬
suchungen ausführte, über die differential¬
diagnostische Bedeutung der genannten
Unterschiede im Ausfälle der Agglutina¬
tionsprobe nichts bekannt war. Denn
die Arbeit von Dünner, durch welche
die Aufmerksamkeit weiterer Kreise erst
auf die praktische diagnostische Bedeu¬
tung des fein- oder grobkörnigen Ausfalls
der Agglutination hingewiesen wurde, ist
erst einige Monate nach Veröffentlichung
meiner eigenen Untersuchungen erschie¬
nen. Dagegen ist in der erst Ende vorigen
Jahres erschienenen Arbeit von Ehr¬
mann, wie schon erwähnt worden ist,
nur ein grobkörniger Ausfall der Agglu¬
tination zum Ausgangspunkte der Be¬
trachtung gemacht worden. Leider hatte
ich selbst keine Gelegenheit, neue Bei¬
träge zu der subtilen Frage des Unter¬
schiedes zwischen feinkörniger und grob¬
körniger Agglutination zu liefern, da die
bakteriologische Abteilung der Prosektur
unseres Krankenhauses während der
Kriegszeit nicht in Betrieb .ist. Trotzdem
halte ich es aber für angezeigt, unter
spezieller Berücksichtigung der in der
letzten Nummer dieses Jahrgangs er-
Therapie der Gegenwart* Anzeigen.
Therapie der Gegenwart. Anzeigen.
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Heuschnupfen, Nachtschweißen der Phthisiker
Literatur:
Seifert (M. M.W. 1915, Nr. 27 und Derm. Klare (Deutsche Med. Wochenschr. 1916.
Woch. 1915, Nr. 42) Nr. 21)
Peperhowe (Münch. Med.W. 1916, Nr. 2) Amsler (Münch. Mediz. W. 1916, Nr. 18)
E. MERCK, DARMSTADT
C. P. BOEHRINGER & SOEHNE, MANNHEIM - WALDHOF
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14
Juni 1 Die Therapie der
schienenen Arbeit von Dünner hier
einige Bemerkungen zu der vorliegenden
Frage zu machen. Dabei möchte ich mich
allerdings nur auf die Erörterung der zwei in
der letzten Veröffentlichung von Dünner
in den Vordergrund gerückten Fragen be¬
schränken, nämlich erstens der Frage,
ob überhaupt und inwieweit eine fein¬
klumpige Agglutination imstande ist, den
Verdacht eines Dysenterieinfekts zu er¬
wecken, und zweitens der Frage, bis
zu welchem Grade es gelingt, auf‘klini¬
schem, speziell endoskopischem, Wege eine
scharfe Trennung zwischen dysenteri¬
scher und nichtdysenterischer Colitis,
chronica gravis auszuführen.
. In bezug auf den ersten Punkt muß
ich es als auffällig bezeichnen, daß in der
in der ersten Arbeit von Dünner ent¬
haltenen Tabelle mehrfach eine fein¬
klumpige Agglutination auf Shiga-Kruse-
Bacillen bei der Verdünnung von 1:80
und mehr in Fällen angegeben ist, welche
bei geringerer Verdünnung einen grob¬
klumpigen Reaktionsausfall dargeboten
hatten, und daß auch einige Fälle von
klinisch sicher gestellter Colitis haemorr-
hagica nur eine, feinklumpige Agglu¬
tination zeigten, während feinklumpige
Agglutination, wie Agglutination über¬
haupt, auf Shiga-Kruse-Bacillen bei
Patienten, welche keine Colitis haemorr-
hagica überstanden hatten, erheblich
seltener zu beobachten war. Diese
letztere Erscheinung trat bei den Unter¬
suchungen von Friedemann 1 ) und
Steinbock noch deutlicher zutage. Mit
Rücksicht auf die Beobachtungen von
Dünner, Friede mann und Steinbock,
Jacobitz 2 ) und Anderen gebe ich gern
zu, daß hinsichtlich der semiotischen Be¬
deutung eines grob- oder feinkörnigen
Ausfalls der Agglutinationsprobe ein Un¬
terschied besteht, doch scheint mir die
Frage, welcher Art diese semiotische
Bedeutung ist, zurzeit noch keineswegs
völlig geklärt. Wenn man einerseits er¬
wägt, wie zahlreich und biologisch un¬
gleich die verschiedenen Dysenterie¬
stämme sind, und weiterhin berücksichtigt,
daß im Laufe des Krieges bei einer ganzen
Anzahl von Menschen — und zwar auch
bei Angehörigen der Zivilbevölkerung —
klinisch latente Dysenterieinfekte vorge¬
kommen sein dürften, so ist meines Er¬
achtens mindestens mit der Möglichkeit
zu rechnen, daß auch solche Personen,
1 ) Friedemann und Steinbock, D. m. W.
1916 Nr. 8.
2 ) Jacobitz,'B. kl. W. 1916, Nr. 26.
Gegenwart 1917. 213 .
deren Serum eine feinkörnige Agglutina¬
tion darbietet, einmal Träger eines Dys-
enteriefnfekts gewesen sein dürften. Ein
Festhalten an meiner s. Zt. geäußerten
Auffassung erscheint mir auch so lange
gerechtfertigt, als sich nicht alle Autoren
darüber geeinigt haben, nur solche Dys¬
enteriestämme als für die Agglutinations¬
probe geeignet anzuerkennen, welche
mit agglutinierendem Serum eine grob¬
körnige Reaktion ergeben. Im übrigen
hatte ich mich seinerzeit gar nicht
bestimmt darüber geäußert, ob in den
betreffenden Fällen die Dysenterieerreger
allein für die Erzeugung aller ana¬
tomischen Veränderungen verantwort¬
lich zu machen sind oder ob es sich in den
betreffenden Fällen eventuell um eine
Mischinfektion auf dem Boden einer ur¬
sprünglich durch Dysenterieerreger. ein¬
geleiteten Erkrankung gehandelt hat.
Außerdem habe ich Beziehungen zu einem
Dysenterieinfekt nur für einen Teil der
Fälle für wahrscheinlich erklärt und nicht
nur Fälle meiner Beobachtung erwähnt,
in welchen die Ursache in einer syphiliti¬
schen Infektion beziehungsweise Hg : Kur
zu suchen war 1 ) sondern auch — was
zwar, wie ich glaube, zum ersten Mal — :
auf Grund eines Falles meiner Beob¬
achtung an den Paratyphus B als Er¬
reger einer chronischen Colitis haemor-
rhagica purulenta namhaft gemacht. In
meiner Mitteilung kam es mir überhaupt
in erster Linie darauf an, zu betonen,
daß wir in der serologischen Unter¬
suchung ein Mittel in der Hand haben,
um aus der Gruppe der ,kryptogene¬
tischen“ chronischen Colitis haemorrha-
gico-purulenta diejenigen Fälle her¬
auszuschälen, bei welchen ein
Dysenterieinfekt eine ätiologisch
bedeutsame Rolle spielt, und wei¬
terhin zu zeigen, daß die Zahl dieser
Fälle eine recht beträchtliche ist.
Was den zweiten Punkt betrifft, so
habe ich bei der procto-sigmoskopischen
Untersuchung einer sehr großen Zahl von
chronisch gewordenen „Felddysenterien“
mehr als ein halbes Dutzend von Fällen
gesehen, bei welchen die Endoskopie ab¬
solut nicht in der Lage war, einen
Unterschied zwischen dem Bilde
der chronischen Colitis haemor-
rhagico-purulenta der Friedenszeit
T Zurzeit habe ich eine Patientin aus der
hierher gehörigen Krankheitsgruppe in Behand¬
lung, die sowohl eine positive Wassermannreaktion
als auch eine positive Agglutinationsprobe auf
Dysenteriebacillen darbietet.
214
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Juni
und der in ihrem dysenterischen
Charakter durch die Anamnese, das
klinischeBild und den serologischen
Befund sichergestellten chroni-
schen „ Felddysenterien“ aufzu¬
decken. Wenn Dünner auf Unter¬
schiede im endoskopischen Befunde hin¬
weist, so gebe ich gern zu, daß solche
Unterschiede gelegentlich Vorkommen
mögen, bin aber auf Grund ausgedehnter
eigener Vergleichsuntersuchungen nicht in
der Lage, ein prinzipiell gegensätzliches
Verhalten anzuerkennen. Höchstens kann
ich für Fälle von Amöbendysenterie
zugeben, daß diese zuweilen-bis zu einem
gewissen Grade einen charakteristischen
Anblick darbieten. Wenigstens habe ich
mehrfach in derartigen Fällen eine große
Ahzahl zerstreut liegender miliarer bis
linsengroßer leicht blutender Geschwür-
chen auf einer nur mäßig geschwollenen
Schleimhaut beobachtet. Dagegen habe
ich bei chronisch gewordenen schweren
Bacillendysenterien meistens endoskopi¬
sche Bilder feststellen können, die sich
in nichts von denjenigen unterschieden,
welche ich von der Untersuchung überaus
zahlreicher Fälle von aus der Friedens¬
zeit stammender ,,kryptogenetischer“ Co¬
litis haemorrhagico-purulenta kenne.
Außerdem verfüge ich über vier Obduk¬
tionspräparate der „Friedensform“ bezw.
der „kryptogenetischen“ Form, bei wel¬
chen ich zahlreiche bis in die Submucosa
und zuweilen bis zur Muscularis reichende
Ulcerationen feststellen konnte. Es ist
außerdem noch zu berücksichtigen, daß
das endoskopische Bild der Colitis haemor¬
rhagico-purulenta in hohem Grade von
der Intensität und dem Stadium der
Krankheit beeinflußt wird, sodaß es bei
ein und demselben Patienten zu verschie¬
denen Zeiten außerordentlich variieren
kann.
In zwei anderen Punkten befinde ich
mich allerdings in erfreulicher Überein¬
stimmung mit Dünner. Der erste Punkt
besteht darin, daß die Colitis haemorrha¬
gico-purulenta kaum je zu Übertragungen
führt. Auch mir sind Übertragungen
nicht vorgekommen, trotzdem ich zahl¬
reiche schwere Fälle dieser überaus lang¬
wierigen und sehr lästigen Erkrankung
in Beobachtung hatte. Ich muß aber
gleichzeitig betonen, daß auch bei den
hier in Rede stehenden chronischen Fällen
der im Kriege entstandenen Bacillen¬
dysenterie Übertragungen überaus selten
sind. Auch in einem großen Reserve-
azarett, das lediglich mit chronische n
Verdauungskranken belegt ist und welches
stets eine größere Anzahl der hier in Rede
stehenden Fälle enthielt, habe ich in
anderthalb Jahren nur einmal eine Über¬
tragung auf wenige Personen beobachten
können. Da wir aber aus klinischen Beob¬
achtungen erfahren haben, daß unter
den zahlreichen Dysenterieerregern neben
hochinfektiösen Stämmen auch eine ganze
Reihe im Sinne der Übertragung wenig
infektiös wirkender Stämme vörkommt,
so sind meines Erachtens auch auf diesem
Gebiete keine zwingenden Gründe vor¬
handen, um ausgesprochene Gegensätze
zwischen den Erregern der „unspezifi¬
schen“ Colitis haemorrhagico-purulenta
und der Bacillendysenterie aufzustellen.
In uneingeschränkter Übereinstimmung
befinde ich mich jedoch mit G. Klemperer
und Dünner 1 ), wenn diese das „chroni¬
sche Rectalgeschwür“ in einen scharfen
Gegensatz zur . Colitis gravis bringen.
Soweit ich orientiert bin, ist eine solche
Auffassung auch bei der Mehrzahl der
Autoren vorhanden. Denn das, was
G. Klemperer und Dünner unter dem
Namen „chronisches Rectalgeschwür“ be¬
schreiben, gleicht im großen und ganzen
derjenigen Erkrankung, deren Schluß-'
Stadium unter dem Namen des „chronisch
stenosierenden Mastdarmgeschwüres“ oder
der „entzündlichen Mastdarmstenose“ be¬
kannt ist. Diese Fälle von Ulcus stenoti-
cans callosum, das man wegen seiner
Tendenz, auf die Umgebung überzugreifen
— ich habe mehrere solcher Fälle mit
massenhaften Fistelbildungen gesehen — r
sogar auch Ulcus callosum penetrans
nennen könnte, können auch nach eigenen
Beobachtungen in ihren Frühstadien als
isolierte große flächenhafte Geschwüre in
die Erscheinung treten, und auch ich bin
nicht nur mit Rücksicht auf die diver¬
gente Ätiologie der einzelnen Fälle (Lues,
Gonorrhöe, Actinomycose usw.), sondern
auch mit Rücksicht auf ihre Entwickelung
und ihren Verlauf und nicht zuletzt auch
mit Rücksicht auf die erhobenen histo- v
logischen Befunde (siehe besonders die¬
jenigen von Benda und Nakamura 2 )
geneigt, diese Erkrankung als „eine
zweite Krankheit“ im Sinne von Rössle
aufzufassen. Ich erkenne dabei gern an, daß
die erste’ Erkrankung zuweilen durch eine
Dysenterie bedingt sein kann, muß aber
gleichzeitig betonen, daß die Dysenterie
nach meinen Erfahrungen eine weit ge~
1 ) G. Klemperer und Dünner: Ther. d..
Gegenw. 1915, Nr. 11 u. 12.
2 ) Nakamura, Virch. Arch. 1914, Bd 215.
Juni
Die Therapie der Gegenwart 1917. 215
ringere Neigung zur Bildung organi¬
scher Stenosen zeigt, als dies anscheinend
auch jetzt noch von manchen Seiten an¬
genommen wird. Wenigstens habe ich
bei der großen Anzahl von chronisch
gewordenen '„Felddysenterien“, die ich
in den letzten 2% Jahren zu sehen
bekommen habe, bis jetzt noch keinen
einzigen Fall von organischer, in einwand¬
freier Weise durch die Dysenterie er¬
zeugter Stenose beobachten können, im
Gegensätze zu den bei chronisch gewor¬
denen Dysenterien recht häufig zur Beob¬
achtung gelangenden spastischen Darm-
contractionen, und es war, soweit ich die
Kriegsliteratur überschaue, von solchen
durch die Dysenterie erzeugten orga¬
nischen Stenosen bis jetzt nur sehr
wenig die Rede. Auch in dem Sammel¬
berichte, den Woodward über 1 28 000
Fälle von chronischer Ruhr aus dem
amerikanischen Sezessionskriege erstattet
hat, findet sich kein einwandfreier. Fall
von Narbenstenose erwähnt. Im übrigen
sind echte organische Stenosen nach
meinen Erfahrungen auch bei der Colitis
gravis überaus selten, es sei denn, daß
man die eine Sonderstellung einnehmen¬
den Formen von Sigmoiditis indurativa
beziehungsweise profunda oder callosa
oder auch infiltrativa (v. Leube und
A. Schmidt), deren Entstehung man
mit Recht mit Divertikulitiden beziehungs¬
weise Peridivertikulitiden in Zusammen¬
hang bringt -— ich habe selbst vier solcher
Fälle in Erinnerung —, ohne weiteres mit
dem Krankheitsbilde der Colitis gravis
konfundiert.
Nach alledern sehe ich zurzeit keinen
Grund zur Aufgabe der Anschauungen,
die ich über die Beziehungen zwischen
dem Krankheitsbild und der Entstehung
der chronischen Colitis gravis und Dysen¬
terieinfekten in, prinzipieller Richtung ge¬
äußert habe, halte es aber doch für eine
dankbare Aufgabe weiterer Untersuchun¬
gen, eine Reihe von Einzelfragen des vorlie¬
gen den Gebietes noch weiter zu klären, so
speziell auch noch die von Dünner auf¬
geworfene Frage der semiotischen Be¬
deutung der Art des Ausfalles der Agglu¬
tinationsprobe für die hier interessieren¬
den Krankheitszustände. Ist es doch
möglich, daß die uns heute vorwiegend
vom theoretischen Standpunkte inter¬
essierende Frage der ätiologischen Be¬
deutung eines Dysenterieinfekts auch
einmal eine praktisch therapeutische
Bedeutung im Rahmen eines specifischen
antidysenterischen Heilverfahrens ger
winnt. Vorerst hat sich mir allerdings die
Behandlung mit Shiga-Kruse-Serum in
den zwei Fällen von Colitis haemorrha-
gico-purulenta, in welchen ich sie ver¬
sucht habe, noch nicht als ausreichend
erwiesen.
Kriegsmehl, Mehlnährpräparate und Krankendiät.
Auf Grund einer im Kaiserlichen Gesundheitsamt
abgehaltenen Sachverständigen Beratung verfaßt.
Von G. Klemperer.
Die zwingende Notwendigkeit, mit
den Getreidevorräten sparsam umzu¬
gehen, hat bekanntlich in neuester Zeit
zu der Anordnung geführt, das Korn zur
Mehlbereitung bis auf 94% auszumahlen.
Dadurch werden dem Mehle auch wesent¬
liche Bestandteile der Körnerschale bei¬
gemischt, das Mehl wird reicher an Kleie,
es enthält mehr Eiweiß und mehr Cellu¬
lose als das sogenannte Auszugsmehl,
welches früher zu feinem Gebäcke ver¬
wendet wurde. Die Erfahrung von zwei
Kriegsjahren hat gezeigt, daß das Brot,
welches aus dem weit stärker als in Frie¬
denszeiten ausgemahlenen Korne her¬
gestellt wird, von gesunden Menschen,
wenn es nur einigermaßen gut ausge¬
backen war und wenn es sorgfältig ge¬
kaut wurde, sehr gut vertragen wird.
Das Kriegsbrot wurde nicht nur von den
meisten gut vertragen, sondern es übte
teilweise sogar vortreffliche Wirkungen
aus, durch seinen größeren Cellulosegehalt
wirkte es anregend auf die Sekretion der
Verdauungssäfte und auf die Darmperi¬
staltik. Viele Klagen, die im Anfänge der
kriegsmäßigen Ernährung über das neue
Brot laut wurden, bezogen sich auf den
allzugroßen Roggengehalt und den eine
Zeitlang notwendigen Zusatz von Kar¬
toffeln. Aber auch diese Klagen sind im
allgemeinen verstummt. Es scheint, daß
der Magen-Darm-Kanal mit seinen Be-
wegungs-, Absonderungs- und Auf¬
saugungsverhältnissen sich dem gröberen
Brote angepaßt hat. Es darf also er¬
wartet werden, daß sich auch das Ein¬
heitsbrot, welches aus dem zu 94% aus¬
gemahlenen Mehle bereitet ist, als ein be¬
kömmliches Volksnahrungsmittel bewäh¬
ren wird. Den verschiedenen Geschmacks¬
richtungen und teilweise auch der indivi-
216
Die Therapie der Gegenwart 1917. Juni
duellen Verdauungskraft wird übrigens
bei der Brotbereitung insofern ein Zu¬
geständnis gemacht, als für Wählerische
ein reines Weizenbrot zur Verfügung steht,
welches freilich auch aus 94%ig' aüsge-
mahlenem Mehle gebacken ist. Es ist nun
die Frage, ob dieses grobe Mehl bezie¬
hungsweise das aus demselben gebackene
Brot auch für Kranke zuträglich ist. Brot
kommt natürlich überhaupt nur fürsolche
Kranke in Betracht, die, Zähne haben und
gut kauen können; diejenigen Kategorien
von Kranken, die mit flüssiger Kost er¬
nährt werden müssen, die hochfieber¬
haften, sehr geschwächten und unbesinn¬
lichen Kranken können kein Brot be¬
kommen; sie erhalten das Mehr in Form
von Suppen. Alle anderen Kranken, die
gute Mundverdauung haben, verlangen
nach Brot. Ein großer Teil von ihnen
verträgt auch das grobe neue Einheitsbrot
ohne Schaden. Nur bei den Patienten mit
krankem Magen und Darme kann der
starke Kleiegehalt zu stark reizend wir¬
ken; bei Entzündungen und Geschwürs¬
bildung im Verdauungsapparat, sowie bei
hochgradigem Darniederliegen der moto¬
rischen Tätigkeit wird das Bedürfnis nach
einem feineren Brot, ohne Schalenbestand¬
teile des Kornes, sich geltend machen. In
vielen hierher gehörigen Fällen wird man
sich durch Darreichung von Mehlsuppen
an Stelle von Brot, öfter auch durch das
Rösten feiner Brotschnitten und den Rat
besonders guten Kauens helfen können.
Aber es wird doch auch Fälle besonderer
Reizbarkeit geben, in welchen Brot, aus
feinem Auszugsmehle gebacken, zu Heil¬
zwecken erwünscht sein wird. Geringer
ausgemahlenes Mehl (75% Ausmahlung)
wird aber zur Versorgung der Kränken
in allen Kommunalverbänden vorhanden
sein, sei es, daß die selbstwirtschaftenden
Kommunalverbände für diesen Zweck bei
dem Mahlprozesse Auszugsmehl vorweg
ziehen, sei es, daß die Reichsgetreide¬
stelle den nicht selbstwirtschaftenden
Kommunalverbänden auf entsprechenden
Antrag die notwendige Menge- dieses
Mehles zur Verfügung stellt. Aus diesem •
Feinmehle können Zwieback und Cakes ,
bereitet werden, welche zur Ernährung
von Rekonvaleszenten und Verdauungs-
kranken gute Dienste leisten werden..
Freilich soll dieses Feinmehl • nur für,
wirklich Kranke, nicht für Nervöse und :
Verwöhnte verwendet werden.. Es soll
nur in geringer . Menge zur Verfügung:
stehen. Die neuen Verordriungeh be- •
stimmen, daß die Kleiemenge, welche bei :
der ungenügenden Ausmahlung übrig¬
bleibt, dem zur Herstellung des Einheits¬
brotes verwendeten Mehie noch hinzu¬
gefügt wird. Je mehr also das Kranken¬
gebäck verfeinert wird, desto mehr ver¬
gröbert sich das Brot der Gesunden. Es
darf also das Feingebäck nur^auf beson¬
deres ärztliches, Attest abgegeben werden
und es wird von de;n Ärzten erwartet, daß
sie diese Atteste nur in wirklich dring¬
lichen Fällen ausstellen. Insbesondere
dürfen Neigungen und Liebhabereien von
Patienten in keiner Weise für die Will¬
fährigkeit der Ärzte maßgebend sein.
Das Attest sollte — abgesehen von
schweren Erkrankungen — erst ausge¬
stellt werden, wenn durch wiederholten
Versuch bewiesen ist, daß dem Genüsse
des gröberen Brotes wirkliche Krank¬
heitszeichen folgen; geringes Unbehagen,
gewisse Mißempfindungen und leichte
Störungen dürfen nicht als genügende
Gründe für Gewährung von Kranken-
gebäckättesten angesehen werden.
Diejenigen Kranken, welche wegen
der Unfähigkeit zu kauen oder wegen ganz
besonderer Schwäche-, Entzündungs- oder
Geschwürszustände des Magen-Darm-Ka¬
nals gar keine Art von Gebäck vertragen,
werden das Mehl in Suppenform darge¬
reicht erhalten. Hierbei wird freilich in
jedem Einzelfalle besonders zu erwägen
sein, ob zur Bereitung von Kranken¬
suppen das grobe Einheitsmehl oder das
feine 75%ig ausgemahlene Mehl not¬
wendig ist; In leichteren Fieberzuständen,
auch bei hohem Fieber mit einigermaßen
intaktem Magen, z. B. bei Pneumonie,
Erysipel usw., bei vielen Zuständen von
Kachexie werden Suppen von Einheits¬
mehl durchaus genügen.
Die Kommunalverbände verfügen auch
in gewissem Umfange über Haferprä¬
parate und sind d^hin verständigt, diese
Präparate in erster Linie, zur Versorgung
von Kranken zu verwenden, so daß der
Arzt zumeist auch auf Hafermehl wird
zurückgreifen können. Man wird die
Suppen durch Zusatz von Magermilch
oder Vollmilch oder Ei oder Butter in
verschiedenen Graden reicher an Eiweiß
oder Fett machen können und wird also
den verschiedenen Indikationen der Kran¬
kendiätetik gerecht werden können. Der
Verschreibung von Feinmehl (75% Aus¬
mahlung -— sei es aus Roggen, Weizen
oder Hafer —) zur Suppenbereitung soll¬
ten aber stets besondere Indikationen zu¬
grunde gelegt werden in erster Linie in
Juni
Die Therapie der Gegenwart 191,7.
217
Beziehung auf schwere Magen- und Darm-
erkrankungen.
Es wird wohl allseitig zugege¬
ben werden, daß mit der Bereit¬
stellung von Krankengebäck aus
Feinmehl sowie von Feinmehl(75%
Ausmahlung) selbst zur Suppen-
und Breibereitung das Bedürfnis
der Krankenernährung in bezug
auf mehlhaltige Nahrung mit der
unter den derzeitigen Kriegsver¬
hältnissen unvermeidlichen Ein¬
schränkung in erträglicher Weise
sich befriedigen läßt.
Es soll aber noch die Frage erörtert
werden, ob mit Gebäck und Mehlsuppen
das Kohlehydratbedürfnis des Kranken
genügend befriedigt wird. Dies ist nicht
der Fall. Es stehen aber dem Kranken
zum Glücke weitere Kohlehydratquellen
ausreichend zur Verfügung. Wir können
ihm Vollmich, Magermilch, Sauermilch
oder Buttermilch gewähren, wir können
Kartoffelbrei, vielleicht auch Reisbrei
reichen, wir haben in Gemüsen und
Früchten immerhin, einige Kohlehydrat¬
mengen, wir können durch Zusatz von
Rohrzucker oder Milchzucker oder Honig
die Kohlehydratzufuhr erhöhen.
Wenn wir aus all diesen Nahrungs¬
mitteln das Bekömmliche auswählen,
können wir sicher sein, daß wir auch dem
schwersten Kranken die für seinen Zu¬
stand nötigen Kohlehydratmengen in ent¬
sprechender Form zuführen können.
Es erhebt sich zum Schlüsse die Frage,
ob es für die Krankenernährung not¬
wendig oder wünschenswert ist, zur Stil¬
lung des Kohlehydratbedürfnisses noch
besonders präparierte Mehle, sogenannte
Mehlnährpräparate, zu verordnen. Solche
künstlich präparierte Mehle sind in der
ärztlichen Praxis vielfach gebraucht wor¬
den und erfreuen sich zum Teil nicht un¬
berechtigter Beliebtheit. Meist sind sie
verhältnismäßig teuer. Wenn man sich
aber fragt, ob diese Präparate im Inter¬
esse der Kranken wirklich notwendig
sind, so muß die Antwort verneinend
lauten. Es gibt in , Wirklichkeit
keinen Fall in der Krankenernäh¬
rung, in welchem ein künstlich prä¬
pariertes Mehl beziehungsweise
Mehlnährpräparat nicht durch
Krankengebäck oder Feinmehl zu
ersetzen wäre.
Viele der künstlichen Präparate können
als ihre Besonderheit nur rühmen, daß
sie sehr fein verteilte und ganz kleiefreie
Mehle darstellen. Dieser Vorzug ist an¬
zuerkennen, aber er wird in gleicher Weise
vom gewöhnlichen Feinmehle dargeboten.
Andere Präparate erhöhen ihren Nähr¬
wert, indem sie dem eigentlichen C'erea-
lienmehle das von Leguminosen, auch
wohl Milchtrockenpulver, hinzusetzen. Da¬
durch wird insbesondere der Eiwei߬
gehalt der Präparate erhöht, wodurch sie
sich zur Verwendung in Krankheiten zu
empfehlen' scheinen. Indessen ist hierin
doch kein ausreichender Existenzgrund
gelegen, denn wir sind am Krankenbette
stets in der Lage, den Eiweißgehalt von
Mehlbereitungen durch freien Zusatz von
Ei, Milch, rm Haushalte hergestellten
Fleischsaft zu erhöhen. Schließlich treten
einige künstliche Präparate mit dem An¬
sprüche auf, das Mehl in besonders ver¬
daulicher Form darzubieten, indem*, sie
es zum Teil verzuckert liefern. Das Mehl
kommt im Magen-Darm-Kanal in ver¬
zuckerter Form, insbesondere als Maltose
und Traubenzucker zur Aufsaugung, und
es heißt also dem Kranken die Verdau¬
ungsarbeit ersparen, wenn man ihm über¬
haupt kein Mehl, sondern nur Maltose
zuführt. Wenn wir aber die Verdauungs¬
verhältnisse der kranken Menschen wür¬
digen, wie sie wirklich sind, so werden
wir auch die Überflüssigkeit der teilweise
verzuckerten Mehle für die meisten Fälle
erkennen. Die Verzuckerung ist eine
Funktion des Mundspeichels, sowie des
Saftes der Bauchspeicheldrüse. In Wirk¬
lichkeit gibt es kaum eine Erkrankung,
des erwachsenen Menschen, in welchem
dje Saftabsonderung der Speicheldrüsen
so herabgesetzt wäre, daß die Verzucke¬
rung fein verteilter Mehlsuppen wesent¬
lich Not litte. Es wird übrigens durch die
Hitze beim Kochen der Suppe, noch
mehr beim Backprozesse ein Teil der Stärke
im Mehle bereits verzuckert, der einge¬
leitete Ve.rzuckerungsvorgang wird dann
im Munde und Darm auch schwerkranker
Menschen soweit fortgesetzt, daß eine
mangelhafte Kohlehydratresorption aus
Mehlsuppen zü den größten Seltenheiten
gehört. Sollte aber wirklich einmal der
Fall eintreten, daß bei völligem Ver¬
sagen sämtlicher Speicheldrüsen das Fein¬
mehl nicht genügend aufgesaugt wird —
es kommt freilich in solchen Fällen noch
die verzuckernde Kraft der Darmbakte¬
rien hinzu —, so könnte der Arzt sich wohl
mit reinen Zuckerlösungen, mit Honig
oder Milch helfen. Es stehen ihm aber in
diesem bei Erwachsenen extrem seltenen
Falle auch noch die Malzsuppen aus der
Kinderheilkunde zur Verfügung.
28
218 Die Therapie der Gegenwart 1917. Juni
Besonders aber sei hervorgehoben,
daß die viel verordneten und be¬
liebten Malzextrakte in Wirklich¬
keit überflüssig sind. Sie gelten als
besondere Stärkungsmittel und das Publi¬
kum pflegt ihnen eine Art von Zauber¬
kraft zur Hebung gesunkener Kräfte zu¬
zuschreiben. In Wirklichkeit ist Malz¬
extrakt der eingedickte Wasserauszug
gekeimter Gerste, es unterscheidet sich
vom Gerstenmehle durch eine größere
Menge in Wasser löslicher Bestandteile
und das Vorhandensein von verzuckern¬
dem Ferment. Das sind nützliche Eigen¬
schaften, die durch den würzigen Ge¬
schmack des Malzes noch wertvoller wer¬
den; aber es braucht nicht wiederholt zu
werden, daß es kaum eine Krankheit gibt,
in welcher der Körper nicht selbst ver¬
zuckerndes Ferment genug besäße, um
sich die Wasserlöslichkeit der zugeführten
Stärke selbst zu bereiten. * Die Malz¬
extrakte können keinesfalls als not¬
wendig für die Krankenernährung
bezeichnet werden. Es muß aber als
eine Ausnützung der Unwissenheit des
Publikums bezeichnet werden, wenn
einige Fabrikanten ihre Malzextrakte
durch einen geringen Zusatz indifferenter
Salze zu besonderen Stärkungsmitteln
stempeln und diese falsche Prätention so¬
wohl durch den Namen (wie Biomalz) als
durch den besonders hohen Preis zum
Ausdruck bringen.
Wir möchten unsere Betrach¬
tungen dahin zusammenfassen,
daß bei dem jetzigen Zustande der
Verfügbarkeit von Krankengebäck
aus feinstem Auszugmehl und der
Verfügbarkeit dieses Feinmehles
selbst für die Krankenernährung
alle berechtigten Wünsche in be¬
zug auf Darreichung mehlhaltiger
Speisen in erträglicher Weise er¬
füllt werden können und daß die
Ärzte mit gutem Gewissen auf die
Verordnung von künstlichen Mehl¬
präparaten zu verzichten vermögen.
Wenn diese künstlichen Mehlpräparate
im Interesse der gesamten Volksernährung
für die Kriegszeit verschwinden, so brau¬
chen wir ihnen nicht nachzutrauern; sie
haben mehr der Bequemlichkeit und dem
Luxus als der Notwendigkeit gedient. Die
Krankenernährung wird durch das Fehlen
der künstlichen Mehlpräparate nicht be¬
einträchtigt werden.
Wenn somit auch bei der Zufuhr von
Kohlehydraten selbst in den gegenwär¬
tigen schweren Zeiten die Möglichkeit
noch verblieben ist, die Kranken sach¬
gemäß diätetisch zu behandeln, so werden
die Ärzte auch zu ihrem Teil daran mit-
arbeiten können, dies ihren Kranken
durch Aufklärung und aufmunterndes
Zureden zum Bewußtsein zu bringen, sie
werden auch auf diese Weise sich ums
Vaterland verdient machen können, in¬
dem sie dazu beitragen, unberechtigten
Befürchtungen und Klagen und damit
auch der Verbreitung von Unzufrieden¬
heit und Unwillen vorzubeugen.
Zur Behandlung ausgedehnter Oberarmresektionen.
(Mit 3 Abbildungen.)
Von Georg Müller-Berlin,
orthopädischer Fachbeirat beim 'Sanitätsamt des Gardekorps.
Der Reservist K. wurde am 25. August
1916 durch Granatsplitter an der linken
Schulter verletzt. Die starke Zersplitte¬
rung des Oberarmkopfes machte die Ent¬
fernung des Oberarmknochens in einer
Ausdehnung von etwa 11 cm nötig. Als
Patient am 17. Dezember 1916 in meine
Abteilung aufgenommen wurde, wurde
folgender Befund festgestellt: Großer,
gesund aussehender, muskulöser Mann.
Innere Organe ohne Befund. Linke
Schulter steht tiefer. Von der linken
Schulterhöhe zieht an der Außenseite
des Oberarmes nach abwärts eine 18 cm
lange, zum Teil mit der Unterlage ver¬
wachsene Narbe, herrührend von einem
operativen Eingriffe. Das Akromion ragt
unter der Haut schnabelartig hervor, der
Oberarmkopf und ein beträchtlicher Teil
des Oberarmes fehlen (Abb. 1). In dem
leeren Hautmuskelschlauche fühlt man
einzelne, unregelmäßig gestaltete Ver¬
dickungen (Callus), Pfanne und Akromion
intakt. Ligamentum acromioclaviculare
gelockert. Schulterwölbung völlig ver¬
schwunden, an ihrer Stelle ist eine deut¬
liche Einbuchtung sicht- und fühlbar.
Deltamuskel fehlt völlig, übrige Ober¬
armmuskulatur stark, Vorderarm- und
Handmuskulatur mäßig geschwunden.
Schultermuskeln atrophisch, Mm. Pec-
toralis, Teres major, Latissimus dorsi,
Serratus, Pectoralis major gut ausgebildet
(Abb. 2). Die elektrische Erregbarkeit
ist in den noch vorhandenen Fasern der
hinteren Portion des Deltamuskels für
Juni
Die Therapie der Gegenwart 1917.
219
beide Stroinarten mäßig gut, während
die vordere und mittlere Portion keine
Reaktion zeigt. Die vom M. triceps er-
Abb. 1
haltenen Portionen reagieren schwächer
als rechts, die übrigen Muskeln reagieren
rechts und links gleich.
Abb. 2
I er kann wegen jeder fehlenden Gelenk¬
verbindung in der Schulter völlig um
seine Längsachse gedreht werden. Aktiv
ist jede Bewegungsmöglichkeit im Schul¬
tergelenk aufgehoben, dahingegen besteht
im Ellbogen-, Hand- und sämtlichen
Fingergelenken aktiv und passiv normale
Beweglichkeit, jedoch können letztere
wegen der aufgehobenen Schulterbewe¬
gungen praktisch nur in stark einge¬
schränktem Maße ausgenutzt werden.
Ich habe nun dem Patienten in dreierlei
Absicht einen orthopädischen Apparat
angefertigt, erstens, um zu verhindern,
daß der die Knochenlücke umschließende
Hautmuskelschlauch durch die Schwere
des schlaff herabhängenden Armes immer
weiter ausgezogen wird, zweitens, um das
proximale Ende des Oberarmfragmentes
fest in die Pfanne zu pressen und so die
Möglichkeit einer Nearthrosenbildung zu
schaffen, und drittens, um dem Patienten
eine teilweise Bewegungsmöglichkeit für
den Oberarm zu geben und damit die
Ausnutzung von Vorderarm und Hand
zu vergrößern (Abb. 3). Der Apparat
besteht aus folgenden Teilen: Je eine aus
Walkleder nach Gipsmodell hergestellte,
durch eine Metallschiene verstärkte Hülse
umfaßt Schulter und Oberarm. Erstere
wird durch einen um die Brust herum¬
geführten Gurt festgehalten. Beide Hülsen
Abb. 3
Passiv ist der Arm im Schultergelenk
nach allen Richtungen frei beweglich, ja
sind durch ein Doppelscharnier verbun¬
den, welches Bewegungen in der Hori-
28*
220
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Juni
zontal- und Sagitalebene, das heißt Ab-
und Anziehung, sowie Vorwärts- und
Rückwärtshebung gestattet. Die Ober¬
armhülse umfaßt den Oberarm so kürz,
daß das obere Knochenende fest in die
Pfanne gepreßt wird. Um jedoch den
Arm noch weiter vor der Möglichkeit
des Durchschlüpfens durch die Hülse zu
schützen, ist am Unterarm noch eine
kurze Walkhülse angebracht, die jedoch,
um. die Pro- und Supination nicht zu be¬
einträchtigen, mit der Oberarmhülse nicht
durch Schienen und Scharniere, sondern
durch straff angezogene Lederriemen ver¬
bunden ist. Durch diese bisher beschrie¬
bene Einrichtung wird den beiden ersten
Postulaten entsprochen, nämlich den
Oberarmknochen in die Pfanne zu pressen
und die Ausziehung des Hautmuskel¬
schlauches zu verhindern. Um nun auch
dem dritten Postulat gerecht zu werden,
die Abduction des Armes zu ermöglichen,
ist an der oberen Verbindungsschiene der
Schulter- und Oberarmhülse je eine Düse
angebracht, in welche eine kräftige Spiral¬
schiene eingefügt und festgeschraubt
werden kann, die das Bestreben hat, die
ihr aufgezwungene Biegung auszugleichen
und dadurch den Arm zu abduzieren. Der
kräftige, gut funktionierende M. pec-
toralis adduziert den Arm und die Spirale
abduziert ihn, sobald der Brustmuskel
erschlafft. Es wird somit der Arm in der
Ruhestellung für gewöhnlich in einer Ab-
ductionsstellung von etwa 45° stehen,
wobei der Patient imstande ist, Hand
und Vorderarm ziemlich ausgiebig zu
gebrauchen und durch Anspannung und
Erschlaffen seines Brustmuskels An- und
Abziehung seines Armes zu bewirken.
Zusammenfassende Übersichten.
Die Behandlung der Rachitis.
Von Ernst Schloß-Zehlendorf-Berlin (zurzeit im Felde).
Die Rachitisforschung, die vor unge¬
fähr zehn Jahren scheinbar zu einem ge¬
wissen Abschlüsse gekommen war — die
große Mehrzahl der Kliniker und patho¬
logischen Anatomen hatte sich auf be¬
stimmte Prinzipien geeinigt, die nun auch
in die meisten klinischen Lehrbücher
als sichere Tatsachen übergingen — ist in
den letzten Jahren wieder erneut in Fluß
gekommen. Vor allem war es das posthume
Werk des großen Straßburger Pathologen
v. Recklinghausen 1 ), das den dogma¬
tischen Schlummer, in den besonders die
Anatomie und die ihr zumeist ergebene
Kinderheilkunde zu versinken drohte,
aufrüttelte. Von der anderen Seite her
kam die pathologische Chemie und die
Stoffwechselforschung und nahm mit
großem Arbeitsaufwand und kühnen
Theorien die schwierige Frage der Patho¬
genese in Angriff (Aron, Sch ab ad,
Dibbelt). Dazu gesellten sich neuere
experimentelle Forschungen, die zum Teil
von der physikalischen Chemie (Pfaund¬
ler, u. andere zum Teil von der Bakterio¬
logie her (Mopurgo, Jos. Koch) das
Wesen der Rachitis zu ergründen
*) Von einer genaueren Angabe der einschlä¬
gigen Literatur, die doch nur unvollständig sein
müßte, soll Abstand genommen werden. Einen
Überblick über die neueren Anschauungen zur
Rachitisfrage mit ausführlichem Literaturverzeich¬
nis findet sich von der Hand des Verfassers im
15. Band der Erg. d. Inn. Mediz. u. Kinderh.,
Berlin 1917.
wollten. Auch die klinische Forschung
blieb nicht müßig; vor allem sind hier die
Untersuchungen Wielands zu erwähnen,
der seine Befunde auch pathologisch-ana¬
tomisch in reichstem Maße zu stützen ver¬
suchte. Daneben sind für diese Frage
von Wichtigkeit die neueren Erkenntnisse
der kindlichen Konstitutionsanomalien,
die ' sich besonders an den Namen
Czernys knüpfen und der allgemeinen
Entwicklungsstörungen des Säuglings,
wie sie die Arbeiten des Verf. zu ver¬
mitteln suchten.
Relativ wenig beeinflußt von all diesen
zum Teil außerordentlich wertvollen neuen
Erkenntnissen blieb die Rachitistherapie.
Zwar waren besonders die chemischen
Arbeiten zum Teil auf das therapeutische
Problem zugeschnitten, aber bei alldem
handelte es sich zunächst mehr um die
theoretischen Grundlagen der Therapie
als um die praktische Behandlung selbst.
Es lag dies z. T. an der Scheu des ge¬
wissenhaften therapeutischen Forschers,
der es verschmähte, bei einer so wich¬
tigen und verantwortungsvollen Frage,
wie es die Behandlung der Rachitis dar¬
stellt, mit noch nicht genügend gesicherten
neuen therapeutischen Vorschlägen her¬
auszutreten.
Auf die Dauer geht es aber nicht an,
daß die Praxis zu sehr hinter den Ergeb¬
nissen der Forschung, die angewandte
Therapie zu sehr hinter den Forderungen
Juni Die Therapie der
der reinen Therapie zurückbleibt, zumal
wenn sich die Berechtigung dieser Forde¬
rungen immer wieder aufs neue herausstellt
und so mag hier der Versuch gemacht
werden, die praktische Durchführung der
Rachitisbehandlung, wie sie auf Grund
des heutigen Standes der Forschung an¬
gezeigt erscheint, zur Darstellung zu brin¬
gen. Es wird sich dabei zeigen, daß trotz
mancher prinzipiellen Wandlungen, be¬
sonders hinsichtlich der medikamentösen
Therapie und einer, auf der besseren klini¬
schen Kenntnis der Erkrankung basieren¬
den schärferen Indikationsstellung die
allgemeinen Grundlagen der Rachitis¬
behandlung durch die neueren Forschun¬
gen keine große Änderung erfahren haben.
Auf die theoretische Begründung der
hier gemachten therapeutischen Vor¬
schläge braucht nicht weiter eingegapgen
zu werden 1 ); es sei nur ein kurzer Über¬
blick über die tatsächlichen Unterlagen
der einzelnen in Betracht kommenden
Behandlungsmethoden gegeben, um die
Berechtigung mancher sonst unverständ¬
lichen Maßnahme zu erweisen.
I. Die Grundlagen der Rachitistherapie.
Für die Rachitis kommen in der
Hauptsache folgende verschiedenen Arten
der Therapie in Betracht:
1. Die specifische Therapie, wie sie durch
die Produkte endokriner Drüsen, den
Phosphor und den Lebertran ermög¬
licht wird oder werden soll;
2. die Komplementär-(Kompensations-)
therapie, wie sie die Verabfolgung
von Kalk und Phosphorsäure dar¬
stellt;
3. die diätetische Therapie, die einen
direkten Einfluß auf den äußeren
und intermediären Stoffwechsel be¬
zweckt;
4. die Konstitutionstherapie, die die all¬
gemeine Vitalität des Körpers, be¬
sonders des wachsenden Knochen¬
gewebes zu erhöhen sucht;
5. die spezielle physikalische Therapie,
die eine Verhütung oder Beeinflus¬
sung einzelner Krankheitserscheinun¬
gen zum Ziele hat.
• 1. Die specifische Therapie.
a) Die Organtherapie der Rachitis
ist noch in ihrer ersten Entwicklung;
ihre theoretische Berechtigung ist noch
keineswegs erwiesen, und die bisherigen
experimentellen und klinischen Versuche
x ) Vergl dazu Berl. klin. Wochschr. 1916,
Nr. 27, 50, 51, 52.
Gegenwart 1917. 221:
geben noch keine Veranlassung, für die
Verwendung irgendeines Präparates in der
Praxis einzutreten. '
b) Die Phosphortherapie, die Jahr¬
zehnte hindurch weitaus die erste Stelle
in der Rachitisbehandlung einnahm, hat
in den allerletzten Jahren immer stärkere
Anfechtungen erfahren. Die wissenschaft¬
lichen Grundlagen dieser Medikation, die
eigentlich niemals fest waren, sind mit.
der Zeit derartig erschüttert worden, daß
zurzeit eigentlich gar keine Stütze dafür
mehr vorhanden ist. Sichere Tatsache
ist jedenfalls, daß der Phosphor
als solcher keinerlei Einfluß auf
den Stoffwechsel der knochenbil¬
denden Mineralien ausübt und daß
die ganze Wirkung der Hebung der
Kalk- und Phosphorsäurebilanz
wie sie durch den Phosphor-Leber¬
tran erreicht wird, nur dem
Lebertran zukommt.
Dafür spricht aber auch eine jahrelange
klinische Erfahrung .an vielen Hunderten
von Fällen..
Daraus muß man die praktischen Kon-'
Sequenzen ziehen und die Verordnung
dieser so viel gebrauchten Mixtur als über¬
flüssig erklären. Für die Praxis hat
diese Entscheidung den Vorteil, daß die
Rachitisbehandlung späterhin wesentlich
verbilligt wird und dadurch in viel wei¬
terem Umfange zur Anwendung kommen
kann. Selbstverständlich wird hierdurch
nicht die völlige Preisgabe der Phosphor¬
therapie gefordert. Sie ist unseres Er¬
achtens ja nur entbehrlich, aber nicht etwa
schädlich und wer an sie gewöhnt ist, mag
sie auch ruhig weiter anwenden, aber
nur in Kombination mit Lebertran.
c) Für die Lebertrantherapie selbst
haben die Untersuchurigen des letzten
Jahrzehnts die bisher fehlenden experi¬
mentellen Unterlagen in reichlichstem
Maße erbracht (Birk, Schabad, Frank
und Schloß). Nachstehende kleine Ta¬
belle veranschaulicht am sinnfälligsten
Art und Größe der Lebertranwirkung auf
den Kalkumsatz des Rachitikers. Wir
sehen vor allem die starke Progression in
der Höhe der Retentionswerte, als Aus¬
druck der cumulativen Wirkung des Leber¬
trans, unabhängig von dem Phosphor¬
zusatz.
2. Die Komplementärtherapie.
Wir verstehen darunter die Zugabe
von Kalk zur Nahrung und zwar nicht
etwa als Stimulans, wie es zum Beispiel
der Phosphor sein sollte, sondern im
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Vierte Versuchsreihe. Kalkumsatz pro die binierter Kalklebertrantherapie bei
_ in g CaO. _•_ künstlicher Ernährung:
- - . CaO P 2 0 5
Vorperiode. . —0,056 + 0,060
mit Lebertran
allein. + 0,242 + 0,174
mit Lebertran
und CaP . + 0,538 + 0,536
Nachperiode. +0,212 +0,306
. Also ein ganz durchschlagender
Erfolg, der noch in der Nachperiode
Sinne einer erhöhten Zufuhr bestimmter anhält! Auch bei natürlicher Ernährung
Nahrungskomponenten als Kompensa- ist die Wirkung der kombinierten Therapie
tion eines übermäßigen Verbrauches oder deutlich der mit der einfachen Mineral-
als Mittel zum erhöhten Ansatz. Zulage überlegen; besonders dürfte dies
Wir brauchen' auf die höchst Wechsel-, im progressiven Stadium des Krankheits¬
volle Geschichte der Kalktherapie bei der prozesses der Fall sein.
Rachitis nicht näher einzugehen. Es sei Eine sehr wichtige Frage war die, wel-
nur darauf hingewiesen, daß diese Behänd- ches Kalkpräparat am geeignetsten für.die
lung für die wissenschaftliche Pädiatrie
auf Grund der maßgebenden Rachitis¬
theorien erledigt war, und daß es das Ver¬
dienst Schabads ist, sie durch den Stoff¬
wechselversuch am Säugling wieder reha¬
bilitiert zu haben. Es ist von vornherein
verständlich, daß die Kalktherapie nur da
wirklich Aussicht auf Erfolg verspricht,
wo eine relativ knappe Zufuhr in der Nah¬
rung stattfindet, also in erster Linie bei
der natürlichen Ernährung. Und es ist
diese Nahrung auch allein, bei der wir,
wie es scheint, mit der reinen Kalk¬
therapie, also ohne Lebertran, auskom-
men. Wie groß dieser Einfluß ist, geht
aus folgenden Zahlen, die den Durch¬
schnitt aus einer größeren Anzahl von
Versuchen bilden, hervor.
CaO-Bilanz P 2 0 5 -Bilanz
Ammenmilch
allein . . . + 0,105 + 0,090
Ammenmilch
mit Kalkprä¬
parat ... + 0,297 + 0,262
Bei künstlicher Ernährung wird
wohl nur bei sehr knapper Kalkzufuhr ein
ähnlicher Erfolg eintreten. Bei allen
unseren Kindern war die Kalkzufuhr in
der Nahrung selbst eine ausreichende, so
daß sich ein Versuch mit bloßer Kalk¬
zugabe erübrigte. Dagegen lag es nahe,
bei der vermuteten starken Begünstigung
der Kalkretention durch den Lebertran,
diese Kalkmedikation mit der Lebertran¬
medikation zu verbinden, wie es zuerst
von Sch ab ad im Stoff wechselversuch
ausprobiert war. Wir wollen auch hier
nur die Durchschnittswerte aus einer
größeren Anzahl von Versuchen anführen.
Kalk- und Phosphorbilanz ugter kom-
Einbringung ist. In zahlreichen Stoff¬
wechselversuchen wurde versucht, über
diese Frage Klarheit zu schaffen.
Es hat sich dabei herausgestellt, daß
beim natürlich ernährten Kinde neben
dem Kalk noch die nötige Menge Phos¬
phorsäure mit eingeführt werden muß,
um auch die Phosphorsäurebilanz zur
Norm zu bringen. Bei künstlicher Ernäh¬
rung ist diese Zufuhr von Phosphorsäure
nicht so unbedingt notwendig, da aus der
meist im Übermaße zugeführten Nah¬
rungsphosphorsäure genügend dem Kalk
nachfolgt. Immerhin ist aber auch hier
die Zugabe von Phosphorsäure zweck¬
mäßig.
3. Die diätetische Therapie.
Die Diätetik spielt ihre wichtigste
Rolle in der Prophylaxe der Rachitis. Wir
können damit, darüber besteht ^ kein
Zweifel, keine so imponierenden Ände¬
rungen der Ca- und P-Bilanz zuwege brin¬
gen, wie wir sie oben zeigen konnten; aber
bei ständiger Aufmerksamkeit auf diesen
Punkt können wir verhindern, daß der¬
artige absolut und relativ schwere Mineral¬
verluste eintreten, die nachträglich solche
brüske Umgestaltung des Stoffwechsels
erheischen. Wir sind auch hier in der
Lage, uns auf zahlreiche Stoffwechselver¬
suche stützen zu können, die zum Teil
einen guten Einblick in die zugrunde lie¬
genden Vorgänge gewähren.
a) Von jeher ist die Abhängigkeit der
Rachitis von der Ernährungsweise disku¬
tiert worden, wenn auch die Einschätzung
dieses Faktors bei den verschiedenen
Autoren sehr schwankte. Am sinnfällig¬
sten war stets der Unterschied in der
Die Therapie der . Gegenwart 1917.
223
Juni
Rachitisfreqüenz und - Intensität zwischen
natürlich und künstlich genährten Kin¬
dern.
Es ist nach den vorliegenden Stoff¬
wechselversuchen zunächst kein Zweifel,
daß wir durch den Ersatz der Kuhmilch
durch die Frauenmilch schon an sich einen
günstigen Einfluß auf die Rachitis aus¬
üben können. Die Frauenmilch ist
also für die künstlich genährten
Rachitiker ein direktes Heilmittel.
Den großen Vorteilen der Frauen¬
milchernährung stehen auch Nachteile
gegenüber. Einmal ist die Frauenmilch
durch ihren niedrigen Mineraliengehalt
einer schnellen Heilung der Rachitis nicht
günstig. Dazu kommt die zumindest trä¬
gere Reaktion auf die reine Lebertran¬
therapie. So ist also die Frauenmilch, so
wertvoll sie auch für die Prophylaxe
schwererer Formen von Rachitis ist, für
die Therapie dieser Krankheit nur dann
die geeignete Nahrung, wenn die dem
Körper notwendigen Mineralien noch be¬
sonders zugegeben werden. In diesem
Falle haben wir allerdings das Maximum
der therapeutischen Wirkung zu erwarten.
Diese Anreicherung kann in der Art
geschehen, daß wir Kalkphosphorprä¬
parate in der oben angegebenen Weise zu¬
setzen oder, bei älteren Kindern, durch
Gemüsebeigabe (vergl. später).
b) Von den diätetischen Fragen steht
an praktischer Wichtigkeit nach der Frage:
natürliche oder künstliche Ernährung an
zweiter Stelle die nach der Nahrungs¬
menge.
Die ideale Forderung wäre, dem Kinde
nur so viel an Nahrung zu reichen, daß
sein Knochenwachstum mit dem Wachs¬
tum der Weichteile Schritt halten kann.
In recht scharfsinnigen Überlegungen hat
Aron für das Tier diese Zusammenhänge
klargelegt und gezeigt, wie ein zu großes
Quantum an Nahrung durch das hier¬
durch hervorgerufene schnellere Wachs¬
tum eine Disproportionalität zwischen
organischem und Knochenwachstum zu¬
ungunsten des letzteren hervorrufen kann.
Aber das gilt nur für das Tier mit seiner
viel größeren Wachstumsgeschwindigkeit
und wohl auch nur bei künstlich zusam¬
mengesetztem Futter.
Für den menschlichen Säugling, bei
dem der zu geringe Kalkansatz wohl nie¬
mals rein auf äußeren Umständen (zu ge¬
ringe Kalkzufuhr) beruht, treffen diese
Überlegungen weniger zu. Die Folgerung,
die Aron aus seinen Versuchen zieht,,
durch Einschränkung der Nahrung das
Massenwachstum dem Knochenwachstum
anzupassen, hat aber auch für das zu
Rachitis neigende Kind ihre Richtigkeit.
Das gilt besonders für die künstliche Er¬
nährung mit ihrer absolut und relativ
schlechten Ausnutzung der Mineralstoffe.
c) DieWirkungdereinzelnenNah-
rungskomponenten muß nach drei
Richtungen hin verfolgt werden, erstens in
ihrer Beeinflussung der Verdauungsvor¬
gänge, zweitens in der Wirkung auf die Er¬
nährungsvorgänge im engeren Sinne, und
schließlich in der Beeinflussung des Mässen-
wachstums. Am einfachsten liegen die
Verhältnisse im letzteren Falle. Bei dem
festgestellten innigen Zusammenhänge
zwischen Rachitismanifestation und Mas¬
senwachstum muß bei vorhandener Nei¬
gung zur Rachitis jede Nahrungsänderung,
* die den Ansatz hemmt, die Rachitis gün¬
stig beeinflussen. Insofern können die
mehlhaltigen oder mehlähnlichen Kohle¬
hydrate (Nährzucker), die Eiweißstoffe,
die Chloralkalien die Entwicklung der
Rachitis begünstigen, während Fett, Milch¬
zucker und die zweiwertigen Mineralien
ihr in dieser Beziehung eher entgegen¬
wirken.
Die intermediäre Wirkung der
verschiedenen Nährstoffe ist eine der um¬
strittensten Fragen auf dem Gebiete der
ganzen Stoffwechselforschung. Es steht
jedenfalls fest, daß unter gewissen, noch
nicht näher bekannten Bedingungen die
Zulage von Eiweiß, Fett und Kohle¬
hydraten zu Kalkverlusten führen kann.
Eine wichtige Rolle spielen hier anschei¬
nend die Darmvorgänge, und in deren
Beeinflussung haben wir auch eine Haupt¬
leistung der Nahrungsänderungen zu
sehen. Zu den gesichertsten Tatsachen aus
dem ganzen Gebiete des Mineralstoff¬
wechsels beim Kinde gehört die Abhängig¬
keit der Kalk- und Phosphorbilanz von
der Konsistenz des Stuhles und von der
Schnelligkeit seiner Passage durch den
Darm. Dünne Stühle, dyspeptische Stühle
sind bei Milchnahrung reich an Alkalien
und Chlor und meist arm an Kalk und
Phosphor; feste Stühle enthalten umge¬
kehrt viel Kalk und Phosphorsäure und
wenig Alkalien.
Wir haben es infolgedessen in ge
wissem Sinne in der Hand, durch Beein¬
flussung der Darmtätigkeit, im Sinne einer
langsamen oder schnellen Peristaltik,
durch Erzeugung von Durchfall oder Ver-
224
Juni
Di« Therapie der. Gegenwart 1917.
Stopfung die Kalkbilanz bis zu einem ge¬
wissen Grade zu beeinflussen.
Bei der Beurteilung der voraussicht¬
lichen Wirkung einer bestimmten Nah¬
rungsänderung, zum Beispiel durch Zu¬
lage eines Nährstoffes, haben wir also stets
zu fragen, wie sie die Darmfunktionen und
die Vorgänge im Darm, Sekretion und
Motilität, Resorption, Bakterienwachs¬
tum, chemische Vorgänge usw. beeinflußt.
Es erübrigt sich, im einzelnen darauf ein¬
zugehen; wir wollen nur als praktisch
wichtige durch den Stoffwechselversuch
erwiesene Tatsachen anführen, daß die
Verabfolgung von Milchzucker oder noch
besser von Malzextrakt, wahrscheinlich
durch die verstärkte Säurebildung, den
Kalkstoffwechsel günstig beeinflußt, wäh¬
rend Mehl und dextrinisierter Zucker un¬
günstig wirken; ferner daß auch das Ei¬
weiß in . der Form des Caseins und der
daraus hergestellten Präparate, der künst¬
lichen Nahrung zugelegt oder in zu großen
Mengen darin enthalten, die Kalkbilanz
herabdrückt.
Ein einziger Stoff kann also in mehr¬
facher Weise den Stoffwechsel beein¬
flussen. Ein Eiweißpräparat kann einmal
dadurch ungünstig wirken, daß es zur
Obstipation führt, es kann weiterhin als
ein organischer säurebildender Stoff im
intermediären Stoffwechsel alkalient¬
ziehend wirken und schließlich noch durch
das vermehrte Massenwachstum zur Ver¬
größerung der Spannung zwischen Kalk¬
bedarf und Kalkbilanz führen. Und
ebenso kann ein Kohlehydrat, z. B. Milch¬
zucker, zumindest durch Verbesserung
der Darmtätigkeit und durch Verringe¬
rung des Massenansatzes den Kalkstoff¬
wechsel der Rachitis günstig beeinflussen.
Neben den eigentlichen Nährstoffen
spielen noch die Salze hier eine wichtige
Rolle. Die günstige Wirkung direkter
Kalk- und Phosphorsäurezugaben in ge¬
eigneter Form der Einbringung ist oben
genügend geschildert. Die Bedeutung der
anderen Salze ist weniger intensiv er¬
forscht. Immerhin wissen wir, daß ein¬
zelne Salze, so gewisse saure Salze, den
Kalkstoffwechsel ungünstig beeinflussen
können. Dagegen scheint den Alkalien
und basischen Salzen eine günstige Wir¬
kung zuzukommen.
Von den der Ernährung dienenden
Stoffen haben wir noch kurz des Wassers
zu gedenken. Es sprechen mancherlei
Tatsachen dafür, daß auch eine zu reich¬
liche Wasserzufuhr die Entstehung der
Rachitis begünstigt; worauf diese Wir¬
kung zurückzuführen ist, auf die Förde¬
rung des Massenwachstums, die Quellung,
vermehrte Ausschwemmung, ist noch nicht
geklärt. Jedenfalls liegt genügend Anlaß
vor, eine Einschränkung der Wasserzufuhr
in der Behandlung der Rachitis zu fordern,
sei es auch nur, um manche Begleiterschei¬
nungen der Krankheitj starkes Schwitzen,,
zu starke Gewichtszunahme, Magenatonie
und dergleichen zu verhindern.
4. Die Konstitutionstherapie.
Die Rachitis wird heute allgemein als
eine feine Konstitutionskrankheit be¬
ziehungsweise als Systemerkrankung mit
konstitutionellem Einschlag aufgefaßt. In¬
folgedessen ist es nur natürlich, wenn so
in erster Linie an eine, auf die Umstim¬
mung und Beeinflussung der Gesamt¬
konstitution gerichtete Therapie gedacht
wird. Nun können ja von den bisher be¬
sprochenen therapeutischen Maßnahmen
alle mehr oder weniger auch in diesem
Sinne aufgefaßt werden. Die endokrine
Therapie wäre, wenn sie Realität bekäme,
in ausgesprochenem Maße konstitutionell*
dasselbe gilt auch für die reine Phosphor¬
therapie. Der Lebertranth'erapie muß
gleichfalls, wie an anderer Stelle 1 ) ausge¬
führt, eine derartige Nebenwirkung zu¬
erkannt werden. Am wenigsten wird man
die Kalk- und Phosphorsäuredarreichung
in diesen Zusammenhang bringen können.
Dagegen ist wieder die Ernährungsthera¬
pie, besonders die Anwendung der Frauen¬
milchernährung, durchaus konstitutio¬
neller Natur.
Aber fast bei all diesen genannten
Arten der therapeutischen Einwirkung
hatten wir es doch mit bestimmt greifbaren
Veränderungen in gewissen Stoffwechsel¬
bezirken zu tun. Nun gibt es bei der
Rachitis aber noch andere, in ihrer gün¬
stigen Wirkung auf den Krankheitsprozeß
unzweifelhaft sichergestellte Momente, bei
denen die Zurückführung auf lokale Vor¬
gänge nicht möglich ist, bei denen wir
nur eine allgemeine Verbesserung der
Konstitution, eine Erhöhung der Vitalität
anzunehmen haben. Zu diesen Einflüssen
gehören in erster Linie die rein physika¬
lischen Faktoren: Licht, Luft, Klima,
Jahreszeit usw.
Sicherlich kommt die Wirkung dieser
Faktoren auch auf dem Wege über die
Veränderung der Gewebe und ihres Stoff¬
wechsels zustande — man hat ja schon
x ) l. c.
Juni Die Therapie der Gegenwart 1917. 225
derartige Befunde erhoben 1 ) — nur läßt,
sich dieser Einfluß nicht nach Quantität,
Ort und Zeit irgendwie fassen.
Ob neben den genannten noch andere
Möglichkeiten einer Konstitutionstherapie
der Rachitis bestehen, ob vor allem hier
bestimmte Medikamente wirksam sein
können; läßt sich zurzeit nicht feststellen.
Jedenfalls ist dieses Gebiet dasjenige, auf
welchem noch die meisten Fortschritte
der Therapie zu erhoffen sind, aber auch
die meiste Gelegenheit zu fahrlässigem
und bewußtem Arzneimißbrauch besteht.
5. Die spezielle physikalische
Therapie.
Es bliebe noch die spezielle physika¬
lische Therapie der Rachitis zu bespre¬
chen. Hierzu gehört in erster Linie das
ganze Rüstzeug des orthopädischen Chir¬
urgen. Daneben bleibt aber auch für den
internen Kliniker eine Reihe von Mög¬
lichkeiten zur Verhütung und Behand¬
lung der Verbildungen des Skelettsystems,
aber auch der sonstigen Begleit- und
Folgeerscheinungen der Rachitis übrig.
Da die Grundlagen dieser Behandlungs¬
methoden durchweg grob empirisch sind,
so brauchen wir erst im folgenden Teil
der Arbeit näher darauf einzugehen. '
Von den besprochenen fünf Arten der
Therapie ist nur die letzte rein sympto¬
matisch. Bei den anderen vier läßt sieh
die beliebte Unterscheidung von sympto¬
matischer und kausaler Therapie nicht
ohne weiteres durchführen. Wenn man
die Skeletterscheinungen nur als Sym¬
ptome der Rachitis betrachtet, so wäre
die Kalkbehandlung noch am ersten zur
symptomatischen Behandlung zu rechnen.
Inwieweit wir schon das Recht haben, von
kausaler Therapie bei der Rachitis zu
reden, ist unsicher. Jedenfalls ist nach
dem Ergebnis des Stoffwechselversuches
die Lebertrantherapie nicht als eine solche
anzusprechen. Meines Erachtens ist die
hygienisch-diätetische Behandlung vor¬
läufig noch die einzige, die auf diese Be¬
zeichnung Anspruch erheben könnte. Die
Möglichkeit einer anderen kausalen
Therapie scheint nach dem heu¬
tigen Stande der Rachitisforschung
nur sehr gering, das Suchen danach
vergeblich zu sein.
(Der Bericht über die praktische Durchführung
der Behandlung folgt im nächsten Heft.)
Über Fieber und Fiebermittel.
Eine Arbeit von Starkenstein (Prag)
ausführlich zu referieren, erscheint ge¬
rechtfertigt, da dieselbe gewissermaßen
die (ganz unabhängige) erweiterte theore¬
tische Grundlage bildet zu den praktisch
wertvollen Mitteilungen der im März und
April 1916 erschienenen, seinerzeit aus¬
führlich referierten Arbeit von Gräfe
über physikalische und chemische Anti-
pyrese 2 ).
Die zweite Hälfte des neunzehnten
Jahrhunderts bedeutet einen Wende¬
punkt in der Anschauung über den Wert
des Fiebers. In der Auffassung von seiner
Zweckmäßigkeit trat eine gewaltige Ände¬
rung ein; war es bisher Galens und
Hippokrates’ Ansicht entsprechend als
heilkräftig angesehen worden, so suchte
man jetzt seine Bekämpfung aüf alle nur
möglichen * Weisen, durchzuführen. Es
übte ja massenhaft deletäre Wirkungen
auf den Organismus aus, ohne kaum
irgendeinen Vorteil zu bieten. Lieber¬
meister führt in seinem ,,Handbuch der
Pathologie und Therapie des Fiebers“ die
1 ) Vergleiche z. B. die Untersuchungen von
Raczynski über den Einfluß des Lichtes auf
die Kalkbilanz.
2 ) Vgl. Ther. d. Gegenw. Juli 1916, S. 257.
Temperatursteigerung an sich als Todes¬
ursache an! „Ohne Rücksicht auf die
Qualität verdient das Verfahren der Anti-
pyrese den Vorzug, durch welches Herab¬
setzung der Temperatur am sichersten
gelingt“. Die natürliche Folge dieses
krassen Standpunktes war eine rege Pro¬
duktion neuer Fiebermittel, die wenigen
vorhandenen Medikamente konnten ja
den Grundsätzen der Fieberbekämpfung
jener Zeit nicht entsprechen. Neben
Chinin, das nicht nur bei Malaria als
Specificum, sondern auch bei Typhus,
Pneumonie, und zwar in Dosen von 2 bis
3 g innerhalb ein bis zwei Stunden, als
reines Antifebrile verabreicht wurde, wur¬
den Digitalis und Veratrin zur Herab¬
setzung der. Temperatur herangezogen.
1875 kam die Einführung der Salicylsäure
in die Therapie; bald folgten das Aceta-
nilid, die Pyrazolon- und Paraamido-
phenolderivate.
Wie zu erwarten, trat allmählich mit
der milderen Beurteilung der Fieber¬
schädigungen ein Nachlassen der Pro¬
duktion neuer Fiebermittel ein: immer
mehr, je mehr die medikamentöse Anti-
pyrese auf ein Minimum reduziert wurde.
Nicht das plötzliche Entfiebern selbst ist
29
226
Die Therapie der Gegenwart 1917:
ja der Zweck der heutigen Fieberbekämp¬
fung, sondern das Herabsetzen seiner Be¬
gleiterscheinungen. Und diesen Zweck
erfüllen die Antipyretica in verschieden¬
ster Wirkungsweise. Der zwangsmäßig
fieberlose Verlauf mancher Krankheiten
bedeutet nach jetziger Anschauung gar
keinen Vorteil, der Wert der Antipyre¬
tica liegt darin, daß fast alle außer der
temperaturherabsetzenden, noch
eine Reihe anderer noch mehr erwünsch¬
ter Wirkungen haben. Es sind sogar
Heilwirkungen erhöhter Temperatur ein¬
wandfrei festgestellt worden. Infektions¬
krankheiten, die an sich fieberlos ver¬
laufen, können durch intercurrentes Fie¬
ber geheilt werden (Gonorrhöe im Typhus,
Ausbleiben des epileptischen Anfalles
während der Dauer fieberhafter Erkran¬
kungen). Bildung von Antikörpern wird
durch erhöhte Temperatur befördert, Hy-
perleukocytose begünstigt. Alles ein Be¬
weis dafür, daß es nicht gilt, das Fieber
als solches zu bekämpfen, sondern nur
die mit ihm verknüpften unerwünschten
Begleiterscheinungen in ihm zu treffen.
Fieber stellt sich der als Ausdruck der
Erregung des centralen Wärmeregulie¬
rungsapparats; Regio subthalamica und
Tuber cinereum spielen die Hauptrolle.
Also werden alle Mittel brauchbar sein, die
zur Beruhigung der central erregten Ap¬
parate beitragen. Da aber neben der cen¬
tralen Wärmeregulierung auch periphere
Apparate beteiligt sind an der Verände¬
rung der Körpertemperatur (Gefäßvolü-
menveränderungen, Strahlung und Lei¬
tung von seiten der Haut), so werden
Fiebermittel auch unabhängig vom Cen¬
trum peripher ansetzend eine Wirkung
entfalten können.
Chinin z. B. wirkt auf doppelte Weise
temperaturherabsetzend: Durch Ein¬
schränkung des Stoffwechsels ruft es Ein¬
schränkung der Wärmebildung hervor
und setzt damit die Temperatur herab.
Außerdem kommt ihm eine, wenn auch
geringe, beruhigende Wirkung auf den
centralen Regulierungsapparat zu.
DieAntipyringruppe ist nach Schmie¬
deberg eine fiebernarkotische, welche
übererregte Centren beruhigt, und wie¬
derum entfalten die hierher gehörigen
Medikamente eine zweite Wirkung: sie
erweitern unabhängig vom Centrum die
peripheren Gefäße und bewirken dadurch
auch eine Wärmeabgabe.
Atophan (ein Medikament, das auch
die Temperatur des nicht fiebernden
Organismus herabsetzt) beruhigt den cen¬
Juni
tralen Wärmeregulierungsvorgang oder
lähmt, vielmehr den Centralapparat, auch
wenn er nicht gereizt ist.
Eine ähnliche Wirkung entfaltet Cal¬
cium.
Fast allen Antipyreticis. kommt neben
der Temperatur herabsetzenden auch eine
außerhalb der Beruhigung der Wärme-
centra 1 liegende narkotische „analge-
tische“ Wirkung zu. Ihre Rolle als
schwache Narkotica der sensiblen Gro߬
hirnfunktionen ist sogar fast die wich¬
tigere.
Kopfschmerz kann als Ursache Cir-
culationsstörungen im Gehirn haben. Also
wird die vasomotorische Wirkung der
Antipyretica analgetisch zu Geltung kom¬
men, bald hirngefäßerweiternd: Para-
amidophenol, Pyrazolonderivate; bald
hirngefäßverengernd: Salicylica. Der
analgetische Effekt liegt in der Besei¬
tigung pathologischer Reizzustände des
intracraniellen Gefäßsystems.
Auf gleicher Basis beruht die gute
Wirkung des Coffeins auf Kopfschmerz.
Es ist kein Fiebermittel und wirkt durch
Erweiterung der peripheren Gefäße beim
intracraniellen Angiospasmus gut anal¬
getisch. Die Erklärung der Tatsache, daß
beim Kopfschmerz dem einen dies, dem
anderen nur jenes Mittel hilft, liegt also
auf der Hand: der eine muß seine Gefä߬
verengerung, der andere seine Gefä߬
erweiterung zu beseitigen suchen. Es
gibt angiospastische und angioparaly-
tische Kopfschmerzen.
Außer der antipyretischen und der
analgetischen kommt den Fiebermitteln
allgemein noch eine antiphlogistische
Wirkung zu. An der Spitze mit seiner
entzündunghemmenden Wirkung beim
akuten Gelenkrheumatismus steht das
Atophan. Ob eine centrale Komponente
oder Wirkung auf die Gewebe selbst in
Frage kommt, ist nicht bekannt. Bio¬
logische Versuche haben Unterschiede
in der entzündunghemmenden Wirkung
verschiedener Antipyretica erwiesen;
Unterschiede, die in der allgemeinen the¬
rapeutischen Bewertung eines Antipyre-
ticums wohl einen wichtigen Einfluß aus¬
üben werden. Die temperaturherabsetzen¬
de Wirkung allein würde zum Beispiel
das Atophan beim akuten Gelenkrheuma¬
tismus in den Hintergrund hinter andere
rein’ antipyretisch wirksamere Antipyre¬
tica drängen. Seine antiphlogistische
Wirkung reiht es unter die ersten Speci-
fica gegen die Polyarthritis. Niemals sollte
eine der drei Wirkungskomponenten al-
Juni Die Therapie der Gegenwart 1917. 227:
lein als den Wert des Antipyreticums be¬
stimmend angeführt werden, wenn auch
je nach der erwünschten Wirkung bald
die eine, bald die andere im Vordergründe
stehen mag.
Die. lange Zeit ausschließlich auf die
Malaria konzentrierte Chinintherapie
ist in neuerer Zeit erweitert worden. Ari-
stochin, Aurochin, Euchinin sind
nur Geschmack oder Vermeidung von
Nebenwirkungen betreffende Verbesse¬
rungen, die qualitativ dem Chinin ent¬
sprechen.
Optochin (Aethylhydrocuprein),
ein dem Chinin verwandtes Medikament,
bedeutet, von Morgenroth und seinen
Mitarbeitern zur Geltung gebracht, einen
Fortschritt auf dem Gebiete der che¬
mischen Antipyrese, der nicht zu unter¬
schätzen ist. Es kommt dem Ideal
organotroper oder einfacher gesagt:
ätiologischer Fieberbekämpfung
recht nahe mit seiner antipyretischen und
zugleich gegen Pneumokokken specifi-
schen Wirkung.
Zwei Medikamente sind völlig aus
dem Arzneischatz verschwunden: Kairin
und Thallin. Vom Chinin ausgehend wurde
Chinolin dargestellt, als seine Derivate
waren ein6 Zeitlang Kairin und Thallin
in Gebrauch. Mit dem von Ehrlich vor¬
geschlagenen Thallinisieren, Minimaldosen
von Thallin, beim Typhus hat man
schlechte Erfahrungen gemacht.
Atophan ist eine Chinolin-Karbon¬
säure; es ist in harte Konkurrenz getreten
mit den für Polyarthritis als specifisch
angesehenen Salicylaten, denen es über¬
legen zu sein scheint, wenn man ihm auch
auf Grund der bisher bekannten Tatsachen
eine ätiologische Wirkung nicht zuer¬
kennen kann; Bactericide Wifkung in
vitro hat es nicht entfaltet (die ent¬
sprechenden Versuche wurden gelegent¬
lich einiger Fälle von Puerperalsepsis
gemacht, in denen es antipyretisch gute f
Resultate ergeben hatte). Seine Derivate
Novatophan und Acitrin bedeuten
keine Verbesserung des Originalpräparats.
Abgeleitet von der Gruppe des Anti-
pyrins ist erstens Melubrin, über
welches die pharmakotherapeutischen
Versuche noch nicht abgeschlossen sind;
es wird eine demPyramidon sehr ähnliche
Wirkung erwartet. Sein imposanter che¬
mischer Name ist: phenyldimethylpyra-
zolonamidomethansulfosaures Natrium.
Zweitens Pyramidon, dessen analge¬
tisch-antipyretische Wirkung die der
meisten anderen Antipyretica überflügelt
und unser wertvollstes Kopfschmerzmittel
darstellt. Eine antiphlogistische, dem
Melubrin eigene Wirkung scheint ihm
za fehlen.
Die Salicylate haben wiederum vor
allem die bei Rheumatismen bewährte
Kombination von guter analgetisch¬
antiphlogistischer und daneben geringer
antipyretischer Wirkung, ähnlich wie
das Atophan. Entzündung und Schmerz
sind ja auch die — gut bekämpften —
Hauptsymptome der Polyarthritis. Die
neuen und neuesten Mittel der Salicyl-
gruppe haben durch Einführung von
Lithium- und Calciumsalzen den' Vorteil
leichter Löslichkeit.
Gräfes Mitteilungen vom März und
April 1916 und die hier referierte Arbeit
von Starkenstein vom Februar 1917
bilden eine wohl vollständige Übersicht
über Fieber und Fiebermittel.
(Ther. Mh. 1917, 2 ) j v. Roznowski.
Referate.
Gräfe berichtet über Beobachtungen
am Krankenmaterial einer Hallenser
Frauenpraxis, die das letzterzeit viel beob¬
achtete auffällige Häufigerwerden der
Amenorrhoe hauptsächlich in den Alters¬
klassen zwischen 20 und 40 Jahren zeigen,
also in Altersklassen, in denen die
Amenorrhoe, die eine Erkrankung der auf
die Pubertät folgenden Jahre zu sein
pflegt, gemeinhin selten ist (von 131 Pa¬
tienten des Verfassers waren nur 33 unter
20 Jahren, die hauptsächlich aus den
ersten beiden Kriegsjahren stammten).
Es handelt sich in den meisten Fällen um
ledige, meist alleinstehende Mädchen, die
aus Furcht vor Schwangerschaft den Arzt
aufsuchten. V on Begleiterscheinungen
fand sich in manchen Fällen nichts, in
anderen waren die Zeichen der Blutarmut
mehr oder weniger deutlich. Ausfallser¬
scheinungen von seiten der Sexualorgane
waren selten, oft dagegen wurde über
Kreuzschmerzen und Fluor albus ge¬
klagt, besonders in der Zeit, in der die
Menses fällig waren. Der Uterus war in
nahezu der Hälfte der Fälle klein, oft fast
atrophisch, ein Befund, aus dem ein
Schluß auf Funktionslosigkeit der Ovarien
zulässig ist (Lactationsatrophie des Ute¬
rus). Die Amenorrhoe schwindet, wenn
die Kranke wieder in die gewohnten Ver¬
hältnisse zurückkommt (wie das auch im
29*
228
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Juni
Frieden der Fall ist), das heißt, wenn die
Ernährung wieder besser, die Arbeit den
Kräften wieder angemessen, vielleicht
auch, wenn ein seelischer Druck wegge-
‘nommen ist. Eisen- und Eierstockprä¬
parate behoben wohl öfter die subjektiven
Beschwerden, nie aber die Amenorrhoe
selbst. Ob, wie es bei der Lactations-'
amenorrhöe Vorkommen kann, die Uterüs-
atrophie dauernd werden kann und daher
im Interesse der Fortpflanzungsfähigkeit
unbedingt eine Therapie durch Nahrungs¬
zulagen nötig ist, läßt Gräfe unent¬
schieden. Wenn er auch der Unter¬
ernährung bzw. ungeeigneten Ernährung
die Hauptschuld an dem Zustande bei¬
mißt. Waetzoldt.
• (M. m. W, 1917, Nr. 18.)
Zimmermann richtet die Aufmerk¬
samkeit auf Zungenveränderungen
und Zungensensationen als Früh-
und Begleitsymptom bei perniziö¬
ser Anämie. Die Kranken leiden an einem
periodisch auftretenden, bald mehr, bald
weniger lästigen Gefühl von Wundsein
auf der Zunge, zuweilen im Rachen und
Gaumen. In anderen. Fällen sind es ent¬
weder einfache Rötungen, und zwar auf
die Papillenspitzen beschränkt, so daß
man sie für feinste Blutungen halten kann,
oder man sieht glatte, sulzige, aphten-
ähnliche Efflorescenzen, in deren Bereich
man keine Papillen erkennen kann. Sel¬
tener werden Bläschen oder aus diesen
entstandene flache Defekte beobachtet.
Zimmermann hat nun unter neun
Fällen regelmäßig diese Befunde teils als
Zungensensationen, teils als objektiv nach¬
weisbare Zungenveränderungen gefunden.
Die Klagen der Patienten sind immer die¬
selben, wie sie bei perniziöser Anämie
typisch sind. In vier Fällen bestanden
die Zungenbeschwerden schon, ehe die
Patienten über allgemeine Beschwerden
klagten. Bei schweren anderen Anämien,
Chlorose, Tuberkulose, Gravidität usw.
konnte er diese Veränderungen niemals
feststellen. Die Patienten können ge¬
würzte oder heiße Speisen nur unter
Schmerzen genießen. Auf der Zunge oder
im Rachen verspüren sie Brennen. Bei
einigen Fällen verschwanden mit der
Besserung des Allgemeinbefindens und
des Blutbefundes auch die Zungenbe¬
schwerden oder ließen wenigstens nach.
Offenbar besteht, wie Zimmer mann
glaubt, zwischen Allgemeinzustand, Blut¬
befund und Zungenveränderungen ein
gewisser Parallelismus. Bei einzelnen
Kranken bestanden die Zungenverände¬
rungen teils vorübergehender, teils an¬
haltender Natur, bereits ein halbes bis
ein Jahr, ehe die anderen Erscheinungen
deutlich auftraten. Dünner.
(M. m. W. 1917, Nr. 18.)
Küttner beschreibt «ein typisches
Verfahren zur Unterbindung der Arteria
vertebralis in der Suboccipitalregion.
Die Verletzung und das traumatische
Aneurysma der Arteria vertebralis sind
zwar eine seltene Erkrankung, immerhin
stößt die operative Beseitigung des Lei¬
dens oft auf große Schwierigkeiten. Um
an die Arterie heranzukommen, muß man
sich ihre anatomische Lage genau ver¬
gegenwärtigen, und es hat sich als zweck¬
mäßig' herausgestellt, den Verlauf des
Gefäßes in drei Abschnitte zu zerlegen,
zunächst von ihrem Ursprung aus der
* Arteria subclavia bis zum Eintritte in das
Foramen transversum des sechsten Hals¬
wirbels, dann von hier bis zum Foramen
transversum des Atlas, und schließlich der
Abschnitt bis zum Eintritt in die Schädel¬
höhle. Eine typische Freilegung gibt es
bisher nur für die erste Strecke. Besonders
schwierig gestaltet sich die Freilegung des
dritten Abschnittes, doch ist es möglich,
auch hier nach dem von Küttner ange¬
gebenen Verfahren einen typischen Weg
einzuhalten, wenn man -sich anatomisch
orientiert nach dem oberen Rande des
Atlasbogens. Um diesen zu erreichen,
muß der Musculus splenius von einem
am hinteren Rande des Kopfnickers ver¬
laufenden Schnitt durchtrennt werden,
ebenso der Semispinalis. Von hier gelangt
Inan leicht an den Bogen des Atlas, in
dessen Höhe die Arterie verläuft.
Hay ward.
(Zbl.f. Chir. 1917, Nr. 15.)
Zur Asthmafrage äußert sich Hof-
bauer (Wien). Er weist darauf hin, daß
Asthmatiker darüber klagen, daß sie ihr
Asthma nur bei körperlichen größeren
Anstrengungen bekommen. Militärper¬
sonen gelangten nun vielfach zur Be¬
handlung, die bei jeder anstrengenderen
Marschübung asthmatische Beschwerden
bekommen. Man findet bei ihnen außer
trockenem Giemen über der Lunge keinen
pathologischen Befund. Da solche Pa¬
tienten häufig bei völliger Körperruhe
die Lippen nicht hermetisch verschließen,
sucht Hofbauer in der Mundatmung
das auslösende Moment für die Klagen.
Es ergab sich, daß viele Patienten an-
gaben, morgens Trockenheit im Munde
in Verbindung mit Hustenreiz und Kitzeln
im Halse bemerkt zu haben. Es bestanden
1917 Therapie der Gegenwart. Anzeigen. 6. Heft
16
229»
Juni Die Therapie der
also Zeichen nächtlicher Atmung bei of¬
fenem Munde. Die asthmatischen Be¬
schwerden werden auf diese Weise wohl
erklärt; denn die Mundatmung bewirkt
eine Reizung der Schleimhaut der tieferen
Atemwege, weil hierbei in den Kehlkopf
Atemluft eintritt, welche im Gegensätze
zu der bei physiologischer, nasaler At¬
mung dorthin strömenden nicht genügend
präpariert ist. Die Nasenatmung hat den
Vorteil, daß Wärme und Wasserdampf
bis zu der im Körperinneren entsprechen¬
den Sättigung an die Luft abgegeben wer¬
den, der suspendierte Staub abgefangen
wird, so daß beim Eintritte in die Stimm¬
ritze eine weitere Adaptierung unnötig
wird. Dahingegen kommt bei der Mund¬
atmung Luft in einem kompakten Strome
von der Mundöffnung bis zum Kehlkopf¬
eingange in fast gerader Linie und braucht
nicht, wie bei der Nase, Engpässe zu durch¬
dringen, so daß lediglich bei der Mund¬
atmung die äußerste Peripherie der Luft
mit der Schleimhaut in Berührung kommt.
Es gelangt also bei der Mundatmung Luft
in die tieferen Atemwege, welche zu wenig
befeuchtet und erwärmt ist, und es ist er¬
klärlich, wenn Kitzel, trockener Husten¬
reiz und Druck auf der Brust sich ein¬
stellen. Hofbauer glaubt, daß von diesen
Beschwerden bis zum Asthma nur ein
Schritt sei. Die Mundatmung stellt einen
allgemeinen pathogenetischen Faktor beim
Zuständekommen des asthmatischen An¬
falles dar. Es kommt darauf an, die Leute
zur Nasenatmung anzuhalten. Es gelingt
allerdings die Umschaltung des Atem¬
modus nicht immer ohne Zwischenfälle,
Im Anfänge verursacht das Atemholen
durch die Nase wegen der Enge und
größeren Länge dieses Atemweges nahezu
immer das Gefühl unbefriedigender Luft¬
zufuhr. Es kann sogar zu Schwindel und
Ohnmacht führen, wenn man die Patien¬
ten veranlaßt, die Lippen längere Zeit
festgeschlossen zu halten. Alle diese un¬
angenehmen Nebenerscheinungen ver¬
schwinden jedoch schon nach wenigen
Übungen. Hof bau er weist zum Schlüsse
darauf hin, daß vielleicht die Erfolge der
Summtherapie zum Teil durch die Aus¬
schaltung der die Bronchialschleimhaut
reizenden Mundatmung erklärt wird.
D ii nne r.
(M. m. W. 1917, Nr. 14.)
Über günstige Resultate, die mit einem
neuen Wundpulver, dem Boluphen, erzielt
worden sind, berichtet Hayward. Das
Boluphen besteht aus einem Formaldehyd-
Phenol-Kondensationsprodukt mit Bolus.
Gegenwart 1917.
Es ist geruch- und geschmacklos, ungiftig;
seine Keimfreiheit wird von der Fabrik
Vial & Uhlmann in Frankfurt a. M. garan¬
tiert.' Die Kombination des Phenols mit
Bolus muß als besonders glücklich be¬
zeichnet werden, nachdem durch eine
Reihe von Veröffentlichungen die gün¬
stige Wirkung des Phenols, des Phenol-
camphers usw. dargetan ist, sobald es sich
darum handelt, die Resorption aus Wund¬
flächen zu beschränken. Temperatur¬
steigerungen, die auf die Resorption aus
diesen Flächen zurückzuführen sind, ver¬
schwanden sofort. Dazu kommt die aus¬
trocknende Bolus-Wirkung. Das Bolu¬
phen vereinigt diese Wirkung der
Bolus mit der resorptionsverhindernden
des Phenols. Es kommt zur Anwendung
bei großen eitrigen und jauchigen Wun¬
den, deren Granulationen in kurzer Zeit
sich dann reinigen und damit den Boden
abgeben für eine rasche Epithelisierung.
Selbstbericht.
(M. Kl. 1917, Nr. 21.)
Die Darmresektion ohne Darmeröff¬
nung durch Invagination hat Reich
studiert und ausgeführt. Die Operation
am Darme unter vollkommenster Wahrung
der Asepsis ist in der letzten Zeit öfter
der Gegenstand des Studiums .gewesen.
Verfasser gibt hierzu einen interessanten
Beitrag. In einem Falle von Dickdarm-
carcinom war es möglich eine antiperistal¬
tische Invagination des gut abgegrenzten
und beweglichen Tumors herbeizuführen,
nachdem zuvor eine entsprechende keil¬
förmige Resektion des Mesokolons vorge¬
nommen worden war. Der periphere Teil
des Invaginationsschlauches wurde an dern
centralen Darmabschnitte durch eine ring¬
förmige Naht fixiert. Nach neun Tagen
ging nach einem Einlaufe der invaginierte
Darmabschnitt, ohne Beschwerden ab.
Die Röntgenkontrolle, ein Vierteljahr
später, ließ die Resektionsstelle überhaupt
nicht mehr erkennen. Hayward.
(Zbl. f. Chir. 1917, Nr. 16.)
Müller berichtet über ausgezeichnete
Erfolge mit der Behandlung des Ery¬
sipels durch Rotlichtbestrahlung. Das
Material bestand in sechzig Fällen, die
zum großen Teile die Erkrankung im An¬
schlüsse an eine Operation an alten fisteln¬
den Wunden und Abscessen bekommen
hatten. Sofort nach Erkennung der
Krankheit wurde der Patient ins Dunkel¬
zimmer verbracht und dort das Erysipel
ohne jede andere Therapie Tag und Nacht
mit dem Lichte einer gewöhnlichen roten
Glühlampe bestrahlt, wobei zur Vermei-
“230 Die Therapie der
düng unnützer Erwärmung je nach der
Art der Glühlampe ein Abstand von ein¬
halb bis zwei Metern einzuhalten ist. Der
Verlauf ist dann in unkomplizierten Fällen
der, daß nach etwa 24 Stunden die Tem¬
peratur auf etwa 38° absinkt und in wei¬
teren drei bis fünf Tagen zur Norm zurück¬
kehrt. Entsprechend bleibt der Lokal¬
befund nach 24 Stunden stationär, um
in den nächsten Tagen von der Mitte nach
den Rändern zu allmählich abzublassen.
Wie diese Wirkung des roten Lichtes zu
erklären ist, diese Frage läßt Müller
einstweilen noch offen. Daß auch diese
Therapie nicht unfehlbar ist, versteht sich
von selbst, doch ist es-'auffallend, daß
Müller in allen Fällen von Versagern
eine beginnende Einschmelzung des Unter¬
hautzellgewebes oder der Haut selber
fand. Der Vorteil der Behandlungs¬
methode vor den üblichen Anwendungen
ist der der größeren Sicherheit und die
Ersparnis an Material. Die Überlegenheit
gegenüber der Beckschen Quarzlampen¬
behandlung liegt in der großen Billigkeit
und daher allgemeinen Anwendbarkeit, so¬
wie in der Möglichkeit, die Erysipele voll¬
ständig zu isolieren, was bei der Quarz'-
larapenbehandlung kaum möglich sein
dürfte. Waetzoldt.
(M. m. W. 1917, Nr. 11.)
Freund und Speyer ist es gelungen,
das Krampfgift Thebain in eine stark
narkotisch wirksame Substanz zu über¬
führen, die entsteht, wenn das Thebain
zunächst oxydiert, dann an anderer Stelle
wieder reduziert wird. Da dieselbe was¬
serunlöslich ist, so wird die salzsaure Ver¬
bindung benutzt, die als Eukodal be¬
zeichnet wird (weil chemisch dem Kodein
näherstehend als dem Thebain). Die Sub-
stanz'ist in Wasser leicht löslich und ganz
beständig. Über seine Erfahrungen damit
berichtet Falk unter Beigabe von Kran¬
kengeschichtsauszügen. Im Tierversuche
zeigt sich keine lähmende Wirkung auf
das Herz, wohl aber eine sehr kurze, dem
narkotischen Stadium vorangehende Er¬
regung. Eigenversuche ergaben nach 0,01
bis 0,02 leichte Müdigkeit und Pupillen¬
verengerung, keine unangenehme Neben¬
wirkung. Bei der Verwendung im Großen
zeigte sich, daß der schmerzstillende Er¬
folg schneller eintrat als bei Morphin. In
Dosen von 0,02, in Fällen sehr großer
Schmerzen (Tumoren) wohl auch 0,03, be¬
seitigt das Mittel bei subcutaner Anwen¬
dung die Schmerzen fast augenblicklich
und schafft einen zwar nur leichten, aber
von keiner Mißempfindung gefolgten Schlaf
Gegenwart 1917. Juni
(bei Aufsein nur mäßige Müdigkeit). Da es
nicht wesentlich auf das Herz wirkt (nur
ganz geringe Pulsverlangsamung und Blut¬
drucksenkung danach), so eignet es sich
auch gut zur Einleitung der Narkose wie
zur Anwendung bei Herzkranken. Die
Wirkung ist natürlich wie bei allen Mit¬
teln der Morphingruppe eine solche auf
die Schmerzcentren; bei motorischer Er¬
regung bietet das Mittel also wenig Vor¬
teile vor seinen Verwandten, da wie bei
diesen in den bei stärkerer Erregung nö¬
tigen hohen Dosen (0,04!) eine starke Ver¬
langsamung der Atmung Eintritt (Atem¬
centrum !). Bei Narkosen gelang es zwar,
das Excitationsstadium zu vermeiden,
auch konnte in Einzelfällen ein Teil der
Operation nur unter Eukodal ausgeführt
werden (zweimal 0,02), aber in weiteren
Erfahrungen zeigte sich, daß bei dieser
Dosierung die Atemwirkung schon be¬
drohlich werden kann, ebenso wie Ge¬
burten im Eukodal dämmerschlafe wegen
der • wehenschwächenden Wirkung des
Mittels nicht ausführbar sind. Kleine
Operationen konnten allerdings in Euko-
dalnarkose ausgeführt werden (bei Trin¬
kern oft nicht). Im Skopolamin-Eukodal-
Dämmerschlafe können selbst größere
Operationen durchgeführt werden, doch
ist dann die Blutdrucksenkung beträcht¬
lich (40 mg Eukodal und Vs mg Skopol
amin). Die Ruhigstellung des Darmes
durch Eukodal überdauert seine All¬
gemeinwirkung nicht. Die Frage der Ge¬
wöhnung läßt sich wohl endgültig noch
nicht entscheiden, doch wurden z. B.
beim Aufhören nach siebenmonatlichem
Eukodalgebrauche Abstinenzerscheinun¬
gen nicht beobachtet, auch war eine Ver¬
größerung der anfangs wirksamen Dosen
nie nötig geworden. Bei innerlicher Ver¬
abreichung sollte ebenso wie bei sub¬
cutaner die Einzeldose von 20 mg nicht
überschritten werden. Die Wirkung ist
wesentlich die des Morphins auf Husten¬
reiz, Asthmabeschwerden usw. Die Dosen
brauchen zur Wirkung jedoch nur halb
so hoch zu sein wie bei diesem. Bei 50 mg
treten bereits Vergiftungserscheinungen
auf. An Nebenwirkungen traten auf,
besonders bei jungen Mädchen, Er¬
brechen, Schwindel, Mattigkeit; als
Nachwirkung Benommenheit und Kopf¬
schmerz. In solchen Fällen wird man mit
der Dosis noch weiter, bis auf 5 mg, zu¬
rückzugehen haben. Waetzoldt.
(M. m. W. 1917, Nr. 12.)
Das Wesen des Fünftagefiebers be¬
handelt Hildebrandt. Die Fieberan-
Juni
Die Therapie der Gegenwart 1917.
231
fälle sind nach seinen Ermittelungen von
einer oft beträchtlichen Leukocytose be¬
gleitet, selbst dann, wenn nach längerem
Bestehen der Erkrankung die Fieber¬
anfälle nicht mehr in gleicher Deutlichkeit
auftreten, sondern einer unbestimmten
Subfebrilität Platz gemacht haben. Die
Leukocytenvermehrung erfolgt im wesent¬
lichen auf Kosten der neutrophilen poly¬
morphkernigen Zellen. Von mindestens
gleicher, wenn nicht höherer Wichtigkeit
erscheint ihm das von ihm nachgewiesene
Auftreten von Knochenmarkselementen
im Blute, die man auch dann findet, wenn
die Krankheit bereits im Abklingen be¬
griffen ist und nur geringe Temperatur¬
steigerungen bestehen. Er hält dies für
eine Noxe, welche ihren Hauptangriffs¬
punkt im Knochenmark hat. Die Kno¬
chenmarksreizung kann solange bestehen,
daß es zweifelhaft erscheint, ob es über¬
haupt in diesen Fällen von selbst zu einem
Aufhören der Reizerscheinungen und da¬
mit zu einer Heilung kommt. Er weist
darauf hin, daß die fortwirkende Reizung
des Knochenmarks dazu führt, daß mye¬
logene Blutbildungsherde an Orten auf¬
treten, die ursprünglich nicht dafür in
Frage kommen und so allmählich ein
Blutbild entsteht, das sich von einer
myeloischen Leukämie nicht unterschei¬
den läßt. Hildebrandt geht sogar so
weit, daß er im Fünftagefieber eine Er¬
krankung sieht, deren Endstadium nach
Jahren, vielleicht Jahrzehnten unter dem
Bilde der myeloischen Leukämie verläuft.
Damit wäre die unbefriedigende Vorge¬
schichte fast aller Leukämiker mit einem
Schlage geklärt, wenn man eine unter
dem Bilde eines hartnäckigen ,, Rheu¬
matismus“ verlaufende scheinbar harm¬
lose Erkrankung, wie das Fünftagefieber,
als Anfangsstadium sicherstellen könnte.
Dazu würde auch die Subfebrilität pas¬
sen, die für das Fünftagefieber und auch
für Leukämie beschrieben wurde.
D ü nner.
(M. m. W. 1917, Nr. 18.)
Port beschreibt eiilen Fall von Tod
durch Glottisödem bei Quinckeschem
Ödem, ein Ereignis, das bekanntlich außer¬
ordentlich selten und dann meist familiär
auftritt. Der Kranke, um den es sich hier
handelt, war familiär nicht mit ähnlichen
Erkrankungen belastet. Zwei Wochen vor
der Aufnahme in das Krankenhaus be¬
kam er aus unbekannter Ursache eine
sehr schnell vorübergehende Urticaria
und seitdem jeden Tag meist nur eklige
Stunden anhaltend einen ähnlichen, wenig
juckenden Ausschlag oder eine umschrie¬
bene ödematöse Stelle an irgendeinem
Körperteile, einmal auch im Munde. Bei
der Aufnahme fanden sich mehrere solche
Stellen; sonst wurde kein Befund erhoben.
Am nächsten Tage wieder andere
quaddelähnliche Stellen, darunter auch
eine an der rechten Seite der Oberlippe.
In der Nacht stand er auf, klagte über
Luftmangel, ging herum, dann ziemlich
plötzlich ziehende Atmung und Exitus an
Erstickung, bevor ein Arzt auch nur ge¬
rufen werden konnte. Bei der Sektion
fand sich starkes Ödem sowohl des Kehl¬
kopfeinganges wie des Kehlkopfes selbst.
Aus den prallelastischen, sehr saftreichen
Lungen entleerte sich ebenso wie aus den
Bronchien beim Durchschneiden reichlich
schaumige Flüssigkeit. Die anderen Or¬
gane zeigten keinen pathologischen Be¬
fund. Das Glottisödem mußte also als
Todesursache angesehen werden. Be¬
merkenswert ist, daß ein anderer Kranker
mit Quinckeschem Ödem, der den Tod
dieses Patienten mit angesehen hatte, in
der folgenden Nacht gleichfalls Atemnot
bekam, die aber schnell vorüberging.
Infolge — oder nur nach? — Calcium¬
therapie genas dieser Kranke nach einiger
Zeit von seinem Leiden. Waetzoldt.
(M. m. W. 1917, Nr. 12.)
Im Anschlüsse an die von mir be¬
richteten Fälle von hämorrhagischer Dia-
these (veröffentlicht im Januarhefte der
Ther. d. Gegenw.) möchte ich hier über
einen ebensolchen Fall referieren, der
durch Milzexstirpation zur Heilung
kam. Kaznelson schreibt von einer
36jährigen Frau, die mit schwerster Epi-
stoxis und zahlreichen Hämorrhagien und
Suffusiönen in die Klinik kam. Von
Kindheit an litt sie an Nasenbluten und
häufig auftretenden blauen Flecken, spä¬
ter auch an starken Menstruationsblutun¬
gen. Häufige Attacken stärkerer Blu¬
tungen unterbrechen den sonst chroni¬
schen Zustand., Im Kubikmillimeter nur
200 Blutplättchen (gegenüber 250 000 bis
300 000 in der Norm). Keine Retraktion
des Blutkuchens nach 48 Stunden. Ery-
throcyten und Leukocyten sinken rasch
an Zahl. Nach Kaznelson kann es sich
entweder um zu geringe Bildung von
Plättchen oder um Zerstörung der Plätt¬
chen in zu großer Zahl handeln. Das Vor¬
herrschen der Riesenformen soll gegen die
erste Möglichkeit sprechen, da sie gerade
bei starker Regeneration gefunden wer¬
den, besonders nach Blutungen. Auch
eine fehlerhafte Bildung scheint unwahr-
232
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Juni
scheinlich, da Fonio bei Purpura idio-
pathica normale Funktion der wenigen
Plättchen fand. — Bei dieser Frau so¬
wohl wie bei einem anderen Falle von
essentieller Thrombopenie hatte Kaz¬
nelson Milzvergrößerung gefunden. Nun
kann man gan.z sicher annehmen, daß die
Milz eine hämolytische Funktion besitzt;
nicht nur Erythrölyse, Leukolyse, son¬
dern auch Thrombolyse findet in der Milz
statt. Kaznelson setzt den Milztumor
der essentiellen Thrombopenie in , Ana¬
logie mit dem Milztumor der hämolyti¬
schen Anämie und spricht von „spleno-
genfcr thrombolytischer Purpura“. Damit
ergab sich die Möglichkeit eines neuen
therapeutischen Weges zur Besserung der
Thrombopenie, die Milzexstirpation, über
die ich auch in einem meiner Fälle Er¬
wägungen angestellt hatte. In dem Falle
von Kaznelson wurde die Milzexstir¬
pation wirklich ausgeführt; ihr Erfolg
übertraf die kühnsten Erwartungen. Schon
am zweiten Tage nach der Operation keine
Blutung mehr aus dem Einstiche in die
Fingerbeere, gute . Contractibilität des
Blutkuchens, die schon nach 20 Minuten
beginnt; und über eine halbe Million Blut¬
plättchen im Kubikmillimeter Blut. Vier¬
zehn Tage nach der Operation erlebte die
Patientin zum ersten Male, daß sie ganz
ohne blaue Flecke war. Vier Wochen nach
der Operation bietet sie immer noch das
Bild vollkommener Genesung. — In der
zerzupften Milz und im Milzausstrich
fanden sich große Mengen von Blutplätt¬
chen, auch Riesenformen. Benecke.
(W. kl. W. 1916, Nr. 46.)
Beiträge zur Lehre vom hämolyti¬
schen Ikterus liefern A. Albu und H.
Hirschfeld (Berlin). Neuere Untersuch¬
ungen haben gezeigt, daß bei gewissen ,
Formen des Ikterus die Untersuchungen
des Blutes für die Diagnose eine wesentliche
Rolle spielen. Man kann durch sie eine
Krankheit, der man in den letzten Jahren
besondere Aufmerksamkeit geschenkt hat,
von den übrigen Leber- und Bluterkran¬
kungen abtrennen, nämlich den hämoly¬
tischen Ikterus. Gewöhnlich Ist Ikterus
die Folge einer Verlegung der abführenden
Gallenwege und kommt dadurch zustande,
daß die Galle, statt ihren natürlichen
Abfluß in den Darm zu finden, in der Leber
retiniert wird, ins Blut Übertritt und mit
dem Urin zur Ausscheidung gelangt. Bei
dem hämolytischen Ikterus ist vermehrter
Blutzerfall die Ursache. Es wird in der
Leber mehr Gallenfarbstoff produziert als
in der Norm. Im Darm erfolgt dann die
Oxydation des Bilirubins zu Urobilin in
stark gesteigertem Maße. Auch normaler¬
weise entsteht immer Urobilin im Darm¬
kanal; es wird dann vom Blut resorbiert,
der. Leber wieder zugeführt und hier wei¬
ter verarbeitet. Übersteigt aber die im
Darm gebildete Urobilinmenge eine ge¬
wisse Grenze, so kann die Leber das Uro¬
bilin nicht mehr weiter verarbeiten. Es
wird unzersetzt ins Blut übergeführt und
mit dem Urin ausgeschieden. Infolge¬
dessen beobachtet man Urobilinurie bei
allen Erkrankungen, die mit einem ver¬
mehrten Blutzerfall einhergehen. Beim
hämolytischen Ikterus kreist nun zuviel
Urobilin im Körper. Der so bedingte Uro-
bilinikterus unterscheidet sich von dem
gelben Bilirubinikterus durch seine mehr
ins Grüne spielende Färbung und ist in
schweren Fällen so stark, daß die Fär¬
bung fast dem Blattgrün gleicht. Nicht
nur der Harn, sondern auch das Blut¬
serum enthält reichliche Urobilinmengen.
Man unterscheidet einen angeborenen
und einen erworbenen hämolytischen Ik¬
terus. Im Verlaufe des Leidens wechselt
die Stärke des Ikterus erheblich; die
Krankheit verläuft in Schüben. In den
meisten Fällen werden die Attacken von
Ikterus von Schmerzen begleitet, deren
Sitz die Lebergegend ist. Man findet nie¬
mals eine Entfärbung der Faeces, was
nach der oben gegebenen Erklärung plau¬
sibel ist. Der Urin ist gewöhnlich frei von
Bilirubin und es besteht niemals Haut¬
jucken.
Es handelt sich um ein exquisit chro¬
nisch verlaufendes Leiden, das sich über
Jahre und Jahrzehnte hinzieht und nach
einer fast völligen Latenz der Symptome
im Zwischenraum von einigen Monaten
immer wieder neue Anfälle macht, die
sich überWochen erstrecken und allmäh¬
lich abflauen. Die Anfälle bestehen im
wesentlichen in einer Verstärkung des
chronischen, diffusen Ikterus sowie der
Anämie und in dem Auftreten kolik¬
artiger Schmerzen im Leibe, die haupt¬
sächlich in den beiden Hypochondrien
lokalisiert sind. In diesen Anfällen führt
die Erkrankung zu erheblicher Körper¬
gewichtsabnahme und Kräfteverfall, von
dem sich'die Kranken meist wieder er¬
holen. Die diagnostisch wichtigsten und
auch für die Erkennung der Krankheit
vollkommen ausreichenden objektiven
Symptome sind:
1. Die Herabsetzung der osmotischen
Resistenz der roten Blutkörperchen,, wel¬
che vor allem die sonst zuweilen schwierige
Juni.
Die Therapie der Gegenwart 1917.
233
Differentialdiagnose gegenüber der perni¬
ziösen Anämie ermöglicht.
2. Der meist recht erhebliche Milz¬
tumor, der dem leukämischen nach Größe
und Konsistenz nahekommen kann. Recht
bemerkenswert ist auch die fast niemals
fehlende Lebervergrößerung.
3. Die Kombination von Ikterus mit
meist erheblicher Anämie.
4. Veränderungen der roten Blut¬
körperchen wie bei starker sekundärer
Anämie.
5. Die starke Urobilinurie, der sich ein,
starker Urobilingehalt der Faeces zu¬
gesellt.
Einer eingehenden Besprechung be¬
darf die Differentialdiagnose des hy-
molytischen Ikterus gegenüber anderen
Splenomegalien.
Beim Stauungsikterus ist die Farbe
der Haut und der Skleren eine mehr gelb¬
liche gegenüber der mehr, grünlichen des
hämolytischen Ikterus. Hautjucken ist
regelmäßig vorhanden, meist auch Brady-
cardie, und die Faeces sind mehr oder
weniger entfärbt, der Milztumor fehlt
entweder ganz oder ist unerheblich,
es besteht keine Anämie, und wenn eine
solche in geringfügigem Maße vor¬
handen ist, fehlen die charakteristischen
morphologischen Eigentümlichkeiten, wie
die vital färbbare Substanz in den Ery-
throcyten, die Jollykörper, sowie die kern¬
haltigen roten Elemente. Auch eine neu¬
trophile Leukocytose, sowie eine Neutro-
philie oder das Vorkommen von Myelo-
cyten gehört nicht zum Bilde des Stau¬
ungsikterus. Vor allen Dingen aber findet
man statt einer Verminderung der Resi¬
stenz als charakteristische Eigentümlich¬
keit des Stauungsikterus eine ausgespro¬
chene Erhöhung derselben. Endlich fehlt
die Urobilinurie, an deren Stelle Bili-
rubinurie zu konstatieren ist.
. Auch die viscerale Lues kann gelegent¬
lich zur Milz- und Leberschwellung sowie
zu Ikterus und Anämie führen. In solchen
Fällen sind aber Milz und Leber gewöhn¬
lich härter und pflegen eine höckrige Ober¬
fläche zu haben. Die Wassermannsche
Reaktion ist regelmäßig positiv, und die
beschriebenen charakteristischen Verän¬
derungen des Blutbildes des hämolytischen
Ikterus fehlen, besonders ist die Resistenz
der roten Blutkörperchen erhöht, da ja
eine Cholämie besteht. Schließlich spricht
der Erfolg einer antisyphilitischen Thera¬
pie für die Differentialdiagnose in aus¬
schlaggebender Weise mit, und endlich
pflegt man bei genauerem Zusehen auch
syphilitische Erkrankungen anderer Or¬
gane festzustellen.
Die hypertrophische biliäre Leber-
cirrhose (Charcot-Hanot) kann sehr
leicht mit dem hämolytischen Ikterus ver¬
wechselt werden, weil sie gleichfalls mit
einer beträchtlichen Schwellung der Leber
und besonders der Milz, sowie mit stän¬
digem Ikterus einhergeht und relativ gut¬
artig zu verlaufen pflegt. Aber der
Ikterus bei dieser Erkrankung führt zu
allen Symptomen des Stauungsikterus,
zum Hautjucken, zur Bradycardie, zur
Bilirubinämie und Bilirubinurie, es be¬
steht keine Anämie und keine Herab¬
setzung der Resistenz der Erythrocyten,
dagegen meist eine neutrophile Leuko¬
cytose. Die Milz pflegt härter zu sein als
beim hämolytischen Ikterus, und eine
Urobilinurie fehlt.
Bei der Ban tischen Krankheit haben
wir wohl den Milztumor, aber die Leber
ist im ersten Stadium von normaler Größe
und im letzten Stadium verkleinert. Ik¬
terus fehlt und tritt nur gelegentlich im
letzten Stadium ein, wenn der vorhandene
Ascites bereits vor Verwechselungen
schützt. Beim Banti besteht eine einfache
hypochrome Anämie mit normaler oder
herabgesetzter Leukocytenzahl und ohne
die morphologischen Veränderungen an
den roten Blutkörperchen, welche den
hämolytischen Ikterus auszeichnen. Die
Resistenz der Erythrocyten ist normal
und Urobilinurie kann höchstens im
letzten Stadium auftreten.
Fälle von perniziöser Anämie, die, wie
es gelegentlich Vorkommen kann, mit
einem auffällig großen Milztumor einher¬
gehen, können differentialdiagnostisch in
Frage kommen. Da gelegentlich auch der
hämolytische Ikterus, zum Blutbild der
perniziösen Anämie führen kann und
auch die perniziöse Anämie in Schüben
verläuft, mit Urobilinikterus einher¬
gehen kann und regelmäßig Urobilin¬
urie aufweist, kann die Differential¬
diagnose recht schwierig sein. Eine
vorhandene Leukopenie wird immer für
perniziöse Anämie und gegen hämolyti¬
schen Ikterus sprechen, der eher die Nei¬
gung hat, mit einer neutrophilen Leuko¬
cytose einherzugehen. Urobilinurie und
Urobilinämie, sowie Urobilinikterus
können auch bei perniziöser Anämie Vor¬
kommen, sind aber im allgemeinen von
geringer Intensität. Der schnellere und
schließlich letale Verlauf, andererseits Re¬
missionen unter Arseneinwirkung sind für
die perniziöse Anämie charakteristisch,
30
234 Die Therapie der Gegenwart 1917, Juni
ebenso der Nachweis einer Achyliagastrica
und der bekannten, zuerst von Hunter
gewürdigten atrophischen Prozesse der
Zungen- und Mundschleimhaut. Eine
deutlich und konstant festzustellende
Herabsetzung der Erythrocytenresistenz
spricht nach dem gegenwärtigen Stande
unserer Kenntnisse unbedingt für hämoly¬
tischen Ikterus und gegen perniziöse
Anämie. Endlich darf vielleicht noch an¬
geführt werden, daß die Exstirpation der
Milz bei der perniziösen Anämie auch nur
zu Remissionen,.bei dem hämolytischen
Ikterus dagegen, soweit wir jetzt wissen,
zwar nicht mit Sicherheit zur Heilung des
Leidens, wohl aber zu dauerndem Wohl¬
befinden führt. Endlich wäre noch hervor¬
zuheben, daß der Nachweis der Heridität
und Familiärität des Leidens mit Sicher¬
heit für hämolytischen Ikterus spricht.
Gegenüber allen sonstigen selteneren
Formen von Splenomegalie, wie echten
Tumoren der Milz, Milztuberkulose, Echi¬
nokokkuscysten, Anaemie pseudoleucae-
mica infantum, Leukämie, Gauchersche
Splenomegalie, den verschiedenen Formen
der tropischen Spenomegalie und der
malarischen Spenomegalie, die übrigens ge¬
wöhnlich alle ohne Ikterus einhergehen,
wird in erster Linie immer das Ergebnis
der Blutuntersuchung maßgebend sein.
Besonders kommt auch die Gauchersche
Splenomegalie in Frage, die auch ein
familiäres Leiden ist. Sie geht aber ohne
nennenswerte Anämie einher, verläuft
nicht in Schüben, zeigt weder Urobilin-
ämie noch Urobilinurie und keinen Ik¬
terus, sondern höchstens fleckweise auf¬
tretende, mehr bräunliche Verfärbungen.
Die Resistenz der Erythrocyten weist
keine Anomalien auf. Das Leiden ver¬
läuft im allgemeinen sehr gutartig. Der
Milztumor ist meist ein ganz gewaltiger,
viel größer als beim hämolytischen Ik¬
terus.
Die Verfasser haben im ganzen sieben
Fälle von hämolytischem Ikterus beob¬
achtet. In zwei Fällen handelt es sich um
die familiäre und heriditäre Form, die
anderen waren sporadische. Alle Fälle
hatten eine leicht vergrößerte Leber und
einen Milztumor, der sich in mittleren
Grenzen bewegte. Zweimal lag Wander¬
milz vor, zweimal konnte Lues nachge¬
wiesen werden, doch beweist das negative
Resultat der specifischen Behandlung, daß
man nur ein zufälliges Zusammentreffen
annehmen kann.
Man hat bei hämolytischem Ikterus
vielfach die Milz exstirpiert. Der Erfolg
ist sehr günstig. Die Symptome wie auch
die Gelbfärbung schwinden, trotzdem
wird man aber nicht in allen Fällen die
Splenektomie vorschlagen. Sie ist bei
den Kranken überflüssig, deren Allgemein¬
befinden nur unwesentlich gestört ist. Nur
wenn die Anämie dauernd stärkeren Gra¬
des ist und eine das Wohlbefinden beein¬
trächtigende Anämie besteht, wird man
zur Splenektomie raten. Sie ist erforder¬
lich bei den Patienten, bei denen sich das>
Blutbild der perniziösen Anämie ent¬
wickelt hat oder zu entwickeln droht.
Man soll da nicht allzulange warten, weit
sonst die Kranken infolge ihrer Anämie
den Operationseingriff vielleicht nicht
überstehen. Im übrigen erweisen sich
Arsenkuren nützlich, insofern sie das Be¬
finden vorübergehend bessern und die
Regeneration des Blutes befördern. Sie
sind aber natürlich nicht imstande, das
Wiederauftreten von Krisen vermehrten
Blutzerfalls hintenanzuhalten. Röntgen¬
strahlen sind ohne Wirkung und führen
nicht einmal eine Verkleinerung der Milz
herbei. . Dünner.
(Arch. f. Verdauungskr., Bd. 23, H. 1.)
Heddaeus möchte die bei Detrusor-
lähmungen nach Rückenmarksverletzun¬
gen fast allgemein angewandte Me¬
thode des Katheterisierens (eventuell
Dauerkatheter) im Interesse der Ver¬
meidung von Blaseninfektionen ver¬
mieden wissen und empfiehlt ihren Er¬
satz durch eine von ihm angegebene
Methode der manuellen Expression»
Der Arzt steht links von dem Kranken
mit dem Gesichte dessen Füßen zuge¬
wandt und drückt mit der zur Faust ge¬
ballten rechten Hand auf den Blasen¬
fundus erst wenig, dann allmählieh immer
stärker. Der Urin entleert sich schnell
in starkem Strahle ohne jede Beschwerde..
Natürlich ist das nur durchführbar, wenn
noch gar keine Infektion der Blase statt¬
gefunden hat. Bestehen erst einmal Ge¬
schwüre oder die so häufige eitrig-hämor¬
rhagische Cystitis, so ist die Expression
natürlich streng contraindiziert wegen der
Gefahr der Blasenruptur. Doch läßt sich
auch bei schon bestehender Cystitis die
Methode dann verwenden, wenn man die¬
selbe vorher durch Anwendung von Spü¬
lungen mit l°/ 00 igem Argentum nitricum
und nachfolgender Instillation von zirka
20 ccm 2°/ 0 igem Kollargol vollständig be¬
seitigt hat. Die Expression ist drei- bis
viermal täglich vorzunehmen und kann,
was eine große Erleichterung bedeuten
dürfte, ohne Gefahr auch von einem
Die Therapie der Gegenwart 1917.
235
Juni
Wärter oder einer Schwester gemacht
werden. Waetzoldt.
(M. m. W. 1917, Nr. 13.)
Über die Häufung bestimmter Krank¬
heitszustände im Kindesalter unter dem
Einflüsse der Kriegskost macht Weihe
einige Mitteilungen. Die sehr viel größere
Häufigkeit der Aborte stammt sicherlich
von der Schwerarbeit der Frauen und der
stärkeren Verbreitung der Lues, ebenso
wie die Häufung des sonst so seltenen
Erysipels und der Furunkulose wohl
ebensosehr dem Seifenmangel wie der
Unterernährung und dem auf zu ein¬
seitiger Kohlehydraternährung zurück¬
geführten vergrößerten Wasserreichtume
der Gewebe ihre Entstehung verdankt.
Die exsudative Diathese ist (wie auch
Referent beobachtete) wohl infolge der
Unmöglichkeit der Überernährung viel
seltener, sehr viel häufiger dagegen der
Soor (auch in Kliniken), infolge der
schlechteren Asepsis mit den knappen
Gummisachen. Die größere Häufigkeit
der Enuresis dürfte jedenfalls zu einem
Teile (den Referent übrigens wesentlich
geringer bewerten möchte als Weihe)
auf den größeren Wassergehalt der Kriegs¬
kost, zum anderen aber auf der Einwir¬
kung der allgemeinen Erregung und Ner¬
vosität auf die Kinder, ihre mangelhafte
oder fehlende Beaufsichtigung, leichtere
Erweckung von ängstlichen Vorstellungen,
schließlich auch öftere Erkältungen mit¬
schuldig sein. Besonders vermehrt schien
dem Verfasser jedoch das Vorkommen
der Oxyuriasis zu sein, die (schon im
Frieden — mit ihren zahlreichen Be¬
schwerden von seiten des Magen-Darm-
Kanals, des Nervensystems und des Uro¬
genitalsystems wohlbekannt) zu ihrer Ent¬
stehung einmal einer vorhandenen Neuro¬
pathie, sodann aber besonders günstiger
lokaler Bedingungen bedarf, da, wie be¬
kannt, die Würmer als Parasiten vor¬
handen sein können, ohne irgendwelche
Beschwerden zu machen. Den günstigen
Nährboden gewährt den Würmern nun
nach Ansicht des Verfassers die Kriegs¬
kost mit ihrem Reichtum an Kohlehydra¬
ten, zumal wenn, wie wahrscheinlich, die
Vermehrung derselben auch im Darme
selbst stattfindet, nicht nur extraintesti¬
nal, wie gewöhnlich angenommen wird.
Abgesehen von diesem Umstande spielen
noch mit die viel reichlicheren Stuhl¬
massen, die eine Folge der schlacken¬
reicheren Ernährung sind, und die öftere
Stuhlentleerung dadurch und durch die
zum Teil abnormen Gärungen. Dadurch
kommt es zu öfterem Abgänge der Würmer
und zu größerer Infektionsmöglichkeit.
Eine direkte Infektion durch die Kost, sei
sie wie sie wolle, kommt weniger in Frage.
Die Therapie wird also 1. eine Säuberung
des Dünn- und Dickdarmes, 2. eine Ver¬
hinderung der Neuinfektion durch den
Mund anstreben. Verfasser schlägt vor:
Ersten Tag, nachmittags: Abführmittel;
abends: Seifenwassereinlauf, nachts Ver¬
hinderung von Berührungen des Afters,,
Einreiben desselben mit Vermiculinsalbe;
zweiten Tag: dreimal täglich Santonin
0,025 und Kalomel 0,1—2 vor jeder der
drei Mahlzeiten, abends: kühler Kamillen¬
einlauf und Seifenwasserbad. Ebenso am
dritten und vierten Tage! Salbe ad anum
und frische Wäsche täglich! Danach noch
drei Wochen nach jedem Stuhle Seifen¬
waschung und Salbe ad anum. In der
Diät sind verboten kohlehydrathaltige
Speisen (auch Brot und Kartoffeln sind
möglichst einzuschränken), dagegen er¬
laubt Fleisch, Fisch, Käse, Fette, cellu¬
losereiche Gemüse und zuckerfreie Ge¬
latinespeisen und Beerenobst.
Waetzoldt.
(D. m. W. 1917, Nr. 17.)
Die Frage, ob der obere oder untere
Luftröhrenschnitt vorzuziehen sei, glaubt
Hansen dahin beantworten zu sollen, daß
bei Kindern unter vier Jahren dieTracheo-
tomia superior zu wählen sei, und zwar des¬
halb, weil bei ihnen die tief liegende, enge
und weiche Luftröhre schwierig zu fassen
und noch schwieriger richtig zu spalten
sei. (Referent möchte hierzu bemerken,
daß doch selbst bei kaum ein Jahr alten
Kindern die Trachea nicht so sehr selten
weit und hart genug sein kann, um die
Tracheotomia inferior leicht zu gestatten
— ihre tiefe Lage kann bei Verwendung
geeigneter Kanülen keine Schwierigkeiten
machen, wenn der Operateur einigermaßen
geübt ist — und daß jedenfalls sie die
Methode der Wahl sein sollte. Man
braucht hier nur an die mannigfachen
Zufälle namentlich im Verlaufe der Nach¬
behandlung der Tracheotomia superior^
wie Granulationen, langdauernde Heiser¬
keit, erschwertes Decanülement und der¬
gleichen zu erinnern, ganz zu schweigen
von den Zufällen während der Operation
selbst, die durch einen Lobus pyramidalis,,
durch Verletzung des Ringknorpels und’
anderes mehr verschuldet werden können..
Sollte wirklich einmal (was man übri¬
gens leicht vor der Operation feststellen
kann) die Trachea zu eng und weich
sein, als daß man sich die Tracheotomia
30*
236 Die Therapie der
inferior zutraute — es kommt das auch
bei Kindern nach dem vierten Lebens¬
jahre gelegentlich noch vor —, so kann
man es immerhin mit dem oberen Luft-
röhrenschnitte versuchen. Doch pflegt —
wie Referent an einem recht großen Ma¬
teriale erfahren mußte — die Prognose
der Tracheotomie bei solchen, meist sehr-
schwächlichen, thymico-lymphatischen
Kindern überhaupt recht ungünstig zu
sein. Dringende Empfehlung verdient
die von Hansen ziemlich genau beschrie¬
bene stumpfe Methode der Operation.
Nicht erwähnt, aber von Hansen wohl
auch geübt und wegen ihrer kosmetischen
Überlegenheit gleichfalls sehr zu empfehlen
ist die Anwendung des Hautquerschnit¬
tes (am besten in einer der bei Kindern
so zahlreichen Hautfalten des Halses.)
Waetzoldt.
(M. m. W. 1917, Nr. 11.)
Mörchen konnte an französischen
Gefangenen, die er wegen nervös-dyspep-
tischer Erscheinungen mit dem schon
seit einiger Zeit als mildes, nicht
darmreizendes Abführmittel bekannten
Magnesiumperhydrol Merck behandelte,
interessante Beobachtungen über die Wir¬
kung auf das Allgemeinbefinden, anstellen
Es wurden zur Behandlung vorwiegend
solche Leute ausgewählt, die über Kopf¬
druck, Mattigkeit, Unlust und Mißempfin-
dungen im Bereiche des Verdauungs¬
traktes klagten. Genügende Vorsichts¬
maßregeln, um nicht durch Autosugges¬
tion der Behandelten das Ergebnis zu
trüben, waren getroffen. Die Dosis war
morgens nüchtern ein Eßlöffel des Pul¬
vers in Wasser suspendiert. Neben der
stuhlregulierenden Wirkung zeigte sich
nun bei den meisten mehr im Vorder¬
gründe stehend eine tonische Wirkung,
die sich im Gefühle vermehrter Leistungs¬
fähigkeit und Spannkraft äußerte. Natür¬
lich handelt es sich nur um eine Besserung
■der Beschwerden der Gefangenschafts¬
neurasthenie, nicht um deren Heilung.
Eine Erklärung der Wirkung ist nicht so
ganz leicht. Die Darmwirkung ist jeden¬
falls Magnesiawirkung. Für die Erklärung
der neurotonischen Komponente aber
kommt nach Ansicht des Verfassers wohl
eher eine Bekämpfung einer Autointoxi¬
kation durch giftige Stoffwechselprodukte
von seiten der Sauerstoffkomponente in
Frage. Waetzoldt.
(M. Kl. 1917, Nr. 18.)
Über Malariaparasitenträger berichten
Kaminer und Zondek. Die Kranken
hatten ihre Infektion in Wolhynien oder
Gegenwart 1917. Juni
in der Gegend von Dünaburg akquiriert.
Es handelt sich um die Tertianaform der
Malaria; sie hatte die typischen Tertiana-
parasiten in den verschiedenen Entwicke^
lungsstadien in ihrem Blute. Drei der
Patienten boten klinisch ein ungenügen¬
des Krankheitsbild. Die Diagnose war bei
ihnen wesentlich erschwert, insofern, als
bei ihnen überhaupt keine Temperatur¬
steigerung bestand, ein Patient wies eine
ziemliche Milzschwellung auf und wurde
wegen dieses Milztumors der Klinik über¬
wiesen. Der Zustand, der mehrere Mo¬
nate angehalten hat, wurde nur ab und
zu durch kurz dauernde Zustände subjek¬
tiven Unbehagens unterbrochen; dabei
waren im Blute fast in jedem Präparate
ziemlich viel Parasiten zu sehen. Die
Patienten machten mit Ausnahme von
einem körperlich sonst einen gesunden
Eindruck. Die Behandlung mit Chinin
bringt Heilung. Dünner.
(D. m. W. 1917, Nr. 14.)
Naunyn macht interessante Bemer¬
kungen zur urinogenen Entstehung der
Kriegs-Nephritis. ErmeintsolcheNephri¬
tiden, die keinen schweren Eindruck
machen. Man findet Albuminurie, Yjzuz-
schmerzen, selten Kopfschmerzen, hier
und da leichte Herzbeschwerden. Eine
anfangs bestehende Hypertonie .verliert
sich allmählich. Neigung zu Ödemen
macht sich kaum bemerkbar, auch nicht,
wenn die Albuminurie bis zu 10°/ 00 an¬
steigt. Der Urin ist klar, das Wasser¬
ausscheidungsvermögen und Konzentra¬
tionsvermögen ohne nennenswerte Ab¬
weichungen. Nur die Albuminurie bleibt
trotz aller Maßnahmen oft bestehen.
Auffällig ist das vollständige Fehlen von
Harncylindern, die sich auch nicht ein¬
stellen, wenn der Eiweißgehalt des Urins
zunimmt. Mikroskopisch finden sich
lediglich hier und da vereinzelte Blut¬
körperchen oder Rundzellen (keine richtig¬
gehenden Eiterkörperchen, sondernRund-
zellen mit schmalem Protoplasmasaum).
Die cylinderlose Albuminurie und ihre
gelengentlichen spontanen Steigerungen
ohne sonstige Zeichen von Verschlim¬
merung der Nierenerkrankung erinnern,
wie Naunyn glaubt, an Vorkommnisse
bei aufsteigenden entzündlichen Erkran¬
kungen der Harnwege. Denn bei Cysto-
pyelitis sieht man öfter, daß der bis dahin
wenig eiweißhaltige oder sogar eiwei߬
freie Urin von einem zum anderen Tage
stark eiweißhaltig wird, ohne Cylinder
oder sonstige Zeichen von Nierenentzün¬
dung. In seinen Fällen konnte er Gonor-
237
Juni Die Therapie der
rhöe mit Sicherheit ausschließen. Wichtig
ist, daß er im Urin Colibacillen fand. An¬
dere Fälle kamen mit der Diagnose Ne¬
phritis. Hier war dann der Urin stark
getrübt, auch eiterähnliche oder blutig¬
eitrige Flocken, eiterähnliches, auch röt¬
liches, doch nicht richtig eitriges Sedi¬
ment, lockerer als solches, flockig. Urin
neutral oder alkalisch, aber ohne
stinkende, ammöniakalische Zersetzung.
Mikroskopisch: Hauptsächlich die schon
mehrfach erwähnten einkernigen
Zellen, manchesmal ziemlich viel Blasen-
epithelien mit stark lichtbrechenden gro¬
ßen Körnern, auch in kleinen Verbänden,
einige geschwänzte Zellen, rote Blut¬
körperchen fast nur da, wo der Blutge¬
halt auch ohne das erkenntlich war. Nur
selten richtige (multinucleäre) Eiterzellen
in größerer Menge, keine Tripelphosphate,
keine Harncylinder. Albuminurie bis 5 °/ 00 .
Da in der Literatur bisher auf den Zu¬
sammenhang zwischen Cystopyelitis und
Nephritis nicht hingewiesen worden ist,
erscheint es Naunyn wünschenswert, auf
die urinogene Entstehung von Nephritis¬
fällen zu achten. Er meint nicht die
eitrigen Pyelonephritiden. Ebensogut wie
die pyogenen können auch die nicht¬
pyogenen Infekte der Harnwege sich auf
die Nieren fortpflanzen, und wenn jene
zu Nierenabcessen, führen diese zur Ne-
ph r o ci rrh ose. Dünner.
(D. m. W. 1917, Nr. 13.)
Übereinen Fall von bedrohlicher Herz¬
schwäche infolge einer occulten Blu¬
tung ohne jede Magenbeschwerden bei
einem juxtapylorischen Ulcus berichtet
Schmidt. Alter Mann, seit einiger Zeit
nervös, schlaflos, anämisch und schwin¬
delig. Keine Magendarmbeschwerden.
Kein objektiver Befund. Nach zehn
Tagen Erbrechen rötlicher Massen, schwere
Ohnmacht, später mäßige, dann starke
Bradycardie. Atmungsfrequenz etwas
wechselnd Am nächsten Tage auf Ein¬
lauf Massen teerartigen Stuhles. Am
Magen nichts außer vollständiger An¬
acidität. Trotz guter Ernährung nur
schlechte Erholung, daher Verdacht auf
Carcinom. Operation ergibt Ulcus duo-
deni, das durch Gastroenterostomia retro-
colica posterior geheilt wurde.
Waetzoldt.
(M. m. W. 1917, Nr. 19.)
Zur operativen Behandlung der Pa-
r otisfisteln nach S c h u ß v e r 1 e t z u n g e n
liefert Perthes einen Beitrag. Drei
Methoden stehen zur Verfügung zur ope¬
rativen Behandlung der Parotisfisteln:
Gegenwart 1917.
1. Die Fistelverlagerung. Hier ist es
nicht nötig, den erhaltenen Gangabschnitt
herauszupräparieren, sondern man kann
unter Umständen die ganze äußere Fistel
mit der anstoßenden Haut umschneiden,
einen etwa bleistiftdicken Gewebsstiel
bilden, welcher den Ductus einschließt
und das Ganze nach dem Prinzip des
v. Lange nb eck sehen Verfahrens ver¬
lagern. Die zweite Methode besteht
in der Neubildung des Ductus bei
der Parotisdrüsenfistel, wobei der Rest
des Ganges nach dem Munde zu durch¬
gezogen wird und hier mit einem
Thierschschen Lappen umhüllt wird, so
daß eine Epithelröhre entsteht. 3. Bei
einer Kommunikation der Wange und
des Kiefers durch-Gesichtsschuß, welcher
zu einem dauernden Ausfluß von Speichel
aus der Nase führte, wurde die Mündung
des Ganges von dem Fenster der Ober¬
kieferhöhlenwand abpräpariert und das
Fenster durch einen Schleimhautlappen
mit Erfolg verschlossen. Hayward.
(Zbl.f. Chir. 1917, Nr. 13.)
Neben einer Erschlaffung des Kapsel-
und Bandapparates kommt nach Per¬
thes’ Untersuchungen für die habituelle
Luxation der Patella ursächlich der
ungleichmäßige, vorwiegend einseitige Zug
des Quadriceps an der Patella in Be¬
tracht. So ist die Luxation der Patella
bei Genu valgum bekannt. Aber auch
ohne diese Knochenveränderung kommt
sie vor. Unter Berücksichtigung dieser
Tatsache trennte Perthes bei einem elf¬
jährigen Mädchen das Ligamentum pa-
tellae an seiner Ansatzstelle am Schien¬
bein vollkommen ab und verlegte diese
nach innen von der Tuberositis tibiae.
Doch genügte dieses Vorgehen allein, wie
die Untersuchung während'der Operation
zeigte, nicht, sondern es mußten erst die
äußeren Fasern der Quadricepssehne am
Oberschenkel durchtrennt werden. Auf
diese Beobachtung ist die neue Operations¬
methode aufgebaut: Von einem bogen¬
förmigen Schnitte, der mit der Kon¬
vexität nach innen in weitem Kreise die
Kniescheibe umzieht, wird der das Knie
bedeckende Hautlappen nach außen zu¬
rückgeklappt. Nun wird durch die Kapsel
außen und außen oben von der Knie¬
scheibe ein Schnitt angelegt quer zu den
sich anspannenden Sehnenzügen des Va-
stus lateralis. Dann wird durch einen
weiteren bogenförmigen Schnitt die Ge¬
lenkkapsel an der Innenseite der Knie¬
scheibe bis zum Ligamentum patellae
durchtrennt und die beiden Wundränder
238 Die Therapie der
der Gelenkkapsel übereinander verscho¬
ben und in dieser Lage durch Matratzen-
nähte fixiert. An zwei Fällen hat sich
die Brauchbarkeit des Verfahrens er¬
wiesen. Hayward.
(Zbl. f. Chir. 1917, Nr. 12.)
In Anbetracht der Beobachtung, daß
nach erfolgloser Pockenimpfung durch
sofortige Wiederholung der Impfung ein
Erfolg erzielt werden kann, wünscht
Schwalbe eine diesbezügliche Bundes¬
ratsverordnung, die sich ja leicht in die
Vorschriften des bestehenden Impfgesetzes
einpassen ließe. Es ist sehr naheliegend,
anzunehmen, daß teils durch ungenügende
Virulenz der Lymphe, durch zu geringe
Menge derselben, ferner auch durch un¬
richtige Tiefe der Impfschnitte und durch
Abwischen der Lymphe eine Fehlimpfung
vorgetäuscht werden kann, die durch
eine sofortige Wiederholung ausge¬
glichen werden könnte. Echte natür¬
liche Immunität ist sicher sehr selten.
Bei Wiederimpfungen spielen diese
Überlegungen naturgemäß eine gerin¬
gere Rolle, abgesehen von der Be¬
schaffenheit der Lymphe, deren enorme
Virulenzschwankungen leider viel zuwenig
bekannt sind, wie unter anderem aus den
viel höheren Prozentsätzen an Fehl¬
impfungen unter den Privatimpfungen
hervorzugehen scheint. Da nun also die
erfolglose Impfung nur in den seltensten
Fällen eine Immunität gegen Pocken oder
Vaccine beweist, so dürfte Schwalbes
Vorschlag, der sich übrigens auf eine Ber¬
liner Polizeiverordnung stützt, in dieser
Zeit kaum überwundener Pockengefahr
erhöhte Bedeutung beanspruchen dürfen.
Waetzoldt.
(D. m. W. 1917, Nr. 16.)
Lenk macht eine vorläufige Mitteilung
über eine einfache Funktionsprüfung des
Magens bei Pylorusstenose. An einem
Tage werden 40 g Brötchen oder Zwie¬
back mit einer Tasse Tee gegeben, am
nächsten 40 g Brot. Beide Male wird nach
dreiviertel bis einer Stunde der Magen
ausgehebert und in der gewöhnlichen
Weise der Magensaft titriert. Es zeigte
sich nun, daß normalerweise die Werte
bei dem Probefrühstücke aus Brötchen
oder Zwieback wesentlich und ganz un¬
übersehbar höher waren als bei Verwen¬
dung von Brot, während bei Fällen von
Pylorusstenose die Verhältnisse gerade
umgekehrt lagen. Möglicherweise lassen
Gegenwart 1917. Juni
sich umgekehrt diagnostische Schlüsse
ziehen. Waetzoldt.
(M. m. W. 1917, Nr. 18.)
Hoff mann berichtet über ausge¬
zeichnete Erfahrungen mit dem Solarson
sowohl bei inneren Erkrankungen, wie
auch besonders bei den verschiedensten
Dermatosen. Die intramuskuläre Injek¬
tion der gebrauchsfertig in Ampullen
käuflichen 1 %igen Lösung ist schmerzlos
und macht weder Infiltrate noch sonstige
Nebenerscheinungen. Die Dosierung er¬
folgt am besten derart, daß zwölf Tage
hintereinander je ein Kubikzentimeter
gegeben wird und nach Ablauf von wei¬
teren acht bis zwölf Tagen die ganze Kur
wiederholt wird, was eventuell noch ein
drittes und selbst viertes Mal wiederholt
werden kann (gute Erfolge bei Chlorose,
Anämie, Neurasthenie, Acne, Skrofu¬
löse). Soll die Arsenwirkung noch stärker
sein, so kann man die Pausen zwischen
den Kuren weglassen und bei der zweiten
Kur 2, bei der dritten 3 ccm geben, so
namentlich bei den Dermatosen. Gute
Erfolge hatte Hoffmann auch bei der
Behandlung der Pyodermien mit Sta-
phylokokkenvaccin, insonderheit mit dem
Leukogen Höchst, das 100 Millionen
Keime im Kubikzentimeter enthält und
in Ampullen zu 1 ccm und in Flaschen zu
5 ccm abgegeben wird. Es werden an¬
fangs bei Erwachsenen 50, bei Kindern
10 Millionen Keime intraglutäal gegeben.
Wenn keine Fieberreaktion erfolgt, steigt
man alle drei Tage auf 100, 250, 500, 750,
1000 und 1200 Millionen beim Erwach¬
senen, auf 25, 50, 75, 100 Millionen und
höher beim Kinde. Erfolg oft schon nach
sechs bis acht, mitunter auch erst nach
acht bis zwölf Einspritzungen bei Furunku-
losise, Schweißdrüsenabscessen, Periporitis
der Säuglinge, ferner bei Acne, Sykosis vul¬
garis, Cystitis und Pyelitis staphylogenes.
Bei Acne vulgaris waren gute Erfolge
aucli mit durch % mm Aluminium ge¬
filterten Röntgenstrahlen in einer Dosis
von viermal in zehntägigem Intervalle,
je nach Ausdehnung, in drei bis vier
Stellungen zu erzielen. Nach einem
Turnus von drei Bestrahlungen, der oft
schon genügte, folgt dann eine drei¬
wöchige Pause. Besonders gut sind
die Ergebnisse bei der tiefen abscedieren-
den Form. Auch zur Epilation ist die
Anwendung wohl geeignet. Waetzoldt.
(D. m. W. 1917, Nr. 13.)
Juni
Die Therapie der Gegenwart 1917'.
239
Therapeutischer Meinungsaustausch.
Physiologie und Chemismus der Milchbildung, sowie deren
Beeinflussung.
Von Stabsarzt a. D. Dr. Grumine-Fohrde (Westhavelland).
Über die Bildung der Milch sagt
Schroeder in seinem Lehrbuch der Ge¬
burtshilfe: „Das Sekret stammt aus zwei
Quellen, der flüssige Teil ist ein einfaches
Transsudat aus dem Blute, die morpholo¬
gischen Bestandteile stammen von den
Drüsenzellen her“. Rubner lehrt: „Die
Milch entsteht in der Milchdrüse,'indem
das Drüsengewebe zerfällt und sich wieder
regeneriert.“ Nach Munk ist „die Milch
das chemische Produkt der Drüsenzellen,
die das Rohmaterial aus dem Blute be¬
ziehen und es in eigentümlicher Weise
zu dem Sekret verarbeiten“. Auch die
neuesten Untersuchungen .bestätigen im
allgemeinen diese Anschauungen. Ein¬
geleitet wird die Milchbildung durch eine
starke Vermehrung der Drüsenzellen,
welche bei normaler Blutzufuhr rasch
aufgelöst werden. Die hierbei entstehen¬
den Fermente erzeugen aus transsudier-
tem Blute Casein, Fett usw. und bringen
Mineralsalze in die geeignete Form
(Guillebeau, Virch. Arch. 1916, Bd.221,
H. 1). Sehen wir von den Einzelheiten
des komplizierten Vorganges, über welche
vollkommene Einigkeit noch nicht
herrscht, ab, so ist doch so viel sicher,
daß sämtliche Stoffe der Milch aus ver¬
dauten und assimilierten Bestandteilen
der Nahrung beziehungsweise des mütter¬
lichen Körpers entstehen. Wahrschein¬
lich wird die Milch für gewöhnlich direkt
aus den genossenen Nahrungsmitteln ge¬
bildet, ohne daß diese zuvor im Körper
angesetzt werden. Die Milch stammt also
normalerweise aus den im Blute der
Mutter circulierenden, frisch aufgenom¬
menen Nährstoffen. Bei ungenügender
Nahrungsaufnahme aber springt der müt¬
terliche Körper selbst mit seinem Bestände
helfend ein, indem er die zur Milchbildung
nötigen Stoffe auf dem Blutwege zu den
Milchdrüsen sendet. Diesen Vorgang,
dessen zeitlich mehr oder minder begrenzte
Durchführungsmöglichkeit vom Ernäh¬
rungszustände der Mutter abhängt, er¬
kennen wir an der consecutiven Abmage¬
rung und dem Substanz-(Fleisch-)Verlust
der Mutter.
Gewiß ist der Satz berechtigt: die
aus Nährstoffen (Eiweiß, Fett, Kohle¬
hydraten und Mineralien, neben Wasser)
besteh e n d e Mi 1 ch kan n n u r - direkt
oder indirekt — aus den von der Mutter
in der täglichen' Nahrung auf ge nom¬
menen Nährstoffengebildetwerden.
Die Frage, auf welche Weise die Milch¬
bildung am natürlichsten in günstigem
Sinne zu • beeinflussen ist, beantwortet
sich damit eigentlich von selbst: durch
allerbeste, nährstoffreiche Ernährung der
Mutter.
Man hat nun aber auch auf anderen
Wegen versucht, die Milchabsonderung
zu heben. So fand man nach dem Ein¬
nehmen von Pilocarpin und Digitalin eine
deutliche Vermehrung, nach Antipyrin
dagegen eine wesentliche Minderung und
nach Atropin sogar eine fast völlige Hem¬
mung der Milchabsonderung (Ott und
Scott, The therap. gazette, 15. Mai 1912).
Einige Organextrakte, z. B. Extrakt der
Zirbeldrüse (Schäfer, Liverpool Medical
Association, 6. März 1913), der Placenta
(Christea und Aschner, Revista de
chirurgia, Dezember 1912, und Frank,
Arch. f. Gynäk., Bd. 97, H. 1), der Schild¬
drüse (Mc. Ilroy, 17. Intern, med. Kon¬
greß in London, August 1913) bedingen,
wie Tierexperimente ergeben haben, eine
beschleunigte Absonderung beziehungs- 1
weise vermehrte Entleerung der Milch.
Chemische Stoffe, deren innerliche
Darreichung oder Einspritzung in der
Zeiteinheit eine höhere Milchlieferung
ergibt, benennt man Lactagoga. Ihre
Wirkung besteht aber nur in der Aus¬
übung eines Reizes auf die Milchdrüsen,
welche infolgedessen ihr fertiges bezie¬
hungsweise fast fertiges Produkt schneller
entleeren. Es wird daher vorüber¬
gehend mehr Milch abgesondert; eine
Dauerwirkung tritt keinesfalls ein. Das
geben die Autoren meist auch selbst zu.
Ein tatsächlicher Nutzen wird durch kein
einziges Lactagogum erzielt; es handelt
sich nur um 'eine zeitweilig beschleu¬
nigte Absonderung der Milch, aber
nicht um eine Vermehrung der Milch¬
menge.
In neuester Zeit behauptet nun Dun-
kan (New York medical Journal, 6. Ja¬
nuar 1917), daß er durch subcutane In¬
jektion von 1 ccm Eigenmilch bald nach
der Entbindung, desgleichen am dritten
und eventuell auch am sechsten Tage
glänzende Erfolge erzielt habe und be¬
zeichnet die Milchinjektionen als mächtig
wirkendes Lactagogum. Seine angebliche
' 240 Die Therapie der
,,Entdeckung“, ist. nicht neu. Zuerst |
wandte Nolf in Lüttich das Verfahren
an und empfahl es. Die sorgfältige Nach¬
prüfung durch Chatin und Rar du (Lyon'
med. 1912, Nr. 4) ergab absolut ungün¬
stige Resultate. In keinem Falle konnte
eine durch die Injektion allein bewirkte
Milch vermehrun g nachgewiesen werden.
Die Milcheinspritzungen sind auf die¬
selbe Stufe wie die rein chemischen Lac-
tagoga zu stellen; sie reizen die Milch¬
drüsen und bewirken dadurch eine be¬
schleunigte Entleerung derselben. Gewiß
wird dabei eine vermehrte Milchabson¬
derung (auf die Zeiteinheit berechnet)
festgestellt. Der Erfolg ist aber nur ein
scheinbarer, weil vorübergehender. Auf
die vermehrte Entleerung folgt ein Rück-
Gegenwart 1917. : ’ Juni
schlag. Die völlig ausgepumpten Drüsen
brauchen Ruhe und Erholung. Die wäh¬
rend eines längeren Zeitraumes im ganzen
gebildete Milchmenge ist nicht vermehrt.
Ein wirklicher Nutzen resultiert keines¬
falls. Das ist auch völlig erklärlich. Der
chemisch-physiologische Vorgang lehrt
uns ja, daß die Milch aus den von der
Mutter aufgenommenen, verdauten und
assimilierten Nährstoffen gebildet wird.
Eine tatsächliche Beeinflussung der
Milchbildüng ist daher nur durch die
Ernährung möglich. Die Milchbildung
ist von der Nahrungsaufnahme ab¬
solut abhängig. Zur Erzielung einer
dauernd guten Lactationsperiode
gibt es nur ein Mittel, das ist dauernd
gute Ernährung.
Novatophan K.
Von G. Klemperer.
Bekanntlich ist seit längerer Zeit neben
dem altbewährten Atophan das Nova¬
tophan als leicht bekömmlicheres Prä¬
parat für empfindliche Verdauungsorgane
in Gebrauch. Das neuere Präparat unter¬
scheidet sich von dem alten dadurch, daß
aus der freien Carbonsäure ein Äthylester
geworden ist und außerdem im Phenol¬
kerne ein H durch CH 3 ersetzt ist. Die
Nebeneinanderstellung der beiden Struk¬
turformeln zeigt die Unterschiede deutlich:
H COOH H COOC 2 H 5
H\/\yC 6 H 5 '
H N H N
Atophan Novatophan
Die besonderen Verhältnisse des Krieges
haben es nun dahin gebracht, daß das No¬
vatophan nicht mehr dargestellt werden
konnte, da das erforderliche Rohmaterial
(dasParatoluidin) nicht zu beschaffen war.
Ich muß gestehen, daß ich darin keinen
großen Verlust sehen konnte, denn nach
meinen Erfahrungen ist es doch nursehr sel¬
ten, daß das Atophan nicht vertragen wird,
und überdies schien es mir oft, als ob das
Novatophan an Wirksamkeit doch nicht
an das alte Atophan heranreichte.
Trotzdem erschien es im Interesse in¬
dividualisierender Darreichung des Medi¬
kaments lobenswert, daß die Schering-
sche Fabrik sich um einen anderweiten
Ersatz des Atophans bemühte. Als Er¬
gebnis dieser Bemühungen hat sie den
Methylester des Atophans dargeboten,
Für die Redaktion verantwortlich Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Kl
in Berlin und Wien. Gedruckt bei Julius 5
H COOCH3
h/N/\h
H N
welcher wie die Muttersubstanz aus Isatin
und Acetophenon dargestellt wird. Die¬
ser Phenylchinolincarbonsäuremethylester
wird als Novatophan K bezeichnet. Ich
habe mich gern bereit erklärt, dies Prä¬
parat auf meiner Abteilung klinisch zu
prüfen und habe im letzten Halbjahre
im ganzen 3500 g davon an etwa 300 Pa¬
tienten verbraucht. Danach kann ich be¬
zeugen, daß Novatophan K auch von
empfindlichen Magen, in der Regel gut
vertragen wird. Die Wirkungen des neuen
Präparats bei Gicht und Gelenkrheuma¬
tismus entsprachen den Erwartungen, die
man von einem Methylester des Atophans
hegen durfte. In der überwiegenden Mehr¬
zahl war die Wirkung erfreulich, es trat
Schmerzstillung, oft schnelle Beendigung
eines Gichtanfalles, mehrfach wesentliche
Abkürzung der Polyarthritis ein. Auch
bei verschiedenartigen Nervenschmerzen,
z. B. Trigeminusneuralgie und Ischias
wurde Schmerzstillung erzielt. Ich möchte
nach meinen Erfahrungen das Novatophan
K durchaus als gleichwertigen Ersatz des
früheren Novatophans bezeichnen, möchte
•aber nochmals betonen, daß das unverän¬
derte alte Atophan doch für mich das
besteMedikament aus seiner Gruppe bleibt
und daß im ganzen selten Grund vorliegt,
es durch Novatophan K zu ersetzen.
emperer in Berlin. Verlag von Urban & Schwarzenberg
litten fei d, Hofbuchdrucker., in Berlin W 8.
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Geh. Med.-Rat Prof, Dr. G. Klemperer
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Die Therapie der Gegenwart
1917
herausgegeben von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer
in Berlin.
Juli
Nachdruck verboten.
Über Nierenerkrankungen bei Feldzugsteilnehmern
und ihre Prognose 1 ).
Von Privatdozent Dr. W. Weiland,
z. Zt. fachärztlicher Beirat für innere Krankheiten im Bereich des VII. Armeekorps.
Als im zweiten Kriegswinter die Zahl
der unter hydropischen Anschwellungen
des ganzen Körpers an Nierenentzündung
erkrankenden Offiziere und Mannschaften
in fast explosionsartiger Weise sich auf
viele Tausende ausdehnte, war man aller¬
seits überrascht, daß ein Krankheitsbild,
das dem Verlaufe der Nierenentzündung
akuter hämorrhagischer Art, wie wir sie
aus der Friedenspraxis kannten, ent- *
sprach, an beiden Fronten im Osten und
Westen auftrat, ohne daß eigentlich die
äußeren Lebensbedingungen der kämp¬
fenden Truppe gegenüber dem Vorjahre
wesentlich verändert waren und ohne
daß erkennbare Ursachen infektiöser oder
toxischer Art den einzelnen geschädigt
hätten. Auch heute ist die Frage nach
der eigentlichen Ursache des gehäuften
Auftretens noch nicht geklärt, besonders
wenn man berücksichtigt, daß im ver¬
flossenen Winter die Zahl der zur Be¬
handlung gekommenen Fälle wesentlich
viel geringer zu sein scheint als im
Vorjahre, ohne daß auch in diesem Winter
wesentliche Veränderungen der äußeren
Lebensbedingungen statthatten. Die
Erkrankung nahm damals solchen Um¬
fang an, ,daß schon auf der außerordent¬
lichen Tagung des Deutschen Kongresses
für Innere Medizin in Warschau 1916 ein
umfassendes Referat über ihr Wesen,
Verlauf und Behandlung erstattet werden
konnte und. in einer ausgedehnten Aus¬
sprache die Pathologie der Kriegsnephri-
tis in ihren wesentlichen Punkten fest¬
gelegt wurde. Im Verlaufe des folgenden
Kriegsjahres sind die Beobachtungen und
grundsätzlich für die Beurteilung ma߬
gebenden Gesichtspunkte soweit gefestigt,
daß Se. Exzellenz der Herr Chef des Feld¬
sanitätswesens ein Merkblatt für Ärzte
zur Verhütung und Behandlung der
Nierenentzündung im Felde fertigstellen
konnte, das in kurzen, programmatischen
Sätzen nach allen Richtungen hin in der
Hand des Arztes ein Wegweiser sein kann.
Ist demnach für den Truppenarzt ein
sicherer Anhaltspunkt gegeben für sein
x ) Nach einem Fortbildungsvortrag.
Verhalten nierenkranken Offizieren und
Mannschaften gegenüber, so ist die weitere
Frage der Prognose, der Begutachtung
und militärischen Verwendung solcher
Nierenkranker, noch nicht als vollkommen
spruchreif zu bezeichnen und hier setzt
die Arbeit der Ärzte des Heimatgebietes
ein, um einerseits möglichst viele er¬
krankt Gewesene der Truppe wieder zu¬
führen zu können, andererseits die Dauer¬
schädigungen überstandenerNephritis und
ihre erwerbsbeschränkenden Folgen fest¬
zustellen. Hand in Hand damit muß
natürlich das Bestreben gehen, prophy¬
laktisch dem wiedergesundeten Soldaten
Schädigungen zu ersparen, dem erkrankt
gebliebenen so viel wie möglich an Ar¬
beitsfähigkeit zu erhalten, ohne durch die
Wiederaufnahme der Berufstätigkeit den
Gesamtzustand zu schädigen.
Wie ich schon eingangs bemerkte,
ist die Symptomatologie und bis zu einem
gewissen Grade die Pathogenese der Feld¬
nephritis festgestellt. Trotzdem erscheint
es mir erforderlich, wenn ich auch dies
als bekannt voraussetzen möchte, in
kurzen Worten beides zu skizzieren, denn
naturgemäß baut sich die Beantwortung
der aufgestellten Fragen bezüglich der
Prognose und Verwendbarkeit nieren¬
krank gewesener Soldaten auf der Kennt¬
nis des Krankheitsprozesses selbst auf.
Was die Ätiologie anbelangt, so stehen
da in gewissem Gegensätze die Ausfüh¬
rungen des oben erwähnten Merkblattes
und das Schlußwort des Referenten auf
der Warschauer Tagung, des Herrn Ge-
heimrat Hirsch. Während dieser am
Schlüsse der Aussprache seiner Freude
darüber Ausdruck- gab, daß alle Redner
von einer einseitigen, einheitlichen Patho¬
genese der Kriegsnephritis nichts wissen
wollten und einig seien in der Auffassung,
daß die ursächlichen Verhältnisse viel
komplexere sind (Infektionen verschie¬
dener Art, Erkältungen, Ernährungsein¬
flüsse), gibt das Merkblatt als Ursache
der Kriegsnephritis nur infektiös toxische
Momente an und räumt der Erkältung
nur die Rolle eines wichtigen begünstigen-
31
242 Die Therapie der Gegenwart 1917. Juli
den Umstandes ein. Ich persönlich
glaube, daß man der Auffassung von
Hirsch beitreten soll, daß die verschie¬
denartigsten Verhältnisse zum Auftau¬
chen der Nierenerkrankung führen und
stehe nicht an> für meine Person der
Erkältung eine ausschlaggebende
Rolle für das Zustandekommen der Er¬
krankung zuzusprechen. Vielleicht hat
das seinen Grund darin, daß ich über¬
haupt der Erkältung einen viel größeren
Raum als Ursache zur Entstehung von
Krankheiten zuspreche, vielleicht aber
auch bin ich dazu gekommen auf Grund
der Beobachtung von Rezidiven, die an¬
scheinend nur auf Erkältungsursachen
zurückgeführt werden konnten. Gleich
vorwegnehmen will ich bei dieser Ge¬
legenheit, daß für diese Stellungnahme
noch ein weiterer Grund spricht, nämlich
die Verschiedenheit des Krank¬
heitsbildes, wie sie sich dem Arzt bei
der Truppe und dem Arzt im Heimat¬
lazarett zu erkennen gibt. Fieber, Milz¬
tumor und ähnliche Zeichen allgemeiner
Infektion habe ich naturgemäß nie ge¬
sehen, da ich frische Fälle nicht zur Beob¬
achtung bekam. Die Bedeutung chro¬
nischer Infektionen des lymphatischen
Rachenringes, auf die Päßler besonders
immer wieder hinweist, will ich durchaus
nicht in Abrede stellen, wenn ich auch be¬
tonen möchte, daß wir an der Kieler
Klinik und ich später persönlich in meiner
Privatklientel nur ganz vereinzelt in die
Lage gekommen bin, die von Päßler
geforderte Mandeloperation vornehmen
zu lassen, mit verhältnismäßig geringem
Erfolge. Nehmen wir also auf Grund einer
komplexen Ätiologie entstehende Ne¬
phritiden an, so ist das klinische und
anatomische Bild ein fast in allen Fällen
absolut gleiches. Es handelt sich stets um
eine akute Glomerulo-Nephritis mit Nei¬
gung zu besonders hochgradiger Ödem¬
entwickelung. Ich will auf die patholo¬
gisch-anatomischen Verhältnisse nicht
näher eingehen, zumal das vorhandene
Untersuchungsmaterial, besonders die
Fälle von Jungmann und Beitzke,
durchaus übereinstimmen und zu diffe¬
renten Anschauungen über die mikro¬
skopischen und makroskopischen Verän¬
derungen der Nieren nicht geführt hat.
Anders verhält es sich mit den funktio¬
neilen Schädigungen, die durch den patho¬
logisch-anatomischen Prozeß hervorgeru¬
fen werden. Sie sind besonders wichtig
für die Behandlung der Nephritis, die eine
durchaus funktionelle sein muß, d. h. die
eine Schonung der geschädigten Nieren¬
funktion zur Hauptaufgabe hat. Aus den
zahlreichen Untersuchungen des letzten
Jahrzehntes, die sich besonders an Namen
wie Koranyi, Strauß und Schlayer.
und vor allem Volhard und Fahr
knüpfen, kennt man die Wichtigkeit der
Beschränkung von Flüssigkeit, Salz und
Eiweiß für die Funktion der geschädigten
Nieren. Es würde zu weit führen, die
Grundlagen klinisch experimenteller For¬
schungen hier zu rekapitulieren, die zu
diesem Ergebnis geführt haben; es er¬
scheint mir praktisch von Bedeutung,
darauf hinzuweisen, daß man neuerdings
vor allen Dingen auf die Beschränkung
der Flüssigkeit und der eiweißhaltigen
Nahrungsmittel mit ihren Stoffwechsel¬
schlacken aufmerksam geworden ist. Da¬
gegen ist die Salzfreiheit der Nahrung,
die nach den glänzenden Experimenten
von Widal und Strauß einige Zeit ein
unumgängliches Postulat der praktischen
Nierenbehandlung bildete, einigermaßen
in ihrer Bedeutung zurückgedrängt, wo¬
bei man berücksichtigen muß, daß es
unmöglich ist, ganz ohne Kochsalz auszu¬
kommen, und daß nur eine Beschränkung
des Salzgehaltes der Nahrung auf wenige
Gramm täglich notwendig sein dürfte.
Da es sich auch bei ausgesprochen ana¬
tomisch auf die Glomeruli beschränkten
diffusen oder herdförmigen Erkrankungen
der Nieren fast nie um funktionelle
Schädigungen nur dieser Nierenbestand¬
teile handelt, sondern gleichzeitig auch
die epithelialen Elemente in ihrer Tätig¬
keit gehemmt sind, so wird man prak¬
tisch zu der Konsequenz kommen, be¬
sonders für die Fälle der Kriegsnephritis
eine Funktionsschonung nach allen Rich¬
tungen, sowohl in bezug auf Wasser und
Eiweiß als auf Kochsalz, anzustreben.
Hinzukommt, daß für die Feldnephritis
sichergestellt ist, daß für den Wasserhaus¬
halt, dessen Störung sich durch die hoch¬
gradigen Ödeme manifestiert, erwiesener¬
maßen extrarenale Ursachen mitspielen,
(gesteigerte Ödembereitschaft, vermehrte
Wasseranziehung der Gewebe, hervor¬
gerufen vielleicht durch Schädigung der
Hautcapillaren, durch Abkühlungen, An¬
häufungen von Stoffwechselprodukten,
Einflüsse einseitiger, denaturierter Er¬
nährung).
Gegenüber diesen funktionellen Mo¬
menten der Nierenerkrankung treten die
alten klinischen Merkmale der geschädig¬
ten- Nieren, die sich im Auftreten von
Blut, Eiweiß undCylinder im Harne kund-
Juli ' Die Therapie
gaben, an Wichtigkeit erheblich zurück.
Im Anfänge der Erkrankung ist ent¬
sprechend der Wasserretention die Oli¬
gurie und der Eiweißgehalt des Urins
meist äußerst hoch, und im mikroskopi¬
schen Bilde wimmelt es von roten Blut¬
körperchen, hyalinen und granulierten Cy-
lindern, ferner sind doppelt lichtbrechende
Lipoidensubstanzen häufig vorhanden und
gemäß alter klinischer Betrachtungsweise
imponiert dadurch das Krankheitsbild
als außerordentlich schwer. . Gelingt es
jedoch, über diese akuten Zustände hin¬
wegzukommen — und hier sei bemerkt,
daß nach dem Referat von Hirsch ein
Zehntel allerFälle urämisch werden, nur 1 %
jedoch letal endigen—, so bedarf im weite¬
ren Verlaufe der Erkrankung das Vorhan¬
densein von Formelementen und Eiweiß
viel geringerer Berücksichtigung. Ich will
damit natürlich nicht die Untersuchungen
als solche als überflüssig bezeichnen,
sondern nur vor der Überschätzung ein¬
mal mehr oder weniger vorhandener pa¬
thologischer Urinbeimengungen dieser Art
warnen. Drei Punkte sind es vor allem,
die mich zu dieser Auffassung bringen;
das ist einmal die allen Klinikern geläu¬
fige Tatsache, daß im Verlaufe jeder
heilenden Nephritis die täglichen Eiwei߬
mengen innerhalb verhältnismäßig weiter
Grenzen schwanken können und daß
außerdem viele Fälle entzündlicher oder
degenerativer Nierenschädigungen nach
dem Modus der orthostatischen Albu¬
minurie ausheilen, ferner die Tatsache, daß
auch bei eiweißfreiem Urin Formelemente
noch lange vorhanden sein können. Dieses
letztere ist besonders wichtig für die
Frage der Verwendbarkeit nierenkrank
gewesener Soldaten und für die Ent¬
scheidung des Zeitpunktes des Aufstehens
und der Wiederaufnahme der Arbeit. Ich
darf bei dieser Gelegenheit vielleicht eine
große Reihe von unveröffentlichten Un¬
tersuchungen meines verstorbenen Lehrers
Lüthje zitieren, der in seiner Klinik in
Untersuchungen, die auf lange Jahre sich
erstreckten, feststellen konnte, daß im
Urin nierengesunder Menschen recht häu¬
fig sowohl Cylinder als auch rote Blut¬
körperchen zu finden waren, wenn nur der
Urin entsprechend untersucht, d. h. vor
allen Dingen scharf zentrifugiert wurde.
Fußend auf dieser Tatsache bin ich im
Gegensätze zu der vorsichtigen Auffassung,
die sich in dem mehrfach herangezogenen
Merkblatte ausgesprochen findet, nicht so
zurückhaltend gewesen, sowohl Leute
mit Eiweißausscheidung und Form¬
\
Gegenwart 1917. 243
elementen aufstehen zu lassen, als auch
sie zur Beschäftigung heranzuziehen.
Schaden habe ich davon nie gesehen. Ich
komme auf dieses letztere noch zurück.
Hervorheben möchte ich schließlich, daß
selbstverständlich Untersuchungen auf
Eiweiß und Formbestandteile nicht unter¬
bleiben dürfen, da sie besonders für die
Praxis das Einzig erkennbare Krankheits¬
symptom darstellen; nur möchte ich vor
der Überschätzung von einem oder ande¬
rem Cylinder oder einem oder anderem
roten Blutkörperchen warnen.
Sind die akuten Erscheinungen der
Nierenerkrankung bei Kriegsteilnehmern
im Felde behandelt, so beginnt der Ab¬
schub in die Heimatlazarette, wo wir
dann ein ziemlich monotones Krank¬
heitsbild zu sehen bekommen. Urämien
sind hier ganz selten, wenn, dann eklamp-
tische Form. Augenhintergrundsverände¬
rungen habe ich nie gesehen. Die
Körperorgane sind ohne Veränderungen,
der Urin wird in mittleren Tagesmengen
mit mittlerem specifischen Gewicht
entleert, die Eiweißmengen^und Form¬
bestandteile schwanken, Ödeme sind
nicht mehr vorhanden und nur die Anam¬
nese und einzelne specifische Verände¬
rungen weisen auf die Krankheit hin. Das
sind vor allen Dingen die subjektiven
Klagen der Kranken, die hauptsächlich
sich erstrecken auf dumpfen Druck in der
Nierengegend, unter Umständen ziehende
Schmerzen nach den Oberschenkeln zu mit
dem Gefühl fehlenden Haltes im Rücken
und einer gewissen Mattigkeit und raschen
Ermüdbarkeit. Auffällig ist bei vielen dieser
Kranken eine markante, gelblich-blasse
Gesichtsfarbe, die im Farbentone zwischen
der Veränderung der Hautfarbe bei Chlo¬
rose und perniziöser Anämie hegt und der
jeglicher Zug der gelblich-ikterischen Ver¬
färbung fehlt. Diese läßt dann leicht den
Verdacht auftauchen, daß sekundäre Blut¬
veränderungen vorhanden seien. Auf
Grund vielfacher eigener Untersuchungen
kann ich aber feststellen, daß solche in
keinem Falle, der von mir untersucht
wurde, nachzuweisen waren. Weder die
Zahl der Erytrocyten noch der Hämo-
globingehalt, noch das gefärbte Blutbild
wiesen pathologische Verhältnisse auf. In
diesem Stadium der Erkrankung ver¬
harren die meisten lange Monate, so daß
durchschnittlich 5 bis 6 Monate bis zur
Genesung vergehen. Diese Zeit sehen wir
die meisten Kranken in dauernder Be¬
handlung. Wichtig ist hierbei die Beob¬
achtung der Diurese, des Herzens
31*
244 Die Therapie der
und der Gefäßverhältnisse. Diese
letzteren Organe, Herz und Gefäße, sind
am ehesten der Schädigung ausgesetzt
und nach zwei Richtungen hin bedürfen
sie der Besprechung. Es ist erwiesen, daß
besonders die älteren Menschen, die Land¬
sturmleute Ende der Dreißiger und Anfang
der Vierziger, häufig an Nierenentzündung
erkranken, weil sie infolge arteriosklero¬
tischer Gefäßveränderungen, verschlech¬
terter Vasomotorentätigkeit und dadurch
bedingter Minderwertigkeit der physikali¬
schen Wärmeregulierung besonders leicht
erkältenden Einflüssen unterliegen, und
sie sind es auch, bei denen nach dem Ein¬
tritt einer Nierenentzündung am ehesten
der Übergang in Schrumpfniere erfolgt
mit Hypertrophie des linken Herzens,
klinisch erkennbar am akzentuierten,
nicht selten klingenden zweiten. Aorten¬
tone sowie am hebenden Spitzenstöße,
ferner aber an der Blutdrucksteigerung.
Diese letztere ist im Verlaufe solcher Er¬
krankungen stets eingehend zu prüfen,
entweder rein durch Palpation, wobei
man sich immer erinnern sollte, daß sie
immerhin unsichere Resultate gibt, oder
besser noch, weil die meisten Ärzte nicht
imstande sind, die Qualität des Pulses
hinreichend sicher in bezug auf seine
Spannung zu prüfen, durch Messung des
Blutdruckes mit den bekannten Methoden.
Ich habe bei einer Zahl von etwa 300 Ne¬
phritiden ganz unverhältnismäßig wenig
diese Blutdruckveränderungen gefunden
und besonders bei den jüngeren Mannschaf¬
ten, die ich zur Nachuntersuchung und
kommissarischen Begutachtung zuge¬
wiesen bekam, fast regelmäßig vermißt.
Ich möchte mich deshalb zu dem Stand¬
punkte bekennen, daß das Vorhandensein
solcher sekundären Herz- und Gefäßver¬
änderungen in der weitaus größten Mehr¬
zahl der Fälle dafür spricht, daß es sich
um einen älteren Prozeß handelt, bei dem
die akute Feldnephritis eine Verschlimme¬
rung hervorrief.
Sonstige Komplikationen der Feld¬
nephritis sind unbekannt und meist heilt
sie, wie gesagt, aus. Der Rest geht ganz
, vereinzelt in das Krankheitsbild über, das
man nach altem klinischen Sprach¬
gebrauchs als chronische parenchymatöse
Nephritis bezeichnete, d. h. in eine Nieren¬
schädigung mit Oligurie und hohem Ei¬
weißgehalte, oder häufiger in die inter¬
stitielle Nephritis mit Polyurie, niedrigem,
oft fehlendem Eiweißgehalte und mit vor¬
handener Blutdrucksteigerung.
Fragen wir uns nun auf Grund dieser
Gegenwart 1917. Juli
skizzierten Angaben über Art und Ver¬
lauf der Feldnephritis, wie sollen wir uns
prognostisch und gutachtlich zu ihnen
stellen, so ergeben sich drei Gesichtsr
punkte, das ist erstens die Notwendigkeit,
nach Kräften einen Übergang in chroni¬
sche Nierenentzündung zu verhüten, zwei¬
tens die Heranziehung geheilter oder in
Heilung begriffener Fälle zur Arbeit und
zum militärischen Dienst, und drittens die
Entschädigung dauernd Erkrankter.
Was den ersten, Punkt anbetrifft, so
trotzt ja manche Erkrankung überhaupt
jeder Therapie, wie ja besonders der
Prozentsatz der Urämie und der letalen
Ausgänge beweist, aber ein genauer Ken¬
ner der einschlägigen Verhältnisse, Vol-
hard, steht auf dem Standpunkte, daß
sich sowohl die Lebensgefahr im akuten
Stadium als die Siechtumsgefahr, wenn
die Krankheit nicht ausheilt, vermeiden
läßt. Ich kann auf eine nähere Be¬
gründung dieser Worte nicht eingehen,
sondern muß mich darauf beschränken,
auf das zu verweisen, was ich bereits über
die Funktion gesagt habe, d. h. daß ich
sehr wohl glaube, es könne die Nephritis
durchweg geheilt werden, wenn man unter
entschiedener Anwendung physikalisch
diätetischer Therapie eine möglichste funk¬
tionelle Schonung der Niere bewirkte in
bezug auf Wasser, Salz und Eiweiß.
Hinzufügen möchte ich hier noch, daß
den Gewürzen jeder Art eine sicher
schädigende Wirkung auf die Nieren zu¬
zusprechen ist und daß auch sie in der
Ernährung ausgeschaltet werden müssen.
Diese Behandlung der Nierenkranken muß
ihre Fortsetzung finden in einer Pro¬
phylaxe, in der der Genesene vom be¬
handelnden Arzt auf das aufmerksam
gemacht wird, was ihn schädigen kann.
Zu diesem gehört neben der diätetischen
Behandlung die Warnung vor klimati¬
schen schädigenden Einflüssen,vor
allen Dingen vor nasser Kälte.
Im Stadium der Ausheilung ist es bei
der oft langen Dauer der notwendigen
ärztlichen Beobachtung außerordentlich
schwierig, die Kranken in der Untätigkeit
und Langeweile der Lazarette zu erhalten
ohne Schädigungen für die Disziplin und
ohne in den Kranken das Bewußtsein
großzuziehen, daß sie dauernd gesundheit¬
lich geschädigt sind. Infolgedessen bin
ich für meine Person schon seit Mai
vorigen Jahres dazu übergegangen, nieren¬
kranke Soldaten, auch wenn sie noch Ei¬
weiß und unter Umständen sogar Form¬
elemente aufwiesen, zu beschäftigen, zu-
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1917.
245
erst mit leichter Arbeit auf der Station,
dann mit Übergang zu beruflicher Arbeit.
Entsprechend dem, was ich eben sagte
über funktionelle Schonung und Prophy¬
laxe, wurden die Kranken belehrt und
natürlich nicht in Berufen beschäftigt, wo
sie nasser Kälte häufig ausgesetzt waren.
Wärme ist ein Behandlungsfaktor und ein
wesentlicher Schutz vor Rezidiven. Ent¬
sprechend diesem Standpunkte über Ar¬
beitsverwendungsfähigkeit war ich auch
nicht mit der Anerkennung wiederher¬
gestellter Garnisonverwendungsfähigkeit
ängstlich zurückhaltend. Zwar wurden
die meisten erkrankt gewesenen nur als
garnisonverwendungsfähig und der ärzt¬
lichen Überwachung bedürftig entlassen,
aber ich zweifle nicht, daß sich aus ihnen
wieder kriegsverwendungsfähige Menschen
rekrutieren lassen. Jedenfalls habe ich
bei diesem Vorgehen keine ungünstigen
Einflüsse bis jetzt bemerkt. Ich glaube
durch vorsichtige individuelle Behandlung
die Erkrankten mit frühzeitiger Beschäf¬
tigung vor manchen Schädigungen durch
langen Lazarettaufenthalt bewahrt zu
haben. Ich komme also zu dem Satze,
daß Nierenkranke im Stadium der
Ausheilung sehr wohl beruflich
verwandt werden können und daß
genesene Nierenkranke ihre Gar¬
nison- und später Kriegs Verwen¬
dungsfähigkeit wieder erlangen.
Wie lange man die Zeit bemessen soll,
ehe man nach der Beschäftigung in der
Garnison die Leute als kriegsverwendungs¬
fähig bezeichnen kann, lasse ich dahin¬
gestellt, eine Zeit von 3 bis 4 Monaten er¬
scheint mir durchaus ausreichend.
Ich komme schließlich zu den Offi¬
zieren und Mannschaften, die keine Ten¬
denz zur völligen Heilung zeigen. ^ Der
Zeitpunkt, wann man von einem Über¬
gange in ein chronisches Stadium sprechen
kann, ist natürlich je nach dem Falle ver¬
schieden. Im allgemeinen nehme ich an,
daß nach spätestens 7 bis 8 Monaten eine
Feldnephritis ausgeheilt sein muß. Sind
dann noch größere Eiweißmengen vor¬
handen oder treten Symptome beginnen¬
der Schrumpfniere auf, so würde ich es
für zweckmäßig halten, das Entlassungs¬
verfahren einzuleiten.
Wie bei wenigen inneren Krankheiten
liegt die Frage der Dienstbeschädigung
bei der Feldnephritis klar. Sie ist für alle
Fälle akuter Glomerulo-Nephritis anzu¬
erkennen und auch bei älteren Kranken
mit frühzeitig bestehenden sekundären
Herz- und Gefäßveränderungen wenig¬
stens als Verschlimmerung eines bestehen¬
den Leidens zu bejahen. Anders verhält
es sich mit der Frage nach der Höhe der
bestehenden Erwerbsbeschränkung: Die
chronische interstitielle Nephritis im alten
klinischen Sinne, die gutartige Nephro¬
sklerose, ist bei Angehörigen besserer
Stände ein Leiden, das unter Umständen
jahrzehntelang ohne wesentliche Erwerbs¬
beeinträchtigung verlaufen kann, und dem¬
gemäß ist für Kopfarbeiter und Angehö¬
rige nicht körperlich schwer arbeitender
Berufe die Erwerbseinbuße als gering zu
bewerten. Man wird da unter Umständen
sogar eine Garnisonverwendungsfähigkeit
in der Heimat oder im Bureaudienste ohne
Schaden für die Erwerbsfähigkeit an¬
nehmen können. Für Offiziere glaube ich
ist die interstitielle Nephritis, wenn sie
keine anderen Symptome aufweist als
Herzhypertrophie und Blutdrucksteige¬
rung, kein Grund, ihre Garnisonverwen¬
dungsfähigkeit als aufgehoben anzusehen.
Erfolgt dann später eine weitere Ver¬
schlimmerung, so muß die Pensionierung
auf Grund einer Kriegsdienstbeschädigung
Platz greifen. Anders verhält es sich
naturgemäß bei den Fällen, wo Herz¬
insuffizienz oder subakute urämische Zu¬
stände hinzutreten. Diese bedingen an
und für sich völlige Leistungsunfähigkeit.
Anders verhält es sich auch bei der
chronischen parenchymatösen Nephritis
nach altem Sprachgebrauche. Hier sind
die subjektiven Krankheitssymptome
meist so hochgradig und die zur Ver¬
hütung weiterer Verschlimmerung not¬
wendigen Maßregeln so dringlich, daß bei
ihr absolute Dienstunfähigkeit besteht
und auch die Erwerbsfähigkeit wesentlich
beschränkt ist. An Hand der von mir
begutachteten Fälle nehme ich an, daß
durchschnittlich 30 bis 60 % Erwerbs¬
beschränkung für diese Leute als Folge
der Erkrankung resultiert. Bei Fort¬
schreiten des Prozesses ist natürlich eine
Steigerung der Rente angebracht, unter
Umständen ' bis zum höchstmöglichen
Satze der völligen Invalidität.
Meine Ausführungen machen selbst¬
verständlich keinen Anspruch darauf, ein
vollständiges Bild von der Feldnephritis
gegeben zu haben. Ich habe mich, ent¬
sprechend dem Zwecke dieser Mitteilung,
darauf beschränkt, an Hand einer kurzen
Schilderung des klinischen Bildes der
Kriegsnephritis Anhaltspunkte zu geben,
einmal die Erkrankung zu heilen, anderer¬
seits die dauernd Geschädigten entspre¬
chend ihrer Fähigkeit und ihrer Gesund-
246
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1917.
heitsbeeinträchtigung zu beurteilen. Ich
weiß sehr wohl, daß besonders der thera¬
peutische Teil meiner Ausführungen recht
lückenhaft ist, aber um ihn ganz zu würdi¬
gen, bedürfte es einer anderen Fassung
des Themas. Deshalb sei zum Schlüsse
nur ein kurzer Hinweis angefügt über die
Behandlung der Nephritis. Im akuten
Stadium ist Bettruhe und Wärme das
Haupterfordernis unter diätetischer Scho¬
nung der Nierenfunktion. Flüssigkeiten
in ihrer Gesamtheit sollten iy 2 —2 Liter
pro Tag nicht überschreiten, die Eiwei߬
ration sei knapp und der Calorienbedarf
werde hauptsächlich durch Kohlehydrate
gedeckt. Vor wiederholten oder inten¬
siven Schwitzprozeduren, forcierter Bäder¬
behandlung sei gewarnt. Läßt sich trotz¬
dem die drohende Urämie erkennen, so
würde ich vorschlagen, eine völlige Nah¬
rungskarenz Platz greifen zu lassen und
nur Wasser- oder Tee- oder Zuckerlösung
in täglichen Mengen von etwa %—1 Liter
zu verabfolgen; Gutes habe ich auch ge¬
sehen bei hochgradigen Ödemen, wenn
nicht ihre mechanische Entleerung durch
Punktion, Hautdrainage, Scarification
notwendig wurde, von der Karelischen
Kur. Bricht die Urämie aus, so wird man
zu ausgiebigem Aderlaß und Kochsalz-
resp. Zuckerinfusionen greifen, unter Um¬
ständen besonders bei der Krampfurämie
zur Lumbalpunktion; ob und wann die
sehr selten notwendigen chirurgischen
Eingriffe erfolgen sollen, muß der Lage
des einzelnen Falles überlassen bleiben.
Im Verlaufe der monatelang notwendigen
Überwachung und Behandlung greifen
die Gesichtspunkte Platz, die ich oben
gestreift habe. Während dieser Zeit soll
man Wärmeanwendungen besonders für
Besserung der subjektiven Schmerzen
nicht unterlassen, und hier sind der Licht¬
bügel, die künstliche Höhensonne und die
Diathermie empfehlenswert. Damit wird
man allgemein auskommen und man wird
sich hüten, medikamentös oder durch
kritiklose Anwendung von Nierenteil¬
wässern den Kranken zu schaden: es gibt
keine medikamentösen Heilmittel der
Nephritis, es gibt keine specifischen
Nierenheilwässer. Die Natriumbicarboni-
cum-Therapie ist sogar, wie ich auf Grund
eigener Untersuchungen behaupten kann,
vielfach gefährlich, weil sie Ödeme her-
vorrufen und urämische Symptome be¬
wirken kann, selbst wenn unter ihrem
Einflüsse das Symptom der Albuminurie
vorübergehend schwinden sollte. Auch
die Hämaturie kann durch kein inner¬
liches Mittel beeinflußt werden und auch
die Diuretica sind nur vorübergehend in
besonderen Fällen wirksam. Einzig und
allein kommt medikamentös die Digitalis
in Betracht, aber nur dann, wenn das
Verhalten des Herzens dazu auffordert,,
denn nur das muskulär kranke, dekom-
pensierte Herz spricht auf Digitalis an.
Die Verabreichung von Quellen ist
schon aus dem Grunde sehr vorsichtig zu
gestalten, weil durch sie der Wasserhaus¬
halt unnötig belastet und geschädigt wird;
wesentliche Vorteile habe ich von ihr nie
gesehen.
Für eine klimatische Behandlung käme
nur trockenes, warmes Klima in Frage als
unterstützendes Agens, niemals jedoch
als notwendiges therapeutisches Er¬
fordernis.
Zum Schlüsse noch eine Bemerkung
über die Berücksichtigung der Konstitu¬
tion und die Beseitigung chronischer,
eventuell latenter Infektionsprozesse im
Rachen, an den Zähnen, den Kieferhöhlen
usw. und die unter Umständen vorhandene
Bakterienausscheidung im Urin. Es ist
selbstverständlich, daß solche Krankheits¬
zustände neben der Nephritis vorhanden
sein können; sie müssen bei der notwendi¬
gen Allgemeinuntersuchung aufgefunden
und, wenn sie der Behandlung zugänglich
sind, therapeutisch in Angriff genommen
• werden; ob jedoch damit einer kausalen
Indikation genügt wird, will ich zum
wenigsten dahingestellt sein lassen; von
erheblicher Bedeutung der angedeuteten
körperlichen Veränderungen habe ich mich
bisher nicht überzeugen können.
Über Erythrocytose und chronischen Alkoholismus 1 ).
Von Prof. Dr. F. W. Tallquist-Helsingfors.
Die kleine Mitteilung, welche ich zu
machen habe, fällt in das Gebiet der
Blutkrankheiten, sie enthält einen, so¬
weit ich aus früheren Publikationen
x ) Vortrag gehalten in der dänischen Gesell¬
schaft für interne Medizin, übersetzt von Dr. Leo
Klemperer, Karlsbad.
orientiert bin, neuen Gesichtspunkt be¬
treffend die Ätiologie der Polyglobulien.
Die Zustände, bei denen wir eine
Vermehrung der Anzahl der roten Blut¬
körperchen, zumeist auch verbunden mit
einer Erhöhung des Hämoglobingehaltes
und der totalen Blutmenge feststellen,
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1917.
247
sind nicht so selten, als man früher am
zunehmen geneigt war. Unsere Kenntnisse
über die pathologischen Zustände des
Blutes sind nach dieser Richtung hin ver¬
hältnismäßig neueren Datums. Bekannt¬
lich pflegt man die Hyperglobulien ein¬
zuteilen in primäre und sekundäre resp.
symptomatische. Die erstere Form wurde
als selbständiges Krankheitsbild zuerst
von Vaquez im Jahre 1892 beschrieben
und wurde ursprünglich als große Selten¬
heit angesehen, doch wurden seither recht
zahlreiche Fälle dieser Krankheit be¬
schrieben und veröffentlicht. Die Va-
quezsche Krankheit hat bei näherem
Studium ein etwas wechselndes Krank¬
heitsbild geboten. Neben der Erythrämie
und einer zumeist vergrößerten Milz
finden wir einmal die Nieren und das Ge¬
fäßsystem intakt, das andere Mal nephri-
tische Symptome. Diese letzteren pflegen
dann von einer Hypertonie und den Fol¬
gen derselben begleitet zu sein. Dem
letzteren Symptomenkomplex hat man
den Namen der Erythaemie hypertonica
beigelegt. Charakteristisch ist in allen
Fällen die hochrote, bläulich schimmernde
oder kirschenrote Gesichtsfarbe. Die
klinischen Symptome sind sonst recht
verschieden und es ist nicht der Ort, die¬
selben des weiteren auszuführen.
Von der genuinen oder primären
Erythrämie wissen wir, daß sie zweifellos
auf einer erhöhten Funktion des erythro-
blastischen Gewebes im Knochenmarke
beruht, wenn auch uns die Kenntnis
darüber fehlten, welche letzte Ursache diese
Hyperfunktion herbeiführt. Von Inter¬
esse wäre die Rolle, welche die Milz viel¬
leicht in der Pathogenese dieser Krankheit
spielen dürfte.
Wenden wir uns nun zu den sympto¬
matischen oder sekundären Formen der
Polyglobulie, welche zum Unterschiede
von den ersteren Formen Erythrocytosen
genannt werden, so können wir fest¬
stellen, daß bei vielen von ihnen ein
Wesensunterschied gegenüber der Va-
quezschen Krankheit eigentlich nicht
besteht, wenn wir davon absehen, daß
bei den Erythrocytosen ein ursächliches
Moment bekannt ist. Bei manchen Ery¬
throcytosen, z. B. bei solchen, welche bei
angeborenen ' Herzfehlern Vorkommen
(Morbus coeruleus), ist eineHyperfunktion
des Knochenmarkes ebenfalls festgestellt.
Darauf deutet das Vorkommen einer ver¬
mehrten Anzahl von Normoblasten im
Blute und eine Hyperplasie des roten
Markes, welche bei Sektionen befunden
wurde. Es kann deshalb mit Recht die
Frage aufgeworfen werden, ob es nicht
auch bei den Polyglobulien ebenso, wie di£ : s
bei den Anämien der Fall war, ratsamer
wäre, den scharfen Unterschied zwischen
primären und sekundären Formen auf¬
zugeben. Ein Ursachsmoment exogener
oder endogener Natur -liegt bei allen
Formen der Polyglobulien sicher vor.
Unter den Ursachen der Polyglobulien
zählen wie seit langem die Stauungs¬
zustände bei angeborenem und einem Teil
erworbener Herzfehler und bei den Ste¬
nosen der oberen Luftwege mit dyspnoir
sehen und asthmatischen Symptomen. Der
Übergang von ebenen Gegenden in ein
Höhenklima ruft meistenteils eine Poly-
cytose hervor, welche jedoch oft nur
vorübergehender Natur ist. Ebenso wirkt
der Aufenthalt in verdünnter Luft. Auch
nach Milzentfernungen soll eine Poly-
cytose beobachtet worden sein. Eine
physiologische Erythrocytose kommt bei
Neugeborenen in den ersten Lebenstagen
vor. Weiterhin verursachen eine Reihe
von Giften eine Erythrocytose. So ist
sie festgestellt bei Vergiftungen mit Ko.h-
lenmonoxyd, mit Phosphor und vielen der
sogenannten Blutgifte (Pyrodin, Pyro-
gallol u. a. m.), wenn sie in kleineren
Dosen verabreicht werden.
Zu diesen toxischen Stoffen glaube
ich nun nach den von mir gemachten Beob¬
achtungen einen Körper von mehr all¬
gemeiner Bedeutung rechnen zu können,
nämlich den Alkohol bei chronischem Ger¬
brauche. Systematische Untersuchungen
des Blutes bei einem Teil des klinischen
Materials der letzten Jahre und Erfah¬
rungen in der privaten Klientel haben mir
die ebengenannte Auffassung beigebracht.
Zur Beleuchtung des Gesagten will ich
einige Krankengeschichten beifügen, deren
Knappheit allerdings mit den herrschen¬
den Zeitverhältnissen entschuldigt werden
muß, da es nicht möglich war, Manu¬
skripte über die Grenze zu bringen, so
daß die betreffenden Daten aus dem Ge¬
dächtnisse verzeichnet und in Einzel¬
heiten vielleicht unsicher sind.
46jähriger Arbeiter, von Jugend auf Alkohol
genossen, zumeist Branntwein und oft in großen
Quantitäten, seit mehreren Jahren täglich.
Seitdem Branntwein nicht zu erreichen war, trinkt
er zumeist nur schwaches Bier. Früher gesund,
hat er in den letzten Monaten Atemnot; sucht
wegen letzterer und wegen geschwollener Beine
die Klinik auf. Gesichtsfarbe rotblau, erweiterte
Venen auf der Haut, der Nase und Wangen.
Ernährungszustand gut, Oedem der unteren
Extremitäten, Dyspnoe. Herz nach beiden
Seiten etwas vergrößert, Töne dumpf. Puls
248
Juli
Die Therapie der
von gewöhnlicher Spannung, etwas klein und
beschleunigt, Blutdruck normal. Urin sparsam
ohne Eiweiß. Rote Blutkörperchen 7.2 Millionen
Hg. 115 V.=0,8. Leichte Anisocytose und ver¬
einzelte Normblasten. Diagnose Vitium cordis
-(myodegeneratio), Erythrocytosis, Alkoholismus
chronicus. — In Ruhe und nach gewöhnlicher
Behandlung schwand die Kompensationsstörung
rasch. Die Blutuntersuchung einige Monate
später ergab denselben Befund, die Hyperglobulie
stationär. Auch die blaucyanotische Verfärbung
des Angesichts sowie eine leichte Dyspnoe bei
Bewegung besteht noch.
Nr. 2. C., 50 Jahre alter Gutsherr. Seit der
Studienzeit Alkohol in ziemlich großen Dosen in
verschiedener Form genossen. Durch mehrere
Jahre regelmäßig Schnaps und Bier zu den Mahl¬
zeiten, dazwischen Abusu alcohol. 2—3 Tage
hintereinander. Seit Kriegsbeginn auf Grund
der geringen Zufuhr von Alkohol nicht mehr
täglich getrunken, dagegen zeitweise in größeren
Dosen. Im Jahre 1916 in einem Privatsanatorium
wegen Delirium tremens. In den letzten 2 Wochen
ziemlich reichlich Kognak. Seitdem die Nerven-
symptome sich gebessert haben, guter Ernährungs¬
zustand, kirschrote Gesichtsfarbe. Klagt oft
über Kopfschmerz und Reißen in den Beinen.
Keine Circulationsstörungen, normaler Blutdruck,
Urin eiweißfrei, Milz dicht unter dem Rippen¬
bogen tastbar. Erythrocyten 6,5 Millionen
Hg. 100 W.= 0,79, weiße Blutzellen normal. Al¬
koholismus chronicus. Polycythämie, Delirium
tremens. 8 Monate später kam Patient wegen
Schlaflosigkeit und deliranter Symptome wieder
auf die Klinik, der Blutbefund der gleiche wie
früher.
Nr. 3. Gutsherr, 50 Jahre alt, gibt zu, daß er
seit längerer Zeit regelmäßig Alkohol oft in un¬
mäßiger Menge genießt. Hat bei Nacht viel ge¬
wacht und hatte eine anstrengende Beschäftigung.
War stets gesund bis vor 2 Jahren, dann Unruhe,
Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen, rheumatische
Beschwerden; hat das Gefühl der Blutfülle und
Spannung im Kopfe, Ernährungszustand einiger¬
maßen über den Durchschnitt, Röte des Gesichtes
und der Ohren, echauffiertes Aussehen. Radial¬
arterien gespannt, Blutdruck RR 180, linksseitige
Herzhypertrophie, klappenderzweiter Aortenton.
Urin hellgelb, Sediment gering, Spur von Al¬
buinen. Milz nicht vergrößert. Blutuntersuchung:
rote Blutkörperchen 6,1 Millionen Hg. 95, weiße
Blutkörperchen nicht vermehrt, W.=0,78. Dia¬
gnose Nephrosklerose, Erythrocytose, Alkoholis¬
mus chronicus. Wesentliche Erleichterung nach
einem Aderlaß. Bei einer Untersuchung 1 / 2 Jahr
später, während welcher Zeit sich der Patient
des Alkohols vollständig enthielt, war der Befund
ungefähr der gleiche, doch war die Erythrocyten-
anzahl etwas geringer und die Gesichtsfarbe etwas
heller.
Nr. 4. Wirt, ca. 40 Jahre alt/ gibt an, daß er,
vom Berufe gezwungen, täglich ziemlich große
Mengen Alkohol verzehrt. Klagt über Atemnot,
Schwere im Kopfe und bemerkte selbst, daß die
Gesichtsfarbe erschreckend blau wurde. Starke
Adiposität, die Farbe des Gesichts fast so, wie
wir sie beim Morbus coeruleus vorfinden, blaue
Hände und Füße. Herz von normaler Größe,
Herztöne etwas dumpf, Puls gewöhnlich, nicht
gespannt, Blutdruck normal. Milzdämpfung ver¬
größert, Milz nicht tastbar. Urin hellgelb in
normaler Menge, enthält reichlich Eiweiß, ver¬
einzelte Rundzellen, hyaline und feinkörnige
Cylinder. Blutuntersuchung: rote Blutkörperchen
Gegenwart 1917.
= 8,5 Millionen Hg. 20 W. = 0,70. Weiße Blut¬
körperchen nicht vermehrt. Adipositas, Nephro-
sklerosis, Polycythämie, Alkoholismus chronicus
— Diätetische Behandlung, Weglassung des Al¬
kohols und Ruhe hat eine gewisse Besserung des
Zustandes herbeigeführt.
Diese Beispiele dürften genügen. Ich habelm
ganzen über 10 Fälle gleicher Art aus der kli¬
nischen und poliklinischen Praxis gesammelt,
in denen schwerer Alkoholmißbrauch Vorge¬
legen und eine Polyglobulie mittelschweren und
leichten Grades festgestellt wurde. Zwei von den
hier nicht mitgeteilten Fällen waren hypertonischer
Natur, beide mit Nephrosklerosen. Einer der¬
selben starb an Gehirnblutung. Eine wesentlicher
Milztumor war nicht feststellbar. Die Symptome
bestanden in Atemnot, Kopf- und neuralgiformen
Schmerzen, Ermüdungsgefühl und anderen ziemlich
diffusen Empfindungen. Arteriosklerose und Myo¬
degeneratio cordis war bei mehreren zu finden.
Die Anzahl der Blutkörperchen zwischen 6 und
7 Millionen, der Hg.-S-Gehalt in allen Fällen ver¬
hältnismäßig nicht so hochgradig, so daß W. immer
unter 1 war. Ich hatte den Eindruck, daß die
Blutmenge im Körper zu groß war, sodaß man
mit Recht von einer gleichzeitigen Polyplasmie
sprechen konnte, doch wurden Bestimmungen
nicht vorgenommen. In zwei Fällen habe ich
solche versucht, doch der Erfolg war nicht zu¬
friedenstellend. Nicht ein einziger der Fälle
hat wirklich übermäßigeSteigerungen derErythro-
cytenanzahl und des Hämoglobingehaltes auf¬
gewiesen. Nur ein Fall betraf eine Frau. Das
Alter war bei allen über 40, meistenteils von
50Jahren. Alle hatten in minderem oder höherem
Grade die charakteristische Gesichtsfarbe. In
etwa der Hälfte hat ein einziger oder wiederholter
Aderlaß eine wesentliche Erleichterung des Zu¬
standes herbeigeführt.
Ich will hier beifügen, daß ich in den
letzten Jahren Gelegenheit hatte, auch
einige Fälle von Polyglobulie zu beob¬
achten, welche in die Gruppe der V a q u e z-
schen Krankheit eingerechnet werden
konnten, bei denen alle alkoholischen
Antecedentien mit Sicherheit ausgeschlos¬
sen werden können.
Da die oben angeführten Beobach¬
tungen dafür zu sprechen scheinen, daß
einem länger währenden Alkoholmi߬
brauche in gewissen Fällen eine Bedeutung
für die Entstehung der Polyglobulie zu¬
geschrieben werden kann, wobei es nicht
ausgeschlossen ist, daß in meinen an¬
geführten Fällen zum Teile auch andere
Momente in Frage kommen können, habe
ich im Vereine mit meinem Schüler, dem
Kandidaten Stenbäck, welcher die de¬
taillierten Untersuchungen vornahm, ver¬
sucht, zu entscheiden, wie sich die Ver¬
hältnisse bei notorischen Alkoholisten ge¬
stalten, die sich sonst nicht als krank an-
sehen oder keine Beschwerden haben,
über welche sie klagen würden. Auf
Grund der herrschenden Verhältnisse ist
in Finnland derzeit der Zeitpunkt nicht
günstig, da das Land in dieser Beziehung
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1917.
249
fast „auf dem Trockenen“ ist, wie der
technische Ausdruck jetzt lautet. Aber
auch sonst bieten sich für diese Unter¬
suchungen viele Schwierigkeiten, da man
nicht so leicht solche „gesunde“ kranke
Menschen zur Untersuchung geneigt fin¬
det. Diese Untersuchungen befinden sich
daher erst im Anfangsstadium, aber so¬
viel geht aus ihnen bereits hervor, daß
unsere Anschauungen sich zu bestätigen
scheinen und daß der chronische Alkohol¬
mißbrauch sehr oft mit Blutveränderun¬
gen verknüpft ist, die wir als Polycythose
bezeichnen. So viel sei jedoch zugegeben,
daß wir bisher solche Personen untersucht
haben, welche die verräterische schöne
Gesichtsfarbe und die strahlende Alkohol¬
nase aufgewiesen haben. Nähere Details
anzugeben bin ich derzeit nicht in der
Lage. Die Anzahl der untersuchten Fälle
ist bis jetzt nicht groß. Die höchste Zahl
der roten Blutkörperchen betrug fast
7 Millionen. W. immer unter 1. Nur
einer unserer Alkoholisten, der aber im
Gesichte bleich war, wies, keine Poly¬
globulie auf.
Wenn meine Schlußfolgerungen rich¬
tig sind, und ich habe keine Ursache, dies
zu bezweifeln, so entsteht die Frage, auf
welchem Wege der Alkoholismus die Poly¬
globulie hervorrufen kann. In der Mehr¬
zahl der Fälle — sowohl mit als auch ohne
sonstige Krankheitserscheinungen — kann
eine allgemeine Circulationsstörung aus¬
geschlossen werden. Wo eine Inkompen¬
sation Vorgelegen war, bestand die Poly¬
globulie auch wenn erstere zurückging.
Zumindest einer dieser Fälle hatte An¬
zeichen von vermehrter hämatopoetischer
Tätigkeit, sodaß eine einfache ungleiche
Blutverteilung auch hier außer Rechnung
gekommen war. Daß eine allgemeine
Gefäßsklerose, als Folge derselben toxi¬
schen Faktoren, um die es sich hier han¬
delt, in einer Anzahl hierher gehöriger
Fälle vorliegen dürfte, soll nicht bezwei¬
felt werden, aber wenn diese nicht mit
Stauungserscheinungen auf Grund von
Herz- und Nierenleiden vereint ist, so
kann sie als Ursache der Polyglobulie
nicht in Frage kommen. Eine Erweite¬
rung der kleinen, oberflächlichen Haut¬
venen auf den Wangen und der Nase sind
bei solchen Patienten sehr häufig und es
gehört dies auch in der Regel zum Krank¬
heitsbilde der sogenannten Vaquez-
schen Krankheit. Diese Gefäßerweite¬
rungen sind wahrscheinlich eher eine Folge
der Polyglobulie und Polyplasmie als deren
Ursache.
Verwickelter werden die Verhältnisse,
wenn zu gleicher Zeit eine Nephropathie,
vorliegt. Nur in einem meiner Fälle hatte
eine solche den Charakter einer Nephrose.
Die übrigen drei Fälle dieser Kategorie
gehörten zu derjenigen Form, welche man-
als Polycythaemie hypertonica bezeich¬
net und die ich immer von Symptomen
der Nephrosklerose gefolgt gesehen habe.
Eine indurative Nephritis kann auf dem
Wege über das Herz und Gefäßsystem
sicherlich Stauungserscheinungen mit
nachfolgender Polyglobulie hervorrufen.
Solche Erscheinungen haben jedoch mei¬
stenteils nicht Vorgelegen oder waren nur
vorübergehender Natur, während die Poly¬
globulie weiter bestand. Man kann auch
eine sekundäre Einwirkung auf das Blut
und die blutbildenden Organe durch die
Nephrotoxine in den Fällen von Nephro¬
pathie in Frage stellen. So weit es uns
jedoch bekannt ist, pflegen aber Nieren¬
affektionen gewöhnlich von Blutverände¬
rungen gegensätzlicher Richtung beglei¬
tet zu sein, von Anämie. Der ganze nicht
so seltene Symptomenkomplex,welcher ge¬
kennzeichnet ist durch Polycytose, Hyper¬
tonie und Nephropathie, besteht bis auf
weiteres ziemlich unklar in Hinsicht auf
seine Pathogenese, und es ist schwierig,
hier sich zu entscheiden, inwiefern die
beobachteten Störungen voneinander ab¬
hängig sind, ob sie koordiniert sind und
eine gemeinsame Ursache haben.
Die Frage des Milztumors bei den Poly¬
globulien dürfte noch ihrer Entscheidung
harren. Die Milz hat man als die größte
regionäre Blutdrüse angesehen. Sie ist
wahrscheinlich sowohl an der Blutbildung
— besonders in gewissen pathologischen
Zuständen — beteiligt, noch mehr jedoch
bei der Blutdestruktion sowohl intra- wie
extraglandulär und die Rolle der Milz ist
in vielen Blut- und Blutdrüsenerkran¬
kungen in den Vordergrund getreten.
Man sah die Polyglobulie vorübergehend
auftreten bei Milzexstirpationen, man hat
andererseits versucht, in kurativer Hin¬
sicht die Milz zu entfernen, auch bei Poly-
cythämien, und dies angeblich mit Erfolg.
Bemerkenswert ist, daß in meinen Alko¬
holpolyglobulien im allgemeinen der Milz¬
tumor in den Hintergrund trat.
Ich glaube, daß die nächste Erklärung
für die Einwirkung des Alkohols auf das
Blut vorerst zu suchen ist in einer Reizung
des erythroblastischen Gewebes im Kno¬
chenmarke. Nach dieser Richtung zielt
auch die Wirkung der übrigen früher be¬
nannten eine Polycythämie hervorrufen-
32
250
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Juli
den Gifte. Es ist nicht schwer, sich die
Wirkung des Alkohols auf viele andere
Organe des Körpers als einen irritativen
Effekt vorzustellen.
In Kürze zusammengefaßt würden es
die hier dargestellten Beobachtungen
wahrscheinlich machen, daß chronischer
Alkoholmißbrauch unter gewissen Ver¬
hältnissen eine Polyglobulie hervorzu¬
rufen imstande ist. Diese scheint in einem
Teile der Fälle ihremTräger nur auffallend
geringe Ungelegenheiten zu bereiten, viel¬
leicht die Verfärbung des'Antlitzes und der
Nase ausgenommen — ein Symptom, das
so alt vielleicht als der Alkohol selbst
— sicher auf die Erythrocythose zurück¬
zuführen ist. In anderen Fällen scheint
jedoch die vom Alkohol hervorgerufene
Hyperglobulie vielleicht im Vereine mit
anderen schädlichen Wirkungen des Alko¬
hols Veranlassung zu recht beschwerlichen
Symptomen zu geben. Wie weit sich die
Alkoholpolycythose entwickeln kann, dar¬
über fehlen mir weitere Anhaltspunkte.
Mit aller Sicherheit kann man jedoch von
dem Standpunkte ausgehen, daß der
Alkoholismus nicht immer in der Ent¬
stehung der hier genannten Blutverände¬
rung seinen Ausdruck finden muß. Die
Verhältnisse sind hier dieselben wie bei
den anderen schädlichen Wirkungen des
Alkohols; es entstehen bei Alkoholisten
nicht immer Gastritiden, Neuritiden, Le-
bercirrhose oder Nierenleiden, Arte¬
riosklerose, vernöse Störungen usw. Ob
für die Entstehung der Blutveränderungen
irgendwelche mitwirkenden Momente oder
eine bestimmte Art des Alkohols, oder
andere exogene oder endogene Faktoren
Bedeutung haben, darüber kann ich mich
nicht aussprechen; ebensowenig kann ich
es beurteilen, ob eine vom Alkohol her¬
vorgerufene Erythrocythose bei Enthalt¬
samkeit wieder zurückgehen kann.
Das Schuldkonto des Alkohols ist
immer groß genug gewesen, wenn ich es
hier noch vermehre, kann aus meinen
Beobachtungen andererseits vielleicht
etwas Gutes hervorgehen. Es ist nicht
ausgeschlossen, daß der Alkohol eine Be¬
deutung gewinnen könnte in der Behand¬
lung solcher Anämiefälle, welche gegen
andere Mittel renitent sind. Gewisse Tier¬
versuche meiner Mitarbeiter sprechen
nicht dagegen. Soweit erstrecken sich
jedoch meine Erfahrungen nicht.
Vielleicht -können die Kollegen in
Dänemark, die jetzt eher Zugang von
Alkoholisten besitzen, diese Untersuchun¬
gen, die von uns noch nicht beendet
sind, weiterhin kontrollieren und aus¬
dehnen.
Aus der ersten inneren Abteilung* des Städtischen Krankenhauses Moabit Berlin.
(G-eheimrat GL Kleinperer.)
Über Nasendiphtherie.
Von G. A. Waetzoldt.
In der jetzt im Abklingen begriffenen
großen Berliner Diphtherieepidemie 1914
bis 1917 konnten wir auf der zeitweise
sehr großen Diphtheriestation unserer
Abteilung ziemlich umfangreiche Beob¬
achtungen über Nasendiphtherie an¬
stellen, deren Resultate hier berichtet
werden sollen. Von etwa 1000 in der Zeit
vom Oktober 1915 bis März 1917 behan-'
delten Diphtheriefällen wies etwa ein
Drittel eine Beteiligung der Nase am
Krankheitsprozeß oder wenigstens Ba¬
cillen in der Nase auf.
Was zunächst die isolierte Nasen¬
diphtherie der Säuglinge angeht, so
beobachteten wir im ganzen 24 Fälle.
Von den Kindern sollten angeblich zwei
bereits seit der Geburt ,,Nasenlaufen“
haben, die übrigen waren erst seit einigen
Tagen oder Wochen krank.
Bezüglich der Infektionsquelle konnte
in einigen Fällen festgestellt werden, daß
gleichzeitig Erwachsene oder Kinder aus
der Umgebung an Diphtherie erkrankt
waren; in anderen Fällen handelte es sich
um Infektion im Krankenhause. Ein acht
Monate altes Kind war schon vor zwei
Monaten einmal in einem anderen
Krankenhause wegen Nasendiphtherie
behandelt und damals geheilt entlassen
worden. Das Aussehen der Erkrankung
bei der Aufnahme war ziemlich ein¬
heitlich: In einem oder — besonders
wohl bei länger bestehenden Erkrankun¬
gen — beiden Nasenlöchern zeigte sich
eitrig-schleimiges, in einer geringeren An¬
zahl von Fällen auch blutig-tingiertes,
seröses bis eitriges Sekret, das in man¬
chen Fällen die Oberlippe und Um¬
gebung der Nase angeätzt hatte und Nei¬
gung zu borkiger Eintrocknung besaß.
Der Verstopfung der Nasenlöcher ent¬
sprechend bestand eine oft nicht unbe¬
trächtliche Behinderung der Atmung, die
sich in ,,Schniefen“, unruhigem Schlafe,
Behinderung beim Trinken und schlechter
Juli Die Therapie der
Laune kundgab, wie bei jedem Säuglings¬
schnupfen. Hier und da zeigten sich
sogar leichteste Einziehungen. Eine echte
Rhinitis pseudomembranacea konnten
wir nicht beobachten, doch ist sie natür¬
lich, wenn die Membranen nicht bis ins
Nasenloch reichen oder ausgeniest wer¬
den, bei Säuglingen sehr schwer fest¬
stellbar. Die Drüsenschwellungen be¬
schränkten sich auf verschieden starke
Vergrößerung der Kieferwinkeldrüsen
und derjenigen am hinteren Rande
des Sternocleidomastoideus. Tempera¬
turen waren in vielen Fällen, besonders in
schon länger bestehenden gar nicht zu
beobachten. Sie überschritten kaum je
39° (rectal gemessen), um unter Serum¬
therapie innerhalb einiger Tage — in
Einzelfällen bis zu zwei Wochen — zur
Norm abzusinken. Weitere auf die
Erkrankung zurückzuführende Erschei¬
nungen fanden sich bei der Aufnahme
nicht, so wurden namentlich nie Darm¬
störungen beobachtet (die Fälle mit
gleichzeitiger Rachen- oder Kehlkopf¬
diphtherie werden weiter unten be¬
handelt).
Der Verlauf war wie die Symptome
ziemlich gleichmäßig. Zwar gingen weder
die eitrige Nasensekretion, noch die Drü¬
senschwellungen immer oder auch nur
oft mit dem Fieber zusammen zurück,
aber die — 300—400 g auch bei den elen¬
desten Kindern nicht überschreitenden —
Gewichtsstürze infolge der Krankheit
wurden in zwei bis drei Wochen in der
großen Mehrzahl der Fälle eingeholt und
die Kinder entwickelten sich dann äußerst
erfreulich. Die Nasensekretion ver¬
schwand oft erst nach Wochen, ja Mo¬
naten, bisweilen aber auch (ohne beson¬
dere Lokalbehandlung) auffallend früh,
um in der Mehrzahl der Fälle ganz regel¬
los, jedoch ohne bemerkenswerte Allge¬
meinerscheinungen plötzlich für Tage
oder Wochen wieder aufzutreten. Die
Dauer der Bacillenhaltigkeit der Nase
schwankte stark: nur der kleinere Teil der
Fälle wurde unter zwei Monaten bacillen¬
frei, viele brauchten mehr. In drei Fällen
wurden die Bacillen fast acht Monate
lang in der Nase gefunden und zwar öfter
ohne daß irgendwelche Sekretion bestand.
Im Gegenteil, in Rezidiven, wo die Nase
secernierte, war in vielen Fällen der Ba¬
cillenbefund negativ, um beim Aufhören
der Sekretion wieder positiv zu werden.
Eine Erklärung für dies seltsame Ver¬
halten fehlt uns. In drei Fällen, darunter
einem, der in einer Säuglingsklinik und
Gegenwart 1917. 251
einem der von seinen — bei uns an Di¬
phtherie behandelten — Geschwistern
infiziert war, bestand gar kein klinischer
Befund in der Nase und trat auch im
Verlaufe der Beobachtung nicht auf. Bei
einem sehr elenden Kinde mit starker
blutig-eitriger Rhinitis war der Nasen¬
abstrich anfänglich stets negativ ge¬
wesen und wurde erst kurz bevor die
Nasendiphtherie auf den Kehlkopf Über¬
griff — Rachenbeteiligung wurde in diesem
Falle nicht beobachtet — positiv.
Weiter beobachteten wir zwölf Fälle
von Nasendiphtherie der Säuglinge bei
gleichzeitiger Beteiligung des Ra¬
chens, die sich allerdings meist auf Ba¬
cillenhaltigkeit desselben beschränkte, sel¬
tener in Belägen zum Ausdrucke kam.
Soweit die meist sehr unsicheren Angaben
der Angehörigen ein Urteil gestatten,
scheint es nicht ausgeschlossen, daß die
Rachenerscheinungen schon vor der Auf¬
nahme längst abgelaufen waren. Im
übrigen unterschied sich das klinische Bild
nicht erheblich von dem der isolierten
Nasendiphtherie, namentlich war es in
keiner Weise schwerer. Der Umstand,
daß der Bacillengehalt der Nase den des
Rachens meist um drei bis sechs Wochen
überdauerte (nur einmal war die Nase
eher frei), stimmt gut zu den Beobach¬
tungen an älteren Kindern und Er¬
wachsenen.
Vier Fälle seien schließlich noch erwähnt von
Rhinitiden, die bei negativem Bacillenbefunde
im Rachen stets negativen Bacillenbefund
auch in der Nase aufwiesen, aber klinisch und
anamnestisch außerordentlich diphtherieverdäch¬
tig waren. Von diesen bestand eine seit 14 Tagen
und war draußen positiv gewesen. Eine andere
kam mit drei Geschwistern, die Diphtherie hatten,
herein, eine dritte hatte typischen einseitigen
blutigen Schnupfen, eine vierte endlich zeigte
nebenher sehr verdächtige Beläge im Rachen. Alle
diese Rhinitiden waren recht chronisch.
Der Allgemein zustand der im ganzen
39 Säuglinge dürfte wohl in gut der Hälfte
der Fälle ohne weiteres als schlecht be¬
zeichnet werden. Als kräftig konnte
kaum ein Viertel gelten. Eine Beeinflus¬
sung des Zustandes durch die Krankheit
wurde nie beobachtet, wie auch die vier
Todesfälle auf Masern, Tetanie, Atrophie
und Tracheotomie zurückzuführen waren,
nicht auf den Nasenprozeß als solchen.
Verhältnismäßig nicht selten wurde
eine Komplikation mit Otitis media, die
in vier von neun Fällen doppelseitig war,
beobachtet. Die dabei (nicht in allen
Fällen) vom Ohreiter gemachten Ab¬
striche enthielten hier und da Diphtherie¬
bacillen.
32*
252
Die Therapie der
Differential diagnostisch kommen
bei der Nasendiphtherie der Säuglinge in
Frage Cöryza luetica, skrofulös-exsuda¬
tive Rhinitiden, die viel besprochene
Rhinitis pseudomembranacea non di-
phtherica und als das wichtigste und
häufigste der gemeine Schnupfen. Da
sich der diphtherische Schnupfen in keiner
Weise von dem gewöhnlichen zu unter¬
scheiden braucht, so dürfte in jedem Falle
von Säuglingsschnupfen — auch wenn er
nur ganz vorübergehend oder gar nicht
blutig ist ein Abstrich oder besser mehrere,
denn der erste ist auch bei Diphtherie
mitunter negativ, angebracht sein.
Bei Kindern im Alter von 1 bis
14 Jahren steht durchaus im Vorder¬
gründe die Beteiligung der Nase bei der
allgemeinen Infektion, während die iso¬
lierte Nasendiphtherie ohne klini¬
schen und Bacillenbefund im Rachen
doch stark zurücktritt.
Von der letzteren beobachteten wir
20 Fälle vorwiegend bei kleineren Kin¬
dern, die alle einen Befund aufwiesen,
der dem bei der Nasendiphtherie der
Säuglinge glich. Auch hier war die Ein¬
seitigkeit entschieden seltener als die
Doppelseitigkeit, was wohl zum Teil
darauf zurückzuführen ist, daß der Kran¬
kenhausarzt die Fälle erst in späteren
Stadien zu sehen bekommt. Denn der
Prozeß bestand oft schon mehrere Wochen,
ohne doch in seiner Art erkannt zu sein,
wenn auch die anamnestisch meist be¬
richtete auffallende Mattigkeit, Unlust
und Müdigkeit der Kinder bei einem ,,ge¬
wöhnlichen Schnupfen“ auf seine be¬
sondere Natur hätte hinweisen können.
Doch muß daran festgehalten werden,
daß in nicht wenigen Fällen der Prozeß
dauernd einseitig bleibt, auch ohne daß
eine Behandlung eingegriffen hätte. Für
die Art der Infektion ist es wichtig, daß
in zahlreichen Fällen die Ansteckung mit
Sicherheit durch Familienmitglieder ge¬
schah (gleichzeitig waren solche mit
Rachendiphtherie, einmal auch mit Nasen¬
diphtherie (also Ansteckung von Nase
zu Nase!) im Krankenhause). In zwei
Fällen waren die Kinder als geheilt nach
überstandener Rachendiphtherie aus einem
anderen Krankenhause entlassen worden
und 14 Tage später mit typischem blutig¬
eitrigen Schnupfen erkrankt.
Das Allgemeinbefinden war meist von
Anfang an gut. Fieber bestand nicht und
trat auch im Verlaufe, abgesehen von
Komplikationen, nicht auf, trotzdem in
den meisten Fällen nicht unbeträchtliche
Gegenwart 1917. Juli
Drüsenschwellungen vorhanden waren.
Die Beeinträchtigung des Befindens durch
den Schnupfen an sich war kaum merklich,
doch sahen wir die Kinder eben meist
erst in späteren Stadien der Erkrankung,
so daß es möglich ist, daß uns manches
von der akuten Erkrankung entging. Auf
Serum in recht niedrigen Dosen gingen
die Erscheinungen aber in allen Fällen
schnell zurück, wenn auch gelegentlich
eine leichte, oft nur einseitige Rhinitis
fortbestand. Die Bacillenfreiheit wurde
allgemein eher als bei den Säuglingen er¬
reicht, indem nur drei Fälle länger als
zwei Monate Bacillen in der Nase be¬
hielten (darunter einer allerdings fünf
Monate). Außerordentlich interessant
sind zwei Fälle, die in der allerletzten Zeit
beobachtet wurden. Die beiden etwa
vierjährigen Kinder hatten seit zwei bis
drei Wochen Schnupfen und fühlten sich
etwas schlecht, plötzlich trat Rachen¬
diphtherie auf, wegen der die Kinder ins
Krankenhaus kamen. In der Nase posi¬
tiver Bacillenbefund! Infektion - des
Rachens durch eine subakute Nasen¬
diphtherie!
Von Rachendiphtherie mit Be¬
teiligung der Nase konnten wir .bei
Kindern im ganzen 77 Fälle beobachten.
Von ihnen waren 15 sehr schwer und
führten zum Tode. Davon wiesen 13 das
geläufige Bild der unverkennbaren
Nasendiphtherie auf, das ihr ihren
schlechten Ruf als Begründer einer fast
absolut schlechten Prognose verschafft
hat: Bei sehr ausgedehnter Rachen¬
diphtherie ödematöse Schwellung des Ge¬
sichtes und Halses, Mundatmung, starke
Reizung der Umgebung des Nasenein¬
ganges durch die seröse (selten eitrige),
meist blutig fingierte, typisch ,,nach Di¬
phtherie“ riechende Flüssigkeit hervor¬
gerufen wird, die unaufhörlich aus beiden
Nasenlöchern herunterläuft (selten kommt
dazu eine sekundäre Eiterinfektion der
Gesichtshaut.) Der Prozeß ist hier stets
doppelseitig, wenn auch, wie im Rachen
ja auch, gelegentlich eine Seite stärker
befallen sein kann. Der Verschluß der
Nase geschieht durch eingetrocknetes Se¬
kret oder seltener durch typische Mem¬
branen, bei denen das foetide Sekret
übrigens meist wasserhell zu sein pflegt
(natürlich . gibt es zwischen allen Formen
sämtliche Übergänge). Daneben besteht
in allen Fällen starke Neigung zu häufig
kaum stillbarem Nasenbluten und das
ganze Bild der übrigen Erscheinungen
schwerster Diphtherie. Fast stets korre-
7. Heft
Therapie der Gegenwart. Anzeigen.
flllllllllllllllllllll
Therapie der Gegenwart. Anzeigen.
7. Heft
lllllllillllllllllfllllld
Jtili Die Therapie der
^spondiert übrigens die Beschaffenheit des
Nasenprozesses mit dem im Rachen, eine
Übereinstimmung, die sich bis auf die
Farbe der Membranen, des Sekrets usw.
‘erstreckt. Die- anderen zwei Fälle wiesen
Iceine Nasenbeteiligung auf, wohl aber
Bacillen in der Nase. Beide starben im
Gegensätze zu den anderen 13, die die
•erste Kränkheitswoche kaum überlebten,
^erst viel später an Herzlähmung. Ob in
diesen schweren Fällen die Nasen- oder
Rachenbeteiligung das primäre ist, ließ
•sich nie sicher feststellen, da die Angaben
der Eltern hier besonders verworren
waren. Die Kinder kamen meist ziemlich
verwahrlost und nie vor dem dritten
bis vierten Krankheitstage herein.
Es handelt sich also schon um ältere Fälle.
Unter den 20 mittelschweren Fäl¬
len hatten 15 einen Nasenbefund, der
auch hier recht oft doppelseitig war, und
der Schwere nach von leichter Rötung
des Naseneinganges über eitrigen Schnup¬
fen bis zu Membranen mit serösem Sekret
und blutigem Sekret oder Borken wech¬
selte. Allen gemeinsam war auch hier
der typische Geruch ,,nach Diphtherie“.
Auch hier steht natürlich der Nasen¬
befund durchaus im Hintergründe gegen¬
über der Schwere der Allgemeininfektion.
In den übrigen fünf Fällen, die zu den
leichteren dieser Gruppe gehörten, fand
sich kein Nasenbefund, wohl aber Ba¬
cillen in der Nase. Allen Fällen war die
sehr starke und lang andauernde Schwel¬
lung der Drüsen an den Kieferwinkeln
und am Hinterrande des Kopfnickers
(auf Beteiligung des Nasenrachenraumes
zurückzuführen?) gemeinsam. Da Todes¬
fälle nicht erfolgten, so ließ sich die Ba¬
cillenfreiheit der Nase und des Rachens
in allen Fällen beobachten. Auffallender¬
weise war. mit Ausnahme von sechs Fällen
•die Nase gleichzeitig oder — in zwei
Fällen — sogar eher negativ als der
Rachen.
ln den Fällen, in denen der Bacillen¬
gehalt der Nase den des Rachens über¬
dauerte, konnte einigemale auch noch
leichte Rhinitis serosa — hier und da
einseitig — und typischer Geruch, die erst
mit den Bacillen verschwanden, fest¬
gestellt werden.
Von 42 leichten Fällen wiesen 26
einen Nasenbefund auf, die übrigen nur
Bacillen in der Nase. Klinisch bestand
•die — hier und da auch einseitige — Be¬
teiligung der Nase in Rötung mit mäßiger
iEiterung oder auch nur deutlicher Ver¬
mehrung des normalen Sekrets. In ein¬
Gegenwart 1917. 253
zelnen Fällen fanden sich auch Mem¬
branen, die, wie alle beobachteten Mem¬
branen, sehr fest hafteten, und spärliche,
blutige Borken, niemals aber das typi¬
sche Sekret der zur Blutung neigenden
Nasendiphtherie der schweren Fälle. Ein
Unterschied der Schwere zwischen Fällen
mit und ohne Nasenbefund war nicht mit
Sicherheit zu konstatieren, auffällig ist
allerdings, daß bei den Fällen ohne Nasen¬
beteiligung in der weitaus größten Zahl
der Fälle die Nase eher oder gleichzeitig
mit dem Rachen negativ war, während
sie es bei den Fällen mit Nasenbefund
gewöhnlich erst einige Zeit nach einge¬
tretener Bacillenfreiheit des Rachens
wurde, wobei denn auch hier eine geringe,
oft kaum feststellbare dann meist Rhinitis
nicht selten noch andauerte.
Weiter beobachteten wir sieben Fälle von Di¬
phtherie (darunter einen sehr schweren), bei denen
die Nase zwar recht erhebliche eitrige Rhinitis
aufwies, sich aber nie Bacillen in ihr fanden. Auch
hier Rückgang fast gleichzeitig mit dem Rachen¬
befund auf Serumtherapie. Ob bei diesen
Kindern nach Entlassung Diphtheriebacillen in
der Nase auftreten, haben wir leider nicht fest¬
stellen können. Zu vermuten wäre es nach
unseren Erfahrungen.
In 19 Fällen fanden wir bei meist leichteren
Diphtherien keinen Nasenbefund und auch keine
Bacillen in der Nase als ein Resultat unserer
neuerdings alle Nasen von auch nur als ,,di¬
phtherieverdächtig“ eingelieferten Personen
umfassenden Untersuchungen. .
Aus dem Anfänge der Berichtsperiode,
als wir dem in Rede stehenden Gegen¬
stände noch keine so intensive Aufmerk¬
samkeit schenkten, haben wir noch 61 Fälle
mit Nasenbefund zu erwähnen, bei denen
in der Sicherheit, es handele sich um
Nasendiphtherie, bei der Aufnahme keine
Abstriche gemacht wurden. Es waren
darunter 17 sehr schwere, 31 mittel¬
schwere und 13 leichtere Fälle. Dazu
kommen noch zahlreiche Fälle ohne Na¬
senbefund aus der gleichen Zeit, die wohl
auch noch manchen Nasenbacillenträger
unter sich bargen. In der nun folgenden
Tabelle konnte das natürlich nicht zum
Ausdruck kommen, auch so aber beweist
sie, daß bei den Fällen mit Bacillen in der
Nase, mögen sie nun einen klinischen
Nasenbefund haben oder nicht, eine starke
Verschiebung der prozentualen Zusammen¬
setzung der Gesamtsumme der Krank¬
heitsfälle zugunsten der schweren und
mittelschweren Fälle stattfindet. Eine
Beobachtung, die der alten Erfahrung
von der Verschlechterung der Prognose
bei Nasenbeteiligung durchaus entspricht.
Die isolierten Nasendiphtherien
sind, als nach Prognose und Verlauf
254 Die Therapie der
wesentlich verschieden und nicht ver¬
gleichbar, in die Tabelle nicht aufge-
riommen worden.
Tabelle I.
mit
ohne
Fälle
Nasenbeteiligung
Zahl
%
Zahl
%
leichte.
77
47
208
61
mittelschwere .
54
33
102
30
sehr schwere . .
33
20
32
9
Summa
164
100
342
100
Die Literatur ist über die Frage der
Nasendiphtherie des Kindesalters und
der Säuglinge recht verschiedener An¬
sicht. Schon die Abgrenzung der Na¬
sendiphtherie von anderen Erkran¬
kungen ist kontrovers. Wenn man auch
jetzt wohl allgemein der Ansicht ist, daß
alle Fälle von Rhinitis pseudomembra-
nacea, bei denen sich Diphtheriebacillen
finden — und das sind die weitaus meisten,
wenn nicht alle — dazu gehören, so wird
doch andererseits die Zugehörigkeit des
einfachen Schnupfens und selbst eines
Teiles der Fälle von blutig-eitrigem
Schnupfen mit Befund von Diphtherie¬
bacillen in der Nase bestritten mit dem
Hinweise darauf, daß die Bacillen auch
zufällige Parasiten bei dem gewöhnlichen
Schnupfen und bei luetischer' Coryza,
sowie auch' Erreger ,,gewöhnlichen“
Schnupfens sein können. Warum dann
letzterer allerdings keine Diphtherie sein
soll, bleibt einigermaßen geheimnisvoll,
da man doch alle Rachenerkrankungen —
auch nicht typisch pseudomembranöser
Natur —, bei denen sich die Bacillen fin¬
den, der Diphtherie zurechnet. Wir
möchten jedenfalls alle Erkrankungen der
Nase, bei denen sich echte Diphtherie¬
bacillen finden, der Diphtherie zurechnen,
bis nicht bewiesen ist, daß dieselben bei
dieser oder jener Form immer avirulent
für Menschen sind.
Noch größer ist die Uneinigkeit in der
Frage der Klinik und des Verlaufes der
primären isolierten Nasendiphtherie
der Kinder und Säuglinge. Ein großer
Teil der Autoren, dem auch wir uns, wenn
auch mit Vorbehalt, anschließen möchten,
nimmt an, daß diese Erkrankung eine
recht häufige sei, die oft typisch ein¬
seitig beginnt, es hier und da auch bleibt
und im Anfänge den Eindruck eines ge¬
wöhnlichen Schnupfens macht. Nament¬
lich in den ziemlich häufigen chronischen
Fällen bleibt dies Bild im weiteren Ver¬
Gegenwart 1917. ’ Jult
laufe bestehen, während es in änderet*
Fällen in das einer blutig-eitrigen oder -—
sehr selten — pseudomembranösen Rhi¬
nitis übergeht. Auffällig ist die Neigung-
zu Blutungen aus der Nase. Der Verlauf
ist. fast immer fieberfrei, wenn auch das
Wohlbefinden mehr oder weniger erheb¬
lich gestört sein kann (einzelne wollen aus.
dem etwas schwereren Verlaufe gegenüber
dem gewöhnlichen Schnupfen die Diagnose
Diphtherie stellen, während andere die
Einseitigkeit für typisch halten). Der
Ausgang ist unter jeden Umständen
gut, doch besteht eine Neigung zu Rezi¬
diven (bei einseitigen Fällen nicht selten
im anderen Nasenloche!) Nicht selten soll
auch die Kombination mit Diphtherie der
Vulva, des Ohres und der Conjunctiven
sein. Wir konnten dies für das
Ohr mitunter bestätigen. Einzelne
nehmen an, daß nur sehr elende Kinder
von der Erkrankung befallen werden,,
während gesunde trotz größter Infektions¬
möglichkeit freibleiben. Wir konnten das
nicht bestätigen. Mehrfach wird auch die
Ansicht vertreten, daß die Häufigkeit der
Rezidive bei Nasendiphtherie darauf
zurückzuführen sei, daß infolge des ge¬
ringen Umfanges des Prozesses und der
geringen Circulation an der befallenen
Stelle eine aktive Immunisierung nicht
in dem Umfange wie bei der Rachen¬
diphtherie. stattfinde. Wir haben das
nie ganz verstehen können. Sollte die
Circulation in den Schwellkörpern des
Naseninneren wirklich geringer sein als
in den Tonsillen? Wir möchten die Frage
anders beantworten: Die Rezidive in der
Nase erklären sich einfach durch über¬
sehene Fortdauer des Prozesses, wie wir
oben ausführten. Die Rezidive im Rachen,
nach Nasendiphtherie sind zunächst nicht
häufiger als die gar nicht so seltenen Di¬
phtherierezidive überhaupt, ein Teil wird’
sicher der fehlenden Gewebsimmpnität
zur Last fallen, ein anderer aber auch.
Fortleitung von dem sein, was die Fran¬
zosen Adenoidite primaire nennen (primäre
Diphtherie der Rachentonsille) und was hei
und nach Nasendiphtherie nicht ganz
selten, wenn auch nicht gerade im stren¬
gen Wortsinne ,,primär“ sein dürfte.
Andere Autoren von Ansehen halten
die primäre.isolierte Nasendiphtherie
für eine ziemlich seltene, zwar atypisch
wie ein gewöhnlicher Schnupfen begin¬
nende, aber schnell in ein Krankheitsbild
von großer Schwere einlenkende, beson¬
ders im Säuglingsalter, wo sie am .häufig¬
sten ist, fast sicher letal verlaufende-
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1917.
255
Krankheit mit großer Neigung zum
Übergang auf Rachen und Kehlkopf.
In der Mitte stehen solche, die zwar
die Nasendiphtherie als solche für wenig
bedeutungsvoll halten, dagegen die auf
chronische Fälle folgende Kachexie fürch¬
ten. Wir konnten dieselbe nie beobach¬
ten, vielleicht, weil es uns an sicheren un¬
behandelten Fällen von chronischer Di¬
phtherie gebrach.
In der Angabe der langen Dauer der
Bacillenhaltigkeit der Nase und der wech¬
selnden klinischen Befunde geht die Lite¬
ratur ziemlich einig, wenn auch von
einigen Autoren angegeben wird, daß die
Nase auffallend schnell bacillenfrei werde.
Eine Ozaena, wie sie nach Diphtherie der Nase
Vorkommen soll, konnten wir nie beobachten,
vielleicht wegen zu kurzer Beobachtungsdauer
(auch bei Säuglingen nicht über acht bis zehn
Monate). Daß hier und da die chronische Rhinitis
mit diphtherischem Gerüche, die bei Nasen-
bacillenträgern sich mitunter findet, als Ozaena
angesprochen wird, möchten wir für wahrschein¬
lich halten, da sich über diesen — völlig typischen
— Geruch in der Literatur so gut wie nichts findet.
Derselbe schwindet aber prompt mit den Ba¬
cillen und der Rhinitis.
Vielfach findet sich, die Ansicht ver¬
treten, daß die Nase doch wohl häufiger
der primäre Herd der Erkrankung sei, als
man bisher annahm. Eine Anschauung,
die jedenfalls, selbst wenn sie unrichtig
sein sollte, das Gute hat, auf die Bedeu¬
tung des Nasenbefundes bei Diphtherie
mehr aufmerksam zu machen als das bis¬
her geschieht.
Über die Rachen- und Nasen¬
diphtherie ist die Literatur in der
Angabe einig, daß die Beteiligung der
Nase die Prognose verschlechtert, Zeichen
einer schwereren ausgedehnteren Infek¬
tion ist, wie sich auch bei Sektionen be¬
sonders schwerer Fälle fast stets in der
Nase Bacillen fanden. Besonders häufig
soll in diesen Fällen die echte pseudo¬
membranöse Form der Rhinitis sein, was
wir bestätigt fanden. Die Angabe, daß
in den Nebenhöhlen der Nase sich in
schwereren Fällen mit Nasenbeteiligung
fast konstant Bacillen finden, konnten wir
nicht kontrollieren, glauben aber, daß
diesem Umstande für die auch von uns
so häufig beobachtete lange Dauer der
Bacillenhaltigkeit der Nase und .die sie
begleitende Rhinitis einige Bedeutung
zükommt.
Ob die von uns beobachteten Fälle
von Mittelohrentzündung der in der Lite¬
ratur viel erwähnten diphtherischen Mit¬
telohrentzündung zugehören, konnten wir
nicht feststellen, wenn auch die bak¬
teriologische Untersuchung des Öhr¬
eiters in unseren Fällen positiv ausfiel.
Pseudomembranöse Otitis media sahen
wir nie. .
Endlich möchten wir noch auf eine
Erscheinung aufmerksam machen, die
wir nur in ausländischen Zeitschriften
bisher erwähnt fanden. Es ist das die
außerordentliche Häufigkeit der Di¬
phtherielokalisation in der Nase
bei und nach Masern. Nebenher geht
noch eine Vorliebe für' Lokalisation im
Kehlkopf und eine sehr starke Ver¬
schlechterung der Prognose durch die
Kombination. Mehrfach erwähnt wird
auch das Wiederaufflackern einer abge¬
laufenen Diphtherie unter der Masern¬
infektion.
Wir konnten diese Angaben an den
etwa 50 Fällen unserer Maserndiphtherie¬
station durchaus bestätigen. Von sechs
durch gleichzeitige Masern kompli¬
zierten Diphtherien waren zwei reineitrige
Nasendiphtherien, zwei weitere hatten
Rachen- und Nasendiphtherie, während je
einer Nasen- und Kehlkopf- und Rachen-
undKehlkopfdiphtherie zeigten. Drei von
den Kindern starben, von den übrigen
blieb eins sehr lange Nasendiphtherie¬
bacillenträger (im Rachen schwanden
die Bacillen bald!). 15 Fälle, in denen
die Diphtherie längere oder kürzere Zeit
auf die Masern folgte, hatten gleichfalls
ungefähr zu gleichen Teilen Nasen- und
Rachen- und Nasendiphtherie. Das Bild
des Nasenbefundes war stets das der
eitrigen Rhinitis, es unterschied sich von
einem etwas chronisch gewordenen Ma¬
sernschnupfen kaum. Auch in diesen
Fällen blieb die Nase fast immer Wochen,
selbst Monate länger positiv als der
Rachen, falls dieser überhaupt mit be¬
teiligt war. Erwähnenswert ist ein Fall,
der auf einer inneren Station Masern be¬
kam und bei dem auf der Masernstation
in der Nase reichlich Diphtheriebacillen
nachgewiesen wurden, die allerdings
schnell wieder ^schwanden. Eine Erklä¬
rung dafür fehlt. Ein zweiter Fall bekam
auf der Diphtheriestation' Masern. Wäh¬
rend die Nase vorher bacillenfrei gewesen
war, bestand, jetzt langdauernde Bacillen¬
haltigkeit. Ein dritter Masernfall bekam
auf der Maserndiphtheriestation, wohin er
unvorsichtigerweise gelegt worden war,
Diphtheriebacillen (Rachen und Nase),
ohne Symptome von Diphtherie und
wurde sie aus der Nase erst nach Wochen
lös. Ein weiterer Fall, der bacillenfrei
in Rachen und Nase von der Masern-
256
D^e Therapie der Gegenwart 1917.
diphtheriestation entlassen war, kam nach I
14 Tagen mit typischer Nasendiphtherie I
ohne Rachenbeteiligung wieder herein.
Die Entscheidung, ob Rezidiv oder Re¬
mission oder Neuerkrankung, bleibt offen.
Über die Diphtherie der Erwach¬
senen findet sich in der Literatur trotz
ihrer Häufigkeit recht wenig. Die Nasen-
diphtherie fanden wir nie erwähnt. Bei
denjenigen Nasendiphtherien, die ledig¬
lich eine • Komplikation der Rachen¬
diphtherien darstellten, war der Befund
und Verlauf völlig derselbe wie bei den
Nasen-Rachen-Diphtherien der Kinder.
Erwähnenswert ist, daß unter fünf sehr
schweren Fällen der einzige, der
durchkam, keine Nasenbeteiligung auf¬
wies. Daß auch bei den Erwachsenen die
Nasenbeteiligung ein Zeichen für die grö¬
ßere Schwere der Erkrankung ist, scheint
daraus hervorzugehen, daß von neun
mittelschweren Fällen mit Nasen¬
befund drei Paresen und mehrere andere
Komplikationen von seiten des Herzens
aufwiesen, während acht gleichschwere
Fälle, die nur Bacillen in der Nase, aber
keinen Befund hatten, bis zur Entlassung
keine Paresen usw. und Herzerscheinungen
zeigten. Auch die Bacillenfreiheit trat bei
den Fällen mit Nasenbefund in der Nase
meist viel später ein als im Rachen, wäh¬
rend die Nase in den anderen Fällen
gleichzeitig oder eher negativ wurde.
Leichte Fälle wiesen zwar oft Bacillen
in der Nase, jedoch nur in einem Viertel
der Fälle einen meist geringen Nasen¬
befund auf. Die Bacillen verschwanden
in allen untersuchten 16 Fällen ziemlich
gleichzeitig mit den Bacillen im Rachen.
In fünf meist schweren und mittelschweren
Fällen von Nasen-Rachen-Diphtherie war zwar
eine eitrige Rhinitis vorhanden, aber Diphtherie¬
bacillen wurden nicht gefunden, auch nicht bei
wiederholter Untersuchung.
Im allgemeinen schwanden auch bei
den Erwachsenen die Nasenbefunde
gleichzeitig mit den Rachenbefunden.
Das bei Kindern vorkommende Über¬
dauern der diphtherischen Rhinitis bei
Nasenbacillenträgern, wurde nie mit
Sicherheit beobachtet. In 25 Fällen von
Rachendiphtherie ohne Nasenbefund (dar¬
unter zwei sehr schweren und sieben
mittelschweren) wurden Bacillen in der
Nase nicht gefunden. Andererseits wurden
in sechs Fällen aus dem Anfänge der Be¬
richtszeit, die Nasenbefund hatten, die
Nasen nicht bakteriologisch untersucht.
Die Aufstellung einer Statistik, die
der für die Rachen-Nasen-Diphtherien der
JUli
Kinder mitgeteilten entspricht, ergab fol¬
gende Tabelle II:
Tabelle II.
mit 1
ohne
Fälle
Nasenbeteiligung
Zahl
%
Zahl
%
leichte .
33
48
221
73
mittelschwere .
26
39
75
25
sehr schwere . .
9
13
7
2
Summa
68
100
303
100
Auch aus dieser Tabelle ergibt sich
derselbe Schluß wie aus Tabelle I.
Echte isolierte Nasend.iphtherie
beim Erwachsenen haben wir nicht
beobachtet, doch fiel es auf, daß in ein¬
zelnen Fällen (wir beobachteten deren
sieben) bei mehr öder weniger diphtherie¬
verdächtigen Anginen beim ersten Ab¬
striche gleich nach der Aufnahme die Nase
positiv, der Rachen negativ war. Während
der letztere negativ blieb, also nicht etwa
ein Fehler oder eine Verwechselung beim
Abstreichen vorlag, war der Nasenab¬
strich mit einer Ausnahme nie wieder
positiv. Alle diese Fälle zeigten keine
Spur von Rhinitis. Eine Erklärung dieses
Verhaltens steht noch aus, denn daß es sich
um das Endstadium einer echten Di¬
phtherie handeln konnte, in dem nur noch
die Nase positiv war, scheint nach der
Anamnese recht unwahrscheinlich.
Zum Schlüsse sei noch erwähnt, daß bei Kin¬
dern und Erwachsenen bei klinisch diphtheriever¬
dächtigen Anginen bakteriologisch nicht diphthe¬
rischer Art sich in einzelnen Fällen eitrige Rhini¬
tiden fanden, bei denen nie Diphtheriebacillen vor¬
handen waren. Ob diese Fälle zur Gattung der
Angina und Rhinitis pseudomembranacea non
diphtherica gehören, bleibe dahingestellt.
Die Therapie aller Nasendiphthe¬
rien und darauf verdächtigen Erkran¬
kungen ist natürlich sobald wie irgend
möglich eine Seruminjektion, die immer
intramuskulär, in ganz schweren Fällen
wenn möglich intravenös zu geben ist
(dann am besten hochwertiges, das heißt
lOOOfaches Serum). Die Dosen schwank¬
ten bei uns zwischen 500—1000 I.-E. bei
reinen Nasendiphtherien der Säuglinge
und 30—40 000 I.-E. bei schweren (so¬
genannten septischen) Allgemeininfekti¬
onen älterer Kinder und Erwachsener.
Höher (bis auf mehrere 100 000 I.-E.),
wie es in Amerika viel getan wird und
neuerdings auch von deutscher und
französischer Seite empfohlen wird, sind
wir nie gegangen. Von lokalen Mitteln
haben wir die vielfach empfohlene Zin¬
nober salbe noch nicht versucht. Die
Juli Die Therapie der Gegenwart 1917. 257
weiße Praecipitatsalbe, der neuer¬
dings nachgerühmt wird, daß sie sich bei
Nasenbacillenträgern gut bewähre, ver¬
wenden wir erst seit kurzer Zeit in grö- /
ßerem Umfange. Über unsere Erfah¬
rungen damit werden wir bei günstigem
Ausfälle seinerzeit berichten. Unsere Er¬
fahrungen mit Pro vidof ormsalbe,
über die wir vorläufig an dieser Stelle
(1916, H. 11) bereits berichteten, können
jetzt dahin ergänzt werden, daß eine ir¬
gendwie merkliche Beeinflussung des Ver¬
laufes des lokalen Prozesses oder der Ba-
cillenhaltigkeit der Nase nicht stattfindet.
Von dem namentlich von französischer
Seite viel empfohlenen Trockenserum,
dem auch Verhütung von Rezidiven und
Chronischwerden f der Diphtherie zuge¬
schrieben wird, sahen wir in den wenigen
Fällen, in denen wir es anwandten (es ist
ziemlich teuer), nichts Besonderes. Ge¬
warnt sei-vor allen schlecht löslichen Pul¬
vern (Sozojodol usw.), die die Nase nur
noch mehr verstopfen. Adrenalin auf
Watte oder eingeträufelt (gewöhnliche
Lösung 1:1000) bewährte sich uns in ein¬
zelnen Fällen gegen Schwellungszustände
wie auch gegen leichtere Blutungen; bei
schweren Blutungen in „septischen“
Fällen ist es natürlich ohne Wirkung.
Die von einigen Seiten immer wieder
empfohlenen Spülungen mit verschie¬
denen Substanzen sollten angesichts der
auch bei leichteren Fällen bestehenden
Neigung zu Blutungen doch lieber ver¬
mieden werden, jedenfalls aber dem
Arzte persönlich überlassen bleiben.
Die Frage der Infektiosität der
Nasendiphtherie ist recht schwer zu be¬
antworten, wie auch aus den vielfach von¬
einander abweichenden Meinungen der
Literatur hervorgeht. Im allgemeinen
wird angenommen, daß die Nase des Ge¬
sunden — abgesehen vom Bacillenträger,
der selbst Diphtherie hatte oder von Di-
phtheriekranken infiziert wurde — Di¬
phtheriebacillen nicht enthält; doch wird
auch dies hier und da bestritten und
darauf hingewiesen, daß Diphtheriebacil¬
len in der Nase Gesunder häufig vor¬
kämen, daß sie aber in der überwiegenden
Mehrheit der Fälle avirulent seien, was
auch für die Mehrheit der Bacillenträger
von einigen Seiten behauptet wird. Noch
andere bezweifeln die Existenz avirulenter
Diphtheriebacillen überhaupt.
In jedem Falle wird man also sagen
dürfen, daß eine Virulenzprüf ung (Tier¬
versuch) bei Bacillenträgern notwendig ist,
wenn man auf die Tatsache der Bacillen¬
trägerschaft irgendwie eingreifende Ent¬
schlüsse — z. B. die für die Diphtherie¬
bekämpfung mit Recht viel geforderte
und doch nie durchgeführte Isolierung
bis zur Bacillenfreiheit aufbauen will.
Vor allem aber dürfte dies bei Säuglingen
zu wünschen sein, die bei Zurückhaltung,
auf den Diphtheriestationen zwecks Iso¬
lierung außerordentlich durch die dort
nie ganz zu vermeidenden Mischinfek¬
tionen mit Masern, Keuchhusten usw.
gefährdet werden, wie unsere Erfahrungen
zur Genüge beweisen.
Was die Gefährdung der Umwelt
durch Träger virulenter Bacillen in der
Nase angeht, so wird man bei Säug¬
lingen im Krankenhausbetriebe bei pein¬
lichster Sauberkeit nicht übertrieben
ängstlich zu sein brauchen. Wesentlich
anders ist es natürlich draußen, wo der
Säugling von älteren Kindern gewartet
und möglicherweise geküßt wird, und wo
eine Übertragung des Nasensekrets auf
empfängliche Stellen nicht mit Sicherheit
auszuschließen ist. Jedenfalls dürfte sich
bis zum Beweis, daß die Nasendiphtherie
der Säuglinge immer ungefährlich und
nicht infektiös ist — ein Beweis, der wohl
kaum zu erbringen ist — die Unterbrin*
gung in .einer Infektionsabteilung stets
empfehlen. Daß eine eitrige Rhinitis als
infektiöser angesehen ist als eine trockene,
möchten wir bei-dem häufigen Wechsel
zwischen beiden Formen nicht annehmen.
Für die Nasen- und Raehendiphtherie
der Säuglinge gilt das Gesagte natürlich
gleichfalls.
Für die Diphtherien älterer Kin¬
der mit Nasenbeteiligung ist daran
festzuhalten, daß alle bei Rachendiphthe¬
rien auftretenden Nasendiphtherien, da sie
sicher virulente Bacillen enthalten und
zwar auch in dem Stadium des Bacillen¬
trägers als infektiös anzusehen sind,
namentlich jene Fälle, bei denen es zu
einer .chronischen Rhinitis mit Bacillen
kommt. Die' Gefahr wird durch die Un¬
sauberkeit der Kinder und ihr Zusammen¬
kommen mit anderen in Schule und
Straße noch wesentlich erhöht, so daß
hier besonders -— ohne jede Rücksicht
auf die Schule— Isolierung im Kranken¬
hause für die Dauer der Bacillenhaltigkeit
der Nase (beziehungsweise des Rachens)
zu verlangen ist. Während des Bestehens
der eigentlichen akuten Erscheinungen
wird das ja in fast allen Fällen durch¬
geführt, wichtig ist aber für die Diphtherie¬
bekämpfung die Erkennung und Isolie¬
rung aller Bacillenträger und chronischen
33
258
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Juli
Diphtherien im Kindesalter, von denen
eben ein großer Teil nur in der Nase
Bacillen hat. Für die isolierte Nasen¬
diphtherie älterer Kinder gelten gleiche
Grundsätze, schon deshalb, weil die Nasen¬
diphtherien hier, wie oben erwähnt, in
nicht ganz seltenen Fällen nur die Vor¬
läufer einer Rachen- und Kehlkopf¬
diphtherie sind.
Erwachsene Nasenbacillen träger
dürfen wohl bei einiger Sauberkeit und
wenn sie in Haushalt und Beruf nicht in
nähere Berührung mit Kindern kommen,
milder behandelt werden (Tröpfcheninfek¬
tion durch Niesen kommt fast gar
nicht in Frage). Es wird ohnedies kaum
möglich sein, die Erwachsenen für die
oft lange Dauer der Bacillenhaltigkeit der
Nase im Krankenhause zu halten, zumal
ja eine gesetzliche Handhabe fehlt und
auf Verständnis nicht immer zu rechnen
ist; die Grundsätze für die Behandlung
der Rachenbacillenträger sind zu be¬
kannt, um hier wiederholt werden zu
müssen. Die neuerdings in Berlin in Auf¬
nahme gekommene Übung, die Bacillen¬
träger nach acht Wochen zu entlassen,
auch wenn sie nicht bacillenfrei sind, ist
wohl eine Konzession an die Bevölkerung,
die nur der billigen wird, der $er Über¬
zeugung ist, daß nach längerer Dauer des
Aufenthalts auf der Schleimhaut die
Bacillenstämme sicher avirulent werden.
Schließlich sei noch darauf aufmerksam ge¬
macht, daß selbst ein zweimaliger in vier bis acht
Tagen Abstand gemachter negativer Nasen¬
abstrich nicht völlig für endgültige Bacillenfreiheit
beweisend ist. In einem von uns beobachteten
Falle hat ein Junge von drei Jahren, der nach
zwei negativen Nasenabstrichen (der Rachen war
immer negativ) auf eine innere Station verlegt
worden war, eine ältere Frau, die dort neben ihm
lag, mit einer ziemlich schweren Diphtherie be¬
glückt. Ähnliche nicht ganz so krasse Fälle beob¬
achteten wir mehrfach.
Die schon mehrfach berührte, für die
Beurteilung der Nasendiphtherie sehr
wichtige Frage, ob die Nase oder der
Rachen in Fällen gleichzeitiger Beteili¬
gung beider Organe das primär erkrankte
ist, ist wohl, wie erwähnt, nur selten sicher
zu beantworten. Wir möchten im allge¬
meinen glauben, daß die Nase jedenfalls
viel häufiger primärer Herd ist, als all¬
gemein geglaubt wird, besonders auch
bei den schweren ,,septischen“ Fällen,
die vielleicht gerade deshalb so schwer
sind, weil sie eben als Diphtherie der Nase
(und des Nasen-Rachen-Raumes: die Ade-
noidite primaire der Franzosen) schon viel
länger bestehen als die Anamnese angibt,
die meist nur die Rachefterkrankung be¬
rücksichtigt, oft auch direkt falsch ist.
Man kann hier auch an eine Rolle der
chronischen Nasendiphtherie (so muß
% man die ganz potrahiert verlaufenden
'Rhinitiden mit Diphtheriebacillen doch
wohl nennen) für die Entstehung scheinbar
primärer Rachen- und besonders Kehl¬
kopfdiphtherien denken.
Die etwas akademische Frage, ob bei nur ein¬
seitigem Nasenbefunde nur das Nasenloch mit Be¬
fund Diphtheriebacillen enthält, haben wir nur
selten geprüft. In allen Fällen wies auch das kli¬
nisch freie Nasenloch Bacillen auf. In der Lite¬
ratur findet sich darüber nichts.
Zu der außerordentlich wichtigen Frage der
Pseudodiphtheriebacillen (Bac. Hoffmanni)
sei nur bemerkt, daß wir in der Zeit, wo die Ba¬
cillenfreiheit sich vorbereitet, so zwischen dem
letzten positiven und dem ersten negativen Ab¬
strich, gelegentlich im Rachen und Nase Pseudo¬
diphtheriebacillen beobachteten. Bekanntlich
finden sich diese Mikroorganismen sehr häufig in
gesunden und noch häufiger in — nicht diphthe¬
risch — kranken Nasen und Rachen und gelten
als völlig unschädlich und den Diphtheriebacillen
nur entfernt verwandt, doch macht sich neuerdings
die Neigung wieder geltend, diese Bacillen den
echten Diphtheriebacillen wieder näher zu stellen
als früher und nach unseren — nicht umfang¬
reichen — Erfahrungen, möchten auch wir den
Pseudodiphtheriebacillen doch nicht volles Ver¬
trauen bezüglich ihrer Unschädlichkeit schenken.
Diphtherieähnliche Erkrankungen, bei denen die
Pseudodiphtheriebacillen ausschließlich und im
ganzen Krankheitsverlaufe zu finden waren, sahen
wir jedoch nicht (von manchen werden sie be¬
kanntlich für die Erreger der Ozaena und mancher
anderen Nasenerkrankung gehalten).
Die so notwendigen Virulenzprüfungen
im Tierversuche anzustellen, machte uns
leider die .Kriegszeit unmöglich. Solange
nicht diese, in allergrößtem Umfange aus¬
geführt und bezüglich ihrer Beweiskraft
völlig gesichert, eine letzte Klärung zur
Frage der Nasendiphtherie gebracht haben,
möchten wir zusammenfassend fol¬
gende Forderungen für Bekämpfung
der Nasendiphtherie und damit der
Diphtherie als Epidemie überhaupt auf¬
stellen.
1. Bei der Häufigkeit der isolierten
Nasendiphtherie im Säuglings- und Kin¬
desalter ist bei jedem länger als etwa acht
Tage dauernden Falle von Schnupfen ein
Rachen- und Nasenabstrich zu machen,
der bei negativem Befunde zu wiederholen
ist. Besonders verdächtig ist einseitiger
Schnupfen.
2. Bei jeder Diphtherie — auch bei
ganz leichter ohne Nasenbefund und in
jedem Lebensalter — ist die Nase gleich
anfangs bakteriologisch zu untersuchen.
Für die Entlassung gelten dieselben Be¬
stimmungen wie für die Rachendiphtherie:
Auch die Nase muß in zwei — besser drei
— aufeinanderfolgenden Untersuchungen
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1917.
259
bakteriologisch (kulturell!) negativen Ba¬
cillenbefund aufweisen, bevor die Ent¬
lassung erfolgen kann.
3. Bacillenträger, auch solche, die nur
in der Nase Bacillen haben, sind bis zur
Bäcillenfreiheit oder bis zum Beweis der
Avirülenz der Bacillen zu isolieren. Milde¬
rungen bei Einzelfällen, besonders bei Er¬
wachsenen, stehen im ärztlichen Ermessen.
4. Ist eine Nasendiphtherie entdeckt,
so sind auch von der Umgebung Rachen-
und Nasenabstriche zu machen. <
5. Die Behandlung der Nasendiphtherie
hat schon mit Rücksicht auf die Möglich¬
keit des Übergreifens auf andere Organe
durch Seruminjektion zu erfolgen. Über
die lokale Behandlung besteht zurzeit
noch keine Einigkeit.
Gibt es einen Shock bei Bauchschußverletzungen?
Von Dr. Ernst Gräfenberg-Berlin, z. Z. bei einer Sanitätskompagnie.
Die Frage nach der Todesursache
der Bauchschußverletzten hat nicht
nur theoretisch-wissenschaftliches Inter¬
esse. So wertvoll auch für die ärztliche
Wissenschaft die Kenntnis ist, ob für den
Verwundeten Verblutung, Bauchfell¬
entzündung oder Shock das lebens-
bedrohende Moment ist, so ist diese Un¬
terscheidung doch allein deshalb beson¬
ders wichtig, weil von ihr gleichzeitig
die Richtlinien unserer ärztlichen Betäti¬
gung ausgehen.
Wenn der Blutverlust die Ursache
des schweren Krankheitsbildes ist, unter
dem die größte Zahl der Bauchschußver¬
wundeten schnell zugrunde gehen, so wird
man eiligst die Blutstillung zu betreiben
tiaben und in der schleunigsten Laparo¬
tomie die einzige Hilfe gegen die lebens¬
bedrohende Verblutung erblicken.
Glaubt man dagegen in dem Shock
die Erklärung für den ernsten Zustand
der Bauchverwundeten suchen zu dürfen,
so wird gerade die eilige Laparotomie dem
Verwundeten den größten Schaden zu¬
fügen, weil sie den Shock noch verstärken
ihilft. Der Shock würde uns eher zwin¬
gen, vorerst von jedem operativen Ein¬
griffe abzusehen und statt zu operieren,
Morphium zu injizieren. Deshalb emp¬
fiehlt Hirschberg 1 ) in folgerichtiger
Überlegung die Operation erst „nach
Überwindung des Schuß- und Transport-,
shocks“.
Und schließlich würden wir bei einer
Bekämpfung der Peritonitis als mut¬
maßlicher Ursache des schnellen Verfalles
andere therapeutische Bahnen wandeln
müssen als bei Bauchverwundungen, die
schwerste Blutverluste oder bedrohliche
Shockzustände hervorgerufen haben.
Deshalb wird jeder Arzt, der unter den
schwierigen Verhältnissen der Front den
*) Hirschberg, Shock — Blutung — Peri¬
tonitis. Zur Indikationsstellung der Bauchschuß-
Operation. D. m. W. 1916, Nr. 47.
armen Bauchschußverwundeten wirksame
Hilfe bringen will, sich über die Ursache
des bedrohlichen Krankheitsbildes Klar¬
heit verschaffen müssen, um alsdann den
Schluß für sein Handeln ziehen zu können.
Zu Beginn des Krieges war man ge¬
neigt, den schnellen Verfall der Bauch¬
verletzten auf die innere Verblutung zu¬
rückzuführen. Haenel 1 ) wollte noch
69% seiner Todesfälle nach Bauchschuß
mit dem schweren Blutverluste erklären.
Diese Angabe hat keine Bestätigung ge¬
funden. Wir haben an unserem Material,
das sich auf 110 genau beobachtete
Bauchschüsse erstreckt, nur in 5% töd¬
liche Verblutung gesehen.
Für den schnellen tödlichen Aus¬
gang kommt die klassische Peritonitis mit
ihrem doch meist über zwei oder dre-
Tage sich hinziehenden Verlaufe nach uni
seren Erfahrungen nicht in Frage. Nur
in wenigen Ausnahmefällen bildet sich
schon innerhalb weniger Stunden nach der
Verletzung eine klinisch prägnante exsu¬
dative Peritonitis aus.
Gleiche Beobachtungen haben sicher¬
lich auch Oberst 2 ) veranlaßt, für die
Hälfte seiner frühzeitig eingelieferten
Bauchschußverletzungen den Shock als
Todesursache anzusprechen. Dieser
Shock ist nach Oberst so stark, daß er
jeden operativen Eingriff verbietet. Das
Kriterium für'die Schwere des Shocks
wird für Oberst sicherlich auch das Ver¬
halten des Pulses gewesen sein. Die
Blässe und Kühle der Haut/ auf welche
E r 1 e n m e y e r 3 ) vor allem Wert legt, stehen
keineswegs im Vordergründe. Der Ver¬
wundete sieht häufig recht gut aus, und
1 ) Haenel, Über Bauchschußverletzungen.
Beitrag zur klinischen Chirurgie 1916 Bd. 100.
2 ) Oberst, Beobachtungen und Resultate
bei frühzeitig eingelieferten Bauchschüssen. M.
m. W. 1916, Nr 48.
3 ) Erlenmeyer, Der Shock, seine Bedeu¬
tung und Behandlung im Felde. M. m. W. 1916,
Nr. 27.
33 *
260
Die Therapie der Gegenwart 1917.
dabei ist der Puls schon kurze Zeit nach
der Bauchverletzung nicht mehr zu fühlen.
Auch fehlen fast regelmäßig Bewußtsein¬
störungen, die armen Kameraden gehen
mit einer wundervollen Euphorie bei
klarer Besinnung unter zunehmender
Herzinsuffizienz zugrunde. Auf Verände¬
rungen des Atemrhythmus (Erlenm eyer)
darf man für die Shockdiagnose bei
Bauchverletzungen keinen Wert legen,
die Atmung nimmt bei allen intraperito¬
nealen Verletzungen des Magen-Darm-
Kanales einen oberflächlichen, beschleu¬
nigten und costalen Typus an.
Natürlich wird ein pulsloser, mori¬
bunder Bauchverwundeter ein operatives
Noli me tangere sein, auch wenn wir nicht
im „Shock“ die Kontraindikation der
Operation erblicken. Erwartet man aber
von einem Zuwarten eine Besserung des
schockartigen Zustandes, so werden viele
Stunden bis zur Ausführung der dringend
notwendigen Operation verstreichen. Die
Mehrzahl der Verwundeten kommt selbst
unter den geordneten Verhältnissen des
Stellungskrieges nicht vor Ablauf von drei
bis sechs Stunden in die Hände des Chi¬
rurgen. Bis der Shock der Verwundung
und des Transportes geschwunden ist,
werden leicht die ersten 24 Stunden vor¬
übergehen. Während dieser ersten 24 Stun¬
den hat aber der Tod schon eine gewaltige
Lücke in die Reihen der Bauchschußver¬
wundeten gerissen. Nach unseren eigenen
Erfahrungen haben von 110 Bauchschu߬
verletzten 58 nicht die ersten 24 Stunden
überlebt. Es sind 53% der Bauchver¬
letzten innerhalb des ersten Tages nach
der Verwundung gestorben. Diese Zahl
umfaßt Operierte wie Nichtoperierte des
gesamten Materials, über welche genaue
Aufzeichnungen zur Verfügung stehen.
Wollten wir durch Abwarten vorerst
den Shock vorübergehen lassen, so wür¬
den die kostbarsten Stunden für die Be¬
handlung der Bauchschußverletzungen
verloren gehen. Nur ein bescheidener
Rest würde noch den Termin einer Ope¬
ration erleben, deren Aussichten nach der
Zusammenstellung von Petry 1 ) und
Kraske 2 ) sich mit jeder Stunde Ab¬
wartens verschlechtern. Für die übrig¬
gebliebenen Bauchverletzten würde dann
vielleicht sogar die konservative Therapie
genügen, deren Erfolge ja stets besonders
0 Petry, zitiert nach Wullstein-Wilms, Lehr¬
buch der Chirurgie, 1913.
2 ) Kraske, Über Bauchschüsse. M. m. W.
1915, Nr. 19.
Juli
gute sind, wenn sie mehrere Tage nach
der Verwundung einsetzt. Deshalb ist es
auch verständlich, daß Duschkow-Kes-
siakoff 1 ) mit den Erfolgen der nicht¬
operativen Behandlung bei seinem' Ma¬
teriale recht zufrieden ist, das sich nur
aus Leuten, die schon mehrere Tage vor¬
der Aufnahme in das Lazarett verwundet
waren, zusammensetzte.
Das bedrohliche Krankheitsbild der
Bauchschußverletzten, für welches auch
Oberst den Namen Shock gebraucht*,
hat mit der inneren Verblutung nur ur¬
sächliche Beziehungen gemein. Stets¬
finden sich bei beiden schwerste Ver¬
letzungen der Bauchhöhle; jedoch ist die
Entwickelung des shockähnlichen .Zu¬
standes von einer perforierenden Ver¬
letzung des Magen-Darm-Kanales
abhängig. Nur wenn perforierende Wun¬
den am Vertauungstraktus gefunden wer¬
den, ist das Allgemeinbefinden so schwer
alteriert, daß es dem Shock gleicht.
Naturgemäß bleibt in diesen Fällen
die Bauchhöhle nicht frei von Mikro¬
organismen. Selbst wenn aus den Darm¬
löchern kein Kot in nachweisbarer Menge¬
in die Bauchhöhle gelangen konnte, ist
doch für den massenhaften Durchtritt
von Darmbakterien Gelegenheit gegeben..
Deshalb haben auch Läwen und Hesse 2 )*
bei ihren Untersuchungen der Bauch¬
höhlenflüssigkeit schon wenige Stunden
nach der Verletzung virulente Keime in
der Bauchhöhle nachweisen können, wenn
der Schuß die Darmhöhle eröffnet hatte..
Auch wir 3 ) haben in Untersuchungs¬
reihen, die bereits ein Jahr zurückliegen*
in ähnlichen Versuchsbedingungen das.
gleiche Ergebnis erhalten. Stets fanden
sich in der Bauchhöhlenflüssigkeit bei
Bauchschüssen mit Darmverletzung viru¬
lente Keime vom Typus der Darmflora.
Exogene Keime, die das Geschoß von.
außen in die Bauchhöhle mitgerissen
hätte, kommen bei diesen Frühinfektionen
des Bauchfelles nicht in Betracht.
Ebenso schnell, wie sich diese Darm¬
bakterien in der Bauchhöhle ausbreiten*
gelangen sie auch dank der überaus gün¬
stigen Resorptionsfähigkeit des Bauch¬
felles in die Lymphblutbahn des Kör¬
pers. Es lassen sich bei Bauchschußver-
1 ) Duschkow-Kessiakoff (Sofia), Kriegs*
chirurgische Beobachtungen Militärarzt Nr 23.
2 Läwen und Hesse, Bakterienbefuhde
bei frischen KriegsschufSverletzungen und ihre
klinische Bedeutung. M m. W. 1916, Nr 19.
3 , Gräfenberg, Über die Ursachen der
hohen Sterblichkeit der Bauchschüsse. M. K. 1917*.
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1917.
261
letzungen mit Eröffnung des Darmlumens
nicht nur in der Bauchhöhle, sondern
stets auch gleichzeitig in dem Blute der
Körpervenen die gleichen Bakterien nach-
weisen. Es verursacht die Darmver¬
letzung sofort im Anschlüsse an die lokale
Aussaat der Darmbakterien über das
Bauchfell eine akute Bakterienüber¬
schwemmung des Blutes der Bauchschuß.-
verwundeten. Es wird nicht wunder¬
nehmen, daß eine solche akute Bakte¬
riämie schon bald nach der Verwundung
schwerste allgemeine Erscheinungen
macht, und daß der Verwundete sich be¬
reits in überraschend kurzer Zeit in einem
nicht mehr operationsfähigen Zustande
befindet. 'Dieser schnelle Verfall ist nur
verständlich, wenn es sich um Bauch¬
schußverletzungen handelt, bei denen der
Darm verletzt ist und aus seinen Wunden
die Bakterien auf das schnell aufsaugende
Bauchfell hinaustreten läßt.
Die gleichen Bedingungen liegen auch
fast allen Fällen der Oberstschen Zu¬
sammenstellung zugrunde. Von zehn
Operierten hatten sieben Verletzungen des
Magen-Darm-Kanales, und bei zwölf nicht-
operierten Bauchverletzten konnten bei
der Autopsie zehnmal mehr oder weniger
ausgedehnte Eröffnungen des Magen-
Darm-Kanales nachgewiesen werden. Es
war also auch hier der Ausgangspunkt
für eine Bakterienaussaat in die Bauch¬
höhle und für eine consecutive Bakterien¬
invasion der Blutbahn gegeben.
Es ist deshalb nicht richtig, daß
Oberst in seinen Krankengeschichten als
Todesursache Shock angibt, nachdem
zuvor fast in jedem Falle die Verletzung
des Magen-Darm-Kanales von ihm beob¬
achtet und beschrieben ist. Denn Shock
ist und bleibt immer noch eine Verlegen¬
heitsdiagnose. Man besinnt sich auf ihn
nur, wenn unsere Untersuchungsmethoden
keine faßbare Ursache für das leben¬
bedrohliche Krankheitsbild nachweisen
können. Angesichts solcher negativer
Beweisführung werden Gedankengänge
verständlich, welche im Shock einen
psycho-vasomotorischen Symptomen-
komplex (Erlenmeyer) sehen wollen.
Es dürfte andererseits wohl^niemand, der
jemals einen Blick in die verwüstete
Bauchhöhle eines Bauchschußverwun¬
deten mit Darmverletzung getan hat, den
Spekulationen Erlenmeyers folgen wol¬
len und glauben, daß allein das psychische
Trauma der Verwundung, selbst wenn es
„mit äußerster Rasanz zur Wirkung
kommt“ (Erlenmeyer) den elenden Ein¬
druck eines echten Bauchschußverletzten
hervorrufen kann. Solche theoretischen
Schlüsse sollten nur möglich sein, wenn
alle naturwissenschaftlichen Arbeits¬
methoden ergebnislos geblieben sind. Viele
dieser Methoden müssen allerdings unter
den primitiven Arbeitsmöglichkeiten der
Front und besonders im Osten zurück¬
treten. Aber daß unsere Methodik nicht
völlig geschwunden ist, lehrt ein Blick
über die wissenschaftliche Ausbeute der
Kriegsmedizin, die ganz besonders wertvoll
dann ist, wenn sie Vergleiche mit den Er¬
fahrungen der Friedensmedizin gestattet.
Ein solcher erklärender Vergleich ist
auch für die Shockdiagnose der Bauch¬
schüsse des Krieges von größter Bedeu¬
tung. Es ist verkehrt, den bedrohlichen
Zustand eines Verwundeten nach Bauch¬
schuß mit dem Shock in Parallele setzen
zu wollen, nur weil beide mit vasomotori¬
schen Störungen einhergehen können. Das
Krankheitsbild nach einer Bauchschu߬
wunde wird richtiger mit dem klinischen
Bilde anderer akuter Bakteriämien
verglichen, für deren unheilvollen und
rapiden Verlauf auch sonst allein bakte¬
riologische und pathologisch-anatomische
Erklärungen maßgebend sind.
Es gibt bei Bauchschüssen mit Er¬
öffnung des Verdauungskanals kei¬
nen akuten Shock mit psychovaso-
motorischem Symptomenkomplex. Alle
bedrohlichen Allgemeinerscheinungen sind
in diesen Fällen die Folge einer akuten
Bakteriämie durch Darmbakterien,
welche aus den Darmwunden in die Peri¬
tonealhöhle geschwemmt sind und von
hier aus in die Blutbahn gelangen. Wir
sind deshalb nicht berechtigt, in der
fälschlichen Annahme eines Shockzu-
standes die' lebensdringliche Operation
eines Bauchschußverletzten hinauszu¬
schieben. Gerade die Erkenntnis, daß es
fürMagen-Darm-Schüsse keinen „Shock“
gibt, wird uns veranlassen, schnellstens
jeden Verwundeten mit echtem Bauch¬
schüsse zu operieren, um durch die Ope¬
ration vielleicht noch ein Leben zu retten,
das sonst ganz sicherlich verloren ist.
262
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Juli
Zusammenfassende Übersicht.
Die Behandlung der Rachitis.
Von Ernst Schloß-Zehlendorf-Berlin (zurzeit im Felde).
II. Die praktische Durchführung der
Behandlung.
Nachdem wir im vorstehenden sowohl
die Grundlagen der Rachitistherapie als
auch das uns zur Verfügung stehende
therapeutische Rüstzeug kennengelernt
haben, läßt sich die eigentliche Praxis
der Rachitisbehandlung relativ leicht dar¬
stellen.
A. Allgemeine Gesichtspunkte.
1. Der Beginn der Behandlung.
Darüber kann gar kein Zweifel sein,
daß die Behandlung der Rachitis späte¬
stens dann einzusetzen hat, wenn die
ersten klinischen Zeichen der Erkrankung
manifest werden. Leider besteht aber dar¬
über fast völlige Unkenntnis; die Be¬
handlung wird fast stets erst mehrere
Monate nach Beginn eingeleitet, wenn also
der Prozeß schon ziemlich weit vorge¬
schritten ist, und die Aussichten des thera¬
peutischen Erfolges entsprechend schlech¬
ter geworden sind. Die Schuld daran
-liegt — das muß offen zugestanden wer¬
den — vorwiegend an der üblichen klini¬
schen Lehre, die den Beginn der Erkran¬
kung meist erst ins zweite Lebenshalb¬
jahr setzt, während in der überwie¬
genden Mehrzahl der Fälle eine
deutliche klinische Manifestation
schon im' ersten Lebenshalbjahre,
ja schon im ersten Quartal erfolgt.
Dies ist eine Tatsache, die von allen For¬
schern, die sich mit der Klinik der Säug¬
lingsrachitis speziell beschäftigt haben,
immer wieder bestätigt wurde und von
der sich jeder Arzt leicht überzeugen
kann; sie ist auch durch anatomische und
chemische Untersuchungen absolut sicher¬
gestellt.
Wegen der Wichtigkeit dieser Tat¬
sache für die Prophylaxe und Therapie
müssen wir ganz kurz auf die Sympto¬
matologie der beginnenden Rachi¬
tis eingehen. Es sind nicht, wie es fast
in allen Lehrbüchern dargestellt wird,
Symptome allgemeiner Natur (Blässe,
Turgorverlust, Unruhe, Verstimmung,
Kopfschweiße, Verdauungsstörungen und
dergleichen), die die Erkrankung einleiten,
sondern wir haben unzweifelhaft das Bild
einer primären Skeletterkrankung vor
uns, wobei außer der gleich zu beschrei¬
benden lokal nachweisbaren Knochen¬
erweichung mit unseren derzeitigen klini¬
schen Beobachtungsmitteln keinerlei Ab¬
weichungen von den Verhältnissen des
gesunden Kindes nachzuweisen sind. Es
vergehen Tage und Wochen, ehe zu diesen
lokalen Skelettsymptomen die ersten all¬
gemeinen Erscheinungen hinzutreten.
Lokalisation und Erscheinungs¬
weise dieser beginnenden Knochenaf¬
fektion sind so typisch, daß sie ohne
Schwierigkeit von jedem Arzte diagnosti¬
ziert werden kann. Es ist die von Elsäs¬
ser entdeckte, bei horizontaler Lage des
Kindes tiefstgelegene Stelle des Schädels,
das heißt die Umgebung der kleinen Fon¬
tanelle und der Lambdanaht, an der sich
der rachitische Prozeß in Form einer
circumscripten Knochenerweichung zu¬
erst ausprägt. Diese supraoccipitale
Erweichungszone ist das zuverlässigste,
einzig konstant wiederkehrende Früh¬
symptom beginnender Rachitis (Wie¬
land). Anfangend meist mit einer ein¬
seitigen Nachgiebigkeit einer umschrie¬
benen Stelle d,er Lambdanaht, entwickelt
sich die Erweichung in steter Progression
oft bis zu den höchsten Graden.
So typisch im allgemeinen dieses Symptom
ist, so kann es doch besonders vom Anfänger mit
einer anderen, in der Säuglingszeit noch
häufig vorhandenen Erscheinung verwechselt
werden, der nichtrachitischen angeborenen
Schädelweichheit. Wieland hat den anato¬
mischen Unterschied der beiden in Betracht kom¬
menden Knochenprozesse aufgezeigt und auf die
klinische Differentialdiagnose, die eine Verwechse¬
lung beider Prozesse sehr erschwert, hingewiesen.
Es erscheint mir nicht zweckmäßig, den Praktiker
mit diesen doch immerhin recht subtilen Unter¬
scheidungsmerkmalen zu behelligen. Es genügt
das eine sichere Merkmal für Rachitis, das ist die
steteProgression, während die nichtrachitische
Erweichung die Tendenz zur schnellen Rück¬
bildung zeigt. Im Zweifelsfalle wird man also mit
der festen Diagnose und Therapie noch einige Zeit
abwarten bis über diese Frage der Progression
Klarheit geschaffen ist; da aber die antirachitische
Behandlung auf alle Fälle wertvoll ist, kann man
auch gleich damit beginnen. Meist wird aber
irgendein Zweifel an der Natur der Erkrankung
schon auf Grund der Lokalisation des Prozesses
nicht möglich sein.
Auf drei praktisch wichtige Besonder¬
heiten aus dem klinischen Bilde der Cra-
niotäbes sei noch hingewiesen. Das ist
einmal die Abhängigkeit der Lokali¬
sation der Erweichung von der ge¬
wöhnlichen Lage des Schädels; bei
rechter Seitenlage entsteht die Craniotabes
vorwiegend rechts, bei linker links, bei
Rückenlage in der Mitte des Hinterkopfes.
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1917.
263
Auf die praktischen Konsequenzen dieser
Tatsache wird noch zurückzukommen sein.
Das zweite ist die Feststellung, daß die
Craniotabes in weitaus der Mehrzahl der
Fälle früher oder später von selbst ver¬
schwindet, der Schädel wieder hart wird.
Aus dieser Tatsache darf ja nicht der
Schluß gezogen werden, daß nun eine Be¬
handlung überflüssig ist. Die Behand¬
lung richtet sich, wie hier aufs schärfste
betont werden soll, nicht gegen die Cranio¬
tabes als solche, sondern gegen die stets
schon beim ersten Nachweis der Kno¬
chenerweichung vorhandene allgemeine
rachitische Skeletterkrankung bezie¬
hungsweise allgemeine rachitische Dys-
krasie. Es ist kaum jemals darauf zu
rechnen, daß nach Rückgang der Schädel¬
erweichung die Rachitis schon erledigt
ist, sondern stets treten meist schon lange
vor völliger Konsolidierung des Schädels
anderweitige lokale und allgemeine 1 Sym¬
ptome der Erkrankung auf. Darauf hat
besonders Wieland wieder nachdrück¬
lich^ hingewiesen.
Die dritte Tatsache, auf die wir hier
noch aufmerksam machen wollen, ist die,
daß durchaus nicht in allen- Fällen die
Craniotabes wirklich auch das erste Ra¬
chitissymptom sein muß. Wenn die Er¬
krankung erst in späteren Monaten ein¬
setzt, tritt keine Craniotabes mehr ein.
Das ist neuerdings, wieder durch um¬
fassende, noch nicht veröffentlichte Unter¬
suchungen von Amalie Peiser festge¬
stellt. Man wird deshalb nicht — es ist
wohl überflüssig, das noch besonders zu
betonen — auf das Erscheinen der Cranio¬
tabes warten, um die Diagnose Rachitis
zu stellen und dementsprechend zu be¬
handeln.
Die anderen sicheren Symptome der
Rachitis (prominenter, Rosenkranz, Epi¬
physenauftreibungen, Verkrümmungen
der Extremitäten usw.) bedürfen keiner
weiteren Besprechnung; es sei nur darauf
hingewiesen, daß auch hier nur wirklich
ausgeprägte Erscheinungen zu verwerten
sind und man nicht auf die noch innerhalb
der physiologischen Grenzen gelegenen
leichten Verdickungen und Verkrüm¬
mungen zu viel Gewicht, legen darf.
Allerdings ist viel eher das Übersehen von
rachitischen Erscheinungen zu befürch¬
ten, als eine fälschliche Rachitisdiagnose.
Wir hatten also oben gesagt, daß die
Behandlung der Rachitis spätestens
dann zu beginnen hat, wenn die ersten
klinischen Zeichen der Erkrankung nach¬
zuweisen sind. Das deutete darauf hin.
daß wir in gewissen Fällen noch früher
mit der Behandlung einzusetzen haben,
also eine richtige prophylaktische Therapie
treiben müssen. Es betrifft dies die Kin¬
der, bei denen mit größter Wahrschein-
keit mit dem Ausbruch der Rachitis zu '
rechnen ist, also in erster Linie Früh-,
gebürten,dannZwillingskinder,und schlie߬
lich noch Säuglinge, bei denen eine familiäre
Disposition zu Rachitis anzunehmen ist.
In all diesen Fällen wird man gut tun,
nicht erst den Ausbruch der Erkrankung
abzuwarten, sondern schon .vorher die
notwendigen Schritte einzuleiten, um die
Manifestation' zu verhüten oder in ge¬
wissen Grenzen zu halten.
2. Die Dauer der Behandlung.
■ Im allgemeinen hat man sich bisher
damit begnügt, bei den Kindern mit mani¬
fester Rachitis für eine bestimmte Zeit
zwei bis drei Monate eine Kur (meist die
Phosphor-Lebertrankur nach Kassowitz)
Zeit anzuordnen und diese bei ungenü¬
gendem Erfolge noch einmal zu wieder¬
holen. Es kann aber bei der ganzen Natur
der englischen Krankheit, wie sie sich uns
heute darbietet, darüber gar kein Zweifel
bestehen, daß hier nur eine Dauerbe¬
handlung am Platze ist und zwar nicht
nur solange, bis die klinischen Erschei¬
nungen zurückgegangen sind, die den An¬
laß zur Behandlung gegeben haben, son¬
dern bis zu dem Zeitpunkte, an dem im
allgemeinen mit dem tatsächlichen Ende
der Krankheit zu rechnen ist, das heißt
bis zum Ende des dritten Lebensjahres.
Nun soll damit nicht etwa gesagt werden,
daß etwa diese ganze Zeit hindurch z. B.
Lebertran oder sonstige Medikamente ge¬
geben werden sollen, sondern der Arzt
soll ein Kind, das einmal rachitische Er¬
scheinungen gehabt hat, bis zum voll¬
endeten dritten Lebensjahre unter den
Augen behalten und, abgesehen von allen
im Einzelfalle angezeigten speziellen Ma߬
nahmen, die ganze Ernährung und Pflege
des Kindes mit Rücksicht äuf diese Tat¬
sache einrichten.
3. Die soziale Prophylaxe.
Die erste Aufgabe der . Rachitispro¬
phylaxe ist die dauernde Überwachung
der Entwicklung. Es kann und muß
als eine selbstverständliche Forderung für
die Zukunft aufgestellt werden, daß alle
gefährdeten Säuglinge, besonders in den
Städten, in der ersten Entwicklungszeit,
ab und zu, mindestens jedes Quartal ein-
264
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Juli
mal, einem Arzt vorgestellt werden, der
in der Beurteilung der kindlichen Ent¬
wicklung erfahren ist. Man wird in einer
späteren Zeit vermutlich das Übersehen
und Unbehandeltlassen einer floriden
Rachitis beim Arzt ebenso als Kunst¬
fehler auffassen, wie das Übersehen einer
sonstigen Erkrankung (Carcinom oder .
Syphilis oder dergleichen). Und die Un¬
fähigkeit, den rachitischen Prozeß in
Schranken zu halten, das Nichtver-
hütenkönnen schwerer Verkrümmungen
und sonstiger Deformitäten wird man auf
gleiche Stufe stellen mit der Unfähigkeit,
eine einfache Fraktur gerade einzurichten
oder eine einfache Luxation einzu¬
renken.
Vorläufig sind wir allerdings noch
nicht so weit und es entstehen noch all¬
jährlich viele Tausende von Verkrüppe¬
lungen, die mit den einfachsten Mitteln
leicht zu verhüten gewesen wären, wenn
die Kinder dem Arzte vorgestellt worden
wären. Auf den ungeheueren Schaden,
den die Rachitis unserem Volkstume in
noch ganz unvermindertem, ich möchte
fast behaupten, in zunehmendem Maße
zufügt, ist schon oft, aber meines Erach¬
tens noch nicht energisch genug hinge¬
wiesen worden. Es besteht keine Frage,
daß dieser Schaden bei der ungeheueren
Verbreitung weit größer ist, als der von
allen anderen Erkrankungen zusammen¬
genommen. Vielleicht wird die Erkennt¬
nis, daß die Rachitis mit der schlimmste
Feind unserer Wehrfähigkeit ist, Veran¬
lassung sein, die dieser Erkrankung gegen¬
über noch eingenommene Gleichgültig¬
keit der maßgebenden Kreise etwas auf¬
zurütteln.
Die dauernde Überwachung der Kin¬
der hat natürlich vor allem den Zweck,
dafür zu sorgen, daß bei den Erkrankten
rechtzeitig die notwendigen Gegenma߬
regeln getroffen werden können; sie hat
aber auch noch den Vorteil, ganz allge¬
mein für zweckmäßige Ernährung und
Pflege, besonders aber für die hier so
wichtige Freiluftbehandlung der gesam¬
ten unter Überwachung stehenden Kinder
zu sorgen, wie es ja zum Teil, wenigstens
was die Ernährung angeht, schon jetzt
durch die Säuglingsfürsorgestellen an ein¬
zelnen Orten geleistet wird. Es liegt nicht
in der Absicht dieser Arbeit, die weiteren
Möglichkeiten der sozialen Rachitispro¬
phylaxe aufzuzeigen. Es sollte hier nur
einmal auf diese Aufgabe, deren Dringlich¬
keit durchaus nicht in ihrem vollen Um¬
fange erkannt ist, hingewiesen werden.
4. Die individuelle Prophylaxe und
Therapie.
Wir haben oben schon auf bestimmte
Klassen von Kindern hingewiesen, bei
denen die wahrscheinlich erhöhte Dis¬
position zur Rachitis schon eine prophy¬
laktische Behandlung verlangt, wenn noch
kein Symptom der Erkrankung vorhanden
ist. Ein vorsichtiger Arzt tut aber gut,
bei jedem Neugeborenen die große Wahr¬
scheinlichkeit (90—95 %) der späteren
rachitischen Erkrankung zu bedenken
und dementsprechend, wenn er die Mög¬
lichkeit dazu hat, die Ernährung und die
Pflege des Kindes entsprechend einzu¬
richten.
a) Die hygienisch-diätetische Pro¬
phylaxe und Therapie.
Die Ernährung und ebenso die Pflege
eines rachitisverdächtigen Kindes haben
nun kein irgendwie besonderes Gepräge,
sondern sie sind in der Hauptsache die¬
selben, wie die moderneren Lehren sie
auch für ein gesundes Kind fordern, viel¬
leicht nur um ein gewisses Maß noch vor¬
sichtiger. Das sicherste Prophylaktikum
gegen schwere Formen der Rachitis ist
die natürliche Ernährung, doch for¬
dert sie gerade bei Verdacht auf erhöhte
rachitische Disposition eine stärkere Kon¬
trolle, besonders nach der quantitativen
Seite hin, als es sonst notwendig ist. Man
wird besonders die starken Gewichtszu¬
nahmen zu vermeiden suchen, und daher
die Zahl der Mahlzeiten und die Trink¬
zeit nötigenfalls einschränken.
Weit größere Schwierigkeiten bietet
auch hier die richtige Durchführung der
künstlichen Ernährung. Es gibt
bisher keine Nahrung, die man als
Heilnahrung gegen Rachitis be-
zeichen kann — höchstens könnte man
eine Kuhmilch, in der das Milchfett durch
Lebertran ersetzt ist (ein etwas abenteuer¬
licher . Gedanke, der aber von ameri¬
kanischen Pädiatern in praxi umgesetzt
wurde) als solche ansehen. Aber es be¬
stehen zweifellos, wie schon im ersten
Teil auseinandergeset 2 ;t, große Unter¬
schiede in der rachitogenen Natur ver¬
schiedener Nahrungen, an deren eines
Ende man die Malzsuppe, an deren an¬
deres die Vollmilch setzen wird.
Aber gerade bei der Rachitis wird man
womöglich von einer festen Nahrungs¬
mischung ganz absehen und die Zu¬
sammensetzung jeweils dem gesamten
Entwicklungsgänge und besonders auch
der Art der Verdauungsvorgänge anzu-
Die Therapie der Gegenwart 1917-
265
Juli
passen suchen. Besonderswichtigistnatür¬
lich auch hier die Bemessung der Nah¬
rungsmenge. Die Ernährung darf bei
ausreichender Deckung dts notwendigen
Stoff- und Kraftbedarfes für Erhaltung
und Wachstum vor allem keine zu
großen Überschüsse enthalten. Wenn
irgendwie, so ist hier das Prinzip der
Minimalernährung nach Biedert am
Platze. In zweite Linie setzen wir die
Herbeiführung normaler Verdauungsvor¬
gänge. Durch welche Art der Ernährung
man dies erreicht, ob mit einer mit Fett
oder Kohlehydrat angereicherten Milch¬
verdünnung, ist bisher Sache des Gefühls;
sichere Tatsachen für den Vorteil des
einen oder anderen Regimes liegen bisher
noch nicht vor. Dagegen wird man mit
der Eiweißanreicherung auf Grund der
früheren Ausführungen vorsichtig sein,
einmal wegen der Gefahr der Kalkent¬
ziehung, dann wegen des dadurch ermög¬
lichten zu schnellen Massenansatzes. Aus
diesem letzteren Grunde wird man aber
auch alle molkenreichen Gemische, z. B.
die Buttermilch, ausschalten, die ja auch
wegen ihres hohen Eiweißgehaltes und
ihrer obstipierenden Wirkung für die Er¬
nährung des Rachitikers nicht recht in
Betracht kommt.
Weiterhin wird man aus den oben an¬
geführten Gründen eine zu starke Ver¬
dünnung, also eine zu reichliche Wasser¬
beigabe, vermeiden. Auf alle Fälle hat
man die Obstipation zu verhindern, deren
schädlichen Einflusses auch schon oben
gedacht ist. Man erreicht eine normale
Entleerung am besten durch Zugabe von
Malzsuppenextrakt oder Gemüse und Obst.
Ebenso wie die Obstipation wird man aber
auch eine zu starke Darmgärung zu ver¬
hindern suchen, vor allem schon wegen
des Meteorismus, der ja bei den muskulo-
dystrophischen Rachitikern leicht große
Dimensionen annimmt und so zu dem
typischen Bilde des rachitischen Frosch¬
bauches führt.
Wenn auch, wie gesagt, die Ernährung
eines rachitischen oder rachitisverdäch¬
tigen Kindes möglichst individuell in An¬
lehnung an die eben dargelegten allge¬
meinen Gesichtspunkte geschehen soll, so
ist es doch möglich, einige speziellere An¬
weisungen dafür zu geben. Die erste
und wichtigste Forderung ist die, die
Konzentration der Kuhmilchverdünnung
im ganzen ersten Lebensjahre nie über
Halbmilch zu steigern. Damit erreicht
man schon sofort die von den meisten
Sachverständigen geforderte Einschrän¬
kung der Milchzufuhr. Die zweite Regel,
die ja für alle Säuglinge gilt, ist die, das
Gesamtnahrungsvolum im ersten . Jahre
nicht über 1 kg zu erhöhen. Durch diese
beiden Regeln wird das Maximum der
Milchzufuhr im ganzen ersten Lebens¬
jahre auf einen halben Liter festgesetzt,
doch wird dieses Maximum eigentlich
kaum je erreicht, da in den ersten vier
bis sechs Lebensmonaten die genossene
Flüssigkeitsmenge unter einem Liter blei¬
ben soll und in den späteren Monaten
durch die Beigabe von Suppe, Gemüse
und Obst die Milchzufuhr an sich schon
abnimmt. Mit dieser gemischten Kost
wird man besonders bei manifester Ra¬
chitis möglichst früh beginnen; auch bei
Brustkindern. Ich lasse bei diesen ge¬
wöhnlich schon anfangs des fünften Mo¬
nats den Versuch machen, etwas Gemüse¬
suppe zu geben (es braucht durchaus
keine Fleischbrühe oder gar Brühe von
Kalbsknochen zu sein; es genügt das ein¬
fache Gemüsekochwasser mit etwas Salz,
vielleicht auch mit einem Zusatze von
Saccharin), und die Menge und Konzen¬
tration langsam steigern, bis schließlich
diese ursprüngliche Beigabe zu einer Brust¬
mahlzeit eine selbständige Mahlzeit wird.
Durch den Zusatz von Grieß oder später
von Kartoffeln wird diese Mahlzeit bei
schlecht zunehmenden Kindern gehalt¬
reicher und nahrhafter; bei den zum
stärkeren Ansatz neigenden Kindern
wird man bei der reinen Gemüsekost
bleiben. Erst wenn die Kinder, was ge¬
wöhnlich Mitte bis Ende des sechsten
Lebensmonats zu geschehen pflegt, die
Gemüsemahlzeit gern nehmen, wird eine
Breimahlzeit eingeführt. Man kann zu
diesem Brei jedes Mehl nehmen; am
angenehmsten ist natürlich Maismehl,
dann feinster Grieß. Wichtig ist es aber,
die Menge nicht zu sehr zu steigern (nicht
über 200 g alles in allem); auch hier wird
halb Milch, halb Wasser genommen. Bei
, den drei Brust- und den zwei festen Mahl¬
zeiten kann man nun beliebig lange blei¬
ben; es liegt keine Veranlassung vor, vor
dem Ende des ersten Jahres abzustillen.
Beim künstlich genährten Kinde
braucht man nicht so früh mit Gemüse
zu beginnen, weil wir bei ihm noch andere
Möglichkeiten der qualitativen Nahrungs¬
änderung haben. Immerhin ist es gut,
auch hier schon im sechsten Monate den
Versuch der Gemüsebeigabe zu machen.
Die Breimahlzeit folgt dann im siebenten
34
266
Die Therapie der Gegenwart 1917.
JhH 1
bis achten Monate. Hier wird man aber
schon vorher versuchen, etwas rohes
Obst, zunächst in Form von Saft, dann
in Form eines geriebenen Apfels oder
zerdrückten Birne zu geben. Man be¬
ginnt auch hier mit kleinen Quantitäten
(Teelöffel) und steigt zu ein bis zwei E߬
löffel an.
Ab zehnten Monat wird man auf alle
Fälle versuchen, mit zwei Flaschen aus¬
zukommen und wird nun entweder nur
noch Brei und Gemüse, also im ganzen
vier Mahlzeiten, oder noch eine dritte feste
Mahlzeit in Form eines Zwieback-Obst-
Breies als Frühstück geben.
Die Kost eines zehnmonatigen rachi¬
tischen Kindes wäre also die folgende:
1. Eine Flasche y 2 Milch, y 2 Mehl¬
abkochung mit Zucker (3—5% Mehl,
5—10% Zucker) 200 g.
(2. Obstbrei oder Keks mit geschabtem
Obst 50—100 g).
3. Gemüse mit Kartoffelbrei (nach der
Zunahmegeschwindigkeit in wechselndem
Verhältnis), dazu eventuell noch etwas
Kompott 200 g.
4. 'Flasche wie bei 1: 200 g.
5. Brei aus y 2 Milch mit Kompott
200 g.
Diese Ernährung bleibt bis nach voll¬
endetem ersten Lebensjahre. Dann wird
die Flasche durch die Tasse ersetzt. Statt
der Mehlabkochung wird man, was auch
schon in den früheren Monaten geschehen
kann, eingeweichten Zwieback oder Sem¬
mel geben, eventuell auch eine Butter¬
oder Marmeladenschnitte, desgleichen wird
man auch zum Frühstück etwas zum
Kauen in die Hand geben; nachmittags
erhält das Kind einen kleinen Becher
Milch (100 g) mit Keks. Im übrigen bleibt
die Ernährung noch die gleiche und wird
dann ganz allmählich immer abwechse¬
lungsreicher. Die Milchmenge, die ja in
diesen Monaten bis auf 300 g herunter¬
gegangen war, kann wieder etwas zu¬
nehmen, sofern der Zustand des Kindes
es erlaubt, wird aber die Menge eines
halben Liters nie übersteigen. Fleisch in
Püreeform kann schon am Ende des
ersten Lebensjahres gegeben werden desgl.
Eier in mäßigen Quantitäten (zwei- bis
dreimal in der Woche). 1 )
L ) Czerny-Keller geben als die Kost eines
Kindes mit schwerer florider Rachitis im Alter
von fünf Vierteljahren und darüber hinaus fol¬
gendes:
1. Mahlzeit: Milch mit Zwieback.
2. Mahlzeit: Suppe mit Einlage, wie Grieß,
Reis, Sago, Erbsenmehl, Haferflocken usw. Da¬
nach Fleisch mit Gemüse oder Kartoffeln.
Man sieht, diese Ernährungsvorschrif-
tensind eigentlich ähnlich denen, wiesie die
moderne Paediatrie auch für ein gesundes
Kind aufstellt, und es hätte sich erübrigt,
so ausführlich darauf einzugehen, wenn
diese Ernährungsvorschriften auch nur
Allgemeingut des Kinderarztes, geschweige
des praktischen Arztes geworden wären.
Neben der Ernährung ist es besonders
die Pflege, die die wichtigste Rolle in
der allgemeinen Prophylaxe und Therapie
der Rachitis spielt. Ja, dieser Faktor
wird von einzelnen Autoren (Pfaundler,
Feer z. B.) über die Ernährung gestellt.
Aber auch hier sind es nur die allgemein
hygienischen Maßnahmen, Sorge für
zweckmäßige Bekleidung, Licht, Luft,
Bewegung usw., die nur in besonders
sorgfältiger Weise bei den zu Rachitis
disponierten oder daran erkrankten Kin¬
dern durchgeführt werden sollen 1 ). Spe¬
ziell für die Rachitis zu empfehlende
Pflegemaßnahmen gibt es bisher noch
nicht — über einzelne für die spezielle Be¬
handlung angezeigten Maßnahmen wird
noch später zu sprechen sein — und so
können wir uns mit dem Hinweise auf die
zahlreichen guten Kinderpflegebücher be¬
gnügen.
b) Die medikamentöse Prophylaxe
und Therapie.
Es kann kein Zweifel darüber bestehen,
daß es in einer großen Anzahl von Fällen
durch sachgemäße Durchführung der ge¬
schilderten diätetisch-hygienischen Ma߬
nahmen gelingt, das Auftreten rachitischer
Erscheinungen zu verhüten oder die
Manifestationen in engen Grenzen zu
halten. Ebenso richtig ist es aber, daß
auch in diesen Fällen die medikamentöse
Therapie unsere Aufgabe sehr erleichtert,
indem sie auch, durch besondere Um¬
stände (großer Appetit des Kindes, schwie¬
rige Eltern und dergleichen) bedingte Ab¬
weichungen von den oben aufgestellten
Grundsätzen gestattet, daß ferner der Er¬
folg auch in diesen Fällen ein viel sicherer
ist. Vor allem aber gibt es eine außer¬
ordentlich große Zahl von Kindern, be^
sonders die zu Frührachitis neigenden
3 Mahlzeit: Rohes geschabtes Obst mit Bis-
cuit (ohne Zuckerzusatz). 4 Mahlzeit: Fleisch
mit Kartoffelpüree oder, falls die Kinder bereits
genügend Zähne haben, mit Butterbrot:
x ) Vor allem ist es der möglichst lang ausge¬
dehnte Aufenthalt in frischer Luft — es braucht
durchaus kein Kurort zu sein, sondern es genügen
schon im Notfälle einfache Spielplätze, Höfe
und Balkons mitten in der Stadt — der anzu¬
streben ist.
Juli
267
Die Therapie der Gegenwart 1917.
(s. o.), bei denen trotz dieser allgemeinen
Maßnahmen, die ja auch zum Teil wegen
der Jugend des Kindes nicht durchführbar
sind, die Rachitis schnelle Fortschritte
macht und erst durch Einführung der
medikamentösen Therapie 'aufgehalten
wird. Schließlich sind alle schweren Fälle
von Rachitis ohne energische medikamen¬
töse Behandlung überhaupt kaum zu be¬
einflussen.
Im ersten Teile dieser Studie ist die
Art dieser medikamentösen Behandlung
und ihre experimentelle Grundlage be¬
sprochen worden. Es handelt sich jetzt
darum, die praktische Durchführung dieser
Therapie im einzelnen zu zeigen.
Wir haben drei verschiedene Arten
Behandlung: die reine Lebertran-, die
reine Kalk- und die kombinierte Leber-
tran-Kalk-Therapie. Jede Art dieser Be¬
handlungsmethoden hat ihr spezielles
Indikationgebiet, wenn auch die reine und
besonders die kombinierte Lebertranbe¬
handlung für fast alle Fälle paßt.
Weitaus das größte Anwendungsgebiet
hat die einfache Lehertrantherapie.
Für die meisten Fälle von Rachitis bei
künstlicher Ernährung genügt die Verab¬
folgung dieses einfachen Medikamentes,
das man womöglich als solches gibt, nicht
in Form der üblichen Emulsionen, die
zumeist einen niedrigen Lebertrangehalt
haben (die viel gebrauchte amerikanische
Scotts Emulsion hat bei einer Zusammen¬
setzung aus z. T. überflüssigen, z. T.
in der verabfolgten Menge nicht ganz
harmlosen Substanzen einen Lebertran¬
gehalt von nur 30 bis 40%).
Die reine Kalktherapie ist ange¬
zeigt vor allem beim Brustkinde, dann
aber auch in den späteren Stadien bei
abheilender Erkrankung.
Die kombinierte Kalk-Leber-
tran-Therapie kann in allen Fällen An¬
wendung finden; sie ist besonders emp¬
fehlenswert bei Brustkindern, wo sie doch
der reinen Kalktherapie überlegen ist,
aber auch bei künstlich genährten Kin¬
dern, besonders bei denen, die nach un¬
serer obigen Vorschrift milcharme, das
heißt also auch kalk- und phosphorsäure¬
arme Kost erhalten. ■
Als Kalkpräparate kommen nach
unseren früheren Auseinandersetzungen
nur die zugleich auch phosphorsäurehal¬
tigen in Betracht, also entweder die Cal¬
ciumphosphate, besonders das tertiäre,
oder die Kalkeiweißpräparate des Caseins
(Plasmon, Nutrose, Larcosan, Tricalcol).
Von diesen ist das Tricalcol das kalkreich¬
ste und steht dem Tricalciumphosphat am
nächsten, hat sich auch im Stoffwechsel¬
versuche gut bewährt. Die neuerdings
empfohlenen komplizierten Kalkpräparate
können in bezug auf Resorption und Re¬
tention auch nicht mehr leisten als das
einfache neutrale anorganische Salz.
Man wird die organischen Präparate
dann wählen, wenn man dem Körper
noch etwas Eiweiß zuführen will, oder
auch bei Neigung zu Durchfällen. Sie
sind außerdem gut löslich oder wenigstens
gut in Flüssigkeiten suspendierbar. Das
anorganische Sa z hat den Nachteil, in
Wasser und Ölen unlöslich zu sein, ist
aber geschmack- und geruchlos. Am
besten läßt es sich im Lebertran selbst
fein verteilt, zur Aufnahme bringen; von'
älteren Kindern wird es, in einer Menge
von 1 bis 2 g pro Tag im Brei oder im
Gemüse verteilt, leicht genommen. Für
die allgemeine Anwendung kommt dieses
Salz schon wegen seines billigen Preises
allein in Betracht.
In der Kombination von Lebertran
mit dem tertiären phosphorsauren Kalk
haben wir meines Erachtens heute das
wirksamste Medikament in der Behand¬
lung der Rachitis zu erblicken. Mit dieser
Mischung sind von uns viele Hunderte von
Kindern im Laufe mehrerer Jahre in
Klinik und Privathaus erfolgreich be¬
handelt worden.
Die Rezeptur ist die einer Schüttelmix¬
tur. Man verschreibt also folgendermaßen:
Calcii phosphoric. tribasic .
puriss . 20,0
OL jecor. Aselli .... 200,0
M. exactissim. terend.
D. S. Zweimal täglich 5 g zu geben.
Vor dem Gebrauch gut umschütteln.
Das Calciumphosphat verteilt sich im
Lebertran zu einer feinen, leicht auf-
schüttelbaren Suspension, falls das Prä¬
parat gut trocken und auch der Lebertran
und die Medizinflasche wasserfrei sind.
Es empfiehlt sich, wenn man diese Leber¬
tranmixtur neu einführen will, mit dem
Apotheker vorher Rücksprache zu nehmen
und ihm die Besorgung eines einwand¬
freien Präparates und die sorgfältige Her¬
stellung sehr ans Herz zu legen. Man
macht sonst sehr unangenehme Erfah¬
rungen, daß z. B. die Mutter die Medizin¬
flasche vorzeigt, in der sich der Kalk in
Form eines harten, absolut nicht auf rüttel¬
baren Mörtels am Boden abgesetzt hat.
(Der Schlußartikel über die spezielle Therapie
und ihre Erfolge folgt im nächsten Heft)
34*
268
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Juli
Bücherbesprechungen.
A. Borchard u. V. Schmieden, Lehrbuch
der Kriegschirurgie. Leipzig 1917.
Joh. Ambr. Barth. Mit 429 Abbildun¬
gen im Text und auf 5 Tafeln. XVI und
988 S. Preis 32 M.
Borchard und Schmieden haben
im Verein mit einer größeren Zahl der
hervorragendsten Chirurgen es unter¬
nommen, dem Fachchirurgen und dem
zurzeit in der Kriegschirurgie tätigen
Arzt ein umfassendes Lehrbuch an die
Hand zu geben, welches ihm jederzeit
Aufschluß gibt über den modernsten-
Standpunkt, den die Chirurgie in den ein¬
schlägigen Fragen einnimmt. Wie in der
Vorrede betont wird, hält sich das Buch
frei von jeder Polemik und gibt nur solche
Tatsachen wieder, die heute durch zahl¬
reiche Erfahrungen bestätigt sind. Die
Einteilung des Werkes erfolgt in einen
allgemeinen und einen speziellen Teil. In
dem ersten erfahren wir verschiedenes
über die allgemeine chirurgische Technik
des Krieges (Härtel). Ferner wird über
die Geschoßwirkungen, die Wundinfek¬
tionskrankheiten, die Amputationslehre
und die Unterbindungen, sowie über
Nervenchirurgie, Nachbehandlung u.
a. das wichtigste gesagt. Der spezielle
Teil bringt zuerst das Kapitel „Hirn¬
schädel“ (Axhausen und Kramer).
Gerade dieser Abschnitt, in dem es zu
einer glücklichen Zusammenarbeit zwi¬
schen den Neurologen und Chirurgen
gekommen ist, muß als besonders gut
gelungen bezeichnet werden. Es folgen
weitere Kapitel über die einzelnen Regio¬
nen, von denen vor allem die Bauchver¬
letzungen, über die Schmieden berich¬
tet, in erster Linie Beachtung verdienen.
War doch Schmieden der erste, der
konsequent im Gegensätze zu den alten
Anschauungen die Frühoperation des
Bauchschusses empfohlen und durch¬
geführt hat. Seine Erfahrungen sind da¬
her besonders zahlreich und ausschlag¬
gebend für den jetzt ziemlich allgemein
anerkannten Standpunkt. Die beigege¬
benen Abbildungen dienen in guter Weise
zur Veranschaulichung des Textes. Sie
würden, wie Referent glaubt, noch besser
zum Ausdruck kommen* wenn das Pa¬
pier, dessen Beschaffenheit wohl den
Kriegsverhältnissen zuzuschreiben ist, der
sonst so ausgezeichneten Ausstattung
auch noch Rechnung trüge.
Hay ward.
Misch und Rumpel in Verbindung mit
A. Gutmann, J. Joseph und G.
Lennhoff. Die Kriegsverletzungen
der Kiefer und der angrenzenden Teile.
Herausgegeben von Dr. Julius Misch,
Berlin 1916, Verlag von Hermann
Meußer. Mit 668 Abbildungen und
drei Tafeln.
Die große Zahl der Kiefer- und
Gesichtsverletzungen dieses Krieges, wel¬
che durch die Zahnärzte eine allen An¬
forderungen gerecht werdende Behand¬
lung erfahren haben, macht es nötig, daß
auch die anderen Spezialitäten sich mit
diesem Kapitel befassen. Hierzu ist das
vorliegende Werk ganz besonders ge¬
eignet. Es gibt in übersichtlicher Weise,
unterstützt durch ausgezeichnete Ab¬
bildungen, einen überaus lehrreichen Ein¬
blick in die diagnostisch und therapeutisch
wichtigen Einzelfragen. Die am ausführ¬
lichsten gehaltene Besprechung der
Kriegsverletzungen der Kieferknochen und
der bedeckenden Weichteile ist vonMisch
und Rumpel geschrieben, während die
Kriegsverletzungen der Nase' und der
Nebenhöhlen sowie des Gehörorgans
Lennhoff zum Verfasser haben. Der
Abschnitt Nasenplastik und die Verwen¬
dung rhinoplastischer Methoden für die
Lippen-, Kinn-, Wangen- und Ohren¬
plastik entstammt der Feder J. Josephs,
und die Beteiligung der Augen und Augen¬
höhlen hat G u t m a n n behandelt. Hierbei
jedoch muß als besonders bemerkenswert
verzeichnet werden, daß die oft störend
empfundene Zusammensetzung ähnlicher
Werke durch die Mitarbeit verschiedener
Autoren hier nirgends zum Ausdruck
kommt, sondern daß das ganze Buch von
einheitlichen Prinzipien geleitet wird.
Jeder, der Gelegenheit hat, sich mit
plastischen Operationen und dergleichen
nach Gesichtsverletzungen zu befassen,
wird ihm vieles Interessante entnehmen
und ihm manche Anregung verdanken.
Hayward.
Beiträge zur Kieferschußtherapie, Heraus¬
gegeben von der österreichischen Zeit¬
schrift f. Stomatologie. Redigiert von
Dr. Emil Steinschneider. Berlin u.
Wien 1917. Urban u. Schwarzenberg.
Preis 15 M.
’ In einem stattlichen, schön ausgestat¬
teten Sammelbande werden aus Anlaß des
einjährigen Bestehens des k. u. k. Reserve¬
spitals Nr. 17 (Spezialheilstätte für
Kieferverletzte) die Erfahrungen und Beob-
Juli
269
Die Therapie der Gegenwart 1917.
achtungen der genannten Klinik wieder¬
gegeben. Eine gute Übersicht über den
Umfang und die Art der geleisteten Arbeit
bietet der Aufsatz von Weiser, in dem
die chirurgisch-zahnärztliche Tätigkeit zur
Besprechung kommt, unterstützt durch
eine große Zahl trefflicher Abbildungen,
aus denen die Resultate ersichtlich sind.
Die Pseudarthrosenbildung des Unter¬
kiefers nach Schußverletzungen beschreibt
Wunschheim und es ist hier interessant
festzustellen, daß er der gestielten Kno¬
chenplastik aus der Umgebung der Frak¬
tur den Vorzug gibt vor der freien Ver¬
pflanzung, z. B. aus der Tibia, d. h. vor
derjenigen Methode, die bei uns in
Deutschland die meisten Anhänger ge¬
funden hat. Neben weiteren kleineren
Arbeiten, die mehr zahnärztliches Inter¬
esse haben, beansprucht dann der Artikel
von Fuchs: Die Behandlung der Kiefer¬
verletzten nach dem Kriege, besondere
Beachtung. Fuchs zeigt, wie groß die
Zahl derer sein wird, die dann noch der
Hilfe bedürfen und welche Aussichten
diese Nachoperationen bieten. Jeder, der
sich mit Kieferverletzungen befaßt, wird
den gesammelten Arbeiten manche An¬
regung entnehmen. Hayward.
Dr. E. von Seuffert, Privatdozent a. d.
Universität. Strahlen - Tiefenbehand¬
lung* Experimentelle und kritische
Untersuchungen zu praktischen Fragen,
ihrer Anwendung in der Gynäkologie.
Aus der Münchener Königl. Universi¬
täts-Frauenklinik. Direktor: Geheimrat
Dr. A. Döderlein. Mit 19 Textab¬
bildungen und 7 Tafeln. Berlin-Wien
1917. Urban & Schwarzenberg. Preis
M. 25,—, geb. M. 27,50.
Der erste Teil dieses Werkes enthält
gute Anleitungen für das Verständnis über
das Wesen und die physikalischen Eigen¬
schaften aller primären und sekundären,
radioaktiven Strahlen, sowie über die
Röntgenstrahlenerzeugung und Radium-
(Mesotorium-)gewinnung. In prägnanter
Form werden die Vorgänge der Dispersion
und Absorption geschildert, wobej^ die
verschiedene Form der Lettern den Über¬
blick sowie das Behalten dem Gedächtnis
erleichtert. Ebenso klar ist die Darstel¬
lung der Quali- und Quantimetrie, die das
eifrige Studium der Christenschen Werke
erkennen läßt, ohne daß die für manchen
Leser schwierigen mathematisch-physika¬
lischen Formeln angeführt werden.
Im zweiten experimentellen Teil fallen
besonders die vorzüglich ausgeführten
Tafeln mit 34 Mikrophotogrammen auf,
an deren Hand bewiesen wird, daß man
durch Feststellung charakteristischer kli¬
nischer Vorgänge, wie histologischer Ver¬
änderungen auf die Art und Menge der
Strahlen schließen kann, daß man es aber
auch in der Hand hat, eine bestimmte
Wirkung zu erzielen, wobei ein genaues
Eingehen auf die Jontometrie erforderlich
war. Dem Leser, welcher eine gute Vor¬
kenntnis auf diesem Gebiete haben muß,
wird durch gut verständliche mathema¬
tische Deduktionen ein zuverlässiger Weg¬
weiser für das Verständnis der Kreuz-
feuerfelder-Bestrahlung gegeben, die sich
besonders durch die Abkürzung der Ge¬
samtdauer der Behandlung auszeichnet.
Das wichtigste des dritten Abschnittes
sind die Tabellen, deren erste Haupt¬
rubrik genaue Angaben über die ange¬
wandte Technik enthält, während in der
zweiten die klinisch beobachteten Er¬
scheinungen mit den eventuellen Schädi¬
gungen und Endresultaten verzeichnet
sind. Die dritte Hauptrubrik will die
Resultate erklären, entweder aus den be¬
strahlungstechnischen Faktoren oder auf
andere Ursachen zurückführen. Die
jetzt folgenden Erläuterungen befähigen
jeden Therapeuten, entweder in derselben
Weise zu behandeln oder auf Grund des
Studiums besonders der zweiten Rubrik
einen eigenen Weg zu gehen. In einem
kurzen Schlußworte werden die wichtig¬
sten Resultate nochmals zusammengefaßt,
woran sich ein Ausblick über die kommen¬
den Aufgaben der ärztlichen Radiologie
anschließt.
Das Werk, dessen Ausstattung dem
bewährten Rufe des Verlages wieder alle
Ehre macht, zumal der verschiedene
Druck, wie bereits erwähnt, gute mnemo¬
technische Hilfe bietet, wird dem Arzte,
der es mit Fleiß durchgearbeitet hat, ein
zuverlässiger Führer auf den schwierigen
Wegen der Röntgen- und Radiumtechnik
sein. Nichts Besseres könnte ich für
dieses Buch 'zum Schlüsse anführen, als
die Worte im Lesezeichen von Winkel:
,,Willst Freund mir — hinzusetzen möchte
ich noch „auch der Klientel“ — sein, lies
Dich hinein.“
D. Pulvermacher (Charlottenburg).
Paul Kaufmann, Präsident des Reichs¬
versicherungsamts. Was dankt das
kämpfende Deutschland seiner
sozialen Fürsorge? Berlin 1917,
F. Vahlen. 80 S. 1 M.
Der Verfasser hat das so verantwor¬
tungsvolle Amt vor einem Jahrzehnt mit
270
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Juli
der Absicht angetreten, die quantitative
Einschätzung und Zielsetzung des Arbei¬
terversicherungswesens, welche fast zur
Jagd nach dem Rekord auszuarten drohte,
ins Qualitative zurückzubiegen; gerade
von dieser volks- und wehrhygienischen
Seite handelt die im April 1917 in War¬
schau gehaltene Rede; sie ergänzt die in
gleichem Verlage erschienenen früheren
Abhandlungen und Vorträge; von ganz
besonderem Werte ist die Darstellung der
Beratungsstellen für Geschlechtskranke
(zurzeit 80 an Zahl).
B. La quer (Wiesbaden).
Ein deutscher Arzt am Hofe Kai¬
ser Nikolaus I. von Rußland.
Lebenserinnerungen von Professor Mar¬
tin Mandt, herausgegeben von V. Lühe,
mit einer Einführung von Theodor
Schiemann. Leiozig 1917. Duncker
& Humblot. XVf, 544 S. M. 6,50.
Diese sechzig Jahre alte Lebens¬
beschreibung enthält eine völlig zeit¬
gemäße und zugleich zeitlose Lehre, näm¬
lich die der ärztlichen und seelischen Be¬
handlung von kranken Königen und
Kaisern, also eine Art von ,, Fürsten¬
doktorspiegel“, eine Hofmedizinalkunde;
der ,,Principe“ von Machiavelli in rein
ärztlicher Umstellung! Darin liegt der
Wert dieses Buches für uns, abgesehen
von der geschichtlichen Bedeutung, wie
sie z. B. aus der wahrheitsgetreuen, darum
auch menschlich so erschütternden Dar¬
stellung des Todes Nikolaus I. sich ergibt;
das so charakteristisch gezeichnete Leben
von Hof und Gesellschaft des damaligen
Rußlands erinnert wohl jeden Leser an
Zustande, welche wir eben durchleben.
Über den Anfang der Lebenserinne¬
rungen muß man rasch hinweglesen; der
„alte Rust“, welchen die Berliner
Ärzte, weil er (um 1830 herum) sehr
strenge Sperrmaßregeln gegen die dro¬
hende Cholera angeordnet, passer rus-
ticus communis, als gemeinen ,,Land¬
sperrling“ bezeichneten, spielt da eine
wenig würdige Rolle; aber gerade Rust
hatte mit sicherem Blick seinen Schüler
Mandt, einen Thüringer von Herkunft
— Mandt hatte 1813/14 als einfacher
Feldschergehilfe in Lazaretten gewirkt
und war mit 31 Jahren Kliniker an der
Universität Greifswald geworden —, der
Großfürstin Helene, einer wiirttembergi-
schen Prinzessin, als Sommerleibarzt für
eine Karlsbader Kur empfohlen; wie Mandt
diese hohe Patientin „zähmt“, ja bändigt,
wie aus diesem Vertrauensverhältnis ein
gleiches mit dem noch viel schwierigeren
Zaren Nikolaus sich entwickelt — es um¬
faßt 20 Jahre —, der Kampf mit den
Kollegen, mit Neidern, mit Klatsch und
Dummheit, und wie dann Mandt 1857 als
erschöpfter und gebrochener Mann sich
nach Frankfurt a. 0. zurückzieht — das
alles und vieles andere bildet den Reiz
dieser wahrhaft menschlichen Zeugnisse;
viele Erlebnisse sind nicht nur „echt
russisch“; sie kommen doch auch bei uns
vor, vergleiche die Krankheit Kaiser
Friedrichs und das Verhältnis vonSchwe-
ninger zu Bismarck (v. Ti e dem an n in
seinen wenig bekannten „Bismarckerinne¬
rungen“ schildert höchst ergötzlich die
erste Konsultation); auch wer und wie
Car eil (ursprünglich esthnisch „Kart¬
ellen“ und eines Leibeigenen Sohn) war,
erfährt man aus dem obigen Buche; an
wertvollen Lebensbeschreibungen, Erin¬
nerungen, ^ Briefsammlungen berühmter
deutscher Ärzte sind wir ja nicht allzu
reich; Stromeyer, Henle, Kölliker,
Billroth, Kußmaul, Virchow, Ley¬
den — am geschlossensten wirken doch
nur die Biographien von E. v. Bergmann
und die von Helmholtz; um so will¬
kommener ist ein Werk wie das Mandt-
sche, in welchem ein großer Arzt und ein
großer Charakter — im letzten eine
„Anima candida“ — sich ebenso schlicht
als würdig ergänzen.
B. La quer (Wiesbaden).
J. Schäffer. Albert Neißer, Lebens¬
werk, Persönlichkeit, Erinne¬
rungen aus seinem Leben. Vor¬
lesung gehalten in der Breslauer Der¬
matologischen Universitätsklinik Win¬
tersemester 1916/17. Berlin-Wien 1917,
Urban & Schwarzenberg. 39 S. mit
Bild. 2 M.
Mit einigem Abstande zu dem oben¬
erwähnten Mandt sehen Werke —■ Nei-
ßers Wirken kann ja auch geschichtlich
noch nicht gewürdigt werden —- ist diese
Gedächtnisrede eines in Dankbarkeit und
Verehrung und Liebe zu dem Meister äuf-
sehenden Schülers zu würdigen. — Nei-
ßers Wesen, seine Erfolge und das Gegen¬
teil davon ruhen auf Aktivität und Drauf¬
gängertum; das Ziel war ihm die Haupt¬
sache; seine Forscherleistungen sind durch
Fleiß und die Kochschen Methoden —
sinngemäß angewandt — erklärbar; sin¬
gulär und über Jahrzehnte dauernd bleibt
die Stellung, welche Neißers Persönlich¬
keit und Vorbild der deutschen Derma¬
tologie in den Universitätseinrichtungen
geschaffen, ferner die Organisation des
Kampfes gegen die Geschlechtskrank-
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1917.
271
heilen, welche er — unermüdlich treibend
— in öffentlicher und sozialer Hinsicht
geschaffen. Die vielen Freunde und Ver¬
ehrer Neißers werden obige Schrift mit
Genuß und mit Wehmut lesen.
B. Laquer (Wiesbaden).
Referate.
Das jetzt im Kriege so häufig beob¬
achtete Ausbleiben der Periode über
längere Zeit hinaus, dem Dietrich den
Namen Kriegs - Amenorrhoe gegeben
hat, erfordert die Aufmerksamkeit jedes
Arztes, da die eventuell eintretenden Schä-
digungenfür die Volksvermehrung von gro¬
ßer Bedeutung sind, andererseits die Thera¬
pie die Gefahren vermindern kann. Diet¬
rich verlangt, daß nur solche Fälle alshier-
her gehörend gerechnet werden dürfen, die
einen normalen Genitalbefund haben, so
daß die primäre Aplasie, wie die durch
konstitutionelle Krankheiten hervorgeru¬
fene sekundäre, nicht in Betracht kommt.
Als ätiologisches Moment hebt er neben
psychischen Einwirkungen und Aufnahme
eines anderen Wirkungskreises besonders
die schlechte Ernährung hervor. Dem
widerspricht Siegel, der die Unterernäh¬
rung in die dritte Reihe stellt und für
die Beseitigung besonders der seelischen
Insulte eintritt; nach ihm bleibt auch die
Ovarialfunktion bestehen, da ja auch das
Eintreten der Schwangerschaft beobachtet
wurde. Einen ganz anderen Standpunkt
betreffs der Diagnose nimmt Ekstein
ein, der auch die Fälle bei pathologischem
Befunde (chronische Metritis, Adnex¬
erkrankungen) einschließt. Gleich Diet¬
rich behauptet Gräfe, daß die Ernäh¬
rung der wichtigste Faktor sei, wie ja
auch v. Jaworski diesen Zustand als ex
inanitione bezeichnet hat. Schweitzer
stellt gleich den anderen Autoren die Pro¬
gnose als günstig, ausgenommen Gräfe,
der eine dauernde Atrophie fürchtet
(vgl. das Referat im vorigen Heft S. 227).
Seine Mahnungen müssen unbedingt be¬
achtet werden, wenn man auch zuerst
eine funktionelle Amenorrhoe annimmt;
schon aus der Arbeit Schäffers weiß
man, daß in solchen langdauernden Fällen
irreparable Schädigungen festgestellt
wurden. Hoffnungsvoll schaut Pok in die
Zukunft, der auf Grund der Untersuchung
der ausgeschabten Schleimhaut einen
postmenstruellen Zustand, einen nicht
pathologischen Ruhezustand, annimmt,
dem sich Sch weitzer insofern anschließt,
als er annimmt, daß sich der weibliche
Körper auf die veränderten Verhältnisse
einstellen wird. Betreffs der Therapie ist
man allerseits der Ansicht, daß gute
Ernährung wie Zurückbringen in die
früheren Verhältnisse erforderlich ist. Da
ja leider dies nicht immer durchzuführen
ist, so müssen neben Bädern Eisen und
Arsen reichlich gegeben werden. Referent,
der in den letzten Monaten gegen 20 Fälle
in Behandlung bekam, deren kleinster
Teil eine Schwangerschaft fürchtete und
deren Beschwerden, wie auch sonst aller¬
seits berichtet wird, nur sehr gering waren,
macht von Arsenikinjektionen den aus¬
giebigsten Gebrauch; außerdem wendet
er Diathermie an, während Gräfe von
der intrauterinen Faradisation gute Er¬
folge gesehen hat. Unter keiner Bedin¬
gung darf dieser Zustand leicht hin¬
genommen werden; mit dem Eintreten
einer dauernden Atrophie muß gerechnet
werden. Durch lokale Applikationen (Hin¬
zuführen von Wärme) kann der Uterus
wieder blutreicher werden, so daß der
Afflux seitens der Ovulation eine Men¬
struation wieder auslösen kann, wie Refe¬
rent beobachten konnte.
Literatur: Zschr. f. Gyn. 1917, Nr. 6, S. 157;
Ebenda H. 14, S. 329. Ebenda S. 329. M. m. W.
1917, Nr. 18. S.579. W. kl. W. Nr. 34. M. m. W.
S. 579. Veits Hdb. Bd. 3, S. 94, (Inaktivitäts¬
atrophie nach Gebhard.) M. m. W. Nr.20, S.483.
D. Pulvermacher (Charlottenburg).
Über das Fortbestehen von Okklu¬
sionssymptomen trotz erfolgreicher Be¬
seitigung kurzdauernder Brucheinklem¬
mung schreibt Brunzel. Wenn nach
Beseitigung einer Brucheinklemmung, sei
es durch Operation, sei es durch Taxis,
Okklusionssymptome (Koterbrechen und
dergleichen) noch fortbestehen, so braucht,
in allerdings seltenen Fällen, dieses nicht
auf einem mechanischen Hindernis der
Darmpassage zu beruhen. Das Hindernis
kann rein funktionell sein. So starb eine
Patientin vier Tage nach Operation eines
Nabelbruches unter dem Bilde eines Ileus;
eine zweite Operation konnte nicht mehr
ausgeführt werden. Die Sektion ergab,
daß der Dünndarm unterhalb des peri¬
pheren Endes der eingeklemmt gewesenen
Schlinge kontrahiert und leer, oberhalb
dieser Stelle maximal dilatiert und mit
flüssigem Inhalte gefüllt war. Der Inhalt
dieses Teiles ließ sich in den kontrahierten
Teil leicht ausdrücken, der sich dann
sofort ausdehnte. Ein ebensolches Bild
fand sich in einem von Sprengel mit-
272
Die Therapie der
geteilten Falle nach manueller Reposition
eines Schenkelbruches. Hier konnte
rechtzeitig operiert werden; es wurde der
Dünndarm in den Dickdarm ausgestri¬
chen, dann der Dünndarm zwischen den
Schnürringen reseziert. In einem dritten
Falle sah Verfasser fortbestehende Okklu¬
sionssymptome nach Operation eines Na¬
belbruches, die sich aber am dritten Tage
nach der* Operation spontan oder unter
dem Einflüsse der Abführmittel, Magen¬
spülungen, Einläufe und ausschließlich
rectalen Ernährung soweit gebessert hat¬
ten,.-daß eine zweite Operation sich er¬
übrigte. Obige Beobachtungen wurden
noch durch einen vierten Fall nach Taxis
eines Schenkelbruches erhärtet.
Stammt am dritten Tage nach Ope¬
ration oder Taxis der zurückgestaute
Mageninhalt dem Aussehen nach von
einem höher gelegenen Darmabschnitte
(gelb-grün statt kotig), bessert sich das
subjektive Befinden (Abnahme des Ge¬
fühles der Völle und der Brechneigung),
so kann von einer Operation abgesehen
werden. Bestehen die Okklusionssym¬
ptome aber fort, so muß operiert werden;
es soll aber keine Resektion vorgenommen,
sondern lediglich der aufgestaute Darm¬
inhalt ausgestrichen werden.
Hagemann (Marburg).
(D. Zschr. f. Chir. Bd. 140, H. 3 u. 4, S. 206.)
Erwünschte Anhaltspunkte für die Be¬
urteilung des therapeutischen Wertes der
gebräuchlichen Digitalispräparate gibt
Straub im Anschlüsse an seine bekann¬
ten Untersuchungen.
Als specifisch wirksam kommen in Be¬
tracht : 1. Die Gitalinfraktion, die in Chloro¬
form leicht, in kaltem Wasser schwer
löslich durch Erhitzen und in Alkohol
sich zersetzt; 2) das Digitalein ist in
Wasser sehr gut löslich und hitzebeständig,
in Alkohol löslich, in Chloroform nicht.
Es zersetzt sich bei längerem Stehen unter
Säuerung; 3. das Digitoxin ist gut in
Alkohol und Chloroform, nicht in kaltem
und heißem Wasser • löslich. Nicht zu
den wirksamen Bestandteilen gehört
das Digitalin (soweit nicht dieser Name
wie in der älteren Literatur oft für Digi¬
talein und Digitoxin gebraucht wird).
Über die Mengenverhältnisse der wirk¬
samen Körper in den Blättern ist nichts
bekannt. Die Titrierung dieser drei so¬
genannten Aktivglykoside am Frosch¬
herzen (Feststellung der absoluten Menge
derselben, durch die bei Injektion in den
Bauchlymphsack ein männlicher Gras¬
frosch durch tonischen Ventrikelstillstand
Gegenwart 1917. Juli
getötet wird) ergab für alle drei einen.
Wert, der nahe einem halben Centimilli-
gramm für das Gramm Froschgewicht
liegt [für Digitoxin etwas niedriger]
(Froschdosis). Der Versuch, den ab¬
soluten Gehalt der Blätter an Aktivgly¬
kosiden festzustellen, ergab in 100 g so¬
genannter titrierter Blätter je 0,37 g
Gitalin und Digitalein (Kaltwasserextrakt
nach obigen Angaben getrennt) und 0,24 g ;
Digitoxin, zusammen 0,985 g Aktivglyko¬
side, entsprechend etwa 205 000 Frosch¬
dosen. Im Infus dagegen finden sich
0,84 g Gitalin, 0,21 g Digitalein auf 100 g
Blätter, entsprechend 125 500 Frosch¬
dosen. In der Digitoxinfraktion sind dann
noch 0,2 g Digitoxin erhältlich (55 000
Froschdosen). Das Infus ist also eine
Mischung von Digitalein und — zum Teil
zersetztem — Gitalin. Digitoxin enthält
es nur in Spuren als Verunreinigung.
Von den üblichen Handelspräparaten
besteht das Digalen zu etwa gleichen
Teilen aus unzersetztem Gitalin und Digi¬
talein, dagegen kein Digitoxin. Der Titer
ist 48,7 Froschdosen im Kubikzentimenter.
Eine genaue Kopie davon ist das Digipan,
dessen Name insofern irreführt, als es eben
nicht alle Bestandteile der Blätter ent¬
hält. Das Digipurat enthält etwa zu drei
Vierteln teilweise zersetztes Gitalin, der
Rest ist Digitalein und Spuren von Digi¬
toxin. Sein Titer ist ziemlich doppelt so
hoch wie der der vorigen Präparate. In
seiner Zusammensetzung entspricht es
am meisten dem Infus. Das aus den fri¬
schen Blättern gewonnene Digitalysat
entspricht in seiner Zusammensetzung
dem Digipurat, doch ist sein Titer nur
71 Froschdosen im Kubikzentimenter.
Das Digifolin enthält bei gleichem Titer
wie das Digalen nur einen Teil des Gita-
lins, denn es ist eine alkoholische Lösung.
Ferner enthält es Digitoxin in ziemlich
großer, aber dem Verhältnis in den Blät¬
tern nicht entsprechender Menge. Zum
Vergleiche sei angeführt, daß der Titer
des 1 %igen Infuses etwa 11,5 Froschdosen
im Kubikzentimeter beträgt.
Da das Digitoxin das größte Kumu¬
lationsvermögen und die stärksten Reiz¬
wirkungen von allen Aktivglykosiden ent¬
faltet, so dürfte ein stärkerer Gehalt daran
gerade keine Empfehlung für ein Prä¬
parat sein. Die Norm sollte der Kalt¬
extrakt sein, der nur unzersetzt.es Gitalin
und Digitalein enthält. Ob er von den
harzigen und gefärbten Bestandteilen be¬
freit ist oder nicht, scheint weniger
wichtig.
273
Juli Die Therapie der
Auf eine Beanstandung seitens der
Gesellschaft für Chemische Industrie in
Basel gibt Straub zu, daß Digifolin
keinen Alkohol enthält, demnach also
durch diesen die Gitalinfraktion nicht
zerstört sein kann. Daß dieselbe aber zum
Teil zerstört sei, erhält er aufrecht. Ebenso
bleibt er auf Grund der Kilianischen
Untersuchungen dabei, daß vom Digi¬
toxin nur ein Teil im Digifolin enthalten
ist. Endlich beanstandet er die Angabe
der Gesellschaft, daß 1 ccm Digifolin
1 /io g Fol. Dig. entspreche, während es
tatsächlich nur ein Viertel der in dieser
Blättermenge enthaltenen Froscheinheiten
biete. Waetzoldt.
(M. m. W. 1917, Nr. 16 und 23.)
Von den zahlreichen Ursachen, die für
die starke Abnahme der Eklampsie der
Schwangeren im Laufe des Krieges und
jedenfalls durch ihn veranlaßt, angeführt
von den einen, von den andern verworfen
worden sind (verminderter Eiweiß- und
Fettgehalt der Kost, Wegfall gehäufter
Spermaimprägnation des weiblichen Kör¬
pers, Unterernährung und anderes mehr),
glaubt Franz (Wien) der veränderten
Ernährung jedenfalls den Hauptteil zu¬
schreiben zu sollen, zumal er gleichzeitig
eine ebenfalls sehr starke Abnahme
der Schwangerschaftsnephritis nachweisen
konnte. Franz kommt jedoch in etwas
anderer Weise zu diesem Schlüsse als die
reichsdeutschen Autoren. In Österreich
ist bekanntlich der Genuß von Fett erst
seit Herbst 1916, der von Fleisch, Eiern
usw. noch gar nicht gesetzlich, sondern
eben nur durch die Teuerung beschränkt.
Es zeigte sich nun, daß in 1916 der
Fleischgenuß schon recht stark, der Fett¬
genuß dagegen noch kaum eingeschränkt
wurde, während sich beide 1917 weiter
verminderten, so daß nur etwa 20 % der
Wöchnerinnen ihre Friedensration daran
verzehrten. Alle Eklampsien der Jahre
1916 und 1917 betrafen Frauen mit reich¬
lichem (Friedens-) Fleisch- und Fett¬
genuß. So deutlich wie bei den reichs¬
deutschen Autoren ist der Rückgang schon
deshalb nicht, weil in Österreich die Mög¬
lichkeit reichlichen Fleischgenusses eben
noch besteht, andererseits aber der Frie¬
densfleischkonsum dort im Durchschnitt
geringer ist als bei uns. Von der Schwan¬
gerschaftsnephritis gilt wesentlich das
gleiche wie von der Eklampsie, nur ist das
Bild etwas verwischt durch 1916 auf¬
tretende gehäufte Anginanephritiden. Der
Annahme der Theorie von der verminder¬
ten Spermaimprägnation stehen nach
Gegenwart 1917.
Franz vorläufig an zu kleinen Zahlen ge¬
wonnene, einander sehr widersprechende
Zahlen entgegen.
Die therapeutische Anwendung des
Ergebnisses ist nicht von der Hand zu
weisen. Es hätte dann von der zweiten
Hälfte der Schwangerschaft an eine vor¬
wiegend vegetabile, in erster Linie eiwei߬
arme Diät einzusetzen. Zu anderen Ergeb¬
nissen kommt Lichtenstein (Leipzig).
Er weist darauf hin, daß die Eklampsie¬
häufigkeit überhaupt sehr stark
schwankt und daß 1915/16 ebensoviel
(zum Teil sogar mehr) Eklampsien vor¬
kamen, wie in vielen vorhergehenden
Jahren. Beides kann einesteils auf die
schwankenden Auffassungen • der Prak¬
tiker über abwartende oder aktive Thera¬
pie, anderenteils auch auf Transport¬
schwierigkeiten infolge des Krieges zu¬
rückgehen denn die Kliniken zählen doch
eben nur die eingelieferten, nicht die vor¬
gekommenen Fälle. Gleiche Einwände
hat Lichten stein gegen die Abnahme
der Nephrosen. Zu allem kommt, daß
die Gesamtaufnahmeziffer, auf die die
Prozentzahl berechnet wird, aus äußeren
Gründen erheblich schwanken kann. End¬
lich zeigt Verfasser noch die parallele Ab¬
nahme der Placenta praevia im Kriege, die
sicher nicht auf der Kriegskost beruht.
Zum Schluß weist Verfasser auf die Mög¬
lichkeit hin, die Eklampsie auf unvoll¬
kommene Oxydation mancher Schlacken
infolge „ungesunder“ Lebensweise zu¬
rückzuführen, was zugleich eine Er¬
klärungschance für die geringere Häufig¬
keit derselben in der Landbevölkerung,
die doch auch nicht vegetabiler lebt als
die Städter, und in manchen Ländern
geben würde. Waetzoldt.
(Zbl.f. Gynäk. 1917, Nr. 20.)
Die Anwendung des Radiums
bei Hautkrankheiten hat nach S. E.
Sweitzer besonders bei Pigment- und
Gefäßnävi, Lupus erythematosus und
Epitheliom einen ausgesprochenen Wert,
da es sich in seiner Wirkung leicht abgren¬
zen und genau dosieren läßt, da es ferner
schmerzlos und darum besonders für
Kinder und sehr alte Leute angenehm ist,
und da endlich die kosmetischen Resul¬
tate ausgezeichnete sind.
Bei erhabenem Pigmentnävus: 10 mg
Radiumapplikator 30 Minuten lang mit
0,1 mm starkem Silberfilter. Das wird
zwei- oder dreimal mit je zwei Tagen
Zwischenraum wiederholt.
Beim Gefäßnävus: Aluminiumfilter
von 0,01 mm Stärke und Sitzungen von
35
274
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Juli
15 bis 20 Minuten. Nach Ablauf der
Reaktion Wiederholung der Sitzung, bis
der Effekt erreicht ist.
Bei kavernösem Angiom bei Kindern:
0,1 mm Silberfilter und dieselbe Dosierung
wie bei den erhabenen Pigmentnävi.
Lupus erythematosus: 0,1 mm Silber¬
filter, Applikation des Radiums fünf oder
sechs Tage täglich eine Stunde lang. Oft
muß diese Dosis wiederholt werden, und
es ist manchmal besser, das Radium in
sehr hartnäckigen Fällen ganz ohne Filter
anzuwenden.
Epitheliome: 0,1 mm Silberfilter,
Radium ein bis zwei Stunden täglich bis
zu einer Gesamtdosis von acht bis zehn
Stunden. Iwan Bloch (Berlin).
(Derm. W. 1917, Bd. 64, Nr. 18, S. 419—422.)
Die interessante Frage: Ist homöo¬
plastische Hautverpflanzung unter Ge¬
schwistern der Autotransplantation gleich¬
wertig? konnte von Perthes an einem
Falle studiert werden, in dem es bei einer
Fabrikarbeiterin, deren Haupthaar von
der Transmission erfaßt worden war, zu
einer totalen Skalierung gekommen war.
Der Versuch einer Transplantation am
Tage der Verletzung mit Thierschschen
Lappen hatte nur geringen Erfolg. Zehn
Wochen später wurde die Transplanta¬
tion nach Reverdin ausgeführt, wobei
neun Läppchen von der Patientin selbst
auf die linke Hälfte der Granulations¬
fläche und ebensoviele Läppchen von der
leiblichen zwei Jahre älteren Schwester
auf die rechte Hälfte verpflanzt wurden.
Nach zehn Tagen waren sämtliche Läpp¬
chen fest angeheilt. Jetzt wurden elf wei¬
tere Läppchen von der Schwester auf die
rechte Kopfhälfte aufgelegt. 16 Tage nach
der ersten Verpflanzung wurden die ersten
Unterschiede bemerkbar, indem von dem
autoplastischen Material eine deutliche
Epithelneubildung ausging, welche bei
dem homöoplastischen Material fehlte,
und vier Wochen nach der ersten Opera¬
tion waren die von der Schwester stam¬
menden Läppchen vollkommen ver¬
schwunden. Ha y ward.
(Zbl. f. Chir. 1917 Nr. 20.)
Verschiedene Neuerungen bieten die
Beschlüsse des Bundesrats zur Ausfüh¬
rung des Impfgesetzes vom 22. März 1917,
Es wird hingewiesen auf die Vermeid¬
barkeit der Schädigung durch Über¬
tragung auf ungeimpfte Körperstellen
und Verunreinigung der Impfstelle. Die
Bestimmungen über die Verwendung von
Menschenlymphe fallen weg, die Tier¬
lymphe soll auch für Privatimpfungen
künftig möglichst kostenlos von den
staatlichen Impfanstalten abgegeben wer-
den. Bezug aus Privatanstalten bedarf
behördlicher Genehmigung. Der Impf¬
arzt hat des weiteren vor jeder einzelnen
Impfung die Angehörigen nach dem Vor¬
handensein von Rose oder nässenden
Hautausschlägen im Hause des Impflings
zu fragen und bei Glaubhaftigkeit der
Angaben und Unmöglichkeit der Isolie¬
rung der Betreffenden die Impfung zu
unterlassen. Die Reinigung der Impf¬
stelle hat für jeden Impfling mit einem
neuen Alkoholbausch zu erfolgen. Die
Angehörigen werden angewiesen, die
Impfstelle kühl und trocken zu halten und
mit einem reinen, nicht wollenen Hemde
zu bedecken, weiter wird gewarnt, Sekret
der Impfstelle auf Wunden oder in die
Augen zu bringen, und angewiesen, nach
einer Berührung der Pusteln sich gründ¬
lich zu waschen. Den Impfärzten soll Ge¬
legenheit gegeben werden, sich von Zeit
zu Zeit über die Fortschritte der Impf¬
technik, der Pathologie der Impfung und
der Lymphgewinnung zu unterrichten.
Wae tzoldt.
(D. m. W. 1917, Nr. 18.)
Einen interessanten Fall von Kalk¬
steingicht teilt Holländer mit, der eine
21jährige Dame betrifft. Die Erkrankung
begann ungefähr im neunten Lebensjahre.
An der Sohle des rechten Fußes entstand
in der Nähe des fünften Tarsometatarsal-
gelenkes eine schmerzhafte Geschwulst,,
welche operiert wurde und zum Inhalte
einen Kalkstein hatte. Im Laufe der Zeit
bildeten sich an anderen Stellen eben¬
solche Geschwülste. Zum Teile erweich¬
ten sie, dann entzündeten sie sich und
entleerten durch Hautperforation breiige
Massen. Die Untersuchung der heraus¬
genommenen Konkremente ergab Stein¬
bildungen, die sich mit Zusatz von Salz¬
säure unter Gasbildung auflösten. Wenn
man den Arm der Patientin abtastete, so-
fühlte man unter der Haut überall Über¬
gänge von breiigen Infiltrationen bis kno¬
chenharten Tumoren, die in der Subcutis
lagen und an manchen Stellen mit der
Haut verwachsen waren. Beim Ein¬
schneiden kommt man auf ein kreide¬
weißes, hartes Infiltrat. Die Diagnose
wurde durch die Röntgenplatte bestätigt..
Man sieht nämlich, wie z. B. in der Um¬
gebung des Ellbogengelenkes massenhaft
Kalksteine angehäuft sind und durch die
Länge des Armes meistens in der nächsten
Nachbarschaft der Elle bis zum Hand-
Juli
275
Die Therapie der Gegenwart 1917.
gelenke sich verfolgen lassen. Im übrigen
fühlte sich die Patientin wohl. Es handelt
sich nicht um eine Hauterkrankung, son¬
dern muß sich um eine Konstitutions¬
anomalie handeln, ähnlich der Gicht.
Dünner.
(D. m. W. 1917, Nr. 14.)
Eine interessante Knochen- und Seh¬
nenplastik hat Groß (Harburg) ausge¬
führt. Bei einem Soldaten, welchem sämt¬
liche Mittelhandknochen und ein Teil der
Handwurzelknochen fehlten bis auf den
ersten Mittelhandknochen, wurde die
Mittelhand folgendermaßen ersetzt: der
Knochen des Grundgliedes des fünften
Fingers, welcher amputiert wurde, wurde
aus dem abgenommenen Finger entfernt
und mitsamt seinem Knoche-nhautüber-
zuge in die Weichteile der Mittelhand
quer eingefügt. Die Sehnen, welche eben¬
falls durchtrennt waren, wurden teil¬
weise genäht, teilweise durch die Sehnen
des fünften Fingers plastisch ersetzt. Der
Erfolg der primär geheilten Wunde war
der, daß der Mann, dem vorher die Ampu¬
tation der Hand vorgeschlagen war, Eß-
geräte halten konnte und auch festere
Gegenstände zu halten imstande war.
Hayward.
(D. m. W. 1917, Nr. 22.)
Über ein neues Lecithinpräparat, das
Hydrocithin (Riedel) berichtet Gürber.
Es handelt sich um ein durch Hydrie¬
rung von Ovolecithin entstandenes Pro¬
dukt, das kaum wasserlöslich und, vor
Licht und Luft geschützt, gut haltbar ist.
Ebenso wie Lecithin, doch wie die mit¬
geteilten Versuchsergebnisse zeigen, in
etwas geringerem Ausmaße, fördert es
im Tierversuch Wachstum und Ge¬
wichtszunahme und steigert den P- und
N-Umsatz. Es wird im Darme nicht
völlig zerstört, sondern zum Teil im
Kot ausgeschieden. Ob es, wie dies
vom Lecithin — vielleicht zu Un¬
recht — vermutet wird, zum Ansatz
kommt, scheint zweifelhaft, jedenfalls
müßte es erst in eine ungesättigte Ver¬
bindung überführt werden. Die Wirkun¬
gen im Versuche am Menschen ent¬
sprachen denen des Lecithins, vor dem
das Mittel lediglich den Vorteil größerer
Beständigkeit und daher leichterer Do¬
sierbarkeit haben soll. Wae'tzoldt.
(M. m. W. 1917, Nr. 22.)
G. Weill berichtet über die‘Bedeu¬
tung des Kaliumpermanganats für
die Lupusbehandhing bei Kriegsteil¬
nehmern. Das Kalium-Permanganat in
Substanz stellt ein einfach anzuwenden¬
des, die übrigen Ätzmittel an Sicherheit
und rascher Wirkung weit übertreffendes,
elektiv wirkendes Lupusmittel dar. Vor¬
aussetzung für seine Anwendung ist das
Vorhandensein einer nässenden Ober¬
fläche. Nach Abdeckung der gesunden
Haut mit ringsum den Herd mit Mastisol
aufgeklebtem Wattebausche wird Per¬
manganat in Substanz dick aufgestreut.
Darauf trockener, fest komprimierender
Verband (bei starken Schmerzen vorher¬
gehende Anästhesierung mit Umschlägen
von 10%iger Cocainlösung und Mor¬
phiuminjektion). Am nächsten Tage Ver¬
bandwechsel, bei dem eine zusammen¬
hängende Braunsteinplatte sichtbar wird.
Darauf feuchte Verbände mit Bleiwasser-
Sublimat-Lösung (1% 0 ), unter denen der
Braunstein langsam abbröckelt und dabei
in schonender Weise die nekrotisierten
Gewebsfetzen mit entfernt. Nach er¬
folgter Abstoßung (in zirka drei bis fünf
Tagen) liegt eine hellrote, schön granu¬
lierende Fläche vor, aus der unter Scho¬
nung des gesunden das morsche kranke
Gewebe ausgefallen ist. Für die jetzt
unter fortgesetzten Dunstverbänden rasch
einsetzende Überhäutung sind zwei bis
vier Monate erforderlich. Eventuell noch
restierende Knötchen können dann ein¬
zeln geätzt werden (rohe HCl oder Acidum
lacticum). Bei größeren und tiefergehen¬
den Herden ist es sicherer, an die erste
Ätzung mit Permanganat gleich eine
zweite anzuschließen. Die erzielte Narbe
ist meist weich und widerstandsfähig. Ob
Dauerheilung erzielt wird, muß eine län¬
gere Beobachtung lehren.
Iwan Bloch (Berlin).
(Darm. W. 1917, Bd. 64, Nr. 16, S. 378—320.)
Während im allgemeinen der Tod bei
der Kriegsnephritis, wie bei allen an¬
deren akuten Nephritiden im subakuten
Stadium mit schweren klinischen Erschei¬
nungen eintritt, konnte Dietrich vier
Fälle beobachten, die ohne vorherige Fest¬
stellung einer Erkrankung unerwartet
starben und bei denen erst die Sektion
Aufschluß über die Todesursache gab.
In dem Falle eines 19jährigen Mannes
gingen dem Exitus Krämpfe voraus, auch
hatte er in den letzten Tagen über Atem¬
not und geringe Ödeme geklagt. Von den
drei anderen, die alle im Anfänge der
Dreißiger standen, starb einer unter den
Zeichen schnell zunehmender Atemnot,
die beiden anderen wurden, nachdem sie
am Abend sich übel gefühlt, am nächsten
Morgen tot aufgefunden. Die Sektion
35*
276
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1917.
ergab noch in einem weiteren Falle
Ödeme. Im ersten Falle bestanden auch
Ergüsse in die großen Körperhöhlen. Die
Gehirne waren blutreich und ziemlich
feucht, die Herzen waren mit Ausnahme
einer leichten Verdickung der Wand des
linken Ventrikels bei dem einen der äl¬
teren Leute normal. Arteriosklerose be¬
stand in keinem Falle. Der Urin (an der
Leiche untersucht) enthielt schwankende
Mengen Eiweiß. An den Nieren fand sich
in allen Fällen trübe Schwellung der
Rinde bei sehr blutreichen Pyramiden,
die Kapsel war leicht zu entfernen, keine
Narben.
Mikroskopisch zeigte sich bei den äl¬
teren Leuten Verödung einzelner Glome-
ruli und vereinzelte Lymphocyteninfiltra-
tionen. Die Hauptveränderung aber be¬
stand in dem typischen Bilde einer akuten
Glomerulonephritis: verminderter Blut¬
gehalt der Schlingen, Vermehrung derEpi-
thelien und besonders der Leukocyten in
ihnen bei gleichzeitiger degenerativer Ver¬
änderung (Blähung, Kernlosigkeit, hya¬
line Entartung usw.). Im Kapselraume
geronnenes Exsudat mit roten Blut¬
körperchen, Leukocyten ohne wesentliche
Degeneration.^’ In den Hauptstücken
geringe trübe Schwellung und Cylinder-
bildung.
Die alten Veränderungen sind viel¬
leicht als Reste einer überstandenen äl¬
teren Glomerulonephritis aufzufassen, die
möglicherweise zu einer erhöhten Krank¬
heitsbereitschaft bei diesen Nieren die
Ursache war.
Was die eigentliche Todesursache an¬
langt, so ist der erste Fall als eklamptische
Urämie sicher. Bei den drei anderen
bleibt nur die Annahme einer Rückwir¬
kung der Nierenschädigung auf das Cen¬
tralnervensystem übrig, ob toxisch, ob
reflektorisch, ob endlich durch die bereits
bestehenden Veränderungen begünstigt,
bleibt ebenso wie die Ursache der Kriegs¬
nephritis selber unklar.
Waetzoldt.
(B. m. W. 1917, Nr. 22.)
Zur Technik der Oberschenkelamputa-
tion in der Kriegschirurgie schreibt Ba-
racz (Lemberg).
Die Erfahrungen, die ziemlich allge¬
mein mit der lineren Amputation ge¬
macht worden sind, haben dazu beige¬
tragen, von dieser Form der Operation
Abstand zu nehmen, denn trotz Exten¬
sion erreicht man nur in den seltensten
Fällen einen tragfähigen Stumpf. Baracz
gibt .eine. Methode an, die an Stelle der
lineren Amputation angewendet, eine
Lappenamputation darstellt. Sie lehnt
sich an die bekannte Durchstichmethode
bei der Exartikulation des Oberschenkels
im Hüftgelenk an und wird folgender¬
maßen ausgeführt: Unter Retraction der
Haut markiert man sich einen medialen
und einen lateralen Punkt, welcher der
Basis des Lappens entsprechen soll.
Dann wird vorne und hinten der Haut¬
lappen bis auf die Fascie bogenförmig
durchtrennt. Nun sticht man mit dem
zweischneidigen Amputationsmesser außen
flach bis auf denJFemurknochen, umgeht
diesen und sticht das Messer an dem me¬
dialen Wundwinkel heraus. Unter leicht
sägenden Zügen durchtrennt man die
Muskulatur bis zum Hautlappen, tn der
gleichen Weise wird an der Rückseite des
Oberschenkels verfahren und dann der
Knochen abgesetzt. Hayward.
(Zbl. f. Chir. 1917, Nr. 22.)
Über Tuberkulose der Schilddrüse mit
besonderer Berücksichtigung der Tuber¬
kulose in Basedowschilddrüsen schreibt
Uemura. Verfasser hat im Baseler
Pathologischen Institut etwa 1400 Stru¬
menfälle auf die Häufigkeit der tuber¬
kulösen Infektion untersucht mit posi¬
tivem Ergebnis in etwa 1,7% der Fälle.
Er teilt die Fälle ein:
1. In nodöse und diffuse Strumen mit
Tuberkulose; die Ergebnisse der Unter¬
suchungen werden in 24 Fällen genau
wiedergegeben. Nur in einem Falle be¬
stand ein stärkerer Grad von Schild¬
drüsentuberkulose, aber auch in diesem
Falle, wie in den anderen, war die Tuber¬
kulose lokal — sonstige Tuberkulose und
Familienanlage waren nirgends vorhanden.
Interfollikuläre Tuberkelbildung war häu¬
figer als intrafollikuläre. Ein Zusammen¬
hang zwischen Lymphfollikeln und Tuber¬
kelbildung war nicht nachweisbar.
2. Fälle von Strumitis tuberculosa.
Drei Fälle. Klinisch ist die Diagnose
nicht mit Sicherheit zu stellen, da die
Fälle teils das Bild einer gewöhnlichen
Strumitis, teils das einer Struma maligna
bieten. In zwei Fällen konnte der tuber¬
kulöse Charakter histologisch, im dritten
erst bakteriologisch nachgewiesen werden,
aber bei allen war der Befund typisch für
eine schwere tuberkulöse Strumitis, z. T.
mit Konglomerattuberkeln und ausge¬
dehnter Nekrose.
3. Fälle von Tuberkulose der Schild¬
drüse bei Morbus Basedowii.
Juli
Die Therapie der Gegenwart 1917.
277
Hier ist bei der Einteilung Vorsicht
geboten, da weder klinisch noch patholo¬
gisch-anatomisch die Anzeichen einer wirk¬
lichen Basedowschen Krankheit objek¬
tiv einwandfrei feststehen. Eine typische
Basedow- Schilddrüse wird namentlich
dann gefunden, wenn der Patient aus
kropffreier Gegend stammt.
In drei Fällen von klinisch angegebe¬
ner Basedowscher Krankheit hat Ver¬
fasser Tuberkel gefunden. In dem einen
war eine Struma nodosa und diffusa
parenchymatosa: im Schilddrüsengewebe
und in den Knoten miliare, zum Teil ver¬
käste und gruppierte Tuberkel. In dem
zweiten war eine Struma colloides diffusa:
in den Läppchen (meist isolierte) miliare
Tuberkel mit Langhansschen Riesen¬
zellen. Im dritten eine teils diffuse, teils
nodöse Struma parenchymatosa Base-
dowiana: im Schilddrüsengewebe miliare
verkäste Tuberkel.
Verfasser hält es für möglich, 1. daß
eine Umwandlung der Schilddrüse im
Sinne des Morbus Basedowii durch eine
tuberkulöse Infektion hervorgerufen wer¬
den kann, 2. daß eine zu einer Struma
Basedowiana hinzutretende tuberkulöse
Infektion die krankhaften Veränderungen
verschlimmern kann. Was in den be¬
schriebenen Fällen das Primäre war,
kann er nicht entscheiden.
Hagemann (Marburg).
(D. Zschr. f. Chir. Bd. 140, H. 3 u.4, S. 242.)
Franke bespricht die gebräuchlichen
Methoden der Unterschenkelamputation
hoch oben und empfiehlt ihnen gegen¬
über die Methode der osteoplastischen
epiphysären Amputation sub genu für
Fälle, in denen sowohl das Kniegelenk
wie der oberste Teil der Tibia und der zu¬
gehörigen Weichteile gesund sind. Ver¬
fasser beschreibt genau die Technik der
von ihm schon 1913 im Zbl. f. Chir. ver¬
öffentlichten Operation, die die Exarti¬
kulation und die tiefe osteoplastische
Oberschenkelamputation ersetzen soll.
Verfasser macht besonders darauf auf¬
merksam, daß sämtliche an der Tibia
ansetzende Sehnen der Beugemuskel
durchtrennt werden müssen, damit die
Epiphysenplatte dauernd in Streckstel¬
lung stehe und der Oberschenkel somit
auf seiner (beim Knien natürlichen) Stütz¬
unterlage stehen und gehen könne. Durch
Nachuntersuchung zweier seiner Patien¬
ten hat sich Verfasser überzeugt, daß
diese Durchschneidung keine erhebliche
Atrophie des Oberschenkels verursache.
Indikationen zu der Operation'seien
im großen und ganzen dieselben wie beim
Gritti, beim Sabanejew und der Ex¬
artikulation. Die Operation des Ver¬
fassers gibt einen in der Form ebenso
guten Stumpf wie die Exartikulation, zu¬
gleich eine wohl noch bessere Tragfähig¬
keit. Außer den Condylen des Ober¬
schenkels ist noch das ganze Kniegelenk
mit dem Knorpelüberzug der Tibia-Epi¬
physe erhalten. Darin besteht ein Vorzug
gegenüber dem Gritti und dem Sabane¬
jew. Bei diesen Operationen ist der
vordere Hautlappen sehr groß, bei der
Methode des Verfassers beginnt derSchnitt
dafür etwas tiefer als bei den anderen,
er fällt also etwas kleiner au$; auch die
Arteria poplitea wird etwas tiefer durch¬
trennt, so daß für die Ernährung des
Lappens wichtige Arterien erhalten blei¬
ben, die beim Sabanejew durchschnitten
werden — also auch in der Ernährung des
großen vorderen Hautlappens übertrifft
die Operation vom Verfasser die anderen
in Betracht kommenden Methoden. Selbst
bei schwächlichen alten Leuten, selbst bei
schwerer Arteriosklerose ist keine größere
Gangrän eingetreten. Die Tuberositas
tibiae wird vom Verfasser einmal wegen
der besseren Ernährung des Hautlappens
erhalten und dann auch, um die Ver¬
wertung der sonst beim Knien, hier beim
Gehen und Stehen, verwandten Stütz¬
fläche zu ermöglichen.
Verfasser gibt (mit einigen Abbildun¬
gen) sieben Krankengeschichten wieder,
an denen er den Erfolg seiner Operation
demonstriert. In fünf Fällen erfolgte die
Heilung ganz glatt mit außerhalb der
Stützfläche liegender Narbe, zweimal trat
durch eine kleine Randgangrän am Haut¬
lappen eine unwesentliche Verzögerung
der Heilung ein. Stets konnte gleich mit
der Prothese gegangen werden, der Stumpf
war sofort unempfindlich.
Der Operation des Verfassers ist nur
die von Abrashanow in den seltenen
Fällen vorzuziehen, in denen nur ein
hinterer oder kein hinreichend großer
vorderer Hautlappen oder auch kein
vorderer Tibiaknochenlappen gebildet
werden kann. u (nY v
Hagemann (Marburg).
(D. Zschr. f: Chir. Bd. 138, H. 1 und 2, S. 35.)
278
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Juli
Richtlinien für die Ernährung gesunder und kranker Kinder bis
zum zweiten Lebensjahre in der Kriegszeit.
Vom Kaiserlichen Gesundheitsamt unter Mitwirkung von praktischen Sachverständigen herausgegeben.
Die auf dem Lebensmittelmarkt ein¬
getretenen Verhältnisse haben es erfor¬
derlich gemacht, eine Reihe von Roh¬
stoffen, die bisher zur Herstellung von
Kindernährmitteln und diätetischen Zu¬
bereitungen verwendet worden sind,
fortan der Volksernährung im allgemeinen
zuzuführen; nur in sehr beschränktem
Umfange können sie noch für die Säug¬
lingsernährung im besonderen verfügbar
gemacht werden.
Es wird unter diesen Umständen,
angesichts der Notwendigkeit, sich der
veränderten Sachlage anzupassen, für
manche Ärzte erwünscht sein, kurz dar-
gelegt zu sehen, wie sie sich mit den
verfügbaren Mengen der Lebensmittel
behelfen können. Trotz der unabänder¬
lichen Tatsache, . daß sie auf das eine
oder andere ihnen lieb gewordene Prä¬
parat vorübergehend werden verzichten
müssen, werden sie, wie aus den folgenden
Ausführungen hervorgeht, imstande sein,
eine sachgemäße Ernährung der ihnen
anvertrauten gesunden oder kranken
Kinder durchzuführen.
Nach den getroffenen Bestimmungen
des Kriegsernährungsamts sind für ge¬
sunde und kranke Kinder bis zum vollen¬
deten 2. Lebensjahr die unter I und II
aufgeführten Nahrungsmittel und Nähr¬
präparate in den nachbezeichneten
Mengen vorgesehen.
I. Ernährung des gesunden Säug¬
lings.
Für gesunde Säuglinge sind vorge¬
sehen:
1. Vollmilch täglich % bis 1 Liter;
2. Rübenzucker (Rohrzucker) nicht
unter 30 g, möglichst bis zu 50 g für
den Tag;
3. Weizenmehl, zu 94% ausgemahlen,
mindestens 200 g für die Woche;
4. Haferflocken oder Weizengrieß in
der Mindestmenge von 500 g für den
Monat.
Diese Nahrungsmittel reichen in der
angegebenen Beschaffenheit und Menge
zur sachgemäßen Ernährung eines ge¬
sunden Säuglings aus.
Zu 1. Es braucht der gesunde Säugling
kaum jemals mehr als % Liter Milch,
in den ersten Lebensmonaten bekannt¬
lich nur y 2 Liter
Zu 2. Bisher wurde dem Nährwert der
verdünnten Milch, mit der das Kind
in den ersten Lebensmonaten ernährt
wird ( 14 -Milch, %-Milch, I. 2 3 4 / 3 -Milch) da¬
durch gehoben, daß eine Anreicherung
mit Fett oder mit Kohlehydraten er¬
folgte,, Eine Anreicherung der Milch
mit Fett oder Fettkonserven ist infolge
des eingetretenen Fettmangels gegen¬
wärtig nicht möglich. Aus diesem
Grunde ist auch die weitere Herstel¬
lung von fettreichen trinkfertigen Milch¬
mischungen eingestellt. Für die zu¬
künftige Kriegszeit bleibt, keine andere
Wahl, als die Anreicherung der Milch¬
mischungen mit Zucker und Mehl.
Die Säuglinge erleiden dabei keinen
Schaden an ihrer Gesundheit. Von
dem zur Hebung des Nährwertes der
Säuglingsnahrung geeigneten Rüben¬
zucker (Rohrzucker) sin,d bis 50 g
täglich für den Kopf der Säuglinge
vorgesehen. Diese Menge ist aus¬
reichend, um den Nährwert der
Mischung so hoch zu halten, wie ihn
das Kind zu seinem Gedeihen benötigt.
Mit Rücksicht darauf, daß die Her¬
stellung von malzzuckerhaltigen Prä¬
paraten stark eingeschränkt werden
mußte, ist deren Verwendung für die
Anreicherung der Milchmischungen für
gesunde Kinder nicht mehr angängig,
sie bleiben ausschließlich den kranken
Kindern Vorbehalten.
Zu 3. Neben dem Rübenzucker (Rohr¬
zucker) ist zur Anreicherung der Milch¬
mischung Mehl erforderlich, welches in
Form von Schleim- oder Mehlab¬
kochungen der Milch zugefügt wird.
Von den Mehlen kommen in Frage:
Roggenmehl, Weizenmehl, Hafermehl,
Maismehl, Reismehl. Das gesunde
Kind scheint sämtliche Mehlarten in
gleicher Weise verarbeiten zu können,
jedenfalls bestehen kaum Unterschiede
zwischen dem am häufigsten gebrauch¬
ten Weizenmehl und Hafermehl. Nach
den vom Kriegsernährungsamt getrof¬
fenen Bestimmungen sind für die Woche
mindestens 200 g Weizenmehl, das
bis zu 94% ausgemahlen ist, für den
Kopf der Säuglinge vorgesehen, d. h.
für den Tag eine Menge von ungefähr
30 g. Diese Menge ist in Anbetracht
der gewährten Zuckermenge aus¬
reichend. Daß das 94%ig ausgemah-
Juli Die Therapie der
• lene Mehl vom Säugling vertragen wird,
haben Untersuchungen im Kaiserin-
Auguste-Viktoria-Haus zur Bekämp¬
fung der Säuglingssterblichkeit im
Deutschen Reiche und in der Universi¬
täts-Kinderklinik zu München erwiesen.
Das Urteil des Kaiserin-Auguste-Vik-
toria-Hauses lautet dahin, daß das zu
94% ausgemahlene Weizenmehl von
gesunden, über drei Monate alten Säug¬
lingen schadlos vertragen wird, und
daß nur bei Kindern unter drei Mo¬
naten und bei kranken Säuglingen mög¬
licherweise gewisse Schwierigkeiten be¬
stehen können. In der Universitäts-
Kinderklinik München ergab sich, daß
die Zuführung von solchem Mehle an
gesunde und leicht erkrankte Säuglinge
deutliche Ausschläge in ungünstigem
Sinne nicht bewirkte. Sollten — was
immerhin nicht ausgeschlossen ist — bei
der Zuführung von so hoch ausgemah¬
lenem Mehl bei Kindern unter drei
Monaten sich Störungen einstellen, so
wird der Arzt zu Haferflocken greifen
müssen. Säuglinge unter drei Monaten
wird man mit dem 94%igen Mehl des¬
halb nicht ernähren müssen, weil für
jeden Säugling monatlich 500 g Hafer¬
flocken, d. i. ungefähr 15 g für den
Tag, vorgesehen sind. Diese Menge ge¬
nügt, um unter Ausschaltung desMehles
die für die Verdünnung der Milch in den
ersten Lebensmonaten notwendige
Schleimabkochung herzustellen. Prä¬
parierte Kindermehle werden künftig
im Handel nicht mehr erhältlich
sein.
Daß aus diesem gewiß bedauerns¬
werten Mangel eine ernste Gefährdung
für die Gesundheit gesunder Säuglinge,
nicht zu befürchten ist, wird von den
Sachverständigen nahezu übereinstim¬
mend anerkannt.
Zu 4. Die Haferflocken werden für die
Bereitung der Schleimabkochung be¬
hufs Anreicherung der verdünnten Milch
in den ersten drei Monaten vorzube¬
halten sein. Der Weizengrieß wird z. B.
zur Herstellung einer Breimahlzeit ver¬
wendet werden können.
In den Bestimmungen des Kriegs¬
ernährungsamtes sind Mutter und Säug¬
ling als eine zusammengehörende Ein¬
heit betrachtet, d. h., stillt die
Mutter ihr Kind und bedarf infolge¬
dessen der Säugling weder der Kuh¬
milch noch des Zuckers, Weizenmehls
und der Haferflocken, dann kann die
Mutter die genannten Mengen zur Ver¬
Gegenwart 1917. 279
besserung ihrer eigenen Ernährung ver¬
wenden.
II. Ernährung des kranken Sä-ug-.
lings.
Zur ferneren Herstellung von Nähr¬
mitteln für kranke Säuglinge können Roh¬
stoffe nur noch für einige wenige Prä¬
parate abgegeben werden; für diese un¬
abweisbar gewordene Beschränkung sind
einzig und allein wirtschaftliche Gründe
maßgebend gewesen; es soll damit kein
Urteil über die Güte und Brauchbarkeit
der nicht. mehr herstellbaren Präparate
abgegeben sein.
Es dürfen Rohstoffe bereitgestellt wer¬
den für nachbezeichnete Zubereitungen:
1. Milchpräparate:
a) Eiweißmilch (nach Finkeistein
und Meyer);
b) Buttermilch (in Form der Hol¬
ländischen Säuglingsnahrung
und als Buko);
c) Ramogen.
2. Eiweißpräparate:
a) Plasmon;
b) Larosan.
3. Malzpräparate:
a) Nährzucker (Soxhlet);
b) Liebigsuppe (verbessert nach
Soxhlet);
c) Nährmaltose (Löflund);
d) Malzsuppenextrakt (Löflund).
(Die Mengen von Nährzucker
und Nährmaltose dürfen für den
Kopf und die Woche 200—350 g,
die Mengen von Malzsuppenex¬
trakt 500—700 g, d. h. eine
bzw. U /2 Originalflasche pro
Kopf und Woche nicht über-
steigen.)
4. Feinmehl:
zu 75% ausgemahlenes Weizen¬
mehl.
Nach Anordnung des Kriegsernäh¬
rungsamts soll die Verschreibung dieser
Präparate durch einen Arzt nur auf den
Bedarf innerhalb höchstens eines Monats
sich erstrecken.
Die Verabfolgung von Eiweißmilch,
Buttermilch und Ramogen ist den ge¬
troffenen Anordnungen zufolge nur unter
Einziehung der Vollmilchkarte oder Ent¬
wertung der Kartenäbschnitte für die
Dauer der Verschreibung zulässig. Ebenso
werden für die abzugebenden Mengen
von Malzpräparaten die Zuckerkarten ein¬
bezogen; allerdings nicht etwa in dem
Sinne, daß z.B. bei der Ausgabe von Malz-
280
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Juli
suppenextrakt die gleiche Menge an Zucker
zurückbehalten wird, sondern daß die
Menge von 500 bis 700 g • Malzsuppen¬
extrakt der Wochenmenge des Rüben¬
zuckers gleichgerechnet wird.
Die Ärzte werden aus dieser Zusam¬
menstellung ersehen können, daß sie auch
weiterhin die Behandlung kranker Säug¬
linge auf Grund der von ihnen erprobten
Grundsätze mit Erfolg werden durch¬
führen können; denn sie haben zur Ver¬
fügung z. B. für die Behandlung akuter
und chronischer Verdauungsstörungen Ei¬
weißmilch und holländische Säuglings¬
nahrung, für die Herstellung von eiwei߬
milchartigen Gemischen im Hause Plas¬
mon und Larosan. Sie werden sich auch
künftighin zur Anreicherung der Eiwei߬
milch wie auch der Milchmischungen des
Nährzuckers und der Nährmaltose be¬
dienen können, wenn die Neigung des
Kindes zu erhöhter Darmgärung das er¬
fordert. Sie werden bei der Notwendig¬
keit der Verabreichung von Malzsuppe
genügende Mengen Malzsuppenextrakt aus
der Apotheke beziehen können; und da
nach den mitgeteilten Untersuchungen
kranke Säuglinge das zu 94% ausgemah¬
lene Mehl schlecht vertragen, können die
Ärzte künftig für kranke Säuglinge 75 %ig
ausgemahlenes Feinmehl verschreiben.
Anhängern der Kindermehle wird es mög¬
lich sein, aus Feinmehl und den angeführ¬
ten Malzpräparaten Mischungen zum Er¬
satz der Kindermehle herzustellen.
Durch die für kranke Säuglinge zur
Verfügung stehenden Milch-, Eiweiß- und
Kohlehydratpräparate ist den Ärzten auch
weiterhin die Anwendung der in der
Friedenszeit erprobten Behandlungs¬
methoden kranker Säuglinge ermöglicht
worden. Da jedoch die Mengen, in denen
diese Zubereitungen in den Handel kom¬
men, begreiflicherweise nicht so groß sein
können wie in Friedenszeiten, werden die
Indikationen für die Verabfolgung be¬
ziehungsweise Verschreibung sehr scharf
gestellt werden müssen. Bisher sind diese
Präparate, wie die Erfahrung hat lehren
müssen, auch ohne zwingende Indikation
sogar gesunden Säuglingen verschrieben
worden, oder das Publikum hat sie ohne
ärztliche Vorschrift verlangt und erhalten.
Dieser Zustand ist jetzt unhaltbar
geworden. Deswegen werden die Prä¬
parate fortan nur auf ärztliches Attest
hin, niemals für länger als einen Monat
und nur gegen Ablieferung der entspre¬
chenden Milch- und Zuckerkarten er¬
hältlich sein. Mißbräuchlicher Beschaf¬
fung der Zubereitungen durch das Publi¬
kum ist so ein Riegel vorgeschoben, und
die Ärzte werden in jedem einzelnen
Falle sorgsam zu überlegen haben, ob sie
nicht auf die genannten Präparate ver¬
zichten können; dies wird bei leichteren
Störungen sicherlich ohne weiteres mög¬
lich sein, wenn sie gewisse Modifikationen
in den für die gesunden Säuglinge gelten¬
den Ernährungsvorschriften eintreten
lassen. Läßt sich ein solches sparsames
Verschreiben nicht erzielen, so entsteht
die Gefahr, daß die jetzt noch vorgese¬
henen Präparate selbst den kranken
Kindern bis zu 2 Jahren nicht.-mehr
verfügbar gemacht werden können.
Schlußbemerkung.
Die Ernährung des gesunden und
kranken Kindes bis zum vollendeten
2. Lebensjahre wird somit für die Kriegs¬
zeit nur insofern entscheidend beeinflußt,
als die Indikationen für bestimmte Milch¬
präparate bzw. für bestimmte Zucker¬
und Mehlarten viel schärfer zu ziehen
sind als bisher. Es ist nicht zu befürchten,
daß Säuglinge durch die neue Sachlage
nennenswerten Schaden erleiden werden,
wenn auch zugegeben werden muß, daß
Ärzte, Eltern und Pflegerinnen gewisse
Unbequemlichkeiten werden in^den Kauf
nehmen müssen. Andrerseits wird viel¬
leicht gerade die Kriegszeit eine gewisse
Erziehung des Publikums für eine richtige,
nicht übertrieben hohe Einschätzung der
künstlichen Ernährung herbeiführen
unter der Voraussetzung, daß die Ärzte
bei jedem einzelnen Falle sorgfältig und
individuell bei ihren Verschreibungen
künstlicher Nährpräparate Vorgehen. Im
allgemeinen werden die Schwierigkeiten
bei der künstlichen Ernährung gesunder
und kranker Säuglinge während der
noch bevorstehenden Kriegsmonate um
so geringer werden, je mehr die natür¬
liche Ernährung an Umfang zunimmt.
Hier haben die Ärzte als Berater des
Volkes eine große dankbare, im besten
Sinne vaterländische Aufgabe zu erfüllen.
Jetzt ist der Zeitpunkt für eine wirk¬
same Stillpropaganda ganz besonders
günstig, er sollte von keinem Arzt ver¬
säumt werden.
F ür die Redaktion verantwortlich Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. K1 e m p e r e r in Berlin. Verlag von Urban&Schwarzenberg
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Literatur: Prof. Dr. Seifert und Dr. Como (Würzburg), Klin.-therap
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_- 7 - Dieses Heft enthält Prospekte folgender Firmen: -
Chem. Fabrik von Heyden, Radebeul-Dresden, betr.: „Nirvanol“. — E. Merck, Darmstadt, betr.: „Magnesium-Perhydrol“.
Die Therapie der Gegenwart
1917
herausgegeben von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer
in Berlin.
August
Nachdruck verboten.
*
Betrachtungen über gastro-intestinale Störungen während der
Kriegszeit im Heimatgebiet 1 ).
Von Privatdozent Dr. W. Weiland,
fachärztlicher Beirat für innere Krankheiten im Bereich des VII Armeekorps
Durch eine fortlaufende Reihe von
fast gleichen Erscheinungen, die ich bei
der Beobachtung magen-darmerkrankter
Soldaten machte, werde ich veranlaßt,
meine Erfahrungen auf diesem Gebiete
in kurzer Form zur Darstellung zu brin¬
gen; wie auf vielen Teilgebieten innerer
Erkrankungen bei Feldzugsteilnehmern
und Soldaten im Heimatgebiete, so er¬
geben sich auch für Magen-Darmkrank-
heiten keine wesentlich neuen Gesichts¬
punkte für die Diagnostik und Beurtei¬
lung, aber die specifischen Wirkungen des
Krieges lassen sie unter einem besonderen
Gesichtswinkel erscheinen. Das mir zur
Verfügung stehende Material rekrutierte
sich zu einem großen Teile aus Menschen,
die in der Heimatgarnison mit Symptomen
der Störung der Tätigkeit des Magen-
Darmkanals erkrankten beziehungsweise
nach Eintritt ihrer militärischen Verwen¬
dung über Symptome überstandener und
rezidivierender Magen-Darmerkrankungen
klagten, zum anderen Teile aber aus
Kriegern, die nach mehr oder weniger
langem Aufenthalte im Felde und in der
Front als tnagen-darmkrank zu ihren
Truppenteilen oder ins Lazarett zurück¬
verwiesen waren. Es ist natürlich von
Interesse, dieses Beobachtungsmaterial
auch nach anderen Richtungen zu be¬
werten, als nur von diagnostisch-thera¬
peutischen Gesichtspunkten, und zwar
spielen hier hinein die Fragen besonders
nach der Dienstbeschädigung, dann nach
der Aggravation, ferner nach der militäri¬
schen Verwendbarkeit. Es liegt vielleicht
•mehr an der Auswahl des mir zur Ver¬
fügung stehenden Materials, das sich zum
größten Teile aus Beobachtungsfällen
zusammensetzte, als am Gesamtbilde der
beobachteten Krankheiten überhaupt, daß
sich periodenweise bei den eingewiesenen
Soldaten gleiche oder ähnliche Sym-
ptomenkomplexe zeigten, und außerdem
kann ich natürlich trotz einer verhältnis¬
mäßig großen Gesamtzahl irgendwelche
Anhaltspunkte über die Häufigkeit der
Magenkranken überhaupt nicht geben.
x ) Nach einem Vortrag.
Wenn ich zuerst die Untersuchungs¬
methodik erwähne, so ist es selbstver¬
ständlich, daß jeder Magenuntersuchung
eine genaue Anamnese und Feststellung
von körperlichen Veränderungen organi¬
scher oder nervöser Art voranzugehen
hat. Die physikalischen Zeichen der Er¬
krankung des Magen-Darmkanals durch
Perkussion, Palpation und Inspektion
sind so geringgradig, daß aus ihnen eine
Diagnose herzuleiten oder auch nur zu
vermuten, außerordentlich schwer ist.
Der vielfach palpatorisch oder perkuto¬
risch nachweisbare Stand der Magengrenze,
das so häufig zur Diagnose einer Magen¬
senkung oder Magenerweiterung ver¬
wandte Magenplätschern sind Symptome,
die vielleicht als Ausdruck asthenischer
Konstitution eine Bedeutung beanspru¬
chen, aber keineswegs genügen zur Dia¬
gnose nach den oben angegebenen Be¬
griffen. Auch der Druckschmerz, sowohl
circumscript im epigastrischen Winkel als
nach der bekannten Lokalisation nach
Boas, ist durchaus nur mit größter Vor¬
sicht zu verwerten. Segmentäre Über¬
empfindlichkeit nach Headschen Zonen
ist ein so vieldeutiges Symptom, daß
darauf nur geringer Wert gelegt werden
kann. Es handelt sich bei aller Magen¬
diagnostik einmal um eine Feststellung
per exclusionem, andererseits um eine
notwendige exakte Diagnose nach der
Seite der Sekretion, Lage, Form und Mo¬
tilität des Magens und der Funktion des
Darmes.
Infolgedessen wird neben der körper¬
lichen Untersuchung die funktionelle
Magen-Darmuntersuchung den breitesten
Raum bei der Beurteilung von Magen¬
kranken einnehmen. Die große Reihe der
diagnostischen Hilfsmittel wird sich in der
Hand des einzelnen auf eine bestimmte
Summe von stets angewandten Unter¬
suchungsmethoden beschränken, während
die zahlreichen anderen Untersuchungs¬
methoden nur in Fällen zweifelhafter Er¬
krankung herangezogen werden; denn so
kompliziert die Verhältnisse liegen mögen,
in der Mehrzahl der Fälle gelingt es, mit-
36
2&2
Die Therapie der Gegenwart 1917.
August
tels weniger, erprobter Methoden durch¬
aus sicher zu gehen, soweit eine klinische
Sicherheit überhaupt möglich ist, und da
eine Reihe Untersuchungsmethoden gleich¬
wertig sind, wird *es auf den einzelnen
Untersucher ankommen, welche er nach
Übung und Erfahrung anwenden will. Ich
selbst habe bei der Beobachtung des vor¬
liegenden Materials Wert gelegt auf die
diagnostische Feststellung der Größe,
Lage und Form des Magens durch Luft¬
aufblähung, der Motilität durch Unter¬
suchung sieben Stunden nach Einnahme
einer Probemahlzeit, oder durch nüchterne
morgendliche Ausheberung, Feststellung
der Sekretionsverhältnisse durch Dar¬
reichung des gewöhnlichen Boas-Ewald-
schen Probefrühstücks. Die Appetitmahl¬
zeit von Curschmann habe ich entspre¬
chend den Zeitverhältnissen nicht anwen¬
den können. Für die Prüfung der Darm¬
funktion verwandte ich die Schmidt-
Straßburgersche Probekost mit Modi¬
fikationen, die durch die zu ermöglichen¬
den Ernährungsverhältnisse gegeben
waren und die bakteriologische und mikro¬
skopische Untersuchung des Stuhles.
Ganz besonderer Wert wurde von mir
auf den Nachweis okkulter Blutungen ge¬
legt und ich kann wohl sagen, daß die
überwiegende Mehrheit der Unter¬
suchung der okkulten Blutungen —
selbstverständlich unter Einhal¬
tung der klinischen Kautelen —
mir in allen zweifelhaften Fällen
ein fast sicheres diagnostisches
Merkmal war. In den allermeisten Fäl¬
len, die von mir untersucht wurden, habe
ich das Röntgenverfahren unterstützend
herangezogen, muß aber gestehen, daß
zwar für die feinere Diagnostik das Rönt¬
genverfahren großen Wert hat und nicht
durch andere Methoden ersetzt werden
kann, daß aber im allgemeinen die klini¬
schen Untersuchungsmethoden in der
oben skizzierten Art ausreichend sichere
Anhaltspunkte für die Beurteilung des
Einzelfalles geben. Bemerken möchte ich,
daß ich nur ganz ausnahmsweise bei äl¬
teren Leuten in die Lage gekommen bin,
differential-diagnostisch oder für eine
Frühdiagnose krebsartige Erkrankungen
in den Bereich der Erwägungen ziehen zu
müssen, daß in diesen Fällen aber das
Röntgenverfahren wesentlich weiter
brachte. Eine andere Reihe von Erkran¬
kungen, die durch Röntgenuntersuchung
in ihrem anatomisch-funktionellen Bilde
geklärt werden konnte, sind die Obsti¬
pationen und adhäsions-peritonitische Er¬
krankungen, sei es traumatischer, sei es
tuberkulöser Natur.
Wie jedem Gutachter sind auch mir
eine Reihe von Fehldiagnosen früherer
beobachtender Ärzte begegnet. Wie ich
schon Eingangs andeutete, ist das eine
Tatsache, die immer wieder betont wer¬
den ' muß: verschiedenartigste Krank¬
heiten konstitutioneller und funktioneller
Art verbergen sich bei schleichender Ent¬
wickelung und langsamem Fortschreiten
unter dem Bilde der Magenerkrankung.
Um die wichtigsten herauszugreifen, seien
Phthise und Basedow genannt. Es er¬
übrigt sich, auf die Symptomatologie der
Spitzentuberkulose und der verschiedenen
Formen verkappter Art der Thyreotoxi-
kose hinzuweisen oder sie ausführlich zu
schildern, weil diagnostische Mefkmale
der einen und anderen Erkrankung in
jedem Falle vorliegen. Die diagnostische
Verkennung ist nicht nur ein ärztlicher
Fehler, sondern bei dem Beobachtungs¬
materiale der Armee eine Schädigung der
arbeitenden oder Heeresdienst tuenden
Bevölkerung. Auf eine sehr naheliegende,
aber, wie mich die Erfahrung lehrte, trotz¬
dem häufig übersehene Möglichkeit möchte
ich besonders hinweisen: das ist die Dia¬
gnose eines Magenleidens bei objektiv
vorhandenen Symptomen der Tabes dor-
salis, von denen klinisch die gastrischen
Krisen im Vordergründe stehen. Auch
damit sage ich gewiß nichts Neues, aber
ich bin durch eine Reihe von Vorkomm¬
nissen, deren Zahl sich nach Prozenten
der Gesamtbeobachtung ausdrücken läßt,
veranlaßt, diese ■ häufige diagnostische
Fehlerquelle besonders namhaft zu
machen. Ferner war es mir auffällig, daß
die Anwesenheit von Darmschmarotzern,
sowohl von Taenia saginata als von ge¬
wöhnlichen Ascariden mit ihren teils ner¬
vösen, teils gastrischen Symptomen, über¬
sehen wurde und häufig zu langer, erfolg¬
loser Behandlung führte. Unter einer
Reihe von Beobachtungskranken mit
motorischen Störungen und schmerzhafter
Erkrankung, angeblich des Bauchraumes,
sind mir einige Fälle ganz besonders be¬
merkenswert, bei denen es sich, wie die
Untersuchung ergab, viel weniger um
peritonitisch-adhäsive Prozesse handelte,
als um pleuritische Verwachsungen. Es
handelte sich in diesen Fällen um Schu߬
verletzungen der oberen Bauchgegend,
die teils transversale Durchschüsse ge¬
wesen waren, teils saggitale Steckschüsse
durch Infanteriegeschosse. Auch hier
hätte schon genaue körperliche Unter-
August
Die Therapie der Gegenwart 1917.
283
suchung zur Feststellung führen müssen,
daß pleuritische Schwarten wenigstens
vorhanden waren. Genaue röntgenolo¬
gische und funktionelle Magen-Darm¬
untersuchung ergab das Intaktsein der
Verdauungsfunktion und die Erklärung
der Beschwerden durch das Vorhanden¬
sein der pleuritischen Narben. Auffallend
waren bei diesen Kranken die subjek¬
tiven Angaben über das Gefühl des Zu¬
sammengezogenseins, die habituelle ky-
photische Haltung bei vollkommen fehlen¬
der Atembehinderung, da der Atemtyp
durchaus abdominal geworden war. Ich
stelle natürlich nicht in Abrede, daß bei
diesen Kranken Bauchfelladhäsionen vor¬
handen sein konnten, zumal es sich in
einigen Fällen um Laparotomierte han¬
delte, aber der Symptomenkomplex ad¬
häsiver Peritonitis war bei genauer Ana¬
lyse nicht vorhanden und die Beschwerden
fanden ihre Erklärung in den großen Ad¬
häsionen der Pleura, zum Teil ihre Be¬
stätigung in dem Verschwinden der Sym¬
ptome nach der Behandlung. In diesen
Fällen war das Röntgenverfahren von
einer sonstigen anderen Methoden ver¬
schlossenen Feinheit.
Die weitere Quelle diagnostischer Irr-
tümer: Verwechselung neurasthenischer
Beschwerden mit solchen der Störungen
dyspeptischer Art leitet hinüber zu den
Dyspepsien im allgemeinen. Meine Er¬
fahrungen auf dem Gebiete der psychi¬
schen Dyspepsie schließen sich dem an
und decken sich nlit den Ausführungen,
die vor kurzem aus dem Nachlasse meines
verstorbenen Lehrers Lüthje veröffent¬
licht worden sind. Es ist in den letzten
Jahren die Frage des gleichzeitigen Zu¬
sammentreffens der vielgestaltigsten
Magensymptome mit einem noch wechsel¬
volleren psychischen Symptomenkomplex
genugsam ventiliert, um ihr Vorhanden¬
sein und ihre Symptomatologie als be¬
kannt vorauszusetzen. Von den fünf
Gruppen der nach der Einteilung von
Dreyfus vorhandenen nervösen Dyspep¬
sien sind mir die Störungen auf der Basis
konstitutioneller Neurasthenie und hyste¬
rischer Erkrankung am häufigsten be¬
gegnet, während psychogene oder cyclo-
thyme dyspeptische Formen oder solche
auf der Basis erworbener Neurasthenie
fast verschwindend wenig vorhanden
waren. So ist auch die Prognose in den
von mir beobachteten Fällen verhältnis¬
mäßig ungünstig gewesen. Nicht einmal
lange freie Intervalle konnte ich in der
Mehrzahl der Fälle beobachten. Die
psychogene Dyspepsie und die hysterische
Form traten vor allem bei Leuten auf, die
entweder lange im Felde gewesen waren,
oder bei denen sich plötzlich Angstvor¬
stellungen shockartiger Natur bei plötz¬
lich auftretenden Unglücksfällen auf den
Magen-Darmtraktus konzentrierten. Es
waren hierbei nie Phebien, wie z. B. Car-
cinomfurcht, zu beobachten, wohl aber
Zustände monatelang dauernder voll¬
kommener Anorexie mit habituellem Er¬
brechen.
Von den Formen der Sekretionsstörun¬
gen achylischer, superacider oder ana-
cider Art überwog in den ersten Monaten,
wo ich derartige Kranke zu beobachten
Gelegenheit hatte, der letztere Typ, wäh¬
rend seit ungefähr einem halben Jahre die
salzsäurefreien Mägen zahlreicher wurden.
Ich weiß sehr wohl, daß diese Angaben
über Übersäuerung und Säuremangel, die
sich natürlich auf das Ergebnis der Aus¬
heberung nach Probefrühstüek. stützen,
nur mit Vorsicht diagnostisch zu ver¬
werten sind, da ja bekanntermaßen die
Säurezahlen des ausgeheberten Magen¬
inhalts in verhältnismäßig weiten Grenzen
schwanken können und von den ver¬
schiedensten äußeren Faktoren abhängig
sind; auch müssen hier die psychischen
Dyspepsien außer Betracht bleiben, bei
denen von einem Tage zum anderen die
HCl-Menge so sehr schwanken kann.
Aber wenn sich die Beobachtungen in dem
einen oder anderen Sinne in einer be¬
stimmten Zeitspanne häufen, dann dürfte
man bis zu einem gewissen Grade zum Aus¬
spruche des obigen Satzes berechtigt sein.
Frische Ulcera des Magens oder des
Zwölffingerdarmes bekam ich nie zu Ge¬
sicht; wo die Diagnose auf ulceröse Pro¬
zesse lautete, handelte es sich um Fälle,
bei denen die Erkrankung stets als Rezidiv
oder als Komplikation im Verlaufe frü¬
herer Darmstörungen aufzufassen war.
Profuse Blutungen ulceröser Magen¬
oder Dickdarmgeschwüre habe ich nicht
gesehen, wohl' aber begegnete mir häufig
die Mitteilung, daß im Stellungskriege und
bei Vormärschen mit ausgesprochen un¬
regelmäßiger Ernährung unter Bevor¬
zugung von Früchten und ungekochten
Cerealien Blutungen vorhanden gewesen
seien. Schwere sekundäre Anämien traten
bei den Blutungen nicht auf. Die Pa¬
tienten erholten sich körperlich rasch,
aber es blieb eine auffallende Empfind¬
lichkeit des Magen-Darmkanals zurück.
Eine große Reihe der beobachteten
Störungen des Intestinaltraktus erstreckte
36*
284
Die Therapie der Gegenwart 1917.
August
sich auf Erscheinungen von seiten der Ver¬
dauungstätigkeit, meist im Sinne der Ver¬
stopfung, viel weniger im Sinne des Durch¬
falles, wenigstens was die länger dauernden
Störungen anbetraf. Es ist mir überhaupt
aufgefallen, daß neben der Flatulenz, den
Beschwerden und Unbequemlichkeiten me-
tioristisch geblähter Därme die Obstipa¬
tionen im Vordergründe der klinischen
Erscheinungen der Darmerkrankungen
standen ; Dünndarmerkrankungen, vor al¬
len Dingen Gärungsdyspepsien, habe ich
nie beobachten können. Dickdarmerkran¬
kungen dagegen in großer Anzahl. Ich
komme darauf weiter unten noch zurück.
Was ich oben von den anaciden Magen¬
säften sagte, wiederholt sich bei den
Durchfällen, und zwar gehen sowohl kli¬
nisch die meisten Erkrankungen an Durch¬
fall mit Achylie einher, als auch häufen
sie sich gegenüber der Obstipation der
früheren Monate im letzten Winter, wenig¬
stens im Bereiche meiner Beobachtung.
Ich glaube nicht fehlzugehen, wenn ich
bei diesem Befunde, fußend auf der Unter¬
suchung über Aussehen, Farbe und Be¬
schaffenheit des Stuhles, die Ansicht aus¬
spreche, daß es sich in allen diesen Fällen
mit größter Wahrscheinlichkeit um gastro-
gene Diarrhöen bei Achylia gastrica han¬
delt. Sie beeinträchtigen natürlich bei
längerem Bestehen oder häufigen Wieder¬
holungen sehr intensiv die militärische
Leistungsfähigkeit und auch die Arbeits¬
fähigkeit des einzelnen. Neben diesen
Durchfällen spielt die diarrhoische Nach¬
erkrankung nach Ruhr oder Typhus mit
dauernd reizbarer .Peristaltik eine Haupt¬
rolle und ferner die akuten Erkrankungen
im Sinne der Colitis gravis oder suppura¬
tiva. Es ist mir unverhältnismäßig häufig
dieses letztere Krankheitsbild begegnet
und zwar waren es fast ausschließlich
Leute, die im Felde krank geworden waren.
Allerdings waren auch unter der Zivil¬
bevölkerung eine recht beträchtliche An¬
zahl Fälle schwerer und schwerster Er¬
krankung dieser Art gleichzeitig in Beob¬
achtung. Seitdem A. Schmidt zuerst
wieder in erhöhtem Maße die Aufmerk¬
samkeit auf das Vorkommen einer ruhr¬
ähnlichen, unter Umständen rezidivieren¬
den Erkrankung mit Symptomen, die der
bacillären Ruhr vollkommen gleich sein
können, gelenkt hatte, sind mir zwar in
der Friedenspraxis nur wenig solcher
Fälle begegnet, aber jetzt während des
Krieges war nicht nur in der Militär-,
sondern auch in der Zivilbevölkerung ein
recht erheblicher Prozentsatz der Magen-
Darmkranken unter Erscheinungen er¬
krankt, bei denen es unter Ausschluß einer
Ruhrätiologie auf bakteriologischem Wege
gelang, sie als eine Erkrankung eigener
Art des Dickdarmes festzustellen. Die
häufig im Felde nicht durchführbare
Stuhluntersuchung nach allen Kautelen
läßt natürlich den Einspruch nicht ganz
verstummen, daß es doch primär Ruhr¬
erkrankungen gewesen seien. Sehr wahr¬
scheinlich ist es mir für den größten Teil
der Fälle jedoch trotzdem, daß es sich
nicht um eine Ruhr, sondern um den
Symptomenkomplex der ruhrähnlichen
schweren Colitis gehandelt hat. Ihre Pro¬
gnose war in den meisten Fällen günstig
und nur einmal ist mir ein Todesfall unter¬
laufen. Operativ einzugreifen (Appendi-
cotomie) habe ich nie nötig gehabt. Die
im Frieden so häufig beobachteten Rezi¬
dive waren bei dieser Art Kriegserkran¬
kung so gut wie nie vorhanden, wenigstens
soweit ich es bis jetzt übersehen kann.
Das Symptom, welches in den aller¬
meisten Fällen im Vordergründe der An¬
gaben der Darmkranken stand, war die
hartnäckige Verstopfung und die er¬
schwerte Stuhlentleerung. Um vor Täu¬
schungen bewahrt zu sein, habe ich die
einzelnen Stuhlgänge kontrollieren lassen
und tatsächlich gefunden, daß bei einer
Reihe von Erkrankungen starke Obstipa¬
tionen, bei denen drei bis sechs Tage ver¬
gingen, ehe spontan Stuhl erfolgte, vor¬
handen sein können, ohne daß organische
Erkrankungen des Magens und Darmes
vorliegen. In einer Reihe von Fällen war
ja allerdings die Säurestärke gesteigert
im Sinne der Übersäuerung des ausge¬
heberten Magensaftes, und dieses Bild,
Superacidität + Obstipation, ist mir im
Laufe der Kriegsmonate ebenso geläufig
geworden, wie.das Gegenteil, Achylie und
gastrogene Durchfälle. Aber in vielen
Fällen fehlten auch alle Anhaltspunkte
für eine Störung des Saftflusses im Magen-
Darmkanal, und trotzdem bestand eine
Obstipation in obenbeschriebener Hart¬
näckigkeit, bei der bei den einzelnen Stuhl¬
entleerungen eine Reihe von steinharten
Kotballen bis zu Kleinapfelgröße entleert
wurden, die besonders bei länger bestehen¬
der Erkrankung mit makroskopisch sicht¬
baren Schleimfetzen, zum Teil Blutspuren
von Rissen der Rectalschleimhaut oder
des Sphincter ani herrührend, bedeckt
waren. Alle diese Fälle zeichneten sich
durch eine röntgenologisch auf den distalen
Dickdarmabschnitt beschränkte peristalti-
scheStörung des Dickdarmes aus und waren
August
Die Therapie der Gegenwart 1917.
285
therapeutisch außerordentlich schwer I
zu beeinflussen. In einem einzigen Falle,
der operativ gebessert wurde, handelte
es sich um eine Verwachsung zwischen
den Schenkeln der Flexura sigmoidea mit
enorm erweitertem S-romanum nach einer
Pelveoperitonitis, ein Krankheitsbild also,
das aui Grund einer akquirierten Erkran¬
kung die anatomischen Verhältnisse imi¬
tiert, wie sie den congenitalen Hirsch-
sprungschen Erkrankungen zugrunde
liegen. In diesem Falle war die Verstop¬
fung so hochgradig und das Unvermögen
der mechanischen Stuhlentleerung so groß
gewesen, daß häufige manuelle Ausräu¬
mung des Rectums sich als notwendig er¬
wiesen hatte. Für das Krankheitsbild der
geschilderten Obstipationen glaube ich als
Ätiologie anführen zu können eine äußerst
starke Ausnutzung der resorptiven Kräfte
des Dickdarmes bei einer gleichzeitig be¬
stehenden Fettarmut des Darminhaltes.
Ich habe keine quantitativen Fettana¬
lysen vornehmen können, mikroskopisch
fanden sich bei diesen Stühlen nie Fett¬
kügelchen oder Fettsäurekrystalle. Es ist
mir gar nicht unwahrscheinlich, daß der
Körper als Anpassung an eine quantitativ
verringerte und qualitativ veränderte
Nahrung seinerseits durch Maßnahmen
reagiert, die zur intensivsten Resorption .
der assimilierbaren Nahrungsstoffe führt.
In diesem Sinne wäre das Auftreten der
Obstipation ein Anpassungsvorgang des
Organismus.
Nach diesen kurzen Schilderungen der
vorkommenden Magen-Darmerkrankun¬
gen sei es mir gestattet, einiges über die
subjektiven Symptome, über die Ätio¬
logie und die Therapie anzuführen. Neben
dem Appetitmangel, den Beschwerden
der Übersäuerung mit Aufstoßen und
Sodbrennen und intensivemHungergefühle
spielten eigentlich lokale Sensationen in
der Gegend des ganzen Leibes eine Haupt¬
rolle, aber sie waren keineswegs so charak¬
teristisch, daß aus ihnen sich einheitliche
Schmerzbilder hätten ableiten lassen. Im
Vordergründe* stand ein fast immer an¬
gegebener Druckschmerz im epigastri¬
schen Winkel und das Gefühl unbestimm¬
ter Schmerzen um den Nabel herum, ganz
gleichgültig, ob es sich um Darm- oder
Magenerkrankungen handelte. Die Pal¬
pation des Unterbauches wurde nur bei
tieferem Drucke als schmerzhaft ange¬
geben, besonders dann, wenn stärkere
Kotmassen den Dickdarm und Enddarm
füllten. Reflektorische Muskelspannungen
über -wirklich schmerzhaften Gegenden
des Leibes fehlten fast nie. im wesent¬
lichen waren die Angaben die über dif¬
fuse, ihrem Charakter nach unbestimmte,
ziehende, drückende Schmerzen; ; nur
selten ließ sich ein bestimmter Darm¬
abschnitt oder dessen Projektion auf der
Bauchoberfläche objektiv schmerzhaft ab¬
grenzen, selbst bei Aufforderung, die
schmerzhaften Stellen zu zeigen, war eine
genaue Ang*abe kaum zu erhalten. So
habe ich trotz meiner darauf gerichteten
Bemühungen über bestimmte Formen
und Lokalisation von Schmerz bei Ab¬
dominalerkrankungen an meinem Ma¬
teriale keine Aufschlüsse finden können,
wenigstens nicht mehr, als sie den lehr¬
buchmäßig bekannten Schmerzen ent¬
sprachen; nicht einmal die Kolikschmer¬
zen waren so typisch, wie man sie vielfach
zu sehen gewohnt ist; vielmehr waren in
den wenigen Fällen mit derartfg schmerz¬
haften Erkrankungen Reizerscheinungen
von seiten des Peritoneums so hochgradig
oder die Empfindlichkeit der Patienten
so groß, daß auch hier nur mit Hilfe der
funktionell-klinischen Diagnostik Klar¬
heit geschaffen werden konnte.
Ebenso schwierig war eine ätiologische
Erkennung der Krankheit im Einzelfalle.
Ich sehe selbstverständlich ab von den
auf der Hand liegenden Ursachen, die
jedem Arzte geläufig sind, sondern denke
zuerst an die Sekretionsstörungen und das
Ulcus, dann an die verschiedenen Formen
der Obstipation. Soll man wirklich in
diesen Fällen einen ursächlichen Zu¬
sammenhang zwischen Magen-Darm¬
störungen und Einflüssen des Kriegslebens
annehmen, oder besteht nur ein mittel¬
barer Zusammenhang? Ich glaube, man
wird von Fall zu Fall entscheiden müssen,
ob nicht der geklagteSymptomenkomplex,
soweit er nicht offensichtlich frischer Art
ist, unter dem Einflüsse irgendwelcher
Hemmungs- oder Begehrungsvorstellun¬
gen, vielleicht auch unter dem Einflüsse
von Angst von seinem Träger erkannt
oder überwertet wird, das heißt, daß in
einer großen Anzahl von Fällen meiner Auf¬
fassung nach die Entstehung des Leidens
auf den Kriegsdienst zurückgeführt wird,
um beweisen zu können, daß man durch
ihn geschädigt ist. Ich gebe selbstver¬
ständlich hierbei allen traumatischen Ein¬
flüssen von Quetschungen, Erkältungen,
Prellungen, aller lang fortgesetzten un¬
regelmäßigen oder ganz unzweckmäßigen
Ernährung eine weitgehende Billigung,
aber zu ihrer Anerkennung muß be¬
wiesen sein das Fehlen aller nervösen Mo-
286
Die Therapie der Gegenwart 1917.
August
mente und das Fehlen überhaupt irgend¬
welcher Magen-Darmstörungen in den Jah¬
ren friedlicher Beschäftigung. Und selbst
diesen Zusammenhang zugegebjen, muß
ich mit Rücksicht auf die Erfahrungen
bei der Zivilklientel die Frage der Schädi¬
gung durch die Einflüsse dieser Sekretions¬
anomalien und Darmentleerungsstörungen
als zum mindesten mit Vorsicht aufzu¬
fassen erklären, und ebenso zurückhaltend
bin ich mit der Bewertung von Angaben
über Schmerzen. Deshalb glaube ich
auch, daß man das Gesetz von der Kapital¬
abfindung vorläufig auf magendarm¬
kranke, entlassene Soldaten nicht an¬
wenden sollte, selbst wenn man Kriegs¬
dienstbeschädigung angenommen hat.
Was schließliqh die Therapie der
Magen-Darmstörungen der obenbeschrie¬
benen Art anbelangt, so habe ich bei den
akuten Fällen Günstiges und Gutes ge¬
sehen, bei der Behandlung der Heimat¬
truppen dagegen viel Enttäuschungen er¬
lebt. Verordnungen, -die unter gleichen
Verhältnissen im Frieden zu erträglicher
Funktion führten, blieben angeblich hier,
besonders bei Schmerzempfindungen, ohne
wesentlich bessernden Einfluß. Es war
-bei der vorhandenen- mangelnden Aus¬
wahl an Nahrungsmitteln geeigneter Art
nicht immer leicht, die Ansprüche nach
Diät zu befriedigen, aber auch hier fiel
es mir auf, was ich schon zu Anfang des
Krieges in der Ambulanz der medizini¬
schen Klinik in Kiel beobachten konnte,
daß der wirklich Magenkranke unter einer
vielleicht nicht ganz passenden Kost viel
weniger Beschwerden hatte als der ner¬
vös disponierte Mensch, und daß die sub¬
jektiven Klagen der letzteren in umge¬
kehrtem Verhältnisse zu ihren objektiven
Symptomen standen. Die eigentliche Be¬
handlung diätetischer Art erstreckte sich
auf Vorsichtsmaßregeln sowohl bei der
Herstellung der Speisen unter Verzicht
auf Gewürz und Beobachtung leichter
Verdaulichkeit als auf das Essen der so
zubereiteten Speisen, indem Wert auf gute
Kauwerkzeuge beziehungsweise deren Er¬
satz, vorsichtiges Kauen und häufige
Mahlzeiten in kleinen Mengen gelegt
wurde. Ganz besonders gut haben sich
mir im Laufe der Kriegsjahre die Beiter
donnapräparate bewährt und vor ^ allen
Dingen die physikalische Behandlung des
Leibes, sowohl durch Wärme in der Form
von Kataplasmen, der Packungen und der
trockenen Umschläge, vielleicht auch der
Höhensonne, als auch der Massage, entwe¬
der mit der Hand oder mit der elektrisch
betriebenen Vibrations-Massagekugel. Gu¬
tes sah ich auch von warmer Unterkleidung
und Leibbinden. Die große Reihe der Ab¬
führmittel hat mir durchweg keine befrie¬
digenden Resultate gezeitigt, da ist die
mechanischeEntleerung durch Einläufe und
vielleicht die Anwendung der Mittelsälze am
ehesten von Erfolg gewesen. Bei den Dick¬
darmkatarrhen blutiger, nicht specifischer
, Art habe ich am meisten Erfolg von der Clys-
menbehandlung und zwar entweder mit
Tannin oder Salzlösung oder mit Dermatol-
Gummiarabikum-Einläufen geseheu, auch.
Bolus alba war .von bester -Wirkung.
Am Schlüsse meiner Ausführungen
möchte ich mein Urteil über die von
mir beobachteten Magen-Darmstörungen
dahin zusammenfassen, daß es sich in der
Mehrzahl der Fälle entweder um akute,
gutartige Prozesse handelte, oder um die
Störungen veränderter Magen-Darmtätig¬
keit mehr veralteter Art: der Rest ist ge¬
bildet durch nervöse Dyspepsien. Dia¬
gnostisch neue Krankheitsbilder aufzu¬
decken, ist mir nicht gelungen. Wenn
auch die Therapie besonders unter den
jetzigen Verhältnissen auf gewisse Schwie¬
rigkeiten stößt, so ist doch die Behauptung
gerechtfertigt, daß gleichgültig, ob eine
Schädigung des Verdauungskanals durch
die Diensteinflüsse oder davon herrührende
Verschlimmerung angenommen wird oder
nicht, die therapeutische Behandlung in den
allermeisten Fällen wenigstens insofern von
Erfolg begleitet sein wird, daß bei akuten
Fällen eine Heilung, bei veralteten ein Sta¬
tionärbleiben des Prozesses erreicht wer¬
den kann, so daß der Begriff einer Kriegs¬
erkrankung des Magen-Darmkanals, jeden¬
falls im Verhältnisse zu der großen Zahl
der Magen-Darmerkrankungen, zu den
Seltenheiten gerechnet werden muß.
Aus der Inn. Abt. des Stubenrauch-Kreis-Krankenbauses zu Berlin-Licbterfelde
(Dirig. Arzt: Prof. Dr. Rautenberg).
Die Behandlung des akuten Gelenkrheumatismus mit elektro=
kolloidalen Silberpräparaten.
Von Dr. C. Moewes.
Es gibt Fälle von akutem Gelenk¬
rheumatismus, bei denen die Wirkung
der Salicylpräparate versagt oder Salicyl
überhaupt nicht angewendet werden kann.
Wir möchten nach unseren Erfahrungen
folgende drei Gruppen unterscheiden:
August
Die Therapie der Gegenwart 1917.
287
Fälle von schwerstem Gelenk¬
rheumatismus mit hochgradig toxisch¬
infektiösem Charakter unter dem Bilde
einer Sepsis verlaufend mit lebensbedroh¬
lichen, Erscheinungen;
Fälle, bei denen die Erkrankung
eines einzelnen Gelenkes gewöhn¬
lich in sehr ausgesprochener Weise vor¬
herrscht, ohne daß sich eine specifische
Ursache (Gonorrhöe, Tuberkulose) nach-
weisen läßt;
endlich noch Fälle, bei denen zwar an
sich die Salicyltherapie wirksam wäre,
aber die Darreichung des Salicyl in thera¬
peutisch wirksamen Dosen auf unüber¬
windliche Schwierigkeiten von seiten des
Patienten wegen subjektiver Beschwerden
stößt.
Für alle solche Krankheitsformen hat
sich uns nun die Behandlung mit
Silberpräparaten als zweckmäßig, mit¬
unter sogar als dringend notwendig er¬
wiesen. Es liegt ja schon in der theoretisch
anzunehmenden Wirkung des Kollargol
und seiner neueren Modifikationen des
Elektrokollargol (Heyden) und Ful-
margin (Rosenberg) begründet, daß man
sie mit entsprechenden guten Erfolgen
wie bei Sepsis und sepsisähnlichen Er¬
krankungen auch bei dem Gelenkrheu¬
matismus anwenden kann. Die Wirkun¬
gen des Kollargols richten sich ja weniger
gegen die infizierenden Erreger als viel¬
mehr gegen die toxischen Einflüsse des
Infekts; es erregt Reaktionen im Körper,
die an sich schon heilsam wirken können:
chemischer Natur, katalytische und ad¬
sorbierende, biologische, Leukocytose er¬
regend, und antibakterielle.. Diese Ein¬
wirkungen sind augenfällig, bei Anwen¬
dung des Kollargols oft unmittelbar ein¬
setzend, von scheinbar bedrohlichem Cha¬
rakter, bei den anderen Präparaten milder,
aber'doch deutlich. Die sogenannten un¬
angenehmen Nebenwirkungen: Tempera¬
turerhöhungen, Schüttelfröste, Cyanose,
schwerste Kollapszustände mit Herz¬
schwäche bleiben bei der Anwendung der
durch elektrische Zerstäubung hergestell¬
ten kolloidalen Silberlösungen mit Sicher¬
heit aus. Dieser Hauptvorzug gegenüber
den Lösungen des chemisch hergestellten
Silberkolloids ist darauf zurückzuführen,
daß den letzteren Eiweißkörper als Schutz¬
kolloide beigefügt sind. Dazu kommt
noch, daß sie ohne größere Schmerz¬
haftigkeit intramuskulär gegeben werden
können.
Wir haben nun bei den verschieden¬
sten Krankheiten Kollargol und die elektro-
kolloidalen Präparate angewandt, Wir¬
kungen immer gesehen, wenn auch nicht
endgültig zweckmäßige und heilende.
Dazu ist bei den infektiösen Erkrankun¬
gen die Art des Infekts zu verschieden,
sind die Reaktionen des Körpers zu
mannigfaltig.
Unter diesem Gesichtspunkte haben
wir nun auch die Wirksamkeit dieser
Präparate bei dem akuten Gelenk¬
rheumatismus mit seine.n Kompli¬
kationen der endo- und perikar¬
dialen Herzerkränkungen beurteilt
und unsere Erwartungen bestätigt ge¬
funden. Neu ist ja dte Anwendung des
Kollargol bei dem Gelenkrheumatismus
nicht (Riebold, Plehn,. Fritz Meyer,
Junghans, Engelen, Reich mann).
Es wurde intravenös und als Klysma ge¬
geben. Alle Autoren sind sich darin einig,
daß eine günstige Wirkung erzielt wurde,
oft überraschend bei salicylrefraktären
Fällen, aber auch nur relative Besserun¬
gen, vor allem Einwirkungen auf die sub¬
jektiven Beschwerden und die infektiös¬
toxischen Erscheinungen. Endokardiale
Prozesse sollen sich durch Kollargolthera-.
pie vermeiden oder eingetretene heilen
lassen. Über sehr schöne Erfolge wird
auch bei specifisch gonorrhoischen Ge¬
lenkerkrankungen berichtet (Riebold,
Gennerich usw.).
Wir haben nun im Laufe der letzten
zwei Jahre bei ausgesuchten Fällen von
akutem Gelenkrheumatismus nach oben
angegebenen Indikationen elektrokol-
loidale Präparate angewandt und eine
im allgemeinen gleich günstige Wirkung
feststellen können wie andere Unter¬
sucher. Heftige Reaktionen, unerwünschte
Nebenwirkungen, wie bei intravenöser
Kollargoltherapie, haben wir in keinem
Falle beobachten können. Allerdings
fehlte auch meist die intensive Einwirkung,
die man bei dem Kollargol mitunter nach
einmaliger Injektion sehen kann: nach
heftigem Schweißausbruche dauerndes Ab¬
sinken der Temperatur und Schwinden
aller Krankheitserscheinungen.
Es sind meist mehrere Einspritzungen
nötig, intravenös entschieden wirksamer
als intraglutäal. Wir injizierten täglich
oder jeden zweiten Tag. Nach zwei bis
sechs Injektionen sinkt die Temperatur
gewöhnlich remittierend zur Norm.
Wir geben zwei charakteristische Kur¬
ven als Beispiel wieder.
Auffallend ist meist schon am Tage
der ersten Injektion der ausgezeichnete
Einfluß auf das Allgemeinbefinden' und
288
Die Therapie der Gegenwart 1917.
August
die lokalen Beschwerden. Der schwere
Infektzustand löst sich, die Schmerzen
hören auf, die lokalen Veränderungen der
Gelenke bilden sich zurück, die Beweg¬
lichkeit bessert sich, die Hautverände¬
rungen des Erythema nodosum schwinden
schneller und vollkommener wie bei der
besten Salicylwir-
kung, alles ohne die
oft so quälenden Be¬
gleiterscheinungen
der Salicyltherapie.
Leider findet sich
diese ideale Wir¬
kung der elektro-
kolloidalen Präpa¬
rate nicht immer,
sondern, wie folgende Zusammenstellung
unserer Beobachtungen zeigt, nur in
etwa 53% der Fälle.
Davon
zweifel¬
Behandelt wurden:
Fälle
prompte
hafte
Wirkg.
Wirkg.
von Gelenk¬
rheumatismus. .
26
14
7
von rheumati¬
scher Endo- und
Perikarditis . . .
12
6
2
In einer Reihe von Fällen — diejenigen
mit zweifelhafter Wirkung unserer Zu¬
sammenstellung —
trotzt das Fieber der
Behandlung. Man
muß sich zunächst
mit einer guten
Allgemeinwir-
kung bescheiden,
die fast niemals zu
vermissen ist. Gerade
Fälle von subakutem
und beginnendem
chronischen Rheuma¬
tismus neigen zu einer gewissen Resistenz
gegenüber den Silberpräparaten, wie ja
überhaupt gegen jede therapeutische Ma߬
nahme. Häufig gelingt es, durch konse¬
quent fortgesetzte Einspritzungen in grö¬
ßeren Abständen während mehrerer
Wochen die gewünschte Heilung zu er¬
zielen. Man wird sich mit den einzelnen
Einspritzungen zweckmäßig nach dem
Temperaturverlaufe richten.
Wir geben auch hier zwei Kurven als
Beispiel wieder:
Es ist selbstverständlich, daß wir
auch absolut kollargolrefraktäre Fälle ge¬
sehen haben, die entweder durch ihre
Komplikationen zu -einem ungünstigen
Ausgange führten oder bei denen sich
durch andere Behandlungsmethoden (Ar-
thigon-Milch- Injektionen) Besserungen er¬
zielen ließen.
Endo- oder perikardiale Prozesse, die
erst während der Behandlung mit Kollar-
golpräparaten aufgetreten wären^ haben
wir nicht beobachtet, ohne allerdings
daraus weitgehende Schlüsse, was die
Vermeidung derartiger Komplikationen
durch die Behandlung angeht, ziehen zu
wollen. Wohl aber haben wir bei akuter
Endo- und Perikarditis, bei denen die
rheumatischen Beschwerden in den Hinter¬
grund traten, einige sehr schöne Erfolge
gesehen in etwa der Hälfte der Fälle (ver¬
gleiche die Zusammenstellung), aber auch
andererseits völlige Versager mit letalem
Ausgange, wie es ja in der Natur der vor¬
liegenden Infekte begründet liegt.
Auffallend war auch in einigen Fällen
(vier) die sehr günstige Beeinflussung des
Erythema nodosum. Nach einmaliger
Injektion von Elektrokollargol Nachlassen
der erheblichen subjektiven Beschwerden,
nach weiterer Behandlung völlige Zurück¬
bildung starker entzündlicher Infiltrate
August
Die Therapie der Gegenwart 1917.
289
im Verlaufe weniger Tage; Vorgänge, wie
wir sie jedenfalls in diesem Maße bei der
üblichen Salicyltherapie nicht gesehen
haben.
Alles in allem empfehlen wir
die Behandlung mit elektrokolloi-
dalen Silberpräparaten, bei dem
akuten Gelenkrheumatismus und
den verwandten Erkrankungen, so¬
fern irgendwelche Gegengründe
für eine konsequent durchzufüh¬
rende Salicyltherapie gegeben sind.
Erfolgreich erweist sie sich häufig
auch in solchen Fällen, wo Salicyl
versagt. Die elektrokolloidal.en
Präparate verdienen dem Kollar-
gol vorgezogen zu werden, da bei
ihrer Anwendung jede uner¬
wünschte Nebenwirkung sich mit
Sicherheit vermeiden läßt.
Nochmals die Behandlung
der Pneumonie mit Optocfyinum basicum und Milchdiät.
Von Dr. Felix Mendel-Essen.
Im juniheft dieser. Monatsschrift be¬
kennt sich Professor Rosin auf Grund
seiner Erfahrung an 200 Krankheitsfällen
als Anhänger der auch heute noch um¬
strittenen spezifischen Optochin-
therapie der Lungenentzündung
und empfiehlt genau nach der von mir
wiederholt gegebenen Vorschrift, das Op-
tochinum basicum im Gegensatz zum
Optochinum hydrochloricum in einer Form
zu geben, die eine Umwandlung der
schwer löslichen Base in das lös¬
liche Salz durch die Magensalz¬
säure verhütet. Zu diesem Zwecke rät
Ros in vor der Darreichung einer jeden
Optochinkapsel den Mageninhalt mit
einem gehäuften Teelöffel doppel¬
kohlensaurem Natron, am besten in
Fachinger Wasser, zu neutralisieren.
Diesem Vorschläge gegenüber möchte
ich dringend empfehlen, bei meiner Vor¬
schrift der Milchdiät zu verbleiben, die
völlig ausreicht, um jene unerwünschte
Umwandlung des Medikaments zu ver¬
hüten, die ferner die unangenehmen
Nebenwirkungen des Natron bicar-
bonicum vermeidet und schließlich
noch eine Reihe anderer den Kranklieits-
verlauf günstig gestaltender Wir¬
kungen besitzt, die oft neben dem
specifischen Effekt des Morgen-
rothschen Heilmittels den glück¬
lichen Ausgang der Pneumonie be¬
dingen.
Ein gehäufter Teelöffel (ca. 5 gj Natron
bicarbonicum einem Patienten verab¬
reicht, sättigt infolge seiner leichten
Zersetzbarkeit sofort die Magensäure,
wie es für die Optochintherapie gewünscht
wird, aber die durch das Salz bewirkte,
anfänglich alkalische Reaktion des Magen¬
saftes hält sich nur für kurze Zeit.
Sehr bald kommt es durch die Einwir¬
kung der Kohlensäure, welche bei der
Neutralisation der Salzsäure entsteht und
durch den auf die Drüsen des Magens
von seiten des Alkalicarbonats verur¬
sachten Reiz zu einer vermehrten Se¬
kretion des Magensaftes mit Zunahme
der Säurereaktion, welche sogar über
das ursprüngliche Maß hinausgehen kann.
Da es auf den jeweiligen Füllungs¬
zustand des Magens ankommt, ob bis zu
diesem Zeitpunkt die ganze Optochin-
dosis den Pylorus bereits passiert hat,
muß die Darreichung des Natron bicar¬
bonicum schon aus diesem Grunde für
ein unzuverlässiges Mittel erklärt
werden, wenn man die Einwirkung der
Magensaizsäure auf das Optochin'mit
Sicherheit verhüten will.
Gleichzeitig mit der Zersetzung des
doppelkohlensauren Natrons beginnt die
Entwickelung der Kohlensäure, von der
lg des. Salzes 270 cbcm abgeben kann,
also sicherlich bei einer Gabe von 5 g alle
5 Stunden eine ausreichende Menge von
nascierendem Gas, um das Zwerchfell
durch Aufblähung des Magens nach oben
zu drängen und dadurch dem durch die
Infektion schon ' ohnehin ge¬
schwächten Herzen des Pneumonikers
eine weitere Schädigung zuzufügen.
Es braucht nur an die oft momentan
ungünstige Wirkung der kohlensäure¬
haltigen Getränke auf Herzkranke er¬
innert zu werden, die besonders dann sich
bemerkbar macht, wenn , die liegende
Stellung des Patienten, wie es bei der
Pneumonie der Fall ist, das Entweichen
der Kohlensäure erschwert.
5 g doppelkohlensaures Natron soll
aber fünfmal pro Tag verabreicht werden,
d. i. eine' Salzmenge, die den ohnehin
bedrohten Kreislauf der Pneumoniker
noch weiter belasten nruß und infolge
von Wasserretention zu schweren Schä¬
digungen führen kann, wenn diese großen
Mengen mehrere Tage hindurch verab¬
reicht werden müssen.
37
29Ö
Die Therapie der Gegenwart 1917.
August
Wir wissen 1 ), daß große Dosen von
Alkalien, besonders von Natronsalzen,
sogar Hydropsie erzeugen können; so
hat Blum Natronödeme bei Diabeti¬
kern beschrieben, und Breitmann Hy¬
dropsie bei Nephritis unter dem Einfluß
großer Alkalidosen eintreten sehen. Da
wir aber bei der Pneumonie fast stets mit
einer tubulären Schädigung der Nie¬
renfunktion und nicht selten sogar mit
einer echten Nephrose rechnen müssen,
so ist schon aus diesem Grunde aus der
Darreichung großer Natrondosen, wenn
nicht gerade eine Ödembildung, so doch
eine Belastung und Schädigung der
Circulationsorgane zu befürchten.
Den Vorzug der reinen Mich-
diät habe ich wiederholt dargelegt 2 ); sie
garantiert durch ihren reichen Kalorien¬
gehalt eine ausreichende Ernährung
des Patienten. Sie erfüllt, alle 3 Stunden
und besonders vor der Darreichung des
Optochins, in Mengen von 150 bis 200 g
gegeben, voll und ganz ihre Aufgaben
bezüglich der Umwandlung des Opto-
chinum basicum in das giftigere Opto-
chinum hydrochloricum; sie verdünnet
die Magensalzsäure, neutralisiert
sie vermöge ihrer alkalischen Reaktion
und bindet sie, worauf auch Rosin
hinweist, noch durch Kasein, so daß bei
dieser Art der Behandlung eine Umwand¬
lung der Optochinbase in eine lösliche
Optochinverbindung mit Sicherheit ver¬
hütet wird, und dies um so mehr, als .der
Fettgehalt der Milch die Magensekretion
herabsetzt.
Gleichzeitig aber bildet die absolute
Milchdiät neben der Optochintherapie
einen wichtigen Heilfaktor in der Be¬
handlung der Pneumonie. Sie ist nicht
nur Schonungsdiät für die bei der
Lungenentzündung fast stets geschädigten
Nieren, der geringe Kochsalzgehalt der
Milch und ihre diuretische Wirkung ver¬
hüten auch, daß die bekannte Chlor¬
natriumretention bei der Pneumonie
eine den Kreislauf bedrohende Höhe er¬
reicht und, indem sie durch verstärkte
Diurese die Ausscheidung des Optochins
beschleunigt, verhütet sie seine toxi¬
sche Wirkung.
Daß diese von mir vorgeschlagene Art
der Behandlung die gefährlichen Neben¬
wirkungen des Optochins völlig ausschal¬
tet, beweist wohl die Tatsache, daß seit¬
dem trotz zahlreicher Optochin-
anwendungen noch kein Fall von
Sehstörung weder mir privatim berich¬
tet, noch in der Literatur bekanntgegeben
ist, was sicher geschehen wäre, wenn sich
etwas Derartiges ereignet hätte. Die
Optochinum - basicum - Milchbe¬
handlung erfüllt deswegen, wie Mor-
genroth schon hervorgehoben, alle For¬
derungen, welche wir an eine rationelle,
auf der theoretischen Forschung begrün¬
dete, den Bedürfnissen der Praxis Rech¬
nung tragende Therapie stellen können.
Die Modifikation derselben, wie sie
Ros in vorschlägt, bringt aber dieser
Therapie, die gerade eben die Klippen der
gefürchteten Amaurose überwunden hat,
neue Gefahren, die ihre anerkannte
Wirksamkeit wieder in Frage stellen
können.
Dabei gestaltet sich die von mir vor¬
geschlagene Optochintherapie, was prak¬
tisch von größter Bedeutung ist, in der
Ausführung sehr einfach, wenn auch
die Milchbeschaffung während des Krie¬
ges manchmal auf Schwierigkeiten stößt,
die auch wohl Rosin veranlaßt haben,
meine Vorschriften zu modifizieren.
Der Patient wird möglichst gut ge¬
lagert, um häufiges Umbetten zu ver¬
meiden, und absolut ruhig 1 ) gehalten,
eine Vorschrift, die deswegen wichtig er¬
scheint, weil bei jeder Infektion die
Ruhigstellung des erkrankten Organes die
Gefahren einer örtlichen oder allgemeinen
Propagation der Entzündung vermindert.
Deswegen auch Spree hver bot undkeine
der so beliebten Packungen und
Wickel, deren an sich schon zweifelhafter
Nutzen durch die damit verbundene An¬
strengung und Belästigung des Patienten
reichlich aufgehoben wird. Bei pleuri-
tischen Schmerzen auf die erkrankte
Stelle einen Heißwasserbeutel, der
neben der schmerzstillenden Wirkung
auch eine wohltätige und dem Patienten
angenehme Diaphorese begünstigt. Kein
elektrisches Heizkissen, das eine
trockene Atmosphäre um sich her er¬
zeugt, dadurch den Hustenreiz steigert
und die Expektoration erschwert. Alle
2 bis 3 Stunden 150 bis 200g Milch,
nicht weniger, um eine continuier-
liche Einwirkung auf die Magensekretion
zu erzielen, warm oder kalt, pur oder mit
Zusatz von Kakao, Kaffee, Zucker, Eiern,
Mehlpräparaten, je nach Bekömmlichkeit,
Geschmack und Bedarf. Alle 5 Stunden,
Tag und Nacht hindurch, nach vor¬
heriger Milchdarreichung eine Kapsel Op¬
tochinum basicum 0,2—0,3, bis die alle
0 S. auch Volland, Ther. Mh. 1910, Mai.
0 S. Strauch, Die Nephritiden, Berlin 1916.
2 ) M. m. W. 1915, Nr. 22. D. m. W. Nr. 18.
August
Die Therapie der Gegenwart 1917.
291
5 Stunden rectal gemessene Tempe¬
ratur auf 37,5 gesunken ist oder als
Zeichen einer Idiosynkrasie gegen
das Mittel Ohrensausen auftritt.
Selbstverständlich dürfen bei genauer
Beobachtung des bedrohten Kreislaufes,
auch in Verbindung mit der Opto-
chintherapie, je nach vorliegenden In¬
dikationen, alle Herz- und Vaso¬
motorenmittel (Digitalis, Strophan-
thus, Campher, Adrenalin, Aderlaß) An¬
wendung finden.
Aus der Hautstation des Festungslazaretts Breslau (Abteilung Yorckschule).
Boluphen, ein neues Wundstreupulver bei der Behandlung
von Haut= und venerischen Krankheiten.
Von Prof. Dr. J. Schaffer, leitendem Arzte.
Die zahlreichen Versuche, für das
Jodoform ein Ersatzpräparat zu finden,
das frei von seinen störenden Neben¬
erscheinungen ist, haben bisher noch zu
keinem befriedigenden Ergebnis geführt.
Unter der großen Zahl der antiseptischen
oder richtiger der als antiseptisch bezeich-
neten Wundstreupulver ist keirjs, das an
das Jodoform heranreicht. Freilich be¬
sitzen manche pulverförmige Medika¬
mente einige vorteilhafte Sondereigen¬
schaften und sind darum auch für be-
stimmte Zwecke sehr brauchbar: Das
Dermatol als austrocknendes Mittel, das
Tannoform wegen seiner dishydrotisehen
Wirkung, das Änästhesin zur Schmerz¬
linderung und so fort. Sonst aber kommen
keinem so wesentliche Vorzüge zu, daß
es zu einer unbestrittenen Sonderstellung
gelangen konnte.- Viele Ärzte haben zwar
eine ausgesprochene Vorliebe für irgend¬
ein Wundstreupulver und pflegen es vor¬
zugsweise zu benutzen. Man gewinnt aber,
fast den Eindruck, als ob hier mehr Zu¬
fälligkeiten und Gewohnheiten mit im
Spiele sind, als daß besondere Eigenschaf¬
ten des Medikaments diese Bevorzugung
rechtfertigten. Darum ist es gewiß be¬
rechtigt — trotz der übergroßen Zahl von
Wundstreupulvern — noch neue Mittel
auszuprobieren und, wenn möglich, bessere
Präparate ausfindig zu machen.
Seit etwa einem Jahre habe ich an dem
großen Materiale unserer Abteilung ein von
der Fabrik chemisch - pharmazeutischer
Präparate Vial & Uhlmann in Frank¬
furt a. M. hergestelltes Wundstreupulver
verwandt und an diesem so günstige
Eigenschaften festgestellt, daß ich darüber
kurz berichten möchte.
Nach den Mitteilungen von Vial & Uhlmann
stellt das Boluphen ein Kondensationsprodukt
zweier wirksamer Desinfektionsmittel, des Form¬
aldehyds und des Phenols dar und ist ein ungiftiges,
gelblichweißes, staubfeines, geruchloses Pulver.
Chemisch ist es als ein trockenes Polymerisa¬
tionsprodukt des Oxybenzylalkohols aufzufassen,
welches als nichttoxisches Phenolderivat Form¬
aldehyd in labiler Bindung enthält. Bei vorsich¬
tigem Erhitzen spaltet es langsam Formaldehyd
ab; die Phenolnatur des Körpers ist durch Eisen¬
chlorid nachweisbar. Es ist unlöslich in Wasser,
Äther, Benzin, dagegen teilweise löslich in Alko¬
hol, Alkalien und Ammoniak.
Die bactericide Eigenschaft des Boluphens be¬
ruht darauf, daß es sich durch die enzymatische
Einwirkung des Wundsekretes und der Sekret¬
säfte allmählich in freies Formaldehyd und ein
Phenolderivat zerlegt, wobei die in nascierendem
Zustande zur Wirkung gelangenden Komponenten,
eine andauernde bactericide Tätigkeit entfalten..
Die Ungiftigkeit des neuen Präparates
wurde im Tierexperiment festgestellt. Kaninchen
vertrugen bis zu 3 g per os, Katzen bis 10 g und
Hunde bis 15 g ohne Vergiftungserscheinungen.
Subcutan wurden bis zu 3 g bei Kaninchen ohne
Nebenwirkung gegeben.
Das Pulver ist steril. Wird es mit Nährgelatine
gemischt und in Platten gegossen, so zeigt es bei
37° keinerlei Entwickelung von Bakterien.
* Mit Glycerin-Agar gefüllte Petrische Schalen
wurden mit Bakterien infiziert und mit Boluphen
überpudert und bei 37° gehalten. Am vierten
Tage wurden die sowohl mit Streptokokken als
auch mit Anthrax infizierten Proben auf frische
Glycerinagarplatten überimpft; es zeigte sich kein
Wachstum.
Desodorisierende Wirkung. Zehn Tropfen
faulendes Blut wurden in der Reibschale mit 5 g
Boluphen innig gemischt und die sehr übelrie¬
chende Mischung bei 37° gehalten. Nach 24 Stun¬
den war nur noch ein schwacher Geruch bemerk¬
bar, nach 48 Stunden vollkommene Desodorisie¬
rung eingetreten.
Im Preise stellt es sich erheblich billiger als
Jodoform und andere Antiseptica.
Die von mir selbst angestellten experi¬
mentellen Untersuchungen zeigten gleich¬
falls,daß das Boluphen antiseptische Eigen¬
schaften aufweist, daß es freilich das Jodo¬
form in dieser Hinsicht nicht erreicht. Legt
man frische Strichkultur von Staphylo¬
kokken und Streptokokken auf Agar¬
platten an und bestreut sie mit dem Bolu¬
phen, so zeigte sich Entwickelungshem¬
mung. An den Stellen, an denen nur
wenig Puder aufgetragen war, war aller¬
dings Wachstum noch festzustellen. Sol¬
che Experimente sind indessen nicht ganz
maßgebend für die Desinfektionswirkung
in der Praxis, weil nach den oben gemach¬
ten Mitteilungen gerade die chemische
Umsetzung des Boluphens durch Wund¬
sekrete erst die desinfizierende Wirkung
zur Entfaltung bringt. Freilich zeigen
37*
292
Die Therapie der Gegenwart 1917.
August
auch die Resultate beim Ulcus molle, das
wohl eins der besten Kriterien für die Des¬
infektionskraft eines antiseptischen Streu¬
pulvers ist, daß es dem Jodoform nicht
gleichgestellt werden kann. In dieser Hin¬
sicht teilt es das Schicksal aller anderen
antiseptischen Wundstreupulver, die
bisher als Jodoformersatz für die The¬
rapie der weichen Schanker empfohlen
wurden.
Eine Anzahl von Ulcera mollia re¬
agierten bei unseren Versuchen ganz gut
auf das Boluphen, aber doch nicht alle.
Man muß hier einen Unterschied machen.
Es gibt nämlich manche weiche Schanker,
die relativ leicht zu beseitigen sind, so daß
man manchmal auf den Verdacht kommen
könnte, daß wir eine Fehldiagnose ge¬
macht haben, daß vielleicht eine Ver¬
wechselung mit Herpes genitalis necro-
ticus vorliegt, wenn nicht der positive
Ausfall der Autoinokulation (abgesehen
vom Bacillenbefunde) die Diagnose ge¬
sichert hätte. Andere Fälle aber wieder
mit stark zerklüftetem Geschwürsgrunde
und unterminierten fortschreitenden Rän¬
dern sind viel schwerer zu heilen. Hier
ließ das Boluphen oft im Stiche. Darin
ähnelt es etwa dem Europhen, das dem*
Jodoform wohl noch am nächsten stehend,
in solchen Fällen gleichfalls oft versagt.
Man kommt bisweilen doch noch zum
Ziele, wenn man neben dem Streupulver
die von Neisser zuerst angegebenen
Ätzungen mit konzentrierter Carbolsäure
vornimmt: Jeden zweiten Tag sorgfältige
Auswischung des Wundgrundes mit be¬
sonderer Berücksichtigung zerklüfteter
Partien und tieferer Buchten. In einigen
Fällen bekam ich auch günstige Resultate
mit Boluphen, wenn ich jeden zweiten
Tag die Wundfläche statt mit Carbol mit
Tinctura jodi austupfte. Diese Pinse¬
lungen bieten den Vorteil, daß man sie
durch den Patienten selbst vornehmen
lassen kann, weil sie keine so subtile
Handhabung erfordern wie die Ätzung
mit der Carbolsäure. Wenn von der Jod¬
tinktur etwas zu viel genommen wird, so
ist das nicht schlimm, während die viel
intensiver wirkende Carbolsäure in der
Hand des Patienten leicht einmal Schaden
anrichten kann. Bei der Auftragung des
Boluphens ist übrigens darauf zu achten,
daß es in direkte Berührung mit dem
Wundgrunde kommt; daher empfiehlt es
sich, vorher eine Reinigung mit einer
4%igen wäßrigen Resorcinlösung vorzu¬
nehmen (zwei- bis dreimalige Applikation
täglich).
Für die Behandlung der chankrösen
Bubonen kann man das Boluphen gleich¬
falls verwenden, auch hier zweckmäßiger¬
weise in Kombination mit Jodtinktur.
Für größere Wundhöhlen ist es vorteil¬
hafter, einen Boluphenbrei (analog dem
Jodoformbrei) zu verwenden, wie wir ihn
später bei der Behandlung von Schleim¬
hautgeschwüren kennen lernen werden.
Aber auch hier blieb der Erfolg, nicht
selten aus, und wir waren genötigt, zum
Jodoform zu greifen.
Wenn ich demnach das Boluphen für
die Behandlung der Ulcera mollia nur be¬
dingt empfehle, keineswegs aber als
sicheres Mittel für diese Erkrankung be¬
zeichnen kann, so ist es für die Therapie
anderer Ulcerationen wieder ^ mehr zu
rühmen.
So ha t es sich bei der Behandlung der
Lues in den verschiedenen Stadien, be¬
sonders bei nässenden Eruptionen mit
Zerfallserscheinungen bewährt, bei stark
‘secernierendem Primäraffekt, bei sekundär
infizierten breiten Condylomen der Geni¬
tal- und Analgegend, wobei die austrock¬
nenden und desodorisierenden Eigen¬
schaften besonders wertvoll sind. Auf
nekrotisch zerfallende Gummata wirkt es
gleichfalls günstig.
In vielen Fällen von Herpes geni¬
talis leistet es gute Dienste. Für die ge¬
wöhnlichen oberflächlichen Formen will
das freilich nicht viel sagen, da sie ja
meist unter irgendeinem indifferenten
Streupulver zur Heilung kommen. Aber
auch bei tiefen,. zur Nekrose führenden
Fällen geht die Überhäutung unter reinem
oder verdünntem Boluphen (Boluphen
1,0‘ Zincum oxydatum Bolus aa 4,5) sehr
schnell vonstatten. Die Anregung zu
rascher Epithelbildung ist überhaupt
einer der auffallenden Vorzüge des Prä¬
parates.
Für die Therapie der Condylomata
acuminata ist das neue Pulver vorteil¬
haft, natürlich in Verbindung mit Ätz¬
mitteln, die die Neubildung zerstören.
Ist diese sehr ausgebildet und massig in
Gestalt erhabener Beete, so ist ja ein
operativer Eingriff oder der Paquelin am
Platze. Sonst reicht die altbewährte
Methode der Verätzung mit Salicyl-Eis-
essig aus (Acidum salicylicum 1,0, Acetum
glacial. 9,0; mit Wattestäbchen jeden
zweiten Tag aufzutragen). Nach dieser
Ätzung ist sofort ein gut austrocknendes
antiseptisches Pulver reichlich aufzu¬
streuen und damit längere Zeit nachzu¬
behandeln. Dazu eignet sich das Boluphen
August
Die Therapie der Gegenwart 1917.
293
sehr gut. Der Patient erhält die Weisung,
zweimal täglich das unverdünnte Pulver
aufzustreuen, wodurch eine dauernde Aus¬
trocknung erzielt wird, die eben am besten
vor Rezidiven schützt.
Sehr zu empfehlen ist das neue Mittel
bei den verschiedenen Formen der Ba¬
lanitis. Auch hier verhalten sich die
einzelnen Fälle nicht gleich. Die Mehr¬
zahl ist therapeutisch leicht zugänglich
und durch alle möglichen austrocknenden
Pulver verhältnismäßig schnell zu be¬
seitigen. Dann kommen aber wieder nicht
so selten recht unangenehme Balanitiden
vor, vor allem scharf begrenzte, nässende
mit serpiginösen Linien fortschreitende
Formen, die trotz sorgfältiger Behand¬
lungsversuche nicht heilen wollen. Sie
sind so hartnäckig, daß man an diabeti¬
sche Ätiologie denken könnte. Besonders
unangenehm sind die Fälle mit dauernd
wiederkehrenden Entzündungserschei¬
nungen, Schmerzhaftigkeit und einer
recht starken Reizbarkeit gegenüber allen
möglichen therapeutischen Versuchen.
Hier bekommt man nun auffallend schnell
Besserung und Heilung durch das Bolu-
phen, das man zweimal täglich unver¬
dünnt aufstreuen läßt (eine dünne Lage
von Gaze einlegen). Bei sehr starker Se¬
kretion ist täglich oder jeden zweiten
Tag eine Betupfung mit einer etwa5%igen
wäßrigen Argentumlösung noch hinzu¬
zufügen. Nebenbei kann man Lokalbäder
mit übermangansaurem Kali (bis zur
leichten Rotweinfarbe) verordnen.
Der Hauptwert des neuen Medika¬
ments liegt auf dem Gebiete der eigent¬
lichen Hautkrankheiten, vor allem
wegen seiner Reizlosigkeit und der ent¬
zündungswidrigen Eigenschaften. Aus
diesem, Grunde ist es besonders indiziert
bei frischen Ekzemen mit der Neigung
zum weiteren Fortschreiten, bei Derma-
titiden infolge irritierender Medikamente,
z. B. nach Scabieskuren, bei gereizten
Unterschenkelekzemen und entzünd¬
lichen Dermatosen aus allen möglichen
Ursachen.
Zuerst einige Worte über die Appli¬
kation. Für oberflächliche Fälle ist
natürlich am bequemsten die Verwendung
als Streupulver meist in unverdünnter
Form, da das Boluphen selbst kon¬
zentriert so gut wie reizlos ist. Eine
eventuelle Verdünnung kann mit Zink
oder Bolus vor genommen werden.
Dr. Stephan in Wiesbaden empfiehlt
folgende Mischung:
Boluphen . 10,0
Zinc. oxydat. . . . 25,0
Bolus . 25,0:
Calc. carb. praec. leviss. 25,0
Magnes. carb. leviss. . 15,0
Wesentlich wirksamer ist es als Salbe.
Es ist ein großer Vorteil, daß das Prä¬
parat sich mit allen möglichen Salben¬
grundlagen gut verarbeiten läßt, nicht
nur mit Vaselin, sondern auch mit dessen
Ersatzpräparaten, die wir ja jetzt oft ver¬
wenden müssen, so mit Unguentum neu¬
trale, Eucerin, Lanolin und anderen. Sehr
brauchbar ist auch eine 10%ige Boluphen-
salbe mit Unguentum solubile, das nach
Dr. Stephans Vorschrift Tragacanth 3,0,
Spiritus 5,0, Glycerin (beziehungsweise
Perkaglycerin) 50,0 und Wasser 42,0 ent¬
hält. Das Boluphen eignet sich auch sehr
gut zur Herstellung von Pasten, so mit
der gewöhnlichen Zinkpaste, von der wir
jetzt aber gleichfalls wegen des Gehaltes
an Vaselin und Amylum möglichst ab-
sehen wollen. Darum ist es ein Vorteil,
daß wir das Pulver direkt mit Unguentum
neutrale mischen können und damit eine
gute Pastenkonsistenz erzielen, z. B.:
Boluphen . 25,0
Unguent. neutrale . . 50,0
(33 Vs % Boluphenpaste).
Vor allem aber eignet sich das neue
Präparat ganz vorzüglich zur Verwen¬
dung in Schüttelmixturen oder Trocken¬
pinselungen, die ja in der Dermatotherapie
mit Recht eine immer größere Rolle spie¬
len. Nicht nur, daß die Anwendungs¬
weise außerordentlich bequem und billig
ist — sie macht ja meist einen Verband
entbehrlich —, der prinzipielle Vorzug ist
doch der, daß diese Mischung vollständig
fettfrei ist und darum auch in Fällen ver¬
tragen wird, in denen die Haut auf jede
fetthaltige Substanz mit Reizerschei¬
nungen reagiert. Es gibt ja viele Haut¬
krankheiten, in denen geradezu eine Idio¬
synkrasie gegen Salben besteht. Darum
soll man es sich zum Grundsätze machen
in allen Fällen, in denen wir mit den üb¬
lichen Verordnungen nicht vorwärts¬
kommen, an die Schüttelmixturen zu
denken, die dann oft überraschend gut
vertragen werden. Sehr bewährt ist bei¬
spielsweise folgende Zusammensetzung:
Boluphen . 10,0
Zinc. oxydat.
Tale, venet. . . . aa 20,0
Glycerin.
Spirit, rectificat. (30°/ 0 )
aa ad 100,0
(10 % Boluphen-Schüttelmixtu r)
294
Die Therapie der Gegenwart 1917.
August
Will man 20%ige Mischung, dann wird
entsprechend weniger Zincum undTalcum,
nämlich 15,0, genommen. Das Gly¬
cerin kann durch Perkaglycerin oder
Glycol ersetzt werden.
Diese Schüttelmixtur gibt oft vorzüg¬
liche, ja überraschende Resultate. Bei den
unangenehmsten Fällen von schnell sich
verbreitenden akuten Ekzemen mit
Schwellung und Spannung, wo nicht
selten auch sehr milde Medikamente
schlecht vertragen werden, trat manchmal
in kurzer Zeit ein Rückgang sämtlicher
Entzündungserscheinungen und Zugleich
der subjektiven Beschwerden, der Schmer¬
zen, des Juckreizes ein. Die'Auftragung
geschieht in der üblichen Weise: Bei
großer Ausdehnung mit einem weichen
Haarpinsel, bei umschriebenen Herden
mit Wattestäbchen. Besonders ist darauf
zu achten, daß man über die sichtbarer¬
krankte Haut hinaus die Trockenpinse¬
lung aufträgt und beim Auftreten neuer
Herde auch diese mitbehandelt. Mit
dieser Mischung gelang es manchmal,
frische Ekzeme geradezu zu kupieren.
Bei intertriginösen Ekzemen war
besonders die austrocknende Wirkung
des Boluphens von Vorteil. Genital- und
Analekzeme, die namentlich in der heißen
Zeit nicht selten trotz aller möglichen Be¬
handlungsversuche nicht weichen wollen,
reagierten oft in kurzer Zeit auf unser
Präparat. In leichten Fällen kommt man
a.us mit Boluphen-Streupulver, bei aus¬
gesprocheneren Erscheinungen, nament¬
lich erodierten und zerkratzten Partien
und schärfer begrenzten Herden, ist die
Schüttelmixtur besser. Sind deutliche
Infiltrate oder gar nässende Stellen vor¬
handen, dann ist wieder eine Paste vor¬
zuziehen (10%). Einlegen von Gaze an
den intertriginösen Stellen, nötigenfalls
Verband. Sehr ratsam ist es auch, von
Zeit zu Zeit eine Höllensteinpinselung
(3—5%ige wäßrige Lösung) an den am
meisten secernierenden Partien vorzu¬
nehmen oder wenigstens öfter mit einer
3 : %igen wäßrigen Resorcinlösung die
Haut zu reinigen, um die Zersetzung von
Sekret zu verhindern.
In manchen Fällen von Folliculitis
barbae (weniger zweckmäßig als Sycosis
non parasitaria bezeichnet) hat sich eine
10%ige Boluphenpaste als vorteilhaft er¬
wiesen. Ja, wir kamen bisweilen auch
mit der Schüttelmixtur zum Ziele, selbst
wenn deutliches Infiltrat und Nässen vor¬
handen war, so daß es von vornherein
zweifelhaft erschien, ob eine Trockenbe¬
handlung schonangebrachtseinwürde. Die
reizmildernde und austrocknende Wir¬
kung der Boluphenschüttelmixtur war
aber so gut, daß sie vertragen wurde und
zur schnellen Heilung führte. Natürlich
kamen auch — wie bei dieser Erkrankung
eigentlich von vornherein zu erwarten war
— gelegentlich einmal leichte Reizungen
vor. Hier wirkten feuchte Verbände mit
einer 2—3%igen wäßrigen Resorcinlösung
als Zwischenbehandlung sehr gut.
Auffallend günstig waren die Resultate
bei varicösen Unterschenkelekze¬
men; bei oberflächlichen Formen mit
10 %iger Schüttelmixtur, bei subakuten
mit tiefergehender Entzündung mit
10 %iger Paste (eventuell mit ^Verband).
Hier war die juckstillende und austrock¬
nende Wirkung, sowie die Begünstigung
der Epithelialisierung durchaus über¬
zeugend. Gerade an dieser Lokalisations¬
stelle ist die Reizlosigkeit des Präparates
ein besonderer Vorteil, da ja selbst indiffe¬
rente Mittel bei varicösen Ekzemen manch¬
malrecht unerwünschte entzündliche Reak¬
tionen verursachen.
Bei seborrhoischen Ekzemen wa¬
ren die Erfolge gut; auch bei akut ein¬
setzenden Formen, deren klinisches Bild
manchmal an die Pityriasis rosea erinnert,
erwies sich die 10-oder 20%iges Schüttel¬
mixtur wirksam auch gegen die subjek¬
tiven Beschwerden.
Vor allem aber ist das Boluphen zu
empfehlen bei akuter Dermatitis infolge
medikamentöser Wirkung, so nach Hg-
Präparaten, bei Idiosynkrasie gegen Jodo¬
form, nach zu intensiven antiscabiösen
Kuren, kurz bei Reizungen durch irgend¬
welche irritierende Substanzen. Auch
wenn der ganze Körper ergriffen war und
die Kranken unter Juckreiz, Brennen und
Spannung sehr litten, waren die Resultate
stets günstig. Man braucht sich nicht
zu scheuen, in Fällen von universeller Aus¬
breitung das Medikament zu verwenden,
da ja eine Intoxikation nicht zu fürchten
ist. Aus diesem Grunde dürfte — mit
Berücksichtigung der bereits hervor¬
gehobenen Eigenschaften — das Mittel
auch bei ausgedehnten Verbrennungen
angebracht sein. Ich hatte freilich bisher
noch keine Gelegenheit, hierbei das Medi¬
kament auszuprobieren.
Bei der Pyodermie, die sicher unsere
häufigste Kriegsdermatose ist, von der
jetzt wohl jeder Lazarettarzt so zahl¬
reiche Fälle zu sehen bekommt, ist das
Boluphen in der mannigfachsten Weise
zu verwenden. Das vielgestaltige, aber
August
Die Therapie der Gegenwart 1917.
295
doch an sich charakteristische Krank¬
heitsbild erfordert ja ein verschiedenes
therapeutisches Vorgehen, vor allem nach
dem Sitze der Infektion an der Ober¬
fläche oder in den tieferen Hautschichten,
also je nachdem es sich um eine mehr
impetiginöse, follikuläre oder anderer¬
seits furunkulöse phlegmonenartige Ent¬
zündung handelt. In den ersten Fällen
hat sich mir am allermeisten eine Zin¬
nober- Schwefelpinselung von folgender
Zusammensetzung bewährt:
Zinnaberis . . . . 1,0 ( 2,0)
Sulfur, praecipitat . 10,0 (20,0)
Zinc. oxydat.
Tale . aa 20,0 (15,0)
Glycerin oder Perkaglycerin
Spirit, rectificat. (40°lo)
aa ad 100,0
(Zinnober-Schwefel-Schüttelmixtur).
Diese Trockenpinselung ist eine ebenso
einfache als zuverlässige Behandlung aller
möglichen Staphylokokkeninfektionen der
Haut. Sie wird fast immer gut vertragen
und wirkt auch oft prophylaktisch, wenn
man die frisch ergriffenen Partien und
neuauftretenden Stellen bald ' mitüber¬
pinselt. Tritt aber .einmal ausnahmsweise
eine Reizung auf (die wohl auf eine Über¬
empfindlichkeit gegen den Schwefelgehalt
der Mischung zurückzuführen ist), dann
ist als Ersatz unsere 10%ige Boluphen-
pinselung (in der oben angegebenen Zu¬
sammensetzung) durchaus zu empfehlen.
Sie wurde stets ohne Reizung vertragen
und war gleichfalls von guter Wirkung.
Freilich kommen bisweilen Fälle vor, in
denen die Schüttelmixturbehandlung nicht
ausreicht. Trotz der Pinselung treten
neue Eruptionen auf, frische Follikuli-
tiden, die sich infiltrieren oder gar zu Fu¬
runkeln umbilden. Aber auch dann ist es
noch nicht notwendig, zu den recht stö¬
renden, kostspieligen und zeitrauben¬
den Salbenverbänden überzugehen. Wir
können vielmehr folgendermaßen ver¬
fahren: Die Schüttelmixtur (Zinnober-
Schwefelmischung oder die Boluphen-
pinselung) wird beibehalten, aber vor der
Auftragung soll an den schlimmeren Stel¬
len eine 10%ige alkoholische Argentum¬
lösung aufgepinselt werden, um auf diese
Weise die Behandlungsintensität zu er¬
höhen. Auch diese kombinierte Behand¬
lung ist ja noch außerordentlich einfach
und bequem in der Applikation und be¬
wirkt oft den Rückgang schon tiefgehen¬
der entzündlicher Infiltrate 1 ).
1 ) Ich möchte ganz allgemein betonen, daß die
Verwendung alkoholischer Pinselungen
In schweren Fällen von Staphylo¬
kokkeninfektion mit erheblicher Krusten¬
bildung und starkem Nässen wird man
freilich genötigt sein, zu antiseptischen
Salbenverbänden, z. B. mit 10%igem
Ichthyol, Schwefel oder Boluphen über¬
zugehen, oder auch zum feuchten Ver¬
bände. Für diesen ist ganz besonders eine
schwache spirituöse Argentum-nitricum-
Lösung sehr zu empfehlen, die bei der
Behandlung der Ulcera cruris bald Er¬
wähnung finden wird.
Sehr geeignet ist das Boluphen für die
Behandlung des Herpes zoster. Bei
leichten Eruptionen mit noch geschlos¬
senen Vesiceln ist die 10%ige Trocken¬
pinselung ganz besonders zu rühmen. Die
Applikation ist denkbar einfach, ein Ver¬
band nicht nötig. Es entsteht eine vor¬
zügliche Schutzdecke, die eine sekundäre
Infektion fernhält infolge des mechani¬
schen Abschlusses und der antiseptischen
Wirkung des Medikamentes. Aber auch
wenn einzelne Epitheldefekte aufgetreten
sind, ist diese einfache Therapie durchaus
noch am Platze. Die Erosionen trocknen
schnell ein und bekommen in kurzer Zeit
eine neue Epitheldecke (auch hier ist die
schnelle Anregung der Epithelialisierung
oft auffallend). Die Behandlung wird
subjektiv angenehm empfunden, da die
Empfindlichkeit und der Juckreiz ge¬
wöhnlich schnell nachlassen. Bei etwaigen
neuralgischen Beschwerden muß natür¬
lich die übliche interne Therapie (Aspirin,
Pyramidon oder Salipyrin) gegeben wer-
zur Verbesserung und Verstärkung der
sonstigen Hautbehandlung mir für viele
Fälle sehr zweckmäßig erscheint und häufiger
verwandt werden sollte, als es wohl üblich ist.
Kommt man mit irgendeiner Behandlungsmethode,
sei es mit einer Salbe, Paste, Schüttelmixtur,
Pflaster nicht zum Ziele, so kann man außerdem
noch von Zeit zu Zeit eine alkoholische Überpinse¬
lung hinzufügen — außer mit Argentum — mit
Pyrogallus (10%), Salicyl, Resorcin aa 5 bis 10%,
mit alkoholischer Jodtinktur, ja selbst mit spiri-
tuöser Carbolsäure. Wir können auf diese
Weise ganz bequem dort, wo es notwendig
ist, die lokale Beeinflussung wesentlich
intensiver gestalten und dadurch schneller
zur Heilung gelangen. Dieser kleine Kunst¬
griff gestattet die Therapie auch feiner zu
nuancieren und zu vereinfachen, insofern, als wir
bei Verwendung dieser alkoholischen Pinselungen
sonst mit wenigen und einfacheren Mitteln, wie
Borsalbe, Tumenolpaste, einer Zinktrockenpinse¬
lung, Salicylpflaster auskommen. In einer dem¬
nächst zu publizierenden Arbeit: ,,Die Behand¬
lung von Hautkrankheiten mit einfachen Mitteln“
(M. Kl.) will ich auf diese Behandlungstechnik
etwas genauer eingehen. Nicht bloß bei der Pyo¬
dermie, sondern auch bei allen möglichen anderen
Dermatosen hat sich dieses Vorgehen mir oft be¬
währt.
296
August
Die Therapie der Gegenwart 1917.
den. Selbst in schlimmen Fällen, z. B.
beim nekrotischen Zoster sah ich vom
Boluphen gute Resultate, nur wird dabei
manchmal Salbe (10 % ige Unguentum
neutrale oder Paste) vorteilhafter sein.
Tiefere Hautdefekte schließen sich sehr
schnell und überziehen sich mit frischem
Epithel.
Daß das Boluphen bei der Behand¬
lung von Erosionen, Wunden und
Ulcerationen verschiedener Art brauch¬
bar sein würde, war nach seinen eingangs
aufgeführten Eigenschaften anzunehmen.
Es hat sich in der Tat gut bei den verschie¬
densten Hautdefekten aus mannigfacher
Ursache bewährt, so bei frischen Opera¬
tionswunden (z. B. nach der Operation
der Phimose), nach schweren Erfrierungen,
bei tiefem Zerfalle von Bubonen, nach der
Incision phlegmonöser Abscesse, Furun¬
keln und dergleichen. Vor allem aber ist
es sehr zu rühmen bei der Behandlung
von Unterschenkelgeschwüren. Wie
es bereits oben gelobt wurde wegen seiner
günstigen Einwirkung auf irritable Ek¬
zeme auf varicöser Grundlage, so leistet
•es auch Vorzügliches bei den Ulcera cruris,
die uns ja meist vor die Aufgabe stellen,
neben der Behandlung der eigentlichen
Wundflächen auch die Dermatitis mit zu
beeinflussen, die entzündliche Haut in der
Umgebung der Geschwüre vor Reizung
zu bewahren. Hier bewährt sich die
10%ige Boluphenpaste außerordentlich.
Sie wirkt auf das Ulcus, indem sie die
Bildung von Granulationen und Epithel
anregt, die Sekretion mildert und, wie
bereits aufgeführt, antiekzematös wirkt.
Wenn bei tieferen nekrotischen Ulcera¬
tionen die Reinigung der Wundfläche
nicht schnell genug vor sich geht, dann
kann man in dem oben erwähnten Sinne
nebenbei noch alkoholische Pinselungen
von 5 bis 10%igem Argentum oder
5 %igem Salicyl-Resorcinspiritus vor¬
nehmen; etwa jeden zweiten bis dritten
Tag vor dem Salbenverbande mit Watte¬
stäbchen aufzupinseln. Bei sehr torpiden
Unterschenkelgeschwüren, die ja manch¬
mal monatelang eine Neigung zur Besse¬
rung nicht zeigen, wird es oft zweckmäßig
sein, zwischendurch feuchte Verbände zu
verwenden, namentlich bei sekundärer
Infektion, bei nekrotischen Belägen und
schlechter Heilungstendenz infolge callö-
ser Geschwürsränder. Für solche Fälle
möchte ich nach meinen Erfahrungen im
Lazarette ganz besonders Höllenstein¬
lösung mit schwachem Spirituszusatze
empfehlen:
Argent nitric . 0,1 — 0,2
Spirit rectificat. (25°l 0 ) ad 200,0
Schwache Spirituose Argentumlösung zum feuchten
Verbände bei hartnäckigen Ulcerationen.
Es ist oft erstaunlich, wie schlecht¬
heilende Geschwüre, die bisher allen mög¬
lichen Behandlungsversuchen trotzten,
gerade durch diese feuchten Verbände
sich bessern und zur Heilung kommen.
Bei starker Sekretion kann vor dem An¬
legen des feuchten Verbandes die Wund¬
fläche leicht mit Boluphen bestreut
werden.
Nach der Mitteilung von Chirurgen
hat das Boluphen auch bei Kriegsver¬
letzungen aller Art, selbst mit schwerer
Sekundärinfektion Gutes geleistet. Es
zeichnete sich auch hier durch seine des¬
infizierende, Sekret beschränkende, granu¬
lationsfördernde Wirkung aus 1 ).
Schließlich möchte ich noch die Ver¬
wertbarkeit des Boluphens bei der Be¬
handlung von Schleimhauterkran¬
kungen, insbesondere von entzündlichen
Affektionen mit Erosionen und tiefer¬
gehenden Geschwüren der Mundhöhle
hervorheben. Hier wirkt bekanntlich das
Jodoform oft ganz ausgezeichnet. Aber
gerade an dieser Lokalisationsstelle sind
naturgemäß die Nebenerscheinungen die¬
ses Präparates besonders störend. Das
Boluphen hat sich in anologen Fällen sehr
gut bewährt, ohne diese unangenehmen
Wirkungen zu zeigen, vor allem als Bolu-
phenbrei, der dem von Mikulicz ange¬
gebenen Jodoformbrei nachgebildet ist.
Diese Mischung wird in folgender Weise
hergestellt: Boluphen wird mit etwa
zehn Teilen 0,l%igem Sublimat oder
2%iger Carbollösung gemischt, 24 Stun¬
den stehen gelassen und nach Abgießen
der Flüssigkeit der Bodensatz mit 3%iger
Borsäurelösung zu einem dicken Brei an¬
gerührt. Dieser Boluphenbrei mit Watte¬
stäbchen dreimal täglich aufgetragen,
wirkt auf entzündliche Schleimhautpro¬
zesse sehr gut, vor allem auf schwere Sto¬
matitis mercurialis mit Nekrose und Ge¬
schwürsbildung. In besonders schlimmen
Fällen kann man auch Gaze mit diesem
Boluphenbrei imprägnieren und zur Tam¬
ponade verwenden. Die Behandlung
wirkt entzündungswidrig, schmerzlindernd'
und wird von den Patienten sehr ange-
x ) Inzwischen ist in der M. Kl. (Nr. 21 dieses
Jahrganges) eine kurze Publikation aus dem Ver¬
einslazarette Frohnau (Mark) von Dr. Hayward
erschienen, der das Boluphen als vorzügliches
Mittel zur schnellen Reinigung und Desodorisie¬
rung schmierig belegter Granulationen rühmt.
August
Die Therapie der Gegenwart 1917.
297
nehm empfunden, zumal, das Präparat
geschmack- und geruchlos ist. Auch eine
Intoxikationsgefahr fällt ja beim Bolu-
phen fort.
Nach den bisherigen Erfahrungen halte
ich das neue Wundstreupulver für brauch¬
bar bei manchen venerischen, vor allem
aber bei zahlreichen Hautkrankheiten.
Bei einigen Dermatosen, die im Material
unserer Abteilung nicht vertreten waren,
so be.i Prurigo, Pityriasis rosea, Tricho¬
phytie konnte ich es noch nicht auspro¬
bieren. Ich bin aber überzeugt, daß e§
auch dort verwertbar ist, und daß auf
Grund der zahlreichen guten Eigenschaf¬
ten des Boluphens, der Reizlosigkeit,
der antiphlogistischen, antipruri¬
ginösen und sekretionsbeschrän¬
kenden Wirkung, der Anregung von
Granulations- und Epithelbildung
das Indikationsgebiet des neuen Mittels
noch wesentlich erweitert werden kann.
Zusammenfassende Übersicht.
Die Behandlung der Rachitis.
Von Ernst Schloß-Zehlendorf-Berlin (zurzeit im Felde).
B. Spezielle Therapie.
1. Die Prophylaxe und Behandlung
der rachitischen Disposition.
Wenn man Grund zu der Annahme
einer besonders schweren rachitischen
Disposition eines Kindes hat — eine ge¬
wisse Disposition zur Rachitis ist jafast ubi¬
quitär —, so empfiehlt es sich, wie wir
oben schon ausgeführt haben, mit der
Bekämpfung dieser Anlage schon sofort
nach der Geburt zu beginnen, um die
Manifestation der Erkrankung womög¬
lich zu verhüten. Eigentlich sollte die
Prophylaxe schon viel früher einsetzen,
bei der graviden Mutter, aber wir wissen
bisher nicht, wie wir dies anfangen sollen.
Den einzigen Ausblick auf eine praktische An¬
wendung eröffnet noch die auch von uns geteilte
Annahme Czernys, daß die rachitische Dis¬
position des Kindes zum Teil in einer mangel¬
haften Kalkmitgift seitens der Mutter besteht.
Das ergäbe die Berechtigung einer Kalkverab¬
reichung an die gravide Mutter. Ich habe auch
schon diesen Versuch in einigen Fällen gemacht,
indem ich bei Müttern, deren erste Kinder schwe¬
rere Anlage zur Rachitis hatten, in den letzten
Monaten der neuen Gravidität Calciumphosphat
nehmen ließ. — Die tägliche Zufuhr von Leber¬
tran war allerdings nicht recht durchzusetzen.
Ein Urteil über die Wirkung dieser Medikation
kann ich auf Gru nd dieser wenigen Beobachtungen
nicht abgeben, glaube auch nicht, daß man ohne
langdauernde Stoffwechselversuche an der Mutter
dazu imstande ist. Immerhin kann von diesem
harmlosen Versuch schon zur Beruhigung der
Mütter Gebrauch gemacht werden.
Ob sich durch eine derartige Kalkmedikation
bei der Mutter vor und nach der Geburt der
Kalkgehalt der Milch steigern läßt — übrigens
ein für die Entstehung der Rachitis sicher ganz
untergeordnetes Moment — ist bei der Unstim¬
migkeit der bisher vorliegenden Versuche noch
ganz unsicher.
Man wird besonders also Frühgeburten
und untergewichtige Zwillingskinder,
die erfahrungsgemäß fast stets an Ra¬
chitis erkranken, wenn sie überhaupt ge¬
deihen, von Anfang an antirachitisch be¬
handeln, also zunächst möglichst Sorge
für natürliche Ernährung, besonders im
ersten Vierteljahre tragen und auch sonst
die Ernährung und Pflege der Kinder so
einrichten, wie wir es oben geschildert.
Bei diesen Kindern ist es auch ratsam,
von Anfang an medikamentös zu be¬
handeln, also Lebertran oder Kalkleber¬
tran zu geben. Allerdings läßt sich bei
derartigen Kindern, die an sich schon oft
schlecht Nahrung nehmen, nur schwer
Lebertran beibringen; doch ist hier ge¬
rade die Wirkung,wie sich aus Vergleichs¬
versuchen bei Zwillingen ergab, sehr
günstig. Man beginnt mit kleinen Dosen
(2—3 g pro die) und steigt erst allmählich
zu 5 und schließlich zu 10 g an. Ein
völliges Verschontbleiben von Rachitis
wird man trotzdem selten erreichen, wohl
aber eine spätere Manifestation und einen
abgeschwächten Verlauf.
2. Die Behandlung der beginnenden
Rachitis.
Bei der beginnenden Rachitis, die, wie
ausgeführt, fast stets den Schädel betrifft,
ist außer den genannten allgemeinen Be¬
handlungsmethoden noch eine wichtige
Aufgabe zu erfüllen; das ist Schutz des
Kopfes vor Deformierung. Da, wie
erwähnt, die Lokalisation der Erweichung
von der Lage des Schädels abhängig ist,
so führt eine fortgesetzt einseitige Lage
zu einer einseitigen Erweichung und Ab¬
flachung, während die Rückenlage zur
allgemeinen Abflachung des ganzen Hin¬
terkopfes führt. Aber die Asymmetrie
bleibt nicht nur auf den Hinterkopf be¬
schränkt, was an sich auch schon oft
häßlich genug ist, sondern gemäß dem
Gesetze von der Fortwirkung einer
derartigen Formänderung auf den ganzen
Körper, greift auch dieser deformierende
Einfluß weiter um sich. Das Gesicht vor
38
298
Die Therapie der Gegenwart 1917.
August
allem wird asymmetrisch, oft in stark
ausgesprochenem Maße, sodaß der ganze
Schädel wie schräg von vorn nach hinten
zu komprimiert erscheint. Diese Asym¬
metrien gehen später - zum Teil zurück,
aber durchaus nicht in allen Fällen; es
ist wohl sicher, daß die meisten
späteren Gesichtsasymmetrien und
erst recht die anderen Schädel¬
deformitäten auf eine übersehene
Craniotabes der ersten Säuglings¬
zeit zurückzuführen sind.
Zu welchen geradezu verhängnisvollen
Konsequenzen die Unkenntnis von diesen
Folgen der Craniotabes führen könnte,
sei an einem Beispiel erläutert.
Ich wurde zugezogen zu einem ungefähr
viermonatigen Kinde wegen eines angeblichen
Schiefhalses. Die Mutter wollte vor der in Aus¬
sicht genommenen Operation, noch das Urteil
eines Kinderarztes hören. Die Untersuchung zeigt
ein hochgradig rachitisches Kind, mit ausgedehn¬
ter einseitiger Craniotabes und entsprechender
Gesichtsasymmetrie. Es bestand dazu eine
scheinbar fixierte Haltung des Kopfes nach der
Seite der Schädelerweichung hin. Da die lokale
Untersuchung keinerlei Ursache für die Schief¬
haltung ergab, die Haltung des Kopfes auch
nicht die dem richtigen Torticollis zukommende
war und sich der Kopf mit einiger Gewalt ruhig
in die richtige Lage bringen ließ, so glaubte ich
das ganze Bild mit der einseitigen Craniotabes
(und deren Ursachen) in Beziehung setzen und
eine Verschiebung der Operation anraten zu dürfen.
Die Operation unterblieb. Das Kind wurde anti¬
rachitisch behandelt; nach einigen Tagen war die
Zwangshaltung und nach einigen Wochen die
Carniotabes geheilt.
Es ist nun viel leichter, solche ein¬
seitige Erweichung und Abflachung zu
verhüten, als sie zu heilen. Wenn die
Kinder einige Zeit sich an eine bestimmte
einseitige Lage gewöhnt haben, was man
ja unter allen Umständen verhüten soll,
so ist es schwer, ihnen diese Einseitigkeit
abzugewöhnen. Die erste Veranlassung
zu dieser Einseitigkeit ist meist eine zu¬
fällige, äußere. Das Bett der Mutter oder
das Licht oder die Flasche oder die war¬
tende Mutter oder Pflegerin befinden
sich immer auf derselben Seite, und so wird
diese zur Lieblingsseite. Ist aber erst ein¬
mal der'Kopf an eine gewisse Lage ge¬
wöhnt, so wird oft auch nach Abstellung
der Ursachen die einseitige Lage beibehal¬
ten. In solchen Fällen hilft nur Zwang,
entweder einfache Bandagen oder Lagerung
des Kopfes zwischen festen Polsterrollen,
die eine Lageänderung erschweren.
3. Die Behandlung des voll¬
entwickelten Krankheitsbildes.
Bei ständiger Überwachung eines Säug¬
lings soll es in der Regel gar nicht zur
Ausbildung des vollentwickelten Krank¬
heitsbildes, das nicht nur die Skelett¬
erscheinungen, sondern auch schon aller¬
hand Begleitsymptome der Rachitis zeigt,
kommen. Vorläufig aber wird die Rachitis
sowohl von Laien als auch von vielen
Ärzten überhaupt erst im Stadium flori-
dum erkannt und auch die meisten Fälle,
die der Kinderpoliklinik und dem Kinder¬
arzt zugeführt werden, sind in der Ent¬
wicklung der Krankheit recht vorge¬
schritten. . Die Kinder stehen gewöhnlich
am Ende des zweiten Lebenshalbjahres,
vielfach auch schon im zweiten Lebens¬
jahre selbst. Nun gibt es eigentlich nichts
Dankbareres für die Behandlung als ein
solches Kind mit vollentwickelter Rachi¬
tis, bei dem noch keine stärkeren Ver¬
bildungen und Verkrümmungen aufge¬
treten sind und Komplikationen beson¬
ders von seiten des Darmes und der Lunge
fehlen. Da fast stets mehr oder
weniger grobe Ernährungsfehler
vorliegen, zumeist Überfütterung mit
Milch bei ganz fehlender oder geringer
Beigabe von gemischter Kost, so genügt
schon die Rektifizierung der Er¬
nährung, um in wenigen Tagen die
auffallendsten Begleiterscheinun¬
gen, Unruhe, aufgetriebenen Leib, Ver¬
stopfung, Schwitzen, zu bessern oder
ganz zu beseitigen. Man wird in der¬
artigen Fällen die strengere Form der oben
angegebenen Ernährungsvorschriften, also
möglichst nur vier Mahlzeiten und knappe
Flüssigkeitszufuhr zur Anwendung brin¬
gen, dabei je nach dem Alter eine bis drei
feste Mahlzeiten von der angegebenen Zu¬
sammensetzung. ' Wird dann auch noch
die Pflege des Kindes der Norm ent¬
sprechend gestaltet, so kann man sich,
besonders in der guten Jahreszeit, mit
diesen Verordnungen zunächst begnügen
und den weiteren Erfolg abwarten. Das
ist also besonders in dieser Kriegszeit, wo
uns Lebertran nur in geringem Maße zur
Verfügung steht, durchaus gerechtfertigt.
Sicherer ist es, neben diesen hygienisch -
diätetischen Maßnahmen noch eine medi¬
kamentöse Behandlung einzuleiten und
da kommt nur der Lebertran als solcher
oder in Verbindung mit phosphorsaurem
Kalk in Betracht, in der Art, wie wir es
oben ausführlich besprochen.
Mit diesen Maßnahmen wird man in
weitaus der größten Mehrzahl aller Fälle
zum Ziele kommen.
4. Die Behandlung dejr Begleit¬
erscheinungen.
Im allgemeinen werden besonders durch
die Änderung der Diät gerade die Begleit-
August
Die Therapie der Gegenwart 1917.
erscheinungen am ersten und nachhaltig¬
sten beeinflußt. Diese Begleiterscheinun¬
gen gehören ja zumeist dem Bilde der
Rachitis gar nicht direkt an, sondern sind
Folgeerscheinungen derselben Fehler in
der Ernährung und Pflege. Dazu gehört
vor allem die sogenannte rachitische
Anämie, die meist zum Bilde der ali¬
mentären Anämie (Czerny, Klein¬
schmidt) gehört. Das gleiche trifft zu
für die rachitische Milzschwellung, die
ebenfalls wohl nur die Folge alimentärer
Fehler ist und zumeist auch nur bei gleich¬
zeitig vorhandener exsuedativer Diathese
auftritt. Auch diese Milzschwellung geht
auf die Ernährungsänderung, vor allem
auf die Milchreduktion meist zurück.
Die besonders in früheren Schilde¬
rungen der Krankheit zu den Begleit¬
erscheinungen der Rachitis gerechneten
Verdauungsstörungen haben am we¬
nigsten dazu Beziehung. Der rachitische
Durchfall, wie er in den Poli¬
kliniken so häufig zur Beobachtung kommt,
ist nur die letzte Folge der Gesamtheit
der schädlichen Einflüsse, die auf das
betreffende Kind im Laufe vieler Monate
eingestürmt sind. Diese Durchfälle er¬
fordern ebenso wie andere concomitierende
Erkrankungen, Bronchialkätarrhe, Ek¬
zeme usw., ihre besondere Behandlung,
die aber möglichst mit der antirachitischen
kombiniert werden soll. Es zeigt sich,
daß diese antirachitische Behandlung, be¬
sonders auch die Lebertrantherapie, die
Heilung derartiger Erscheinungen sehr
unterstützt, woraus aber natürlich nicht
auf die Zusammengehörigkeit dieser ver¬
schiedenen Symptome' geschlossen wer¬
den darf.
Von den mit mehr Berechtigung zu
dem Begleiterscheinungen der Rachitis ge¬
rechneten Symptomen erfordern einige
noch eine besondere Besprechung. Die
Kopfschweiße, die besonders bei schwe¬
ren Craniotabesfällen, aber auch ohne sie
auftreten, verschwinden fast stets bei
der allgemeinen Behandlung. Man kann
diese Heilung aber begünstigen durch
flache, harte Lagerung des Schädels auf
die Matratze (ein Kopfkissen ist über¬
haupt im zweiten, dritten und vierten
Halbjahre beim Kinde besser ganz zu
vermeiden) und leichtes Zudecken des
Kindes. Daneben wirkt eine Flüssigkeits¬
einschränkung oft gut; desgleichen schei¬
nen auch Nebennierenpräparate eine gün¬
stige Wirkung zu haben.
Der Frosch bauch, eine Folge der all¬
gemeinen Muskeldystrophie bei Über¬
299
fütterung. wird meist durch die Ände¬
rung der Ernährungsweise zum Verschwin¬
den gebracht. Man wird den Einfluß der
Allgemeinbehandlung noch unterstützen
durch Massage und Gymnastik (letztere
in Form des bekannten Epsteinschen
Schaukelstuhles, der das angenehmste
Mittel zur Kräftigung der Rumpfmus¬
kulatur darstellt).
Die Spasmophilie, die in einem ge¬
wissen, noch nicht geklärten Abhängig¬
keitsverhältnis zur Rachitis steht, bedarf,
wenn die Erkrankung rechtzeitig erkannt
wird, ebenfalls nicht in einem einzigen
Punkte einer anderen Behandlung wie
die einfache unkomplizierte Rachitis; also
dieselbe diätetisch-hygienischen Methoden
und dieselben medikamentöse Therapie.
Auch bei ihr ist der Phosphorlebertran
vollständig durch den Kalklebertran er¬
setzbar). In schwereren, bedrohlichen
Fällen müssen allerdings energischere Ma߬
nahmen eintreten, auf die hier nicht weiter
eingegangen werden soll.
5. Die Behandlung der Folge¬
erscheinungen.
Das Wichtigste bei der Behandlung
der Folgeerscheinungen ist wieder die
Prophylaxe. Während wir noch das voll¬
entwickelte Krankheitsbild, solange noch
keine schweren Deformitäten aufgetreten
sind, mit recht gutem Heilerfolge be¬
handeln können, stehen wir den einmal
eingetretenen Verbildungen zum Teil fast
machtlos gegenüber; in einem anderen
Teile der Fälle ist nur durch größere chi-
rurgisch-orthopädischeEingriffe Besserung
oder Heilung zu erzielen.
Die sicherste Prophylaxe der Deformi¬
täten ist natürlich eine frühzeitige sach¬
gemäße Behandlung der Anfangsstadien
der Rachitis. Bekommt man aber schon
ein vollentwickeltes Krankheitsbild in
Behandlung, so tritt neben der Sorge für
die Heilung der bestehenden Erscheinun¬
gen die Vorsorge für' die kommenden.
Wir haben schon besprochen, wie man die
Schädelasymmetrien und -Deformitäten
verhüten kann. Verbiegungen der
Wirbelsäule, besonders den so häufigen
Kyphosen (krummerRücken) beugt man
vor durch die erwähnte horizontale Lage¬
rung auf harter Unterlage. Die Roßhaar¬
matratze, die meist als beste Unterlage
für Säuglinge und jüngere Kinder emp¬
fohlen wird, ist meiner Erfahrung nach
nicht hierfür geeignet. Am besten ist eine
festgestopfte Fasermatratze mit Woll-
oder Roßhaarauflage. Daß man rachi-
38*
1300 Die Therapie der Gegenwart 1917. August
tische Kinder mit weichen Knochen mög¬
lichst nicht sitzen lassen darf, vor allem
aber nicht in einseitiger Haltung, ist
immer noch nicht genügend bekannt.
Das Stehen und Gehen ist hier nicht ganz
so schädlich, denn es stärkt die Rücken¬
muskulatur und wirkt der Kyphose ent¬
gegen.
Daß die Verkrümmungen der unteren
Extremitäten nur durch das Stehen oder
Gehen Zustandekommen, ist durchaus
nicht richtig. Die stärksten Verbiegungen
der Extremitäten sieht man ja bei Kin¬
dern, die nie einen Fuß aufgesetzt haben.
Man wird also das Sitzen der Kinder ganz
hindern, das Stehen und Gehen aber auch
etwas einschränken. Die gesün¬
deste Bewegung für diese Kinder
-ist das Kriechen auf allen Vieren,
wie überhaupt die Bauchlage aus mehr¬
fachen Gründen für den Säugling vor¬
teilhaft ist. Man soll sie auch bei jüngeren
Säuglingen, sobald sie den Kopf zu heben
anfangen, mehrmals täglich für 5—15
Minuten anordnen lassen, wie wir dies z.B. in
meiner früheren Anstalt (Waisenhaus der
Stadt Berlin in Rummelsburg) als Regel
eingeführt haben. Allerdings wird man
selbstverständlich diese Lage nur bei An¬
wesenheit von Mutter oder Pflegerin ein¬
nehmen lassen und Kissen und dergleichen
Gegenstände aus Kopfnähe entfernen.
Von der Anwendung des Epsteinschen
Schaukelstuhles haben wir schon ge¬
sprochen. Mit diesen Maßnahmen wird
es in der Regel gelingen, Deformitäten der
Wirbelsäule zu verhüten, ebenso auch
die des Beckens.
Stärkere Deformitäten des Thorax
sind im allgemeinen seltener, aber wegen
der schweren Folgen für Atmung und
Kreislauforgane sehr wichtig. Daß die
Mehrzahl aller Todesfälle an Lungen¬
erkrankungen im ersten und zweiten
Lebensjahre, ebenso die Mehrzahl aller
Todesfälle an Keuchhusten und Masern in¬
direkt den rachitischen Thoraxdeformi¬
täten zuzuschreiben ist, dürfte bekannt
sein. Aber auch in den späteren Lebens¬
jahren wirken diese Verbildungen noch
in dem gleichen Sinne.
Umgekehrt wirken, worauf besonders
Czerny aufmerksam macht, die Er¬
krankungen der Atmungsorgane be¬
günstigend auf die Entstehung derartiger
Thoraxdeformitäten ein. Die Verhütung
solcher Erkrankungen, wie sie besonders
durch sachgemäße Pflege und Ernährung
möglich ist, gehört also auch noch zur
Prophylaxe der Rachitis.
Leichtere., nur ästhetisch störende
Asymmetrien, Einziehungen und Aus¬
buchtungen des Thorax bleiben nach jeder
Rachitis zurück; aber auch schwerere
Verbildungen, besonders allgemeine Ver¬
engerung, die bisher wenig gekannte all¬
gemeine Abflachung von vorn nach hinten
oder seitlich und die beiden wichtigen
Formen der Trichter- und Hühnerbrust
lassen sich leider trotz intensivster Be¬
handlung nicht immer verhüten. Für
die normale Ausbildung des Thorax ist
besonders wichtig die Bekämpfung des
Meteorismus und des hierdurch bedingten
Zwerchfellhochstandes, der stets eine Er¬
weiterung der unteren Apertur nach sich,
zieht. Die dorsoventrale Abflachung,
ebenso die seltenere seitliche allgemeine
Kompression lassen sich durch Lage¬
wechsel oft verhüten oder ausgleichen,
aber Trichter und Hühnerbrust ent¬
wickeln sich manchmal vor unseren Augen,
ohne daß wir viel dagegen tun können 1 ).
Aber glücklicherweise bilden sich selbst
schwere Formen unter sorgsamer All¬
gemeinbehandlung, besonders auch unter
Freiluftbehandlung hoch in weitestem
Maße zurück. Auch noch nach Jahren
kann hier eine forcierte Gymnastik viel
erreichen, wie Wieland festgestellt hat.
Dankbarer ist die Behandlung der
Extremitätenverkrümmungen. Wir
haben schon oben darauf hingewiesen,
daß diese Verbiegungen, die ja zumeist
Folgen des Muskelzuges sind, auch bei
völliger Ruhelage entstehen, daß also
nicht erst die Belastung sie herbeiführt.
Trotzdem wird man natürlich bestrebt
sein, bei Nachgiebigkeit des Skelett¬
systems die erkrankten Glieder zu schonen.
Bei vollentwickelter Rachitis ist aber
keine Gewähr gegeben, die Deformitäten,
besonders der Beine, völlig zu verhüten,
wenn auch schwerere Formen nicht unter
den Augen des Arztes entstehen dürfen.
Auf die Behandlung der ausgebilde¬
ten Deformitäten, besonders der unteren
Extremitäten, brauchen wir nicht weiter
einzugehen, da sie in der Hauptsache
Sache der Orthopäden ist. Nur über den
Zeitpunkt des orthopädischen Eingriffes
seien noch ein paar Worte angefügt. Im
allgemeinen sind die Internisten auch hier
mehr für Abwarten, während die Chi¬
rurgen ein aktiveres Vorgehen bevorzugen.
x ) Die Einatmungen von verdichteter Luft,
wie es Türk und Unger empfohlen haben, haben
noch wenig Nachprüfung gefunden. Auch mir
fehlt leider bisher eigene persönliche Erfahrung
darüber, doch erscheint mir das Verfahren durch¬
aus beachtenswert.
August
Die Therapie der Gegenwart 1917.
301
Auf alle Fälle ist es bei einfachen Ver¬
krümmungen, besonders dem Genu va-
rem, durchaus berechtigt, bis zum fünf¬
ten, sechsten Lebensjahre mit jedem
chirurgischen Eingriffe zu warten, wäh¬
rend man beim X-Knie schon im zweiten
oder dritten Lebensjahre eine unblutige
orthopädische Behandlung (Einlagen, Ver¬
bände, Schiene) einleiten wird. Den chi¬
rurgischen Eingriff wird man aber auch
hier womöglich vertagen, bis man sicher
ist, daß die Konfiguration des Skelettes
sich nicht mehr sonderlich verbessern wird.
III. Die Erfolge der Behandlung.
Es hat sich gezeigt, daß uns gegenüber
der Rachitis ein therapeutisches Rüstzeug
zur Verfügung steht, wie wir es in diesem
Maße kaum bei einer anderen konstitu¬
tionellen Krankheit des Organismus be¬
sitzen. Demzufolge sind auch bei früh¬
zeitiger Diagnose und Beherrschung aller
Hilfsmittel die Aussichten der Rachitis¬
behandlungrechtgute. Bei keinem anderen
Leiden sehen wir solch schnelle und auf¬
fällige Besserungen der gesamten Kon¬
stitution wie auch der einzelnen Sym¬
ptome. Leider ist die Beurteilung des
therapeutischen Erfolges bei der Rachitis
nicht so ganz leicht, und darum finden
wir diese fortwährende Empfehlung neuer
Heilmittel gegen diese Krankheit, die
einer ernsteren Kritik nicht standhalten
kann. Man begnügt sich im allgemeinen
mit der Feststellung der Besserung des
Allgemeinbefindens und der statischen
Funktionen. Von einer wirklichen Heilung
der Rachitis verlangen wir aber in erster
Linie die Besserung und Konsolidierung
des Knochensystems selbst. Aber auch
dies soll angeblich durch die verschieden¬
sten Mittel erreicht werden. Ohne hierauf
näher einzugehen, wollen wir nur eine
Frage streifen, für die exaktere Unter¬
lagen da sind, die nach dem Zeit¬
punkte des Heilungseintrittes.
Immer wieder finden wir bei der Emp¬
fehlung neuerer Heilmittel die Angabe
ganz kurzer Zeiträume, weniger Tage oder
weniger Wochen, innerhalb denen sich die
Heilung der Erkrankung vollzogen habe.
Wenn dies auch für manche Begleit- und
Folgeerscheinungen der Erkrankung zu¬
treffen mag, so erfordert die Heilung der
direkten Knochenerkrankung unverhält¬
nismäßig mehr Zeit. Hier dauert es stets
schon Wochen, bis überhaupt sichere
Zeichen einer Besserung vorhanden sind,
und für die' Heilung fortgeschrittener
Fälle sind stets Monate nötig.
Das ist aber auch für den, der einmal
Berechnungen über die für das Ent¬
stehen und das Vergehen der Erkrankung
in Betracht kommenden Bilanzzahlen an¬
gestellt hat, eigentlich nur selbstver¬
ständlich. Es wäre im Gegenteil höchst
sonderbar, wenn die klinische Erfahrung
nicht entsprechend wäre.
Hier, wie auch bei der sonstigen Be¬
urteilung des therapeutischen Erfolge
spielt das subjektive Moment eine große
Rolle; es wäre sonst nicht zu verstehen,
wie über den Wert manches Behandlungs¬
verfahrens so verschiedene Urteile selbst
maßgebender Kliniker möglich wären.
Der Praktiker muß sich in erster Linie
daran halten, daß die Symptome, deret-
wegen er die Behandlung eingeleitet, zum
Verschwinden kommen und daß weiterhin
die Entwickelung des Kindes ungestört
verläuft. Damit ist seine Aufgabe hin¬
länglich erfüllt.
Allerdings muß gesagt werden, daß
durchaus nicht in allen Fällen dieser Er¬
folg erreicht wird, und daß in nur wenigen
Fällen die Heilung eine ideale ist. Wer
wirklich kritisch den Heilungsverlauf der
Rachitis mit und ohne Therapie verfolgt,
der wird überhaupt nicht so leicht zu
solchen Graden der Zufriedenheit kom¬
men, wie wir dies immer wieder lesen.
Erstens ist eine Restitutio ad integrum
nur selten möglich. Irgendwelche Resi¬
duen der Erkrankung bleiben fast stets,
und sei es nur eine leichte Abflachung oder
Asymmetrie des Schädels oder des Thorax.
Zweitens ist die Exacerbationsneigung 1 )
bei der Rachitis eine viel größere, als ge¬
meinhin bekannt. Wer seine kleinen Pa¬
tienten nicht nur einige Monate, sondern
jahrelang beobachtet und ihre Entwicke¬
lung zu leiten versucht, der ist erstaunt,
wie hartnäckig eine einmal bestehende
Rachitisdisposition ist, wie leicht wieder,
besonders wenn die Therapie ausgesetzt
wird, irgendwelche neue Erscheinungen
auftreten, die zeigen, daß die Erkrankung
immer nöch nicht dauernd geheilt ist.
Das war ja die Veranlassung zu un¬
serem Rate, mit der Behandlung nicht zu
früh aufzuhören und nur kurze Pausen
eintreten zü lassen. Vor allem muß in den
ersten zwei oder besser drei Wintern eine
continuierliche Behandlung durchgeführt
werden. Erst nach vollendetem dritten.
Lebensjahre darf man im allgemeinen be-
x ) In Einklang mit Wieland glaube ich nicht
an die selbständige Natur der späteren Rachitis¬
manifestationen, sondern sehe diese stets als Rezi¬
dive beziehungsweise Exacerbationen einer über¬
sehenen Säuglingsrachitis an.
302
Die Therapie der Gegenwart 1917.
August
ruhigt sein, daß nun nichts mehr nach-
kommen wird.
Auf eine Spontanheilung der Ra¬
chitis darf man niemals mit Bestimmtheit
rechnen; meines Erachtens kommt eine
solche in den früheren Stadien der Er¬
krankung zumindest ohne Änderung der
äußeren Ernährungs- und Pflegeverhält¬
nisse nicht vor. Wenn man an die schlim¬
men Folgen einer therapeutischen Ver¬
nachlässigung gerade dieser Erkrankung
denkt, wird man jedenfalls es nicht darauf
ankommen lassen. Und dies um so weni¬
ger, als wir aus den ersten klinischen
Manifestationen gar nicht imstande sind,
die spätere Entwickelung der Krankheit
irgendwie sicher vorauszusehen. An¬
fänglich scheinbar leichte Fälle können
nachher sehr schwer werden und umge¬
kehrt. Ist so die Prognose des spontanen
Rachitisverlaufes eine unsichere, so ist
auch die des Behandlungserfolges nicht
einfach. Die äußeren Verhältnisse, Alter,
Dauer und Schwere der Erkrankung geben
dafür keinen rechten Anhalt. Wir können
nach unseren Erfahrungen jedenfalls nicht
zugeben, daß die Frührachitis schwerer
zu beeinflussen sei als das vollentwickelte
Krankheitsbild, sofern •man nur alle er¬
wähnten Maßnahmen streng durchführt.
Andererseits sehen wir oft, daß scheinbar
leichte Fälle unseren therapeutischen und
prophylaktischen Bestrebungen oft hart¬
näckiger Widerstand leisten als schwerere.
Die Unsicherheit dieser Prognostizierung
liegt zum großen Teile darin, daß die Ra¬
chitis kein pathogenetisch und ätiologisch
einheitlicher Prozeß ist, daß also die
Grundlage des einzelnen Falles mannig¬
fach sein kann. Demgegenüber bleibt
unsere therapeutische Technik bei allem
Versuch zur Individualisation doch noch
an der Oberfläche der Erscheinungen haf¬
ten. Aber dies trifft bei genauerem Zu¬
sehen für die meisten anderen Krank¬
heiten auch zu. Für den Praktiker besteht
jedenfalls heute schon die Möglichkeit,
mit den geschilderten Maßnahmen weit¬
aus die große Mehrzahl aller Rachitisfälle
zur Heilung zu bringen.
Referate.
Zur Anästhesierung der Blase bei
schmerzhaften Erkrankungen derselben
(bei der Cystoskopie und schwierigen
Blasenuntersuchungen stehen ja andere
Methoden' in Gebrauch) empfiehlt
Schneider das Eucupin (Isoamylhydro-
cuprein), das bekanntlich (Referat in
dieser Zeitschrift) neben seiner starken
antiseptischen auch eine den Chininderi¬
vaten allgemein zukommende analgeti¬
sche Wirkung hat, die ziemlich lange an¬
hält. Da sich die Base in Wasser schlecht
löst, wurden zunächst 1 %ige, dann auch
2- und.3%ige ölige Lösungen verwendet,
wobei die schwächeren Lösungen für
ulcerierte Blasen in Anwendung kamen.
Man bringt mit einem dünnen Nelaton-
katheter so viel von der Lösung in die
Blase, bis sie nicht mehr mit Contractionen
reagiert, doch nie mehr als 5—10 ccm,
und läßt dieselbe solange als möglich in
der Blase halten. Injektion zunächst
täglich, dann seltener. Im Anfänge zeigen
sich oft leichte Reizerscheinungen (Bren¬
nen), die aber bald verschwinden und,
einer mehr oder weniger lange anhalten¬
den Erleichterung Platz machen. Beson¬
ders gut waren, auch in Verbindung mit
Jodoform usw., Schneiders Erfahrungen
bei Blasentuberkulose, doch kann das Mit¬
tel natürlich bei jeder schmerzhaften Er¬
krankung der Harnwege angewandt wer¬
den, so auch mit gutem Erfolge bei schwer
zu sondierenden Strikturen. Neben¬
wirkungen wurden bei der Geringfügig¬
keit der resorbierten Mengen nicht beob¬
achtet, sind auch kaum zu erwarten.
Waetzoldt.
(B. kl. W. 1917, Nr. 21.)
Wolff berichtet über günstige Erfolge
der Tierkohle bei Blennorrhöea va-
ginae. Er fand bei Fluor genuinus und
auch gonorrhoicus im akuten und chro¬
nischen Stadium in Form von Einschüt¬
tung beziehungsweise Einstäubung eine
Kombination von Carbo animalis Merck
mit Bolus sterilisatus in der Vagina sehr
wirksam, insofern als Fluor und Foetor
sehr bald abnahmen. Jede Spülung oder
Ätzung wurde dabei fortgelassen. Bei der
Trockenlegung der Vagina und des Cer-
vicalkanals verfuhr Verfasser so, daß er
die Patientin auf dem Operationstische
so lagerte, daß der Carbo mit oder ohne
Bolus von oben nach unten hineingestäubt
beziehungsweise geschüttet wurde. Dar¬
auf wurde sterile trockene Gaze locker
bis zur völligen Ausfüllung hineingefügt.
Dieser Verband muß bis zur Heilung jeden
Tag gewechselt werden. Darunter sind
auch die Erosionen-geheilt und die Gono¬
kokken rascher verschwunden als bei der
Behandlung mit Spülungen, Ätzungen
USW. Iwan Bloch (Berlin).
August
Die Therapie der Gegenwart 191,7;
303 ;
Über den Zusammenhang zwischen
Brucheinklemmung und Kriegsernährung
schreibt Wie mann. An der Hand von
100 Fällen, die in der Marburger chirur¬
gischen Klinik im Laufe der Jahre 1913
bis 1916 zur Behandlung kamen, zeigt
Verfasser, daß die incarcerierten Hernien
bei der Zivilbevölkerung sich in den
beiden letzten Kriegsjahren um 60 %
vermehrt haben. Eingeklemmte Schen¬
kelhernien sind um das Dreifache ver¬
mehrt, und diese Vermehrung ist durch
die größere Beteiligung des männlichen
Geschlechtes bedingt. Teils handelt es
sich bei der Zunahme um neue Brüche,
teils klemmen sich alte, langbestehende
Hernien unter den veränderte# Verhält¬
nissen häufiger ein. Diese veränderten
Verhältnisse sind in der Kriegsernährung
zu suchen: durch den erhöhten Genuß
grünen Gemüses und kleiehaltigen Brotes
gibt es vermehrte Peristaltik, häufigere
Anwendung der Bauchpresse, Volum¬
schwankungen in den einzelnen Darm¬
abschnitten. Ist aber Stenose eines in
einem Bruche liegenden Darmteiles vor¬
handen, so genügt schon eine Dehnung
der Darmschlinge, um Darmverschluß
und Incarceration hervorzurufen.
Der Grund der Zunahme gerade der
eingeklemmten Schenkelhernien ist da¬
gegen eher in dem erhöhten Maße
körperlicher Arbeit zu suchen, die wäh¬
rend der Kriegszeit von älteren Männern
geleistet wird, möglicherweise trägt all¬
gemeiner oder lokaler Fettschwund auch
dazu bei.
Über eine auffallende Zunahme der
Darmwandbrüche im Jahre 1916 (30%
gegen 3,3 % der Vorjahre) berichtet der
Verfasser an der Hand von zehn Kranken¬
geschichten. Bei vielen war sehr rasch
Darmgangrän eingetreten, die in 90 %
dieser Fälle eine Darmresektion nötig
machten. Damit ein Darmwandbruch zu¬
stande kommt, müssen ein stark gebläh¬
ter und ein kaum geblähter Darmabschnitt
vorhanden und diese durch eine intra¬
abdominale Druckerhöhung so beein¬
flußt sein, daß die vor der Bruchpforte
liegende wenig geblähte Schlinge einen
Teil ihrer Wand ausstülpt. Die Bedin¬
gungen sind wiederum in der Kriegs¬
ernährung gegeben, die durch (gegen¬
über Friedenszeiten stark gesteigerte)
Gärungs- und Fäulnisprozesse die
ungleich geblähten Darmschlingen er¬
zeugt.
Der verhängnisvolle Einfluß der Kriegs¬
ernährung auf Entstehung und Verlauf
von eingeklemmten Hernien verschiede¬
ner Art sei somit erwiesen.
Hagemann (Marburg).
(D,Zschr.f. Chir. 140, Bd. 3 u. 4 H., S. 161.)
Über die Ätiologie der Eklampsie
äußert sich Grumme. Er referiert kurz
einige Theorien, die für die Ursache der
Eklampsie aufgestellt worden sind. So
spricht Frerichs von der Eklampsie als
akuter Urämie. Landois vermutete eine
Retention von Kreatin und Kreatinin,
wodurch die Reflexerregbarkeit der
Krampfcentren gesteigert würde. Ge fi¬
ne r baut seine Auffassung • von der
Eklampsie als Folge völligen Versagens der
Nierenfunktion auf. Eisenreich meint,
daß fötale Eiweißstoffe in den mütter¬
lichen Blutkreislauf gelangen und, weil
dies unter Umgehung des Darmkanals
geschehe, durch spezifische Antikörper
mit fermentartiger Wirkung abgebaut
werden, wobei es zu Spaltungsprodukten
kommt, welche die Erscheinungen der
Graviditätstoxikose auslösen. Franz
faßt Eklampsie auf als. eine Autointoxi¬
kation durch Eiweißabbauprodukte, die
von Fermentspaltung des Plazentaei¬
weißes herstammen. Zinßer vermutet
als letzte Ursache eine komplexe, von der
Plazenta ausgehende Giftwirkung. Nach
Abderhalden liegt das Anormale bei
der Eklampsie in der Beschaffenheit der
Plazenta. Versuche Liepmanns zeigen,
daß die Plazenta Eklamptischer sehr
giftig sind, während normale Plazenten
ungiftig sind. Nach Versuchen von Ri߬
mann und Cohn ist im Blutgehalt
Eklamptischer eine Minderung des
Kalium- und Erhöhung des Natrium¬
gehaltes. Sie stellen deshalb die Eklamp¬
sie parallel mit dem Koma beim Diabetes.
Während des Krieges ist nun verschie¬
dentlich beobachtet worden, daß die
Eklampsie abgenommen habe. Es macht
den Eindruck,"daß hier ein causaler Zusam¬
menhang bestünde. Man vermutet den Zu¬
sammenhang mit der veränderten fett-
und eiweißarmen Nahrung. Von einzelnen
Seiten ist sogar eine Einschränkung der
fett- und eiweißreichen Nahrung während
der Gravidität zur Verhütung der Eklamp¬
sie empfohlen und statt dessen eine haupt¬
sächlich vegetabilische Ernährung gefor¬
dert worden. Wie Grumme nun meint,
ist es zunächst nicht unbedingt erwiesen,
daß beide Faktoren — Eiweiß und Fett
— die Schuld an Eklampsiefällen tragen,
Es könnte ebensogut das Eiweiß oder das
Fett allein in Frage kommen. Der Vor¬
schlag, nunmehr alle Schwangerenfett-und
3Ö4
Die Therapie der Gegenwart 1917.
August
eiweißarm zu ernähren, ginge zu weit’ Er
steht in direktem Gegensatz zu der all¬
gemein herrschenden Überzeugung, daß
schwangere Frauen eine gehaltvolle Nah¬
rung zu sich nehmen müssen und es ist
seiner Meinung nach nicht angängig,
wegen einer Eklampsie, die womöglich
auf mehrere 100 normale Geburten kommt,
alle Schwangeren kasteien zu lassen.
Dünner.
(D. m. W. Nr. 21.)
Aus einer Arbeit von Leusser-Bad
Kissingen über Anfälle von Herzjagen
sei der therapeutische Teil hier referiert.
Von den zahlreichen Mitteln, die Anfälle
abzukürzen und dadurch den Kranken
zu erleichtern, hat sich nach L. am
meisten der Druck auf den Nervus vagus
am Halse als zweckmäßig erwiesen. Er
konnte so manchmal plötzlich den Anfall
beenden, allerdings nicht immer. Dabei
war es gleichgültig, ob der rechte oder
linke Vagus komprimiert wurde. Die
Kompression nahm er so vor, daß er mit
dem Daumen oder Zeige- und Mittelfinger
die Karotis aufsuchte und den Druck am
äußeren Rande des Gefäßes ausübte, und
zwar in der Höhe des Schildknorpels.
Er kann ohne Schaden mehrere Minuten
angehalten werden. Auch tiefes Ein¬
atmen wurde mit Erfolg angewandt,
auch tiefe Inspiration mit Glottisver¬
schluß und Pressen; ferner Tieflagern des
Kopfes und Herabhängenlassen des Ober¬
körpers. Auch Druck auf den Magen oder
starkes Pressen des Leibes mit emporge¬
zogenen Oberschenkeln wirken cou-
pierend. Kalte Umschläge auf den
Nacken oder das Auspressen eines mit
kaltem Wasser getränkten Schwammes
führt manchmal zum Ziele. Von medi¬
zinischen Mitteln (Morphium, Baldrian
Brom) sah er keinen besonderen Erfolg.
Digalen soll man nur bei gleichzeitiger
Herzschwäche anwenden; sonst ist nichts
davon zu erwarten. Ebenso verhält es
sich mit anderen Mitteln (Amylnitrit,
Nitroglyzerin, Alkohol, Äther, Kampfer,
Atropin), auch von Vibrationsmassage
des Herzens, Massage des Rückens und
Hackungen der Wirbelsäule, Faradisation
und Galvanisation darf man sich nicht
viel versprechen, umso weniger, als ge¬
rade Erschütterungen des Körpers oft
einen Anfall auslösen. Nach Hoffmann
soll man den Patienten absolute Ruhe
und Rückenlage anordnen, kalte Um¬
schläge oder Eisblase auf Herz oder
Nacken legen, beengende Kleidungs¬
stücke entfernen, die Ernährung auf
flüssige Kost beschränken. Es kommt
vornehmlich darauf an, die Kranken
zu beruhigen, die in Angstzustände-
wegen der beschleunigten Herztätig¬
keit geraten. Wenn sich die Anfälle
..öfters wiederholt haben, lernen die Pa¬
tienten von selbst, daß für sie keine
wesentliche Gefahr besteht. Anders
liegen natürlich die Verhältnisse, wenn
es sich um schwere und langandauernde
Anfälle, um Herzschwäche und ihre
Folgen handelt. Hier ist es geboten,
Digalen, Koffein, Kampfer zu injizieren.
Den Wiedereintritt eines Anfalles ganz
zu verhindern, wird nur in den seltensten
Fällen gelingen und ist von der Therapie
nur wenig abhängig. Wohl aber wird
eine allgemein roborierende, das Nerven¬
system kräftigende Behandlurigsweise,
wie Massage, Elektrizität, Hydrotherapie,
kohlensaure Sol- oder Ozetbäder, ferner
zweckmäßige Ernährung und Beschäfti¬
gung, Festigung des seelischen Gleich¬
gewichtes, Bekämpfung hypochondrischer
Stimmungen, Eisen Und Arsen einen
günstigen Einfluß haben. Das ist um so
verständlicher, da es sich ja bei der Art
der Kranken um Personen handelt, deren
Nervensystem von Hause aus' nicht ganz
intakt ist. ’ Dünner.
(M. m. W. 1917, Nr. 23.)
Der Begriff der orthotischen Hypo¬
tonie ist von J. Schütz geprägt worden.
Er konnte zeigen, daß Fälle von schwerer
Erschöpfung nach Strapazen sowie man¬
che Fälle von fieberhafter Erkrankung
ein mäßiges Absinken der Blutdruck¬
werte im Sitzen und ein starkes Absinken
im Stehen zeigen. Bei Wiederaufnahme
der horizontalen Lage erreicht der Blut¬
druck wieder seinen normalen Wert, mit
gelegentlicher Überschreitung desselben.
Dieses Syptom nennt er nun „orthotische
Hypotonie“. Es ist lediglich vorüber¬
gehend und ist nur zu beobachten, so¬
lange die Kreislaufstörung besteht. Es
verschwindet allmählich, wenn der Er-
schöpfungs- bzw. Fieberzustand abklingt.
Dieses leichte Verschwinden brachte ihn
auf den Gedanken, dieses Symptom als
Indikator bei der Beurteilung gewisser
therapeutischer Einwirkungen auf den
Kreislauf zu. benutzen. Er wählte dazu
zunächst die bekannte tonisierende Wir¬
kung der lauwarmen Bäder mit kühlen
Übergießungen bei Fieber, und es zeigte
sich tatsächlich, daß eine einfache hydria-
tische Prozedur die orthotische Hypo¬
tonie in hohem Maße verminderte. Damit
war zum ersten Male ein objektives Kri-
August Die Therapie der
terium für diese Prozedur der Über¬
gießungen gegeben, während wir uns bis¬
her lediglich nach subjektiven Angaben
der Kranken richten mußten.
Dünner.
(D. m. W. 1917, Nr. 21.)
,,Über chronischen Muskelrheu-
matismus“ schreibt Sonntag, der zur
Bearbeitung dieses Themas um so mehr
berechtigt ist, als er selbst daran leidet.
Er gibt einleitend seine ausführliche
Krankengeschichte. In der Frage der
noch recht ungeklärten Pathogenese steht
im Vordergründe das toxisch-infektiöse
Moment. Zu seinen Gunsten spricht u. a.
der öfter beobachtete Anschluß des Mus¬
kelrheumatismus an Katarrhe der Nase
und der oberen Luftwege, Nebenhöhlen,
Angina, Zahnaffektion usw., die öftere
Kombination mit Neuralgie oder Gelenk¬
rheumatismus. Es liegt nahe, an Staphy¬
lo-, Strepto- oder Pneumokokken als Er¬
reger zu denken, die bisweilen eine chro¬
nisch latente Infektion setzen' können;
auch Erreger ähnlich denen, welche bei
sonstigen, chronisch intermittierenden
Krankheiten, z. B. Syphilis, Vorkommen,
könnten in Betracht 'gezogen werden,
vielleicht handelt es sich auch um patho¬
gen werdende, sonst saprophytisch vor¬
handene Mikroorganismen der oberen
Atmungs- und Verdauungswege. . Er
weist in diesem Zusammenhang auf Kol¬
les Spirochätenbefunde bei Alveolar-
pyorrhöe hin, sowie auf das Vorkommen
von Spirochäten in der Mundhöhle. Die
Frage der Krankheitserreger hat deshalb
große Bedeutung, weil die Vaccinebehand-
iung eventuell den Muskelrheumatismus
heilen oder zum mindesten bessern könnte.
Für die Pathogenese kommen Stoff¬
wechselstörungen und Intoxikationen, z.B.
Gicht, Fettleibigkeit, Zuckerleiden, Blut¬
armut, übermäßiger Genuß von Fleisch
oder Alkohol nicht in Frage; dahin¬
gegen wohl Erkältungen, die aber nicht
für die Erklärung vollständig ausreichen,
denn es müßten gerade jetzt während des
Krieges die Feldsoldaten viel häufiger und
viel schwerer erkranken. Tatsächlich ist
der chronische Muskelrheumatismus bei
ihnen nicht allzu häufig und meist bei
Leuten, welche schon vorher daran litten.
Die Annahme des latenten Mikrobismus
erscheint auch in diesem Zusammenhänge
gut erklärbar. Man darf annehmen, daß
unter dem begünstigenden Einfluß der
Erkältung die bisher latenten Mikroorga¬
nismen (siehe oben) pathogen werden.
Bemerkenswert ist die Tatsache, daß
Gegenwart .1917. 305-
Leute an chronischem Muskelrheumatis¬
mus leiden, welche viel schwitzen, ferner
solche, die dicke und undurchlässige
Kleidung tragen, solche, welche starke
körperliche Anstrengungen zu bewältigen
haben, besonders gern scheinen Bäcker,
Schmiede, Heizer u. dgl. zu erkranken,
auch wissen wir, daß von jeher Chirurgen
mit Muskelrheumatismus angetroffen wer¬
den. Es erkranken Muskeln, welche
statisch in Anspruch genommen sind und
beim Stehen, Sitzen und Liegen wenig
oder gar nicht bewegt werden, nämlich
die Muskeln des Rückens, der Lende und
Brust, weiter auch die von Schulter und
Becken, dagegen nicht die mehr oder
weniger ständig bewegten Muskeln an den
Extremitäten. Die von Schmidt ver¬
tretene Ansicht, daß der Sitz der Er¬
krankung in den sensiblen Nerven der
Muskulatur zu suchen sei und sich bis
in die Rückenmarkswurzeln erstrecken
kann, wird erhärtet durch Sitz und Aus¬
dehnung der Schmerzen, sowie durch die
öftere Kombination mit Neuralgie, z. B.
Lumbago mit Ischias oder Intercostal-
neuralgie. Die Symptome und Diagnose
des Muskelrheumatismus gelten als un¬
sicher. Das hervorstechendste Symptom
ist der Muskelschmerz, der für die Dia¬
gnose eine Reihe charakteristischer Merk¬
male hat. Er muß allerdings dazu einer
genauen Analyse, namentlich in seiner
Beziehung zu äußeren Momenten, unter¬
zogen werden. Charakteristisch sind
folgende Merkmale:
"l. Die der Anatomie entsprechende
Lokalisation und Ausdehnung des Schmer¬
zes. Gegenüber der Neuralgie ist eine
Unterscheidung in dieser Hinsicht aller¬
dings nicht immer möglich, zumal eine
Neuralgie oft gleichzeitig vorhanden ist.
Gegenüber tiefliegenden Erkrankungen,
z.B. solchen der Knochen, Pleura, Niere,
hilft Abheben der Muskulatur von der
Unterlage und Zwischenfassen zwischen
den Fingern.
2. Die Auslösbarkeit des Schmerzes
auf Druck und bei Bewegungen, auch die
Art der Körperhaltung und der Ausfüh¬
rung einzelner Bewegungen. Die Druck¬
stellen sind nicht immer leicht, oft erst
bei genauer Durchpalpierung der Musku¬
latur aufzufinden. Die schmerzauslösen-
den Bewegungen und die Beweglichkeits¬
beschränkung sind für die einzelnen Lo¬
kalisationsformen des Muskelrheumatis¬
mus charakteristisch: Bei Affektion der
Brustmuskulatur, z. B. welche mit Inter-
costalneuralgie verbunden ist, erweist
39
306 Die Therapie der
sich Tiefatmen, Husten, Niesen, Schluk-
ken, Heben des Armes, z. B. zum mili¬
tärischen Gruß, Heben der Kaffeekanne
usw., schmerzhaft. - Die Schmerzen sind
meist sehr heftig und entsprechend ihrer
Lokalisation sehr lästig; Niesen wird zur
Zeit der Exacerbation ganz unterdrückt.
Ist die Bauchmuskulatur erkrankt, so
bestehen Schmerzen in den seitlichen
Bauchpartien, eventuell auch in der
Leiste und bis in den Hodensack und
After ausstrahlend; namentlich gegen
Morgen nach der Bettruhe scheinen 1
diese Schmerzen derart aufzutreten,
daß das weitere Liegen unerträglich
wird und zur Linderung der Schmer¬
zen die Beine an den Leib herangezogen
werden.' In seinem Verhalten bei Be¬
wegungen zeigt der Schmerz bei dem
chronischen Muskelrheumatismus einige
Charakteristcia, welche übereinstimmen
mit denen des Muskelschmerzes nach
längerer Ruhigstellung von Körperteilen,
z. B. der Schulter nach Verletzungen und
Tragen in Mitelia: a) Der Schmerz ist
besonders heftig bei unvermuteten Be¬
wegungen, z. B. Stoß, Stolpern über
Stein, Fahren im holpernden Wagen.
Dabei treten im floriden Stadium der
Erkrankung krampfartige Contractionen
der Muskulatur auf unter heftigstem
Schmerz; b) der Schmerz ist besonders
heftig nach längerer Ruhe, z. B. Bettruhe.
Wenn die Kranken aber erst „in Gang“
gekommen sind, lassen die Schmerzen
etwas nach; c) der Schmerz zeigt sich als
Ermüdungsschmerz. 3. Die Witterung
hat Einfluß auf den Schmerz. Der Ein¬
fluß des Witterungsumschlages ist so
deutlich und regelmäßig, daß die Patien¬
ten oft das Wetter Voraussagen können.
4. Beeinflußbarkeit durch die therapeu¬
tischen Maßnahmen,’ vor allem durch die
Antirheumatica (Aspirin, Atophan u.dgl.);
auch steht dem Arzt eine Kontrolle über
die subjektiven Angaben des Patienten
zu Gebote, indem bei heftigen rheumati¬
schen Schmerzen der Kranke das Ver¬
langen nach den genannten Pulvern und
seine Befriedigung über deren Wirkung
äußert, während anderenfalls auf die
nichtrheumatische Natur oder Gering¬
fügigkeit der Schmerzen geschlossen wer¬
den darf. Bei der Differentialdiagnose
gilt es, zunächst Simulation, Hysterie und
Neurasthenie auszuschließen. Von Af¬
fektionen anderer Organe seien genannt:
gegenüber Rheumatismus der Brustmus¬
kulatur Erkrankungen von Lungen und
Rippenfell, der Rippen (Periostitis, Frak¬
Gegenwart 1917. August
turen, Tuberkulose), Angina pectoris u.a.,
gegenüber Rheumatismus der Bauch¬
muskulatur Erkrankungen der Bauch¬
organe (Magen, Darm,Wurmfortsatz u.a.),
gegenüber Rheumatismus der Rücken-,
Lenden- und Hüftmuskulatur Erkran¬
kungen der Bauchorgane, Nieren, Rücken¬
mark, Fraktur, Arthritis deformans usw.
Die Behandlung des chronischen Muskel¬
rheumatismus besteht in der Allgemein¬
behandlung, der systematischen Behand¬
lung der Schmerzen und der kausalen
Behandlung der Muskelversteifung Bei
der Allgemeinbehandlung kann eine ge¬
eignete Kost, eine Beschränkung von
Alkohol und Fleischgenuß versucht wer¬
den. Der Einfluß ist allerdings nicht
immer erkennbar. Ratsam ist Stuhl¬
regelung und vor allem reichliche Körper¬
bewegung, auch ein Klimawechsel; Schutz
vor Erkältung, Verhütung des Schwit-
zens. Gegen die Schmerzen sind die vom
akuten Muskelrheumatismus bekannten
Mittel anzuwenden, von äußeren hyper-
ämisierende und resorbierende Tinkturen,
Salben, Pflaster usw. (Jod, Ichthyol,
Campher, Ameisen-, Senf- und einfacher
Spiritus, Senfpflaster u. dgl.); vor allem
Wärme in Form von Umschlägen, Brei,
Sandsack, Thermophor, usw.; von
inneren die bekannten Antirheumatica
und Antineuralgica, vor allem Aspirin,
Pyramidon und Atophan, dagegen
tunlichst nicht Morphium und andere
Narkotica. Als Maßnahmen gegen Mus-
kelversteifung empfiehlt Sonntag Mas¬
sage, Elektrizität, Bewegungsbehandlung
und Bäder. Massagen sollen wo möglich im
Anschluß an ein Bad mindestens 10-20 Min.
lang ausgeführt werden. Die Bewegungs¬
behandlung erstreckt sich auf aktive,
passive und Apparatübungen, vor allem
auf methodische Durchführung derjeni¬
gen Bewegungen, die der Patient am
meisten fürchtet; hierher gehört auch
eine reichliche Körperbewegung durch
Spaziergänge, Sport usw.
Die Bäderbehandlung ist in allen
hartnäckigen Fällen, in denen eine mehr¬
wöchige Haus- oder Lazarettbehandlung
versagt, in Angriff zu nehmen, und zwar
baldigst, ehe eine Verschleppung. der
Krankheit eintreten kann, zur Erzielung
einer nachhaltigen Wirkung und Durch¬
führung der kinetischen Therapie ge¬
nügend lange anzuwenden (nicht unter
4—6 Wochen mit 20—30 Bädern zu je
V 2 bis V 4 Stunde, eventuell verlängert;
bis zur Heilung wiederholt, eventuell alle
V 2 Jahre). Die Wildbäder (z. B. Wild-
August
Die Therapie der Gegenwart 1917.
307
bad, Warmbrunn, Wolkenstein, Teplitz
u. a.) wirken besonders günstig durch
ihren Gehalt an Radium. Die warmen
Schwefelbäder (z. B. Aachen, Nenndorf
u. a.) durch umstimmenden und schwei߬
treibenden Effekt, die Solbäder (z. B.
Wiesbaden, Baden-Baden, Münster am
Stein u. a.) durch den stärkeren Druck
des specifisch schweren Badewassers,
durch den Reiz der Sole und durch den
eine schnelle Verflüchtigung der Wärme
verhindernden Salzüberzug der Haut, die
kohlensauren Thermalsölbäder (z. B. Oeyn¬
hausen, Salzuflen, Nauheim, Kissingen
u. a.) außerdem durch die periphere Ge¬
fäßerweiterung und Hautbeeinflussung,
die Moorbäder (schwefelhaltige, z. B.
Nenndorf, Eilsen, Meinberg,-Pistyan u. a.;
eisenhaltige, z. B. Elster, Pyrmont, Fran¬
zensbad, Marienbad, Schwalbach, Schmie¬
deberg u. a.) thermisch durch die recht
hoch zu nehmende Temperatur, mecha¬
nisch durch die Schwere der Bade¬
flüssigkeit und chemisch durch den Reiz
der Salze und Säuren. Nötigenfalls kann
ein Ersatz der Bäder außerhalb des
Badeortes, also zu Hause oder im Laza¬
rett durch protrahierte warme Bäder,
Fichtennadelbäder und vor allem durch
Salzbäder (z. B. mit Staßfurter Salz),
ferner Schlammpackungen, Sand-, Dampf-,
Heißluft- und Lichtbäder versucht wer¬
den. Zu versuchen ist Diathermie, in
schweren Fällen Bestrahlung mit Röntgen¬
röhre oder mit der künstlichen Höhen¬
sonne, Vaccination, Injektion nach Lange
infiltrierend, auch epi- oder intradural,
Nervendehnung. Dünner.
(M. m. W. 1917, Nr. 20.)
Raether berichtet über 35 Neurosen¬
heilungen nach der Kaufmannmethode
(Krankengeschichtsauszüge von allen Fäl¬
len). Außerdem kam ein Mißerfolg vor.
Die von Raether etwas modifizierte
'Methode zerfällt in drei Stadien: Zu¬
nächst die psychotherapeutische Vor¬
bereitung, die ohne jede Täuschung
(wie die, daß die Heilung nur für den
Beruf, nicht für das Feld erfolge) mit der
Placierung mitten unter Geheilte beginnt
und unter Ausschließung jedes organi¬
schen Leidens durch mehrfache neurolo¬
gische Prüfungen bei persönlicher Be¬
schäftigung mit dem Patienten die ersten
Heilsuggestionen gibt. Dem Patienten
unvermutet folgt eines Abends die Heil¬
sitzung. Der Kranke wird völlig ent¬
kleidet unter energischer Verbalsuggestion
mit anfangs stärkeren, dann schwächer
werdenden faradischen Strömen an den
betreffenden Gliedern (nicht Kopf und
Hals) fünf Minuten hindurch behandelt,
dann plötzlich abgebrochen und der Pa¬
tient aufgefordert, zu gehen, zu sprechen
usw., je nach der Art der Lähmung, was
in den meisten Fällen schon jetzt mühelos
geht, dann folgen Turn-, Gang-, Stimm-,
Sprechübungen, der Einfachheit wegen un¬
ter militärischemKommando,in denPausen
suggestive Beeinflussung durch Zureden,
falls die Lähmung noch nicht vollständig
beseitigt, noch weitere fünf Minuten Be¬
handlung mit an- und • abschwellenden
faradischen Strömen, danach Übungen
mit größeren Anforderungen. Als Schlu߬
elektrisierung schließlich eine Minute lang
leichte Faradisierung des ganzen Körpers
als „Nachbehandlung“; danach noch
einige Übungen und Erklärung: „Sie sind
geheilt!“ Die Nachbehandlung be¬
ginnt mit sofortiger 24stündiger Bettruhe
eventuell mit Schlafmitteln, darauf Tur¬
nen unter Leitung des Arztes, anfangs
besonders Spezialübungen ' für die ge¬
schwunden gewesenen Fähigkeiten (Dauer
meist vier Wochen). Die Entlassung
erfolgt als ,,a. v. Beruf“. In den meisten
Fällen handelte es sich, wie schon aus dem
vorigen hervorgeht, um Soldaten mit
hysterischen .Störungen meist motorischer
Art, doch auch um Taubheit, Stummheit
usw. nach Verschüttung, Schußverletzun¬
gen, Trommelfeuer, Überanstrengung und
andere mehr oder weniger direkten Kriegs¬
traumen. Der Erfolg, den Raether mit
der Kaufmannschen Methode hatte, ist
gut, doch erfordert ihre Anwendung viel
persönliche Energie und große Selbst¬
beherrschung, sodaß vielleicht nicht
jeder dazu befähigt ist. Waetzoldt.
(M. m. W. 1917, Nr. 11.)
Über einen Fall von Amaurose, der
scheinbar durch Optochimim basicum ver¬
ursacht war, berichtet Ginsberg: Nach
.2 g Optochinum basicum innerhalb
40 Stunden bei strenger Milchdiät tritt
bei einer jungen, kräftigen Patientin eine
24stündige Amaurose ein (typischer oph¬
thalmoskopischer Befund, Farben und Ge¬
sichtsfeld ohne Befund). Amblyopische Er¬
scheinungen bleiben noch über eine Woche
lang deutlich. Schleier und Schatten noch
über vier Wochen. Die auf Veranlassung
von Herrn Prof. Morgenroth vorge¬
nommene chemische Untersuchung der
verwendeten Pillen hatte nun das über¬
raschende Ergebnis, daß die Pillen nicht,
wie verordnet und wie es auch im Kopier¬
buche des Apothekers vermerkt war, die
Optochinbase, sondern das salzsaure Salz
39*
308 . Die Therapie der
enthielten. Es handelt sich also auch m
diesem Falle um eine Amaurose durch
Optochinumhydrochloricum. Waetzoldt.
(D. m. W. 1917, Nr. 19.)
Über chronische Ruhr berichten
Schmidt und Kauffmann. Bei einer
großen Zahl .der Ruhrkranken entwickelt
sich ein chronisches Leiden. Bei etwa
2 bis 5 % Ruhrleichen wurden in Halle
chronische Veränderungen gefunden. Die
klinische Diagnose dieser Art Ruhr ist
schwierig. Die bakteriologische und auch
die Agglutinations - Untersuchungsme¬
thode läßt nach den Verfassern im
Stich. (Diese Beobachtungen stehen
mit den im Krankenhause Moabit ge¬
machten im Gegensatz, wie ich in einer
Arbeit im Maiheft dieser Zeitschrift
zeigen konnte). Nach Schmidt und
Kauffmann ist man im großen ganzen
auf die Anamnese und auf die Rekto¬
skopie hauptsächlich angewiesen. Um
die klinischen Symptome richtig zu ver¬
stehen, muß man auf die pathologisch¬
anatomischen Erfahrungen zurückgreifen.
Bei 2 bis 5°/ 0 ihrer Fälle fanden sich Ver¬
änderungen, welche auf eine längere
Dauer des Krankheitsprozesses schließen
ließen. Der Dünndarm war in 43%
befallen, und zwar teils in Form von Ge¬
schwüren, teils als entzündliche Schwel¬
lung der Schleimhaut mit kleienförmigem
Belag in den untersten Abschnitten des
Ileums. 8 mal fanden sich Perforationen
der Darmwand, die aber nur einmal zu
einer allgemeinen Peritonitis geführt
hatten, ln den übrigen Fällen handelte
es sich um kleinste, offenbar langsam
entstandene Durchbrüche, bei denen ge¬
nügend Zeit zur Verklebung der Serosa
mit der Umgebung gegeben war, so daß
perikolitische Adhäsionen von umschrie¬
bener Ausdehnung resultierten. Ein
Chronischwerden des akuten Ruhrpro¬
zesses in dem Sinne, daß die charakte¬
ristischen Anfangssymptome: Fieber,
Tenesmen, zahlreiche blutig-flockige Ent¬
leerungen, zwar an Intensität abnehmen,
aber niemals wirklich aufhören oder ihren
Charakter verändern, ist offenbar selten.
Vielmehr schalten sich bei den prota-
hierten Fällen unter Abnahme des Fiebers
allmählich immer häufiger einige, wenn
auch dünne, so doch von Entzündungs¬
produkten bei flüchtiger Besichtigung
freie Entleerungen zwischen die eigent¬
lichen Durchfallsstühle ein, wodurch der
Anschein einer Rekonvaleszenz erweckt
wird, zumal wenn der Patient sich im
ganzen erholt, ln Wirklichkeit ist die
Gegenwart 1917. August
Besserung keine fortschreitende. Es kommt
unter Fortbestehen leichter Temperatur¬
erhöhungen zum periodischen Wieder¬
auftreten dysenterischer Abgänge, die,
weil sie jetzt mit der breiigen, aber im
übrigen ziemlich normalen Stuhlmasse
gemischt sind und weil an Stelle des
fetzig-flockigen Detritus jetzt nur noch
schwach blutig gefärbter Schleim auftritt,
nicht erkannt oder falsch gedeutet werden.
Die Patienten fühlen sich dabei nicht
sehr elend, haben guten Appetit. Rek-
toskopiert man sie, so findet man^bei ihnen
immer noch kleinere Geschwüre in der
sonst nicht nennenswerte entzündeten
Schleimhaut. Da die spastischen Er¬
scheinungen bei ihnen fehlen, kann man
annehmen, daß der Dünndarpi nicht
beteiligt ist, während in den tieferen
Abschnitten des Kolons der Prozeß fort¬
besteht. Diesen ziemlich häufigen Typus
bezeichnen die Verfasser als chronisch¬
ulzeröse Form der Ruhr. In dieser Be¬
ziehung decken sich die Anschauungen
von Schmidt und Kauffmann mit den
unsrigen im Krankenhaus, Moabit. , Es
besteht lediglich der im großen und
ganzen irrelevante Unterschied einer ver¬
schiedenen Bezeichnung, insofern wir bis¬
her von einem durch die Pathologen ein¬
geführten Ulcus chronicum recti gesprochen
haben, eine Bezeichnung, die in der Tat,
wie schon früher ausgeführt wurde, zu
Mißverständnissen führen kann. Auch
die Ansicht der Verfasser, daß die nicht
spezifische Colitis mit Dysenterie nichts
zu tun habe — Strauß und Ehr mann
hatten dies behauptet — wird auch von
uns vertreten. Der zweite Typus der
chronischen Ruhr ist der dyspeptische.
Man findet hier im Gegensatz zu der chro¬
nisch-ulzerösen kein Fieber und in den
Entleerungen keine Entzündungsprodukte
wie Schleim, Eiter und Blut. Es bestehen
lediglich gehäufte breiige bis flüssige
Entleerungen. Unvorsichtige Diät
steigert die Beschwerden. Die Stühle
bieten das typische Bild der Darm¬
dyspepsie: unverdaute Nahrungsreste, mit
bloßem Auge erkennbares Bindegewebe,
Gemüsereste, Fleischstückchen usw. Der
Magen ist häufig achylisch. Die dritte
seltene Form ist die perikolitisch-spa-
stische. Ihr anatomisches Substrat sind
die oben erwähnten punktförmigen Per¬
forationen der Dickdarmwand mit den
entsprechenden reaktiven entzündlichen
Vorgängen in der Umgebung. Man trifft
besonders anfallsweise auftretende heftige
Leibschmerzen mit Druckempfindlichkeit
August
Die Therapie der Gegenwart 1917.
309
einer umschriebenen Stelle des Bauches
und nur leichten Störungen der Defäkation
bei fehlendem Fieber und verhältnismäßig
gutem Allgemeinzustand an. Mit diesen
drei geschilderten Typen ist nicht die
ganze Symptomatologie der chronischen
Ruhr erschöpft. Es gibt Übergänge
zwischen ihnen und Kombinationen. Die
Prognose ist als ernst zu bezeichnen.
Man darf alle akut erkrankten Fälle nicht
eher aus der Behandlung entlassen, als
bis eine genaue Kontrolle des Stuhles
über längere Zeiträume und die rekto-
skopische Untersuchung die völlige Aus¬
heilung des Prozesess zeigt. Dünner.
(M. m. W. 1917, Nr. 23.)
Zur Behandlung sowohl der Sebor-
rhoea capitis oleosa, wie auch der trocke¬
nen Form dieser Erkrankung empfiehlt
v. Zumbusch eine Methode, der wegen
ihrer leichten Anwendbarkeit eine viel
größere Verbreitung zukommt als sie
tatsächlich hat. Alle vier Tage wird der
Kopf mit einem Pulver, bestehend aus
Sulf. praec. 40,0, Amyl. öryz. 50,0, Pulv.
radic. Ireos. Florent. 10,0 abends gut ein¬
gestäubt und am nächstenMorgen derüber-
schuß mit einer weichen Bürste ent¬
fernt. Der besonders bei dunklen Haaren
noch verbleibende Rest wird mit Salicyl-
spiritus leicht entfernt, mit dem auch in
der Zwischenzeit das Haar einmal zu be¬
handeln ist. Waschungen mit Wasser
unterbleiben durchaus. Statt Amylum
wird, da es oft schwer aus den Haaren
zu entfernen ist, mit Vorteil auch Semen
Lykopodii verwendet. Der wesentliche
Nutzen dieser Schwefelanwendung be¬
steht einmal in der Reinigung der Kopf¬
haut durch Aufsaugen des Fettes, zum
anderen in der direkten Applikation des
Schwefels auf die erkrankte Haut, dann
aber auch in der Möglichkeit, reizende
Waschungen mit Wasser, Benzin, zu
scharfes Kämmen und ähnliches zu ver¬
meiden, die bei Salbenanwendung un¬
umgänglich und neben anderem die
Hauptursache ihrer Unbeliebtheit, viel¬
leicht auoh zum Teil des Haarverlustes
sind. Selbstverständlich ist es, daß die
Behandlung dauernd fortgesetztwird, denn
die Seborrhöe ist ein Zustand, der auf
einer ,,Konstitutionsanomalie“ beruht.
(M. m. W. 1917, Nr. 13.) Waetzoldt.
Richtlinien zur Malariabehandlung und Malariavorbeugung 1 ).
Zusammengestellt vom Chef des Feldsanitätswesens und dem Sanitäts-Departement
des Kriegsministeriums unter Mitwirkung des Institutes für Schiffs- und Tropen¬
krankheiten
I. Malariabehandlung.
Jeder Fall mit remittierendem Fieber,
sogenannten Tertianatypus, ist malaria¬
verdächtig. Bei Truppen im Westen,
Osten und Süden kommt Malaria vor.
Im Osten und Westen ist bisher nur Ma¬
laria tertiana, im Süden (Mazedonien) und
Asien diese und Malaria tropica beobachtet
worden; Quartana bisher nur vereinzelt.
Insbesondere sind plötzlich auftretende,
mit Schüttelfrost und Schweißausbruch
einhergehende Fieberanfälle, auch bei
typhusartigen Erscheinungen (haupt¬
sächlich bei Mannschaften, die vorher in
Mazedonien waren), als malariaverdächtig
zu betrachten.
In jedem verdächtigen Falle ist sofort
die Diagnose durch Untersuchung von
a ) Wir haben bereits im Novemberhefte des
vorigen Jahres ,,Richtlinien zur Malariabehand¬
lung“ veröffentlicht, welche vom Hamburger
Tropen-Institut auf gestellt waren. Die neue Aus¬
gabe der Richtlinien, welche von den obersten
Militär-Sanitätsbehörden zusammengestellt sind,
bringt einige Modifikationen und mehrere wesent¬
liche neue Zusätze, sodaß Kenntnisnahme und
Befolgung allen Lesern zu empfehlen ist. Die
Zusätze und Abänderungen gegen früher sind von
uns durch Kursivdruck hervorgehoben.
in Hamburg.
Blutausstrichen durch darin erfahrene
Ärzte zu stellen; es müssen stets zwei so¬
genannte ,,dicke Tropfenpräparate“ 1 ) und
zwei dünne Ausstriche lufttrocken, nicht
fixiert, eingesandt werden.
Auch ohne das Ergebnis der stets vor¬
zunehmenden Blutuntersuchung abzu¬
warten, ist es angebracht, alle auch nur
im geringsten malariaverdächtigen Fie¬
berfälle nach unten angegebenem Ver¬
fahren sofort mit Chinin zu behandeln.
Setzt das Fieber nach fünftägiger rich¬
tiger Chininbehandlung nicht aus, so
handelt es sich fast ausnahmslos nicht
um Malaria. Zeigt sich seine Wirksam¬
keit durch völlige Entfieberung, so ist
die Chininkur fortzusetzen.
Je früher eine Malaria behandelt wird,
desto günstiger ist die Aussicht auf Aus¬
bleiben von Rückfällen; da ferner bei
frischen Fällen noch keine übertragbaren
Geschlechtsformen im Blute kreisen,
schränken wir durch rasche Behandlung
auch die Weiterverbreitung ein.
x ) Zwei bis drei mäßiggroße Blutstropfen auf
dem Objektträger etwa in Pfenniggröße mit einer
Nadel wenig verteilen und gut antrocknen lassen.
310 Die Therapie der Gegenwart 1917. August
Das wichtigste und erfolgreichste Heil¬
mittel der Malaria ist das Chinin. Seine
geeignetsten Salze sind das Chininum
hydrochloricum und das Chininum sulfu-
ricum. Dihydrochininum hydrochloricum
ist noch etwas wirksamer, dagegen sind
Chininum tannicum und Euchinin weniger
zuverlässig.
Innerliche Anwendung des Chi¬
nin. In der Regel soll das Chinin inner¬
lich genommen werden, und zwar in einer
Tagesmenge von' 1,2 g. Darüber hinaus¬
zugehen ist überflüssig und hat stärkere
Nebenwirkungen zur Folge. Die Tages¬
menge wird zweckmäßig in Einzelgaben
von viermal 0,3 g mit zweistündigen Ab¬
ständen gegeben (sogenanntes Nocht-
sches Verfahren). Hierbei sind die Neben¬
erscheinungen geringer und die Resorp¬
tionsverhältnisse günstiger. Es kann
jederzeit, ob Fieber besteht oder nicht,
mit dieser Behandlung begonnen werden;
es ist falsch, die fieberfreie Zeit erst abzu¬
warten. Die Tagesmenge von 1,2 g —
verteilt , in Einzelgaben — wird täglich
ohne Pause gegeben, solange noch Fieber
auftritt, und nach dem letzten Fiebertage
noch acht Tage lang. Es ist nach folgen¬
dem Muster (das nur ausnahmsweise ge¬
ändert zu werden braucht), stets die
Nachbehandlung fortzusetzen, die in jedem
Falle also wochenlang zu erfolgen hat;
denn mit dem Verschwinden des Fiebers
ist die Malaria — deren Erreger in den
inneren Organen noch weiterleben —
durchaus noch nicht geheilt.
Muster der Malariabehandlung
(nach Nocht).
Täglich 1,2 g Chininum hydrochlori¬
cum bis zur Entfieberung und dann noch
acht Tage lang, sodann:
zwei Tage Pause,
drei Chinintage (jedesmal 1,2 g),
drei Tage Pause,
zwei bis drei Chinintage (jedesmal
1.2 g),
vier Tage Pause,
zwei bis drei Chinintage (jedesmal
1.2 g),
fünf Tage Pause,
zwei Chinintage (jedesmal 1,2 g).
fünf Tage Pause,
zwei Chinintage /jedesmal 1,2 g)
und so fort mit fünftägigen Zwischen¬
räumen noch -mindestens sechs Wochen
lang jeden sechsten und siebenten Tag
(das sind stets die zwei gleichen Wochen¬
tage, daher leicht zu merken) je 1,2 g
Chinin.
(Die Kalendertage werden für jeden
Kranken gleich angesetzt und aufgezeich¬
net. Auch bei der Nachbehandlung ist
die Verteilung auf vier Einzelgaben zweck¬
mäßig.)
Beim Auftreten ungewöhnlich hart¬
näckiger Malariafälle haben sich (nach
T e i ch m a n n) auch folgende Behandlungs¬
verfahren gut bewährt:
a) für Leute , die an Chinin nicht ge¬
wöhnt sind:
Hauptkur:
erster bis dritter Tag je zweimal 0,6 =1,2 g
vierter bis sechster Tag einmal 0,6 und
einmal 0,9 g — j,5 g
siebenter bis zehnter Tag je zweimal 0,9 g
= i>8 g-
Nachkur: L
ein Tag Pause
zwei Chinintage mit 1,8 g
zwei Tage Pa%ise
zwei Chinintage mit 2,5 g
drei Tage Pause
zwei Chinintage mit 1,2 g
vier Tage Pause
zwei Chinintage mit' 1,2 g
fünf Tage Pause
zwei Chinintage mit 1,2 g
usw. sechs Wochen hindurch:
b) für chiningewöhnte Leute (söge -
nannte intermittierende Kur):
zwei bis vier Wochen Pause je nach)dem
geringeren oder größeren Grade der Chi¬
ningewöhnung,
drei Chinintage mit 1,2 g
drei Chinintage mit 2,5 g
vier Chinintage mit 1,8 g
sieben Tage Pause
drei Chinintage mit 1,2 g
drei Chinintage mit 2,5 g
vier Chinintage mit 1,8 g.
Dann unmittelbar anschließend Nach¬
kur wie unter a oder alsbald Übergang
zur Verabreichung von 1,2 g an zwei auf¬
einanderfolgenden Tagen jeder Woche sechs
bis acht Wochen hindurch.
Die einzelnen Chiningaben von 0,6 oder
0,9 g sollen bei diesem Behandlungsver¬
fahren in Zweistündigem A bsttmde möglichst
auf nüchternen Magen , z. B. 7 und 9 Uhr
früh , gegeben werden.
, Bei der intermittierenden Kur ist eine
Schädigung des Kranken durch die zwei-
bis vierwöchige Chininpause nicht zu be¬
fürchten. Bei diesen Fällen mit ausge¬
sprochen chronischem Verlaufe treten Fie¬
beranfälle mir in größeren Zwischenräumen
auf und sind meist auffallend leicht . Er¬
reichen sie wirklich einmal einen bedroh-
311
August Die Therapie der Gegenwart 1917.
lieh erscheinenden Grad, so sind sie durch
eine Einspritzung von 0,5 g Urethan-
Chinin in die 'Bluthahn (siehe unten) zu
unterdrücken.
Die Einspritzung von Chinin in die
Muskeln leistet hei schweren Fällen oft
ausgezeichnete Dienste, namentlich hei Be¬
nommenheit des Kranken, oder wenn Chinin
infolge häufigen Erbrechens nicht behalten
wird, oder wenn seine Resorption durch
den Magendarmkanal sonst in Frage ge¬
stellt ist. Man spritzt in solchen FäUen
am besten Urethan-Chinin unverdünnt in
nicht zu kleiner Einzelgabe (gewöhnlich
1,0 g Chinin auf einmal) in die Gefäß-
muskeln ein. Urethan-Chinin ist in zuge¬
schmolzenen Glasröhren zu 0,5 g Chininum
hydrochloricum + 0,25 g Urethanum in
keimfreier Lösung von 2.5 ccm in die plan¬
mäßige Sanitätsausrüstung des Feld- und
Heimatsheeres aufgenommen.
Wo es auf eine besonders schnelle Chi¬
ninwirkung ankommt, ist die Einspritzung
in die Blutbahn vorzunehmen. Sie ist .
namentlich angezeigt bei Tropenfieber mit
stärkerer Beteiligung des Gehirns urid bei
sehr hohem Fieber (41—42 °). Man
spritze in diesen Fällen in die Vene 0,5 g
Urethan-Chinin, verdünnt mit 10—20 ccm
blutwarmer o,g%iger Kochsalzlösung, ein
oder, wenn man gleichzeitig die Herzkraft
heben will, 0,5 — 1,0 g Urethan-Chinin,
verdünnt mit 100—200 ccm Kochsalzlösung.
Die Gabe von 0 , 5 -— 1,0 g Urethan-Chinin
genügt oft zur augenblicklichen günstigen
Beeinflussung der Krankheit, ist aber bei
ausbleibender Besserung zu wiederholen.
Nach dem Auf hören der Lebensgefahr greift
die gewöhnliche Chininbehandlung Platz.
Salvarsan und Neosalvarsan sind bei
zweimaliger intravenöser Einspritzung von
0,3 g in die Vene bei Tertianfieber von
guter Wirkung. Da sie jedoch keine Dauer¬
wirkung auf die Malariaerreger ausüben,
ist zwecks Vermeidung von Rückfällen in
jedem Falle eine Nachbehandlung mit
Chinin anzuschließen. Mehrmalige Ein¬
spritzungen . von Salvarsan oder Neosal¬
varsan sind im allgemeinen ohne besonderen
Vorteil. Arsalyt wirkt ebenso wie Sal¬
varsan. Es wird in Gaben von 0,3 g in die
Vene eingespritzt. Die Einspritzung kann
nach mindestens zehntägiger Pause wieder¬
holt werden. (Für Arsalyt Beschaffungs¬
antrag wie für außerplanmäßige Mittel
vor geschrieben.)
Arsenmittel (. Liq. Kalii arsenicosi, Ar¬
senpillen, arsenhaltige Wasser) sind bei
der Nachbehandlung der Malaria zur An¬
regung der Blutbildung bei Malariaanämie
sehr wertvoll und werden in der gleichen
Form und Menge verabfolgt , wie bei an¬
deren Formen von Blutarmut. A.uf die
Malariaerreger haben diese Arsenmittel
keine Wirkung.
Optochin soll bei Malaria nicht ange¬
wendet werden, weil es unter Umständen
schwere Augenschädigungen hervor ruft.
Malariakranke müssen in den Lazaret¬
ten so lange behandelt werden, bis sie bei
mindestens zwei- bis dreimaliger Unter¬
suchung frei von den Erregern sind. Dies
ist gewöhnlich zwei bis vier Wochen nach
dem V er schwinden des Fiebers der Fall.
Die bei jedem Malariakrankeh unbedingt
notwendige acht- bis zwölfwöchige Nach¬
behandlung kann, wenn die äußeren Um -
stände es ermöglichen, bei der Truppe
durchgeführt werden unter Schonung der
Leute an den Chinintagen.
Der Truppenteil ist jedesmal von der
Notwendigkeit der Nachkur unter Abgabe
des Chininkalenders für den Betreffenden
zu unterrichten. - Die Truppenärzte haben
darauf zu achten, daß die Kur unbedingt
ausgeführt wird, sonst sind Rückfälle (oft
auch bei nur einmaliger Unterbrechung)
unvermeidlich.
Die Chinintabletten sind von Zeit zu
Zeit auf ihre Zerfallbarkeit durch Ein¬
werfen in lauwarmes Wasser, in dem sie
in längstens fünf Minuten zerfallen müs¬
sen, zu prüfen.
Jeder Malariarückfall ist genau wie
ein frischer Fall in obiger Weise zu be¬
handeln.
Überstandene Malaria schützt nicht
vor Neuansteckung, sodaß beim Ver¬
bleiben in der Malariagegend gegebenen¬
falls nach Abschluß- der Behandlung die
vorbeugende Kur in angeordneter Weise
angeschlossen werden muß.
Ein Verlegen von Malariakranken in
Seuchenlazarette ist nicht immer nötig.
Die Übertragung der Krankheitserreger
erfolgt nur durch besondere Stechmücken
(Anopheliden); der frisch Erkrankte ist
nicht infektiös für Mücken, weil in seinem
Blute noch die Geschlechtsformen der
Malariaerreger fehlen.
II. Malariavorbeugung.
Die Entwickelung der im Blute des
Menschen kreisenden Malariaparasiten
wird durch Chinin verhindert beziehungs¬
weise beeinträchtigt. Es hat sich daher
seit vielen Jahren in Malariagegenden be¬
währt, neben dem Schutze gegen die
malariaübertragenden Stechmücken (An¬
opheliden), durch dauernde Chininein-
312
Die Therapie der Gegenwart 1917.
August
nähme den Ausbruch der Malaria zu ver¬
hindern.
Die Verfahren der Chinineinnahme,
die hierfür empfohlen werden, sind ver¬
schieden; alle haben aber folgende wich¬
tige Gesichtspunkte zu berücksichtigen:
1. Die eingenommenen Chininmengen
dürfen nicht zu gering sein.
2. Die Pausen zwischen der Einnahme
dürfen nicht zu lang sein.
3. Die Art der Einnahme darf die
Dienstfähigkeit nicht beeinträchtigen.
4. Unterbrechungen der regelmäßigen
Vorbeugungskur (durch Vergessen oder
Chininmangel) dürfen nicht Vorkommen.
5. Das Chinin zu vorbeugenden
Zwecken muß auch noch mindestens
acht Wochen lang nach Verlassen der
Malariagegend genommen werden.
Die Erfahrung hat gezeigt, daß län¬
gere Zwischenpausen als sechs Tage zwi¬
schen den Chinintagen nicht ratsam sind;
z. B. ein Chinintag mit neuntägigen
Pausen ist ungenügend.
Von den verschiedenen Methoden seien
folgende genannt:
1. Jeden sechsten und siebenten Tag.—
also genau wie bei der Malarianachbehand¬
lung an zwei aufeinanderfolgenden gleich¬
namigen Wochentagen — wird je 1 bis
1,2 g Chininum hydrochloricum, zweck¬
mäßigerweise in vier Einzelgaben von
0,25 oder 0,3 g mit zweistündigen Zwi¬
schenpausen eingenommen.
2. Jeden vierten und fünften Tag wird
je 0,5 bis 0,6 g Chinin genommen.
3. Jeden vierten Tag wird 1—1,2 g
Chinin (viermal 0,25—0,3 g) genommen.
4. Jeden Tag werden 0,3 g Chinin ge¬
nommen.
Welche dieser Methoden anzuwenden
ist, kann in der Regel nur ein in der Ma¬
lariapathologie erfahrener Arzt für die
betreffende Gegend bestimmen. Es wird
dringend gewarnt, weniger Chinin nach
eigenem Ermessen, besonders in größeren
Pausen zu geben, etwa weil auch dabei
kein Fieber beobachtet wird. Die Malaria¬
infektion braucht sich klinisch zunächst
nicht als Fieber zu zeigen, aber ungenü¬
gendes oder unregelmäßiges Chininnehmen
schafft latente Infektionen, die bei Er¬
kältungen (Übertritt in kühlere Gegen¬
den), Magendarmstörungen, Anstren¬
gungen oft erst nach längerer Zeit klinisch
deutlich in Erscheinung treten und viel
hartnäckiger der Behandlung .gegenüber
sind als frische Fälle.
Als ausreichend und für das Feldheer
besonders empfehlenswert ist im allge¬
meinen das Cellische Verfahren des Chinin¬
schutzes zu bezeichnen , bei dem täglich 0,3 g
Chinin gegeben wird. Nur in besonders
gefährdeten Gegenden empfiehlt es sich ,
nach je drei Tagen , an denen 0,3 g Chinin
verabreicht wird , jedesmal ' einen Tag mit
0,9 g Chinin einzuschieben („Verstärkter
Chininschutz 11 ). Am zweckmäßigsten wird
das Chinin abends gereicht. Diese Art des
Chininschutzes kann ohne Schädigung der
Gesundheit sechs Monate lang ununter¬
brochen durchgeführt werden. Die Ent¬
stehung von Chininfestigkeit der Malaria¬
parasiten ist dabei nicht zu befürchten .
Sehr wichtig und für den Erfolg des
Chininschutzes ausschlaggebend ist die gute
Beschaffenheit des Chinins. )Die leichte
Zerfallbarkeit der ‘verabfolgten Chinin¬
tabletten muß regelmäßig geprüft werden.
Um die Lösung der Tabletten im Magen
zu beschleunigen , ist die gleichzeitige Gabe
von Salzsäurelösung empfehlenswert.
Malariaschutz wird nur durch ord¬
nungsgemäß und lückenlos durchge¬
führtes Chininnehmen gewährleistet. Die
Mannschaften müssen das Mittel unter
strenger Aufsicht einnehmen. Nötigen¬
falls ist die Mitwirkung der militärischen
Vorgesetzten zu veranlassen.
Mit allem Nachdrucke ist darauf hin¬
zuwirken, daß der Chininschutz nicht
früher ausgesetzt wird, als bis acht Wochen
nach dem Verlassen der Malariagegend
verflossen sind. Vorzeitiges Aussetzen
hat z. B. bei Urlaubern aus Mazedonien
schon mehrfach zu schweren Erkrankun¬
gen und Todesfällen in der Heimat geführt.
Ausnahmsweise können trotz regel¬
mäßig und vorschriftsmäßig durchge¬
führten Chininschutzes Fieber auftreten,
sie verlaufen dann jedoch erfahrungs¬
gemäß milder als bei Personen, die nicht
unter Chininschutz standen.
Neben der vorbeugenden Chininanwen¬
dung kann bei der Verhütung der Malaria
der persönliche Mückenschutz durch Tragen
vbn Handschuhen und Mückenschleiern ,
Anbringung von Mückennetzen über den
Lager stellen und mückensicheren Abschluß
der Fenster- und Türöffnungen in ’ den
Unterkunftsräumen sowie die Bekämpfung
der Mücken und ihrer Brut (Gelände¬
assanierung) wertvolle Dienste leisten.
Whm es die äußeren Verhältnisse gestatten ,
sind auch diese Maßnahmen nach Weisung
der Hygieniker durchzuführen.
Für die Redaktion verantwortlich Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemp erer in Berlin. Verlag von Urban & Schwarzenberg
in Berlin und Wien. Gedruckt bei Julius Sittenfeld, Hofbuchdrucker., in Berlin W8.
JAN 21
192
Die Therapie der Gegenwart
58. Jahrgang
Neueste Folge. XlX.Jahrg.
herausgegeben von
Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer
BERLIN
W 62 , Kleiststraße 2
Verlag von URBAN & SCHWARZENBERG in Berlin N 24 und WienI
9. Heft
September 1917
Die Therapie der Gegenwart erscheint zu Anfang jedes Monats. Abonnementspreis für den
Jahrgang 10 Mark, in Österreich-Ungarn 12 Kronen, Ausland 14 Mark. Einzelne Hefte je 1,50 Mark
resp. 1,80 Kronen. Man abonniert bei allen größeren Buchhandlungen, sowie direkt bei den
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Inhaltsverzeichnis umstehend!
Die Therapie der Gegenwart
1917 herausgegeben von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer
Nachdruck verboten.
Aus dem städtischen Krankenhause Moabit in Berlin.
Bemerkungen zur Diagnose und Therapie der infektiösen
Darmerkrankungen.
Von G. Klemperer und L. Dünner.
Anläßlich des gehäuften Auftretens in¬
fektiöser Darmerkrankungen sind dem Her¬
ausgeber dieser Zeitschrift aus dem Leser¬
kreise zahlreiche Anfragen zugegangen, die
wir auf Grund der eigenen Beobachtungen
in folgendem kurz beantworten wollen.
Dabei möge die aphoristische Form der
Darstellung durch die Arbeitsüberhäufung
der Hospitalärzte entschuldigt werden.
1.Ab grenz ungderRuhrvonnicht-
:specifischer Enteritis. Viele Anfragen
beziehen sich auf die Schwierigkeit, Ruhr
(Dysenterie) vom einfachen akuten Darm¬
katarrh (Enteritis) zu unterscheiden. Es ist
bekannt, daß die Ruhr, das heißt die nekro¬
tisch-diphtherische Dickdarmentzündung,
nicht immer mit schleimig-blutigen Diar¬
rhöen undTenesmen verläuft, sondern daß
:sie in ihrer milden Form auch ohne blutige
Entleerungen und ohne Tenesmen ver¬
laufen kann. Ebenso bekannt ist, daß
es auch ohne Nekrosen und Geschwürs¬
bildung im Dickdarm zu schleimig-blutigen
Diarrhöen und Tenesmen, das heißt zum
klinischen Bilde der Ruhr kommen kann.
Dies Verhältnis ist für die praktischen
Ärzte sehr schwierig; nicht sowohl in Be¬
ziehung auf die Behandlung, die sich ja
stets von den klinischen Zeichen leiten
läßt, als vielmehr in öffentlich-rechtlicher
Beziehung. Es ist eben die Frage, welche
Fälle man als Ruhr melden und absondern
soll? Ist diese Frage, die durch die kli¬
nischen Beobachtungen nicht in allen
Fällen zu entscheiden ist, durch bakterio¬
logische beziehungsweise serologische Hilfe
sicher zu beantworten?
Hierüber wollen wir unser Beob-
achtungsmaterial sprechen lassen.
Im Krankenhaus Moabit wurden vom
1. Juni bis 15. August 1917 448 Fälle von
diarrhoischen Darmerkrankungen aufge¬
nommen. Nach den klinischen Beobach¬
tungen wurden 122 Fälle als Ruhr dia¬
gnostiziert, 326 Fälle als nicht-specifische
akute Enterocolitis.
Zuerst wollen wir über die anatomische
Kontrolle der klinischen Diagnose berichten.
Von der Gesamtzahl der 448 Darmerkran¬
kungen sind 59 Fälle gestorben = 13,2°/o.
Die relativ hohe Ziffer erklärt sich aus
der relativ großen Zahl alter Patienten.
Das Verhältnis der Mortalität zum
Alter geht aus der folgenden tabellarischen
Zusammenstellung hervor:
Altersklasse
Krankenzahl
davon f
% f
70—80
38
18
47,4
60—70
38
16
42,1
50—60
40
5
12,5
40—50
41
6
14,6
30—40
59
1
1,7
20—30
85
0
0
10—20
66
3
4,5
0—10
81
10
12,2
Die Zusammenstellung zeigt in klarer
Weise, wie sehr die Prognose der infek¬
tiösen Darmerkrankungen vom Lebens¬
alter abhängig sind.
Zur Obduktion gelangt sind 35 Fälle;
aus äußeren Gründen konnten nicht alle
Todesfälle zur Obduktion gebracht werden;
dieselbe wurde bei den ältesten Patienten
unterlassen.
Von den 35 obduzierten Fällen (Ge¬
heimrat Benda) erwiesen sich 11 als Fehl¬
diagnosen. 5 Fälle, in denen auf Grund
der klinischen Erscheinungen Ruhr dia¬
gnostiziert war, erwiesen sich als Enteritis;
6 Fälle, in denen die klinischen Erschei¬
nungen nur die Diagnose der infektiösen
Darmentzündung erlaubten, erwiesen sich
anatomisch als Ruhr. Hierzu treten noch
6 Fälle andersartiger, richtig diagnosti¬
zierter, tödlicher Erkrankung (perniziöse
Anämie, Darmtuberkulose, Darmcarcinom),
bei welchen die Obduktion gewissermaßen
als Nebenfund Dysenterie aufwies.
Es ergibt sich also aus unseren Befunden
eine neue Bestätigung des alten Befundes,
daß die klinische Diagnose der Ruhr durch¬
aus nicht auf Sicherheit Anspruch machen
darf, und daß einfache Darmentzündung
ebensowohl unter ruhrartigen Erscheinun¬
gen verlaufen kann, wie echte Ruhr sich
unter dem Bild akuten Darmkatarrhs
verbirgt.
In welchem Maße kann nun die bak¬
teriologische Untersuchung den Sach-
40
314
Die Therapie, der Gegenwart 1917.
September
verhalt auf klären? Bekanntlich wissen wir
jetzt, daß die epidemische Ruhr in unseren
Breiten selten durch Amöben, meist von
Bacillen,verursacht wird, von denen meh¬
rere untereinander verwandteTypen (Shiga-
Kruse, Flexner, Y) bisher isoliert werden
können. Aus den bisherigen Erfahrungen
ist auch bekannt, daß die künstliche Rein¬
züchtung der Ruhrbacillen aus der Unzahl
der Darmbakterien nicht leicht ist und
daß sie nur bei frischem Material mit
einiger Sicherheit gelingt.
Leider hat die bakteriologische Hilfe bei
unseren Fällen fast ganzversagt. Eswurden
in 152Fällen (darunter 78 klinischen Ruhr¬
fällen) Stuhlkulturen angelegt. Ruhr¬
bacillen wurden nur fünfmal gefunden.
Freilich konnten die Untersuchungen fast
in keinem Falle gleich zu Anfang der Er¬
krankung angestellt werden, da die
meisten Fälle erst am Ende der ersten
Woche ins Hospital kamen. Übrigens
wurden die Untersuchungen nach aner¬
kannten Methoden von sehr geschulten
Kräften angestellt (Leitung Prof. Friede¬
mann). Es kamen nur uncharakteri¬
stische Coliarten zur Entwicklung. Man
muß annehmen, daß die specifischen Ruhr¬
erreger von diesen im Dickdarm über¬
wuchert worden waren. Es muß dahin¬
gestellt bleiben, ob die bakteriologische
Untersuchung bei frisch zur Untersuchung
kommendem Material die Diagnose besser
zu stützen vermag. Immerhin ist es sehr
fraglich, ob die praktischen Ärzte sich in
bezug auf die Meldung der Ruhrfälle irgend¬
wie auf die bakteriologische Stuhlunter¬
suchung stützen können. Als sicher darf
man wohl aussprechen, daß es bei Ruhr¬
kranken keinen Zweck hat, in analoger
Weise wie beim Typhus vor der Entlassung
in besonderer Weise durch wiederholte
Untersuchungen das Verschwinden der
Ruhrbacillen aus den Stuhlgängen zu kon¬
statieren.
Bessere Resultate haben die serologi¬
schen Untersuchungen, das heißt die Prü¬
fung des Blutserums der Kranken auf
Agglutination von Ruhrbacillen nach Art
der Widalreaktion des Typhus ergeben.
Es wurden Agglutinationsversuche an
44 Patienten vorgenommen, 15 davon
betrafen Patienten mit einfach diarrhoi-
schen Erscheinungen ohne Ruhrverdacht.
Unter diesen war die Agglutination zwölf¬
mal negativ, dreimal positiv. Wir dürfen
daraus schließen, daß. in diesen drei Fällen
die specifische Infektion mit Ruhrbacillen
nur zu relativ leichten anatomischen Ver¬
änderungen geführt hat, und sehen daraus
eine weitere Bekräftigung der Tatsache,
daß jeder einfache Darmkatarrh eine
leichte Form von Ruhr darstellen kann.
27 Agglutinationsversuche betrafen kli¬
nisch diagnostizierte Ruhr. Das Resultat
war 16 mal positiv, 11 mal negativ. Wir
dürfen die 16 positiven Resultate als Be¬
stätigung der klinischen Diagnose be¬
trachten. Die 11 . negativen Resultate
bleiben in der Deutung zweifelhaft. Es
mögen unter ihnen immerhin einige ge¬
wesen sein, in denen die klinische Dia¬
gnose nicht zutreffend war; es ist aber
auch möglich, daß spätere Wiederholung
des Agglutinationsversuchs zu positivem
Resultat geführt hätte. Verwertbar ist das
negative Resultat jedenfalls ebensowenig
wie etwa der negative Ausfall der Widal-
probe beim Typhus. c
Wir dürfen aus unseren Beobachtungen
zusammenfassend schließen, daß die Dia¬
gnose der Ruhr klinisch nur in den schweren
Fällen mit annähernder Sicherheit zu stellen
ist. Die bakteriologische Diagnose ist ganz
unsicher, die serologische Untersuchung
sichert die Diagnose in etwa 60 % der
Fälle; der negativeAusfall der serologischen
Untersuchung ist unverbindlich. Da das
gehäufte Auftreten der Ruhr von einer
starken Zunahme der einfachen infektiösen
Darmerkrankungen begleitet ist 1 ), unter
denen eine große Zahl leichter Ruhrfälle
verborgen ist, so ist jede statistische Ab¬
grenzung der einzelnen Formen durchaus
unsicher.
2. Ursachen der Häufung der
Darmerkrankungen. Hierüber hat
unser Material keine entscheidenden Fest¬
stellungen ermöglicht. Die Meinung, daß
es sich um Infektionen durch zurück¬
kehrende Feldsoldaten handelt, hat sich
in den befragten Fällen nicht begründen
lassen. Natürlich beweist die Aussage
eines Patienten, daß er keine Berührung
mit Soldaten gehabt habe, nichts gegen
den Ursprung der Infektion vom Felde
her; der Zusammenhang könnte ja ein
indirekter sein. Sicher ist wohl, daß
viele von der Front kommenden Soldaten
Ruhrbacillenträger sind und die Infektion
verbreiten können. Andererseits sind
diese Verhältnisse im dritten Kriegsjahre
kaum andere als im zweiten. Entschei¬
dend ist doch wohl die herabgesetzte
Widerstandsfähigkeit des Magendarm-
0 Es sei übrigens bei dieser Gelegenheit be¬
merkt, daß auch die typhösen Infektionen in
zeitweiser Zunahme begriffen sind. Nachdem
Typhuserkrankungen monatelang nur vereinzelt
vorgekommen sind, haben wir zurzeit 21 Fälle
im Krankenhaus.
September Die Therapie der Gegenwart 1917. 315
kanals bei einem großen Teil der Bevöl¬
kerung.
Die besondere Häufung der nicht-
specifischen Darmerkrankungen wird wohl
zum großen Teil durch die abnorm hohe
Temperatur des Juli erklärt; von unseren
Fällen sind nur 47 vor dem 1 .Juli erkrankt.
Diese zeitliche Häufung läßt wohl die
ätiologische Bedeutung der Nahrungs¬
mittel zurücktreten. Wir möchten uns
jedenfalls nicht den Autoren anschließen,
welche die Beschaffenheit des Brotes be¬
sonders anschuldigen. In der überwiegen¬
den Mehrzahl wird das 95 e / 0 ig ausge¬
mahlene Brot vom Darm gut vertragen,
wenngleich nicht geleugnet werden soll,
daß es bei einer sehr kleinen Minderzahl
zu erheblichen Reizerscheinungen führt.
Wir haben uns aber in keinem Falle da¬
von überzeugen können, daß diese lokalen
Magen- und Darmstörungen durch das
Kriegsbrot direkt oder indirekt zur Ur¬
sache fieberhafter Diarrhöen geworden
wären. Gelegentlich war der Genuß ver¬
dorbenen Brotes, welches aus muffigem
Mehl oder mit schlechter Hefe hergestellt
war, die direkte Ursache des akuten
Magendarmkatarrhs. Daß die Häufung
der infektiösen Darmkatarrhe nicht von
der Ernährung und besonders nicht vom
Brot abhängig war, scheint uns nament¬
lich aus dem gleichzeitig gehäuften Vor¬
kommen von Darmerkrankungen unter
militärischen Verhältnissen hervorzu
gehen. Es sind specifische wie nichtspecifi-
sche Diarrhöen vielfach in Kasernen und
Lazaretten beobachtet worden, in denen die
Ernährung und insbesondere das Kommis¬
brot tadellos war. Für diese Infektionen
können nur die Sommerhitze und direkte
Kontagion vom Felde her verantwortlich
gemacht werden. Die in diesem Sommer
außerordentlich _ vermehrte Fliegen zahl
mag an der Übertragung der Infektion
einen nicht geringen Anteil haben. Zum
Schluß sei noch besonders hervorgehoben,
daß das Trinkwasser in keiner Weise an¬
geschuldigt werden kann. Explosives Auf¬
treten, wie es bei Trinkwasserepidemien
die Regel ist, wurde nirgends beobachtet,
Unsere Patienten kamen aus Familien, in
denen zahlreiche Mitglieder von der Er¬
krankung verschont blieben. Abkochen
des Trinkwassers brauchte also zur Ver¬
hütung der Ansteckung nicht empfohlen
zu werden; es genügte persönliche Rein¬
lichkeit, insbesondere an den Händen.
3. Erfahrungen mit der Rekto¬
skopie. Wir haben das rektoskopische
Verfahren, bei einer großen Zahl geeignet
erscheinender Fälle (im ganzen 50 mal)
angewandt, hauptsächlich in der Hoffnung
auf diese Weise in zweifelhaften Fällen
zur sicheren Diagnose zu gelangen. Diese
Hoffnung hat sich nicht bewährt; wir
sahen sichere Dysenterien, bei denen wir
keine nekrotischen beziehungsweise ge-
schwürigen Veränderungen feststellen
konnten.
Wir nahmen davon Abstand, die Ruhr¬
kranken in den ersten Stadien zu rceto-
skopieren, weil es, ganz abgesehen von der
großen Belästigung für den ohnedies er¬
schöpften Patienten, nicht möglich ist, die
Schleimhaut vollkommen abzuleuchten.
Bei den Enterokolitiden findet sich
nur leichte Entzündung der Mucosa.
Bei den klinisch als Ruhr imponierenden
Fällen sieht man, sobald die häufigen Ent¬
leerungen aufgehört haben, eine mehr oder
weniger stark geschwollene Mucosa, die
stellenweise mit Schleim bedeckt ist. Ge¬
schwüre finden sich in wechselnder
Größe, sie sind nicht tiefgehend. Gelegent¬
lich kann man diphtherisch-nekrotische
Partien einstellen, die man leicht mit
Schleim verwechselt. Wenn man diese
nekrotischen Beläge beseitigt, so entsteht
eine Blutung, die bei Schleim, der auf
der Mucosa liegt, natürlich nicht zustande
kommt. Im allgemeinen heilen die Ulcera,
wie uns fortlaufende Kontrolluntersuchun-
gen zeigten,ziemlich schnell aus,wenigstens
bei den Fällen, bei denen innerhalb kurzer
Zeit die Entleerungen sich bessern. Man
sieht zum Schluß kaum noch die. ver¬
narbten Stellen. Die Schleimhaut ist dann
ziemlich trocken. Wir fanden aber auch
bei Kranken, die sich vollkommen wohl
fühlten, noch nach mehreren Wochen
sichere Geschwüre.
3. Zur Behandlung der infektiösen
Darmerkrankungen. Es ist allgemein
anerkannt, daß infektiöse Diarrhöen im;
Anfang mit Abführmitteln zu behandeln
sind. Am besten geschieht dies mit Rizi¬
nusöl. Da dies Medikament jetzt nicht
in genügender Menge zur Verfügung ist
haben wir in allen Fällen Calomel an-,;
gewandt. Die theoretisch hiergegen ge¬
äußerten Bedenken haben sich als gegen-,
standslos erwiesen; es ist niemals ein
Schaden dadurch verursacht worden, ins¬
besondere wurden niemals Zeichen von
Hg-Vergiftung, weder an der Mund- noch
der Dickdarmschleimhaut, auch nicht an.
den Nieren beobachtet. Wir haben frei¬
lich immer relativ große Dosen angewandt,
bei Erwachsenen gewöhnlich zweimal 0,3 g
in halbstündlichen Zwischenräumen. Trat
40*
316
Die Therapie der Gegenwart 1917.
September
nach sechs bis acht Stunden keine Ent¬
leerung ein, was nur sehr selten der
Fall war, so wurde ein • gehäufter
Teelöffel Karlsbader Salz in Wasser
gelöst gegeben. Auf die Darmreini¬
gung durch Calomel haben wir in
keinem Falle verzichtet; war der Brechreiz
im Anfang zu groß, so wurde bis zu
dessen Nachlassen, gewöhnlich 24 Stunden,
gewartet, und dann noch Calomel gereicht
Auch in den schwersten Ruhrfällen erwies
sich das Mittel als nützlich.
Es ist in letzter Zeit mehrfach betont
worden, daß bei der Ruhr trotz der starken
Dickdarmreizungder Dünndarm mit großen
Inhaltsmengen gefüllt ist; von Zülzer ist
deswegen die Injektion von Hormonal emp¬
fohlen worden; hiervon haben wir keinen
Gebrauch gemacht. Dagegen wurde im Ver¬
lauf der Ruhr mehrfach Solutio Atropini
0,01 : 10,0 ein- bis zweimal täglich zu 10
bis 20 Tropfen angewandt, zur Lösung
des spastischen Dünndarmverschlusses und
zur Linderung der Bauchschmerzen.
Bei den klinisch nicht als Ruhr impo¬
nierenden Fällen von akuter Enterocolitis
war mit der Calomeldarreichung die medi¬
kamentöse Therapie meist beendet; es ge¬
nügte dann der warme Leibumschlag und
die Verordnung der üblichen Diät, um
den Darm zu beruhigen. Nur bei ganz
erschöpfenden Diarrhöen wurden 10 bis
15 Tropfen Tinctura Opii, besonders zur
Nacht gegeben. Dagegen wurde von der
Opiummedikation bei ruhrartigen Sym¬
ptomen,insbesondere beiTenesmus und Leib¬
schmerzen, ziemlich ausgiebiger Gebrauch
gemacht; es ist eine große Härte, aus irgend¬
welcher theoretischen Begründung den
schwer geprüften Patienten diese Wohltat
entziehen zu wollen. Wir gaben zur Nacht
gewöhnlich 20Tropfen,tagsüber nach Bedarf
je lOTropfen. Bei heftigen Tenesmen waren
Suppositorien von Extractum Opii mit Ex-
tractum Belladonnae (ää 0,03) sehr nützlich.
Ersatzmittel für Opium, insbesondere Pan-
topon, sind überflüssig. Bei sehr großer
Unruhe wurden in einzelnen Fällen Mor¬
phiuminjektionen gegeben.
Zur Beeinflussung des Krankheits¬
prozesses haben wir reichlich Gebrauch
gemacht von Bolus alba und von Tier¬
kohle; es wurde gewöhnlich vormittags und
nachmittags je ein Eßlöffel des Pulvers in
Tee gut umgerührt gegeben. Der Zweck
der Darreichung ist bekanntlich die Ent¬
giftung durch Adsorption der Toxine, da¬
neben auch die örtliche Beeinflussung
der Geschwürsfläche, welche durch die
eventuelle Pulverdecke zur Verschorfung
beziehungsweise schnelleren Abheilung ge¬
bracht werden soll. Das Urteil über den
Wert der Bolustherapie bei Ruhr ist außer¬
ordentlich schwierig. Sicherlich ist diese
Behandlung bei ordentlicher Anwendung
unschädlich. Die meisten Patienten nehmen
sie ohne Widerrede; gelegentlich freilich
wird sie wegen des schweren Schluckens zu¬
rückgewiesen; dabei ist zu bedenken, daß
Ruhrkranke nicht selten Ulcerationen und
Beläge am Gaumen bekommen, die ihnen
jedes Schlucken erschweren. Man sollte
auch nicht mehr als einen Eßlöffel des
Boluspulvers auf einmal geben; zu dicke
Aufschwemmungen lassen sich nicht leicht
herunterbringen. Unangenehme Neben¬
wirkungen sind bei der Anwendung selten.
Es kommt freilich vor, daß der Bolus sich
mit dem Darminhalt zu harten Knollen
zusammenbackt und bei der Entleerung
große Schwierigkeiten und Schmerzen
macht, zu deren Beseitigung man am
besten laue Kamillenklistiere verabreicht.
Übrigens haben wir in einzelnen Fällen
bei solchen üblen Nebenwirkungen des
Bolus mit großem Vorteil feinst gepul¬
vertes Aluminium (Escalin) verordnet;
leider ist der Preis für ausgiebige Hospital¬
verwendung zu teuer. — Man sollte nun
meinen, daß eine so vielfältige Anwendung
der Bolustherapie, wie sie in diesem
Sommer möglich war, ein sicheres Urteil
über ihre kurative Wirksamkeit abzu¬
geben gestattete. Leider ist uns das nicht
möglich. Wir haben zu viel Fälle
schweren, durch Bolus ungemilderten
Verlaufs gesehen, als daß wir eine hei¬
lende Wirkung anerkennen können; da¬
gegen darf man wohl sagen, daß in den
mittleren und leichten Fällen die Entlee¬
rungen unter Bolusgebrauch sich allmäh¬
lich verminderten und reizloser wurden,
sodaß die Meinung einer günstigen Beein¬
flussung nicht abzuweisen war. Wir haben
aber oft neben Bolus von der alten Tannin¬
medikation Gebrauch gemacht, unter An¬
wendung von Tannigen, Tannalbin, Op-
tannin (gerbsaurer Kalk), in einzelnen
Fällen haben wir auch einfache JKalk-
präparate (Calc. phosphor., Calc. carb. ü 20,0,
Calc. lact. 10:200 eßlöffelweise) gegeben.
Spülungen des Darms haben wir in
den schwereren Fällen häufig angewandt,
'gewöhnlich mit 500 ccm % % iger Tannin¬
lösung; wenn die Spülungen schmerzhaft
waren, haben wir darauf verzichtet, öfters
auch fünf bis zehn Tropfen Opium der
Spülung zugesetzt. Bei reichlichen Blut¬
ausscheidungen wurde mit Zusatz von
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Therapie der. Gegenwart. Anzeigen.
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September
317
Die Therapie der Gegenwart 1917.
gespült, in einzelnen Fällen 5%ige warme
Gelatinelösung angewandt, wovon aber
wesentlicher Nutzen nicht erreicht wurde.
In bezug auf die Diät sind wir von
den üblichen Grundsätzen nicht abge¬
wichen, indem wir uns in den ersten
stürmischen Tagen auf Tee mit wenig
Kognak, verdünnten Rotwein, Schleim¬
suppen beschränkten, bei erwachendem
Appetit Zwieback, Cakes, Kartoffelpüree,
weichgekochten Reis erlaubten. Milch
wurde vorsichtig ausprobiert, meist gut
vertragen, eventuell mit Kalkwasser ge¬
mischt, bei geschwächten Patienten bald
reichlich gegeben. In den Fällen, die zu
chronischem Verlauf neigten, wurde die
Ernährung möglichst reichlich gestaltet
und also weiche Eier, Weißbrot mit Butter,
zarte Fleischspeisen nach Möglichkeit- ge¬
geben. Erst nach abgeschlossener Rekon¬
valeszenz, gewissermaßen als Probe auf
die endgültig erreichte Heilung wurde
grobes Brot versuchsweise gestattet.
Die größte Bedeutung bei der Behand¬
lung der Darmentzündungen wie der Ruhr-
kommt der Wartung und Pflege der Kran¬
ken zu. Es gilt ihre Kräfte möglichst zu
schonen bei der häufigen Benutzung des
Beckens, sie sorgsam zu heben beziehungs¬
weise zu lagern, unnützes Aufrichten zu
vermeiden, sie möglichst sauber zu halten
und sie dabei vorsichtig zu nähren.,
Man darf wohl sagen, daß das Schick¬
sal mancher Ruhrkranken nicht zum min¬
desten von der Art der Pflege abhängig
ist. Die wirkliche Hingabe, die viele unserer
Schwestern in schwersten Tagen bewiesen
haben, verdient ausdrückliche Anerken¬
nung. Zum Schluß wollen wir der Beauf¬
sichtigung der Rekon valescenz ge¬
denken, die bei der Ruhr die gleiche Be¬
achtung verdient wie bei den schwersten
Infektionskrankheiten. Auch nach an¬
scheinend leichteren Ruhranfällen bleibt
oft erhebliche allgemeine Schwäche, beson¬
ders aber solche des Herzens zurück; die
alte Leistungsfähigkeit kommt erst nach
relativ sehr langer Ruhezeit wieder. Große
Schonung verlangt auch der Verdauungs¬
apparat, da die Neigung zu örtlichen
Rezidiven noch lange nach der Heilung
bestehen bleibt.
Die Suggestionstherapie der funktionellen Neurosen
im Feldlazarett.
Von Dr. Manfred Goldstein, Assistent der Universitäts-Nervenklinik Halle (Saale),
z. Z. als Oberarzt d. Res. im Felde.
Während auf der Kriegsneurologen¬
tagung zu München im Herbste 1916 die
Auseinandersetzungen über die Frage, wie
weit die unter der Bezeichnung Kriegs¬
neurosen zusammengefaßten Krankheits¬
bilder organisch oder funktionell bedingt
seien, keine volle Klärung bringen konn¬
ten, war man sich doch einig darüber, daß
die Möglichkeit ihrer therapeutischen Be¬
einflussung im allgemeinen dicht hinter
der Front wesentlich besser sei als in der
Heimat. Hier pflegen diese Neurosen
auch häufig in Erscheinungen auszuarten,
wie man sie im Operationsgebiete nur
selten zu sehen bekommt.
Nicht alle Fälle, die zurzeit als funk¬
tionell angesehen zu werden pflegen,
brauchen frei von organischen Verände¬
rungen zu sein, weil wir diese mit unseren
Hilfsmitteln nicht nachzuweisen ver¬
mögen. Können doch bekanntlich manche
organischen Schäden des Gehirns und
des Rückenmarks mit der Zeit wieder
ausgeglichen werden. Weil nun derartige
Kranke nur selten zur Obduktion kom¬
men, kann die dadurch mögliche Förde¬
rung der Diagnostik nur gering sein. Ganz
besonderes Interesse verdient deshalb ein
kürzlich von Anton erwähnter Fall, der
zeigt, daß emotionelle Einwirkungen or¬
ganische Folgen mit sich bringen können.
Ein von lautem- Feuerlärm überraschter Mann
bekam eine Schreckneurosc mit allgemeinem
Zittern, die als hysterisch angesehen wurde; die
spätere Obduktion deckte ein Hämatom an der
Oberfläche der Centralwindungen auf.
Ähnliche Prozesse werden bei den
Kriegsteilnehmern öfter den unter dem
Bilde von funktionellen Leiden verlaufen¬
den Krankheiten zugrunde liegen können
und deshalb muß man sich natürlich hüten,
neben den vorherrschenden funktionellen
Erscheinungen die organischen Symptome
zu übersehen.
Darüber dürfte wohl kein Zweifel be¬
stehen, daß die schweren Insulte des
jetzigen Stellungskampfs mit den ge¬
waltigen Sprengwirkungen der gro߬
kalibrigen Geschosse sowie der Minen, mit
den häufigen Verschüttungen und mit
den Einwirkungen giftiger Gase mehr als
einen ,flüchtigen Eindruck“, me Oppen¬
heim sagt, hervorrufen und tiefgreifende
Störungen am Nervensystem bedingen
können. So sind von den funktionellen
Erkrankungen die postcommotionellen
psychischen und nervösen Krankheits-
318
Die Therapie der Gegenwart 1917.
September
" bilder abzutrennen. Übrigens pflegen die
Commotionneurosen nach meinen Be¬
obachtungen in den ersten Wochen trotz
Bettruhe fast immer mit Temperatur¬
steigerungen einherzugehen (vielleicht
Schädigungen der centralen Wärme-
centren?).
Sehen wir von diesen Fällen ab, suchen
wir sie . nach allen Möglichkeiten auszu¬
schalten, so bleibt immer noch ein großes
Gebiet von Neurosen, bei denen nach
Wollenberg die mechanische Schädi¬
gung nur die untergeordnete Rolle eines
örtlichen Reizes spielt, aus dem erst die
Psyche etwas macht. Dabei muß man
wohl annehmen, daß auch die funktio¬
nellen Bewegungsstörungen von physio¬
logischen Zustandsänderungen in der ner¬
vösen Substanz begleitet werden: wie jede
Funktion des Nervensystems, sei sie nor¬
mal oder pathologisch, neurokyme Ver¬
änderungen im Gehirn auslöst. Diese
sind dann aber sekundär, also durch
psychische Einflüsse bedingt, und wer¬
den sich nach Beseitigung der Krankheits¬
zeichen allmählich wieder ausgleichen.
Vielleicht bleibt dadurch aber der Boden
für die Entstehung von Rezidiven, für
das Auftreten neuer Innervationsentglei¬
sungen während einer gewissen Zeit auch
ohne größere emotionelle Wirkung ge¬
ebnet.
Wenn diese Motilitätsneurosen als
klinisches Bild auch im Vergleiche zu den
Beobachtungen im Frieden an und für
sich nichts Neues bieten, so ist doch auf¬
fallend, daß viele der Erkrankten die
hysterische oder eine psychopathische
Veranlagung vermissen lassen. Für den
oben erwähnten Gedanken, daß die Psyche
erst etwas aus Reizen macht, sind noch
folgende Punkte anzuführen: Da, wo
frisches Vorwärtsdringen die Gedanken
von der persönlichen Gefahr ablenkt und
die Massensuggestion die individuelle psy¬
chische Verarbeitung ausschließt, sehen
wir diese Krankheiten nur selten auf-
treten; erst wenn im Stellungskriege
das Verlangen nach Schutz und Deckung
größer wird, steigert sich die Bereitschaft
zur Neurose. Weiterhin ist hervorzu¬
heben, daß die Neurose sich nur selten
an Verwundungen anschließt, daß die
Neurotiker bei früheren Verletzungen oft
frei von entsprechenden Störungen ge¬
blieben sind, dagegen in der Mehrzahl
der Fälle sich anamnestisch eine Bewußt¬
sei n s t r ü b u n g findet. Aber selbst wenn
diese nicht nachzuweisen ist, so ist zu be¬
rücksichtigen, daß lebhafte Artillerie- und
Minenwerfertätigkeit, insbesondere Trom¬
melfeuer die Großhirntätigkeit stark be¬
einträchtigen kann, bei vielen Leuten
einschläfernd zu wirken, ja direkt stupo-
röse Zustände zu erzeugen vermag, ohne
daß es zu Verschüttungen oder irgend¬
welchen Schädelverletzungen zu kommen
braucht.
Nun wissen wir, daß im ruhenden Ge¬
hirn infolge der Dissoziation der Gegen¬
vorstellungen ein ungewöhnlicher Ge¬
danke sich leichter Bahn brechen und Be¬
wegungen in seinem Sinne verursachen
kann. So kann während der Erwartung
eines Angriffs oder in diesem selbst beim
Kämpfer eine solche Inanspruchnahme
seines ganzen Fühlens und Denkens be¬
stehen, daß die assoziativen Reflexe fast
als ausgeschaltet angesehen werden müs¬
sen und der im Unterbewußtsein mehr
oder weniger stark vorhandene Wunsch,
endlich einmal wieder Ruhe und Sicher¬
heit zu finden, durch ein affektbetontes
Ereignis freie Bahn gewinnt und in die
Körperlichkeit ausstrahlt. Diese ein¬
seitige Herabsetzung der psychischen
Leistungsfähigkeit macht es auch erklär¬
lich, daß oft Leichtverwundete unter
Außerachtlassung jeder Deckung dem
Verbandplätze zustreben und dann in¬
folge der Nichtachtung der Gefahr auf
dem Wege dorthin eine ernstere oder töd¬
liche Verwundung erhalten.
Derartig starke Beeinflussungen der
Hirndynamik können es uns deshalb ver¬
ständlich erscheinen lassen, daß nicht unbe¬
dingt eine minderwertige psychische Kon¬
stitution vorhanden sein muß, um psycho¬
gene Krankheitsbilder vom hysterischen
Typus zu erzeugen. Bekanntlich haben
früher schon Moebius und später Nissl
die Meinung vertreten, daß bei jedem
Menschen in Momenten höchster Erregung
eine gewisse Bereitschaft zur Beeinflus¬
sung der bei hysterischen Vorgängen
tätigen Mechanismen durch die Psyche
vorhanden sei. Ich meine auch, daß die
gewaltige Anspannung des Centralnerven¬
systems im Verein mit der psychischen
Erschöpfung bei vollwertigen Indivi¬
duen eine dissoziative Schwäche erzeugen
kann; diese bedingt dann eine krankhafte
Autosuggestibilität und eine Neigung zu
den verschiedensten Funktionsstörungen,
vom einfachen Muskelkrampfe bis zur
Geistesstörung.
Auffallend häufig habe ich bei den
direkt von .der Front in das Feldlazarett
gebrachten Motilitätsneurosen eine all¬
gemeine psychische Veränderung mit dem
September
Die Therapie der Gegenwart 1917.
319
Charakter der traumhaften Benommen¬
heit, manchmal auch direkte hysterische
Dämmerzustände beobachten können. Mit
der Beseitigung der somatischen Störun¬
gen durch eine der suggestiv wirkenden
Methoden, besonders aber bei Anwendung
der Hypnose, wurde meistens gleichzeitig
eine Umstimmung der Persönlichkeit,
eine Befreiung von den psychischen Krank¬
heitserscheinungen, erzielt.
Bedenkt man nun weiterhin, daß un¬
vergleichlich mehr Kämpfer von . den¬
selben affektbetonten Vorstellungen be¬
troffen werden als erkranken, und daß
hysterische oder psychopathische Veran¬
lagung nicht immer den Boden für die
Entstehung von Neurosen ebnen, so
möchte ich darauf hinweisen, daß als
Korrektor über dem Seelenleben das den
ganzen Charakter bestimmende Wollen
bei Anerkennung der monistischen Auf¬
fassung des freien Willens des Individu¬
ums steht. Und gerade der Besitz, be¬
ziehungsweise der Mangel der erforder¬
lichen Willensstärke scheint mir genetisch
den ausschlaggebenden Faktor zu bilden.
Da von militärischen Vorgesetzten
eine besonders starke Willenskratf ver¬
langt und die Auslese danach gestaltet
wird, so würde hierdurch auch eine Er¬
klärung gegeben sein für die Tatsache,
auf die Curschmann schon früher auf¬
merksam gemacht hat, daß nicht be¬
lastete Offiziere und Offiziersaspiranten
nur selten von derartigen plumpen funk¬
tioneilen Motilitätsstörungen befallen wer¬
den. Selbst bei gebildeten Soldaten oder
Unteroffizieren habe ich die schweren
Schüttei- und Reflexlähmungen nur in
Ausnahmefällen zu sehen bekomme#; und
dann war in der Regel die mangelhafte
Anlage des Kranken offensichtlich. Die
verschiedensten Formen der Neurasthe¬
nie, sei es mit Vorherrschen des kardio¬
vaskulären oder des intestinalen Sym-
ptomenkomplexes, mit thyreotoxischen
oder anderen Syndromen, sind dagegen
auch nach meinen Beobachtungen viel
gleichmäßiger verteilt.
Welche Rolle das Willensmoment in
der Genese spielt, sieht man ferner in dem
Verhalten der im Operationsgebiete
zurückgebliebenen französischen Zivil¬
bevölkerung. Früher habe ich als Trup¬
penarzt oft Gelegenheit zu der Beobach¬
tung gehabt, daß bei Beschießung der
Ortschaften viele dieser Leute die Zeichen
des „primären Innervationsshocks“ bie¬
ten, es aber bei ihnen, ebenso wie bei den
Gefangenen, nicht zu einer Fixierung der
Symptome kommt. Trotz aller Gefahren
und Entbehrungen klebt der größte Teil
dieser Bevölkerung stark an der Scholle
und sucht auch bei Erkrankungen dem
Abtransport in die Zivilhospitäler der
Etappe zu entgehen. So bewahrt sie also
der Wille zum Gesundbleiben, „das Ge¬
sundheitsgewissen“, vor der Neurose.
Wenn derartige Erkrankungen bei den
Truppenteilen auch nur vereinzelt auf-
treten, sammelt sich in den Spezialabtei¬
lungen hinter der Front doch ein so be¬
trächtliches Material, daß man auch aus
den Behandlungserfolgen bei diesen Pa¬
tienten zu Schlußfolgerungen auf die
Pathogenese berechtigt sein dürfte.
Ich habe die verschiedensten auf Sug¬
gestion beruhenden Methoden versucht
und bin mit einer von ihnen oder mit
Kombinationen derselben fast ausnahms¬
los zu dem gewünschten Ziele gekommen.
Bei ihrer häufigen Anwendung dürfte
wohl jeder, der die Fähigkeit und den
Willen hat, sich in die Psyche dieser Kran¬
ken hineinzuleben, lernen, die geeignete
herauszufinden. Wenn auch nicht die
Methode, sondern der Arzt den Patienten
von seinen krankhaften Symptomen be¬
freit, darf man bei ihrerWahl die Persönlich¬
keit des Kranken doch nicht vollkommen
außer acht lassen, da die Reaktionsfähig¬
keit auf die einzelnen suggestiven Ver¬
fahren nach meinen Beobachtungen in¬
dividuell ganz verschieden sein kann.
Es sei hier noch kurz erwähnt, daß
die betreffenden Patienten von meh¬
reren Divisionen relativ schnell nach dem
Ausbruch ihrer Erkrankung auf dem Wege
über die Sanitätskompagnien in meine
Behandlung gekommen sind.
Bald nach den Veröffentlichungen von
Nonne über seine glänzenden Erfolge mit
der Hypnose habe auch ich sie recht
häufig angewandt, und ich kann nur
sagen, daß es ganz erstaunlich ist, was die
hypnotische Suggestion in der Beseiti¬
gung von Tähmungs- und Zittererschei¬
nungen bei frisch erkrankten Kriegsteil¬
nehmern leistet. Ferner muß man sich
immer wieder wundern, wie leicht es oft
gelingt, diese Kranken in tiefen Schlaf zu
versetzen, sei es mit einfacher Verbab
Suggestion oder mit Hilfe einiger Kunst¬
griffe, wie des Schließungsreflexes vom
Orbitalmuskel, der Braidschen Fixierung
eines kleinen glänzenden Gegenstandes
oder schließlich auch einfach auf Befehl.
Zur Erläuterung seien einige der behan¬
delten Fälle kurz skizziert:
320
Die Therapie* der Gegenwart 1917.
September
1. Fall. Gefreiter B., kriegsfrei williger In¬
fanterist, 21 Jahre alter Handlungsgehilfe.
Erblich nicht belastet, normale Entwicklung.
Leichte Verwundung durch Schrapnellkugel, spä¬
ter Verletzung durch Bajonettstich im Nahkampfe.
Nach Explosion einer Mine in seiner Nähe während
eines Trommelfeuers verlor er das Bewußtsein,
erwachte erst im Sanitätsunterstande wieder. —
Bei der Aufnahme fand sich eine pseudo-
spastische Schüttellähmung beider Arme;
der Kopf wurde nach rechts gebeugt gehalten
und führte einzelne klonische Zuckungen aus;
ferner bestand eine Aphonie. Hypalgesie an
Kopf und Armen. Zunge zittert beim Vor¬
strecken. Haut sehr feucht. Puls beschleunigt
und gespannt.
Zwei Tage nach der Aufnahme Einleitung der
Behandlung mit Hypnose; es gelingt nur leichten
Schlaf zu erzielen; die hyperkinetischen Er¬
scheinungen können aber wesentlich gebessert
werden. Auch nach dem Erwachen-bleibt B. er¬
heblich ruhiger als zuvor. Am übernächsten
Tage verfällt Patient auf Verbalsuggestion in
tiefen Schlaf, verliert innerhalb von 20 Minuten
seine Spasmen und Zuckungen und gewinnt seine
Sprache zurück, die nach dem Erwachen noch
etwas absetzend und zögernd bleibt. Deutliches
Freudegefühl über die Heilung. Einleitung von
Übungs- und Beschäftigungstherapie. Nach drei
Wochen erfolgt Entlassung als Kompagnieschrei¬
ber. B. ist bisher frei von Rezidiven geblieben.
2. Fall. Landwehrmann N., Minenwerfer,
34 Jahre alter Konditor.
Familienanamnese ohne Befund. Mit 28 Jahren
Gelenkrheumatismus. Seit September 1914 im
Felde. Im Februar 1915 Unterschenkelbruch
durch Sturz in einen Granattrichter. Im August
1916 Schrapnellverletzung am rechten Ellenbogen.
Kam bald wieder an die Front. Während er in der
Nacht Schnellfeuer abgeben mußte, sei eine Gra¬
nate in seiner nächsten Nähe geplatzt. Er habe
sich vor Schreck nicht mehr auf den Beinen halten
können, war nicht bewußtlos, wurde in den
Unterstand getragen, wo er bald einschlief. Nach
dem Erwachen habe er Zuckungen in den Armen
gehabt und sei unfähig zum Gehen gewesen.
Bei der Aufnahme zeigte N. grobe Muskel¬
zuckungen in beiden Schultergebieten, starke
Schüttellähmung der Arme und Beine,
Zuckungen in der Rumpfmuskulatur der¬
art, daß er im Bette manchmal emporschnellte,
ferner Astasie und Abasie. — Ohrmuscheln
mangelhaft konfiguriert. Conjunctival-, Gaumen-
und Rachenreflexe negativ. — Auch nachts be¬
stand die Unruhe fort, konnte nur durch Scopol-
amin-Morphiuminjektionen gemildert werden.
Drei Tage nach Beginn des Leidens wurde in
einer hypnotischen Sitzung von 15 Minuten Dauer
eine wesentliche Besserung erzielt, in einer wei¬
teren Hypnose mit tiefem Schlafe (zehn Minuten
lang) drei Tage später die motorische Unruhe ganz
beseitigt. Nach fünftägiger Pause nochmalige
tiefe Hypnose, in der die Astasie und Abasie ver¬
drängt wurden. Dann sechs Wochen lang Übungs¬
und Arbeitstherapie. Darauf wurde N. mit der
Empfehlung, ihn in einer Bäckereikolonne zu
beschäftigen, entlassen.
3. Fall. Reservist D., Infanterist. 27 Jahre
alter Kuhmelker.
Keine erbliche Belastung. Er ist niemals
ernstlich krank gewesen. Im Oktober 1914 Bein¬
schuß. Bei nächtlichem Postenstehen heftiges
Erschrecken, seitdem Zucken am Kopf und
Körper.
Bei der Aufnahme finden sich Halsmuskel-
krämpfe stärksten Grads mit dauerndem Nicken
des Kopfes, Zuckungen in der Geskfhtsmuskulatur,
ruckweises Heben der Schultern unter Mitbe¬
teiligung des Brustkorbs. Die motorische Un¬
ruhe ist zeitweise so stark, daß das Bett wackelt.
Nach einwöchiger Behandlung mit Bettruhe,
Brom und Wachsuggestion keine wesentliche
Änderung. In tiefer Hypnose von 45 Minuten
Dauer werden alle Zuckungen beseitigt; die
Freude darüber ist sehr groß. Anschließend drei¬
wöchige Arbeitstherapie. Dann Entlassung zur
Truppe.
Zehn Wochen später kommt D. wieder in das-
Feldlazarett mit der Angabe, er sei beim Ein¬
schlagen einer Granate umgefallen, bewußtlos
geworden und habe seitdem wieder Zucken des
Kopfes und der Schultern. Diesmal bestand
zweifellos Simulation. Nach energischer Auf¬
forderung wurde er auch wieder ruhig und mit
entsprechendem Bericht an den Truppenarzt
zurückgeschickt. Seitdem tut er wieder monatelang
unter schwierigen Verhältnissen Dienst.
4. Fall. Infanterist K-, 24 Jahre alter
Schlosser.
Vorgeschichte ohne Besonderheiten bis auf
eine Verschüttung mit längerer Bewußtlosigkeit
im September 1915, war sechs Monate in der
Heimat, kam dann wieder an die Front, war dann
zehn Monate bei einer Feldeisenbahn tätig. Als
diese, wie vorher schon oft, wieder einmal stark
beschossen wurde, mußte er in einen Unterstand
flüchten, dessen Eingang durch eine Granate
verschüttet wurde. Er sei stark erschrocken,
umgefallen, habe aber bald wieder aufstehen
können, dann starkes Zucken und Kopfschmerzen
gehabt; Erinnerungsvermögen für die anschlie¬
ßenden Stunden herabgesetzt.
Infantiler Jüngling, der einen ängstlichen,
schreckhaften, traumhaft verworrenen Eindruck
macht. Klonische Zuckungen der Lippen-
und Atemmuskulatur; die Lippen werden
rüsselförmig vorgestülpt; die Luft wird dabei
kräftig durch die Nase ausgestoßen. Er bietet
in seinem ganzen Gebahren das Bild einer Tier¬
imitation. — Kopf asymetrisch, Ohren ab¬
stehend, Ohrläppchen angewachsen. Herztätig¬
keit stark beschleunigt. Mechanische Muskel-
erregb#keit deutlich gesteigert. Dermographie +.
An den Beinen Ichthyosis. Im Gesicht Analgesie,
sonst allgemeine Hyperästhesie.
Nach dreimaliger tiefer Hypnose am dritten,
sechsten und zehnten Krankheitstage sind alle
Symptome beseitigt; auch das psychische Ver¬
halten ist wieder normal geworden. Deutliches,
Freudegefühl über die Heilung. Anschließend
vierwöchige Beschäftigung entsprechend dem
Berufe, dann als g. v. entlassen.
Ich habe hier aus meinem Material
vier Krankengeschichten mitgeteilt von
Soldaten, clie schon lange im Felde ge¬
wesen, früher schon verwundet oder ver¬
schüttet worden sind, ohne daß sich bei
ihnen ein neurotischer Symptomenkom-
plex entwickelt hat. Dieser kommt erst
zur Ausbildung im Anschluß an ein
Schreck auslösendes Ereignis, dem fast
immer aufregende Situationen voran¬
gehen und dem im allgemeinen kurze Be¬
wußtseinstrübungen zu folgen pflegen.
Fall 2 zeigt ein etwas abweichendes Ver-
September ' Die Therapie, der
halten, da bei ihm zunächst nur die Bein-
lährming und erst später beim Erwachen
aus dem sich anschließenden Schlafe die
motorische Unruhe aufgetreten zu sein
scheint. Diese emotionellen Bewußtseins¬
verluste oder Schlafzustände verlaufen
doch anders als die rein mechanisch durch
eine eigentliche Commotio cerebri beding¬
ten, ebenso wie auch die nervösen Folge¬
zustände sich verschieden charakteri¬
sieren. Natürlich können dabei die schon
erwähnten Überlagerungen Vorkommen;
aber die eigentlichen organischen Commo-
tions-und Kontusionserkrankungen
habe ich doch fast nie von solchen groben
funktionellen Motilitätsstörungen begleitet
gesehen, wie sie z. B. die eben angeführten
Fälle zeigen.
Eine eigentliche hysterische Veran¬
lagung konnte bei ihnen nicht eruiert
werden, -wenn auch teilweise Stigmata
und degenerative Zeichen vorhanden
waren. So fanden sich bei Fall 2 abnorme
Konfiguration der Ohrmuscheln, bei Fall4
ein Infantilismus und eine Ichthyosis an
den Beinen. Alle vier Patienten zeigten
hauptsächlich Bilder motorischer Reiz¬
erscheinungen in den verschiedensten
Muskelgruppen, so pseudospastische
Schüttellähmungen und Halsmuskel¬
krämpfe, teilweise kombiniert mit schlaf¬
fen Lähmungen. Gerade die hyperkine¬
tischen Neuroseformen, die verschieden¬
sten Formen des Zitterns, der Crampf und
Tics eigneten sich besonders für die
hypnotische Beeinflussung.
Da die Fälle frisch von der Truppe
kamen, ließ ich sie gewöhnlich erst einige
Tage ruhig im Bette liegen und gab ihnen
Brom zur Herabsetzung der Reflexerreg¬
barkeit. Nur wenn die Reizerscheinun¬
gen so groß waren, daß die Patienten keine
Ruhe finden konnten, erhielten sie sub-
cutan-Morphium; manchmal war auch
dessen Kombination mit Scopolamin er¬
forderlich. Dann wurden sie nach kurzer
Aufklärung und mit ihrer Einwilligung in
einem Einzelzimmer in Gegenwart eines
Sanitätsunteroffiziers hypnotisiert. Mei¬
stens genügten zwei bis drei Sitzungen in
.Abständen von wenigen Tagen; einzelne
restierende Symptome konnten gewöhn¬
lich mit anschließenden systematischen
Übungen und Wachsuggestion bald ganz
zum Verschwinden gebracht werden. Es
war aber durchaus nicht immer die Er¬
reichung des somnambulen Grads der
Hypnose erforderlich; oft reichte eine
Somnolenz aus, in der die Kranken unter
Aufbietung ihrer Energie noch Befehlen
Gegenwart 1917. '321
widerstehen konnten. — An die Psycho¬
therapie wurde dann nach kurzer Ruhe¬
zeit Beschäftigung in der Gärtnerei oder
in den Handwerkstätten des Feldlazaretts,
je nach dem Berufe des Kranken, an¬
geschlossen.
Natürlich blieben Fehlschläge nicht
aus; so war z. B. bei einem Soldaten mit
-andauerndem Kopfnicken nicht die ge¬
ringste Beeinflussung möglich, obwohl
er leicht in tiefste Hypnose mit voll¬
kommener Katalepsie und Analgesie zu
bringen war. Ob die suggestive Behand¬
lung versagte öder doch eine organische
Ätiologie diesen Halsmuskelkrämpfen zu¬
grunde lag, konnte ich nicht entscheiden.
Auch der faradische Strom in Form
einer eindrucksvollen Suggestion hat mir
vielfach vortreffliche Dienste geleistet.
Mit der Kaufmannschen Methode,
die bekanntlich in der Benutzung von
kräftigen Induktionsströmen zusammen
mit autoritativer Wachsuggestion be¬
steht, habe ich besonders Erfolge bei
funktionellen Sprach- und Gehörsstörun¬
gen, bei Lähmungen und Dysbasien ge¬
habt. Dagegen habe ich damit die ver¬
schiedenen Formen des Zitterns und
Schütteins weniger günstig , als mit der
Hypnose, oft gar nicht beeinflussen kön¬
nen. Sie verdient bei diesen Erkrankun¬
gen aber auch dann versucht zu werden,
wenn es nicht gelingt, die Patienten in
hypnotischen Schlaf zu bringen. Zur Er¬
läuterung möge folgender Krankenge¬
schichtenauszug dienen:
5. Fall. Schlitze H., 20 Jahre alter Arbeiter.
Seit einem Jahre Soldat, neun Monat an der
Front; nie krank gewesen, einmal durch Gewehr¬
geschoß im Rücken leicht verwundet. Nach Ex¬
plosion einer schweren Mine in seiner Nähe, die
ihn ein Stück fortschleuderte, trat ein Verwirrt¬
heitszustand mit Sprachverlust auf; er' wollte
die feindlichen Maschinengewehrkugeln mit der
Hand auffangen (Angaben des Truppenarztes).
Bei der Einlieferung bietet er das Bild eines
leichten Stupors, spricht gar nicht, kann auch
die Lippen nicht bewegen. Wie aus schriftlichen
Äußerungen einige Stunden später hervorgeht,
ist er geordnet und orientiert, doch besteht
Bewußseinsverlust für das Trauma und die
direkt anschließenden Stunden. Conjunctival-,
Corneal-, Gaumen- und Rachenreflex negativ.
Zunge zittert beim Vorstrecken, ist analgetisch,
während Berührungs- und Wärmeempfindungen
richtig angegeben werden. Beim Phonations¬
versuche versagen die Adductoren vollkommen.
Hypnotischer Schlaf nicht zu erzielen. Nach
vierzig Minuten langer Faradisation mit kräftigen
Strömen gelingt es, H., der vor Schmerzen immer
aus dem Bett fortdrängt, zum Sprechen zu bringen:
zunächst Flüsterlaute mit gewissermaßen aprak-
tischen Bewegungen der Lippen, dann aphonisches
Stammeln von Worten; schließlich wird eine
kräftige Stimme erzielt mit geringem Stottern, das
41
322! Die Therapie der
im Laufe einiger Tage mit Sprachübungen unter
gleichzeitiger Anwendung von schwachen fara-
dischen Strömen beseitigt wird. Auch die Anal¬
gesie der Zunge ist verschwunden. Große Freude
über die Schnellheilung. Psyche wieder ganz frei.
Noch zwei Wochen Beschäftigung im Feld¬
lazarett und drei Wochen bei einer Wachkompagnie.
Dann kehrt er wieder zur Truppe zurück, macht
als Maschinengewehrschütze einige Patrouillen¬
unternehmungen mit, erträgt wiederholtes Trom¬
melfeuer, erkrankt nach einigen Monaten an aku¬
tem Gelenk rheumatismus.
Auch-hier sehen wir, daß ein früher
verwundeter, damals aber frei von ner¬
vösen Störungen gebliebener Soldat später
im Anschluß an eine starke Erschütte¬
rung eine vorübergehende Bewußtseins¬
trübung erleidet und mutistisch wird. Die
Beseitigung der Sprachstörung bedingt
gleichzeitig eine Umstimmung der Psyche.
Hervorzuheben ist noch, daß neben der
Analgesie der Zunge das Unvermögen
besteht, die Lippen in die für die Laut¬
bildung nötigen Hilfsstellungen zu brin¬
gen. Nachdem Lippen- und Zungen¬
muskulatur ihre Gebrauchsfähigkeit wie¬
dergewonnen haben, gelingt es auch, die
Glottis zum Schließen zu bringen. Die
noch vorhandenen spastischen Sym¬
ptome lassen sich ebenfalls bald be¬
seitigen.
Ich habe funktionelle Aphonien, vom
.einfachen Stottern bis zum vollkomme¬
nen Stimmverlust, in Behandlung gehabt,
in mehreren Fällen ein Stimmbänder¬
flattern, einige Male auch nystagmusartige
Zuckungen ähnlich denen bei der multi¬
plen Sklerose und der Bulbärparalyse ge¬
sehen, die alle mit äußerer Anwendung
des elektrischen Stroms geheilt und
prognostisch günstig verlaufen sind. Bei
den schweren . psychogenen Stimmband¬
spasmen habe ich am schnellsten das Ziel
erreicht, wenn ich mit Übungen von Vo¬
kalen in möglichst tiefer Stimmlage be¬
gonnen habe, da derartige Aphoniker
dazu neigen, mit hoher, überschnappender
Stimme zu sprechen. Ist erst einmal ein
Vokal richtig heraus, dann ist gewöhnlich
der Bann gebrochen. Bei Taubstummen
muß natürlich eine schriftliche Verständi¬
gung vorhergehen; doch hat sich mir bei
derartigen Kranken der noch zu bespre¬
chende Chloräthylrausch besser bewährt
als der elektrische Strom.
Infolge der gewaltigen Explosions¬
wirkungen der modernen Geschosse kann
es natürlich nicht wundernehmen, daß
häufig organische Veränderungen des
Ohres oder Gehirns den Hörstörungen
zugrunde liegen können. Gar nicht selten
sind diese aber auch funktionelle Über¬
Gegenwärt 1917. ‘ : September
lagerungerL von Commotionsneurosen.
Enges Zusammenarbeiten zwischen Neuro¬
logen und Otologen halte'ich für die Er¬
kennung und Behandlung dieser Fälle
von großem Werte.
Unangenehm bei der Kaufmanla¬
schen Methode ist ihre Schmerzhaftigkeit;
wenn man nicht dem der Elektrode ent¬
weichenden Patienten dauernd nachwan¬
dern will, bleibt weiter nichts übrig, als
ihn durch Wärter festhalten zu lassen.
Aber es ist durchaus nicht immer not¬
wendig, seine Zuflucht zum schmerzberei¬
tenden Strome zu nehmen. Eine Reihe von
funktionellen Bewegungsstörungen habe
ich auch durch eine Kombination von
schwachen faradischen Strömen
mit verbaler Wachsuggestion und
Übungsbehandlung, am besten mit
Zwangsexerzieren, von ihren Symptomen
befreien können. Ich möchte hier dafür
nur einen Fall zitieren mit einem Krank¬
heitsbilde, das kürzlich den Orthopäden
Schanz zu der Behauptung geführt hat,
das Schütteln und Zittern fast aller
Kriegsneurotiker beruhe auf einer die
Reflexstörung bedingenden Wirbelsäulen¬
insuffizienz, habe also eine organische
somatische Ursache und sei mit Stütz¬
korsetts oder ähnlichen großen Rumpf¬
gipsverbänden Monate, selbst Jahre hin¬
durch zu behandeln.
6 . Fall. Landwehrmann Th., 33 Jahre alter
Steinmetz.
Bei anstrengender und aufregender Schanz¬
arbeit im Feuerbereiche traten Schmerzen und
Steifigkeit im Kreuz und allen Gliedern, außerdem
Zittern auf. Vierwöchige Behandlung auf einer
internen Abteilung brachte keinen Erfolg.
Mittelgroßer, kräftig gebauter Mann mit lei¬
dendem, neurasthenischen Gesichtsausdruck. Hirn¬
nerven und Organe der Brust- und Bauchhöhle
ohne Befund. Aufsitzen geht auch mit Zuhilfe¬
nahme der Hände sehr schwierig, dabei theatrali-
lisches Gebahren; er will nicht aufrecht sitzen
können. Beim Stehen wird der Rumpf stark nach
vorn übergebeugt gehalten. Gang langsam und
steif; Th. sucht sich am Bette festzuhalten. Beim
Versuch, ihn gerade aufzurichten, schreit er.
n Grobschlägiges dauerndes Schütteln der Glied-
N maßen, Zittern der Rumpfmuskulatur, besonders
starke klonische Zuckungen der Glutäalmuskula-
tur bei Bewegungen. Lendenmuskulatur hart ge¬
spannt. Klopfempfindlichkeit der Wirbelsäule
vom fünften Brustwirbel an, nach unten zuneh¬
mend. Mechanische Erregbarkeit der Muskeln
und kleinen Hautgefäße gesteigert. Kein Anhalts¬
punkt für eine organische Erkrankung, auch
Röntgenbilder der Wirbelsäule ohne Besonder¬
heiten.
Es werden täglich Übungen mit Zuhilfenahme
des elektrischen Stromes, Massage und verbaler
Beeinflussung durchgeführt. Am längsten hielten
sich die Giutäalcrampi. Häufig zweifellos Aggra¬
vation. Nach sechswöchiger Behandlung sym¬
ptomfrei. 14 Tage lang Arbeitstherapie. Dann
September
Die Therapie der Gegenwart 1917.
323
als a. v. im Heimat^ oder Etappengebiete dem
Ersatztruppenteil überwiesen.
Es handelte sich auch in diesem Fall
um pseudospast'ische Schüttelläh¬
mungen mit Hypertonie der langen
Rückenmuskeln undZittererschei-
nungen, aber besonders starken Kloni
in der Gesäßmuskulatur. Das ganze
Krankheitsbild bot von vornherein viele
hysterische Züge, obwohl der Patient ein
kräftiger Mann ohne eigentliche hyste¬
rische Stigmata oder Degeneratioris-
zeichen war. Er setzte der suggestiven
Behandlung starke innere Widerstände
entgegen, erklärte sich mit der Anwen¬
dung von Hypnose und des Chloräthyl¬
rausches nicht einverstanden, würde aber
doch innerhalb von sechs Wochen von
seinen Symptomen befreit und konnte im
Lazarett ohne wesentliche Beschwerden
die verschiedensten Arbeiten verrichten.
Mit Hypnose wäre dieses Ziel wohl noch
wesentlich schneller zu erreichen gewesen.
Die von Schanz bei diesen Krankheits¬
bildern — auf , die Besprechung der
eigentlichen, Insufficientia vertebrae soll
hier nicht eingegangen werden — mit
umständlichen teuren Bandagen erzielten
Erfolge müssen sicher zum größten Teil
auf Suggestion zurückgeführt werden.
Das Leiden ist ein psychogenes und nicht
entsprechende Behandlung wird nur zu
langer Dienstentziehung und zu hohen
Rentenansprüchen führen.
Wie ich schon erwähnt habe, ist es
bei der Kauf man n sehen Methode un¬
angenehm, daß der Patient nicht an Ort
und Stelle zu bleiben pflegt. Um aber
Schnellheilungen zu erzielen, ist die
Schmerzbereitung nicht zu vermeiden.
Zur Beseitigung dieses Übelstandes bin
ich dazu übergegangen, den Kranken zu¬
nächst anzuhypnotisieren und dann erst
den elektrischen Strom zu Hilfe zu neh¬
men. Diese Kombination von Hyp¬
nose und starker Faradisation hat
sich mir als recht geeignet zur Beseitigung
funktioneller Bewegungsstörungen bei
sehr empfindlichen Personen erwiesen,
z. B. bei folgendem Patienten:
7. Fall. Musketier K-, 22 Jahre alter
Fleischer.
Im Alter von acht Jahren bekam er nach
schwerer Feldarbeit einen Anfall mit länger
dauernder Bewußtseinstrübung; es traten in Ab¬
ständen von ungefähr einem Monate noch mehrere
Anfälle auf. Schulbildung trotzdem gut. Dann
hatte er bei der militärischen Ausbildung erst
wieder einen kurz dauernden Anfall von Bewußt¬
losigkeit. Später das Frontleben ohne Störungen
ertragen. Nach sehr anstrengendem Exerzier¬
dienste bekam er wieder einen Anfall; nach dem
j Erwachen konnte er den rechten Arm nicht mehr
bewegen.
Mittelgroßer, kräftig und gedrungen gebauter
Mann in gutem Ernährungszustände. Gaumen-
und Rachenreflex negativ. Der rechte M. pecto-
ralis major fehlt bis auf das obere Drittel; auch die
Haarbildung auf der rechten Brust ist ausgeblie¬
ben. Der rechte Arm wird ganz steif gehalten; die
Hand ist leicht ödematös geschwollen und blau
gefärbt. Der Arm kann nur langsam erhoben wer¬
den; sonst in den Arm- und Handgelenken aktive
Beweglichkeit aufgehoben, passive stark einge¬
schränkt. Knochenhautreflex am rechten Vorder¬
arme negativ. Hautempfindung am rechten Arme
mit Ausnahme der Hand aufgehoben.
In Hypnose lassen sich die Spasmen beseitigen,
aber zunächst nur geringe ajktive Bewegungen er¬
möglichen. Mit Zuhilfenahme der Faradisation —
auch bei sehr starken Strömen bleibt K- auf Be¬
fehl ruhig liegen — wird die aktive Beweglichkeit
vollkommen wieder hergestellt. Dauer der Sitzung
30 Minuten. Nach dem Erwachen bleibt die Be¬
weglichkeit frei; nur die grobe Kraft ist herab¬
gesetzt. Während der nächsten Woche täglich
Vornahme von Übungen,. Massage und leichter
Faradisation. Die grobe Kraft bessert sich all¬
mählich; die trophischen Störungen an der Hand
verschwinderi. Dann einen Monat Arbeitstherapie.
Als g. v. (möglichst Berufsbeschäftigung) ent¬
lassen.
Bei diesem Patienten war also im An¬
schluß an anstrengenden Dienst ein
Bewußtseinsverlust mit nachfolgender
pseudospastischer Armlähmung und öde-
matöser Schwellung der Hand aufgetreten,
nachdem schon in früher Jugend nach
schwerer Feldarbeit sich vorübergehend
Anfälle gezeigt hatten. Neben einigen
- hysterischen Stigmata fanden sich als
Zeichen einer mangelhaften Anlage Mus¬
keldefekt und Ausbleiben der Haarbildung
an der rechten Brustseite.
Der Kranke wurde durch Suggestion
gewissermaßen ans Bett gefesselt, und
dann wurden durch kräftige faradische
Ströme die Bewegungsstörungen schnell
beseitigt. Das Verfahren gestaltet sich so
wesentlich angenehmer, als wenn der
Kranke infolge des Schmerzes dauernd
fortdrängt. Ich habe auf diese Weise eine
ganze Reihe von funktionellen Lähmun¬
gen in ein oder zwei Sitzungen beheben
können. Die noch bestehende Schwäche
in den betroffenen Gliedmaßen ließ sich
gewöhnlich durch Übungen, Massage und
Beschäftigung auch bald bessern.
Schließlich möchte ich noch eine Me¬
thode anführen, die sich mir in Friedens¬
zeiten bei hysterischen Lähmungen schon
gut bewährt hat. Auf ihre Vorzüge bei
der Behandlung von Kriegsneurosen ist
zuerst von Roth mann besonders auf¬
merksam gemacht worden. Das Verfahren
besteht in einer kurzen Narkose in Form
einer Betäubung mit Äther oder
Chloräthyl, einer Methode, die an und
41 *
324
Die Therapie der Gegenwart 1917.
September
für sich schon durch die psychische Er¬
schütterung eine starke* suggestive Kraft
haben kann. Um diese noch zu steigern,
empfiehlt es sich, zu der Notlüge zu greifen,
es müsse ein kurzdauernder, aber schmerz¬
hafter Eingriff zur Erzielung der Heilung
vorgenommen werden.. Ich habe gewöhn¬
lich Chloräthyl benutzt, das sich bequem
aus den im Handel befindlichen Patent¬
flaschen auf ein Stückchen vor die Nasen¬
öffnungen gelegten Mulls tropfen läßt.
Innerhalb einiger weniger Minuten ist
tiefe Betäubung zu erzielen. Das Stadium
des langsamen Erwachens eignet sich
dann vorzüglich zur suggestiven Beein¬
flussung und Beseitigung der Lähmungen
durch Übungen. In ätiologisch zweifel¬
haften Fällen hat diese Methode auch dif¬
ferentialdiagnostische Bedeutung. Zur
Erläuterung diene folgender Krankenge¬
schichtenauszug:
8. Fall. Obergefreiter T., Fußartillerist, 20jäh-
riger Landwirt.
Während der Ausbildung im Januar 1915
Lungenentzündung. Danach war er über ein Jahr
an der Front. Durch Explosion einer Granate in
seiner Nähe sei er zur Seite geschleudert worden,
habe einen Moment das Bewußtsein verloren, dann
beim Erwachen den Sanitätsgefreiten tot neben
sich liegen sehen. Der Schreck sei ihm so stark in
die Glieder gefahren, daß er sich nicht habe er¬
heben können. Seitdem Lähmung der Beine.
Großer, hagerer Mann. Conjunctivalreflexe
negativ, Cornealreflexe herabgesetzt. Gaumen-
und Rachenreflexe fehlen vollkommen. Starkes
Zittern der Zunge beim Vorstrecken. Dermo-
graphie +. Die Beine sind ganz steif; das rechte
kann im Knie-, Sprung- und Fußgelenk gar nicht
bewegt werden, das linke nur wenig im Kniegelenk.
Passiven Bewegungen werden starke Widerstände
entgegengesetzt. Die Sehnen der angespannten
Muskeln springen deutlich vor. Reflexe normal.
Schmerzempfindung von der Mitte der Ober¬
schenkel bis zu den Zehen stark vermindert. Beim
Gehen mit Unterstützung schiebt er die weit von¬
einander stehenden Beine nur mit flacher Fu߬
sohle vor*.
Im Chloräthylrausche mit anschließender ver¬
baler Suggestion werden die Spannungen voll¬
kommen "beseitigt und normale Bewegungsfähig¬
keit erzielt. Nach dem Erwachen sind die aktiven
Bewegungen noch verlangsamt, angeblich schmerz¬
haft; der Gang ist etwas unbeholfen.. Nach zwei¬
wöchiger weiterer Behandlung mit Übungen und
Massage ist T. beschwerdefrei, wird zunächst als
a. v. in die väterliche Landwirtschaft entlassen
(nach drei Monaten wieder k. v.).
Dieser Kranke teilt also von selbst
dem Schreck beim Erwachen in ätiologi¬
scher Beziehung die Hauptrolle zu, nach¬
dem er von einer Granatexplosion zur,
Seite geschleudert worden ist und für
kurze Zeit das Bewußtsein verloren hat.
Auch hier sieht man, wie meistens bei den
pseudospastischen Lähmungen, die Seh¬
nen der angespannten Muskeln deutlich
vorspringen. Die Astasie und Abasie sind
typisch funktionell und das Fehlen der
Schleimhautreflexe, sowie die manschet¬
tenförmigen Sensibilitätsstörungen lassen
die Auffassung des Krankheitsbildes als
ein. „hysterisches“ gerechtfertigt erschei¬
nen. Dafür spricht auch der therapeu¬
tische Erfolg, der im wesentlichen in einer
Sitzung hat erzielt werden können.
Mit der Anwendung des Chloräthyl¬
oder Ätherrausches hatte ich besonders
Erfolg bei derartigen mit Spasmen oder
Contracturen einhergehenden Lähmun¬
gen, sei es, daß sie im Feuerbereiche durch
affektbetonte Ereignisse und psychische
Erschütterungen oder im . Lazarett nach
Ruhigstellung der Gliedmaßen bei Ver¬
wundungen und Erkrankungen reflek¬
torisch aufgetreten waren. Auch diese
letzteren Fälle scheinen c sich jetzt im
Kriege häufiger zu entwickeln als in Frie¬
denszeiten bei Männern, die keine eigent¬
liche hysterische Veranlagung aufweisen,
oft schon lange im Felde gestanden haben
und verwundet gewesen sind, ohne daß
früher funktionelle Erscheinungen sich
gezeigt haben. So war z. B. bei einem
30jährigen Landwirte, der wegen einer
Zellgewebsentzündung der Hand fünf
Tage lang einen Schienenverband ge¬
tragen hatte, eine Contractur im Ellbogen¬
gelenk in Supinationsstellung mit Läh¬
mung der Hand und Sensibilitätsstörun¬
gen aufgetreten. Bei einem anderen
Manne hatte sich nach Ruhigstellung des
rechten Beines wegen einer Periostitis
tibiae eine Contractur der Sprung- und
Fußgelenke mit deutlichem Hervorsprin¬
gen der Sehnen auf dem Fußrücken und
anschließend daran eine Atrophie der
Unterschenkelmuskulatur entwickelt.
Auch in diesen Fällen bewährte sich
der Chloräthylrausch gut; doch war ein-
oder zweimalige Wiederholung erforder¬
lich. Der Wunsch, der Gefahr entrückt
zu bleiben, schien infolge der Annehmlich¬
keiten und der Ruhe im Lazarett sich bei
diesen Patienten, wenn auch nur im Un¬
terbewußtsein, fester verankert zu haben
als bei den akut im Feuer entstandenen
Formen.
Weiterhin scheint mir die Anwendung
des Rausches bei der häufig vorkommen¬
den psychogenen Taubheit recht geeignet,
bei welcher Hypnose und Elektrizität
wegen der erschwerten Verständigung
schlecht zu gebrauchen sind. Beseitigung
der Symptome ist gewöhnlich mit einer
Sitzung zu erzielen. Die Methode hat vor
den' anderen zweifellos den Vorteil, daß
sie, wie auch Roth mann sagt, die ge-
September
Die Therapie der Gegenwart 1917.
325
ringsten Anforderungen an den Arzt stellt,
während gerade die Hypnose sehr an¬
strengend und ermüdend ist.
Derartige Schnellheilungen
schwerer Motilitätsstörungen in¬
nerhalb weniger Tage nach ihrer
Entstehung müssen doch wohl den
Schluß rechtfertigen können, daß
es sich um psychogene Krankheits¬
bilder dabei handelt. Gelegentlich
habe ich selbst kaum gewagt, die organi¬
sche Grundlage auszuschließen, z. B. bei
einigen akut entstandenen halbseitigen
Lähmungen ohne Zittererscjjieinungen, bis
dann der Erfolg der Therapie das Wesen
der Erkrankung geklärt hat. Anderer¬
seits ist man oft überrascht, bei Röntgen¬
aufnahmen große Schädelknochenbrüche
ohne wesentliche Symptome einer orga¬
nischen Erkrankung zu finden. Bei den
eigentlichen Com motionsneu rosen, die,
wie ich schon eingangs erwähnt habe, zu
den organischen Nervenleiden zu rechnen
sind, haben die suggestiven Methoden
natürlich keinen Erfolg, sondern können
höchstens verschlechternd wirken; für sie
ist wochenlange Bettruhe dringendes Be¬
dürfnis.
Aber ich habe nun durchaus nicht bei
allen funktionellen Bewegungsstörungen
diese eingreifenderen Methoden zur An¬
wendung bringen müssen, sondern in einem
großen Teil der Fälle haben Liegekur
und Wachsuggestion, im Verein mit
lauen Bädern und_ Nervina sowie mit
systematischen Übungen zur Beseiti¬
gung der Symptome genügt. Insbesondere
konnten so einfache Tics, Zuckungen in
einzelnen Muskelgruppen, leichtere For¬
men des Zitterns und Schütteins, auch
akut entstandenes Stottern im Verlaufe
von einigen Wochen beseitigt werden.
Für diese relativ schnelle und sichere
Ansprechbarkeit der Kranken auf die
Therapie kommt in erster Linie wohl in
Betracht, daß sie bald nach dem Auf¬
treten der Störungen in entsprechende
Behandlung gelangt sind. Dann spielt
aber auch sicher das Milieu, der Aufenthalt
neben geheilten oder in Genesung befind¬
lichen Kameraden, eine nicht unbedeu¬
tende Rolle. Von großem Wert ist auch
das Zusammenleben mit Leuten, die von
der Froiyt kommen, bei welchen der
,, Kriegstonus“ noch besteht im Gegen¬
satz zu dem friedlichen Leben in der
Heimat. Wenn man glaubt, mit den ein¬
fachen Methoden, wie mit Ruhe und Wach¬
suggestion, nicht bald zum Ziele zu kom¬
men, dann wird es sich meistens emp-
r
fehlen, schnell und energisch in das psy¬
chophysische Getriebe des Kranken ein¬
zugreifen. Nur so kann vermieden wer¬
den, daß er sich im Verharren seiner Sym¬
ptome gewissermaßen übt, sowie sie im
Verhältnis zur Zeit und der Entfernung'
von der Front immer fester verankert.
Welche Behandlungsart zu wählen ist,
hängt von der kranken Persönlichkeit und
den Neigungen des Arztes ab. Nicht jede
Methode eignet sich für jeden Neurotiker;
der eine reagiert mehr auf Hypnose, der
andere auf den elektrischen Strom, der
dritte auf den Rausch. Die besten Er¬
folge wird natürlich der Arzt erzielen, der
sie alle beherrscht, individualisierend die
richtige auszuwählen versucht und ziel¬
bewußt auf Gefühle und Vorstellungen
des Kranken einwirkt.
Sobald mit der suggestiven The¬
rapie die groben funktionellen Stö¬
rungen behoben sind,, werden am
besten Übungen und Beschäftigung
mit Werte schaffender Arbeit im
Rahmen der militärischen Disziplin
angeschlossen, sei es in landwirt¬
schaftlichen Betrieben oder Werk¬
stätten, die den Lazaretten des
Kriegsgebiets angegliedert sind,
oder in Wacht- und Wirtschafts¬
kompagnien. Diese Betätigung lenkt
die Gedanken vom Leiden ab und
hebt das Selbstvertrauen. Das Endziel
alles ärztlichen Handelns wird darin be¬
stehen, in dem Kranken den Willen zur
Genesung und zum Gesundbleiben zu er¬
wecken und zu kräftigen. Nur so dürfte
es sich erreichen lassen, die Wieder¬
ertüchtigung der Neurotiker in psychi¬
scher, physischer und damit in sozialer
Hinsicht zu ermöglichen.
Streife ich zum Schlüsse noch kurz die
Frage der Dienstfähigkeit, so möchte
ich aus meinen Erfahrungen folgern, daß
durchaus nicht alle Neurotiker fernerhin
vom Dienst an der Front auszuschließen
sind. Während sich konstitutionelle Neur-
astheniker,und Psychopathen, selbstwenn
diese zeitweise einen besonderen Schneid
entwickeln können, im allgemeinen nicht
für die Verwendung bei der kämpfenden
Truppe eignen, habe ich über ein Drittel
der von ihren Bewegungsstörungen be¬
freiten Neurotiker wieder als kriegs¬
verwendungsfähig entlassen. Soweit
ich von ihnen selbst oder ihren Truppen¬
ärzten habe in Erfahrung bringen können,
hat sich der größte Teil gut bewährt und
sich vielfach auch den stärksten Anforde¬
rungen gewachsen gezeigt. Ist nach kür-
326
Die Therapie der Gegenwart 1917.
September
zerer oder längerer Zeit gelegentlich ein
Rezidiv aufgetreten, so hat dies in der
Regel ebenso prompt wie die erste Er¬
krankung beseitigt werden können. Ist
aber Neigung zu Rezidiven festgestellt
worden, dann sollte man solche Leute nicht
wieder in die Kampflinie schicken, um ein
unnützes Hin- und Herpendeln zwischen
Lazarett und Front zu vermeiden.
Nach meinen Beobachtungen können
besonders die .monosymptomatischen Er¬
krankungen mit einfachen Lähmungen,
mit Mutismus und Taubheit wieder als
kriegsverwendungsfähig bezeichnet wer¬
den, während bei den übrigen Formen,
hauptsächlich bei deh Schüttlern und
Zitterern, die Entscheidung der Dienst¬
fähigkeitsfrage in engerem Zusammen¬
hänge mit der hysterischen oder psycho¬
pathischen Veranlagung steht. Ist diese
nachweisbar, dann sollten allerdings diese
Kranken immer zu ihrem Berufe zurück¬
geschickt oder zum Dienst in der Heimat
und in der Etappe herangezogen werden.
Aus der Friedriclistadt-Kliiiik für Lungenkranke in Berlin.
Zur Behandlung der tuberkulösen Diarrhöen.
Von Oberarzt Dr. M. Gutstein, stellvertr. leit. Arzt.
Bekanntlich stellt das Auftreten von
Darmerscheinungen in Form von längere
oder kürzere Zeit anhaltenden diarfhoi-
schen Stühlen eine der häufigsten Kom¬
plikationen der Lungentuberkulose dar.
Diese Darmerscheinungen brauchen, selbst
in manchen Fällen von vorgeschrittener
Lungentuberkulose, nicht immer einer
ausgedehnten tuberkulösen Affektion des
Intestinums ihre Entstehung zu ver¬
danken. Vielmehr können sie auch in den
ersten Stadien der Lungenerkrankung
durch eine frühzeitige, wenig ausgedehnte
ulceröse Erkrankung einzelner Darm¬
abschnitte. bedingt sein, oder sogar, wie
die initialen Magensymptome der be¬
ginnenden und latenten Lungentuber¬
kulose, rein funktioneller Natur sein.
Es leuchtet ohne weiteres ein, daß eine
geordnete Magendarmtätigkeit die Vor¬
bedingung jeder physikalisch-diätetischen
Therapie bildet, die ja allgemein als der
wichtigste Heilfaktor der Lungentuber¬
kulose gilt. Deshalb muß die rasche und
restlose Beseitigung etwaiger Dormkom-
plikationen, welche die vollständige Aus¬
nutzung der zugeführten Nahrung be¬
deutend beeinträchtigen, die größte Auf¬
merksamkeit des Arztes beanspruchen.
Die Bekämpfung der durch stark be¬
schleunigte Peristaltik bedingten Darm¬
erscheinungen ist in den Fällen, wo nur
funktionelle Störungen ohne gröbere or¬
ganische Veränderung vorliegen, eine ver¬
hältnismäßig unschwere Aufgabe. Hier
gelingt es meist, durch Verabreichung
einer geeigneten reizlosen und schlacken¬
armen Diät einen dauernden Erfolg zu er¬
zielen. Oft kann man in solchen Fällen von
einem der gebräuchlichsten Tanninpräpa¬
rate einen vorteilhaften Gebrauch machen.
Viel schwieriger aber ist es, die auf.
gröberen anatomischen Läsionen — ul¬
cerösen Prozessen des unteren Dünn- und
oberen Dickdarms — beruhenden hef¬
tigen Diarrhöen bei Lungentuberkulosen
zu bekämpfen. Besonders sind die chro¬
nischen Diarrhöen bei vorgeschrittenen
Phthisen wegen ihrer großen Hartnäckig¬
keit sehr bekannt und gefürchtet. Die
gewöhnlichen Antidiarrhoica der Wismut-
und Tanningruppe sind hier meist ohne
nennenswerten Erfolg. Auch die viel stär¬
ker wirkenden Opiate versagen in einem
beträchtlichen Teil der Fälle; sie be¬
sitzen außerdem den Nachteil, daß ihre
Wirkung, auch wenn sie zuerst eingetreten
ist, allmählich infolge Gewöhnung des
Organismus ausbleibt; und ferner, daß sie,
besonders wegen der großen Dosen, die
hartnäckige phthisische Diarrhöen not¬
wendig machen, die Herzkraft schwächen.
Es kommt noch hinzu, daß man unter den
jetzigen ungünstigen Kriegsverhältnissen
bei der Verordnung einer sachgemäßen
antidiarrhoischen Diät auf große Schwie¬
rigkeiten stößt: Die beschränkten Mengen
und die geringe Auswahl der zur Ver¬
fügung stehenden Nahrungsmittel zwin¬
gen den Arzt, eine wenig abwechslungs¬
reiche Diät zu verabreichen, sodaß die
Kranken bei dem chronischen Verlauf
des Leidens nach kurzer Zeit die eintönige
Kost zurückweisen.
Da ich in der Friedrichstadtklinik stets
eine ziemlich große Zahl von schweren
Phthisen mit Komplikationen seitens des
Darmes zu behandeln habe, so bin ich
schon seit langer Zeit auf der Suche nach
einem neuen, zuverlässigen, auch für
schwere Fälle geeigneten Antidiarrhoicum.
Die bisherigen im Gebrauche befindlichen
Präparate der Gerbsäure- und der Wis¬
mutgruppe und die Opiate haben mich nur
wenig befriedigt. Auch ein in letzter Zeit
gerade für diese Art von Diarrhöen be-
\ '■
September Die Therapie der Gegenwart 1917. 327
sonders empfohlenes Präparat, das Tan- ganz besonders erfolgversprechend, erstens
nargentan (eine Silber-Tannin-Eiweiß- weil bereits das Etelen für sich allein nach
Verbindung) hat sich als wenig wirksam
erwiesen. Ich habe daher seit über einem
halben Jahre mit einem von den Friedr.
Bayerschen Farbenfabriken hergestellten
Präparate, dem Combelen, Versuche in
größerem Maßstabe angestellt.
Das Combelen stellt eine Mischung
zweier in bezug auf ihren Wirkungs¬
mechanismus völlig verschiedener Sub¬
stanzen dar. Es besteht zu gleichen Teilen
aus Etelen und Resaldol, also zwei be¬
reits als Antidiarrhoica angewandten Mit¬
teln. Das Etelen gehört zu der den Magen
unverändert passierenden und erst im
Darme durch hydrolytische Spaltung
wirksam werdenden Gerbsäureester¬
gruppe, es ist ein Triacetylgallussäure-
äthylester:
CO0 C 2 H 5
/\
CHOCOI |OCOCH 3
\/
COCH 3
und ist von Loewenthal im Nürnberger
Krankenhaus (1) mit gutem Erfolg
als Antidiarrhoicum besonders gegen
Dysenterie angewandt worden. Nach
Tierexperimenten von D res er (2) ist das
Etelen in seiner Wirkungsweise dem che¬
misch nahe, verwandten Tannigen (Gal-
lussäureacetylester) überlegen.
Die zweite wirksame Komponente des
Combelen, das Resaldol, ist eine dem
Cotoin, dem wirksamen Prinzip der be¬
sonders in Italien seit langer Zeit als Anti¬
diarrhoicum benutzten Cotorinde nahe¬
stehende synthetische Verbindung. Das
Resaldol ist Resorcinbenzoylcarbonsäure-
äthylester:
OH
Nach den experimentellen Untersuchungen
von Impens (3) beruht die Wirksamkeit
des Cotoins und des Resaldol auf einer
Herabsetzung des Tonus und Verminde¬
rung der peristaltischen Bewegungen der
Darmmuskulatur. Klinisch ist die anti-
diarrhoische Wirkung des Resaldol von
Weil (4) genauer geprüft worden.
Die Kombination dieser beiden Prä¬
parate schien für den vorliegenden Zweck
Seiffert (5) auch bei tuberkulösen Diar¬
rhöen eine bessere Wirkung als die an¬
deren Adstringentien der Gerbsäurederi¬
vate entfaltet, und zweitens, weil die
Kombination eines adstringierend wir¬
kenden Gallussäurepräparats mit dem
dem Opium ähnlich wirkenden Resaldol
eine Potenzierung des antidiarrhoischen
Effekts erwarten ließ. Außerdem er¬
scheint gerade für die Bekämpfung der
Diarrhöen der Phthisiker ein die peristalti¬
schen Bewegungen des Darmes herab¬
setzendes Mittel von sehr großer Wichtig¬
keit, weil bei der tuberkulösen Diarrhöe
die gesteigerte Peristaltik — infolge Rei¬
zung der auf der ulcerierten Schleimhaut
freiliegenden Nervenendigungen durch die
Ingesta — der wichtigste ursächliche
Faktor für das Zustandekommen der
pathologischen Darmsymptome darstellt.
Ich habe das Combelen, das von den
Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer &Co.
in’ Leverkusen in Tablettenform zu 0,5 g
in den Handel gebracht wird, in einer
größeren Zahl von tuberkulösen Diarrhöen
angewandt. Zugleich habe ich dieses Prä¬
parat auch bei gewöhnlichen Enteritiden
ausprobiert. In letzteren Fällen gelingt
es unschwer, durch Combelen einen völli¬
gen Erfolg zu erzielen: Nach voraus¬
geschickter Reinigung des Darmes durch
ein kräftiges Laxans ließ ich täglich
dreimal zwei Tabletten nehmen. Gewöhn¬
lich wurden schon nach ein bis zwei Tagen
völlig normale Stühle erzielt.
Doch sind gerade die akuten Enteri¬
tiden wenig geeignet, die größere Wirk¬
samkeit eines neuen Antidiarrhoicums
gegenüber anderen gleichwirkenden Prä¬
paraten zu demonstrieren. Bekanntlich
gelingt es oft, auch ohne Anwendung eines
besonderen Stopfmittels, durch die Ver¬
abreichung einer entsprechenden Diät,
wie sie bei solchen Enteritiden in der
Regel verordnet wird, die pathologischen
Erscheinungen rasch zum Verschwinden
zu bringen. Außerdem«kann man ja hier
durch andere Präparate, z. B. Tannalbin,
Tannismut, Tannigen usw., einen gleich
schnellen Effekt erzielen.
Viel beweisender für die größere Wirk¬
samkeit des kombinierten neuen Anti¬
diarrhoicums sind Erfolge bei subakuten
und chronischen Enteritiden, die durch
andere Präparate nur schwer beeinflußt
werden. Nach meinen Erfahrungen, die
sich mit den von Lange ( 6 ) vor kurzem
veröffentlichten decken, kann man bei
328
Die Therapie der Gegenwart 1917.
.September
gleicher Dosierung (6 Tabletten pro die)
in kurzer Zeit annährend normale Stühle
herbeiführen.
Die ausgedehntesten Versuche haBe
ich mit diesem Präparat bei tuberku¬
lösen Diarrhöen angestellt. Meine Beob¬
achtungen erstrecken sich auf über
30 Fälle. Bei dem größeren Teil dieser Fälle
handelte es sich um schwere, ausgedehnte,
meist cavernöse Lungenprozesse, oft
mit Larynxtuberkulose vergesellschaftet,
sodaß man das Vorliegen tuberkulöser
Ulcera des Darmes als ziemlich wahr¬
scheinlich annehmen konnte. Der kleinere
Teil meiner Beobachtungen umfaßt eine
Anzahl, leichter Lungenerkrankungen,
deren chronische Diarrhöen sicherlich
nicht durch eine gleichzeitige tuberkulöse,
sondern mehr durch eine nicht specifische
Darmerkrankung bedingt waren. Dabei
will ich es dahingestellt sei*- lassen, ob die
Diarrhöen toxischen Ursprungs im Sinne
Jessens (7) waren, oder auf nicht speci-
fischen Dünn- oder Dickdarmkatarrhen
beruhten [vgl. Porges und Blümel (8 )].
Was den Erfolg der Combelenbehand-
lung betrifft, so gelang es, in den letzteren
Fällen durch Verabreichung von 3 g Com-
belen p. die Darmerscheinungen rasch zu
beseitigen. Der Erfolg dieser Therapie
ist um so höher anzuschlagen, als ich hier
keine strenge Schonungsdiät (Sup-
pen-Breikost) verordnet habe; viel¬
mehr haben die Patienten eine gemischte
Kost erhalten, allerdings unter Vermei¬
dung aller den Darm besonders reizenden
Nahrungsmittel (rohes Obst, schfecht zer¬
kleinertes Gemüse usw.).
Dagegen waren die schweren mit ul-
cerösen Darmprozessen komplizierten
Fälle durch diese Combelendosen nicht
merklich zu beeinflussen. Ein' Erfolg
konnte erst erhalten werden, nachdem
ich zu viel größeren Dosen übergegangen
war: ich gab zunächst dreimal drei und
später dreimal vier Combelentabletten
= 4,5 beziehungsweise 6 g Combelen pro
die. Unter dieser Medikation konnte,
trotzdem wegen des chronischen Verlaufes
der Krankheit von einer strengen Scho¬
nungsdiät abgesehen wurde, in den
meisten Fällen eine recht günstige Beein¬
flussung der Darmerscheinungen erreicht
werden. Die Zahl der Stühle ging nach
wenigen Tagen bedeutend herunter; oft
nahmen sie sowohl in bezug auf die Zahl
als auch in bezug auf die Beschaffenheit
(breiige Konsistenz) völlig normale For¬
men an. Es ließ sich auch oft ein dauern¬
der Erfolg erzielen, indem auch nach
Weglassen des Combelen eine Verschlech¬
terung der Darmentleerungen nicht mehr
auftrat. Wenn in den schwersten Fällen
mit sehr häufigen Entleerungen (acht bis
sechzehn Stühle in 24 Stunden) völlig
normale Verhältnisse nicht herbeigeführt
werden konnten, so war doch mindestens
der günstige Einfluß des Antidiarrhoicum
durch Verminderung der Stühle auf die
Hälfte der ursprünglichen Zahl und noch
weniger nicht zu verkennen.
Nur in etwa 10—15 % der beobach¬
teten Darmtuberkulosen war eine deut¬
liche Wirkung des Combelen, auch in
großen Dosen, nicht zu bemerken. Es
handelte sich aber in diesen Fällen um
äußerst schwere Phthisen im letzten End¬
stadium der Erkrankung, die mit sehr
zahlreichen, äußerst stinkigen Entlee¬
rungen verbunden waren. Es ist nicht un¬
wahrscheinlich, daß diese Fälle mit Darm¬
amyloid kompliziert waren. Bei solchen
Terminalphthisen, die bekanntlich jeder
bisher angewandten Therapie trotzen, lie¬
gen meiner Ansicht nach der ganz abnorm
stark gesteigerten Peristaltik nicht nur
die gewöhnlichen Ursachen zugrunde,
vielmehr spielt hier noch ein anderes
Moment eine sehr wichtige Rolle. Die
sehr ausgedehnten Ulcerationen am Dünn-
und Dickdarme, die man in solchen Fällen
gewöhnlich vorfindet, bedingen eine sehr
starke Sekretion einer eiweißreichen Flüs¬
sigkeit (Wundsekret) in das Darmlumen
hinein. Diese fäulnisfähigen und leicht
zersetzlichen Flüssigkeitsmengen (daher
stinkige Diarrhöen!), deren Wirkung in¬
folge der verminderten Resorptionskraft
des stark affizierten Darmtraktus noch
verstärkt wird, bewirken schon rein
mechanisch, abgesehen von den aus
den Eiweißzerfall entstehenden die Darm¬
bewegungen beschleunigenden Toxinen,
eine stark gesteigerte Peristaltik.
Auf Grund dieser Überlegungen er¬
schien mir in solchen Fällen eine aus¬
trocknende Behandlung besonders am
Platze. Ich hielt es daher für zweckmäßig,
hier neben dem Combelen drei- bis viermal
täglich einen Eßlöffel Bolus alba puris-
sima (oder Carbo animalis Merck), in
Wasser aufgeschwemmt, zu verabreichen.
Mit Rücksicht auf die fast völlige Erfolg¬
losigkeit der bisherigen Therapie gegen¬
über diesen Diarrhöen waren die Ergeb¬
nisse der Combelen-Bolus-Behandlung als
zufriedenstellend zu bezeichnen. Bis¬
weilen hat sich in solchen Fällen auch eine
Kombination von Combelen in großen
Dosen mit Opium bewährt.
September
Die Therapie der Gegenwart 1917.
329
Hinsichtlich der Nebenwirkungen des
Combelen wäre noch anzuführen, daß
das neue Antidiarrhoicum auffallend gut
vertragen wurde. Trotzdem ich das Prä¬
parat in ziemlich großen Dosen (bis 6 g
pro die) und längere Zeit hindurch den
Kranken verabreichte, habe ich danach
nur ein einziges Mal Erbrechen auftreten
sehen. Dieser Fall betraf eine sehr
schwere, doppelseitige, floride Lungen¬
tuberkulose. Die gute Verträglichkeit des
Präparats dürfte wohl mit der Wasser¬
unlöslichkeit und geringen Resorptions¬
fähigkeit seiner Komponenten Etelen und
Resaldol Zusammenhängen.
Literatur.
1. Löwenthal (M. m. W. 1915 Nr. 51). —
2. D res er, Zitiert nach Löwenthal. — 3. Impens
(D. m. W. 1913 Nr. 38). — 4. Weil (D. m. W. 1915
Nr. 46). — 5 Seifert (M. m. W. 1915 Nr. 51). —
6. Lange (D. m. W. 1917 Nr. 18). — 7. Jessen,
Zitiert nach Seifert. — 8. Porges und Blümel,
Über gastrogene Diarrhöen bei Lungertuberkulose.
(W. m. W. 1916 Nr. 50).
Zusammenfassende Übersicht.
Der heutige Stand unserer Kenntnisse vom Fleckfieber,
Von Oberstabsarzt Prof. Dr. H. Hetsch-Berlin.
Die während des Weltkrieges in den
von den Zentralmächten besetzten öst¬
lichen Gebieten und in den Kriegsgefan¬
genenlagern aufgetretenen Fleckfieber¬
epidemien und die mit emsigem Fleiße
überall vorgenommenen wissenschaft¬
lichen Forschungen haben eine solche
Fülle neuen und sicher begründeten Beob¬
achtungsmaterials ergeben, daß eine kurze
Schilderung der Eigenarten dieser in Frie¬
denszeiten in den westlichen Kulturlän¬
dern fast unbekannten schweren Infek¬
tionskrankheit und ihrer Ätiologie, Epi¬
demiologie und Therapie nach dem Stande
unserer heutigen Kenntnisse dem Prak¬
tiker nicht unwillkommen sein dürfte.
Das klinische Krankheitsbild
kann im allgemeinen als bekannt voraus¬
gesetzt werden, nur auf einige wichtigere
Punkte, die besonders diagnostisch be¬
deutungsvoll sind, sei hingewiesen. Die
Inkubation dauert in der Regel acht bis
vierzehn Tage, kann aber nach den jetzi¬
gen Erfahrungen in immerhin seltenen
Fällen einerseits bis auf vier'bis fünf
Tage herunter und andererseits bis auf
23 Tage hinaufgehen. Das Anfangssta¬
dium der Krankheit weist im allgemeinen
charakteristische Zeichen nicht auf und
verläuft unter rheumatischen und in-
fluenzaähnlichenErscheinungen. Die Kopf-
und Gliederschmerzen steigern sich all¬
mählich, der Kranke erscheint leicht be¬
nommen und klagt auch über Schwindel
und großes Schwächegefühl. Die Augen
haben einen eigenartigen Glanz, es be¬
steht Conjunctivitis und Lichtscheu.
Die Zunge ist leicht belegt, zeigt aber
im Gegensätze zur Typhuszunge an
den Rändern und an der Spitze die
regelrechte rote Farbe. Am Rachen
und Gaumen werden dunkle, zunächst
bandartig am Rande der vorderen
Gaumenbögen hinziehende Rötungen und
zuweilen kleine, blutig erscheinende Fleck¬
chen beobachtet. Über den Lungen sind
meist die Erscheinungen einer trockenen
Bronchitis festzustellen. Herpes labialis
kommt bei etwa 6% der Fälle vor.
Besonders hervorstechend und für das
Fleckfieber charakteristisch sind im weL
teren Krankheitsverlaufe das Exanthem,
der Fieberverlauf und die Erscheinungen
von seiten des Gefäßsystems und des
Centralnervensystems.
Die ersten Zeichen des Ausschlages
werden nach Jürgens am dritten oder
vierten, spätestens am fünften oder sech¬
sten Tage bemerkbar, sind aber so früh
nur bei sehr sorgfältiger Betrachtung der
Haut und oft erst nach gründlicher Reini¬
gung festzustellen. Es treten kleinste
hellrote, den Typhusroseolen sehr ähn¬
liche Fleckchen zuerst gewöhnlich auf der
Brust oder der Schulter oder an den
Armen und den seitlichen Bauchteilen
auf, dann aber schließt das Exanthem in
immer größerer Zahl und Ausdehnung
hervor, so daß nach wenigen Tagen fast
der ganze Körper von dem Ausschlage be¬
deckt ist.. Nachschübe wie bei den Reseo-
len des Unterleibstyphus kommen nicht
vor. Am reichlichsten sind meist Rumpf
und Arme befallen, das Gesicht mit Aus¬
nahme der 'Stirn bleibt in der Regel frei.
Im Gegensätze zum Typhus befällt der
Ausschlag beim Fleckfieber auch Hand¬
teller und Fußsohlen. Das Fleckfieber¬
exanthem behält aber seinen Roseola¬
charakter nicht lange. Auf der Höhe
sieht man nicht mehr einzelne rund
abgegrenzte Fleckchen von hellroter
Farbe, sondern einen dichten, unscharf
begrenzten Ausschlag, der eine schmutzige,
später livide Färbung zeigt. Die Flecken
lassen sich auch jetzt nicht mehr, wie an¬
fangs, wegdrücken. Die petechiale Um¬
wandlung des Exanthems ist charakte-
42
330
Die Therapie der Gegenwart 1917.
September
ristisch, wenn sie auch nicht in allen
Fällen deutlich erkennbar ist. Manchhial
kommt es zu kleinen Hautblutungen ent¬
weder in Form punktförmiger Hämor-
rhagien oder aber in größerer Ausdehnung
wie bei Purpura. Bei leichteren Fällen
verschwindet das Exanthem frühzeitig,
ohne Spuren zu hinterlassen, in schwereren
Fällen sind aber Überbleibsel des hämor¬
rhagischen Ausschlages in Form schmutzi¬
ger, gelblich pigmentierter Flecke noch
weit in die Rekonvaleszenz hinein nach¬
weisbar. Gewöhnlich zeigt die Haut des
Fleckfiebergenesenden eine feine kleien¬
förmige Abschuppung, die sich durch
mechanisches Reiben leicht nachweisen
läßt und für abgelaufene Fälle diagnostisch
wichtig ist (Brauers Radiergummiphäno¬
men).
Das Fieber zeigt bei allen schwereren
Fällen einen durchaus typischen Verlauf.
Die Temperatur steigt in drei bis vier
Tagen staffelförmig auf etwa 40° C. Ein¬
zelne Remissionen können während des
Anstieges auftreten, bilden aber nicht die
Regel. Das Fieber verharrt dann, mit¬
unter nach einer geringen Wiederabsen¬
kung, in der Continua zehn bis zwölf (nach
Munk zwölf bis vierzehn)Tage lang, ohne
daß regelmäßige Remissionen auftreten.
Der Unterschied zwischen Morgen- und
Abendtemperatur beträgt meist nicht
mehr als y 2 °. Wenn auf der Höhe der
Continua Intermissionen mit Schüttel¬
frösten auftreten, liegen fast stets Kom¬
plikationen vor, z. B. Bronchopneumonie,
Otitis oder dergleichen. Gegen Ende der
Continua kommt es allerdings auch bei
regelrechtem Krankheitsverlaufe oft zu
stärkeren Re- oder Intermissionen, auch
kann die Temperatur in der zweiten Krank¬
heitswoche schon vor dem Nachlassen der
schweren Kränkheitserscheinungen im all¬
gemeinen niedriger werden. Der Abstieg
der Fieberkurve ist wenn auch nicht
krisisartig, so doch steil treppenförmig
und nimmt im Gegensätze zur Lyse des
Typhusfiebers wiederum nur wenige Tage
in Anspruch. Das Fieber dauert also bei
allen schwereren unkomplizierten Fällen
mit großer Regelmäßigkeit im ganzen
13—16 Tage. Bei den leichten Fällen, die
man bei allen Epidemien und namentlich
bei Kindern antrifft, verwischt sich das
Fieberbild oft sehr erheblich sowohl in der
Höhe der Temperaturen, als auch in der
Dauer. Aber auch bei den von vornherein,
besonders schweren und tödlich verlau¬
fenden Fällen weicht der Temperatur¬
verlauf vielfach von der geschilderten
Regel ab. Die Kurve wird hier meist
kürzer, aber der Tod tritt fast stets erst
während oder gar nach der Entfieberung
ein oder, richtiger gesagt, die Temperatur
sinkt allmählich, wenn der Tod eintritt
(Jürgens).
Besonders bemerkenswert sind beim
Fleckfieber die Krankheitserscheinungen
von seiten des Gefäßsystems, die zum
großen Teile .auf specifischen anatomi¬
schen Gefäßveränderungen beruhen. Es
treten regelmäßig und frühzeitig schwere
Kreislaufstörungen auf, die in gleicher
Weise bei anderen Infektionskrankheiten
nicht beobachtet werden und daher in
ihrem Gesamtbilde diagnostisch äußerst
wichtig sind. Sie beruhen nicht auf einer
Intoxikation des Herzmuskels, auch nicht
auf einer Schädigung der nervösen Regu¬
lation des Blutumlaufes, sondern auf den
anatomischen Läsionen der kleinsten Herz¬
muskelarterien, die später kurz zu be¬
sprechen sind. Die Verschlechterung des
anfangs mäßig frequenten und normal
gespannten, später aber unregelmäßigen,
weichen und leicht unterdrückbaren Pulses
setzt meist ziemlich plötzlich und gleich¬
zeitig mit der Verschlechterung des All¬
gemeinzustandes und mit dem Auftreten
der bedrohlichen nervösen Erscheinungen
ein. Nach der Entfieberung werden auf¬
fallend niedrige Pulswerte gefunden von
60 und weniger Schlägen, und diese blei¬
ben oft bis weit in die Rekonvaleszenz
hinein bestehen. . Munk beobachtete
sogar Pulswerte von 32 bis 38 Schlägen
tagelang. Der arterielle Blutdruck weist
ebenfalls Werte auf, die weit unter dem
Normalen liegen. Schon vom fünften bis
siebenten Krankheitstage an werden Blut¬
druckwerte von 100 mg (nach Riva-
Rocci gemessen) festgestellt, in der zwei¬
ten Krankheitswoche geht der Druck
weiter zurück und um den Zeitpunkt der
Entfieberung herum erfolgt abermals ein
Absinken der Blutdruckkurve. Werte
von 80 bis 90 mm Hg bilden auch bei
günstig verlaufenden Fällen die durch¬
schnittlichen Befunde. Die niedrigen
Blutdruckwerte bleiben lange Zeit auch
in der Rekonvaleszenz noch bestehen. Bei
älteren Kranken und bei solchen, die ein
sonst schon geschädigtes Gefäßsystem
haben, ist die erhebliche Blutdrucksen¬
kung natürlich besonders folgenschwer
und wird meist die Ursache des letalen
Ausganges. Äußerlich kenntlich wird
dieser Zustand an der zunehmenden, eigen¬
artig graucyanotischen Gesichtsfarbe,
dem Kaltwerden der peripheren Körper¬
teile und dem allgemeinen Verfalle der
Gesichtszüge. Munk faßt auch die bläu-
September Die Therapie der
lich-livide Verfärbung des Exanthems in
den späteren Krankheitst^gen und dessen
petechiale Umwandlung als Folge der
Blutdrucksenkung auf und ebenso die im
Gefolge des Fleckfiebers so häufig auf¬
tretende symmetrische Gangrän und die
ausgedehnten flächenhaften Hautdefekte,
die an den aufliegenden Körperstellen bei
den Kranken oft beobachtet werden.
Die Störungen von seiten des Nerven¬
systems geben dem Krankheitsbilde des
Fleckfiebers ebenfalls ein besonderes Ge¬
präge. Die meisten Kranken lassen eine
starke geistige Abspannung erkennen,
ebenso weisen die leichten Delirien und
die Schlaflosigkeit schon frühzeitig auf
eine erhebliche Beteiligung des Central¬
nervensystems erkennen. Die psychischen
Störungen und die Delirien nehmen mit
dem Fortschritte der Erkrankung meist
ernstere Formen an und pflegen bei
schweren Fällen auch in der fieberfreien
Zeit, allmählich abklingend, noch lange
fortzubestehen. Auch katatonieähnliche
Zustände werden öfter beobachtet. Bei
schweren, tödlich verlaufenden Fällen
stellen sich bald die Zeichen der schwer¬
sten Erschöpfung ein, die mit Koma und
Konvulsionen einhergehen können und
in schwersten Hirnschädigungen ihre Ur¬
sache haben. Auch Störungen motorischer
und funktioneller Art kommen in den
verschiedensten Formen vor, ebenso eigen¬
artige Veränderungen der Sprache, Laby¬
rinthstörungen usw.
Die Milz ist.im Beginne der manifesten
Erkrankung regelmäßig durch die Per¬
kussion, oft auch durch die Palpation als
vergrößert zu erkennen. Mit dem Fort¬
schreiten des Infektionsprozesses wird
die Milz aber schnell kleiner, was diffe¬
rentialdiagnostisch wichtig ist. Bei der
Obduktion Fleckfieberkranker, die nach
der Entfieberung gestorben sind, findet
man eine auffallend kleine Milz.' Milz¬
schwellungen, die am achten oder neunten
Krankheitstage noch bis zum Rippen¬
bogen reichen, kommen bei unkomplizier¬
tem Fleckfieber nicht vor. Auch die
Leber ist in den Anfangsstadien der
Krankheit oft vergrößert und druck¬
empfindlich. Die Nieren sind vielfach in
leichter, seltener in schwerer, unter Um¬
ständen auch hämorrhagischer Form ent¬
zündlich verändert. Der Harn, der nicht
wie bei anderen fieberhaften Infektions¬
krankheiten hochgestellt ist, gibt oft
schon in der ersten Zeit, regelmäßig aber
auf der Höhe der Erkrankung Diazo-
reaktion. Das Verhalten des Darm-
traktus bietet keine charakteristischen
Gegenwart 1917. ( 331
Befunde. Der Stuhl ist entweder regel¬
mäßig oder im Beginne der Krankheit,
angehalten. Es kommen aber auch mehr¬
tägige Diarrhöen vor.
Das Blutbild läßt während des.Fie-
berstadiums in der Regel eine mäßige, in
schweren Fällen oft eine stärkere Vermeh¬
rung der Leukocyten, vorwiegend der
vielkernigen, erkennen. Es gibt aber auch
unzweifelhafte Fleckfieberfälle, bei denen
eine Leukocytose fehlt. Immerhin spricht
in Verdachtsfällen . eine frühzeitig, auf¬
tretende deutliche Leukopenie für Ab¬
dominaltyphus. Die Untersuchung des
Liquor cerebrospinalis ergibt keine gleich¬
mäßigen und.diagnostisch sicher verwert¬
baren Resultate.
Der Verlauf des Fleckfiebers ist im
allgemeinen nach demUrteileder Autoren,
die größere Epidemien zu beobachten Ge¬
legenheit hatten, auffallend eintönig. So
mannigfachen Abweichungen im Krank¬
heitsbilde, wie sie andere Infektionskrank¬
heiten und speziell der Unterleibstyphus
bieten, kommen bei ihm nicht vor. Alle
Erwachsenen, die die Krankheit noch
nicht durchgemacht haben, erkranken
nach der Infektion ziemlich gleichmäßig.
Natürlich gibt es aber leichter und
schwerer verlaufende Fälle. In den leich¬
ten Fällen und namentlich bei Kindern,
die die Krankheit oft sogar ambulatorisch
durchmachen, sind alle Erscheinungen
insgesamt milder. Die Dauer der Fieber¬
periode, auf deren große Einheitlichkeit
schon hingewiesen wurde, wird aber durch
die Schwere der Krankheitssymptome
nicht wesentlich beeinflußt. Hinsichtlich
der sogenannten atypischen oder
abortiven Formen gehen die Urteile
der Autoren noch auseinander. Besonders
wird die Frage sehr verschieden beant¬
wortet, ob und in welcher Häufigkeit Fälle
ohne Exanthem Vorkommen. Nach den
früheren Angaben M u r c h i s o n s, die neuer¬
dings von verschiedener Seite annähernd
bestätigt werden, soll bei etwa 10—15%
der Kranken der Ausschlag vermißt
werden. Es muß aber nach den neueren
Untersuchungen das völlige Fehlen des
Exanthems als selten angesehen werden.
Wenn man Gelegenheit hat, die Kranken
von vornherein wiederholt sorgfältig und
bei guter Beleuchtung zu untersuchen,
und wenn man die oft stark verschmutzte
Haut gründlich reinigt und frottiert,
lassen sich fast stets in den anscheinend
exanthemlos verlaufenden Fällen ein¬
zelne, wenn auch flüchtige Efflorescenzen
von charakteristischer Beschaffenheit ein-
| wandfrei feststellen. Der allgemeine In-
42*
332 , Die Therapie der
fektionsverlauf in den verschiedenen Epi¬
demien wird nach den neueren Fest¬
stellungen nicht unwesentlich beeinflußt
durch den Grad der früheren Durch¬
seuchung der betreffenden Bevölkerung.
Die auffallenden Mortalitätsunterschiede,
die während des jetzigen Krieges zwischen
der Zivilbevölkerung der besetzten rus¬
sisch-polnischen Gebiete und den aus
Rußland und Serbien stammenden Kriegs¬
gefangenen einerseits und den erkrankten
Deutschen und Österreichern anderer¬
seits zu beobachten waren, lassen sich
kaum anders erklären. Ob daneben noch
der „Genius epidemicus“ eine wichtigere
Rolle spielt, muß einstweilen unentschie¬
den bleiben.
Die Rekonvaleszenz tritt in der
überwiegenden Mehrzahl der Fälle zwi¬
schen dem 15. und 17. Tage, auch bei
schweren Fällen aber immer vor dem
Ende der dritten Woche ein unter Abfall
des Fiebers und gleichzeitigem Nach¬
lassen der schweren charakteristischen
Krankheitserscheinungen. . Rezidive und
Nachschübe kommen nicht vor. Er¬
neuter Fieberanstieg hat mit dem Fleck¬
fieber an sich nichts zu tun, sondern ist
stets auf Komplikationen oder Nach¬
krankheiten zurückzuführen. , Heftige
Kopfschmerzen und die Zeichen einer
großen Labilität des Gefäßsystems machen
sich noch längere Zeit bemerkbar. Na¬
mentlich bei älteren Personen, die eine
schwere Fleckfiebererkrankung über¬
standen haben, dauert es oft vier bis sechs
Wochen, bis sie wieder soweit gekräftigt
sind, daß sie einer nutzbringenden Be¬
schäftigung nachgehen können. In Fällen,
die .mit stärkeren Delirien einhergingen,
wird oft eine ausgesprochene Amnesie für
die Erlebnisse-der Fieberzeit beobachtet.
Leichter Erkrankte erholen sich bei guter
Pflege verhältnismäßig schnell.
Unter den Komplikationen des
Fleckfiebers werden besonders häufig
krankhafte Erscheinungen von seiten der
Respirationsorgane beobachtet, Bronchi¬
tiden, Laryngitiden, Pleuritiden, Lungen¬
hypostasen, auch Lungengangrän; eigent¬
liche Pneumonien dagegen selten (Jür¬
gens). Eigenartige und in ihren Ursachen
vorläufig noch ungeklärte Komplika¬
tionen sind die Transsudate, die sich in
Form von Ascites, Pleuraergüssen oder
noch häufiger in Form ausgedehnter
Ödeme bemerkbar machen. Erkrankun¬
gen der Nieren fehlen dabei vielfach. Die
Ödeme gehen mit Hydrämie, starker
Anämie und Marasmus einher und können
unter Hinzutritt skorbutähnlicher Er¬
Gegenwart 1917. September
scheinungen schwere Krankheitszustände
bedingen, die mitunter nach anhaltenden
Durchfällen zum Tode führen (Jürgens).
Als Mischinfektionen wurde im
jetzigen Kriege vielfach Rückfallfieber
festgestellt, das ja auch durch Läuse über¬
tragen wird, ferner Fünftagefieber, Ma¬
laria und Unterleibstyphus. Daß durch
derartige Mischinfektionen das Krank¬
heitsbild des Fleckfiebers sehr erheblich
verändert und die Diagnose oft außer¬
ordentlich erschwert wird, leuchtet ohne
weiteres ein. Auch andere Infektions¬
erreger pflegen in dem durch eine schwere
Fleckfieberinfektion geschwächten und
oft durch eine äußerst mangelhafte Kör¬
perpflege heruntergekommenen Organis¬
mus leicht sekundär Fuß zu fassen. So
kommt es oft zu hartnäckiger Furunku¬
lose, zu Soorerkrankungen, Coliinfektio-
nen, Erysipel, Vereiterungen des Mittel¬
ohres, der Ohrspeicheldrüsen, Submaxil-
lardrüsen uSw.
Als besonders wichtige und folgen¬
schwere Nachkrankheit des Fleckfiebers
sind die spontanen, meist symmetrischen
gangränösen Erkrankungen der Ex¬
tremitäten und anderer Körperteile
(Ohren, Nase, Genitalien) zu erwähnen,
die früher der Krankheit den Namen
„Faulfieber“ eingetragen haben. Auch
Hautpartien am Rumpfe sieht man, be¬
sonders an Stellen, die einem längeren
Drucke ausgesetzt sind, in oberflächlicher,
aber oft ausgedehnter Form brandig wer¬
den. In der Regel tritt die Gangrän bald
nach der Entfieberung, mitunter aber
auch schon während der Fieberperiode
ein, nachdem Schmerzen, Cyanose und
Parästhesien der betreffenden Körper¬
teile vorausgegangen sind. Die sie be¬
dingenden trophischen Störungen führen
Brauer, Chiari und andere auf eine
specifische Entzündung der Intima der
Arterien und e-ine consecutive Thrombose
zurück, Munk hält sie lediglich für eine
Folge mangelhafter Blutcirculation auf
Grund der erheblichen Herabsetzung des
Blutdruckes. Offenbar spielen aber auch
Kälteeinwirkungen und mechanische Ein¬
flüsse eine bedeutungsvolle Rolle, denn
bei Winterepidemien treten die Gangrän¬
erkrankungen seltener auf als im Sommer
ünd bei guter und frühzeitig einsetzender
Krankenhauspflege lassen sie sich meist
vermeiden.
Bei den Obduktionsbefunden ergibt die
makroskopische Untersuchung im allgemeinen
keine charakteristischen Veränderungen. Da¬
gegen sind wir durch die Untersuchungen
E. Fraenkels auf typische mikroskopische Be¬
funde am Gefäßapparat hingewiesen worden, die
September Die Therapie der Gegenwart 1917. 333
nicht nur diagnostisch sehr wertvoll sind, sondern
auch neues Licht in die gesamten pathologischen
Vorgänge beim Fleckfieber gebracht haben. Im
Gebiete der Roseolen lassen sich eigenartige Wand¬
nekrosen an einzelnen. Stellen der kleinsten Ar¬
terien erkennen, die bald auf die Intima beschränkt
sind, bald auch auf die Muskelschicht übergreifen
und meist nur kleine sektorenförmige Abschnitte
der Gefäßwand einnehmen. Mitunter ist damit
eine stärkere Quellung des befallenen Wand¬
bezirkes und eine Verengerung der Gefäßlichtung
verbunden. Wesentlich beteiligt ist an dem Pro¬
zeß das Endothel. An Stellen, die oft vollständig
vom Endothel entblößt sind, sieht man hyaline
oder feinkörnige, das Lumen des Gefäßästchens
ausfüllende Massen. In der Umgebung der er¬
krankten Gefäßpartien trifft man herdförmige
Zellanhäufungen, die entweder die ganze Circum-
ferenz des Stammes einnehmen und kugelige oder
spindelförmige Auftreibungen erzeugen oder nur
auf einen Teil des Umfanges beschränkt sind.
Die von Fraenkel festgestellten und von anderen
Autoren durchaus bestätigten Befunde an den
kleinsten Arterien der Roseolen sind für Fleck¬
fieber specifisch und werden hier regelmäßig ge¬
funden. Die Venen bieten stets ein normales Ver¬
halten. Auch das eigentliche Hautgewebe in
seinem bindegewebigen und epithelialen Anteil ist
vollkommen unversehrt.
Die gleichen Veränderungen werden, wie wei¬
tere Untersuchungen von Albrecht, Ben da und
Ceelen ergaben, auch an den Gefäßen der inneren
Organe und des Gehirnes gefunden, ebenso auch
an den Arterien des Auges (A. Gut mann). Im
Gehirn kommt es im Anschlüsse an die endo- und
perivasculären Prozesse zu mehr oder weniger
ausgedehnten Zellinfiltraten und zu histologisch
nachweisbaren Zerstörungen des funktionierenden
Parenchyms, der Ganglienzellen und Nerven¬
fasern mit den entsprechenden Reiz- und Aus¬
fallserscheinungen. Für das klinische Krankheits¬
bild sind Sitz und Zahl der einzelnen Herdchen
sowie die Vergrößerung der Krankheitsherde in¬
folge hämorrhagischer Infiltration entscheidend.
Die Ätiologie des Fleckfiebers ist
noch nicht geklärt. Soviel steht aber auf
Grund der neueren Untersuchungen fest,
daß alle die Bakterien, Diplokokken und
Spirochäten gewöhnlicher Art, die früher
von ihren Entdeckern als Fleckfieber¬
erreger angesprochen wurden, als solche
nicht gelten können. Die neuere Zeit hat
uns aber auch in dieser Richtung ent¬
schieden weiter gebracht, sodaß die völ¬
lige Lösung des ätiologischen Problems
wohl nur noch eine Frage der Zeit ist.
Seitdem die Rolle der Laus als Über¬
trägerin der Krankheit sichergestellt war,
hat man, weil sich das Blut der Kranken
und die Organe der Fleckfieberleichen der
Mehrzahl der kritischen und mit einwand¬
freier Technik arbeitenden Forscher stets
als steril erwiesen, den von den Kranken
stammenden Läusen besondere Aufmerk¬
samkeit geschenkt. Ricketts und Wil¬
der haben als erste im Darminhalte dieser
Läuse und solcher, die künstlich durch
Saugenlassen an Kranken infiziert waren,
eigenartige polgefärbte Gebilde in großen
Mengen nachgewiesen, die bei Kontroll-
läusen von Gesunden nur in seltenen
Fällen und vereinzelt, jedoch auch dann
nicht in so typischer Form anzutreffen
waren. Durch weitere Untersuchungen
sind dann von Sergent, Foley, Via¬
latte, v. Prowazek, da Rocha-Lima
und anderen Autoren in neuerer Zeit diese
Gebilde näher studiert worden. Es han¬
delt sich um kurze, elliptische, bei der
Weiterentwickelung die Gestalt etwas
verändernde, offenbar durch Abschnü¬
rung sich teilende kleinste Körperchen,
die gram-negativ und am besten durch
Giemsafärbung oder mit der Löffler-
schen Geißelfärbungsmethode darstellbar
sind und heute mit dem Namen Rickettsia
Prowazeki belegt werden. Ihre Mikro¬
organismennatur kann durch die morpho¬
logischen Eigentümlichkeiten und den
Nachweis ihrer Vermehrung als erwiesen
gelten, ihre Kultur in vitro ist noch nicht
einwandfrei gelungen, da Rocha-Lima
konnte in Schnittpräparaten nachweisen,
daß sie in typischer Weise in die Epithel¬
zellen des Verdauungstraktus der Läuse
eindringen und durch ihre starke Ver¬
mehrung dortselbst tiefgreifende, charak¬
teristische Veränderungen der befallenen
Zellen hervorrufen. Es entstehen Zell¬
kerneinschlüsse, wie wir sie von den
Chlamydozoen her kennen. Solche Be¬
funde ließen sich bei zahlreichen normalen,
aus fleckfieberfreien Gegenden stammen¬
den Läusen niemals erheben.
(Fortsetzung folgt im nächsten Heft.)
Verhandlungen der Kriegsärztlichen Abende, Berlin,
Kaiserin=Friedrich=Haus.
Bericht von Dr. Hayward-Berlin.
Sitzung vom 8. Mai 1917.
Schönheimer: Arzt und vater¬
ländischer Hilfsdienst. Im Vergleiche
zu früheren Zeiten, wo doch ein Herrscher,
wie Friedrich der Große, als erstrebens¬
wertes Ziel das hinstellte, daß die Bevöl¬
kerung nichts davon empfinden solle,
wenn Könige Krieg führen, wird heutzu¬
tage die Lebensführung fast jedes ein¬
zelnen vom Kriege in Mitleidenschaft ge¬
zogen. Als höchste organisatorische Ver¬
körperung dieser Idee ist die Hilfsdienst¬
pflicht anzusprechen. Ihr sind auch die
! Ärzte unterworfen. Inwieweit der Arzt von
dem Gesetze betroffen wird, wird im ein¬
zelnen an Hand der bundesratlichen Ver-
Ordnung und der Gesetzesbestimmung
erläutert. Nach § 2 des Gesetzes gehört
der Arzt zu denjenigen, welche im Hilfs¬
dienste schon beschäftigt sind, denn dieser
Paragraph besagt, daß zu ihnen diejenigen
zurechnen' sind, welche zu Behörden oder
behördlichen Einrichtungen, unter die
auch die Krankenkassen fallen, gehören.
Noch unentschieden ist die Frage, ob die
ärztliche Privatpraxis im Sinne des Ge¬
setzes als ,,Krankenpflege“ anzusehen ist.
Dagegen steht es außer Zweifel, daß sie
zur „Volksversorgung“ gehört. Da nun
eine hilfsdienstpflichtige Beschäftigung
zugunsten einer anderen nur dann, auf¬
gegeben werden darf, wenn erstere das
Bedürfnis übersteigt, so wird- es für die
Ärzte, für die es ja meistens nicht zutrifft,
in der Hauptsache auf die freiwillige
Hilfsdienstpflicht ankommen, das heißt
es sollen felddienstpflichtige Ärzte,'die in
der Heimat und der Etappe noch vor¬
handen sind, durch andere ersetzt werden,
um den Mangel an der Front auszu¬
gleichen. Daneben soll die Einrichtung
der öffentlichen Gesundheitspflege dienen,
wie Krankenhäusern, Krankenkassen,
Rettungsinstituten usw., soweit sie an
Ärztemangel leiden, um ausreichende
ärztliche Hilfe zu erhalten. Die dies¬
bezüglichen Feststellungen sollen von
den Kreisärzten vorgenommen werden.
Ein ausreichendes Einkommen muß dem
in dem Hilfsdienste tätigen Arzte
gesichert werden. Spätestens ein Monat
nach Friedensschluß erlöschen die auf
der Grundlage des vaterländischen
Hilfsdienstes abgeschlossenen Anstel¬
lungen.
Sitzung vom 22. Mai 1917.
Langstein: Die künftige Ge¬
staltung der Kinderernährung im
Kriege. Es hat sich durch die Verhält¬
nisse auf dem Lebensmittelmarkt die
Notwendigkeit ergeben, eine Reihe von
speziellen Rohstoffen, die früher für Kin¬
der verwendet wurden, der allgemeinen
Ernährung zugänglich zu machen. Da
eine Anreicherung der dem Säugling ver¬
dünnt dargereichten Nahrungsmittel mit
Fett zurzeit unmöglich ist, bleibt nur eine
Anreicherung mit Kohlehydraten übrig.
Es ist nötig, in etwa sechs Wochen fol¬
gende Nahrungsmengen für den Säugling
bzw. für die stillende Mutter bereitzu¬
stellen: 30---50 g Zucker pro Woche, 200 g
Weizenmehl pro Woche, 500 g Hafer¬
flocken pro Monat und '% bis 1 1 Milch
täglich. Dem kranken Säugling müssen
verschiedene malzhaltige Zuckerpräparate
75 %iges Vorzugsweizenmehl vorgesehen.
Es muß unter allen Umständen die schon
eingeleitete S.tillpropaganda weiter aus-
gebaut werden.
Hofbauer (Wien), Behandlung von
Brustschüssen mittels Atemthera¬
pie. Durch Demonstration einer größeren
Anzahl von Bewegungsskizzen der Zwerch¬
fellatmung beweist Vortragender, daß mit
der Entleerung von Pleuraergüssen keines¬
wegs sofort normal-anatomische Verhält¬
nisse hergestellt werden. Diese Erschei¬
nung, ebenso wie die häufigen Skoliosen
nach Brustschüssen sind durch systema¬
tische Atemübungen zu beseitigen. Die
Theorie dieser Methode wird im einzelnen
dargelegt und ihre Wirksämkeit durch
verschiedene Röptgenbilder vorgeführt.
Sitzung vom 5. Juni 1917.
Klemperer, Die Krankenernäh¬
rung in jetziger Zeit.
Die Tatsache, daß der Mensch jetzt
abmagert, bedeutet keineswegs, daß er
deshalb auch krank sei. Ein Verlust von
10—20 % des Friedensgewichtes muß
unter' den heutigen Verhältnissen als
normal angesehen werden; auch ist ein
Zurückgang der Muskulatur, abgesehen
vom Schwerarbeiter, noch nicht als schäd¬
lich anzusehen. Die zur Verfügung
stehende Zahl von Calorien beträgt pro
Person etwa 1200. In Krankheitsfällen,
für die Milch und Butter zur Verfügung
stehen, lassen sich mehr oder weniger
große Mengen Calorien hinzufügen. Eine
Verzögerung der Krankheitsheilung durch
die Herabsetzung der Eiweißzufuhr konn¬
te vom Vortragenden fast nie beobachtet
werden. Überraschend war es, wie gut
das Kriegsbrot, das bis zu 94 % aus¬
gemahlen ist, vertragen wurde, offenbar
infolge von Bildung neuer Darmfermente.
Vielfach sah man Obstipationen und
Neurasthenie durch das Kriegsbrot schwin¬
den. Handelte es sich um wirklich
Magenkranke, so stehen uns bis zu 75 %
ausgemahlenes Feinmehl und Mehlsuppen
zur Verfügung. Sogar Mastkuren sind
im Krankenhause noch möglich. Bemer¬
kenswert ist, daß die Rekonvaleszenz
verhältnismäßig lange dauert. Vortra¬
gender führt dann aus, wie bei den ein¬
zelnen Krankheitsgruppen die Ernährung
zu handhaben ist. Zweifellos seltener ist
die Gicht und der Diabetes geworden. Die
Kohlehydrate werden von vielen Zucker¬
kranken besser vertragen, als anzunehmen
war. Immerhin sind gerade die Diabeti¬
ker, daneben Lungenkranke und Patien-
334 ' ' Die Therapie der Gegenwart 1917. , 'September
zugeführt werden. Außerdem ist für ihn
September Die Therapie der Gegenwart. 1917.
335
ten mit Erkrankungen des Gefäßsystems
oft wesentlich geschädigt.
Sitzung vom 19. Juni 1917.
:' Gluck,DieBedeutunginnerer.Pro¬
thesen für die plastische Chirurgie.
Vortragender berichtet über Versuche,
die sich auf einen Zeitraum von vier Jahr¬
zehnten erstrecken. Er gibt zunächst
eine Übersicht über die biologischen Ge¬
setze, denen die Regeneration unter¬
worfen ist. Je näher der Organismus onto-
und phylogenetisch den Einzelligen steht,
um so vollständiger erfolgt die Regene¬
ration. Gluck geht dann ausführlich auf
die Untersuchungen von Edinger und
Bethe ein, durch die eine Bestätigung
seiner eigenen Ergebnisse gegeben worden
ist. Bei Sehnen und Muskeln tritt nur
eine Substitution ein bei der Zwischen¬
schaltung von Ersatzmaterial. Anders
dagegen bei den Nerven, bei welchen es
schließlich zu einer wirklichen Vereinigung
der Nervenstümpfe kommt. Eine eigen¬
artige Erscheinung ist die, daß Elfen¬
beintransplantate frakturieren und wieder
zusammenheilen können. Im allgemeinen
gebührt jedoch der Autoplastik der Vor¬
zug. Unter Vorzeigung zahlreicher alter
Operationsfälle werden die großen Fort¬
schritte demonstriert, die die Chirurgie,
unterstützt durch eine zweckmäßige Nach¬
behandlung, durch die Transplantations¬
methoden erfahren hat.
Weinert, Über schwere Kriegs¬
verletzungen an der Hand von im
Felde gewonnenen Bildern.
An Aquarellen, welche in der ersten
Linie angefertigt worden sind, zeigt
der Vortragende eine große Zahl teils
seltener, teils typischer pathologisch-
anatomischer Präparate, welche im
Hinterlande nur wenig beobachtet
werden. Hierunter finden sich Schädel-
Schüsse, Sprengwirkung von Nahschüssen
und Nachkrankheiten der Kopfschüsse.
Ferner Gasphlegmone, Fliegerverletzun¬
gen usw.
Sitzung vom 3. Juli 1917.
Kraus: Über konstitutionelle
Herzschwäche.
Virciiows Ansicht, der Vortragen¬
der sich nur durchaus anschließen kann,
ging dahin, daß die Hypoplasie der
Gefäße schon vor der Pubertät besteht.
Das, was wir unter funktioneller Herz¬
schwäche verstehen, hat seinen Grund
in einem anatomischen Mangel. Das
ganze Krankheitsbild wird dann eingehend
besprochen nach seiner klinischen und
pathologisch-anatomischen Seite und an
einem praktischen Beispiel die in Betracht
kommenden Untersuchungsmethoden und
Resultate erläutert. Zahlreiche praktische
Erfahrungen auch des Krieges weisen
immer mehr darauf hin, daß es eine
eigentliche konstitutionelle Herzschwäche
nicht gibt, sondern, daß wir in diesem
Krankheitsbilde stets nur ein Teilsymptom
einer bestimmten Konstitution zu be¬
trachten haben.
Referate.
Aus berufenster Quelle stammende
Erfahrungen über Badekuren beim Kinde
bringen die Therapeutischen Monatshefte.
Heubners Mitteilungen seien ausführ¬
licher referiert:
Eine viel größere Zahl von kindlichen
Erkrankungen eignet sich-für Badekuren,
als den meisten Praktikern geläufig ist.
Krankhafte Veranlagung, krankhafte Zu¬
stände, chronische Erkrankungen, even¬
tuell auch die Nachwehen akuter Er¬
krankungen des Kindes sind meist ebenso
gut durch Kuraufenthalt zu beeinflussen
wie die. des Erwachsenen.
Allgemeine Minderwertigkeit,
die sich besonders durch das Symptom
der reizbaren Schwäche kennzeichnet,
läßt sich durch klimatische Kuren gut
aufbessern. Abnorme Empfindlichkeit
gegenüber äußeren Reizen und dabei doch
träges Einsetzen und Unzulänglichkeit
der durch den Reiz ausgelösten Gegen¬
wirkung, mangelhafte Entwicklung,Blässe,
Appetitlosigkeit, alles Kennzeichen all¬
gemeiner Minderwertigkeit; dabei kann
es sich um intelligente, lustige Kinder
handeln, die erst nach Eintreten der
Schulzeit aüch geistig rasche Ermüdbar¬
keit aufweisen. Öftere Wiederholung,
nicht zu langen Aufenthalts in freier Luft
bei Vermeidung stärkerer Reize ist hier¬
für angezeig't. An der See soll darauf ge¬
achtet werden, daß die Kinder nicht
länger als 2—3 Stunden täglich am
Strande sind: Seewind und Wellengang
sind schon als stärkere Reize anzusehen,
die nicht zu lange einwirken dürfen.
Der kleine Patient muß lange, auch
nach dem Mittagessen noch eins bis
zwei Stunden schlafen. Ostseebadeorte
sind in der Witterung mehr an das
Binnenklima sich anlehnend; sie sind
Nordseebädern vorzuziehen. Von Binnen¬
kurorten sind die mit viel Sonne und
September
336 , • Die Therapie der Gegenwart 1917.
Wald, gegen Wind geschützten vor¬
zuziehen: Hahnenklee, Tambach, Fried-
richsroda. Vermieden werden sollen
die Orte in höherem Mittelgebirge und
Solbäder; eine Unterstützung der Kur
durch Trinkenlassen eisenhaltiger Quellen
ist zulässig. Für diese Art Kinder, die
allgemein Schwächlichen aus den un¬
bemittelten Kreisen der Bevölkerung, ist
auch durch Ferienkolonien gut gesorgt.
Beim Lymphatismus (der exuda-
tiven Diathese) versagt bisweilen der
Hauptfaktor der Therapie, die geeignete
Abänderung der Ernährung: Aufenthalt
im Solbad ist die indizierte Kur. Der
Verschicken von Kindern mit immer wie¬
der' rizidivierenden Katarrhen der
Atmungsorgane in Kurorte wie Rei¬
chenhall, Ems u. a. ist allgemein üblich.
Viel wichtiger noch als die günstige Be¬
einflussung der katarrhalischen Erschei¬
nungen selbst durch den Kurgebrauch
ist die Kräftigung der ganzen Konstitu¬
tion. Von einem kurzen Badeaufenthalt
ist da wenig zu erwarten. Eine ganze
Reihe von Monaten zu wiederholten
Malen soll das Kind an die See, und so
frühzeitig wie möglich. Hat sich erst ein
chronisches Rezidivieren festgesetzt, dann
ist völlige Ausheilung sehr schwer zu er¬
reichen.
Bei ,,nervösen“ Kindern, die „das
Hauskreuz.jeder Familie bilden“, wie der
Verfasser anschaulich sagt — damit ist
der Zustand besser charakterisiert als
mit dem Aufzählen einer Reihe von
Symptomen des Krankheitsbildes — er¬
füllt der Kuraufenthalt, die Hauptfor¬
derung der Therapie in schönster Weise:
es zieht den reizbaren, jähzornigen, un-
lustigen Patienten heraus aus der ge¬
wohnten Umgebung. Diese Kinder sollen
längere Zeit in Erziehungssanatorien kli¬
matisch günstiger Gegenden unterge¬
bracht werden, von denen es freilich nicht
allzuviel gibt. Fünf werden als gut erprobt
vom Verfasser namentlich aufgeführt.
Von der Gruppe der tuberkulösen
bzw. Tuberkulose verdächtigen Kin¬
der spaltet Heubner noch die Gruppe
der Prophylaktiker ab; will sagen,
Kinder tuberkulöser Abstammung, die
allgemein schwächlich, blaß sind, ohne
den Verdacht einer latenten oder Zeichen
vorhandener Tuberkulose zu bieten. Auch
hier gilt es, die Gesamtkonstitution um¬
zuwerten, sie auf das Höchstmaß der
relativen Leistungsfähigkeit zu bringen
durch immer wiederholte mehrmonatige
Kuren, eine Forderung, die von unbe¬
mittelten leider kaum erfüllt werden kann.
Das Klima des Hochgebirges über 1500 m
fördert Atmung, Herztätigkeit, Blutbil¬
dung, Eiweißansatz. Die Einwirkung
der Gebirgssonne kann im Tiefland kaum
ersetzt werden. St. Moritz, Davos, Arosa
haben gutgeleitete Kindersanatorien. Im
deutschen und österreichischen Hoch¬
alpengebiet fehlt es noch daran. „Ver¬
dächtige“ Kinder, also solche, die irgend¬
welche Zeichen bereits überstandener
suspecter Erkrankungen — Pleuritis, Drü¬
seneiterung — bieten oder die leicht
fiebern, Katarrhe haben, werden am
besten in Kurorte gesandt, wo sie zu¬
gleich einer ärztlich durchgeführten Tuber¬
kulinkur unterzogen werden können.
Congenital syphilitische Kinder
zeigen recht oft auch neben den sped.fi-'
sehen Erscheinungen schwäche Allgemein¬
konstitution, Gemütsverstimmung, Ap¬
petitlosigkeit. Neben der antisyphiliti¬
schen Therapie ist dann Verschickung in
einen Kurort geeignet, und zwar ist ein
Ort mit jodhaltigen Quellen zu bevor¬
zugen, wenn auch nicht unbedingt
notwendige Krankenheil-Tölz und Hall
hegen beide in schöner Voralpengegend.
Über Luesbehandlung haben dort an¬
sässige Ärzte besonders . gute Erfahrung.
Ist spastische Gliederstarre zu
langsamer Besserung gekommen, beson¬
ders, wenn das Gehen wieder einigermaßen
erreicht ist, dann ist es an der Zeit, die
Heilung durch warme Schlammbäder oder
den Besuch der Akratothermen, Wildbad,
Gastein, Teplitz, zu beschleunigen.
Radiumhaltige heiße Quellen, allen¬
falls auch moussierende Stahlbäder (Ku-
dowa, Pyrmont, Elster) können zur Be¬
seitigung von Lähmungsresten, etwa
poliomyelitischer, herangezogen werden.
Der vielfach verbreiteten Illusion,
man könne geistig zurückgebliebenen,
schwachsinnigen Kindern durch kli¬
matische Kuren Nutzen bringen, soll der
Arzt entgegentreten und baldige Unter¬
bringung in einer heilpädagogischen An¬
stalt durchsetzen, bei der der Leiter viel
wichtiger ist als gutes Klima und schöne
Lage.
Die Nachwehen akuter Störungen der
Atmungsorgane: Schrumpfung, Ver¬
wachsung, chronischer Kartarrh, werden
besonders gut beseitigt bzw. verhütet in
den Südalpenkurorten Meran, Varese,
Lugano. Auch Abbazia besitzt ein schönes
Kindersanatorium. Im Sommer sind
auch Schwarzwälder und Riesengebirgs-
kurorte gut brauchbar.
Nach akut rheumatischen oder In-,
fektionskrankheiten zurückbleibende
September Die Therapie der
Herzerscheinungen sollen erst in bal-
neologisch - klimatische Behandlung ge¬
geben werden, wenn sorgfältige Kontrolle
der Herzleistung ergeben hat, daß die
Anstrengung der Reise keine Schädigung
bedeuten wird, vor allem erst, nachdem
die Temperaturen längere Zeit in. der Norm
geblieben sind. Seebäder sind auszu¬
schließen, ebenso alle Kurorte, die Rheu¬
matischen versagt sind. Gut ist die
Riviera oder ein Specialherzbad wie
Nauheim. Kompensierte Herzfehler sind
besser in Kudowa oder Pyrmont aufge¬
hoben.
Chronische katarrhalische Erkrankun¬
gen des Rachens trotzen gar oft jeder
spezialistischen und örtlichen Behandlung.
Mandelentzündungen, Reizhustefi kehren
immer wieder. Nach Heubners Erfah¬
rung sind viel wirksamer noch als die üb¬
lichen alkalisch muriatischen Wässer von
Ems, Salzbrunn, Salzungen Schwefel¬
quellen. Fünf- bis sechswöchige Trink¬
kuren, eventuell mehrmals im Jahre
(auch zu Hause) wiederholt, je 20 bis
120 ccm auf nüchternen Magen, haben
zweifellos gute Wirkung gehabt. Eine
pharmakologische Erklärung fehlt vor¬
läufig, die gute Erfahrung bleibt bestehen.
Verdauungsstörungen bei Kindern
sind ebenso wie die der Erwachsenen durch
Karlsbader Trinkkur gut zu beeinflussen;
sei es durch Verordnung einer regel-
. rechten Mühlbrunnenkur zu Hause, sei
es durch Karlsbader Kur an Ort und Stelle.
Chronische Nephrosen des Kin¬
desalters bieten oft eine trostlose Aus¬
sicht • gegenüber medikamentöser Beein¬
flussung. Orthotische Albuminurie ist
noch die harmloseste Nierenerscheinung.
Kräftigung des Allgemeinzustandes in
den oben genannten entsprechenden Kur¬
orten bringt meist auch die orthotische
Albuminurie zum Verschwinden. Leichte
chronische Nephritis — Heubners Pae-
donephrose — d. h. dauernde Eiwei߬
ausscheidung mäßigen Grades auch im
Liegen, regelmäßiges Vorfinden von Cy-
lindern, Erythrocyten usw. ohne irgend¬
welche ernsteren Allgemeinerscheinungen
heilt meist nach Jahre langer Dauer doch
endlich von allein aus. Trotzdem kann
man den Wildunger oder Karlsbader
Kuren auch hierbei einen Nutzen nicht
absprechen, besonders wenn sie an Ort
und Stelle gebraucht werden. Die feuch¬
ten, ungesunden Straßen der Großstadt
mit den trockenen reinlichen Spazier¬
wegen dort zu vertauschen, ist gewiß für
diese Nephritiker nicht ohne Einfluß.
Gegenwart 1917. 337
Schwere Formen kindlicher Nierenkrank¬
heiten brauchen langen Aufenthalt in
Ägypten — im „friedlichen“ Ägypten
sollte man zur Zeit sagen — oder sogar
in den Tropen zum Ausheilen, ebenso
die chronische Pyelitis. Eine Sicherheit
der Ausheilung aber gewährt auch diese
kostspielige Klimatotherapie nicht. Ge¬
hören also die Eltern nicht zur Praxis
aurea sive brillantina, dann spare man
lieber das Geld. j. v. Roznowski.
Über geburtshilfliche Fragen gibt
Stöckel eine für den Praktiker sehr lesens¬
werte Übersicht an Hand der einschlä¬
gigen Literatur des vergangenen Jahres,
wobei die persönliche Note das Interesse
steigert. Der in einigen Fragen geänderte
Standpunkt wird exakt begründet. In
der Kaiserschnittfrage werden die Vor¬
züge des transperitonealen Kaiserschnitts
anerkannt. Die Stellung des Arztes kann
gefährdet werden durch ein zu laxes Ver¬
halten dem Abortus arteficialis gegen¬
über; aus den Sitzungsberichten der
gynäkologischen Gesellschaft kann klar
ersehen werden, daß die Indikationsbreite
bei Tuberkulose abgenommen, ausgenom¬
men offene Gelenktuberkulose, bei Herz¬
klappenfehlern zugenommen hat. Da
nun überhaupt mit dem Geburtenrück¬
gänge gerechnet werden muß, soll Perfora¬
tion möglichst aufgegeben werden (Win¬
ter, Künstliche Frühgeburt). Für die
Eklampsie ist die sofortige Entbindung
dem abwartenden Verfahren an Erfolgen
überlegen. Die Schwere der jetzt im
Kriege weniger auftretenden Fälle hat
abgenommen, was für die Eklampsiefor¬
schung (Einfluß der Ernährung) von Be¬
deutung ist. Dem Praktiker wird geraten;
bei der Inhalationsnarkose zu bleiben, da
die Nebenwirkungen der isolierten Uterus¬
anästhesierung nicht zu unterschätzen
sind. Den Schluß bildet die Aufforderung
zu einer besseren Ausbildung; es muß
unter anderem die allgemeine Geburts¬
hilfe in der Form einer propädeutischen
Klinik ein Pflichtkolleg für das siebente
und achte Semester werden.
Über die Gynäkologie 1916/17 be¬
richtet A. Martin. Aus der Fülle des
Gebotenen möge folgendes angeführt wer¬
den: Die operativen Erfolge bei der Be¬
handlung des Uteruskrebses sind sicherlich
gute (Klinik Schauta), dem gegenüber
muß jedoch die volle Berechtigung zur
Bestrahlung auch der operablen Collum-
carcinome angesichts der vorliegenden
Beobachtungen unbedingt anerkannt
43
338 Die Therapie der
werden (Krönig). Daß die Röntgenbe- <
handlung der Myome wie hämorrhagi¬
sche Metropathien glänzende Erfolge er¬
zielt, wird als bekannt vorausgesetzt; in
der Bestrahlungstechnik ist noch keine
Einigung erzielt. Auf der einen Seite
wird für die Beseitigung der Blutungen in '
einer einmaligen Sitzung Beweismaterial
herangezogen, während jedoch auch von
anderer Seite betont wird, daß bei meh¬
reren Sitzungen die Ausfallserscheinungen
an Heftigkeit verlieren; unter jeder Be¬
dingung ist im Auge zu behalten, daß die
durch Bestrahlung erzielte Amenorrhoe
und Myomheilung zwei verschiedene
Dinge sind (Sippel). Die Gynäkologie
wendet sich immer mehr unblutigen Heil¬
methoden zu, so gewinnt die Diathermie¬
behandlung bei chronischen Beckenzell¬
gewebsentzündungen ein segensreiches Ar¬
beitsfeld (Lindemann). Für die Gonor¬
rhöebehandlung ist eine sehr lange Beob¬
achtungszeit erforderlich; hier wie bei
den einfachen Katarrhen kann der Prak¬
tiker mit Tampons und Siccator viel
nutzen. Pulvermacher (Charlottenburg).
(Jahreskurse für ärztliche Fortbildung, Juli¬
heft 1917.)
In einer Festschrift für August Mar¬
tin, die anläßlich seines 70. Geburts¬
tages von seinen Schülern und Freunden
herausgegeben wurde und ehrenvolle
Worte für sein zielbewußtes und segens¬
reiches Wirken enthält, versucht Bumm
Mittel und Wege zu finden, dem Geburten¬
rückgang Einhalt zu tun; viel könne er¬
reicht werden durch bessere Fürsorge für
die schwangeren Frauen, Verminderung
der Geschlechtskrankheiten, wie bessere
Säuglingsfürsorge; der Wille gegen das
Kind müsse auf das schärfste bekämpft
werden; solange breite Schichten der
Bevölkerung die Einschränkung der Nach¬
kommenschaft für bequem und nutzbar
ansehen, wird die Geburtenkurve noch
weiter sinken. Wenn nun Bumm einen
wesentlichen Faktor in der Beschränkt¬
heit des geburtshilflichen Wirkungskreises
nicht sieht, glaubt Hengge demgegen¬
über doch die Zahl der lebend geborenen
Kinder dadurch wesentlich heben zu
können, daß jede Geburt in einer Anstalt
vor sich gehen müsse, in der jeder Arzt
tätig sein könne — also mit freier Arzt¬
wahl —, wo aber auch gleichzeitig ein
vollwertiger Geburtshelfer für schwierige
Fälle sofort zu Rate gezogen werden könne.
Nach Ansicht des Referenten ein schwer
durchzuführender Vorschlag, da bei der
eigenartigen Psyche einer gebärenden
Gegenwart 1917. September
Frau der praktische Arzt bald das fünfte
Rad am Wagen sein wird. — Mit der
Frage, welche Myome bestrahlt und welche
operiert werden müssen, beschäftigen
sich zwei Arbeiten. Mackenrodt nimmt
folgenden Standpunkt ein: operiert wer¬
den die mittleren : und kleineren Myome
junger Frauen, besonders wenn eine Kom¬
plikation mit Ovarialtumoren , vorliegt,
ebenso die submukösen blutenden, über
die Grenze von 40 Jahren hinaus auch
große Myome nur dann, wenn sie bluten
und wenn sie Beschwerden machen. Es
bleibt so nur noch ein kleines Feld für
die Bestrahlung übrig. Dieselbe Indika¬
tionsbreite für die Bestrahlung gibt Czem-
pin an, der im zweiten Teile seiner Arbeit
sein Operationsverfahren schildert; wenn
er zum Schluß die vaginale Korpus¬
amputation empfiehlt, so ist es im Gegen¬
satz zu ihm für den Erfolg günstiger, die
Naht der Schnittfläche in die Scheide
gehen zu lassen, indem das Bauchfell auf
die Rückfläche des Stumpfes genäht wird,
wie Referent es nach Riecks Angabe
immer macht. Nur der Bestrahlung allein
überweist Döderlein seine Fälle mit
Cervixcarcinom; : er weist den Einwurf
sehr scharf zurück, daß es sich etwa nur
um eine oberflächliche Wirkung, also eine
Scheinheilung handelt; die Abkehr von
der Radialoperation ist vollauf berech¬
tigt. — Eine ganz andere Materie, näm¬
lich eine juristische, enthalten die Arbei¬
ten von Paul Rüge und Ed. Martin;
Rüge geht auf die Gutachtertätigkeit
ärztlicher Sachverständiger ein, wobei er
verlangt, daß man sich von jedem Vor¬
urteil und jeder Rücksicht auf Berufs¬
genossen frei machen müsse, und das
Gutachten wohl überlegt abgegeben werde,
sodaß Widersprüche in den eigenen
Äußerungen nicht Vorkommen können.
Martin verlangt eine genaue Kenntnis
der Reichsversicherungsordnung; die Frau
ist in ihrem erweiterten Wirkungskreise
Betriebsunfällen ebenfalls ausgesetzt;wird
der Zustand richtig erkannt, das Leiden
gehoben, so kann die gesundete Frau
Kinder gebären, wodurch auch wiederum
dem Geburtenrückgänge entgegenge¬
arbeitet wird. Mit diesem letzteren
Thema beschäftigen sich in dieser Zeit
recht viele Arbeiten, die alle unmöglich
aufgeführt werden können. Hoffen wir
im Interesse des Staates, daß sich viele
der gutgemeinten Vorschläge verwirk¬
lichen lassen.
Pulvermacher (Charlottenburg).
(Mschr. f. Geburtsh. Bd. 46, Heft 1 u. 2.)
September
Die Therapie der Gegenwart 1917.
339
Die Eröffnung derhinteren Kap¬
seltasche und Drainage des Kniege¬
lenks ist in der letzten Zeit wiederholt
Gegenstand der Besprechungen gewesen.
Die ausführlichste Mitteilung verdanken
wir einer Monographie von Payr, welche in
der D. Zschr. f. Chir. Bd. 139 veröffent¬
licht ist. Demgegenüber hat Baum und
auf einer Sitzung der Berliner medizini¬
schen Gesellschaft A. Wolff andere Me¬
thoden der Eröffnung des Gelenks von
hinten angegeben. Der . Wolff sehe Fall
endete tödlich und wurde als ein Aneu¬
rysma der Poplitea angesprochen, eine
Ansicht, die allgemein auf Widerspruch
stieß. Vielmehr ist es durchaus wahr¬
scheinlich, daß das Drain, welches in aller¬
nächster Nähe der Gefäße lag, die töd¬
liche Arrosionsblutung verursacht hat.
Den genannten beiden Verfahren tritt
Payr neuerdings entgegen und zeigt
nochmals, in welcher Weise die Eröffnung
des Kniegelenks von hinten vorgenommen
werden kann, ohne daß irgendeine Ge¬
fährdung der Gefäße- eintritt. Sein Ver¬
fahren ist folgendes: Der mediale Gastro-
cnemiuskopf wird auf Fingerbreite nach
lateralwärts von der Gelenkkapsel abge¬
löst, wobei wegen häufig bestehender Ver¬
wachsungen zwischen Muskel und fibröser
Kapsel das Gelenk oft schon eröffnet
wird. Im anderen Falle wird die quere
Incision der Kapsel in der Höhe des Ge^
lenkspaltes vorgenommen, möglichst weit
medial reichend, sodaß sie bis in ihren seit¬
lichen Anteil incidiert wird. Hayward.
(Zbl. f. Chir. 1917, Nr. 28.)
Ausgehend von der heute so häufigen
Bitte der Mütter um ein Milchattest für ihre
blassen Kinder bespricht Erich Müller
die ,,blassen Zustände im Kindes¬
alter“ und knüpft daran diagnostische
und therapeutische Erwägungen. Der
Arzt soll es sich sehr überlegen, ob dem
blassen Kinde mit der Gewährung einer
Milchzulage wirklich gedient ist. Die
Kinderärzte haben in den letzten Jahren
bereits die großen Milchmengen für Kin¬
der jenseits des ersten Lebensjahres auf¬
gegeben und sind auf % Liter bis x j 2 Liter
täglich herabgegangen mit gutem Erfolg.
Milch ist eisen- und kalkarm (Czerny).
Daher trat Heubner für frühzeitige Bei¬
gabe eisen- und kalkreichen grünen Ge¬
müses und Obstes ein. Die Ursachen für
das blasse Aussehen eines Kindes sind
vielgestaltig und bedürfen noch weiterer
Klärung. Jedenfalls ist ein großer Teil
der blassen Kinder in keiner Weise
anämisch, es handelt sich vielmehr um
Scheinanämien. Das Blut dieser Kinder
ist normal, es ergibt keine prozentuale
Herabsetzung des Hämoglobingehalts
(nach Sahli am besten zu bestimmen,
65 bis 75 % auf den Hämometer von
Sahli, anormal sind auch Werte bis zu
60 % noch nicht).
Die Scheinanämien teilt Müller in
drei Gruppen ein; erstens neuropathische
Kinder mit Gleichgewichtsstörung im
vegetativen Nervensystem; in diesen pa¬
thologischen Fällen gewinnt der Sympa-
thicus das Übergewicht über den Vagus,
es kommt zu abnormen Contractionen der
kleinen Hautgefäße, damit naturgemäß
zur Hautblässe. Die Kinder stammen oft
von neuropathischen blassen Eltern ab,
sind hypersensitiv, haben große glän¬
zende Augen mit weiten Pupillen. Die
zweite Gruppe sind solche mit abnormer
Blutverteilung im Körper, durch Er¬
krankung innerer Organe, z. B. Leber
oder des Darmes, kommt es zu vermehrter
Blutfülle dieser und zu Verarmung, der
Oberfläche, der Haut an Blut. Die dritte
Gruppe sind die lokal bedingten Schein¬
anämien, teils finden sie sich bei Brünet¬
ten mit stark pigmentierter Haut, teils
bei schlecht entwickeltem Hautcapillar-
netz. Auch lymphatische und hydro-
pische Kinder sind scheinanämisch in¬
folge starker Durchtränkung der Haut.
Auch die Schul- und Proletarieran¬
ämien sind nicht immer echte Anämien.
Es ist eine, alte Erfahrung, daß Kinder
beim Schulbesuch schnell blaß werden
und sich in den Ferien schnell erholen.
Ein Teil von ihnen sind neuropathische
Kinder, ein Teil sind solche, bei denen
die sitzende Lebensweise zu Stauungen
und abnormer Blutfülle in den Unter¬
leibsorganen führt. Auch Verdauungs¬
störungen kommen dazu. Aber es gibt
auch richtige Anämien in der Schule.
Müller erinnert daran, daß in die Schul¬
zeit vom sechsten bis zwölften Jahre oft
die erste Tuberkuloseinfektion fällt, daß
andere Kinder an infektiösen Kinder-
Krankheiten, an Grippe, Diphtherie er¬
kranken, daß viele. Bacillenträger sind,
also die Schulanämien auf infektiös toxi¬
scher Basis ihre Erklärung finden. Ähn¬
lich liegt es mit der Proletarieranämie.
Hier spielt vielfach Unterernährung eine
Rolle, die Kinder erholen sich schnell bei
guter Pflege und Kost.
Also: die Verwertung der Blässe des
Gesichts als klinisches Symptom ist
ebenso alt wie unbrauchbar. Die Be¬
stimmung der circulierenden Blutmasse,
43*
340
' Die Therapie'der Gegenwart 1917.
September
des Gesamthämoglobins, des Blutminuten-
und Herzschlagvolumens sind keine Me¬
thoden für den Praktiker, sie gehören
wegen ihrer diffizilen Technik in die
Klinik. — Wichtig sind gewisse Sym¬
ptome am Herzen und an den Gefäßen,
nämlich Nonnensausen als Zeichen einer
Erhöhung der Strömungsgeschwindigkeit,
als Zeichen einer Störung im Sauerstoff¬
verbrauch. Ebenso wichtig sind die
funktionellen Herzgeräusche, die auf das
Bestreben des Herzens hinweisen, durch
extreme Ausdehnung des Ventrikels das
Herzschlagvolumen zu vergrößern. Hier¬
zu käme die Hämoglobinbestimmung. —
Die alimentäre Anämie ist längst bekannt,
sie wird mit dem Mangel an eisenreicher
Nahrung in Beziehung gebracht.. Kinder,
bei denen die eisenfreie Kuhmilch den
Hauptanteil der Nahrung bildet, haben
offenbar nicht die Möglichkeit, aus anderer
Nahrung genügend Eisen aufzunehmen.
Czerny rechnet seit einigen Jahren auch
die Anämien , mit Milztumoren, Anaemia
splenica (Anaemia pseudoleucaemica und
rachitische Splenomegalie) hierzu. Damit
würde die bisherige Sonderstellung der
Anaemia splenica fortfallen. Czerny
sah die Bestätigung seiner Lehre in seinen
therapeutischen Erfolgen (starke Milch¬
entziehung). Das Blutbild dieser Anämien
ist charakterisiert durch starke Ver¬
minderung des Hämoglobingehalts auf
50 bis 20 %. Die Zahl der roten Blut¬
körperchen ist meist vermindert, wenn
auch nur gering. Färbeindex unter 1,0.
Form und Färbbarkeit sind verändert,
oft sind dabei kernhaltige Rote, es besteht
Lymphöcytose. Czerny lehnt den Eisen¬
mangel der Milch als Ursache ab, sieht
den schädigenden Einfluß der Milch im
Milchfett und den im Stoffwechsel ent¬
stehenden Fettsäuren. Sicher ist jeden¬
falls, daß energische Einschränkung des
Milchverbrauchs neben Darreichung von
grünen Gemüsen bei diesen blassen Kin¬
dern einen günstigen Einfluß ausübt. —
Die zweite bedeutsame Gruppe von An¬
ämien ist die auf infektiöser Basis, Tuber¬
kulose, Syphilis und den grippeartigen
Infektionen. Die Anämie der luetischen
Kinder findet sich besonders bei Kindern,
die an visceraler Lues mit Knochen¬
beteiligung erkrankt sind. Das Blutbild
zeigt relative Lymphocytose. Die tuber¬
kulöse Anämie findet sich bei Erkran¬
kungen der lymphatischen Gewebe, also
Drüsentuberkulose, besonders der Bron¬
chialdrüsen, meist ohne klinisch erkenn¬
bare Erscheinungen. Die Röntgenunter¬
suchung deckt dieseAff,ektionenöft erst auf.
Das Blutbild zeigt relative Polynucleose.
Die an Grippe sich anschließenden An¬
ämien folgen meist den Krankheitsfällen
mit anhaltendem Fieber, und langwierigen
Komplikationen. Hier findet sich Poly¬
nucleose, die Zahl der neutrophilen steigt
bis 75%. Die letzte der hier besprochenen
Anämien ist die Chlorose als Anämie der
weiblichen Entwicklungsjahre. Der Blut¬
befund zeigt starke Herabsetzung des Hä¬
moglobingehalts, die roten Blutkörperchen
sind wenig vermindert, der Färbeindex
besonders- niedrig. Die Blutmenge ist
hier besonders erhöht, bis tauf das Zwei-
und Dreifache des normalen Kindes. Da¬
bei Atembeschwerden, Herzklopfen, Dila¬
tation des linken Ventrikels, funktionelle
Herzgeräusche.
Die Behandlung richtet sich nach der
Grundkrankheit. Bei scheinanämischen
Kindern ist gemischte Kost am Platze,
Eiweiß, Fett, Kohlehydrate und Mine¬
ralien in verständiger Relation ohne ein¬
seitige Bevorzugung der Eiweißzufuhr.
Anämien auf tuberkulöser Grundlage
erfordern die Maßnahmen, die für Tuber¬
kulose in Frage kommen. Freiluftkuren
im Hochgebirge, eventuell auch in der
Ebene. Müller läßt die Kinder im Früh¬
jahr, Sommer und Herbst auch Nachts
im Freien schlafen. In der Ernährung ist
man von der früheren einseitigen Mast
abgekommen, eine reichliche Überfütte -
rung mit Kohlehydraten begünstigt nur
die Entwickelung der Tuberkelbacillen,
ebenso die Verwässerung, des Körpers mit
Milch. Müller verwendet seit langem
Sahnengemische und Lebertran. Milch¬
zulage hat nur Zweck bei Mangel an fett-
und eiweißhaltiger anderer Nahrung. Die
luetische Anämie erfordert die energisch
durchgeführte Quecksilber-Neosalvarsan-
kur. Eisendarreichung hat dabei keinen
Erfolg. Es liegt auch keine Veranlassung
vor, auf luetischer Basis blassen Kindern
größere Mengen Milch zuzuführen. Bei
den Anämien im Gefolge einer Grippe¬
infektion empfiehlt sich Luftveränderung
im Gebirge oder Landaufenthalt als bestes
Heilmittel, daneben ist auf genügende
Eiweiß- und Fettzufuhr und auf eisen¬
haltige Nahrungsmittel Wert zu legen, in
erster Linie grüne Gemüse und Obst,
dann Fleisch, Blut und Leber. Milch
kommt nur während des Krieges in Er¬
mangelung von Fleisch, Butter und Käse
in Betracht. — Die Ernährung der ali¬
mentären Anämien forderte bisher eisen¬
haltige Nahrungsmittel, ohne den Milch-
9. Hefe
Therapie der"Gegenwart. Anzeigen.
1917
X\S'"'"" WVN ' V,X
THEOPirailN
1,3 -
Dimethylxanthln
11 f# 1 I fl •11* . I i/iu.uH;iAommu
Wirksamstes und billigstes
DIURETIKUM
besonders empfehlenswert in Form des leichtlöslichen Theophyllin, natr. acei„
Das Theophyllin ist an Wirkungsstärke allen neueren Diureticis, wieCoffein, Theobromin usw., über¬
legen. Trotz seiner schon lange zurückliegenden Einführung in den Arzneischatz hat das Präparat,das
1910 i.Deutschen Arzneibuch Aufnahme fand, erst in letzter Zeit die ihm zustehende Anerkennung u. da¬
mit ausgedeh ntere Verwendung erhalten; die früher hier u nd da infolge zu hoher Dosierung gegen seine
Verwendungentstandenen Vorurteilesinddurch erprobte Vorschriften f.d. Dosierungu. Darreichungs¬
weise, bei denen jedeNeben Wirkung vermieden wird, endgültig beseitigt (vgl.z.B.Romberg l ,.M.M.W/“Nr.39,1908).
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C. F. BOEHRINGER & SOEHNE
MANNHEIM-WALDHOF
NARCOPHIN
Narco tin -Mo rphin. -Mehort af
ersetzt nach den Forschungen
Wßr von Straub die Gesamtalkaloide des Opiums.
y Das Narcophin hat sich besonders bewährt in der
Gynäkologie und Geburtshilfe 4
zur Linderung schmerzhafter Zustände (Wehenschmerz), als Schlafmittel sowie als vor¬
bereitendes Narkotikum in Kombination mit Scopolamin zur Erzielung eines Dämmerschlafs.
Dosierung
Die Dosierung des Narcophins gehl im allgemeinen
dem Morphingehalt parallel, doch kommt man bei
der internen Anwendung meist mit viel geringeren
Mengen aus. -20 Tropfen einer 3 Ü /Ü igen Narcophin-
lösung oder 2 Tabletten entsprechen ca. 1 cg (ge¬
nauer 0,0085 g) Morph, hydrochloricum. Zur
subkutanen Injektion' werden 0,03 g Narcophin
(== 1 Ampulle) angewandt; über die .Dosierung
beim Scopolamin-Dämmerschlaf vgl. die Literatur.
---.—Vorzüge-----
gegenüber anderen Opiaten: einheitliche
chemische Zusammensetzung, Vermeidung un¬
nötiger Ballaststoffe
gegenüber dem Morphium: länger
dauernde narkotische Wirkung, Schonung des
Atemzentrums, Wegfall bzw. selteneres Auf¬
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Cheyne - Stokes’sches Atmen, Cyanose ’ usw.
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^ C. F. BOEHRINGER & SOEHNE^
Hl^ MANNHEIM-WALDHOF
Therapie der Gegenwart. Anzeigen.
9. Heft
ORMICET
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| Name gesetzlich geschützt |
| Ameisensaures Tonerdepräparat
1 von konstantem Wirkungswert 1
| Hohe adstringierende, entzündungshemmende Wirkung |
| Keine Säureabspaltung, daher |
| keine Reizerscheinungen |
| Anwendungsgebiet: Wundbehandlung, Spülungen, Umschläge, gurgeln |
| ^ Billiger als essigsaure Tonerde |
| Zugelassen von den Krankenkassen u. a. von der Zentral- |
| kommission der Krankenkassen Berlins und der Vororte |
| Zu haben in Apotheken und Drogerien * Proben und Literatur kostenlos |
| Chemische Fabrik vormals Goldenberg, Geromont & Co., Winkel im Rheingau |
TiliiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiMiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiT
Im Verlage Urban & Schwarzenberg inBerlin u. Wien erschien soeben:
der Hosen- und Darmkrankheiten
Von
Dr. Bmmo Schlesinger
' Spezialarzt für Magen- und Darmkrankheiten in Berlin
Mit 420 Textabbildungen und 8 Tafeln
Preis: M 15,
K 18,— geheftet; M 17,50 = K 21,— gebunden
Verfasser beabsichtigt, in seinem Buch die Ergiebigkeit der röntgenologischen Unter¬
suchungsmethoden im Dienste der klinischen Diagnose der Magen- und Darmkrank¬
heiten wiederzugeben, zugleich die Grenzen, die ihrer Kunst gesetzt sind, scharf und
unzweideutig zu ziehen. Die Ausführungen beruhen auf vielen Tausenden Unter¬
suchungen, die zumal während der Kriegszeit einen besonders großen Umfang ange¬
nommen haben. Das Buch soll dem Anfänger ein zuverlässiger Führer, dem Vor¬
geschrittenen, sei er Röntgenologe, Praktiker, Interner oder Chirurg, in einzelnen
Fragen ein Förderer sein und dem wissenschaftlich Arbeitenden die Lücken zeigen,
die für weitere Forschungen offenstehen.
18
September
Die Therapie der Gegenwart 1917»
341
verbrauch herabzusetzen. Es ist not¬
wendig, die Milch bis auf 100 g pro Tag
herabzusetzen und den Bedarf an Eisen
durch gemischte Kost zu decken. Schon
mit Beginn des zweiten Lebensjahres
sollen die Kinder Fleisch und Wurst
haben, die Eisentherapie hat keinen Er¬
folg, der gute Erfolg der starken Milch¬
reduktion liegt teils in der Entziehung
schädlicher Bestandteile (Fett), teils im
Ersatz der fast eisenfreien Milch durch
eisenhaltige Nahrung. — Die Form der
Anämie, bei der die Eisentherapie in
Kombination mit Ruhe und Schwitzkur
Erfolg hat, ist die Chlorose. Das Eisen
wirkt günstig auf die gestörte Blutbildung,
Ruhe schont das stark überlastete Herz,
schweißtreibende Einpackungen jeden
zweiten Tag setzen den Wassergehalt des
Körpers herab. Die Ernährung ist nicht
anders, wie bei anderen Anämien, Milch¬
zufuhr und andere Getränke sind mög¬
lichst zu beschränken. E. Benecke.
(M. Kl. 1917, Nr; 13.)
Therapeutischer Meinungsaustausch.
Aus dem Stadt. Krankenhaus Moabit in Berlin, II. med. Abteilung- (Prof. W. Zinn).
Gallensteinbehandlung mit Agobilin.
Von Dr. J. v. Roznowski.
Noch immer kennt die Medizin kein
als wirksam, erprobtes Gallensteinmittel.
Im Anfalle haben bisher noch alle speci-
fischen Mittel mehr oder weniger versagt;
die symptomatische Behandlung mit Mor¬
phium, heißen Umschlägen, Abführ¬
mitteln, Diät ist nach wie vor die zu¬
verlässigste und infolgedessen am meisten
anerkannte geblieben. In der anfalls¬
freien Zeit stehen ebenfalls Diät, hygie¬
nische Lebensweise und Badekuren im
Vordergründe der ärztlichen Verhaltungs¬
maßregeln.
Um so mehr ist es Aufgabe der Klinik,
angepriesene Gallensteinmittel immer
wieder zu erproben und auf therapeutische
Gedanken einzugehen, die eine Verbesse¬
rung vorhandener Mittel zu versprechen
scheinen.
Agobilin, als Medikament gegen Er¬
krankungen des Gallensystems, besonders
in den Anfangsstadien, und als Prophy-
laktikum gegen Cholelithiasis-Rezidive
empfohlen und in Mitteilungen von
Runckl), Seiler2) Horn3) als brauch¬
bar bezeichnet, wurde uns von der Che¬
mischen Fabrik Gehe & Co., Aktien-
Gesellschaft Dresden, in verbesserter Form
zu Versuchen angeboten. Nach Dr. Th.
Runcks Angaben war ein neuer Bestand¬
teil den Agobilintabletten hinzugefügt,
nämlich cholsaures Kupfer. Es bestand
dabei die Erwartung, durch das anti¬
septisch wirkende Cuprum cholicum werde
eine Steigerung der Wirkung des bis¬
herigen Agobilins und damit eine Ver¬
besserung des alten Präparats erzielt
werden können; besonders in manchen
Fällen von fieberhafter Cholecystitis, die
sich durch das gewöhnliche Agobilin bis¬
weilen weniger leicht beeinflussen lassen.
Wirhabenim Städtischen Krankenhaus
Moabit in Berlin (II. innere Abteilung)
eine Anzahl von Choielithiasis-Patienten
mit Agobilin cum cuprogeno behandelt.
Der Grundgedanke der Agobilin-The-
rapie ist die Heranziehung der Gallen¬
säuren als kräftig wirkende Cholagoga —
ein Gedanke, den 1896 schon Stadel¬
mann 4) ausgesprochen hat —, wobei die
Steigerung der Gallensekretion an sich
weniger wichtig ist, als vielmehr die Tat¬
sache, daß die Leberzellen außer den
selbst produzierten noch die per os ein¬
geführten Gallensäuren, wenn sie ihren
,,Gallekreislauf im Organismus“: vom
Darm resorbiert — Blut — zur Leber
(nach Stadelmann) zurückgelegt haben,
in die , Galle absondern. Gallensäuren
werden als Lösungsmittel für Cholesterin
angesehen; also wird eine Lösung geeig¬
neter Gallekonkremente bei Erhöhung
des Gehalts der Galle an Gallensäuren
zu erwarten sein.
Das ursprüngliche Agobilin enthält
cholsaures Strontium, salicylsaures Stron¬
tium und Phenolphthaleindiacetat, Stron¬
tium, weil es angeblich mild entzündungs¬
widrig wirkt und gute Lösungsverhält¬
nisse schafft. Die Salicylsäure soll anal-
gesierend wirken. Das Phenolphthalein¬
diacetat hat den Zweck, dem Gallensalze
raschere Bahnen zu den Darmzotten zu
schaffen, also den Kreislauf der Galle zu
erleichtern Werner u. Runne5).
Das Agobilin cum cuprogeno ist zu¬
sammengesetzt aus Strontium cholicum,
Phenolphthaleindiacetat und 0,02 cuprum
cholicum pro Tablette. Es wurde er¬
wartet, die kontinuierliche Kupferaus¬
scheidung der Galle werde so erhöht und
eine innere Antisepsis herbeigeführt wer¬
den können. Das heißt, die bisher schlecht
beeinflußten fiebernden, septischen Fälle
342
September
Die Therapie der Gegenwart 1917.
von Cholelithiasis würden auf Agobilin
cum cuprogeno besser reagieren als auf
das alte Agobilin.
Diese Erwartung wurde durch unsere
Versuche nicht bestätigt Fünfzehn ein¬
fache, nicht fiebernde Fälle von Chole¬
lithiasis. wurden durch Agobilin cum
cuprogeno ebenso beeinflußt wie andere
früher durch Agobilin ohne Kupfer¬
zusatz. Die Anfälle ließen bei manchen
Patienten wohl etwas rascher nach als bei
sonst gleicher Behandlung ohne Agobilin,
andere blieben unbeeinflußt. In der nach
Entlassung aus dem Krankenhause noch
wochen- oder monatelang fortgesetzten,
poliklinisch überwachten Nachbehand¬
lung war die Wirkung eine bessere. Mit
einigen Ausnahmen gaben die Patienten
an, solange Zeit wären sie sonst nicht
ganz frei von Schmerzen gewesen. In
einzelnen Fällen bewirkte die erste und
zweite, auch wohl noch die dritte Dar¬
reichung der (je zwei) Tabletten leichte
Übelkeit, die stets bald vorüberging.
Von acht schweren, fieberhaften Fällen
von Cholelithiasis, die wir beobachten
konnten, reagierten sechs mit starkem
Erbrechen. Die Patienten waren meist
nicht zu bewegen, die Tabletten ein
drittes Mal einzunehmen. Das Eintreten
des Erbrechens war prompt^bis ^Stunde
nach dem Einnehmen zu beobachten;
auch dann, wenn das Medikament nicht
als zerkleinerte Tablette, sondern in
Oblate oder in Schleim zerrührt gegeben
wurde. Nur zwei fieberhafte Cholelithiasis-
patientinnen vertrugen das Agobilin cum
cuprogeno gut.
Die emetische Wirkung des Kupfers
tritt also bei fiebernden Kranken so stark
in den Vordergrund, daß Entfaltung einer
desinfizierenden Wirkung durch Aus¬
scheidung in die Galle gar nicht erst Zu¬
standekommen kann. Fiebernde Kranke
vertragen den Kupferzusatz nicht. Un-
' komplizierte Cholelithiasisfälle ohne
Temperaturerhöhung reagieren ebenso auf
einfaches Agobilin wie auf Agobilin cum
cuprogeno.
Mitteilenswert erscheint noch eine bei
zwei Patientinnen gemachte Beobachtung
(alle unsere Kranken waren Frauen zwi¬
schen 22 und 60 Jahren). Beide kamen
im Gallensteinanfalle mit Fieber ins Kran¬
kenhaus. Sie wurden ""zunächst mit
Calomel behandelt und Agobilin cum
cuprogeno erst nach Abklingen der Tem¬
peraturen gegeben: beide vertrugen es
ohne Erbrechen, klagten nur über leichte
Übelkeit wie viele der Patienten, die, von
Anfang an fieberfrei, sogleich mit Ago¬
bilin cum cuprogeno behandelt wurden.
Der Kupferzusatz bedeutet also nach
unseren Erfahrungen keine Verbesse¬
rung des Mittels. Bei unkomplizierten
Gallensteinerkrankungen und besonders
fltrNachbehandlungnach Anfällen hat sich
das Agobilin in manchen Fällen bewährt.
Lit eratur.
1: Al lg. m. Centr.-Ztg 1913 Nr. 20. — 2. M.
Kl. 1913 Nr. 25. — 3. Zbl. f. d. ges. Th. 1914
Nr. 4. — 4. D. m. W. 1896 Nr. 49. — 5. Pharm.
Zbl. 1913 Nr. 25.
Aus der Klinik und Poliklinik von Prof. Dr. Nagel Berlin.
Über die Anwendung des Secalysatum Bürger in der
gynäkologischen und geburtshilflichen Praxis.
Von T. Schergoff-Berlin.
Das Secalysatum Bürger .ist ein flüs¬
siges, aus Secale cornutum hergestelltes,
dauernd haltbares Präparat mit einem
Zusatze von Oxymethyl-Hydrastinin. Die
Konstitutionsformel dieses Zusatzes lautet:
CH CW
CH :
CH :
N.
CH 8
OH
O.CH (
und ist also mit jener von Kotarnin fast
identisch; das dem Secalysat beigefügte
Oxymethyl-Hydrastinin muß als mitwirk¬
samer Bestandteil angesehen werden,
welcher die Secalewirkung verstärkt. Das
Präparat ist auf die vierfache Stärke der
Droge konzentriert, es ist von konstanter
Wirksamkeit, bekömmlich und hat keinen
unangenehmen Geschmack.
Das Hauptanwendungsgebiet des Se-
calysats sind die atonischen Blutungen
des Uterus sowie alle übrigen Uterus¬
blutungen, die aus den verschiedensten Ur¬
sachen entstehen. Seine Wirkung beruht
hauptsächlich auf der specifischen Be¬
einflussung der Uterusmuskulatur durch
Secale im Sinne einer Contractionserre-
gung der Muskelfasern. Diese Wirkung
ist durch den Zusatz von Oxymethyl-
September
Die Therapie der Gegenwart 1917,
343
Hydrastinin gesteigert, das ebenfalls einen
contractionserregenden Einfluß ausübt.
Der Angriffspunkt liegt sowohl beim Se-
cale cornutum wie beim Oxymethyl-
Hydrastinin peripher. Über eine speci-
fische Wirkung des Präparats auf die
Gefäße läßt sich noch nichts Bestimmtes
sagen. Prof. Loewy, der Versuche über
die Wirkung des Secalysats bei Tieren
angestellt hat, gibt an, daß sicher nach¬
weisbare Wirkungen auf die Gefäßmusku¬
latur nicht festzustellen waren.
Die Anwendung des Secalysats ge¬
schieht sowohl per os wie subcutan.
Man wendet therapeutisch die Original¬
packung (ä 10 g = 2 M.) oder die Kassen¬
packung (ä 5 g = 1,15 M.) an und ver¬
ordnet mehrmals täglich 10—15 Tropfen.
Für subcutane Injektionen benutzt man
Ampullen zu 1 ccm (drei. Stück = 1,25 M.,
sechs Stück = 2,25 M.) und injiziert 1 ccm
pro Dose.
Ich habe im Laufe eines Jahres
200 gynäkologische und geburtshilfliche
Fälle mit Secalysat behandelt und zwar
bei Hypermenorrhoe (im Klimakterium
oder infolge Anämie), mangelhaften Con-
tractionen post abortum oder nach Entbin¬
dungen, menstruellen Störungen verschie¬
denster Art. Ich habe bei subcutanen In¬
jektionen nie Infiltrate beobachtet. Bei
sehr empfindlichen Patientinnen habe ich
das Secalysat + N'+ S (Secalysat 4 No¬
vokain -f- Suprarenin) angewandt. Durch
den Novokainzusatz wird der übliche
Secalenachschmerz verhindert, 1 durch das
Suprarenin, welchem bekanntlich auch
eine contractionserregende Wirkung zu¬
kommt, wird Gefäßverengung und da¬
durch verstärkte Anästhesierung herbei¬
geführt.
Die guten therapeutischen Wirkungen
des Secalysats lassen sich am besten an
einigen Krankengeschichten demon¬
strieren.
1. Fall. Frau E. M., 33 Jahre alt, Anteversio
uteri, Uterus nicht vergrößert, rechts eigroßer
Adnextumor. Patientin blutet stark seit fünf
Monaten. Ist bei uns wegen der Blutung cürettiert
worden, doch hat die Blutung nicht nachgelassen.
Patientin erhielt in Abständen von zwei Tagen je
1 ccm Secalysat subcutan und außerdem drei Mal
tägl. 15. Tropfen Secalysat. Nach der dritten
Spritze hat die Blutung aufgehört. Patientin wurde
hierauf vier Monate von mir beobachtet, die
Blutung ist in dieser Zeit nicht wieder aufgetreten,
der Adnextumor ist abgeschwollen, Menses verlauf en
normal.
2. Fall. Frau E. A., 32 Jahre alt, Anteversio
uteri, Uterus etwas vergrößert, hart. Blutet seit
sechs Monaten. Ist bevor sie zu uns in Behandlung
kam, zwei Mal cürrettiert worden, die Blutung hat
aber nicht aufgehört. Patientin erhielt in Abständen
von zwei Tagen je 1 ccm Secalysat subcutan. Nach
der dritten Spritze hat die Blutung aufgehört und
ist im Laufe von fünf Monaten nicht wieder auf¬
getreten, die Menses verlaufen jetzt normal.
3. Fall. Frl. A. Sch., 22 Jahre alt, klagt über
sehr starke Menses, die sieben bis acht Tage dauern.
Hymen intakt. Injektion von 1 ccm Secalysat
während der Menstruation, nach zwei Tagen
Wiederholung von 1 ccm. Die erste Menstruation
verlief weniger profus, Dauer nur vier bis fünf Tage.
Die nachfolgenden Menses Verläufe normal.
4. Fall. Frau A. G., 27 Jahre alt, Abortus im-
perfectus, wird von uns cürettiert, starke atonische
Nachblutung. Nach Injection von 1 ccm Secalysat
contrahiert sich der Uterus gut.
5. Fall. Frau M. D., 25 Jahre alt, hat vor
neun Monaten abortiert. > Anteversio uteri, links
apfelgroßer Adnextumor. Menses dauern acht bis
zehn Tage, sind sehr stark und schmerzhaft. In¬
jektion von je 1 ccm Secalysat in Abständen von
zwei Tagen. Wiederholung der Injektion während
der nächsten Menses. Die dritte Menstruation ver¬
läuft nicht mehr so stark, die nächsten normal, der
Adnextumor ist kleiner geworden.
Einige geburtshilfliche Fälle, von Prof.
Nagel selbst beobachtet:
1. Fall. Frau C., 26 Jahre alt, I-para, letzte
Menses Ende Dezember. Beckenmaß 26%, 24%,
30, 19. Wehenbeginn 5. September 1916. Am
5., 6. und 7. September Wehen schwach, der Kopf
tritt langsam tiefer, Muttermund erweitert sich
ganz allmählich. Blasensprung am 8. September
morgens 4 Uhr, Muttermund vollkommen erweitert,
Kopf im Beckenausgange, II. Schädellage, Abgang
von Meconium. Achsenzugzange. Lebendes 9>
Gew. 3250 g, Länge 50 cm. Kein Dammriß. Pla-
centaauf Cred6. Einspritzung von Secalysat. Uterus
gut kontrahiert. Blutiger Wochenfluß hielt trotz
Stillens in der zweiten Woche an. Auf Secalysat
(drei Mal täglich 15 Tropfen) steht die Blutung.
Wochenbett normal.
2. Fall. Frau M., 20 Jahre alt, I-para. Letzte
Menses 11. Dezember 1915. Beckenmaße: 25, 28,
33, 22. Wehenbeginn 28. September nachmittags,
gleichzeitig Blasensprung. Muttermund für Finger¬
huppe durchgängig. 29. September 4 Uhr morgens
Muttermund vollkommen erweitert, Kopf im
Beckenausgange, I. Schädellage. Wehen lassen nach
und bessern sich nicht auf Pituglandol. Kindliche
Herztöne frequent (160 bis 1.80) Schabend. Achsen¬
zugzange. Lebendes 9» Gewicht 4080 g, Länge
55 cm. Nabelschnur sehr, kurz und dünn. Placenta
auf Credö, großer retroplacentarer Bluterguß. Naht
der rechtsseitigen seitlichen Incision und eines ober¬
flächlichen Dammrisses mit Silkwormgut. Nach
Secalysat und Reiben des Fundus kontrahiert sich
der Uterus gut. Wochenbett normal.
3. Fall. Frau G., 25 Jahre alt. II-para. Letzte
Menses 13. Janüar 1916. Beekenmaße: 26, 30,
32, 20. Nach zweijähriger steriler Ehe nach Djs-
cision crific extern und Dilat. cerv. (Prof. Nagel).
Hierauf Conception (Ein Kind am 9. September 1914
geboren). Wehenbeginn 30. Oktober früh, Wehen
steigen sich allmählich. Nachmittags 5 Uhr Mutter¬
mund vollkommen erweitert, Kopf tief im Becken.
I. Schädellage. Blase springt erst beim Einschneiden
des Kopfes. Unter leichter Chloroformnarkose
wird das Kind um 6 Uhr spontan geboren. Pla¬
centa auf Cred6. Oberflächlicher Dammriß mit
einer Silkwormgutnaht vereinigt. Secalysat. sub¬
cutan Uterus gut kontrahiert. Wochenbett normal.
4. Fall. Frau L., 25 Jahre alt. I-para.
Letzte Menses 23. Januar 1916. Beckenmaße: 25,
344
Die. Therapie der Gegenwart 1917.
September
26*4, 30, 18. Wehenbeginn 6. November 1916 mor¬
gens. Blasensprung abends 7 Uhr bei handteller¬
großem Muttermunde. Kopf tief im Becken. I. Schä¬
dellage. Wehen lassen nach, werden aber sehr
schmerzhaft. Kreisende wird sehr unruhig, legt
sich bei jeder Wehe auf dem Bauch oder in Knie¬
ellenbogenlage. Hierbei dreht sich Hinterhaupt
nach links hinten, während es zu Anfang der Ge¬
burt links vorn stand. 12 Uhr nachts: Achsen-
zugzange, wobei Kopf in Vorderhauptlage ent¬
wickelt wird. Lebendes 2- Placenta auf Cred6.
Dammriß II. Grades wird Silkwormgut vernäht.
Secalysat subcutan. Wochenbett normal.
Wie aus den demonstrierten Fällen
zu ersehen ist, ist das Secalysat .stets mit
bestem therapeutischen Erfolg ange¬
wandt worden; ähnliche Erfolge wurden
auch von anderen Kollegen bestätigt, die
es in ihrer Praxis angewandt haben, so
daß die Secalysatanwendung bei indi¬
zierten Fällen empfohlen werden kann.
Literatur: Therapie der Gegenwart Februar
1913 Heft 2. — Med. Kl. 1916,44. — D. m. W. 1913,
33. — Zbl. f. Gyn. 1917, 19.
Zur Therapie *der Phimose.
Von San.-Rat Dr. Karl Gerson-Schlachtensee b. Berlin.
Es gibt Fälle von Phimose, deren Ur¬
sache nur in einem einschnürenden Ringe
-der Vorhaut besteht. Diese Fälle erkennt
man daran, daß man den einschnürenden
Ring wie einen Strang vom Membrum mit
Daumen und Zeigefinger abheben kann.
Er findet sich im centralen Präputial-
abschnitte, öfter bei Erwachsenen als bei
Kindern und meist als Folge eines ent¬
zündlichen Prozesses der Vorhaut nach
Gonorrhöe, Balanopostitis infolge man¬
gelnder Reinlichkeit und nach sklero-
sierenden Narben. Der einschnürende
Ring fühlt sich derb elastisch an und
macht weniger das Zurückziehen des Prä¬
putium als das Vorziehen über die Glans
schwierig und schmerzhaft. In manchen
Fällen kommt man hier ohne Operation
zum Ziele. Kommt der Patient mit zurück¬
gestreiftem Präputium zum Arzte, und
klagt über die Unmöglichkeit, es über die
geschwollene Glans vorzuziehen, so ver¬
ordnet man ihm zunächst für zwei Tage
lauwarme Kamillenbäder, tagsüber mehr¬
mals eine Viertelstunde zu nehmen, und
läßt das Membrum in einem Teufelschen
Suspensorium eleviert tragen. Nach zwei
Tagen versucht der Arzt die Vorhaut
über die Glans zu streifen: Während
beide Daumen die Glans nach dem Leibe
«des Patienten zu drücken, ziehen die
übrigen Finger beider Hände die Vorhaut
langsam nach vorn, wobei schließlich auch
meist der einschnürende Ring über die
Glans gleitet. Der Patient muß nun das
Vor- und Zurückziehen des Präputiums
selbst erlernen und vor allem angehalten
werden, jeden Morgen eine gründliche
Seifenwaschung der Glans und des zu¬
rückgestreiften Präputiums mit nach¬
folgender Puderung vorzunehmen. Denn
die meisten Phimosen und Paraphimosen
■entstehen außer den bereits angeführten
ätiologischen Momenten bei congenital
enger Vorhaut durch mangelnde Rein¬
lichkeit, indem bei großer Sommer¬
hitze das reichlicher gebildete Sebum
zwischen Glans und Präputium sich staut
und beide entzündet. SMan ist oft er¬
staunt, selbst junge Leute aus den besten
Kreisen in der Reinhaltung ihres Membrum
ganz unerfahren zu finden.
Erweist sich in der Folgezeit trotz der
befolgten Maßnahmen die Verengerung
der Vorhaut so hochgradig, daß sie Erek¬
tion und Coitus behindert und schmerz¬
haft macht, so ist eine Operation nicht zu
umgehen. In allen Fällen von Phimose,
wo die Verengerung der Vorhaut sich
nicht flächenhaft ausdehnt, sondern auf
einen schmalen circulären Streifen oder
einschnürenden Ring sich beschränkt, er¬
scheint folgendes Verfahren sehr einfach:
Ohne das Präputium vorher zu¬
rückzuziehen, umgreift man mit lin¬
kem Dauifien und Zeigefinger den ein¬
schnürenden Ring des Präputiums, hebt
ihn vom Dorsum des Membrum ab
und schneidet ihn mit einem Sche¬
renschlage durch. Ob der einschnü¬
rende Ring ganz durchtrennt ist, merkt
man daran, daß sich das Präputium nun¬
mehr über der Glans leicht vor- und zu¬
rückziehen läßt. Anderenfalls wird der
Schnitt nach oben und unten mit der
Schere noch etwas erweitert. Je breiter
der einschnürende Ring ist, um so länger
muß natürlich der Schnitt ausfallen. Die
Schnittwunde stellt sich infolge der Ent¬
spannung naturgemäß in qtiere Richtung
und wird in dieser vernäht. Das kosme¬
tische Resultat ist ausgezeichnet, weil der
äußere Rand des Präputiums unversehrt
bleibt. Zu dieser Operation braucht man
nur eine nicht zu schmale Schere mit abge¬
flachter, stumpfer Spitze, Nadel und Faden.
Anästhesierung mittels Äthylchlorid ist
nur bei empfindlichen Leuten erforderlich.
'Für die Redaktion verantwortlich Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer in Berlin. Verlag von Urban&Schwarzenberg
in Berlin und Wien. Gedruckt bei Julius Sittenfeld, Hofbuchdrucker., in Berlin W8.
Die Therapie der Gegenwart
herausgegeben von
58 . Jahrgang Geh. Med.-Rat Prof. Dr.G. Klemperer
Neueste Folge. XlX.Jahrg. BERLIN
W 62 , Kleiststraße 2
10. Heft
Oktober 1917
Verlag von URBAN & SCHWARZENBERG in Berlin N 24 und WienI
Die Therapie der Gegenwart erscheint zu Anfang jedes Monats. Abonnementspreis für den
Jahrgang 10 Mark, in Österreich-Ungarn 12 Kronen, Ausland 14 Mark. Einzelne Hefte je 1,50 Mark
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läßt man die Suprareninlösung 1:1000
in ihren Originalgläsern u. verwendet
die kleinen Abfüllungen in
Originalflaschen zii 5 ccm, = 0.70 M.
. Originalröhrchen:
20 Tabletten zu 0,001 g = 2.40 M.
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- Dieses Heft enthält Prospekte folgender Firmen: —— --—r—
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Die Therapie der Gegenwart
1917
herausgegeben von Geh. Med.-Rat Prof. Dr, G. Klemperer
in Berlin.
Oktober
Nachdruck verboten.
Aus der Kinderklinik der Universität Straßburg i. E.
Über kombinierte Neosalvarsan-Quecksilberbehandlung
der congenitalen Lues.
Von Privatdozent Dr. S. Samelson, zurzeit im Felde.
Die Methode der Behandlung der con¬
genitalen Lues vor der Entdeckung des
Salvarsans war durchaus bewährt. Sei
es, daß man intern mit Kalomel oderJod-
quecksilber behandelte, sei es, daß man
Spritzkuren mit Sublimat oder Kalomel
machte, es gelang, die Erscheinungen zur
Rückbildung zu bringen und dauernd fern¬
zuhalten mit Ausnahme der allerdings
häufigen ganz schweren Fälle, in denen
die anatomischen Veränderungen nament¬
lich der visceralen Organe so schwer¬
wiegender Natur waren, daß eine Wieder¬
herstellung der zur Erhaltung des Lebens
notwendigen Funktionen nicht mehr mög¬
lich war. Diese Umstände erklären es,
daß man nur zögernd daran ging, das von
Ehrlich mit so großem Erfolg in die
Therapie der Syphilis eingeführte Sal-
varsan auch bei congenitaler Lues aus¬
zuprobieren, um so mehr als Ehrlich
■selbst die Wirkung der plötzlich in so
großer Menge freiwerdenden Endotoxine
der abgetöteten Spirochäten auf den
jugendlichen Organismus fürchtete.
Begnügte man sich daher zunächst
damit, bei von der Mutter gestillten lueti¬
schen Säuglingen die Mutter mit Salvarsan
zu behandeln und auf dem Wege der die
Salvarsanwirkung tragenden mütterlichen
Milch eine Einwirkung auf die luetischen
Erscheinungen des Kindes zu versuchen,
so sah man sich doch schließlich ange¬
sichts der unsicheren Erfolge dieser Me¬
thode veranlaßt, das Mittel auch bei Kin¬
dern direkt anzuwenden.
Die zahlreichen Beobachtungen, die
nun publiziert wurden, hat Weide in
einem Sammelreferat kritisch beleuchtet,
wobei er zu folgendem Schlüsse kam:
„Auch im Kindes- speziell Säuglingsalter
sind in jüngster Zeit schon recht beach¬
tenswerte Erfolge mit Salvarsan bei con¬
genitaler Lues erzielt worden. Die an¬
fänglichen Mißerfolge sind in ihren Ur¬
sachen zu wenig studiert und wohl weni¬
ger dem Medikament selber als der feh¬
lenden Erfahrung in Dosierung usw. zuzu¬
schreiben. Eine kritische Würdigung des
einzelnen Falles und somit auch des Ge¬
samtmateriales erscheint nun zurzeit noch
nicht möglich und mag an der Hand dieser
Notizen dem Leser selbst überlassen blei¬
ben. Hoffentlich trägt dieser Überblick
dazu bei, das Interesse mehr als bisher
auf dieses nicht undankbare Feld zu
lenken.“
Waren bis dahin im allgemeinen nur
Einzelbeobachtungen publiziert worden,
so sind seitdem mehrere Arbeiten erschie¬
nen, die sich mit der Salvarsanbehand-
lung der congenitalen Lues in systemati¬
scher Weise befassen (Weide, Noegge¬
rath, Dünzelmann, Erich Müller)
und die uns eine genauere Beurteilung der
neuen Therapie und einen Vergleich ihrer
Leistungen mit denen der alten Queck¬
silberbehandlung gestatten, die ja, wie
gesagt, nach langjähriger Erfahrung in
den überhaupt beeinflußbaren Fällen gün¬
stige Erfolge aufzuweisen hat.
Weide hat 28 Säuglinge und 6 ältere
Kinder, bei denen allen die Diagnose Lues
congenita klinisch zu stellen und durch die
Wassermannsche Reaktion zu sichern
war, der Salvarsanbehandlung unter¬
zogen. Die Methodik bestand zunächst in
subcutaner Einverleibung in Altscher
Lösung, einige Male in Ölsuspension, wobei
fast regelmäßig Infiltrate und Nekrosen¬
bildung an der Injektionsstelle auftraten,
die erst nach Wochen und Monaten wie¬
der abheilten. Nicht so hochgradige In¬
filtrate und Hautnekrosen rief die intra¬
muskuläre Injektion in die Glutäen her¬
vor, sodaß Weide schließlich zu dem
Versuch überging, nach Noeggerath
intravenös in die durch Fingerdruck etwas
gestauten Schädelvenen zu injizieren.
Dies gelang aber nur in der Hälfte der
Fälle, während es sich bei Kindern mit
kleinen nicht deutlich hervortretenden
Kopfvenen nicht ermöglichen ließ. Die
injizierte Menge betrug zunächst unge¬
fähr 0,01 g Altsalvarsan pro Kilo Körper¬
gewicht, später wurden 0,1 g pro Säugling
44
346
Die Therapie der Gegenwart- 1917.
Oktober
gegeben. Im allgemeinen wurde nur
einmal injiziert, Jn einzelnen Fällen aber
zwei- bis dreimal. Im Anschluß an die
Einspritzung wurde meist eine Tempera¬
tursteigerung beobachtet, es trat in eini¬
gen Fällen Erbrechen, in anderen Appetit¬
losigkeit und Durchfall ein. Die Erfolge
waren in bezug auf Besserung des All¬
gemeinbefindens und besonders der Haut¬
erscheinungen befriedigend, andere lueti¬
schen Symptome, wie Milz- und" Leber¬
schwellung, Parrotsche Lähmung wur¬
den nicht immer beeinflußt, der Wasser¬
mann blieb positiv. Von den behandelten
Kindern sind mehrere ein bis sieben
Wochen nach der Injektion gestorben.
Weit intensiver hat Noeggerath
28 Säuglinge mit Salvarsan behandelt.
Sein Material zeigt die ganze Mannig¬
faltigkeit congenital luetischer Erschei¬
nungen, aber die schwere viscerale Form
ist darunter nicht vertreten. Auch hier
wurden nach der zunächst angewandten
intramuskulären Einverleibung des Me¬
dikaments stets große und schmerzhafte
Infiltrate und Nekrosen beobachtet. Da¬
her ging Noeggerath zu der schon er¬
wähnten intravenösen Injektion in die
Schädelvene über, die ihm nur ausnahms¬
weise mißglückt ist. Die Dosierung be¬
trug 8 mg pro Kilogramm Körpergewicht,
später weniger. Es wurden meist mehrere
Injektionen in kürzeren und längeren
Intervallen gemacht Als unmittelbare
Folgen der Einspritzung zeigten sich auch
hier Erbrechen und Durchfall, Fieber da¬
gegen nur bei intramuskulärer Injektion,
bei intravenöser subfebrile oder normale
Temperaturen. Der Heilerfolg war ein
guter bis auf zwei Kinder, die starben.
Überraschend schnell verschwanden die
Hauterscheinungen, wurde das Kolorit
besser, weniger schnell war die Wirkung
auf Parrotsche Lähmung, Hydrocepha-
lus usw. Der Wassermann wurde einige
Male für längere Zeit negativ. Rezidive
traten in der Beobachtungszeit achtmal
auf. In einer nicht geringen Zahl der Fälle
schloß sich an die erste kräftige Heilungs¬
tendenz zeigende Zeit eine zweite am
8. bis 19. Tage beginnende ,,kritische“
Phase an, die eine bis sieben Wochen
dauert und die durch das Auftreten
von nicht ungefährlichen Ernährungs-'
Störungen sowie von infektiösen Prozessen,
wie Furunkulose, Sepsis, Otitis usw.,
charakterisiert ist.
Dünzelmann hat 29 Fälle mit Sal¬
varsan und 11 Fälle mit Neosalvarsan be¬
handelt, alle mit wenigen Ausnahmen in¬
travenös in die Schädelvenen, wobei aller¬
dings einigemal, wenn etwas von der
Salvarsanlösung neben die Vene floß, üble,
monatelang bestehenbleibende Infiltrate
entstanden. Beim Neosalvarsan waren die
Infiltrate nicht so hochgradig. Die Dosis
betrug nicht weniger als 0,1 g pro Kind
und bis 0,635 in fünf Injektionen, bei
Neosalvarsan bis 0,2 pro dosis. Die be¬
handelten Kinder waren meist in kümmer¬
lichem Ernährungszustände. Nach der
Injektion wurde fast immer auffallende
Appetitlosigkeit, Unlust, Schläfrigkeit und
Mattigkeit beobachtet. Es traten oft Er¬
brechen und schleimige Stühle auf. Fieber
wurde oft gesehen, doch waren bei den
späteren Fällen bei peinlichster Vermei¬
dung von verunreinigtem Wasser als Sal-
varsanlösungsmittel Temperatursteige¬
rungen und Nebenerscheinungen geringer.
Was die Wirkung des Salvarsans auf die
luetischen Symptome anlangt, so zeigte
sich auch hier ein auffallend schnelles,
oft stürmisches Zurücktreten der Haut¬
erscheinungen; der Turgor hob sich, die
Gesichtsfarbe wurde besser. Der Einfluß
auf den Ernährungszustand war nicht
hervorragend; die Gewichtskurven.blieben
lange Zeit horizontal, wobei Infektionen
und Komplikationen von seiten des Re-
spirationstraktus, Furunkulose usw. eine
Rolle spielten. Von den 40 Kindern star¬
ben 14. Der Wassermann wurde nur in
einigen Fällen negativ. Rezidive wurden
viermal beobachtet.
Wenn wir uns nun die Resultate der
vorstehend skizzierten Arbeiten betrach¬
ten, so wird man wohl Weide recht geben
müssen, wenn er in Zusammenfassung der
von ihm gezeitigten Ergebnisse sagt:
,,daß wir mit der Salvarsantherapie zwar
recht gute Erfolge gehabt haben, daß
diese Erfolge aber denen der früheren Hg-
oder Jodbehandlung nicht überlegen
waren“.
Tatsächlich vermochte die beschrie¬
bene Art der Salvarsantherapie kein
dauerndes Umschlagen des Wassermann
zu bewirken; auch bei ihr traten Rezidive
auf und man muß mancherlei Nachteil
mit in Kauf nehmen. Die Störungen des
Allgemeinbefindens, die in vielen Fällen
nach der Injektion eintreten, sind bei den
schwächlichen Kindern keineswegs als
gleichgültig aufzufassen, ebenso wie die
Injektionen, die Noeggerath und
Dünzelmann im Verlaufe der Behand¬
lung gesehen haben und die auf ein
dauerndes Darniederliegen der Immunität
schließen lassen und die Ernährungs-
Oktober
Die Therapie der Gegenwart 1917.
347
erfolge, die einen wertvollen Maßstab für
die Wirksamkeit einer antilueti'schen Kur
darstellen, waren bei Dünzelmann nur
in einem sehr kleinen Teil der Fälle gut;
bei Noeggerath sind sie allerdings bes¬
ser, während sich die Verhältnisse bei
Weide nach den kurzen Angaben nicht
genügend überblicken lassen.
Allem diesem gegenüber steht nun
allerdings als großer Vorteil der Sal-
varsanwirkung das überraschend schnelle
Verschwinden der Symptome, wie man
es mit Quecksilber nicht erreichen kann.
Es lag daher nahe, die günstigen Eigen¬
schaften beider Behandlungsarten aus¬
zunützen und sie zu kombinieren, wie
dies bei der Lues aequisita ja von vielen
Seiten geschieht.
Schon Weide hat in einigen Fällen
gute Erfolge gesehen, in denen er neben
Salvarsan Protojoduret gab. Ein äußerst
interessanter Fall von kombinierter Be¬
handlung, bei dem bei einem mit Queck¬
silber vorbehandelten Kinde eine ein¬
malige Injektion von Salvarsan dauernde
Heilung mit Negativwerden des Wasser¬
mann brachte, findet sich bei Noeg-
gerath. Ebenso hat Dünzelmann in
seinen letztbehandelten Fällen die Sal-
varsanwirkung mit Quecksilber zu unter¬
stützen gesucht und glaubt, daß die kom¬
binierte Behandlung mehr leistet als die
alleinige Salvarsantherapie. Erich
Müller hat Kuren, die aus zwölf Kalomel-
und acht Neosalvarsaninjektionen be¬
stehen, die im Verlaufe von drei Monaten
appliziert werden, eingeführt und damit
Dauerheilungen erreicht.
Wir haben an unserer Klinik die rasche
Wirkung des Salvarsans dazu verwandt,
um die Symptome am Anfang der Kur
durch ein- oder zweimalige Injektion
schnell zum Verschwinden zu bringen
und dann die eigentliche Heilung dem
Quecksilber überlassen.
Von vornherein haben wir nur Neo-
salvarsan verwendet, dessen Vorteil der
leichten Löslichkeit die von manchen
Seiten behaupteten Nachteile der weniger
starken Wirksamkeit aufhebt.
Da es sich für uns darum handelte, eine
auch außerhalb der Klinik für die Allge-
meinpraxis brauchbare Behandlungs¬
methode auszuprobieren, haben wir von
der oft, wie wir sahen, unüberwindlichen
Schwierigkeiten ausgesetzten intravenösen
Injektion, die zudem geschulte Assistenz
voraussetzt, und gegen die sich neuer 7
dings Baginsky aus prinzipiellen Grün¬
den scharf gewandt hat, abgesehen und
sind zu der intraglutäalen Injektion
(Kern) zurückgekehrt, nachdem es sich
herausgestellt hatte, daß die manchmal
auch hierbei entstehenden Infiltrate wenig
schmerzhaft sind und in kurzer Zeit
zurückgebildet werden. Das hatte ja auch
schon Dünzelmann bei den Infiltraten
gesehen, die sich bei intravenöser Injek¬
tion bildeten, wenn etwas von der Neo-
salvarsanlösung neben die Vene floß. Nur
bei den älteren Kindern mit gut ent¬
wickelten Armvenen haben wir öfter
intravenös injiziert.
Die injizierte Menge betrug bei Säug¬
lingen meist 0,15 g = Dosis I, bei sehr
schwachen Kindern gelegentlich nur die
Hälfte. Bei den älteren Kindern wurde
0,3 und 0,45 g = Dosis II und III ange¬
wandt.
Die spezielle Technik ist sehr einfach.
Als Lösungsmittel diente physiologische
Kochsalzlösung, die jedesmal frisch be¬
reitet und sterilisiert aus der Kranken¬
hausapotheke bezogen wurde und die uns
als zuverlässig von unseren therapeuti¬
schen subcutanen Kochsalzinfusionen bei
Säuglingen her bekannt war, von denen
es ja nach den Untersuchungen über das
sogenannte Kochsalzfieber der Säuglinge
von Samelson, Bendix und Berg¬
mann, Aron und Anderen feststeht, daß
sie ein freies Reagenz auf Keimfreiheit
des Wassers darstellen. Indem wir auf
die Beschaffenheit des Lösungsmittels
den größten Wert legten, haben wir bis
auf die hier und da auftretenden kleinen
Infiltrate nur einmal im Anfänge der Ver¬
suche eine Nekrose und später einen
Absceß bei einem septischen Kinde ge¬
sehen. Das Neosalvarsan wurde in
1—3 ccm Kochsalzlösung gelöst und so¬
fort nach der Lösung in den äußeren
oberen Quadranten der Glutäalmusku-
latur injiziert.
Einige Tage später begann dann die
Quecksilberbehandlung, sei es als intra¬
muskuläre Sublimatinjektion, sei es als
Schmierkur im üblichen Turnus, oder auch
intern als Protojoduret. Im allgemeinen
bevorzugen wir bei den Säuglingen der
kräftigeren Wirkung wegen die Sublimat¬
injektion, die in Mengen von 0,001—0,002
täglich bis zweitägig sechs Wochen lang
gemacht werden. Bei den Fällen von Lues
tarda wurde außerdem zur Unterstützung
der Heilung Jodkalium gegeben. Natür¬
lich müssen diese Kuren oft wiederholt
werden, um eine Dauerheilung zu er¬
zielen, deren Möglichkeit ja neuerdings
44*
348
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Oktober
von Erich Müller auch für die congeni¬
tale Lues nachgewiesen worden ist.
Was das so behandelte Kindermaterial
betrifft, so waren die uns eingelieferten’
Säuglinge meist in erschreckend schlech¬
tem Allgemeinzustande. Mit wenigen Aus¬
nahmen, die einen normalen Ernährungs¬
zustand zeigten, waren die Kinder in
schlechtem Kräfte- und Ernährungszu¬
stände. Dem Alter nach waren sie zu¬
meist in den ersten Lebensmonaten von
zehn Tagen an. Der schlechte Ernäh¬
rungszustand einerseits und die Tatsache
andererseits, daß die von der Infektion
gesetzten anatomischen Veränderungen
zu schwer waren, als daß sie noch re¬
parabel gewesen wären, machen es er¬
klärlich, daß wir eine Reihe von Todes¬
fällen hatten, wie dies auch Dünzel-
mann und Erich Müller angeben, ln
einzelnen Statistiken finden sich ja bis
80 % Todesfälle unter den congenitalen
Luetikern. In einigen unserer Fälle kann
man sich allerdings des Eindruckes einer
direkten Salvarsanschädigung nicht er¬
wehren, wie sie von Dünzelmann ange¬
nommen wird. Aber andererseits sah man
auch in einigen Fällen sich die luetischen
Erscheinungen nach der Salvarsaninjek-
tion bessern, während es nicht gelang, den
Allgemeinzustand zu heben, so daß die
Kinder noch nach Wochen unter der
Quecksilberbehandlung zugrunde gingen.
Die Kinder mit Lues tarda standen im
Alter von zwei bis dreizehn Jahren. Bei
diesen und den mit Erfolg behandelten
Säuglingen waren die Resultate äußerst
befriedigend. Die Kinder zeigten alle die
mannigfachen Erscheinungen der con¬
genitalen Lues; auch viscerale Formen
waren darunter vertreten. In allen Fällen
war die Diagnose schon klinisch zu stellen;
trotzdem wurde sie durch die Wasser-
mannsche oder Dungernsche Reaktion
gesichert. Es hat sich dabei wieder be¬
stätigt, daß die letztere, welche eine mit
käuflichen Reagenzien von jedem Prak¬
tiker selbst anwendbare Vereinfachung
des Wassermann darstellt, auch bei Lues
congenita sehr zuverlässige Resultate gibt,
wie ich diesfrüher schon nachweisen konnte.
Gehen wir nun zur Schilderung'des
Verlaufes der Fälle über, so wäre zunächst
über die unmittelbaren Wirkungen der
Injektion des Neosalvarsans zu sprechen.
Wie wir oben gesehen haben, wurden von
den anderen Autoren Alteration der Tem¬
peratur, der Magendarmtätigkeit und des
Allgemeinbefindens einerseits, lokale Re¬
aktionen andererseits beschrieben.
Was zunächst letztere betrifft, so
haben wir, wie schon oben erwähnt, in
einer kleinen Anzahl von Fällen an der
Injektionsstelle kleine Infiltrate gesehen,
die sich aber als wenig schmerzhaft er¬
wiesen und regelmäßig in kurzer Zeit
völlig resorbiert wurden. Nur einmal kam
es zu einer Nekrose, in einem weiteren
Falle, bei dem eine von eitriger Menin¬
gitis herrührende Sepsis bestand, bildete
sich ein Absceß,
Fieber entstand nur ganz ausnahms¬
weise, abgesehen natürlich von den Fällen,
die bereits vorher Temperaturen zeigten.*
Nekrosen und Temperatursteigerungen
werden sich in Zukunft sicher vermeiden
lassen, wenn einwandfreies und sicher
steriles Wasser als Lösungsmittel des
Neosalvarsans benutzt wird.
Dagegen scheint es auch nach unseren
Erfahrungen, daß eine kurzdauernde
Periode veränderter Magen- und Darm¬
tätigkeit, die sich bei einer Anzahl von
Kindern hach der Neosalvarsaninjektion
durch Erbrechen und vermehrte dünne
Stuhlentleerungen äußerte, nicht immer
zu vermeiden ist. Auch die Trinklust
fand sich öfters in den ersten Stunden
herabgesetzt. Die Mehrzahl der Kinder
überstand aber die Injektion, ohne daß
sich derartige Folgen bemerkbar machten.
Was nun die Beeinflussung der lueti¬
schen Erkrankung durch die Neosalvar¬
saninjektion anlangt, so setzte auch in
unseren Fällen die Rückbildung der Er¬
scheinungen überraschend schnell ein. Oft
schon am Tage nach der Injektion, meist
in den ersten drei Tagen, immer aber nach
sechs bis zehn Tagen waren die luetischen
Papeln verschwunden, an ihrer Stelle
leichte Schuppung der Haut zurück¬
lassend. Schnell besserte sich auch die
vorher so charakteristische Hautfarbe.
Etwas längere Zeit brauchten die Con¬
dylome und die Knochenperiostprozesse,
jedoch wurde z. B. in einem Falle von
Parrotscher Pseudoparalyse schon am
achten Tage der Arm gut bewegt und die
ausgedehnte Perforation des Gaumens bei
einem älteren Kinde heilte in 14 Tagen.
In einem Falle von besonders schweren
Ödemen, die auf starker Leberveränderung
beruhten, verschwanden die Ödeme inner¬
halb von zehn Tagen als ein Zeichen für
die intensive Wirkung auf den Leber¬
prozeß, sodaß das Kind, das mit einem
Gewichte von 7660 g aufgenommen wurde,
am zehnten Tage durch Abgabe der Ödem¬
flüssigkeit nur noch 6720 g wog.
Oktober
Die Therapie der Gegenwart 1917.
349
Die oben charakterisierte sogenannte
,,kritische Phase“, die Noeggerath in
einer Anzahl seiner Fälle als unliebsame
Zugabe zur Salvarsantherapie beschrieben
hat, haben wir nie gesehen. Vielmehr ging
die erste reaktive Phase, von deren gün¬
stigem Verlaufe soeben die Rede war,
direkt in die Rekonvaleszenz oder Latenz
über.
In diesem Augenblick nun, also ein
bis zwei Wochen nach der Neosalvarsan-
injektion, setzte die Quecksilberbehand¬
lung ein, die stets die Symptome, soweit
sie durch die Salvarsanwirkung noch nicht
völlig verschwunden waren, zum völligen
Rückgänge brachte und das Allgemein¬
befinden des Kindes wesentlich besserte.
Das zeigte sich bei den Säuglingen vor
allem in der Mehrzahl der Fälle in der
guten Gewichtszunahme, wie sie z. B. bei
Dünzelmann nur in einer bei weitem
geringeren Zahl von Fällen erreicht wurde,
und die Gewichtskurve ist uns ja ein wert¬
voller Fingerzeig — wenn auch nicht der
einzige — für das Wohlbefinden des Säug¬
lings. Auch das völlige Ausbleiben von
Sekundärinfektionen im Gegensatz zu
den Dünzelmann sehen Fällen beweist
den guten Allgemeinzustand, in den die
vorher oft recht elenden Kinder gebracht
wurden.
Rezidive haben wir bisher nicht ge¬
sehen, jedoch ist zuzugeben, daß ein Teil
der Fälle nicht lange genug beobachtet
werden konnte, da die durch den Krieg
hier geschaffenen Verhältnisse Nachunter¬
suchungen auswärtiger Patienten unmög¬
lich machten.
Waren also nach dem Vorstehenden
unsere Resultate durchaus zufrieden¬
stellend und denen mit alleiniger Salvar-
sanbehandlung zum mindesten gleich¬
stehend, so hat uns doch die kombinierte
Behandlung in zwei Fällen im Stiche ge¬
lassen, die sich gegen Quecksilber re¬
fraktär verhielten, sodaß wir zur alleini¬
gen Salvarsanbehandlung gezwungen
waren. Es handelt sich um zwei Fälle von
Gonitis luetica, von denen der eine noch
durch eine Keratitis parenchymatosa kom¬
pliziert war. Bei beiden versagte das
Quecksilber vollständig, während es ge¬
lang, die Erscheinungen durch wieder¬
holte Salvarsanapplikation zum Schwin¬
den zu bringen. Dabei wird interessanter¬
weise gerade von ophthalmologischer Seite
die Einwirkung des Salvarsans auf die
tiefe Keratitis geleugnet, während in un¬
serem Falle der Erfolg ganz eklatant war.
Abgesehen von derartigen seltenen
Fällen scheint uns aber die von uns in der
beschriebenen Weise angewandte Kom¬
bination von Neosalvarsan und Queck¬
silber ein zuverlässiges Mittel zur Be¬
kämpfung und Heilung der congenitalen
Lues darzustellen.
Narkotische und Schlafmittel bei Kriegsteilnehmern,
Von k. k. Oberarzt Dr. Siegfried Lissau, Abteilungs-Chefarzt in einem Reservespital
(Kommandant Stabsarzt Dr. Tomaschek).
Abgesehen von den Schwerverletzten
und Operierten, deren große Qualen zu
lindern oder zu stillen heute, genau so wie
vor 50 Jahren, fast ausschließlich das
Morphium, besonders in der Form der
Injektion, berufen ist, kommt dem Arzte
im Kriege noch eine ungeheure Anzahl
von leichteren Fällen vor Augen, bei denen
die erste und wichtigste therapeutische
Forderung die ist, Beseitigung von Schmer¬
zen, Beruhigung und Schlaf zu erzielen.
Außer der großen Reihe der Narkotica,
Hypnotica und Sedativa im engeren
Sinne, könnten wir eigentlich jedes
Mittel, welches auf indirektem Wege
Schlaf erzielt, als Schlafmittel ansehen.
Ein Beispiel hierfür bietet die Acetyl¬
salicylsäure als Hauptrepräsentant der
Gruppe „Antirheumatica“, welche fast
durchgehend, ob sie nun Phenacetin,
Salipyrin, Aspirin, Kalmopyrin, oder wie
immer heißen mögen, imstande sind,
durch specifische Wirkung und prompte
Schmerzbeseitigung Schlaf zu bringen und
so als Schlafmittel im weiteren
Sinne gewertet zu werden, wie folgender
Fall zeigt:
Fall 1: Györgö F., 37jähriger Gefreiter in
einem Honved-Regiment, aufgenommen am 12. Ja¬
nuar 1917. Diagnose: Muskelrheumatismus, und
zwar die als Osteopathia infectiosa beschriebene
Tibialgie, die mit ihren oft unerträglichen Schien¬
beinschmerzen, dem davon Betroffenen tatsäch¬
lich jeden Schlaf raubt. Nach 2 g Aspirin pro Tag,
davon 1 g am Abend verabreicht, sofort wesent¬
liches Nachlassen der Schmerzen und ruhiger
•Schlaf, den der Kranke vorher eine Woche ent¬
behren mußte.
Von den Schlafmitteln im engeren
Sinne, so groß auch ihre Zahl im all¬
gemeinen sein mag, können wir jetzt nur
in beschränktem Umfange Gebrauch ma¬
chen. Durch die Kriegsverhältnisse zur
Sparsamkeit, Vereinfachung und Ver¬
billigung gedrängt, müssen wir auf so
manche Spezialität verzichten und uns
350
Die Therapie der Gegenwart 1917.
*
Oktober
mit der einfachen Verschreibweise be¬
scheiden. In einem Merkblatt für Feld¬
unterärzte, betitelt „Die Rezeptur im
Felde“, haben Oberapotheker Dr. W.
Peyer und Oberstabsarzt Dr. Kroner
(Feldärztliche Beilage der M. m. Wschr.
19/16) dasjenige zusammengestellt, was
heute an Heilmitteln die Pharmakopoe
bietet, unter besonderer Berücksichtigung
der militärärztlichen Belange. In diesem
Merkblatte sind als Schlafmittel nurmehr
Chloralhydrat und Veronalersatz (Acid.
diaethyl-barbituric.) angeführt. Es liegt
auf der Hand, daß man gegenüber den
oft so hartnäckigen Formen von Schlaf¬
losigkeit, die ein häufiges Wechseln des
Medikaments und Berücksichtigung von
Nebenumständen (Herz, Verdauungs¬
organe usw.) verlangen, mit diesem Arse¬
nal kein leichtes Auskommen hat.
Um so willkommener war mir die Ge¬
legenheit, zwei neue Medikamente, das
Hypnoticum und Analgeticum
„Phenoval“ (J. D. Riedel A.-G., Berlin-
Britz) und das Herzmittel mit sedativen
Eigenschaften „Digimorval“ (Münche¬
ner Pharmaceutische Fabrik J. Verfürth)
an einer großen Reihe von Fällen er¬
proben und die Serie der mir zur Verfü¬
gung stehenden narkotischen und Schlaf¬
mittel durch sie bereichern zu können.
Ich will gleich vorweg bemerken, daß
jedes dieser beiden Mittel seine besonde¬
ren Indikationen hat und jedes auf seine
besondere Art wirkt, ihre Nebeneinander¬
stellung daher auch nur eine zufällige und
nur durch den ähnlichen Endeffekt —
Schmerzbeseitigung und Schlaf — be¬
dingte ist.
Die Schlaflosigkeit, an welcher der
aus der Front bzw. Krankensammel¬
stelle in das Etappenspital kommende
kranke Krieger leidet, ist nie eine Krank¬
heit für sich, sondern immer nur ein
Symptom und in ätiologischer Hinsicht
ungemein mannigfaltig. Den breitesten
Raum nimmt jene Form ein, der wir als
Agrypnia nervosa auch in Friedenszeiten
oft begegnen. Im Felde spielt sie als Teil¬
erscheinung der psychogenen, funktio¬
nellen und Erschöpfungsneurose eine große
Rolle. Speziell bei diesen letztgenannten
Zuständen hat sich mir das Phenoval
glänzend bewährt.
Phenoval («-Brom-isovaleryl-paraphe-
netidin), also ein dem Brom, der Valeriana
und dem Phenacetin verwandter Stoff,
ist eine chemisch einheitliche Ver¬
bindung und nicht, wie das später zu
besprechende Präparat, eine Komposition
von mehreren Komponenten. Die ge¬
schmacklosen weißen, angenehm zu neh¬
menden Tabletten zu 0,5 g bieten eine
bequeme Verordnungsweise dar.
Über die Genese und die pharmako-
dynamischen Eigenschaften dieses neuen
und interessanten Arzneimittels gibt Pro¬
fessor Bergeil in Berlin in seiner Arbeit
„Über das Phenoval“ (Med. Klin. 1914,
Nr. 4) erschöpfenden Aufschluß. Er sagt
dort: „Ist der neue Stoff ein in ein
Molekül gezwängtes Phenacetin und Brom¬
ural? Nichts weniger als das. Es zeigt
potenzierte hypnotische Wirkung,
entbehrt aber jeder antipyretischen Wir¬
kung, ohne die anderen Eigenschaf¬
ten des Phenacetins vermissen zu
lassen. Der ganze Charakter ist der eines
Phenacetinabkömmlings, nur bezüglich
der auffälligsten Wirkung ist unter den
Händen des Synthetikers eine Bastar¬
dierung eingetreten. Die Indikationen
ergeben sich klar. Wir müssen hier den
ersten Stoff haben, der Schlafmittel und
Antineuralgicum ist, ohne Antipyreticum
zu sein.“
Nach Bergeil gehört Phenoval nicht
in die Reihe der „brutalen“, sondern in
die der milden Schlafmittel, welche nicht
so sehr auf die Betäubung der Großhirn¬
rinde und ihrer Ganglienzellen, als auf
die Erleichterung des Einschlafens
und damit auf die Überwindung des
wesentlichsten Hindernisses eines gesun¬
den Schlafes hinzielen.
Nach dem Gesagten ist wohl der
Schluß gestattet, daß Phenoval- eine
Mittelstellung zwischen den direkten, ge¬
waltsamen oder, wie Bergell sagt, „bru¬
talen“ Schlafmitteln und den oben er¬
wähnten indirekt wirkenden (Antirheu-
matica, Analgetica) einnimmt. Meine
Erfahrungen mit Phenoval haben diese
theoretischen Voraussetzungen in praxi
vollauf bestätigt.
Von 40 Fällen, in denen das Mittel
angewendet wurde, konnte ich nur ein¬
mal ein Versagen feststellen. In diesem
Falle, einer schweren commotionellen Neu¬
rose (Verschüttung nach Minenexplosion)
mit hysterischer Stummheit, allgemeinem
Tremor usw., war der Mißerfolg von vorn¬
herein klar und bot keine Überraschung.
Hingegen war der Erfolg in 30 Fällen ein
vollständiger, in den restlichen 9 Fällen
recht befriedigend. Die gewöhnliche
Gabe beträgt zwei Tabletten des Abends
vor dem Einschlafen, doch konnte ich bei
leichteren Formen der Agrypnie auch mit
einer Tablette (0,5 g) volle Wirkung er-
Oktober
Die Therapie der Gegenwart 1917.
351
zielen. In der Praxis wird es sich wohl !
empfehlen, unter die Dosis von 1 g nicht
herabzugehen, um so mehr als irgend¬
welche üble Neben- oder Nachwirkung
bei diesem Mittel nie zu beobachten ist.
Hier einige markante Fälle aus meiner
Beobachtungsreihe:
Fall 2. Serbischer Kriegsgefangener-Stanko
R., 26 Jahre alt. Diagnose: Lymphadenitis cer-
vicalis, Muskelrheumatismus. Klagt unter ande¬
rem über Schlaflosigkeit und dumpfe, mitunter
Teißende Schmerzen in den Unterschenkeln. Nach
einer Tablette Phenoval erklärt Patient, er hätte
„süß“ geschlafen.
Fall 3. Siegmund S., 18jähriger Infanterist,
in den Karstkämpfen bei Costanjevica verwundet.
Durchschuß des Vorderarmes, allgemeine Anämie
und Erschöpfung. Subjektive Beschwerden:
Mattigkeit, träge Verdauung, Schlaflosigkeit.
Nach einer Tablette Phenoval nur unbedeutende
Besserung, nach zwei Tabletten ausgiebiger, tiefer
Schlaf, nach dem sich Patient frischer fühlt.
Fall 4. Josef W., 22jähriger Infanterist, im
Stellungskriege bei Görz Ende November 1916
unter fieberhaften Erscheinungen erkrankt. Dia¬
gnose: Status febrilis mit Gliederschmerzen, wahr¬
scheinlich echter akuter Muskelrheumatismus.
Hartnäckige Schlaflosigkeit. Eine Tablette
Phenoval am. Abend ohne Wirkung auf das
Fieber, Schlaf in unbedeutendem Maße gebessert.
Nach zwei Tabletten siebenstündiger, ruhiger
•Schlaf.
Fall 5. Franz R., 42jähriger Blessierten-
träger. Diagnose: Chronischer Darmkatarrh und
Muskelrheumatismus. Nach Besserung dieser
Zustände verzögerte Rekonvaleszenz infolge all¬
gemeiner Erschöpfung mit Schlaflosigkeit. Letz¬
tere ist charakterisiert durch normales Ein¬
schlafen, Erwachen nach 1V 2 bis 2 Stunden
Schlafes und Unmöglichkeit, neuerlich einzu¬
schlafen. Nach zwei Tabletten Phenoval un¬
gestörter Schlaf. Patient gibt spontan an, schon
viele Monate keine so gute Nacht verbracht zu
haben.
Fall 6.^ Iwan S., 37 Jahre alter Landwehr¬
infanterist, mfolge eines schon längere Zeit be¬
stehenden Magendarmkatarrhs und Bronchitis
stark herabgekommen. Klagt außerdem über
schlechten Schlaf, indem er angeblich sehr schwer
einschläft, um so leichter aber wieder erwacht,
ohne dann wieder einschlafen zu können. Nach
einer Tablette Phenoval leichtes Einschlafen,
Schlaf mit Unterbrechungen. Nach zwei Tabletten
.acht Stunden ohne Unterbrechung geschlafen. Die
Wirkung hält bei Verabreichung dieser Dosis
durch weitere drei Tage, nach Ablauf dieser Zeit
auch bei 0,5 Phenoval an.
Fall 7. Infanterist Johann Z., 49jähriger
Landsturmmann. Diagnose: Myodegeneratio cor-
dis, Emphysema plm. Nach Herstellung günstiger
Kreislaufverhältnisse und Behebung der Arhyth¬
mie, Dyspnoe, sowie herzasthmatischer Zustände
durch täglich dreimal zwei Digimorvaltabletten
(siehe weiter unten) durch etwa eine Woche ver¬
abreicht, wird mit dieser Medikation pausiert.
Da nach drei Tagen Patient neuerlich über mangel¬
haften Schlaf klagt, für Digimorval jedoch keine
Indikation mehr vorlag, gebe ich Phenoval mit
bestem Erfolge. Nach einer Tablette sechs¬
stündiger, nach zwei Tabletten neunstündiger
Schlaf ohne jedwede Nachwirkung.
Die oben erwähnte Verabreichung von
Digimorval gibt mir Veranlassung, auch
diesem neuen Medikament einige Worte
zu widmen. Digimorval ist eine im Jahre
1912 auf meine Anregung hin erfolgte
Kombinierung der Digitalis, des Mor¬
phiums und der Valeriana in Tabletten-
form. Jede Tablette, also die Einzeldosis,
enthält: Pulv. fol. Digital, titr. 0,05,
Morphin, mur. 0,005, Mentholi valerian.
g. H. III.
Wie auf den ersten Blick ersichtlich,
enthält also jede Tablette Digimorval
genau die Hälfte der üblichen Einzel¬
dosis jedes der drei zusammensetzenden
Medikamente. Hierdurch erreicht man
eine feinere Abstufung der arzneilichen
Wirkung, indem zwei Tabletten die Nor¬
maldosis, drei eine mittelstarke und vier
eine starke Dosis vorstelien. Im Digi¬
morval ist nicht, wie im oben besproche¬
nen Phenoval ein neuer chemischer Kör¬
per, der durch Kreuzung zweier anderer
entstanden ist, zu sehen, sondern nur die
Kombination, die Zusammenlegung meh¬
rerer Arzneikörper, deren gleichzeitige
Verabreichung in bequemer Form gleich¬
zeitig mehreren Indikationen genügt. Hier¬
zu kommt noch die bekannte, wenn auch
noch nicht erklärte Erscheinung, daß
Gruppierungen von arzneilichen Faktoren
einen günstigeren, gewissermaßen poten-
zierteren Effekt haben, als die einzelnen
Komponenten für sich allein genommen
(Novocain-Suprarenin!).
So konnte ich denn vom Digimorval
in einer großen Anzahl von Fällen als
Schlafmittel Gebrauch machen, wo
Morphin indiziert war (starker Husten¬
reiz, Brustbeklemmung und Herzschmerz,
bei starken Neurosen usw.), daneben aber
das Herz seine Berücksichtigung ver¬
langte, und auch die Valeriana dem
Nervensystem zugute kam. Der Erfolg
war überraschend günstig. Immerhin
bleibt dieses Mittel in erster Linie Herz-
tonicum nrit sedativen und erst in zweiter
Hypnoticum mit tonisierenden Eigen¬
schaften.
Ich glaube, zusammenfassend sagen
zu dürfen, daß in der kommenden Frie¬
denszeit, wenn erst einmal wieder das
Interesse für pharmaceutische Speziali¬
täten unter den Ärzten im größeren
Umfang erwachen wird, sowohl dem
„Phenoval“ als .auch dem „Digimor-
val“ jedem in seinem Wirkungskreise
ein Platz gesichert ist.
352
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Oktober
Über Ersatzarzneien.
Von Hermann Schelenz-Kassel.
Krieg in der Wissenschaft Äskulaps
selbst, Streit zwischen den Anhängern
verschiedener Schulen (ich erinnere nur
an den der Iatrochemie gegen den Gale¬
nismus, der sich auf die SSS, das heißt
Serie, Seringue, die Klistierspritze, und
das Saignee, die Blutentziehungen, ver¬
steifte) ließen gelegentlich ganze Reihen
von Heilmitteln verschwinden und andere
auftauchen. Geradezu Mode (Modeärzte)
machte manches Mittel, meteorgleich auf-
flammend, um von der verblüfften Welt
wahrer und eingebildeter Kranken wahr¬
haft als Wunder- und Allheilmittel, als
Panazee angestaunt zu werden. Die Ent¬
deckung fremder Erdteile führte neue
Arzneistoffe ein, die als ausländische allein
schon berechtigt und bevorrechtigt er¬
schienen, altbewährte, einheimische in die
Rumpelkammer zu treiben. Erwägungen
des Handels, in erster Reihe für uns Eng¬
lands, dessen Herz nach dem Zeugnis ihres
großen Dichters Shakespeare ,,in ihren
Beuteln ruht“, und denen im Sinne ihres
Sondergottes der Kaufleute und Gauner,
Merkur, jedes Mittel recht war, das, um
größeren Absatz zu erzielen, seit jeher
durch seine vielen Handelsabgesandten
auch lügen ließ „wie gedruckt“, kehrten
sich nicht an das auf uralter Annahme
fußende Wort unseres kerndeutschen Para¬
celsus-Hohenheim von dem ausreichenden
Besitztum jeden Landes an Arzneimitteln.
Es überschüttete geradezu unser Vater¬
land, das ganze Europa mit den Neuig¬
keiten des westlichen Indiens, Amerikas
(vermutlich auch, um den unbequemen
ostindischen Handel Hollands zu stören).
Einflüsse aber, wie sie der noch wütende
Krieg ganz naturgemäß auf das ganze
wirtschaftliche Leben, was uns am näch¬
sten liegt, Deutschlands und der .Mittel¬
mächte ausübt, und hier wieder sonder¬
lich auf den Verkehr mit Arznei- und,
was restlos davon abzutrennen kaum
möglich ist, auch für die Krankenversor¬
gung höchst notwendiger Nahrungs- und
Genußmittel, sind in der Tat so gewaltig,
so wirklich noch nicht dagewesen, wie
der Krieg selbst.
Die wenig zuverlässigen Verkehrsver¬
hältnisse alter Zeit, viel empfindlicher
wirkender Mißwachs, Zeiten verheerender
Seuchen machten Gebrauch von Ersatz¬
heilmitteln, von Antiballomena oder
Quodproquos zur unabwendbaren Not¬
wendigkeit. Jedes Arzneibuch brachte
offizielle Tabellen darüber. Die neuere
Zeit räumte mit ihnen auf, die moderne
konnte solchen Ersatz geradezu verbieten.
Die letzten Jahre mußten nach „Streck-“,,
ja nach „Behelfs“mitteln sehnsuchts¬
voll Umschau halten, sie wurden zum
Teil anbefohlen. Ich selbst empfahl zu
meiner Freude viel, aber immer noch
lange nicht genügend verwandten reinen
weißen Ton als Ersatz von Seife, auf
diätetischem oder .Nahrungsmittelgebiete
die vergessenen und doch so vorzüglichen
Flieder- und Berberitzen- und Ro¬
senfrüchte-Hagebutten (die Fruc-
tus Sambuci, Berberidis und Cynos-
bata), von tierischen Nahrungsmitteln
Schnecken, # Muscheln, Frösche,.
Blut usw. Über den Stand der Arzriei-
versorgung bin ich nicht mehr genau unter¬
richtet. Nur spärlich dringt eine Nachricht
über ganz unerhörtes Hinaufschnellen der
Preise einzelner Arzneien zu mir. Wir
hoffen alle, daß in Bälde der Frieden aller
Not ein Ende machen wird, daß Behelfe
nicht mehr auszuklügeln nötig ist.
Aber so oder so, selbst den älteren
oder gar ältesten meiner Leser wird es-
bedeutungsvoll sein, durch die oder jene
Stelle daran erinnert zu werden, wie rück¬
ständig sie in der hoffnungsvollen Jugend’
als Helfer mit einer „angelica facies“ an
das Leidensbett des Kranken getreten
sind, und den jüngeren wird es vielleicht
nützlich sein, zu erfahren, welche Meister
vor ihnen dem Äskulap dienten, wenn
anders jenes Wort von der Beschränkung
als Kriterium der Meisterschaft wahr ist..
Den Pharmakologen aber und den Arznei
bereitenden Apothekern, noch mehr den
an ihre Stelle getretenen, mit allen Mit¬
teln einer verfeinerten Technik unter Lei¬
tung ausgezeichneter Chemotherapeuten
arbeitenden Fabriken kann mein Hinweis
auf aus der Mode gekommene Heilstoffe
immerhin von Nutzen sein dadurch, daß
sie vielleicht zu Versuchen anregen, aus
ihnen Arzneiformen darzustellen, wie sie
die moderne Therapie verlangt, wert, den
augenblicklich kaum erhältlichen an die
•Seite oder statt ihrer in den Dienst des
Arztes gestellt zu werden. Auf eine Auf¬
zählung muß ich mich zumeist und auf
nur eine kleine Gruppe von Heilkraft¬
trägern muß ich mich beschränken und
nur auf des ersten wirklichen Pharma¬
kologen und Physiologen Hermann
Boerhave „Tractatus de viribus medica-
Oktober
Die Therapie der Gegenwart 1917:
353
mentorum“, Parisii 1740, und des Bota¬
nikers in altem Sinne Johannes Rajus<
(Ray) „Historia plantärum“, Londini
1688, in der er die Pflanzen in altherge¬
brachter Art, wie Dioskorides, samt und
sonders auch als Arzt würdigte, über ihre
Vires eingehend berichtet und in einem
„Index affectuum et remediorum“ eine
pharmakologische Übersicht gibt. Des
knappen, jede Deutelung ausschließenden
Ausdruckes wegen gebe ich zumeist den
lateinischen Grundtext wieder.
Unter Ab'ortiva verstehen beide Ge¬
währsmänner nur Uterina, auf den Uterus
wirkende „Emmenagoga, Aristölo-
chica et Ecbolica, quae menses, Lochia
et Uteri contenta expellunt“. Daß unter
ihnen, nach der Lehre von den Signa¬
turen, auch Aristolochia empfohlen
wird, als sehr gut für die Lochia, weil sie
„rotunda föeminei uteri f ormam imitatur“,
kann ebensowenig wuriderriehmeri, wie daß
blutrote, übrigens adstringierende und
konstringierende Bistortä und Sangui-
sorba auch gebraucht wurden. Die Mittel
werden unterschieden in solche „quae
faeces (Abgänge allgemein) inertes sol-
vunt, et quae solutas per stimulum ex¬
purgant“. Den stärksten Stimulus ließ man
wohl durch Stern tu atoria oderErr hina
besorgen, die „in partu difficili, ubi ma-
tris vires deficiunt“, die Kreißende durch
die Nieseexplosion die Frucht zweifellos,
gelegentlich wenigstens, so schnell aus¬
stoßen lassen machten, als wenn „she
quickly pooped“, wie Shakespeare das als
eine Art von Bordellgewohnheit be¬
schreibt 1 ).
Als adstringierend sind hier von be¬
sonders wichtigen Pflanzen zu nennen:
Sabina; Pulegium, Chamomilla (Ma-
tricaria), die auf eine alte ruhmvolle Ge¬
schichte zurückblicken. Alle drei ent¬
halten ätherische Öle, deren Wirkung auf
die Gebärmutter inzwischen „wissen¬
schaftlich“ festgelegt und begründet ist.
Damit die „Resistentia vasorum . uteri-
norum minuetur“, sollten sie laxantur,
gelockert werden durch Balnea tepida,
„Calor externus partibus inferioribus
applioatus“ durch Unguenta et Empla-
stra, die den Füßen, dem Kreuz, den
Weichen appliziert wurden. ' Ihre wirk¬
samen Bestandteile sind wieder jene
Plantae uterinae und Thuja, Majo-
rana, Juniperus, dann auch Fric-
tiones ab viriis pedibus usque ad inguina
x ) Vgl. meine Shakespeare-Studien Bd. I,
S. 105. Auch jetzt soll die Methode für Einleitung
frühzeitigen Aborts nicht unbekannt sein.
und Motus ambulatorius, ja „Salta;-,
tionis motus, qui vero tanti momenti,
est, ut Hippokrates dicat, eum abortum
procurare“ 1 ).
Anodyna {d öötivrj, Schmerz) sind
„Medicamenta, quae dolorem in genere
tollunt“, und zwar'besorgen das *,Pare-
gorica (jiaQrjyoQea), rede zu) demulcendo,
Hypnotica somnio conciliando, Narco-
tica stüporem inducendo. Schließlich etv
wähnt Boerhave Nepenthes als „medi-
camentum dolorem auferens“ im Grunde
nur aus geschichtlichen Erwägungen. Am
meisten dürften die Hypnotica hier als
Schmerzstiller in Frage kommen: da¬
durch, daß sie „somni impedimenta tol¬
lunt“, auf die schmerzende Stelle gelegt,
nach der völlig unbewußt gefundenen
Regel „Contraria contrariis“. Kühlend
wirken, sollen Rosa, Salix, Lactuca 5 *),
Taraxacum, Pepones, Cucumeres
(jedenfalls ihr kalt anmutendes Frucht¬
fleisch, wie man es in der Volksmedizin
immer noch verwendet) „ex- und intrin-
secus adhibita“ den Zweck erfüllen.
„Supprimendo causas naturales vigi-
liarum et imprimis impediendo fluxum
Liquidi per nervös“ (auf Boerhaves An¬
sichten über das Wesen der Schmerz¬
empfindung einzugehen, ist hier nicht der
Ort) wirken Somnif era mitia, die einen
Schlaf hervorrufen, wie den natürlichen;
schnellen und leicht erweckbaren be¬
wirken Crocus (in Sydemhams Lauda-
num liquidum ist er erhalten!), alle Teile
von Papaver Rhoeas, Cynoglossum
und.Paris. Sollten sie nicht eine ein¬
gehende phytochemische Untersuchung
verdienen?! Ganz aus der Luft gegriffen
kann der ihnen von unseren Vorfahren
zugeteilte Heil-Heiligenschein kaum sein!
Zu den Fortia, die „Somnum coactum,
profundum, vix excutiendüm cum summo
x ) Was auch noch Volksweisheit ist.
2 ) Meinen Shakespeare-Studien verdanke ich
die Kenntnis der damaligen Verwendung eines in¬
sonderheit gegen Kopfweh gebrauchten „Let-
tice cap‘V eines wie eine Kappe gebrauchten
Lattich- (oder Kohl-) Blattes, wie ich es als Kopf¬
wehheil- oder Abwehrmittel im Norden noch viel
gebraucht sah. Auch Johannes Schröder
rühmt von Lactuca, „somnum conciliät“, und
Muwaffak empfiehlt nicht nur den Milchsaft
von Papaver (also Opium), sondern auch den von
Lactuca, also Lactucarium. An der Wende des
18. Jahrhunderts wurde der eingedickte Saft aus
Lactuca virosa zumeist von Zell an der Mosel,
anderer aus Lactuca sativa (Thridax) aus Frank¬
reich, noch anderer aus Schottland als Narcoticum
empfohlen und verwandt. Vielleicht könnte es
jetzt als Ersatzmittel aus der Versenkung heraus¬
geholt werden, in die es nach dem Spruch: „Das
Bessere ist des Guten Feind“ gefallen ist. "
45
354
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Oktober
stupore“ geben, gehören Sem. Hyos-
cyami, dessen Eigenschaften ja im all¬
gemeinen wenigstens bekannt sind, usw.
(natürlich neben Opium), zu den mala,
mit ,,Somnum profundissimum, riforte
plerumque terminandum“ als Folge, alle
Teile des schon genannten Hyoscyamus,
Sem. Stramonii, Farina Lolli (das,
lange zum mindesten verrufen, meines
Wissens nie genau studiert worden ist),
Sem. Oxyschoeni (Juncus acutus ca-
pitulis Sorghi, bei dem auf Dioskorides
und Matthiolus Bezug genommen wird).
Melanocerasus-Belladonna, Aurea
mala s. Melongenae s. Mandragora
(deren Ruf jedenfalls ein berechtigt schlech¬
ter, für diese Betrachtung vielverspre¬
chender ist), in einer Fußnote genannt
Cicuta major, das ist AethusaCinapium,
das vermutlich den Giftbecher des So¬
krates lieferte, ,,Nicotianae fumus
nimia copia sumptus in non assuetis“
(wir könnten schon Nicotin dafür er¬
setzen), und schließlich mit Fug und Recht
,,Vinum und Spiritus ex eo pro-
ductus“ (der zum Zwecke der Rausch¬
narkose lange, jedenfalls zu Shake¬
speares Zeit, bei schweren Geburten an¬
gewandt wurde, dessen in dem Falle ge¬
radezu komisch anmutende zufällige, nicht
beabsichtigte Wirkung ich einmal in einem
sehr bösen Falle beobachten konnte).
Einen, verdient jedenfalls recht um¬
fangreichen Abschnitt nehmen bei Boer-
have die ,,Medicamenta excretiones pro-
moventia“ ein, 14 Kapitel, unter ihnen
die Purgantia per alvum, die Eccopro-
tica [ix und xönqog , Kot] quae corpus
inter operandum non multum turbant“,
darin lubricantia, schlüpfrigmachende:
Olea und ölhaltende Samen, z. B. Sem
Lini und Psyllii, die ich gerade eben
in empfehlende Erinnerung gebracht
habe, weil sie, mit Wasser ums Vierfache
wenigstens gallertartig aufschwellend,
wirklich vorzüglich wirken sollen, jetzt
mit Gold aufzuwiegende Sapones,
Schaf- und Eselsmilch (letztere be¬
sonders für Phthisiker), 0va putrescen-
tia (etwas angefaulte Eier!) und Anima-
lium stercora und daraus ausgepreßter
Saft. Ein Syrup. B. Lutheri wurde
daraus dargestellt und durch Kochen mit
Bier das Pferdebier. Diese Mittel der
,,Dreckapotheke“ sind vergessen, nicht
aber, immer noch gern auch von der Schul¬
medizin verordnete Pflaumen, Birnen
usw., Fliederbeeren und Zubereitungen
aus ihnen. Auch Ray zählt immer noch
nicht genügend gewürdigte Frangula
auf, und nur noch homöopathisch ver¬
ordnete Bryonia, Fructus Rhamni,
Sorbi (Ebereschen),, die volkstümliche
Dulcamara, übrigens auch Rad. Asari.
Als Amarum und Stomachicum
brachte ich vor kurzem, an Stelle des auch
durch England eingeführten und massen¬
haft schließlich als Nachtisch genaschten
Ingwers, unseren völlig vergessenen
Calamus wieder ans Tageslicht, der noch
vor einem halben Jahrhundert, ganz so
wie jener in China eingezuckerte unnötige
Eindringling, gegen Verdauungsstörungen,
gekaut und als Likör getrunken wurde.
Gleiche Erweckung verdienten zu glei¬
chen Zwecken die eingezuckerten un¬
reifen Nüsse, die zu gleicher Zeit wie
der vorige und ebenso unverdient dem
mit englischer Reklame > angepriesenen
Ausländer folgen mußten. In Absin-
thium, den Menthae, der vortrefflichen
Caryophyllata, der Tormentilla, der
Gentiana usw. haben wir weitere ganz
vortreffliche heimische hierhergehörige
Mittel.
Sonder-Anthelmintica oder Mittel
gegen die „Lumbrici intestinorum“ kennt
Selbst Boerhave noch nicht. Die Sym¬
ptome, durch die sieh die Bandwurmein¬
quartierung kenntlich macht, beschreibt
er genau, er empfiehlt aber gegen die
Schmarotzer nur ziemlich abenteuerlich
Ossicula piscium, Cornu cervi, Li-
rnatura martis (Eisenfeile), die, ver¬
schluckt, sie rein mechanisch ärgern und
zum Abgehen veranlassen sollten, und
Purgantia und Vomitoria. Ray da¬
gegen zählt auf unter anderen Absinth,
Marrubium, Sabina in hoc genere
excellens, Senecionis succum, Tana*
cetum, das mancherlei Ähnlichkeit mit
dem, natürlich selten gewordenen Semen
Cina hat, und Allium, von dem eine
„Klaue“ in den After gesteckt, Wunder
wirken soll, und über das er im Texte
selbst wunderbare Heilerfolge mitteilt.
Was von Fiebermitteln genannt
wird, mutet uns, die wir durch die Fieber-
panacee, der „Febrifugorum König
und Meister“ Cort Peruvianus, wie
Ray sie noch nennt, und durch ihr „We¬
sentliches“, die Chinaalkaloide, verwöhnt
sind, insonderheit die heimischen Anti-
febrilia 1 ) recht* kindlich an. Ernsting
empfiehlt Salia plantarum, Pflanzen-
aschen, alle ohne Ausnahme tatsächlich
nur Kaliumcarbonat, dann Amara,
unter ihnen Absinth, Carduus bene-
*) Ernsting zählt über hundert verschiedene
Febres auf!
Oktober
Die Therapie der Gegenwart 1917.
355
dictxis (die zeitweise geradenwegs als
Wunderheilmittel galt), Ce n t a u r i u m m i -
nus, Trifolium fibrinum, Gentiana,
Calamus. Ray hält Endivia, Ber¬
beris, Cynoglossa, Myrtilli, Ribes,
Sorbus, Sempervivum für Mitteigegen
Febres continuae, Chamomilla,
Chamaedrys, Sinapis, Bardana, Im-
pera.toria, Foeniculum, Prunella für
Mittel gegen Intermittens, und ähnliche
kühlende, gelind abführende für solche
gegen Quartana und Tertiana, und
Lupulus „in Epithemate“, also als Um¬
schlag, für gut gegen Quotidiana. In
der Hand der sorglichen Hausfrau werden
die Mittel gewiß noch am Platze sein,
keinenfalls schaden, der Arzt wird sich
anders helfen.
An Vomitiven hat es keinen Mangel.
Vieles, was der Weltkrieg von mensch-
lischer Niedertracht und Gemeinheit zu¬
tage förderte, müßte allein schon, wenn
nicht einen gelinden Furor, so sicher
Brechreiz hervorrufen. Im 18. Jahrhun¬
dert half man sich außer mit Antimon-
präparaten (Tartarus emeticus) und
Hypecocuanha mit fettigen Sachen,
welche man mit lauem Wasser trank, mit
dem, ganz bezeichnend, englischen
Vomitiv, Cardobenedicten - Auf gu ß
mit Milch oder Bier gekocht, ,,davon kann
man, so oft und viel oder so wenig man
will, brechen“, dann wieder mitAsarum,
dem auch Schröder brechenerregende
Eigenschaften nachrühmt, Sedum mi-
nimum (acre) usw.
Zum Schlüsse nur noch ein Wort über
die am meisten aktuellen, im alten Sinne
allerdings unnötig gewordenen, kaum mehr
nötigen Vulneraria und Consolidan-
tia. Wundtränke, Balsame, Essenzen,
Pflaster und Salben gehörten dazu, Emol-
lientia, Caustica, Cauteria, Escharotica
usw. desgleichen. Lang ist die Reihe der
Vegetabilien, die Ray auf zählt. Nur die
hervorragendsten gebe ich hier wieder:
Agrimonia, Alchemilla, Anagallis,
Melilotus, Consolida, Herniaria,
Parietaria, Perfoliata, Pimpinella,
Salvia, Sanicula, Plantago, von hei¬
mischen Balsamen: Resinae et La-
crimae variae, deren Namen allein
schon erkennen lassen, welchen Erwä¬
gungen ihre Wahl zugrunde lag.
Eine Art Anaestheticum sollte ver¬
mutlich der Gallen trank 1 ) sein, den
man dem Heiland zu trinken gab, und
immerhin eine Art Inhalationsnarkose
b Vgl. meine Geschichte .der Pharmacie S. 9.
bezweckten jedenfalls Schwämme, die
mit einem Auszuge von Opium und „Pil¬
sensamen“ (Hyosyamus) getränkt*, nach
der Anweisung vöh Pfolspeundt in
seiner „Bündteartzney“ den zu Operieren¬
den in die Nase gesteckt werden sollten 1 ).
Und auch einen „Tolltrank“ aus den¬
selben Heilstoffen gab Brunschwig dem
Patienten ein ,,db von er entschlaffet vnd
der schnydung nit empfinde“. Im allge¬
meinen aber verlangte, wenn der Inner¬
arzt Ernsting nicht etwa das Schneiden
ganz für unter seiner Würde hielt und er
darüber nichts sagen wollte und konnte,
der Chirurg, die „linke Hand des Arztes“,
der „Hebammenmeister“ und Feldscher,
der „weiter sich so oft nicht mit dem
Schaden und dessen Umständen genau
bekannt macht, manchen Menschen in so
miserablen Stand setzt“, von dem Men¬
schen, denen er „durch schickliche Hand¬
griffe, Instrumente und besondere Hilfs¬
mittel die verlorene Gesundheit der äußer¬
lichen Teile der Menschen wieder heilen
und zurechte bringen“ sollte, geradezu
übermenschliches Schmerzertragen. Von
Bemühungen, wie sie eben erwähnt wur¬
den, weiß Ernsting nichts, wohl aber
von wahren Inhalationsnarkosen durch
Schwefel- und Kohlendampf, die
„den Menschen so sehr betäuben, daß er
nichts von sich selber weiß, den Gebrauch
der Sinn^ und der freiwilligen Bewegung
verliert“. Er weiß von den oben schon
genannten Narcoticis, z. B. Sem. Hyos-
cyami, dessen sich „die indianischen und
italienischen Weiber recht schön bedienen,
wenn sie ihre Männer dumm machen wol«
len“, auch „daß kluge Ärzte in einigen
Krankheiten bei der gewaltigen und an¬
ders unüberwindlichen Unruhe der Nerven
sehr gutes damit ausrichten“. Von An¬
ästhesien und gar von einer örtlichen Be¬
täubung war offenbar zu seiner Zeit keine
Rede. Dazu möchte ich bemerken, daß,
wie ich schon 1912 2 ) gelegentlich der
Empfehlung des Chinins zu örtlicher
Betäubung' durch Schepelmann mit¬
teilte, der alte Vorschriftensammler
Alexius Pedemontanus in seinem „De
secretis naturae“, zuerst 1557 erschienen,
einen Koloquinten-Auszug (er läßt sie
nach vorherigem Stoßen mit Essig aus-
ziehen und den Auszug zur Honigdicke
einkochen) „ad extrahendos dentes sine
dolore“ empfahl. Der Auszug sollte in
das skarifizierte Zahnfleisch um die kran-
*) Von solchen Spongia somnifera sprach
ich in meiner Geschichte der Pharmacie auf S. 307.
2 ) in der Therapie der Gegenwart.
45*
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Oktober
356
ken Zähne gerieben, der Mund dann eine
Zeitlang geschlossen werden. Der Zahn
könne darauf schmerzlos mit den Fingern
herausgeh'olt werden. Ob, wie ich es
empfahl, die doch gewiß nicht ganz er¬
logene Tatsache inzwischen geprüft ist,
weiß ich nicht. Sie verdiente es immerhin.
Eine ganze Reihe von Heilstoffen
kamen im Laufe des Krieges zu Ehren,
die, als völlig unnütz obsolet geworden,
in der Rumpelkammer des Apothekers zu
langem Schlaf verurteilt worden waren.
Ich erinnere nur an Bolus alba und
(Tier-)Kohle, die sich jetzt zweifellos
beide wohlverdienter Ehre erfreuen.- Viel¬
leicht werden manche von den hier ans
Licht des Tages gezogenen Mitteln gleicher
Ehre gewidmet. Der Horazische Spruch
bleibt jedenfalls geltend:
Multa renascentur, quae jam cecidere,
cadentque.
Quae nunc sunt in honore.
Moderne Lichtbehandlung in der ärztlichen Praxis.
(Quecksilberquarzlampe, Aureollampe.)
Von Dr. Disque, Kreisarzt a. D., Potsdam.
Vor 25 Jahren, im Anfänge der neun¬
ziger Jahre, habe ich in Deutschland das
erste elektrische Lichtbad bauen lassen.
Ich sah damals in einem Prospekt eines
amerikanischen Sanatoriums, Beatle Kreeg
bei Philadelphia, von Dr.Kellogg, eine
ähnliche Einrichtungangegeben. Durch das
Elektrizitätswerk Poege & Co. in Chem¬
nitz ließ ich einen elektrischen Lichtbade-
kasten mit Spiegelscheiben nach meinen
Angaben konstruieren, wie die elektri¬
schen Lichtbäder, nachdem man die
Spiegel weggelassen, neuerdings in ähn¬
licher Weise wieder gebaut werden.
In den letzten 20 Jahren hat die Licht-,
behandlung immer größere Verbreitung
gefunden. In den meisten Badeanstalten
sind elektrische Lichtbäder vorhanden,
auch die Wirkung der lokalen Licht¬
behandlung wurde immer mehr wissen¬
schaftlich anerkannt und ausgebildet. Es
gibt keine moderne Hautklinik mehr, in
‘tief nicht mit Lieht behandelt wird.
Mit der lokalen Lichtbehandlung trat
vor allen Finsen auf den Plan. Er kon¬
struierte starke Bogenlampen mit durch
Linsen konzentriertem Lichte, Wasser¬
kühlung und Kompression der Haut.
Finsen zeigte, daß man auf diese Weise
am besten Lupus zu heilen,imstande ist.
Die ersten Veröffentlichungen stammen
aus dem Jahre 1895. Wie alles Neue, so
brauchte auch diese wissenschaftliche Er¬
rungenschaft mehrere Jahre Zeit, bis sie
überall in der ärztlichen Praxis Anerken¬
nung und Anwendung fand.
Später wurde die Quecksilberquarz¬
lampe konstruiert [Kromayer 1 )], dann
die künstliche Höhensonne [Quarzlampen¬
gesellschaft, Hanau 2 )]. Durch dieses
x ) Kromayer, Quecksilberwasserlampe zur Be¬
handlung von Schleimhaut und Haut (D. m. W.
1906 H. 10).
2 ) Bach, Anleitung und Indikationen für Be¬
strahlung mit kiinstlischer Höhensonne (Kabitzsch,
Würzburg-Hanau).
Quecksilberdampflicht werden viel mehr
und stärkere ultraviolette Strahlen er¬
zeugt als durch die Finsenlampe, ja sogar
mehr und stärkere-wie im Sonnenlichte.
Die Behandlungszeit ist eine viel kürzere,
der Stromverbrauch und die Anschaf¬
fungskosten sind geringer als bei der
Finsenlampe. Bei der künstlichen Höhen¬
sonne (Quecksilberquarzlampen- Gesell¬
schaft Hanau) findet auch keine Kom¬
pression der Haut mehr statt.
Sehr schöne Erfolge habe ich durch
das Quecksilberquarzlicht gesehen, be¬
sonders bei Hautkrankheiten (Ekzem,
Psoriaris, Alopecia, Sycosis, Acne, Herpes,
Naevi, Lichen, Lupus usw.).
Bei der Wundbehandlung muß das
Quecksilberquarzlicht filtriert werden, da
es sonst durch die starken äußeren ultra¬
violetten Strahlen auf die Dauer zu rei¬
zend wirkt.'
Obgleich die Quecksilberquarzlampe
(künstliche Höhensonne) die inneren lang¬
welligen Strahlen der Hochgebirgssonne
nicht besitzt, kann sie auch bei der nötigen
Vorsicht (kürzere Behandlung, Schutz
der Augen durch eine dunkle Brille
usw.) zur allgemeinen Behandlung des
ganzen Körpers Verwendung finden.
Auch das Kohlenbogenlicht der Schein¬
werfer wird von Breiger 1 ) besonders zur
Behandlung von Wunden benutzt und
demselben vor dem Quecksilberquarz¬
lichte, welchem die gelblichroten Strahlen
fehlen, der Vorzug gegeben. Das Kohlen¬
bogenlicht hat nicht soviel und so starke
ultraviolette, sondern auch, wie die Hoch¬
gebirgssonne, rote, orange, gelbe, grün¬
liche langwellige Strahlen, welche thera¬
peutisch bei der Wundbehandlung von
Bedeutung sind. Die Blutcirculation der
Wunde , wird angeregt, Granulationen
werden vermehrt. Die Wunden reinigen
sich und übernarben gut, die Eiterung
x ) Breiger (M: Kl. 1914 Nr. 26).
Oktober
Die Therapie der Gegenwart 1917.
357
wird durch die Lichtwirkung einge¬
schränkt, die Schmerzen verschwinden 1 ).
Im ganzen betrachtet gibt es zweierlei
Lichtstrahlen, welche in den verschie¬
denen Lichtquellen nicht isoliert, aber
mehr oder weniger stark vorhanden sind:
1. langwellige gelblichrote, 2. kurz¬
wellige bläulichviolette. Die ersteren
gehen mehr in die Tiefe, regen die Blut-
circulation an und erzeugen mehr Wärme.
Die ultravioletten wirken mehr oberfläch¬
lich bactericid, aber reizen die Haut und
führen leicht zu Erythemen,
In weißem. Sonnenlichte sind beide
Strahlen vorhanden. Sie regen beide die
Blutcirculätion, den Stoffwechsel, das
Wachstum, das Nervensystem an und
setzen den Blutdruck herab 2 ) 3 ). Die
roten Blutkörperchen und das Hämo¬
globin werden vermehrt 4 ), die Leuko-
cyten vermindert 5 ).
Die allgemeine Lichtbehandlung des
ganzen Körpers mit Sonnenbädern, elek¬
trischen Lichtbädern, mit der künstlichen
Höhensonne und anderen Lichtbestrah¬
lungen sind darum von guter Wirkung bei
Blutarmut, allgemeiner Körperschwäche,
Skrofulöse, Tuberkulose, Rachitis, bei
Pleuritis (Anregung der Blut- und Lymph-
circulation), bei Ischias, Neuralgie, Gicht
und Rheumatismus,, aber auch durch
Besserung des Allgemeinbefindens kom¬
biniert außer mit lokaler auch mit all¬
gemeiner Lichtbehandlung bei Lupus,
Ekzem, Psorisais und anderen Haut¬
krankheiten 6 ).
Wagner 7 ) erklärt die günstige Wir¬
kung des ultravioletten Lichts bei Tu¬
berkulose und Epilepsie durch Ver¬
besserung des Stoffwechsels, durch Hy¬
perämie der Haut, wodurch Toxine aus
dem Inneren des Körpers nach der Haut
geführt und dort unschädlich gemacht
werden. Ebenso könnte man sich die
günstige Wirkung des ultravioletten
Lichtes bei Hautkrankheiten erklären.
Es ist hier nicht die Zerstörung, sondern
*) Breiger (M. Kl. 1915 Nr. 15, Nr. 7).
2 ) Bach (D. m. W: 1911 Nr. 9).
3 ) Breiger (M. Kl. 1914 Nr. 29).
4 ) Behring, Über die Wirkung der ultra¬
violetten Lichtstrahlen (Med. natura Arch., Juli
1907).
6 ) Breiger, Wirkung der Quecksilberquarz¬
lampe auf das Blut (Strahlentherapie Bd. V I,
S. 542J.
6 ) Laqueur (M. Kl..Nr. 259, 689).
7 ) Wagner, Über Ätiologie, Pathologie und
Therapie der Epilepsie (Allg. Med. Centr. Zeit.
1914 Nr. 17/19). Ders., Die kiinstl. Höhensonne
(Quarzlampe) in der Medizin (560 Seit.) Deutsche
Vereinsdruckerei, Graz-Leipzig 1917.
die Umstimmung des Gewebes, das z, B.
bei Lupus durch Bindegewebe ersetzt
wird, die Hauptsache.
Die ideale Lichtquelle bleibt ja wegen
seines gleichzeitigen Gehalts an ultra*
violetten und Wärmestrahlen das natür¬
liche Sonnenlicht 1 ).
Neuerdings haben Siemens & Halsk?
eine Bogenlampe mit Kohlenstiften, die
von einer Glasglocke umgeben sind, und
einem flammenden Lichtbogen von meh¬
reren Zentimetern Länge konstruiert, die
Aureollampe (Strahlenkranzlampe), deren
Licht dem Spektrum der Hochgebirgs-
sonne von den mir bekannten Licht¬
quellen am ähnlichsten ist. Man hat wohl
früher eine ähnliche Lampe bei fehlender
Sonne zur Kopierung photographischer
Platten benutzt.
Da die Aureollampe die im Sonnen¬
licht enthaltenen gelblichroten, lang¬
welligen therapeutisch wichtigen Strahlen
enthält, welche im Quecksilberquarzlichte
fehlen, wirkt sie sehr wohltuend und be¬
sonders günstig bei der Wundbehandlung,
bei der gerade diese Strahlen von Bedeu¬
tung sind, bei granulierenden Wunden,
Knochenfisteln, Drüseneiterungen, Kno¬
chentuberkulose, bei der Allgemeinbehand¬
lung des ganzen Körpers, bei Anämie,
allgemeiner Körperschwäche, Rachitis,
Lungentuberkulose, Skrofulöse, bei
schmerzhaften Erkrankungen, Neuralgie,
Ischias, Gicht, Rheumatismus usw. Auch
bei Hautkrankheiten kann sie mit Er¬
folg angewendet werden.
Ich habe zwei Aureollampen, eine
Quecksilberquarzlampe (künstliche Hö¬
hensonne) und einen Bogenlichtschein¬
werfer in Betrieb.
Die Aureollampe und die künstliche
Höhensonne hängen an der Decke. Es
können zu gleicher Zeit sechs bis acht
Patienten bestrahlt werden. Sie nehmen
keinen Platz in dem ärztlichen Spreche
zimmer in Anspruch wie der Bogen¬
scheinwerfer, welcher sehr viel Platz
braucht.
Der Anschaffungspreis der Aureol¬
lampe ist geringer als der der künstlichen
Höhensonne und des Bogenlichtschein¬
werfers, der Stromverbrauch der beiden
ersteren geringer als der des letzteren.
Die Kohlenstifte der Aureollampe und
des Scheinwerfers werden einfach er¬
neuert. Der Quecksilberqüarzbrenner der
Höhensonne ist teurer, viel empfindlicher
und muß alle ein bis drei Jahre erneuert
werden.
l ) Laqueur (M. Kl. 1917 Nr. 24, S. 665).
358
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Oktober
Mit der Aureollampe bestrahle ich fünf
bis dreißig Minuten, am Anfänge kürzer,
jedesmal fünf Minuten länger, bei schlecht
granulierenden Wunden länger und in
kürzerer Entfernung der Lampe als bei
besser granulierenden. Bei größerer Ent¬
fernung der Lampe wird ein geringerer
Reiz ausgeübt als bei kleinerer Ent¬
fernung.
Ich bestrahle in 30 cm bis Lm Ab¬
stand der Wunde von der Lampe. Bei zu
starken granulierenden Wunden und bei
Erythemen der Haut setze ich die Licht¬
behandlung eine Zeitlang aus, bis das
Erythem verschwunden und die Granu¬
lationen geringer geworden sind.
Die Bestrahlung mit der Quecksilber¬
quarzlampe muß eine kürzere und die Ent¬
fernung vom Körper eine größere sein als
bei der Bogenlampe und der Aureollampe.
Ich beginne bei der künstlichen Höhen¬
sonne mit drei Minuten bei einer Ent¬
fernung von 1 m und verlängere nach
und nach die Zeit bei kürzerer Entfernung.
Neue Quecksilberquarzbrenner wirken
nach Breiger 1 ) viel intensiver als solche,
welche schon lange Zeit in Gebrauch
waren.
Wenn ich alles zusammenfasse, so
möchte ich sagen, daß für die Wundbe-
• handlung, die Behandlung des ganzen
Körpers, von Neuralgien, Gicht und
Rheumatismus das Bogenlampenlicht des
Scheinwerfers und vor allem die Aureol¬
lampe sich am besten eignen, weil in dem¬
selben auch die rötlichgelben Strahlen
vorhanden sind, welche dem Quecksilber¬
quarzlichte fehlen, daß aber die Queck¬
silberquarzlampe (Kromayersche Lampe,
künstliche Höhensonne der Quarzlampen-
Gesellschaft Hanau) das Spektrum der
Hochgebirgssonne durch den Gehalt von
äußeren ultravioletten Strahlen über¬
trifft, welche zwar nicht so sehr in die
Tiefe gehen, aber besonders auf die äußere
Haut chemisch intensiver wirken, daß
also die Quecksilberquarzlampe besonders
bei Behandlung der Hautkrankheiten den
Kohlenbogenlampen auch der Aureol¬
lampe vorzuziehen sind.
Der praktische Arzt kann sich auch
der muldenförmigen Lichtbehandlung mit
sechs bis zwölf Glühlampen bedienen,
welche, auf beiden Seiten offen bleiben
sollen, damit Patient nicht in Schweiß
gerät. Er kann auch auf einem Bügel
über die Wunde eine möglichst hoch-
kerzige Metallfadenglühbirne oder eine
mit Gas gefüllte Osram-, Azo- oder Azola-
lampe oder eine A. E. G.-Nitralampe an¬
bringen lassen.
Die Lichtbehandlung auch in der ein¬
fachsten Form, auch mit natürlichen
Sonnenstrahlen wird, in der ärztlichen
Praxis, eventuell kombiniert mit anderen
Heilmethoden, von großem Nutzen sein.
Zusammenfassende Übersicht.
Der heutige Stand unserer Kenntnisse vom Fleckfieber.
Von Oberstabsarzt Prof. Dr, H. Hetsch-Berlin. (Schluß.)
Daß das Fleckfieber experimentell auf
Tiere übertragbar ist, wurde zuerst von
Nicolle bewiesen, der durch Verimpfung
des Blutes von Fleckfieberkranken Affen
zu infizieren vermochte. Heute wissen
wir, daß das Krankheitsvirus sich nicht
nur bei Affen, sondern auch bei Meer¬
schweinchen passagenweise fortpflan¬
zen läßt. Die Tiere zeigen regelmäßig
Krankheitserscheinungen (Temperatur¬
steigerungen, Gewichtsabnahme, unter
Umständen auch Lähmungen), die auf
die Infektion zurückzuführen sind, und
erliegen der letzteren auch vielfach. Im
Gehirn der eingegangenen Tiere wurden
von R. Otto und Dietrich encephali-
tische Herde mit Knötchen festgestellt,
die den im Gehirn menschlicher Fleckfieber¬
leichen gefundenen weitgehend gleichen.
Die experimentellen Untersuchungen
an Affen haben die schon früher aus epi-
!) Breiger (M. Kl. 1915 Nr. 45).
demiologischen Erfahrungen begründete
Annahme zur Gewißheit gemacht, daß die
Krankheit durch Läuse, die vorher an
Fleckfieberkranken Blut gesogen hatten,
auf Gesunde übertragen werden kann.
Bei systematischen Prüfungen zeigte sich,
daß die Infektion durch Läuse nur dann
gelingt, wenn zwischen der Aufnahme des
Erregers und dem Ansetzen an neue
Affen fünf bis sechs Tage verflossen sind.
Das deutet also auf die Notwendigkeit
einerEntwickelung des Fleckfiebererregers
in der Laus hin.
Das Virus ist hauptsächlich in den
Leukocyten des Blutes enthalten, denn
mit zellfreiem Serum und ebenso durch
Aufschwemmungen von Erythrocyten des
Krankenblutes läßt sich die Krankheit
experimentell nicht übertragen, v. Pro¬
wazek, und H'egler sahen in den neutro¬
philen Leukocyten fleckfieberkranker Men¬
schen und Affen Gebilde, die sie als für
Oktober
Die Therapie der Gegenwart 1917.
359
die Infektioii specifisch ansahen und die
allem Anscheine nach mit den Rickettsien
Zusammenhängen,
Auch wenn man Meerschweinchen den
Darminhalt von mit Rickettsien behafte¬
ten Läusen injiziert, kann man eine gleiche
fieberhafte Erkrankung, wie durch Ein¬
spritzung des Blutes von fleckfieber¬
kranken Menschen, bei den Tieren hervor-
' rufen und in ihnen serienweise übertragen.
Das Überstehen einer solchen Krankheit
macht die Meerschweinchen gegen die
Wirkung einer späteren Injektion von
Fleckfieberblut ifnmun.
Wir kennen den Fleckfiebererreger
also zurzeit noch nicht in gleicher Weise,
wie wir die Erreger der meisten anderen
Infektionserreger kennen, aber wir sind
in seiner Erforschung doch .immerhin
schon weit vorgeschritten. Über seine
Systemstellung unter den Mikroorganis¬
men lassen sich noch keine bestimmten
Angaben aufstellen, offenbar läßt er sieh
nicht so ohne weiteres in eine der bisher
abgegrenzten Klassen der Kleinlebewesen
einreihen.
Über das Wesen der Fleckfieber¬
erkrankung läßt sich aus den bisherigen
Ausführungen folgern, daß wir es mit
einem Morbus sui generis zu tun haben,
der nicht nur durch die mikrobiologischen
Befunde, sondern auch durch die eigen¬
artigen organisch.-histologischen Verände¬
rungen, durch die klinischen Erscheinun¬
gen und durch die epidemiologischen Er¬
fahrungen von anderen Infektionskrank¬
heiten scharf abzugrenzen ist. Die auch
neuerdings hier und dort noch vertretene
Anschauung, daß das Fleckfieber keine
ätiologische Einheit darstelle, ist durch
nichts bewiesen und hat für jeden, der sich
eingehender mit der Krankheit befaßt
hat, von vornherein wenig Wahrschein¬
lichkeitsgründe für sich. Sowohl die All¬
gemein-, wie die Organstörungen und die
Veränderungen der Haut sind im wesent¬
lichen nicht toxischen Ursprunges, son¬
dern durch die oben geschilderten rein
anatomischen Gefäßerkrankungen be¬
dingt. Das Fleckfieber ist eine durch
Infektion verursachte Gefäßerkran¬
kung mit ubiquitärer Lokalisation
der Krankheitsherde (Munk). Die
specifischen Erreger werden im Beginne
der Krankheit durch die Blutbahn über
alle Bezirke des Organismus verbreitet.
Die Diagnose kann große Schwierig¬
keiten bereiten, namentlich beim ersteh
Auftreten des Fleckfiebers in einem bisher
von ihm verschonten Lande. Die unbe¬
stimmten Krankheitszeichen des Anfangs¬
stadiums und die anamnestischen» An¬
gaben der meisten Kranken, daß ; sie sich
erkältet hätten, führen meist zur Diagnose
„Influenza“, „fieberhafter Bronchial¬
katarrh“ usw. Wenn es sich aber um ein
Gebiet handelt, in dem die Krankheit
häufiger vorkommt, und namentlich, wenn
der Patient verlädst ist, muß der erfah¬
rene Arzt die Möglichkeit einer Fleck¬
fieberinfektion von vornherein ins Auge
fassen. Schon in den ersten Krankheits¬
tagen bietet der eigenartig rasche und un¬
gehemmte Fieberanstieg mit gleichzeitiger
Milzschwellung und den ersten Anzeichen
des charakteristischen Exanthems wich¬
tige Verdachtsmomente. Wenn die Beob¬
achtung der ersten Krankheitstage.fehlt,
ist eine sichere Diagnose oft recht schwer.
Die charakteristischen schweren Störun¬
gen von seiten des Gefäß- und des Nerven¬
systems werden hier neben dem. Exan¬
them, der Milzschwellung und der Fieber¬
kurve für die Entscheidung am meisten
maßgebend sein. Eine wiederholte und
sorgfältige Untersuchung des Kranken
wird die Differentialdiagnose gegen andere
akute Exantheme, namentlich Masern,
und vor allem gegen den Unterleibstyphus
ermöglichen. Beim Typhus ist der Krank¬
heitsbeginn. nicht so plötzlich, die Tem¬
peratur steigt allmählich und erreicht erst
gegen den achten bis zehnten Tag ihren
Höhepunkt. Die Temperaturkurve zeigt
bei der Continua des Abdominaltyphus
meist Remissionen von 1° und mehr, was
beim Fleckfieber nur ausnahmsweise vor¬
kommt. Der Ausschlag tritt beim Typhus
schubweise auf, läßt sich mit dem Glas¬
spatel wegdrücken und wird nicht pe¬
techial. Auch sonst gibt es eine ganze
Reihe von Krankheitszeichen, die für die
Abgrenzung der beiden Krankheiten in
ihrer Gesamtheit gut verwendbar sind.
Der Nachweis von Typhusbacillen im
Blute oder in den Darmabgängen wird
zwar in Zweifelsfällen die Diagnose „Unter¬
leibstyphus“ wesentlich stützen, kann
aber nicht in jedem Falle unbedingt gegen
die Annahme einer Fleckfiebererkrankung
verwertet werden, denn es kommen*
namentlich in Kriegszeiten und unter un¬
hygienischen Allgemeinverhältnissen, wie
wir sahen, auch Mischinfektionen beider
Krankheiten vor.
Unter den Serumreaktionen hat die
Gruber-Widalsche Reaktion im all¬
gemeinen wenig Beweiskraft, wenn
nicht sichergestellt ist, daß der Pa¬
tient früher niemals einen Typhusinfekt
360
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Oktober
überstanden hat und daß er nicht einer
Schutzimpfung gegen Typhus unterzogen
wurde. Sehr zuverlässige Ergebnisse liefert
dagegen die sogenannte Weil-Felixsche
Reaktion. Es hat sich gezeigt, daß das
Blutserum Fleckfieberkranker noch in
hohen Verdünnungen die Fähigkeit hat,
Kulturen von gewissen Proteusbakterien¬
stämmen, die aus dem Harne Fleckfieber-
kranker gezüchtet wurden, zu aggluti-
nieren. Diese Bakterien sind nicht die
Erreger der Krankheit. Die Reaktion kann
also nicht in dem Sinne als specifisch an¬
gesehen werden, wie die Agglutinations¬
reaktion bei Typhus, Pest, Cholera usw.,
aber sie ist, wie umfangreiche Nach¬
prüfungen ergaben, durchaus charakte¬
ristisch und hat daher einen außerordent¬
lich hohen diagnostischen Wert. Aller¬
dings kommt es sehr auf die Eigenart des
zu verwendenden Stammes an. Allge¬
mein wird jetzt der von Weil und Felix
isolierte Stamm X 19 für diese Unter¬
suchungen verwendet, und zwar in fri¬
schen 18stündigen Kulturen. Schon der
positive Ausfall der Reaktion bei einer
Serumverdünnung von 1:100 spricht mit
größter Wahrscheinlichkeit für Fleck¬
fieber, in der Regel werden aber bei quan¬
titativer Austitrierung viel höhere Werte
(bis zu 1:10 000—1:20 000) erzielt. Das
Agglutinationsphänomen ist oft schon,
wenn auch zunächst erst bei 1:50, am
zweiten Fiebertage nachweisbar, sehr oft
jedenfalls vor dem Ausbruche des Exan¬
thems. Die höchsten Titer werden meist
zwischen dem achten und vierzehnten
Krankheitstage gefunden. Bei fieber¬
haften und nichtfieberhaften Erkrankun¬
gen anderer Art fällt die Reaktion bei über
1:100 stets negativ aus, bei Fleckfieber
vom sechsten Krankheitstage an ist sie
aber bei nahezu 100'% der Fälle deutlich
positiv. Ihr negativer Ausfall um diese
Zeit schließt Fleckfieber so gut wie sicher
aus. Die Weil-Felixsche Reaktion, die
theoretisch von den meisten Autoren als
eine sogenannte Paragglutination im Sinne
von Kuhn und Woithe angesehen wird,
ist nicht nur für die Frühdiagnose und
namentlich für die Erkennung leichter
oder exanthemlos verlaufender Fälle sehr
bedeutungsvoll, sondern auch für die epi¬
demiologisch oft äußerst wichtige Ermitte¬
lung abgelaufener Fleckfieberfälle, die mit
ihr noch nach Wochen und unter Um¬
ständen noch nach Monaten gelingt.
Kurz zu erwähnen ist noch, daß auch
die histologisch e Untersuchung ex ci-
dierter Hautstückchen mit Roseo¬
len diagnostisch sicher verwertbare Resul¬
tate gibt. Wenn das Material richtig ent¬
nommen und sachgemäß verarbeitet wird,
lassen sich die von Fraenkel beschrie¬
benen Veränderungen einwandfrei nach-
weisen. Der Nachweis von Rickettsien
in den Läusen, die den Kranken abge¬
nommen sind, oder von Prowazekschen
Körperchen in den Leukocyten des Kran¬
kenblutes wird nur von Untersuchern, die
auf diesem Gebiete große Erfahrungen
haben, zuverlässig erbracht werden kön¬
nen. Ebenso hat die Verrmpfung des den
Kranken auf der FieBerhöhe entnom¬
menen Blutes auf Meerschweinchen für
die praktische Diagnose nur geringen Wert,
zumal der Ausfall des Versuches erst nach
Ablauf von zwei bis drei Wochen beurteilt
werden kann.
Die Prognose des Fleckfiebers ist bei
Erwachsenen stets ernst. Kinder er¬
kranken, wie schon erwähnt, meist leicht;
auch bei Frauen verläuft die Krankheit
auffälligerweise viel seltener tödlich als
bei Männern. Daß das Lebensalter für
die Prognose ein sehr bedeutungsvoller
Faktor ist, wird von allen Autoren gleich¬
mäßig betont. Im jugendlichen Alter,
bis zu 20 Jahren hinauf, sterben etwa 5%
der Kranken, mitunter noch weniger.,
dann aber nimmt die Lebensgefährlich¬
keit des Fleckfiebers mit dem steigenden
Alter sehr schnell zu, sodaß Personen, die
über 50 Jahre alt sind, meist zu- 60—-70 %
der Krankheit erliegen. Sehr wesentlich
kommt es auf den Zustand des Kreislauf-
systemes an. Munk sieht einen entschei¬
denden Faktor darin, daß mit dem vorge¬
schrittenen Alter der Organismus, beson¬
ders bei Männern, auf einen höheren
arteriellen Blutdruck eingestellt ist, so
daß die blutdrucksenkende Wirkung der
Krankheit einen relativ viel größeren Aus¬
schlag zur Folge hat, der um so gefähr¬
licher wird, je mehr das Herz selbst schon
pathologische Veränderungen aufweist.
Auch Fettleibige und Alkoholiker sind
besonders gefährdet. Bei kreislaufgesun¬
den Personen wird die Schwere und Art
der Erscheinungen von seiten des Nerven¬
systems in der zweiten Woche und noch
im späteren Krankheitsverlaufe für die
prognostischen Aussichten die besten Am
haltspunkte bieten.
Über die Epidemiologie sollen hier nur die
wichtigsten Erfahrungen kurz angeführt werden.
Es steht fest, daß die Krankheit unter natürlichen
Verhältnissen nur durch die Kleiderlaus über¬
tragen wird. Irgendwelche Beweise für anders¬
artige Übertragungsmöglichkeiten, z. B. durch
verstäubte Sekrete oder dergleichen, haben sich
Oktober
Die Therapie der Gegenwart 1917.
361. .
obwohl darauf von den verschiedensten Autoren
in zahlreichen , großen Epidemien besonders ge¬
achtet wurde, nicht erbringen lassen. Ist ein
Fleckfieberkranker sicher entlaust, so ist er für
andere Personen auch nicht mehr ansteckungs¬
fähig. Flöhe und Wanzen spielen als Überträger
keine Rolle, ebensowenig Kopf- oder Filzläuse.
In verlauster Umgebung ist dagegen die unmittel¬
bare Berührung eines Kranken gar nicht nötig.
Der Gang durch ein verlaustes Lager oder Kran¬
kenzimmer genügt oft, um infizierte Läuse und
damit den Erreger der Krankheit aufzunehmen.
Möglichkeiten dazu bieten sich trotz aller Vorsicht
in so mannigfacher Form, daß eine Angabe der
Erkrankten, daß sie niemals Läuse an sich be¬
merkt hätten, nicht als beweiskräftig angesehen
werden kann. Die Infektion wird durch den Biß
der Läuse übermittelt. Die von manchen Autoren
vertretene Ansicht, daß vielleicht auch der
Läusekot, der ja eine große Menge Rickettsien
enthält, die Infektionsquelle bilden könnte, hat
wenig Wahrscheinlichkeit für sich, ist jedenfalls
aber unbewiesen. Bei Ärzten ist mehrfach die
Infektion auf Verletzungen mit Injektionsnadeln
usw. zurückgeführt worden, die kurz vorher bei
Fleckfieberkranken benutzt waren. Theoretisch
ist eine solche Übertragungsmöglichkeit zuzu¬
geben, denn wir wissen, daß das Krankheitsvirus
durch direkte Blutüberimpfung auf gesunde Men¬
schen und Tiere übertragen werden kann. Solche
Infektionen sind aber jedenfalls äußerst selten
und spielen epidemiologisch natürlich gar keine
Rolle.
Manche Fragen der Fleckfieberepidemiol'ogie
sind noch in Dunkel gehüllt. So ist es noch unklar,
auf welche Weise nach dem Ablaufe der Epidemien
im Sommer sich das Krankheitsvirus in endemisch
verseuchten Gegenden infektionstüchtig erhält.
Die Annahme mancher Autoren, daß es wie bei
anderen Infektionen unter den von der Krank¬
heit genesenen oder für sie nicht besonders emp¬
fänglichen Menschen gesund erscheinende „Virus¬
träger“ geben müsse, ist durch nichts bewiesen.
Die ausgedehnten Erfahrungen der Gefangenen¬
lager sprechen entschieden dagegen, denn obwohl
in ihnen große Mengen von Fleckfieberrekonvales¬
zenten waren und Läuse durch neu eintreffende
Kriegsgefangene wieder eingeschleppt wurden,
kam es dort nicht zum Auftreten neuer Erkran¬
kungen. Daß das Virus durch Vererbung in den
Läusen fortlebt, ist nach da Rocha-Lima nicht
ausgeschlossen, eine solche erbliche Übertragung
ist wohl aber nicht so häufig und erstreckt sich
nicht auf so viele Läusegenerationen nacheinander,
daß man dadurch allein die Persistenz des Fleck¬
fiebers zwischen zwei zeitlich weit voneinander
getrennten Epidemien erklären könnte. Am wahr¬
scheinlichsten ist es, daß nach dem Aufhören der
Krankheitshäufung der Fleckfiebererreger von
Mensch zu Mensch weiter übertragen wird, daß
aber die Erkrankungsfälle außerhalb der Epi¬
demien atypisch oder leicht verlaufen und als
Fleckfiebererkrankungen nicht erkannt werden.
Auch die für das Fleckfieber so charakteristi¬
sche schnelle Ausbreitung, die so oft bei großen,
unter ungünstigen äußeren Verhältnissen leben¬
den, verlausten Menschenmassen beobachtet wird,
ist durch das späte Erkennen der Krankheit zu
erklären. Wenn bei der plötzlichen Häufung der
Krankheitsfälle, z. B. in einem Kriegsgefangenen¬
lager, ap der Hand der bisherigen Krankenge¬
schichten, Fieberkurven und der nachträglichen
Epikrise verdächtiger Fälle sorgfältig nachge-
fprscht wird, so läßt sich fast immer feststellen,
daß schon seit längerer Zeit Erkrankungen vor¬
gekommen sind, die als Influenza, Unterleibs¬
typhus, Pneumonie usw. gedeutet wurden, oft',
sogar mit symmetrischer Gangrän der Füße usw.
einhergingen und die im Zusammenhänge mit den
späteren typischen Fleckfieberfällen mit Sicher¬
heit dieser Infektion zuzurechnen sind. Die Vor¬
nahme der Weil-Fel ix sehen Reaktion wird hier
sicheren Aufschluß bringen. Daß in so langer Zeit
die Läuse hinreichend Gelegenheit hatten, das
Krankheitsvirus weithin zu übertragen, kann
dann nicht wundernehmen. Es bedarf also nicht
der Annahme unerkannt gebliebener Virusträger
oder, der Neueinschleppung großer Mengen des
Ansteckungsstoffeis kurze Zeit vor dem Ausbruche
der Epidemie, sondern die Verkennung der ersten,
vielleicht nicht tödlich verlaufenen Fleckfieber¬
fälle genügt vollkommen zur Erklärung des plötz¬
lichen Seuchenausbruches. Bei guter gesundheit¬
licher Überwachung eines Lagers wird man im
Anschlüsse an die ersten Erkrankungen zunächst
Gruppeninfektionen bei den Schlafnachbarn .fest¬
stellen können.. Erst allmählich breitet sich
die Seuche, wenn nicht sofort wirksame Vorbeu¬
gungsmaßnahmen einsetzen, in der ganzen Beleg*
schaft der Baracke und eventuell auch in den Nach¬
barbaracken aus. Diese Erfahrungstatsache ’ gibt
wichtige Fingerzeige für die sachgemäße und
schnelle Bekämpfung, des Fleckfiebers.
Die Fleckfieberbekämpfvtng muß ihren
Ausgang nehmen von der obligatorischen Melde¬
pflicht eines jeden Fleckfieberfalles und jeder
fleckfieberverdächtigen Erkrankung. Die früh¬
zeitige Erkennung der ersten Fälle ist bei dieser
Seuche vielleicht noch wichtiger als bei anderen
Infektionskrankheiten, weil, wie oben dargetan
wurde, in eng und unhygienisch untergebrachten
Menschenmassen, die verlaust sind, das Krank¬
heitsvirus außerordentlich schnell verbreitet wird,
wenn eingeschleppte Einzelfälle durch Wochen
und Monate unerkannt bleiben. Der Fleckfieber¬
verdacht sollte also überall, wo mit dem Auf¬
treten der Seuche gerechnet werden kann, mög¬
lichst weitgehend in Betracht gezogen werden.
Wenn dies geschieht und der nächsten Umgebung
der verdächtigen Kranken die nötige Aufmerk¬
samkeit geschenkt wird, läßt sich durch ent¬
sprechende energische Maßnahmen die Seuche
oft noch auf gut abgrenzbare Gruppeninfektionen
beschränken.
Jeder Fleckfieberkranke und Fleckfieberver¬
dächtige ist unbedingt schnellstens zu isolieren,
und zwar, wenn irgend möglich, in einem Kranken¬
hause. Bei der Aufnahme muß er gründlich ge¬
badet, geschoren und entlaust werden. Zweck
der Absonderung ist aber nur, zu verhüten, daß
verlauste Menschen mit den Kranken in Berührung
kommen und somit neuen Läusen die Möglichkeit
gegeben wird, das Krankheitsvirus aufzunehmen
und weiter zu übertragen. Auch alle Personen,
die mit dem Kranken oder Krankheitsverdäch¬
tigen in näherer Berührung waren, also in Ge¬
fangenenlagern z. B. alle, die mit ihm dieselbe
Baracke bewohnten, sind als ansteckungsfähig zu
entlausen, in läusefreie Gebäude zu verlegen und
so lange ärztlich zu beobachten, bis 21 Tage lang
unter ihnen keine Fleckfieberfälie mehr aufge¬
treten sind. Die Wohnung, in der alle diese Leute
vorher wohnten, ist inzwischen ebenfalls griind-
lichst zu entlausen und zu säubern.
Die sichere und schnelle Bekämpfung der
Läuse ist für die Niederwerfung der Seuche von
allergrößter Wichtigkeit, bietet aber bei den in
Schmutz und Elend eng zusammenlebenden
Volksmassen, in denen das Fleckfieber vorzugs¬
weise aufzutreten pflegt, außerordentliche Schwie-
46
I
362
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Oktober
rigkeiten. Auf die einzelnen Verfahren, die für
die Entlausung des Körpers, der Kleidung und der
Wohnungen als sicher wirksam anzusehen sind,
kann hier nfcht näher eingegangen werden. Be¬
tont sei aber besonders, daß man mit den in großer
Zahl undmit schwunghafter Reklame angepriesenen
chemischen Mitteln einer wirklichen Läuse-
plage niemals Herr werden wird. Einige dieser
Mittel, besonders Trikresolpuder, Naphthalin¬
puder, Paradichlorbenzol, sind zwar bis zu einem
gewissen Grade wohl geeignet, Läuse von einem
Körper fernzuhalten, wenn die betreffende Person
sorgfältig auf sich achtet, oft die Kleider absucht
und gute Körperpflege treibt; wenn dies aber
nicht möglich ist und die ganze Umgebung stark
verlaust ist, werden auch die besten dieser vor¬
beugenden Mittel versagen. Für die Entlausung
ist von ganz besonderer Bedeutung die Tatsache,
daß die Kleiderlaus ihre Eier („Nisse“) nicht nur,
wie früher allgemein angenommen, in der Unter¬
kleidung, namentlich in den Falten und Nähten
der letzteren, ablegt, sondern mit Vorliebe auch
an den Körperhaaren, besonders an den Achsel-,
Scham- und Afterhaaren. Dort werden sie so fest
angekittet, daß das Haar eher abreißt, als daß
die an ihm haftenden Läuseeier abgestreift werden
können. Zu einer wirksamen Körperentlausung
gehört demnach nicht nur ein gründliches warmes
Seifenbad, sondern auch die Entfernung der
Haare. Kopf- und Barthaar müssen kurz ge¬
schoren, die Haare der anderen genannten Körper¬
haare durch Rasieren oder durch Behandlung mit
einer Strontiumsulfidpaste entfernt werden. Ge¬
schieht dies nicht, so wird bald durch die Weiter¬
entwickelung der übriggebliebenen Nisse eine
.Wiederverlausung eintreten.
Für die Entlausung der Kleidung und Aus¬
rüstung sind als zuverlässig in erster Linie die
physikalisch wirksamen Verfahren heranzuziehen.
Strömender Wasserdampf tötet in wenigen
Minuten alle Läuse und Nisse mit Sicherheit ab.
Sachen, die strömendem Wasserdampf nicht aus¬
gesetzt werden dürfen, also z. B. Ledersachen,
Pelze.usw., werden zweckmäßig mit ruhender oder
besser noch bewegter Heißluft behandelt, ent¬
weder in besonders hierfür konstruierten Hei߬
luftkammern oder auch in gewöhnlichen Back¬
öfen. Man soll in ihnen aber nicht allzu hohe
Temperaturen verwenden, weil diese die Objekte,
besonders Lederzeug, aber auch längere Zeit
getragene Tuchstoffe, doch erheblich schädigen.
Man gehe nicht über 80—85° C hinaus und lasse
diese der Sicherheit halber zwei bis drei Stunden
einwirken.
Von den chemisch wirksamen Verfahren seien
hier die Schwefelung und die Blausäurebehand¬
lung kurz erwähnt. Mit beiden kann man außer
der Kleidung, Decken, Lederzeug und Gebrauchs¬
gegenständen aller Art auch Wohnräume zuver¬
lässigentlausen, wenn diese gut abdichtbar sind. Die
Schwefelung wird am besten durch Verbrennen
eines Schwefelkohlenstoffgemisches (90 Gewichts¬
prozente Schwefelkohlenstoff, 5 Gewichtsprozente
Wasser, 5 Gewichtsprozente denaturierter Spiri¬
tus; im Handel fertig unter dem Namen Salfor-
kose erhältlich) vorgenommen. Für 10 cbm Raum
gebraucht man 340 ccm, für 50 cbm 1250 ccm,
für 100 cbm 2500 ccm dieses Gemisches. Die
Schwefeldämpfe müssen in der erforderlichen Kon¬
zentration sechs Stunden einwirken. Die Blau¬
säure Vergasung, die den besonderen Vorzug hat,
daß sie keinerlei Sachen in irgendeiner Weise be¬
schädigt, wegen der enormen Giftigkeit des Gases
aber natürlich nur unter besonderen Vorsichts¬
maßnahmen angewendet werden darf, vernichtet
Läuse und deren Eier mit Sicherheit, wenn in dem
gut abgedichteten Raume Blausäure von 2 Vo¬
lumenprozent ein bis zwei Stunden lang auf die
Objekte einwirkt. Die Blausäure wird durch Ver¬
mischen verdünnter Schwefelsäure mit Cyan¬
natrium entwickelt.
Als weiteres chemisches Eritlausungsmittel ist
die 5%ige Kresolseifen- oder Carbollösung
zu empfehlen. Sie dient vor allem zur Bekämpfung
der Läuse in den Wohnräumein, aber auch zum
Entlausen von Kleidern, Wäsche und Lederzeug,
die in ihr, völlig untergetaucht, mindestens eine
Stunde verbleiben sollen. Sublimatlösung ist viel
weniger wirksam, Formaldehydlösung ganz un¬
brauchbar.
Alle Entlausungsmaßnahmen sollen tunlichst
nach acht bis zehn Tagen wiederholt werden, damit
Nisse, die das erste Mal der Vernichtung entgingen,
beim zweiten Male im Sinne der fraktionierten
Sterilisierung als Imagines abgetötet werden.
Die Prophylaxe der Krankheit besteht in
der Verhütung infektiöser Läusestiche. In stark
verlauster Umgebung ist sie allerdings schwer
erreichbar. Man hat sich deshalb bemüht, für
besonders infektionsbedrohte Personen, also
namentlich Ärzte und Pfleger, die mit Fleck¬
fieberkranken zu tun oder die verlausten Woh¬
nungen in endemisch verseuchten Orten bei den
epidemiologischen Ermittelungen abzusuchen
haben, für Desinfektoren, die die Kleidung der
Kranken zu entlausen haben, Schutzimpfungs¬
methoden zu finden. Nach den Untersuchungen
von Nicolle, Neukirch, Ham di usw. läßt sich
eine aktive Immunisierung des Menschen dadurch
erreichen, daß man ihm in steigenden Dosen mehr¬
mals Blut einspritzt, das Fleckfieberkranken
während des Fieberstadiums entnommen, defibri-
niert und zuverlässig inaktiviert wurde. Die In¬
aktivierung erfolgt am sichersten durch ein-
stündige Erhitzung bei 58—60° C, weniger sicher
durch 48stündige Kälteeinwirkung oder durch
Chloroformzusatz. Am ersten Tage sollen 1 ccm,
am vierten Tage 2 ccm und am siebenten Tage
3 ccm des Impfstoffes eingespritzt werden. Nach
den zuerst von dem türkischen Arzt Ham dis
vorgenommenen Untersuchungen sind die Erfolge
dieser Schutzimpfung sehr günstig. Sehr wün¬
schenswert und anscheinend aussichtsreich sind
Versuche, einen entsprechenden Impfstoff aus
fleckfieberinfizierten Meerschweinchen zu ge¬
winnen.
Kurz zu berühren wäre noch die Frage einer
besonderen Schutzkleidung für Ärzte, Pfleger
usw., die das Ankriechen von Läusen verhindern
soll. Nach den Vorschlägen von Flügge und
Hey mann, Neufeld, Graßberger, Knaak
u. A. soll sie, möglichst aus einem einzigen Stücke
glatten Stoffes (z. B. Ölleinwand, Schlangenhaut
oder dergleichen) bestehend, den ganzen Körper
bedecken und auf der Rückseite schließbar sein.
An den offenen Stellen soll möglichst weitgehende
Gewähr geboten sein, daß nicht Läuse auf die
Innenseite überkriechen. Hohe, glatte Stiefel und
Gummihandschuhe, für' Wärter auch Fausthand¬
schuhe aus Billrothbatist, sind empfehlenswert.
Die Ansichten über den Wert solcher Schutzanzüge
sind sehr geteilt: Viele Ärzte, die sie erprobt haben,
haben sie als unzuverlässig und falsche Sicherheit
erweckend wieder verworfen. Bei der nötigen
Vorsicht kann man bei der Kränkenbehandlung
und -wartüng wohl auch beim Tragen anderer
zweckmäßiger Berufskleidung (nach Art der hinten
schließenden Operationsmäntel) d'as gleiche er¬
reichen. Bei der Untersuchung und dem Auf¬
decken unentlauster Kranker muß natürlich be-
Oktober
Die Therapi'e der Gegenwart 1917.
363
sondere Vorsicht geübt werden.. Weil helles. Lieht
und Luftzug den Läusen unangenehm sind,
untersuche man möglichst nur bei guter Beleuch¬
tung und bei geöffneten Fenstern. Auch beim
Ablegen, des im, Krankenzimmer getragenen und
sofort in Kresolseifenlösung zu legenden Mantels
muß man sehr behutsam vorgehen, um eine Ver-
streuung etwa aufgenommener Läuse zu ver¬
hüten.
Wenn es möglich ist, soll zur Behandlung und
Pflege Fleckfieberkranker nur Personal heran¬
gezogen werden, das die Krankheit schon über¬
standen hat und dadurch immun geworden ist.
Jedenfalls sollten aber Ärzte und Pfleger, die in
schon vorgerücktem Lebensalter stehen oder sonst
an ihrem Kreislaufsystem irgendwelche, krank¬
haften Veränderungen aufzuweisen haben, bei der
Bekämpfung von Fleckfieberepidemien nicht ver¬
wendet werden.
Therapie. Ein auf den Fleckfieber¬
erreger specifisch wirkendes Heilmittel
kennen wir bisher nicht. Die von ver¬
schiedenen Seiten gerühmten Erfolge der
Anwendung von Rekonvaleszentenserum
oder von normalem Pferdeserum konnten
bei eingehenden Nachprüfungen nicht
einheitlich bestätigt werden. Das gleiche
gilt von der Behandlung mit Nucleo-
hexyl (nucleinsaurem Hexamethylentetr¬
amin), Urotropin undi ntravenösen Injek¬
tionen von Silbersalzlösungen (Kollargol,
Elektrargol, Dispargen, Fulmargin). Sal-
varsan, Chinin, Optochin, Jodkalium und
Quecksilberpräparate sind ebenfalls un¬
wirksam. Das therapeutische Eingreifen
muß sich ganz nach den vorliegenden
Symptomen richten, kann aber bei sach¬
gemäßem Vorgehen nicht nur die Be¬
schwerden der Kranken wesentlich lin¬
dern, sondern auch auf den Ausgang des
Leidens von entscheidendem Einflüsse
sein. Im Anfänge sind, besonders wegen
der quälenden Kopfschmerzen, Anti-
pyretica (Aspirin, Pyramidon usw.) an¬
gezeigt. Später lasse man sie aber fort,
weil ihre Wirkung (starke,. anstrengende
Schweißbildung usw.) den Kranken eher
schwächen als ihm nützen, und weil sie in
Fällen mit erheblicher Blutdrucksenkung
für den Gesamtzustand sogar gefährlich
werden können (Munk). Wo Herz¬
schwäche droht, ist von vornherein eine
energische Digitalisbehandlung am
Platze, am zweckmäßigsten in Form der
Darreichung von Infusen, unter Um¬
ständen auch von intravenösen Ein¬
spritzungen von Digipuratum. Gegen die
in der zweiten Krankheitswoche oder
später einsetzende Kreislaufschwäche gebe
man. Campher und Coffein und richte sich
bezüglich der Anwendungsform und der
Dosen nach dem Ergebnisse der Blutdruck¬
untersuchung. Bei plötzlich eintretenden
gefahrdrohenden Erniedrigungen des Blut¬
druckes sind auch intravenöse Infusionen
von 300 bis 1000 ccm Kochsalzlösung mit
Zusatz von 0,3 g Coffein undjünf Tropfen
Adrenalin (Munk) von guter Wirkung
oder Infusionen wäßriger Campherlösun-
gen (Leo). Sehr wichtig ist die reichliche
Flüssigkeitszufuhr, vor allem auch die
wiederholte Einflößung von Wein,
Kognak usw.
Von unzweifelhaft günstigem Einflüsse
auf den Krankheitsverlauf sind hydro¬
therapeutische Maßnahmen, laue. Bäder,
kühle Packungen usw. Sie mildern die
Benommenheit, kräftigen den Puls und
beeinflussen oft auch die nervösen Er¬
scheinungen in wünschenswerter Weise.
Bei stärkeren Aufregungszuständen ist
natürlich die Verabfolgung von Brom¬
natrium oder dergleichen, bei Krämpfen
von Chloralhydrat angezeigt.
Die Allgemeinbehandlung hat zunächst
auf eine gute kräftigende Ernährung des
Kranken hinzuwirken. Reichliche ge¬
mischte Kost wird in den späteren Krank¬
heitsstadien meist gut "vertragen und ist
besonders auch in der Rekonvaleszenz
dem in der Regel starken Appetit anzu¬
passen. Das Pflegepersonal ist zu einer
sehr sorgsamen Wartung des Patienten
anzuhalten, die durch gute Lagerung
(Luft- oder Wasserkissen!), peinliche
Mundpflege, regelmäßige Lüftung des
Krankenzimmers, Warmhalten und' nöti¬
genfalls Einwickeln der Extremitäten
usw. sehr viel zur Verhütung der früher
erwähnten, für den Ausgang des Leidens
so außerordentlich wichtigen Kompli¬
kationen und Nachkrankheiten beitragen
kann.
Auch während der Rekonvaleszenz
bedarf der Fleckfieberkranke noch län¬
gere Zeit der ärztlichen Aufsicht und Be¬
handlung, bis sich allmählich die Labilität
des Gefäßsystems ausgeglichen hat und
die noch lange anhaltenden Kopfschmer¬
zen und Schwindelanfälle geschwunden
sind. Munk empfiehlt für diese Zeit eine
allmählich sich steigernde Übungstherapie
und die Verabreichung von Strychnin-
Eisen-Arsenpillen.
46*
364
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Oktober
Bücherbesprechungen.
A. Galambos, Kriegsepidemiologi-
sche Erfahrungen. Wienu. Leipzig,
1917. Verlag von Alfr. Holder. Preis 10M.
Galambos hat während des Krieges
bereits eine Reihe Arbeiten kriegsepide¬
miologischen Inhalts publiziert, die seine
großen Erfahrungen auf diesem Gebiete
zeigten. Auch in der Ther. d. Gegenw.
hat er das Wort ergriffen. Dabei trat sein
Interesse sowohl in diagnostischer wie
auch in therapeutischer Beziehung her¬
vor. Nun liegt ein großer, 303 Seiten fas¬
sender Band vor. Es soll unentschieden
bleiben, ob es zweckmäßig ist, schon jetzt
vor Ende des Krieges ein in sich geschlos¬
senes Werk herauszugeben, obwohl un¬
sere Erfahrungen der Kriegsseuchen sich
ständig erweitern und zum Teil sogar zu
neuen Anschauungen führen. Maßgebend
mag wohl der Wunsch gewesen sein, dem
Seuchenarzte in der Heimat und im Felde
eine kritische Darstellung des Gesamt¬
materials zur eigenen Belehrung und
zum Nutzen der Kranken zu geben. Das
ist Galambos ohne Zweifel mit seinem
Buche gelungen. Man findet, wie mir
Stichproben zeigten, in der Tat die Ge¬
samtliteratur (wenn auch nicht mit Auf¬
führung der einzelnen Autoren) ver¬
wertet. Dabei werden die eigenen Erfah¬
rungen, die außergewöhnlich groß sein
müssen, in den Vordergrund gestellt.
Das gilt unter anderem vornehmlich von
der Methylenblautherapie der paratyphö¬
sen und typhösen Erkrankungen, über
deren Wert bei nichtgeimpftem Patienten¬
material bisher noch keine Mitteilungen
gemacht sind; man darf schließlich nicht
vergessen, daß diese Krankheitsprozesse
bei Soldaten schon an und für sich mannig¬
fache atypische Verlaufsformen zeigen,
sodaß ein Urteil über die Therapie beson¬
ders vorsichtig sein muß. — Man kann
dem Werke eine große Verbreitung und
dadurch notwendige Neuauflage wün¬
schen, bei der sich dann auch Gelegen¬
heit zu Ergänzungen bietet. Dünner.
Gmtno Schlesinger. Die Röntgendia-
gnostik der Magen- u ndDarm krank-
heiten. Mit 420 Textabbildungen und
8 Tafeln. Urban & Schwarzenberg,
Berlin-Wien 1917. Preis 15M. geheftet.
Die Bücher, welche sich speziell mit
der Radiologie des Magens und Darmes
befassen, häufen sich. Ein erfreuliches
Zeichen: denn es spiegelt sich in dieser Er¬
scheinung dieTatsache wider, daß einerseits
für diese Abhandlungen ein Bedürfnis be¬
steht und daß die Zahl der Interessenten
zunimmt. Wenn, wie hier, ein erfahrener
Facharzt der Magen-Darmkrankheiten seine
vieljährigen röntgenologischenJErfahrungen
auf diesem Spezialgebiet der Öffentlichkeit
unterbreitet, so müssen ihm die Nur-
Röntgenologen wie die Magen-Darmärzte
besonders dankbar sein. Mit hervorragen¬
der Klarheit und Übersichtlichkeit hat
der Verfasser, gegliedert nach allgemeinen
und speziellen Gesichtspunkten, den Gang
der . Untersuchung, die Physiologie und
Pathologie der Magen-Darmradiologie be¬
handelt und dabei stets im Auge behalten,
daß die Röntgenuntersuchung nur ein
Glied in der Kette der sonstigen klinischen
Untersuchungsmethoden sein kann und
darf. Die besondere Berücksichtigung aut-
optischer Befunde belebt die Schilderung.
Alle Schönfärberei ist vermieden: die Gren¬
zen des Verfahrens sind mit kritischem
Blick eher zu pessimistisch als zu opti¬
mistisch gezogen. So wird das Buch, das
mit Zeichnungen und Röntgentafeln reich
illustriert ist, zahlreiche Freunde unter
Lernenden und Lehrenden finden und
hoffentlich auch manchen Zweifler bekeh¬
ren, damit, wie Schlesinger in der Ein¬
leitung sagt, die Äußerung „das Röntgen¬
genbild hat irregeführt“ der Erkenntnis
weiche: „das Röntgenbild hat immer
recht“. Nur auf die richtige Deutung
durch den Fachmann kommt es an, der
klinischen und röntgenologischen Befund
in richtige Beziehung zu bringen versteht.
Max Cohn.
H. Walter. Indikationsstellung und
Prognose bei den geburtshilf¬
lichen Operationen. 151 Seiten mit
34 Abbildungen. Verlag von Urban
& Schwarzenberg, Berlin-Wien. Preis
kartoniert 4 M.
Der Gefahren bewußt, welchen der
Geburtshelfer, auf sich allein angewiesen,
gegenübersteht, gibt der Verfasser, ge¬
stützt auf eine reiche Erfahrung aus der
Praxis wie Gutachtertätigkeit, dem lern¬
begierigen Arzte einen zuverlässigen Be¬
rater. Das Buch, mit sehr instruktiven
Abbildungen versehen, ist durchaus kein
Kompendium der Geburtshilfe, da es die.
sogenannten Examenskenntnisse voraus¬
setzt, vielmehr eine äußerst klar geschrie¬
bene Exegese der Indikationen und zu
erwartenden Komplikationen. Im ersten
Teil — Seite 11 bis 70 — werden nach
diesen Gesichtspunkten die typischen
Operationen des Arztes — Zange, Extrak-
Oktober
Die Therapie der Gegenwart 1917.
365
tion und. Wendung — besprochen. Auf
einige Sätze, durch die.kurze und trofz-
denv klare Fassung dem Gedächtnisse
schnell arivertraut, möge hingewiesen
werden: das Verbot der hohen Zange (der
Köpf will erst in das .Becken eintreten);
entweder hat, wie Referent oft genug sah,
der meist junge Geburtshelfer eine falsche
Diagnose gestellt, oder das Instrument
mußte wieder abgenommen werden. Wie
beherzigenswert ist die Mahnung, • bei
Beckengeb.urten Geduld zu behalten. Daß
durch die Nichtbeachtung der drohenden
Ruptur bei Querlage eine für die Gebärende
wie den Arzt unheilvolle Situation ent¬
stehen kann, darüber .gibt ja.leider die
forensische Literatur-genügend Aufschluß.
Der zweite Hauptteil handelt von den
typischen Operationen — Verkleinerungs¬
operationen und Operationen in der Nach¬
geburtszeit. Wie trefflich ist die Abwehr
gegen die viel zu häufig gestellte Diagnose:
angewachsene Nachgeburt; der Prozent¬
satz 1:200 bis 250 könnte noch höher an¬
gesetzt werden. — Im Anhänge werden
die. Verletzungen des Kindes (des Schä¬
dels, der Knochen usw ) besprochen. Aus
einem Literaturnachweise kann der tiefer
eindringende Leser Hinweise über die
Einzelfälle erhalten. Den Schluß bildet
ein Register. Alles in allem, ein vortreff¬
liches Büchlein, das zum Rüstzeug eines
jeden Geburtshelfers, der sich nicht un¬
nötigerweise gefährden will, gehören muß.
Daß Druck wie Ausstattung dem be¬
währten Rufe der Verlagsfirma entspricht,
möchte Referent in diesen Zeiten nicht
als einen konventionellen Schluß auf¬
gefaßt wissen..
Pul vermach er (Charlottenburg).
Wilhelm Stekel. Onanie und Homo¬
sexualität. (Die homosexuelle
Neurose.) Berlin u.Wien 1917, Urban <fc
Schwarzenberg. Lex. 8°, XI 1,387 S. 15M.
Obgleich der Verfasser im Vorwort
sich öffentlich von der Freud sehen Psy¬
choanalyse als von der ,, Herrschaft eines
wissenschaftlichen Papismus“ lossagt, so
baut sich doch auch sein vorliegendes
Buch wesentlich auf psychoanalytischen
Gedankengängen auf. Referent kann
deren Beweiskraft in vielen Fällen nicht
anerkennen, sich auch die allgemeinen
Schlußfolgerungen, z. B. den Ausspruch,
daß alle Schädigungen, die man der Ona¬
nie zuschreibt, nur in der Phantasie der
Ärzte existieren, daß die Homosexualität
.eine. Neurose, niemals angeboren sei,
sondern eine durch die sadistische Ein¬
stellung zum entgegengesetzten Ge-
schlechte motivierte Flucht in das eigene
Geschlecht darstelle, nicht zu eigen ma¬
chen. Trotzdem ist Stekels von Anfang
bis zu Ende spannend und anregend in
glänzendem Stile geschriebenes Buch eine
bedeutende Bereicherung dersexu-
alwissenschaf fliehen Literatur.
Enthält es doch eine Fülle von kleinen
psychischen Einzelbeobachtungen, die der
Kritik durchaus standhalten und uns den
klinischen Scharfblick und die' psycholo¬
gische Beobachtungskunst des Verfassers
in höchstem Maße bewundern lassen,
auch für die seelische und körperliche Be¬
handlung neue Handhaben bieten. Was
er über die noch so dunklen Zusammen¬
hänge zwischen Rhythmus und Sexualität,
über die verschiedenen Formen der larvier-
ten Onanie (namentlich bei Kindern) und
des unbewußten Autoerotismus, über den
Kopfdruck des Neurasthenikers, über die
soziale Funktion der Onanie, über den
Zusammenhang des Schamgefühls mit
den stärksten erogenen Zonen, über Be¬
ziehung des Selbstmordes zur Onanie,
über D.onduanismus, über die Rolle der
Bisexualität in der Natur und Kultur, über
die Beziehungen der Epilepsie und des
Alkoholismus zur Homosexualität u. a.
sagt, ist aller Beachtung wert. Therapeu¬
tisch kommt für Stekel sowohl für die
Onanie als auch für die Homosexualität
eigentlich nur die Psychoanalyse in Be¬
tracht. Trotz der sehr ausführlichen
Inhaltsangabe wird ein Namen- und Sach¬
register schmerzlich vermißt. Den weite¬
ren in der Vorrede angekündigten drei
Fortsetzungen über die Impotenz des
Mannes und die Geschlechtskälte der
Frau, über psychosexuellen Infantilismus
und Fetischismus, über Masochismus und
Sadismus sehen wir mif berechtigter
Spannung entgegen. Iwan Bloch (Berlin).
Schloessmann. Der Nervenschuß-
s chm er z. Berlin 1917, Jul. Springer, 96S.
Schloessmann hat seit Beginn des
Krieges an der Tübinger Chirurgischen
Universitätsklinik sein Augenmerk auf
das eigenartige Symptom des Nerven-
schußschmerzes gerichtet, das heißt jener
dem Trägeroft fast unerträglichen Neur¬
algien nach Schußverletzungen der Nerven.
Von diesem Gesichtspunkt aus werden die
Nervenverletzungen analysiert und der
Nervenschußschmerz nach Häufigkeit des
Auftretens in den einzelnen Nervengebieten
nach der Verletzung und anatomischem
Befund beschrieben.. Die Therapie vermag
nicht in allen Fällen Hilfe zu bringen.
Hayward.
366
Die Therapie der Gegenwart 1917,
Oktober
Referate
Arsenwasserstoff in die Therapie der
Anämien einzuführen, war der Zweck einer
Versuchsreihe, die Prof. Fühner aus
dem pharmakologischen Institut der Uni¬
versität in Königsberg i. Pr. mitteilt.
Die toxischen Eigenschaften des Arsen¬
wasserstoffs (AsH 3 ) auf den Organismus
sind bekannt: Zerstörung der roten Blut¬
körperchen, Hämoglobinurie und Ikterus,
dabei Magen-Darmstörungen leichterer Art.
Der Zerfall von Erythrocyten kann sehr
hochgradig sein, bis zu weniger als einer
Million, ohne daß der Patient daran zu¬
grunde geht.
Die Beobachtung, die. der Verfasser
bei toxikologischen Versuchen mit Arsen¬
wasserstoff machte, daß die anämisch ge¬
machten Tiere sich rasch wieder erholten,
ja ihre Erythrocytenzahl nach vorüber¬
gehendem Absinken über den ursprüng¬
lichen Wert hinaufstieg, verwertete er als
Grundlage für therapeutische Anwendung
des Arsen Wasserstoffs: Eine Anzahl weißer
Ratten wurde durch Phenylhydrazin an¬
ämisch gemacht, darauf die Hälfte sich selbst
überlassen, die andere Hälfte mit Arsen¬
wasserstoff behandelt mit dem Resultat,
daß alle behandelten Tiere nach 14 Tagen
mehr rote Blutkörperchen regeneriert hatten
als die unbehandelten.
Fühner nimmt eine indirekt blutbil¬
dende Wirkung des Arsenwasserstoffs an:
Er zerstört Erythrocyten, schafft also Sauer¬
stoffmangel, und regt dadurch das Knochen¬
mark zu Mehrproduktion von Blutzellen
an. Die Einatmung durch die Lungen
läßt das Medikament dem zu beeinflussen¬
den Organ, d. h. dem Blut, nahe kom¬
men unter Umgehung des durch Arsen¬
wasserstoff leicht gereizten Magen-Darm-
kanals. Sie ermöglicht auch ein Auskom¬
men mit viel geringeren absoluten Arsen¬
mengen als 'bei der Darreichung von
Arsenpräparaten per os. Ferner hat Arsen¬
wasserstoff vor anderen Arsenpräparaten
den Vorteil voraus, daß „er niemals in
Produkteübergehen kann mit stärkerer Blut¬
wirkung als er selbst“.
Versuche über genaue Dosierung und
zur Sammlung klinischer Erfahrungen
sind im Gange. j. v. Roznowski.
(D. m. W. 1917, Nr. 29.)
Küttner bewirkte die Blutstillung
durch lebende Tamponade mit Muskel¬
stückchen bei Aneurysmaoperationen. In
einem Falle eines Aneurysmas, das seinen
Sitz am centralen Ursprung der Arteria
vertebralis hatte, trat eine sehr heftige
Blutung während der Operation auf, ob¬
wohl die sichtbaren zuführenden Gefäße
tempo-rär abgeklemmt waren. Die Blu¬
tung brachte den Kranken in die höchste
Gefahr, konnte jedoch sofort durch Tam¬
ponade mit kleinsten Muskelstückchen
aus der Umgebung, über welche die Haut
vollkommen vernäht wurde, gestillt wer¬
den. Bei der Einfachheit des Verfahrens
kommt dem schon wiederholt gemachten
Vorschlag ganz besondere Bedeutung zu.
Hayward.'
. (Zbl.f. Chir. 1917, Nr. 25.)
Boas weist erneut auf die Bedeutung
der okkulten Blutungen, für die Diagnose
der Carcinome des Verdauungsapparats
hin, die er mit ersten Röntgenologen
wesentlich höher stellt als die des Rönt¬
genbildes, das zugegebenermaßen in etwa
einem Vierteil der Fälle versagt. In
90 Fällen von Magenkrebs hatten 96%
im Stuhl, 62% auch im Mageninhalte ok¬
kultes Blut; von 56 durch Boas selbst
untersuchten Fällen hatten sogar alle
im Stuhle und 78% im Magen solches,
ln zwölf Fällen von Krebs der Speiseröhre
war ebenso wie in sieben Fällen von Kolon-
'carcinom stets positiver Blutbefund im
Stuhle. Sehr bedeutungsvoll ist auch die
außerordentliche Persistenz der Blu¬
tungen bei den malignen Erkrankungen,
sodaß die Frage aufgeworfen worden ist,
ob nicht aus dem konstanten Fehlen von
okkultem Blute umgekehrt auf Abwesen¬
heit einer bösartigen Neubildung ge¬
schlossen werden könnte, eine Frage, die
Boas auf Grund seiner Erfahrungen auch
für die scirrhösen Tumoren unbedingt be¬
jaht. Differentialdiagnostisch ist das be¬
sonders wichtig für die Achylia gastrica
totalis bei schweren, besonders perni¬
ziösen Anämien. Die Differentialdiagnose
gegenüber gutartigen geschwürigen Pro¬
zessen wird, solange eine Differenzierung
von ,,malignem“ und ,,nicht malignem“
Blute nicht möglich ist, wesentlich darauf
zu beruhen haben, daß in diesen Fällen,
von vereinzelten torpiden Magengeschwü¬
ren und vom Ulcus penetrans mit Nischen¬
bildung abgesehen, unter geeigneter Be¬
handlung und Pflege innerhalb von kurzer
Zeit die Blutung völlig zu verschwinden
pflegt. Die Blutprobe im Mageninhalt,
deren Anstellung aus Furcht vor. arte-
ficiellen Blutungen leider sehr oft unter¬
lassen wird, bezeichnet Boas bei posi¬
tivem Ausfälle als beweisend, während
einem auch dauernd negativen Befunde.
Oktober
Die Therapie der Gegenwart 1917.
367
nicht entfernt die Bedeutung zukommt
wie im Stuhle. Die Gefahr artefi-
cieller Blutungen hält Boas bei einiger
Übung von Patient und Arzt für ver¬
schwindend; sollten sie wirklich einmal
Vorkommen, so gibt der Magen'inhalt nach
Entfernung der makroskopisch sichtbaren
Blutstreifen ein einwandfreies Resultat,
schlimmstenfalls ist die Ausheberung zu
wiederholen. Während beim Speise¬
röhrenkrebs die Diagnose in den meisten
Fällen ohne Stuhluntersuchung zu stellen
ist, kann ihre Bedeutung für die Erken¬
nung des Kardiacarcinoms, das bekannt¬
lich meist keine Passagestörungen macht,
nicht hoch genug angeschlagen werden,
zumal gerade hier die Röntgenunter¬
suchung nicht selten im Stiche läßt. Es
läßt sich wohl nach allem kaum etwas
dagegen sagen, wenn Boas die Bedeutung
des palpablen Tumors und namentlich der
Achylia gastrica sehr viel geringer be¬
wertet, als dies wohl hier und da üblich
ist. Selbst für die Diagnose des Kolon-
carcinoms gegenüber gutartigen Stenosen
und Tumoren hat sich die Blutprobe dem
Verfasser in einigen Fällen bewährt. Die
Probe selbst besteht bei Boas für den
Stuhl in der Vorprobe mit Benzidin und
in einer Hauptprobe (Thymolphthalin-
probe oder Guajakprobe im Chloral-
Alkohol-Eisessig-Extrakt der Faeces). Für
den Magensaft genügt die Guajakprobe
im Alkohol-Eisessig-Extrakt nach vor¬
heriger Neutralisierung mit Sodalösung.
Waetzoldt.
<M. m. W. 1917, Nr. 23.)
S c h r ö d e r gibt eine Zusammenstellung
über die Bedeutung kleiner epileptischer
Anf älle(Absencen, Petit mal) bei Kindern
und Jugendlichen. Als die differentialdia¬
gnostisch wichtigste der Erkrankungen,
bei denen sie Vorkommen, kann die
Pyknolepsie gelten, die sogenannteFried-
mannsche Krankheit, von diesem als ^ge¬
häufte Anfälle“ bezeichnet. Es handelt
sich um sehr oft — bis mehrere hundert¬
mal täglich — auftretende kurze, etwa
zehn Sekunden dauernde Unterbrechun¬
gen der Fähigkeit zu denken, zu sprechen,
sich willkürlich zu bewegen, jedoch nicht
des Bewußtseins überhaupt und der auto¬
matischen Bewegungen. Der Anfall be¬
ginnt mit Aufwärtsdrehen der Augen,
Erschlaffen der Extremitäten, Zittern der
Lider, und schwindet schnell, wie er
gekommen. Im Gegensatz zur Epilepsie
führt die Pyknolepsie weder zu einer Be¬
einträchtigung der geistigen oder körper¬
lichen Entwickelung, noch zu einer solchen
des Befindens; sie verschwindet gegen das
14.bis lö.Lebensjahr, ohnezuepileptischen
Anfällen und dergleichen geführt zu haben,
und tritt nicht, wie die Epilepsie, um das
20. Jahr herum wieder auf. Eine Ver¬
blödung, wie namentlich bei denjenigen
Epilepsien, die sehr gehäufte Absencen
aufweisen, kommt, wie erwähnt, nie vor.
Das Leiden beginnt im fünften bis achten
Jahre und ist auffallend periodisch, so-
daß fast oder ganz anfallfreie Monate mit
anfallreichen wechseln, in mitunter sehr
regelmäßiger Weise. Ursächlich soll
psychopathische Belastung bei Auslösung
durch ein psychisches oder somatisches
Trauma in Frage kommen. Von dem
gewöhnlichen Typ der Anfälle, der ja
sehr gleichförmig ist, kommen im späteren
Verlaufe mitunter Abweichungen im Sinne
eines stärkeren Hervortretens der moto¬
rischen Reiz- und Lähmungserscheinum
gen vor. Gegen Ende der Krankheit ver¬
schwinden diese Erscheinungen wieder.
Vereinzelt wurden schließlich, immer nur
eingestreut unter Hunderte von typischen
Anfällen, Bewußtseinsverlust, Zusammen¬
sinken, unwillkürlicher Urinabgang und
Pupillenstarre sowie ein epileptischer An¬
fall gesehen. Stets erwachen übrigens die
Kinder bei Anfällen im Schlaf. Die im
Anfang recht schwere Differentialdiagnose
hat zu berücksichtigen, daß Seltenheit und
Vielgestaltigkeit der Anfälle, vorwiegend
nächtliches Auftreten, Enuresis, Wesens¬
veränderung im Zweifel gegen Pyknolep¬
sie sprechen.
Streng von der Pyknolepsie zu trenne«
ist die Narkolepsie; das sind Anfälle von
im eigentlichen Sinne unwiderstehlicher
Müdigkeit, in denen die Kranken eben
ziemlich plötzlich in einen Zustand ver¬
fallen, der sich vom natürlichen Schlaf
nicht unterscheidet, oft aber so leicht ist,
daß die Kranken ihre Arbeit halb¬
schlafend fortsetzen. Typisch ist die
plötzliche Muskelerschlaffung beim La¬
chen und Weinen. Die Zustände treten
nur bei Männern im dritten und vierten
Lebensjahrzehnt auf und dauern wenige
Minuten bis zu einer halben Stunde, bei
dem nicht seltenen Übergang in natür¬
lichen Schlaf auch wohl mehrere Stunden.
Ihre Differentialdiagnose wird im all¬
gemeinen nicht schwer sein. Bei der kind¬
lichen Hysterie spielen Absencen eine so
geringe Rolle, daß ihr Auftreten gegen
diese Diagnose spricht. Ob es einen
hysterischen Typ der Pyknolepsie gibt,
ist fraglich; Übergangsformen sind beob¬
achtet. Die spasmophilen Zustände, wie
368 Die Therapie der
äas. Wegbleiben, unterscheiden sich deut¬
lich von Epilepsie wie von Pyknolepsie,
wenn auch, einige die letztere der Spasmo-
phflie auf Grund der bei ihr; mehrfach
beobachteten tetanoiden Symptome an¬
zugliedern geneigt sind. Kleine Anfälle
von Rindenepilepsie, die nur ein kleines
einseitiges Muskelgebiet betreffen, können
ein „Petit mal“ vortäuschen, .doch wird
die Anamnese' und die genaue neurolo¬
gische Untersuchung die richtige Diagnose
stellen lassen, wie. sie auch die Unter¬
scheidung der „echten“ von der Rinden¬
epilepsie ermöglicht.. Als funktionelle
Rindenkrämpfe endlich bezeichnet man
oft familiär, bei jugendlichen Psycho¬
pathen auftretendes Ziehen in einem
Gliede, das sich nach Jacksonschem Typ
ausbreitet und zu einer Hemmung mit
krampfhaften Bewegungen der Extre¬
mitäten und des Gesichtes führen kann.
Dauer kaum zehn Sekunden; Heilung
durch Suggestion. Waetzoldt.
(D. m. W. 1917, Nr. 17.)
Über die operative Behandlung der
Extremitätenfrakturen schreibt Ringel:
Als Methoden, die für die blutige Ver¬
einigung von Knochenbrüchen Geltung
haben, kommen in Betracht: 1. die ein¬
fache blutige Reposition und Verzahnung
der Fragmente; 2. die Knochennaht;
3. die Verschraubung der Bruchenden
mit Metallplatten nach La ne und Lam-
botte; 4. die Verschraubung und Fixa¬
tion mit Hilfe des Fixateurs; 5. die
Bolzung mit Metall-, Elfenbein- oder
Hornbolzen, und 6. die Bolzung mit auto¬
plastischem.. Knochenmateriale nach
Lexer. Von den 44 Fällen des Verfassers
gelangte diese letzte Methode 26 mal zur
Anwendung. Als Bolzen wird ein Stück
aus der Fibula genommen. Eine Gefahr
für die Statik des Beines durch diese Ent¬
nahme entsteht nicht, da, wie an beige¬
gebenen Abbildungen gezeigt wird, die
vollkommene Regeneration, der Fibula in
wenigen Wochen eintritt. Bei den Kriegs¬
verletzungen besteht ein gewisses Risiko
durch die Gefahr der ruhenden Infektion
und wir haben auch in der vorherigen
Excision der Narbe kein Mittel, diese
Komplikation auszuschalten. Auch Ver¬
fasser hatte hier einen Mißerfolg zu ver¬
zeichnen. Hay ward.
(D. Zschr. f. Chir. 1917, Bd. 139, H. 5, 6.)
Das Eintreten von Erblindung nach
Alkoholinjektion in das Ganglion Gas-
seri beschreibt Koennecke. Bei einem
Falle von seit 18 Jahren bestehender Trige¬
minus-Neuralgie wurde zunächst die typi-
Gegenwart 1917. Oktober
sehe Resektion des Nervus mandibularis
vorgenommen, hierauf zwei Jahre Be¬
schwerdefreiheit. Dann setzten aber’ die
Schmerzen mit solcher Heftigkeit ein,
daß eine Alkoholinjektion in das Ganglion
Gasseri nach Härtel vorgenömmen
wurde. Der Verlauf war glatt, der Erfolg
gut, aber etwa fünfviertel Jahre später
mußte wegen neuer Schmerzanfälle die
Operation . wiederholt werden. Trotz
genauester Befolgung der Härte Ischen
Angaben verlor der Patient unter stür¬
misch auftretenden Augenstörungen das
Sehvermögen auf der betroffenen ! Seite.
Die Schmerzen waren von dieser zweiten
Injektion kaum beeinflußt. Einige Mo¬
nate später wurde der regenerierte Nerv
abermals reseziert und der Patient be¬
schwerdefrei entlassen. n
Verfasser glaubt, den Grund der
Amaurose in einer Verletzung des Sinus
cavernosus gefunden zu haben: die Rei¬
zung der Sinuswand, das Koagulieren des
Bluts durch die Einwirkung des hoch¬
prozentigen Alkohols hätten eine Throm¬
bose zur Folge gehabt, die zur raschen
Verstopfung der Vena ophthalmica sup.
und der Vena centralis retinae ge¬
führt und die Erblindung verursacht
hätten. Daß die Verletzung trotz Inne¬
haltung der Härtelschen Vorschriften
dem sorglich vorgehenden Operateur un¬
terlaufen konnte, sei wohl in der Ver¬
narbung des Gebietes nach der ersten
Injektion begründet. Durch narbige
Schrumpfungen sei wahrscheinlich der
Sinus cavernosus mit der hinteren Wand
des Cavum Meckeli näher an das Ganglion
herangerückt. Große Gefahr sei dem¬
nach erst bei einer zweiten Injektion.
Verfasser empfiehlt große Vorsicht mit
dem Verschieben der Nadel bei der
Alkoholinjektion; vor der Injektion sollte
man sich durch Abnahme der Spritze über¬
zeugen, daß kein Blut kommt.
Hage mann (Marburg).
(D Zschr. f. Chir. Bd. 140, H. 3/4, S. 225.)
In der ausgezeichneten Monographie:
Verlauf und Behandlung von Gelenk¬
eiterungen, Technik der Eröffnung und
Drainage, gibt Payr eine auf zahlreiche
eigene Erfahrungen sich stützende Schil¬
derung, deren Grundzüge er im vergan¬
genen Jahre in der M. m. W. nieder¬
gelegt hatte. Die Arbeit wird unterstützt
durch eine Reihe vorzüglicher Abbildun¬
gen, welche die Technik der Eröffnung
der Gelenke und die Drainage in typi¬
scher Weise veranschaulichen. Wenn
man zielbewußt und erfolgreich eine Ge-
Oktober Die Therapie der
lenkeiterung behandeln will, so muß man
wissen, daß diese in zwei Formen auf-
treten kann, welche nach Symptomen
und Schwere des Krankheitsbildes durch¬
aus verschieden sind: Es sind das Em¬
pyem, das heißt die Oberflächeneite¬
rung der Synovialmembran, und die Kap¬
selphlegmone, von denen die erste
Form zu der leichteren Erkrankungsart
zu rechnen ist. Damit ein Empyem ent¬
steht, muß die Möglichkeit eines spon¬
tanen Verschlusses der penetrierenden
Verletzungen gegeben sein, z. B-. durch
Bildung eines Blut- oder Fibrinpfropfes
im Schußkanal. Die Kapselphlegmone
schließt sich erst sekundär an das Empyem
an. Ein Empyem kann nur da entstehen,
wo wir Gelenke mit größerem Kapsel¬
hohlraume haben, ist dagegen ein solches
' Gelenk breit eröffnet, so kann ein Empyem
sich nicht entwickeln. Bei diesem steht
das Gelenk in Entlastungsstellung, bei
der Phlegmone ist jede Bewegung außer¬
ordentlich schmerzhaft. Weiterhin pflegt
das Allgemeinbefinden beim Empyem
nicht so sehr zu leiden. Therapeutisch
kommt für das Empyem die Injektion
von Lugolscher Lösung, Jodtinktur oder
Phenolcampher in Frage. Bei der Kapsel¬
phlegmone ist ohne breite Eröffnung be¬
ziehungsweise Gelenkresektion nicht aus¬
zukommen. Trotzdem muß hier oft die
Amputation aus vitaler Indikation an¬
geschlossen werden. Hayward.
(D. Zschr. f. Chir. 1916, Bd. 139, 1.—4. Heft.)
Über sogenannte idiopathische Herz¬
hypertrophie sprach Kraus in der Ber¬
liner medizinischen Gesellschaft
Eine primär vom Herzen ausgehende
Hypertrophie und Dilatation desselben an¬
zunehmen, ohne daß Vermehrung der ihm
zugemuteten Arbeit vorläge, ist überwun¬
dener Standpunkt, Hypertrophie des Herz¬
muskels ist als Folge dauernd gesteigerter
Funktion des Herzens aufzufassen als ein
progressiver Vorgang, eine Anpassungser¬
scheinung bei erhöhter Arbeit solange ein
Optimum nicht überschritten wird. Der
prinzipielle Unterschied zwischen Erstar¬
kung und Hypertrophie, den die Klinik
noch immer macht, ist ein falscher. Bei¬
des ist ein und derselbe Vorgang, nur die
Entstehungsbedingungen und äußeren Um¬
stände bewirken die Verschiedenheit des
weiteren Verlaufs. Erst die objektive Fest¬
stellung von Krankheitsäußerungen recht¬
fertigt die Annahme einer Erkrankung,
nicht schon der Befund eines vergrößerten
Herzens. Zahllose Arbeitsherzen verklei-
Gegenwart 1917. 369
I nern sich ohne bleibenden Schaden wie¬
der, wenn die Bedingungen für die Ver¬
größerung aufhören, wie auch die Skelett¬
muskulatur je nach den an sie gestellten
Anforderungen schwanken kann.
Liegt der festgestellten Vergrößerung
keine äußere Anstrengung zugrunde, so
findet sich stets eine andere Ursache, in
Circulationshindernissen, an den Klappen
usw. Eine „reine“ Hypertrophie des Her¬
zens mit progredientem Verlauf und un¬
günstigem Ausgang erkennt der Verfasser
nicht an. Es gibt kein Krankheitsbild,
das mit Arbeitshypertrophie beginnend
über wiederholte Anfälle von Herzinsuffi¬
zienz schließlich ad exitum führte, ohne
daß eine anderweitige im Circulations-
system sich äußernde Ursache vorhanden
wäre.
Wohl aber kann Muskelanstrengung bei
gewissen Körperverfassungen bleibende
Schädigungen des Herzens auslösen. Kon¬
stitutionell kleines Herz und enge Aorta'
spielen jetzt im Kriege eine große Rolle.
Richtig dosierte Muskelarbeit kann aus
einem konstitutionell kleinen Herzen viel
herausholen, ohne ihm zu schaden, kann
es zu einem leistungsfähigen machen, der
erwünschten Arbeitshypertrophie zuführen.
Einer Überlastung ist es sehr schlecht
gewachsen; es neigt sofort zur bleibenden
Erweiterung. Die Fähigkeit zum Friedens¬
beruf kehrt wohl wieder, Kriegsverwend¬
barkeit sehr oft nur teilweise.
Eine zweite Gruppe der früher als
idiopathisch betrachteten Herzhypertro¬
phien sind Präsklerosen. Sklerose sämt¬
licher kleineren Gefäße des Organismus
erschwert die Circulation und bildet also
eine occulte Ursache für die damit nicht
mehr „reine“ Herzhypertrophie. Ebenso
können nicht sklerotische, sondern lue¬
tische Veränderungen der kleinsten Ge¬
fäße einen herzvergrößernden Faktor
bilden, der leicht der Beobachtung ent¬
geht.
Die sogenannten congenitalen Herz¬
hypertrophien sind in ihrer Ätiologie
noch am wenigsten geklärt. Adrenalin¬
gehalt des Blutes erscheint in Zusammen¬
hang damit .zu bringen analog dem
thyreotoxisch veränderten Herzen.
Endlich spielt der Lymphatismus eine
Rolle bei Herzvergrößerungen im Kindes¬
alter.
Kurzum: alle Herzhypertrophien, auch
die im militärischen Dienst entstehenden,
hängen ab von Reizen im Zusammen¬
hang mit anderweitigen Störungen. Aus
47
370
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Oktober
sich selbst heraus' hypertrophiert kein
Myokard. j. v . Roznowski.
(B. kl. W. 1917, Nr. 32.)
Über Fettplastik der Lunge be¬
richtet Groß. Bei der Operation einer
nach Lungenschuß entstandenen Lungen-
liöhle, die durch Naht geschlossen werden
sollte, erfolgte eine zunächst unstillbare
arterielle Blutung. Verfasser bildete einen
etwa 25 cm langen, aus der Xchselgegend
entnommenen, 2 bis 3 cm dicken Fett¬
lappen, mit diesem wurde der Hohlraum
fest ausgepolstert. Die Blutung stand
sofort. Die Heilung vollzog sich, von
kleineren Störungen abgesehen, gut, und
der Patient konnte, sieben Monate nach
•der Einpflanzung in bestem Gesundheits¬
zustand entlassen werden. Der Ent¬
lassungsbefund ergab, daß durch den ge¬
stielten Fettlappen Bronchusfisteln ge¬
schlossen und die große Lungenhöhle zu¬
verlässig beseitigt worden waren. Der
Fettlappen war nicht mehr vorhanden,
das an seiner Stelle n.unmehr entstandene
Gewebe war beim Auscultieren und Per-
kutieren kaum vom normalen Lungen¬
gewebe zu unterscheiden. Verfassernimmt
Bindegewebe an, das in seiner narbigen
Schrumpfung die Wände des Kanals an¬
einandergezogen hat. Dieses Verhalten:
Atrophie des Fettlappens, narbiges
Schrumpfen des daraus entstehenden Ge¬
webes, läßt Verfasser — trotz des guten
Einzelerfolges— im allgemeinen die Regel
aufstellen, den Brustraum bei derartigem
Vorgehen (eventuell in einer zweiten
Sitzung) so zu verkleinern, daß durch die
spätere Schrumpfung kein Hohlraum ent¬
stehen kann. Hagemann (Marburg).
(D.Zschr.f. Chir. 141. Bd., 3. u. 4. Heft.)
Zur Behandlung großer Nerven-
defekte bemerkt Kirschner, daß die
bisher gebräuchlichen Methoden zum Teil
sehr wenig zuverlässige Resultate geben.
Er erinnert hierbei an die bekannten
Verlagerungsverfahren, Implantationen,
Interpositionen, Tubulisationen und
Agarröhrchen. Einige neue Vorschläge
gehen darauf hin, zunächst eine exakte
Nervennaht unter Leitung des Auges aus¬
zuführen, selbst wenn dabei die Conti-
nuität des Gliedabschnittes leiden muß.
Von diesem Gesichtspunkte aus ist die
Continuitätsresektion des Knochenge¬
rüstes empfohlen worden. Kirschner
selbst hat ein ähnliches Verfahren aus¬
gearbeitet, das sich folgendermaßen ge¬
staltet: Er durchtrennt den Knochen der
Extremität subperiostal schräg, wobei
darauf Rücksicht genommen wird, daß
die Bruchenden später durch den Muskel¬
zug wieder gegeneinander gebracht wer¬
den. Nun werden die Knochenenden so¬
weit gegeneinander verschoben, daß die
direkte Nervennaht ausgeführt werden
kann. Die Nahtstelle des Nerven wird
durch ein Stück aus der Fascia lata ge¬
sichert. Dann wird die ganze Wunde ge¬
schlossen. Nach zehn Tagen wird allmäh¬
lich mit der Extension begönnert und die
normale Länge des Gliedabschnittes in
etwa zehn Tagen erreicht. Das gleiche
Resultat kann man dadurch erzielen, daß
man die Durchtrenriung der Knochen
nicht in schräger Richtung, sondern senk¬
recht zur Achse vornimmt und dann eine
Dislocatio ad axin bewerkstelligt, sodaß
der Winkel nach der Neryennahtstelle zu
sieht. Praktische Erfahrungen liegen den
Vorschlägen noch nicht zugrunde.
Hayward.
(D. m. W. 1917, Nr. 24.)
Interessante Versuchsergebnisse einer
direkten Pharmakotherapie des Nerven¬
systems veröffentlicht M.Lewandowsky.
Verf. nimmt die Frage experimentell in
Angriff, ob die direkte Zuführung von
Medikamenten eine stärkere Einwirkung
auf das Centralnervensystem zeigt als der
intravenöse Weg. Es wurde eine größere
Anzahl von Medikamenten bei Hunden
intralumbal injiziert und deren pharmako-
dynamische Wirkung und Verweildauer
im Liquor studiert. Die Versuche Lewan-
dowskys führten zu folgenden Ergeb¬
nissen. Die interlumbale Injektion einiger
Kubikzentimeter Alkohol bewirkt eine
lokale, schnell vorübergehende Narkose
des Rückenmarks. Im gleichen Sinne
wirkt der Methylalkohol sowie eine An¬
zahl von Schlafmitteln. Weiter konnte
Lewandowsky feststellen, daß die
pharmakodynamische Wirkung einiger
Nervengifte sich mit der Art ihrer Ein¬
verleibung ändert. So löst das in den
Lumbalsack gebrachte Strychnin stür¬
mische sensible Reizerscheinungen aus.
Ähnlich verhält sich das Morphium. Durch
Kombination von Atropin mit Morphium,
Cocain mit Strychnin wird die sensible
Reizwirkung abgestumpft beziehungs¬
weise aufgehoben. Hieraus ergibt sich die
.Möglichkeit, die Synergie und den Anta¬
gonismus von Arzneigemischen durch
einen intralumbalen Injektionsversuch zu
erkennen. Auf die Zuführung dünner
Adrenalinlösungen reagiert das Rücken¬
mark mit Tonussteigerung und Tremor.
Interessant ist das verschiedenartige Ver¬
halten des Rückenmarks gegenüber Na-
Oktober
371
Die Therapie der Gegenwart 1917.
trium und Kalium. Während Natrium¬
verbindungen von Brom und Jod gut ver¬
tragen werden, führen die entsprechenden
Kalisalze zu Lähmungen, bei stärkeren
Dosen zum Tode. Ähnlich wie Kalium
wirkt Calcium. Der von anderer Seite
{Mulzer, Auer) behauptete Antagonis¬
mus zwischen Calcium und Magnesium
konnte in der gegebenen Versuchsanord¬
nung nicht bestätigt werden. Auf Grund
seiner Versuche konnte Lewandowsky
feststellen, daß bei direkter Applikation
alle Substanzen auf das Nervensystem
schneller wirken als vom Blutwege aus.
Die meisten Substanzen wirken direkt
intensiver, sodaß man mit kleineren Dosen
auskommt, einige Substanzen wirken bei
direkter Zuführung anders als bei in¬
direkter, manche sogar ausschließlich bei
intralumbaler Anwendung, während in
keinem Falle Substanzen, die vom Blut¬
wege aus wirken, bei direkter Applika¬
tion versagen. Hiermit eröffnet sich eine
neue Perspektive für die Zuwendung von
Heilmitteln in der Neurologie, dort müssen
die verschiedenen Arzneien noch ein¬
gehend auf ihre anästhesierende, narkoti¬
sierende und excitierende Wirkung ge¬
prüft werden. In die Praxis eingeführt ist
die intralumbale Injektionstherapie be¬
reits bei der Salvarsanbehandlung der
Tabes und Paralyse. Dabei ist jedoch zu
bemerken, daß Großhirnprozesse vom
Rückenmark aus nur durch Injektion
größerer Flüssigkeitsmengen beeinflußt
werden können, was wiederum im Hin¬
blick auf die Empfindlichkeit lebenswich¬
tiger Oblongatacentren nicht unbedenk¬
lich ist. Leo Jacobsohn (Charlottenburg).
(Ztschr. f. Neur. u. Psych. 1916, Heft 1. u. 2.)
Schütz will, entgegen dem leider
noch vielfach üblichen Brauche, die Neur¬
astheniker monatelang—und erfolglos —
in Heimatlazaretten zu behandeln,
dieselben in Genesungsheimen hinter der
Front unter ärztlicher Aufsicht beschäf¬
tigt wissen (z. B. mit Garnisondienst), wo
sie nach seiner Erfahrung viel eher ge¬
sunden als in der Heimat. Die Psycho¬
pathen möchte er, da sie im Dienste sich
und dem Heere mehr schaden als nützen,
überhaupt vom Heeresdienste ausge¬
schlossen sehen. Was nun die psycho¬
genen und hysterischen Krankheitsbilder
angeht, so hält er sie für viel häufiger, als
sie bis jetzt diagnostiziert werden, na¬
mentlich auch die Kombination mit orga¬
nischen Leiden (z. B. Haltungscontrac-
turen und -lähmungen, auch chronischer
Rheumatismus und Ischias, ferner die
meist ihrer Natur nach verkannten Blasen¬
störungen, besonders Incontinenz).
Welche Therapie man anwendet,' hält er
ebenso wie die Frage, ob Heilung in
einer oder mehreren, Sitzungen, für eine
Frage des persönlichen Geschmacks und
der Übung des einzelnen, doch weist er
ausdrücklich darauf hin, das Mutismus
und Aphonie, soll nicht ihre Prognose er¬
heblich verschlechtert werden, in einer
Sitzung geheilt werden müssen (das
psychogene Stottern ist eine Vorstufe
zum Mutismus). Schütz bevorzugt für
diese Fälle den faradischen Strom täglich
od§r jeden zweiten Tag bei nüchternem
Magen, da sonst reflektorisches Erbrechen
ausgelöst werden kann. Typisch erschien
der Stimmungsumschlag bei gelungener
Heilung oder Besserung. Für die Behand¬
lung ungeeignet sind neben allen organi¬
schen Erkrankungen die Organneurasthe¬
niker, ferner die mit hysterischen An¬
fällen, sofern es sich dabei nicht lediglich
um eine Reaktion auf die Behandlung
handelt. Bei Kombinationen ist die Aus¬
sicht der Behandlung so lange zweifel¬
haft, wie nicht die organische Kompo¬
nente beseitigt ist. Als weiteres Hilfs¬
mittel kommt bei motorischen Sachen die
Massage in Frage. Für alle Kranken der
in Rede stehenden Art ist ferner wichtig
guter Schlaf während der Behandlung,
der eventuell dur.ch Schlafmittel erzwun¬
gen werden muß. Bezüglich der Umge¬
bung: Frische Fälle unter gleichartige
geheilte legen; erfolglos Behandelte von
der Station entfernen, den Einfluß un¬
vernünftiger Verwandter ausschalten;
nicht ins Heimatlazarett! Die Prognose
ist je besser, um so schneller und energi¬
scher die Erkrankung angegriffen wird,
in den weitaus meisten Fällen eben gut.
Die Neurose muß daher bei ihrer großen
Bedeutung für die Zukunft des Kranken
und ihrer erheblichen wirtschaftlichen
Tragweite für die Allgemeinheit geheilt
werden, wozu niedrige Anfangsrenten
(etwa 30—40 %), die später noch weiter
bis etwa auf 10 % oder selbst auf Null
herabgesetzt werden (Schonungsrenten!),
erheblich mithelfen können. Eine Kapi¬
talisierung kommt überhaupt erst bei
einem Rentenbetrage von unter 25 % in
Betracht. Als dienstunbrauchbar sind
zu bezeichnen die Fälle, die Rezidive be¬
kommen haben, manche Schüttler und
diejenigen, die schon vor der Militärzeit
funktionelle Störungen gehabt haben (nur
solche Fälle kommen natürlich für Renten
in Frage). Alle übrigen wurden als g. v.
47*
372 ‘
Die Therapie der Gegenwart 1917. Oktober
entlassen. In letzter Zeit versuchte
Schütz mit gutem Erfolg, ungeheilte
Rentenempfänger zu erneuter Behand-
lung'einziehen zu lassen. Waetzoldt. •
(D. m. W, 1917, Nr. 20.)
Eine neue Behandlung der Ozaena
gibt Gassul an. Bisher haben die thera¬
peutischen Versuche der Ozaena nicht zu
einem allseitigen befriedigenden Resultat
geführt. Bekanntlich wurde Vaccine mit
dem Kokkobacillus, den Perez als Er¬
reger der Ozaena ansieht, gemacht. Bei
dieser Behandlung gab es Fälle, bei denen
der Fötor und die Borkenbildung nicht
beeinflußt wurde. Die übliche Therapie
der Ozaena richtet sich vornehmlich auf
eine Desinfektion der Nasenhöhle. Gas-
sul hat nun das von Morgenroth her¬
gestellte Eucupin benutzt, nachdem es
sich bei übelriechenden Hautulcerationen
von Krebskranken als brauchbar erwiesen
hatte. Dazu kommt, daß über die gün¬
stige Wirkung des Eucupins bei lokaler
Behandlung von Diphtheriebacillenträ¬
gern berichtet wurde. Bei mehreren aus¬
gesprochenen Fällen appliziert Gassul
das Eucupin als 2%ige Salbe, indem er
in jedes Nasenloch Tampons, die dick mit
Eucupinsalbe belegt waren, täglich ein¬
führte. Der Tampon blieb nur 15 bis
20 Minuten liegen und wurde dann wieder
herausgenommen, dabei haftete das Eucu¬
pin in -der Nasenschleimhaut fest. Die
Resultate, die bei dieser Behandlung er¬
zielt wurden, sind zufriedenstellende. Ob
es sich freilich um definitive Heilung han¬
delt, muß vorläufig dahingestellt bleiben.
Jedenfalls ist der unmittelbare Erfolg so
eklatant, daß man das Verfahren bei allen
schweren Fällen von Ozaena anwenden
sollte. Dünner.
(D. m. W. 1917, Nr. 17.)
Die Behandlung schwerer Fälle von
Peritonitis beim Manne durch Drainage
des Douglas nach dem Mastdarme zu be¬
schreibt Wilms. Als Analogon der
Douglasdrainage durch die Vagina bei der
Frau hat Wilms die Drainage nach dem
Rectum zu beim Manne in Fällen diffuser
Peritonitis mit Erfolg zur Anwendung
gebracht. Die Technik ist die, daß mit
einer Kornzange von der Bauchwunde .
aus an der vorderen Bauchwand einge¬
gangen wird bis zur Blase, dann wird das
Instrument um die Blase• herumgeführt,,
wobei man stets im Kontakt mit der
Wand des Bauchraumes bleibt und an
den tiefsten Punkt des Douglas kommt,
ohne befürchten zu müssen, daß eine
Darmschlinge auf der Spitze der Korn¬
zange haften bleibt. Steht die Spitze der
Zange auf der vorderen Wand des Mast¬
darmes auf, so wird sie unter Kontrolle
des in das Rectum eingeführten Fingers
durchgestoßen und ein Drain eingeführt.
Zur Kontrolle der richtigen Lage des
Drains wird sofort eine Spülung ange¬
schlossen. Irgendeine Schädigung wurde
nicht beobachtet. Hayward.
(D. Zschr. f. Chir. Bd. 139, H. 5/6.)
Eine periphere Pfropfung des Mus-
culo-cutaneus in den Medianus bei Plexus¬
schußverletzung mit Heilung hat Hay¬
ward ausgeführt. In einem Falle von
Plexusschuß stellte sich die Funktion des
Biceps und Supinator nicht wieder her. Es
wurde darum der Nervus lfiusculo-cutaneus
in der Achselhöhle freigelegt und nach
querer Durchtrennung das periphere Ende
in die Pronatorbahn des Medianus einge¬
setzt. Nach sieben Monaten erfolgten die
ersten Beugebewegungen .im Arme, die
innerhalb von drei Wochen zu einer voll¬
kommenen Beugung des Armes führten.
Anfänglich wurde' um diese Bewegungen
auszuführen, zunächst der Pronator inner-
viert, erst später trat das Umlernen ein.
Es wird empfohlen, bei nur teilweisem
Ausfälle der Plexusfunktion nicht den
Plexus selbst anzugreifen, sondern peri¬
pher zu pfropfen; überhaupt soll man
nach Möglichkeit in normal-anatomischem
Gebiete die Pfropfung ausführen.
Hayward.
(Zbl.f. Chir. 1917, Nr. 13.)
Bruegel berichtet über weitere Er¬
fahrungen zur Beeinflussung des Magen¬
chemismus durch Röntgenstrahlen (Re¬
ferat über seine vorläufigen Mitteilungen
und die Arbeit von Wilms an dieser
Stelle Februarheft 1917). Die Bestrah¬
lung geschieht mit harten Strahlen in je
zwei Feldern dorsoventral und ventro-
dorsal. Die Dosis ist 8 X auf jedes
Feld. Die Bestrahlung soll bei nüchternem
Magen erfolgen und auch nachher der
Patient noch möglichst zwei Stunden
nüchtern bleiben, da die Empfindlichkeit
des Magens vorübergehend auf ein bis
zwei Tage gesteigert werden kann. Vor
und nach jeder Bestrahlungsserie wurde
der Säuregehalt des Magens bestimmt.
Die Einwirkung der Röntgenstrahlen er¬
folgt im Sinne einer Einschränkung der
Menge des Magensekrets (die Qualität
des Sekrets bleibt bekanntlich stets kon¬
stant). Bei Fällen von chronischen Ge¬
schwüren des Magens und Duodenums
Oktober ,
Die Therapie der Gegenwart 1917.
373
tritt die Wirkung zwar erst nach längerer
Zeit ein, ist aber, wenn einmal da, von
erheblicher Dauer. Fälle mit Entleerungs¬
schwierigkeiten eignen sich nicht für die
Behandlung. Ist die Superacidität funk¬
tioneller Art, so wird sie rasch behoben,
doch sind anfangs dabei Rezidive häufig.
Spasmen bessern sich schnell, rezidivieren
jedoch sehr oft. Die spastische Obstipa¬
tion bei Hyperchlorhydrie schwindet
meist mit dieser. Subjektive Beschwerden
bessern sich gleichfalls in den meisten
Fällen. Bei Sub- und Anacidität ist, sei
der Magenbefund sonst wie er wolle, eine
günstige Einwirkung der Röntgenbestrah¬
lung auch mit Reizdosen nach den Er¬
fahrungen des Verfassers nicht zu er¬
zielen, es sei denn, daß sie auf Meteoris¬
mus des Colon transversum — der ja im
Zeitalter der Kohlrübe nicht selten ist —
zurückzuführen seien. In solchen Fällen
bewährte sich eher Diathermie oder Hoch¬
frequenz. Interessant und auch von an¬
derer Seite bestätigt ist das stark ver¬
minderte Vorkommen der superaciden
Zustände in der letzten Zeit; das wohl
auf die Spärlichkeit der Fleisch- und
Fettversorgung zurückzuführen ist.
Waetzoldt.
(M. m. W. 1917, Nr. 12.)
Einen neuen Vorschlag zur Sepsis-
therapie macht R o o s e n. Er weist darauf
hin, daß bisher alle Versuche, Desinfek¬
tionsmittel, wie Sublimat, Carbolsäure
usw., für eine innere Desinfektion, das
heißt für Abtötung von Bakterien inner¬
halb des lebenden Organismus zu ver¬
wenden, zu keinem Resultat geführt
haben. Es muß, wie er ausführt, das Be¬
streben dahin gehen, die Desinfektions¬
mittel, wenn möglich, nur auf die Bak¬
terienzelle einwirken zu lassen und die
Desinfektionsmittel erst im Innern des
Bakterienleibes aus anderen giftigen Sub¬
stanzen entstehen zu lassen. Dies gelingt
durch getrennte Einführung von zwei an
sich ungiftigen Substanzen, die sich auf
Grund ihrer chemischen Affinität zu dem
wirksamen Desinfiziens umwandeln kön¬
nen und von denen die eine eine besonders
große Affinität zu den Bakterien hat. Er
kombiniert Methylenblau und Kalomel.
Die beiden Mittel sind in richtiger Do¬
sierung harmlos. Es wird bei ihrem Zu¬
sammentreffen unter günstigen Bedin¬
gungen Sublimat gebildet. Diese Be¬
dingungen sind im lebenden Organismus
vorhanden, wo das intramuskulär inji¬
zierte Kalomel als Merkurisalz kreist und
ihm zur Umwandlung in Sublimat die
Chlorionen des Methylenblaus, des salz¬
sauren Salzes des Tetramethylthionins,
zur Verfügung stehen. Durch die wesent¬
lich größere Affinität des Methylenblaus
zu den Bakterien als zu den Körperzellen
gelingt es, wie es seit langem bekannt, die
Bakterien vital zu färben. Führt man in
diesem Stadium, in dem nur die Bak¬
terien Methylenblau enthalten, Kalomel
dem Körper zu, so findet es nur an den
Bakterien Methylenblau vor und auch
nur an diesen Gelegenheit, sich in Subli¬
mat umzuwandeln. Während also die
Bakterien der Sublimatwirkung unter¬
liegen, kann auf die Körperzellen nur die
wesentlich ungiftigere Kalomelwifkurig
zur Geltung kommen. Er gibt sechsmal
0,2 Methylenblau in Kapseln innerlich
und 24 Stunden nach der letzten Methylen¬
blaugabe 0,2 g Kalomel intramuskulär.
In den Fällen von Sepsis, die er nach die¬
ser Methode behandelte, will er einen auf¬
fallenden Erfolg erzielt haben, ohne daß
sich schädigende Nebenwirkungen zeig¬
ten. So berichtet er von einem Falle von
septischem Typhus, der mit der Kalomel-
therapie — als der Kranke bereits in sehr
desolatem Zustande war — geheilt worden
sei. Ferner sollen zwei Fälle von Sepsis,
die sich im Anschlüsse an Oberschenkel¬
schußbrüche entwickelt hatten., geheilt
worden sein. Leider ist der Krankheits¬
verlauf der einzelnen Fälle von Roosen
nicht mitgeteilt. Unter anderem wäre
es für die Beurteilung seines thera¬
peutischen Vorschlages notwendig, zu
wissen, ob Bakterien nachgewiesen wur¬
den, ob endokarditische Prozesse be¬
standen usw. usw. Es ist bekannt, daß
viele Fälle von Sepsis spontan selbst nach
wochenlangem Fieber zur Ausheilung
kommen. Das muß man bedenken, wenn
man bei einem neuen Behandlungsmodus,
mag er theoretisch noch so berechtigt sein,
von einer heilenden Wirkung auf die
Sepsis Spricht. Dünner.
(D. m. W. 1917, Nr. 18.)
Nach unbefriedigenden Erfolgen mit
der intramuskulären Vaccineurintherapie
schwerer Neuritiden und Neuralgien auch
in höheren als den schematischen Dosen
machte Wi c h u r a Versuche mit der intra¬
venösen Anwendung des Mittels, zu¬
nächst zur Ergänzung der mangelhaften
Erfolge der intramuskulären Anwendung.
Von 16 derartigen Fällen wurden 10 von
den Schmerzen befreit, während zwei die¬
selben behielten. Vier Fälle mit rein
374
Die Therapie der Gegenwart 1917. Oktober
motorischen Störungen blieben ferner
ganz unbeeinflußt. Zur intravenösen
Anwendung kam eine 0,4 ^ige Vacci¬
neurinlösung in physiologischer Koch¬
salzlösung, von der nicht, mehr als 1 ccm
gegeben wurde — was in seiner Wirkung
der Gabe von 1 / 6 ccm Vaccineurin intra¬
muskulär entspricht —, da sonst allge¬
meine Beschwerden auftraten. Allgemein
begannen die Dosen mit einem Teilstrich
der 1-ccm-Spritze und erreichten nach
sechs Dosen fünf Teilstriche, nach zwölf
Dosen zehn Teilstriche (entsprechend der
Dosierung bei der intramuskulären An¬
wendung). Im ganzen wurden bis zu
30 Spritzen gegeben. Von 18 Fällen von
Ischias wurden zwei schon nach acht bis
zehn Spritzen dienstfähig, andere wurden
wesentlich gebessert, einige noch nicht ab¬
geschlossene Fälle zeigten bis auf einen
deutliche Besserung. Von sieben Gelenk¬
neuralgien wurden vier geheilt, drei noch
nicht abgeschlossene gebessert, ebenso
ein Fall von Trigeminusneuralgie. Rein
motorische Störungen wurden nicht
beeinflußt. Von Nebenerscheinungen sind
außer einer sehr geringen Lokalreaktion
am Orte der intravenösen Einverleibung
“ (Schwellung, Druck) die positiven Herd¬
reaktionen in Gestalt verstärkter Schmer¬
zen im Nerven und allgemeine ner¬
vöse Reizerscheinungen — in einzelnen
Fällen auch solche motorischer Art —
wichtig. DieTemperatur muß während der
Kur dauernd, eventuell auch nachts kon¬
trolliert werden, da während der Dauer
erhöhter Temperatur die Kur nicht fort¬
gesetzt werden kann (Gefahr der Ver¬
schlimmerung). Nach einer erheblichen
Reaktion wurde mit der halben Dosis
fortgefahren. Contraindikationen er¬
gaben sich für die Kur nicht. Die
gewöhnlichen Mittel der Behandlung
physikalischer und chemischer Art
wurden während der Kur nicht vernach¬
lässigt. Für die Kritik der Erfolge ist
wichtig die Regelmäßigkeit der Besserung
der Schmerzen nach der dritten bis vierten
Einspritzung, wie mehrere angeführte
Fälle besonders schön zeigten. Eine völ¬
lige Heilung war in schweren, besonders
rezidivierenden Erkrankungen an Ischias
nicht zu erreichen, es blieben vielmehr
leichte Beschwerden neben den objek¬
tiven Symptomen bestehen. Heilung einer
kompletten Entartungsreaktion ist natür¬
lich nicht zu erwarten, wie überhaupt in
Fällen mit motorischen Störungen die
Behebung der sensiblen Störungen wohl
nur mittelbar dem Vaccineurin zuzu¬
schreiben ist. Verschlechterungen wurden
in keinem Falle beobachtet. Über die
Beeinflussung tabischer Schmerzen liegen
Erfahrungen nicht vor. Es scheint im
ganzen die intravenöse Anwendung bet
gleichen oder überlegenen Wirkungen
auch wesentlich sparsamer.
Waetzoldt.
(M. m. W. 1917, Nr. 3.)
Über einen Dauererfolg eines Arterien¬
satzes durch Venenautoplastik nach fünf
Jahren berichtet Lex er. Der Beweis,
daß die Gefäßtransplantation beim Men¬
schen auch einen Dauererfolg hat, konnte
bisher noch nicht erbracht werden. Lexer
berichtet nun ausführlich über den Fall
von Transplantation der Vena saphena
in die Iliaca und Femoralis, welchen er
1913 auf dem Chirurgenkongreß vorge¬
stellt hatte. Es mußte damals ein Defekt
von 16 cm in der Arterie, welcher nach
der Exstirpation eines Aneurysmas ge¬
blieben war, gedeckt werden. Das heutige
Nachuntersuchungsresultat ist als in jeder
Beziehung zufriedenstellend zu bezeich¬
nen. Das Gefäß ist vollkommen durch¬
gängig und eine Erweiterung des Trans¬
plantats ist nicht eingetreten. Lexer
hebt hervor, daß zur Prüfung des Resul¬
tats einer Gefäßnaht oder Transplanta¬
tion es nicht genügt, wenn man den Puls
in den peripheren Abschnitten fühlt,,
sondern beim Druck auf die Transplan¬
tationsstelle muß er auch verschwinden.
H a y w a r d.
(Zbl.f. Chir. 1917, Nr. 26.)
Therapeutischer Meinungsaustausch.
Bemerkung zur Optochindarreichung.
Von Professor Dr. Rosin-Berlin.
Herr Mendel, der eine der zurzeit
brauchbarsten Methoden der internen
Optochindarreichung empfohlen hat, näm¬
lich das basische Salz bei gleichzeitiger
säurebindender Milchdiät, und dem ich
mich bei eigenen Versuchen und in meiner
Empfehlung voll angeschlossen habe, be¬
findet sich offenbar in einer glückliche¬
ren Lage der Milchbeschaffung in Essen
als wir hier in Groß-Berlin. Denn wenn
wir hier in einem Falle von Lungen¬
entzündung die Optochinbehandlung so¬
fort in Angriff nehmen wollten, so steht
uns momentan die tägliche Menge von
Oktober
Die Therapie der Gegenwart 1917.
375*
1 Liter nicht zur Verfügung. Wir müssen
vielmehr oftmals tagelang auf den Be¬
zugschein warten und sind überdies dem
Wohlwollen der Lieferanten ausgeliefert,
das zuweilen versagt. Lediglich deshalb,
wie auch von Herrn Mendel schon ver¬
mutet, habe ich die Neutralisierung mit
doppelkohlensaurem Natron empfohlen.
-Selbstverständlich ist diese Neutralisie¬
rung nur vorübergehend, und bekanntlich
folgt eine vermehrte Abscheidung von
Salzsäure durch den Reiz des gebildeten
Kochsalzes. Aber — die Erfahrung hat
es gelehrt — die Neutralisierung mit
Natrium bicarbonicum reicht offenbar für
den gewollten Zweck aus; das basische
Optochin wird entweder rasch genug in
den Darm geschafft oder so langsam in
das salzsaure Salz umgewandelt, daß diese
den Kriegsverhältnissen gehorchende Me¬
thodik niemals auch die geringste In¬
toxikationserscheinungen bringt. Auch
von der gebildeten Kohlensäure tiabe ich
störende Auftreibungen niemals beobach¬
tet. Wo Milch rasch zu beschaffen ist,
verdient, sie gewiß wegen Reizlosigkeit
und erheblicherer Salzsäurebindung den
Vorzug; für die Friedenstherapie des¬
unentbehrlich gewordenen Optochin mag;
sie dauernd eingeführt bleiben.
Über Hernien, En^eroptosen und Prolapse in ihrer Beziehung
zum Kriege und Reichsversicherungsordnung.
Von Dr. D. Pulvermacher, leit. Arzt des Wöchnerinnenheims Norden. Berlin.
Von den Veränderungen in der weib¬
lichen Genitalsphäre, welche mit dem
Kriege in einen ursächlichen Zusammen¬
hang gebracht werden, ist am bekannte¬
sten das lange Ausbleiben der Periode '
als die von Dietrich (Göttingen) be-
zeichnete Kriegsamenorrhöe, über welche
in der letzten Zeit eine Reihe von Ver¬
öffentlichungen erschienen sind und als
deren Ursache von vielen die veränderte
Lebensweise angesehen wird. Handelt es
sieh nur hierbei um einen normalen
Genitalbefund, so hat der Praktiker,
welcher viel mit der arbeitenden weib¬
lichen Bevölkerung zu tun hat, auch das
Auftreten pathologischer Zustände zu be¬
obachten, welche durch mancherlei Ein¬
flüsse drohen, dauernd zu bleiben. Fol¬
gende Zeilen sollen sich mit den Hernien,
Prolapsen und Enteroptosen an und für
sich wie in ihrer Beziehung zur Reichs¬
versicherungsordnung beschäftigen.
Gehen wir zuerst auf das Krankheits¬
bild dieser Frauen ein, welche mit den
gleichen Klagen zum Arzt kommen:
starke Kreuzschmerzen, Drängen nach
unten, Magen- und Darmbeschwerden.
Vorausgesetzt muß natürlich werden, daß
es für eine nähere Bewertung des Befun¬
des von größtem Vorteil ist, die Patien¬
tinnen schon längere Zeit zu kennen.
Man fühlt nun durch die oft sehr dünnen
Bauchdecken leicht den Tiefstand der
Nieren, der Leber und des Magens usw.
(Glenardsche Enteroptose) 1 ); der Fin¬
ger dringt schnell in den Leistenkanal, aus
dem sich bei leichtem Pressen Netz und
Darm hervorwölbt. Vordere und hintere
x ) Klemperer, Lehrbuch d. inn. Med. Bd. I,
S. 267.
Scheidenwand drängen sich heraus, Ute¬
rus steht tief oder liegt nach hinten.
Können nun diese Veränderungen mit
den durch den Krieg gegebenen Verhält-,
nissen in Zusammenhang gebracht wer¬
den? Die Frage ist meiner Überzeugung
nach mit einem Ja zu beantworten. Ich
gebe v. Jaworski 1 ) vollkommen recht,
wenn er die Unterernährung als Haupt¬
ursache ansieht. Durch das Schwinden
des Körperfettes und die hierdurch ver¬
ursachte Schwächung der Muskulatur und
des Bindegewebes lockern sich die Organe
aus ihren sonst festen Verbindungen.
Wird der weibliche Körper nur etwas ge¬
steigerten Ansprüchen — und auch das-
braucht nicht einmal nötig zu sein — aus-
gesetzt, so können Verlagerungen, Her¬
nien usw. auftreten, welche die. Frauen
in ihrer Arbeitsfähigkeit beschränken..
Es müssen aber auch auf Grund der
Reichsversicherungsordnung Unfallunter¬
stützungen gewährt werden, wie ja auch
Martin ganz richtig die Ansicht des Ge¬
richtes als die im gerechten Interesse für
die arbeitende Bevölkerung gefaßte wie¬
dergibt, daß nämlich eine scheinbar ge¬
ringfügige Arbeitsleistung bei mangelhaft
entwickeltem, zerstörtem oder geschrumpf¬
tem Gewebe schädlicheren Einfluß haben
kann als ein offenbar ernsterer Unfall,,
welcher gesundes und kräftiges Binde¬
gewebe trifft 2 ). Es darf auch nicht außer
acht gelassen werden, daß innerhalb zwei
Jahren nach dem Unfall Spätfolgen be¬
rücksichtigt werden müssen; selbstver¬
ständlich ist den Klagen gegenüber große
Vorsicht geboten. Um nur ein Beispiet
x ) Zbl. f. Gyn. 1917, Nr. 28.
*) M. f. Gyn. Bd. 46, H. 1.
376 Die Therapie der Gegenwart 1917. Oktober
anzuführen, kann bei den fettarmen
Frauen ein Leistenbruch entstehen oder
ein bestehender sich verschlimmern,
worauf Thiem als erster aufmerksam
gemacht hat.
Therapeutisch könnte besonders in den
Fällen von Enteroptose am meisten ge¬
nützt werden, wenn eine Mastkur vorge¬
nommen würde, was ja leider jetzt schwer
möglich ist. So ist man gezwungen, zu
Bandagen Zuflucht zu nehmen; eine
leicht abzuändernde männliche Badehose
hat mir in einigen Fällen mehr genützt
als die gewöhnlich schlecht sitzenden Bin¬
den. Gegen die Retroflexionen und PrOr
lapse helfen die gewöhnlichen Pessare
wenig, da die veränderte Muskulatur wie
Bindegewebe des Beckenbodens keinen
Halt bietet; als sehr praktisch hat sich
mir das Schalenpessar bewährt, da es
durch das Ansaugen an die Portio die
Seitenwände nicht zu sehr spannt. Eine
Kontrolle ist notwendig, damit nicht, be¬
sonders bei Tiefstand des Uterus, ein
Decubitalgeschwitr entsteht. Ein ope¬
ratives Vorgehen wird sich nur bei schwe¬
ren Prolapsen empfehlen und dann auch
nur das Einnähen des Gebärmutter¬
körpers in die Bauchdecken nach Kocher,
da bei sonstigem Vorgehen mit schnell
eintretenden Rezidiven zu rechnen ist.
Fasse ich noch einmal kurz das Er¬
gebnis meiner Beobachtungen wie Be¬
handlungsweise zusammen: Hernien, Pro¬
lapse, Enteroptosen müssen, wie die
Amenorrhoe als Folgen des Krieges an¬
gesehen werden. Ansprüche an die Unfall¬
versicherung sind berechtigt; der Therapie
bleibt nur ein eng umgrenztes Feld der
Betätigung.
Aus dem Städtischen Krankenhaus Potsdam.
Erfahrungen mit Dermotherma.
Von Dr. Lilli Culp, Assistentin.
Wir haben Dermotherma 1 ) auf der
inneren Abteilung unseres Krankenhauses
in zirka 40 Fällen von Hautkälte ange¬
wandt und dabei folgende Erfahrungen
gemacht: Dermotherma wirkt in der
großen Mehrzahl der Fälle prompt nach
•der ersten Einreibung. — Eine viertel
bis eine halbe Stunde nach Gebrauch
tritt bessere Durchblutung des be¬
troffenen Körperteiles ein und damit
ein angenehmes Wärmegefühl. — Auch
objektiv ist die Erwärmung durch
Berühren deutlich festzustellen. — Nur in
wenigen Fällen bedurfte es mehrtägigen
Gebrauches — es wurden meist zwei Ein¬
reibungen täglich vorgenommen —, um
den gewünschten Erfolg zu erzielen.
Sehr bemerkenswert war, daß bei
Kranken, deren Einschlafen oder Schlaf
durch kalte Füße gestört waren, durch
die Anwendung von Dermotherma eine
x ) Darmotherma, welches empfohlen wird
„gegen Hautkälte, speziell gegen kalte Füße, zur
Verhütung des Erfrierens exponierter Körper¬
stellen, zur Behandlung posttraumatischer Sen¬
sibilitätsstörungen“ enthält in glücklicher Kom¬
bination eine Anzahl bewährter Hautreizmittel.
Zusammensetzung : Dermotherma besteht aus-
den Kondensationsprodukten des Acid. formic.
und des Acid. lact. mit den Oxyden des Thy¬
mols, Menthols und Camphers in Vereinigung
mit Formaldehyd und enthält die wirksamen
Bestandteile von Arnica und Capsicum; Zusatz
von dialysierter Seife.
ungestörte . Nachtruhe erreicht werden
konnte.
Nach dem Verbrauch von ein oder
zwei Probetuben bei einem Patienten
pflegten wir mit dem Mittel^ auszusetzen.
Das weitere Verhalten war 4 danach ver¬
schieden: In wenigen Fällen war der Er¬
folg dauernd bis zur Entlassung der
Kranken. Meist traten nach 8 bis 14
Tagen die alten Beschwerden wieder auf,
und eine zweite Einreibekur mußte erneut
Abhilfe schaffen.
Bei unseren Versuchen machten wir
die Beobachtung, daß es wenig darauf
ankommt, weiche Ätiologie der Hautkälte
(es handelte sich meist um kalte Füße
oder Hände) zugrunde liegt. — Der Er¬
folg war derselbe, gleich ob jene angio-
neurotischer Natur wär, ob Circulations-
störungen, Chlorose oder Kachexie die
auslösenden Momente waren. Nur bei
den Parästhesien, die infolge organischer
Cerebrospinalveränderungen auftraten
(drei Fälle von Schlaganfall, eine multiple
Sklerose), konnten wir eine erhebliche
Besserung nicht erzielen.
Wie aus vorstehendem erhellt, ist
Dermotherma auch nach unseren Er¬
fahrungen ein wertvolles Mittel zur Be¬
kämpfung von Hautkälte aller Art und
macht sich durch die Einfachheit seiner
Anwendung besonders beliebt.
Für die Redaktion verantwortlich Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer in Berlin. Verlag von Urb an & Schwarzenberg
in Berlin und Wien. Gedruckt bei Julius Sittenfeld, Hofbuchdrucker., in Berlin W8.
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Die Therapie der Gegenwart
58. Jahrgang
Neueste Folge, XlX.Jahrg.
herausgegeben von
Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer
BERLIN
W 62, Kleiststraße 2
11. Heft
November 1917
Verlag von URBAN & SCHWARZENBERG- in Berlin N 24 und WienI
Die Therapie der Gegenwart erscheint zu Anfang jedes Monats. Abonnementspreis für den
Jahrgang 10 Mark, in Österreich-Ungarn 12 Kronen, Ausland 14 Mark. Einzelne Hefte je 1,50 Mark
resp. 1,80 Kronen. Man abonniert bei allen größeren Buchhandlungen, sowie direkt bei den
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Die Therapie der Gegenwart
1917
herausgegeben von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer
in Berlin.
November
Aus dem Eppendorf er Krankenhaus.
Nachdruck verboten.
Zur Behandlung der Meningitis im allgemeinen und der
Meningitis contagiosa (epidemischen Genickstarre) im besonderen.
Von Professor Dr. H. Schottmüller-Hamburg.
Die Genickstarre hat insofern zur¬
zeit ein erhöhtes Interesse erlangt, als
eine Zunahme der Erkrankungsziffer in
letzter Zeit zweifellos wieder zu beob¬
achten ist. Es möge daher hier eine kurze
Besprechung der Behandlung Platz finden.
Bekanntlich bestand die Therapie der
infektiösen Meningitis bis zum Jahre 1905
in einer rein symptomatischen. Es ent¬
spricht wohl dem Werte der früheren Be¬
handlungsmethoden, wenn sie hier nur
kurz aufgezählt werden. Warme Bäder,
kalte oder heiße Einwicklungen bei hoch¬
fiebernden Fällen, Eisblase bei starken
Kopfschmerzen, Antipyretica, insbeson¬
dere Salicylpräparate bei hohen Tempe¬
raturen und Unruhe, Einreibungen mit
Unguentum cinereum, Narcptica gegen
Schmerzen, Schlaflosigkeit und Deli¬
rien, das war das magere Rüstzeug bei
der Krankheit, die so dringend die Hilfe
des Arztes verlangte. Die Ansicht, daß
durch innerlich verabreichte desinfizie¬
rende Mittel, z. B. Kalomel, oder durch
die intravenöse Einspritzung von Kol-
largol ein Einfluß auf die Krankheit
der Meningen ausgeübt werden könne,
ist durch keine Tatsache zu begründen.
Ebensowenig Erfolge hat die Pilokarpin¬
therapie aufzuweisen.
Einen wesentlichen Einfluß auf den
Verlauf der Krankheit kann man sich von
all den genannten Mitteln nicht ver¬
sprechen.
Es bedeutete einen erheblichen Fort¬
schritt, als auch Lenhartz auf Grund
seiner Erfahrungen Quincke’s Lumbal¬
punktion für die Behandlung der
Genickstarre empfahl. Zwar kann man
auch bei diesem Mittel wohl nur von einer
symptomatischen Wirkung sprechen, je¬
doch ist es ein Mittel, welches das gefähr¬
lichste Symptom der Erkrankung, den
Gehirndruck, beseitigt; allerdings oft nur
vorübergehend, sodaß der Eingriff öfter
wiederholt werden muß, vielfach wirkt
es aber fraglos lebensrettend. Es soll
daher hier näher auf die Indikations-
Stellung und die Art des Eingriffs ein¬
gegangen werden.
Die gewöhnlichen Anzeichen gestei¬
gerten Hirndrucks sind Kopfschmerzen
und eine mehr oder weniger heftige
Nackensteifigkeit, Lähmungen, vor allen
Dingen aber Benommenheit und Koma.
Diese Symptome sind ja die charakteri¬
stischen Erscheinungen der Krankheit,
sie entwickeln sich meist allmählich, zu¬
weilen aber auch von einem Tage zum
anderen. Weniger bekannt dürfte sein,
daß bedrohliche Herz Störungen,
Tachykardie, Irregularität, überhaupt
Verschlechterung des Pulses, Cyanose,
Dyspnoe und Kollaps, Symptome sind,
welche weniger allmählich als plötzlich
und oft anfallsweise als Drucksymptome
aufzutreten pflegen und dann sehr schnell
wirksame Hilfe erfordern, wenn nicht ein
solcher Anfall den Tod herbeiführen soll.
Diesen Zlistand schwerster Gefahr haben
wir häufiger durch eine sofort ausgeführte
Lumbalpunktion beseitigen können, und
gerade das Verschwinden der aufgezählten
Symptome ' nach dem Ablassen einer
größeren Menge von Liquor spinalis er¬
brachte den Beweis, daß hier die Erschei¬
nungen von Herzschwäche nicht durch
eine Einwirkung der Infektion auf den
Herzmuskel verursacht waren, sondern
daß es sich nur um sekundäre Störungen,
die von seiten des Gehirns ausgelöst
waren, bandelte.
Aber auch, wenn so ernste Störungen
noch nicht vorliegen, so ist es doch für
den Patienten außerordentlich wertvoll
und wohltuend, wenn durch Ablassen des
Liquors der hartnäckige Kopfschmerz und
die quälende Nackensteifigkeit, Benom¬
menheit und Koma bekämpft werden
können.
Es bedeutet auch sicher für den Pa¬
tienten einen Vorteil, wenn man auf
der Höhe der Erkrankung durch Ablassen
einer größeren Menge von Liquor (20, 30,
48
378
Die Therapie der Gegenwart 1917.
■ November
40 ccm und mehr) aus dem Körper eine
beträchtliche Menge des Infektions¬
stoffs entfernt.
Es sei hier aber darauf hingewiesen,
daß gerade bei der epidemischen oder kon-
tagiösen Genickstarre, abgesehen von der
Meningitis siderans — den schweren fou-
droyant verlaufenden Fällen—, die Gefahr,
welche durch die Giftstoffe der Infektions¬
erreger als solche droht, an Bedeutung
weit zurücktritt hinter der, welche der
gesteigerte Hirndruck für den Patienten
bedingt. Sind einmal die ersten Tage der
Erkrankung überwunden, so ist von der
Schwere der Infektion weniger zu be¬
fürchten; in der Hauptsache der durch
plastisches Exsudat oder Liquoran¬
sammlung erzeugte Druck, insbesondere
der Hydrocephalus, bedroht das Leben.
So kann nur geraten werden, im akuten
Stadium, solange vermehrter Druck in
der Schädelhöhle besteht, täglich die
Punktion auszuführen und namentlich
in den oben geschilderten Momenten höch¬
ster Lebensgefahr, die sich, wie gesagt,
oft durch starke Cyanose, Atemnot und
schlechten Puls kennzeichnet.
Sobald also in einem Krankheitsfalle
die diagnostischen Erwägungen auf die
Diagnose Meningitis hinführen, wird man
zunächst zur Sicherung der Diagnose
d i eLu m b a 1 p u n kt i o n ausführen.
Über die Technik, welche bei der In¬
fektion der Meningen gewisse Vorsichts¬
maßregeln erheischt, habe ich in dem
Leitfaden zur Untersuchung der Cere-
bröspinalflüssigkeit von Plaut, Rehm,
Schottmüller (Gustav Fischer, Jena
1913, S. 71) die erforderlichen Angaben
gemacht. Das Verfahren selbst ist für
jeden, der es nur einmal gesehen hat, so
einfach, namentlich bei Kindern, daß es
immer und überall ausgeführt werden kann.
Nötig ist, auf folgende Punkte zu
achten:
Ist die Nadel in den Wirbelkanal ein¬
geführt, was am besten in der Median¬
linie zwischen dem dritten und vierten
oder vierten und fünften Lendenwirbel
und unbedingt mit schräg nach oben, nicht
etwa sagittal (außer bei Kindern) gerich¬
teter Nadelspitze zu geschehen hat,'wird
der Mandrin entfernt. Die Nadel um so
schräger eingeführt werden, je weniger
stark die Wirbelsäule des Patienten nach
hinten durchgebogen ist. Die ersten
Tropfen oder Kubikzentimeter des aus¬
strömenden Liquors werden in ein
sterilisiertes Röhrchen aufgefangen, nach¬
dem der äußere Rand desselben noch über
der Gas- oder Spiritusflamme keimfrei
gemacht ist.
Jetzt erst soll der Druck gemessen
werden. Wir haben den Schlauch des
Steigrohrs mit einem Konus aus Metall
armiert, der leicht in die Ausflußöffnung
der Kanüle einzusetzen ist.
In dem Steigrohr ist der Druck fest¬
zustellen, unter welchem die Flüssigkeit
im Spinalkanale steht, die Menge des aus¬
strömenden Liquors ist zu messen, die
Schnelligkeit, mit der die Tropfen aus
der Hohlnadel hervordringen, die Farbe,
des Liquors, die etwaige Ausscheidung
eines Fibrinnetzes ist zu beachten. Die
genaue Untersuchung auf Eiweißgehalt,
Zählung und Artbestimmung der Zellen,
die kulturelle beziehungsweise mikrosko¬
pische Prüfung des Exsudats auf Bak¬
terien muß im Laboratorium erfolgen.
Die bakteriologische Untersuchung er¬
fordert unbedingt die Fernhaltung' frem¬
der Keime von dem Untersuchungsobjekt.
Es muß also die kleine Operation, die
Lumbalpunktion, nicht nur mit Rück¬
sicht auf den Patienten aseptisch aus¬
geführt werden, sondern es muß auch in
jeder Beziehung absolut steril gearbeitet
werden, damit die Spinalflüssigkeit nicht
mit Keimen der Außenwelt verunreinigt
wird. Über weitere Einzelheiten, nament¬
lich über die Verwendung einer von mir
angegebenen besonderen Nadel und die
Schwierigkeit des Nachweises des Krank¬
heitserregers verweise ich auf meine oben
erwähnte Arbeit. Außer den objektiven
Drucksymptomen, die oben schon ange¬
führt sind, sind auch heftige Kopfschmer¬
zen eine Indikation zur Ausführung des
kleinen Eingriffs, der auch in dieser Be¬
ziehung vielfach lindernd wirkt.
Einige Worte noch über den Liquor¬
befund. Der Liquor kann bei der epidemi¬
schen Genickstarre in bezug auf sein Aus¬
sehen sehr verschieden sein. Meist ist er
mehr oder weniger stark eitrig getrübt,
zuweilen ist er fast ganz klar. Der Druck
ist meist entsprechend der Schwere der
klinischen Erscheinungen mehr oder weni¬
ger stark erhöht. Die Druckmessung ist
erwünscht, weil man, je höher der Druck
gefunden wird, um so mehr Liquor ablassen
soll. Es kann auch Vorkommen, daß der.
Druck überhaupt nicht die Normalhöhe .
übersteigt. In der Regel wird man bis zur
Erreichung des Normaldrucks den Li¬
quor abfließen lassen, nach 25—40 ccm
ist er im allgemeinen erreicht.
Wird die Lumbalpunktion, wozu wir
dringend raten, regelmäßig, und zwar auf
November
Die Therapie der Gegenwart 1917.
379
der Höhe der Erkrankung täglich aus¬
geführt, so wird man nicht selten finden,
daß sowohl die Höhe des Druckes, wie
dasAussehen des Liquors sehr verschieden¬
artig beschaffen sein kann. Heute noch
Eiter, morgen fast klar, und umgekehrt.
Es besteht kein Verhältnis zwischen Eiter¬
gehalt und Schwere des Falles. Nicht
immer gelingt es, im mikroskopischen
Präparat die Krankheitskeime und zwar
gramnegative, den Gonokokken ähn¬
liche intracellulär gelegene Gebilde, zu
finden. Findet man sie trotz eifrigen
Suchens nicht, so ist der Nachweis noch
durch die Kultur möglich. Zu dieser ist
möglichst viel Liquor zu verwenden
(vergleiche 1. c. S. 99).
Als Erreger hat übrigens bei der epi¬
demischen Genickstarre, wie hier aus¬
drücklich noch einmal betont sei, nur
der Weichselbaum sch e' Diplococcus
meningitidis zu gelten. Alle anderen
Angaben, die sich auch noch in der Lite¬
ratur über die große schlesische Epidemie
vor einigen Jahren erhalten hat, sind als
irrige zu bezeichnen.
Aber nicht nur während des ersten
akuten Verlaufs ist die Lumbalpunktion
von günstigem Einfluß auf das Krank¬
heitsbild. Auch die Entwicklung des mit
Recht so gefürchteten akuten oder sub¬
akuten Hydrocephalus sowohl als dieser
voll ausgebildete Zustand selbst wird mit
Erfolg durch die Lumbalpunktion be¬
kämpft. Wir haben mit dem Bestehen
dieses Zustandes gerechnet, wenn mit
dem späteren Verlaufe der Krankheit
trotz sorgfältigsten Ernährungsversuchs
eine hochgradige allgemeine Körper¬
atrophie auftritt und von neuem gewisse
cerebrale Symptome, wechselnde Be¬
nommenheit, starke Kopfschmerzen, häu¬
figes Erbrechen, Nackenstarre, Spasmen,
Neuritis optica (Stauungspapille), ferner
Erbrechen und auffällige Pulsschwankun¬
gen das Krankheitsbild dauernd beherr¬
schen beziehungsweise sich wiederein¬
stellen.
Irgendwelche nachteiligen Folgen von
der häufig, vielfach täglich, ausgeführten
Lumbalpunktion sahen wir nicht, wie hier
ausdrücklich hervorgehoben sei. In sel¬
tenen Fällen ist die Lumbalpunktion er¬
gebnislos. Es hat sich dann im Wirbel¬
kanal ein derart plastisches Exsudat ge¬
bildet, daß Flüssigkeit aus der Nadel
nicht ausströmen kann. Alsdann kommt
die wiederholte Ventrikelpunktion ent¬
weder durch die Fontanelle oder nach
Anbohrung des Schädels in Betracht.
Endlich hat man auch die Trepanation
des Schädels gerade bei Hydrocephalus
verschiedentlich ausgeführt. Ich möchte
allerdings zweifeln, daß dieses Verfahren
bei dem genannten schweren Krankheits¬
zustand Erfolg bringt. Vorläufig sind
unsere Erfahrungen in dieser Beziehung
nicht sehr ermutigend.
Nur dann wird man sich zur Öffnung
des Schädels entschließen, wenn der so
hoffnungslose Zustand des Hydrocephalus
durch wiederholte Lumbalpunktion in
seinen Erscheinungen nicht beeinflußt
werden kann.
Wir haben dann aus naheliegenden
Gründen schon vor langen Jahren auf der
Lenhartzsehen Krankenabteilung der
Lumbalpunktion eine Spülung des Wirbel¬
kanals mit antiseptischen Flüssigkeiten,
insbesondere Chinosol, folgen lassen, ohne
indessen von diesem Verfahren einen be¬
sonderen Nutzen gesehen zu haben. Es
muß aber hervorgehoben werden, daß
Franca (Lissabon) zur Behandlung der
epidemischen Meningitis nach der Lumbal¬
punktion Injektion von 1 %iger Lysol¬
lösung in einer Menge von 13 bis 18 ccm
je nach dem Alter der Patienten aus¬
führte (D. m. W. 1905, Nr. 20). Die Mor¬
talität der behandelten Fälle betrug
29%. Unseres Wissens ist von anderer
Seite dieses Verfahren einer Nachprüfung
nicht unterzogen worden.
Nächst der Lumbalpunktion stellt die
wichtigste Behandlung nun zurzeit zwei¬
fellos die Serumbehandlung dar. Es
ist Jochmanns Verdienst, zuerst ein
brauchbares Serum hergestellt zu haben.
Es war schwierig, ein hochwertiges
Serum zu erlangen, weil die Virulenz der.
Meningokokken Tieren gegenüber eine
sehr geringe ist.
Immerhin kann man wohl sagen, daß
die Behandlung mit Serum erfolgver¬
sprechend ist, wenn auch die Beurteilung
dieses Heilmittels schwierig ist, denn die
Mortalität der Meningitis contagiosa ist
eine sehr wechselnde.
Obwohl schon mehr als zehn Jahre
verflossen sind, seitdem die Behandlung
der epidemischen Genickstarre mit Serum,
eingeführt wurde, kann auch heute noch
nicht ein abschließendes Urteil über diese
Art der Behandlung abgegeben werden.
Erst wenn eine große Zahlenreihe in
richtiger Form mit Serum behandelter
Fälle vorliegt, denen zum Vergleiche eben-
soviele gleichzeitig unbehandelte Fälle
gegenübergestellt werden können, wird
sich ein abschließendes Urteil über den
48*
3$0
November
Die Therapie der
Wert der Serumtherapie fällen lassen, i
Erinnern wir uns, daß auch noch heute J
der Streit um den Nutzen des Diphthe- i
rieserums nicht erloschen ist, wenn wohl
auch nur noch Fanatiker den Wert in
Frage stellen. Wieviel schwerer muß es da
sein, die Wahrheit zu ermitteln bei einer
Erkrankung, die, wie die Genickstarre,
weit mehr eine individualisierende Behand¬
lung, worauf gleich zurückzukommen sein
wird, erforderte, eine Erkrankung, welche
zudem glücklicherweise viel seltener vor¬
kommt, sodaß der einzelne nur ausnahms¬
weise in der Lage ist, sich ein Urteil aus
der Erfahrung an einem Massenmaterial
zu bilden. Zudem ist es vielleicht noch
schwieriger als bei der Diphtherie, im ein¬
zelnen Falle ein Urteil über die Prognose
abzugeben, so unberechenbar und wechsel¬
voll ist der Verlauf im einzelnen. Selbst
die Ergebnisse, die an einem größeren
Materiale gewonnen sind, können nicht
absolut beweisend in Gegenüberstellung
zu ungünstigeren Resultaten angesehen
werden, da die Mortalität auch im Ver¬
lauf einzelner Epidemien schwankt.
Es kann nicht einmal der Tatsache
eine für den Nutzen des Serums im gün¬
stigen Sinn ausschlaggebende Behand¬
lung zugemessen werden, wenn nach
Joch man ns Bericht bei der oberschle¬
sischen Epidemie im allgemeinen eine
Mortalität von 70 bis 80%, die mit Serum
behandelten Fälle aber im Durchschnitt
eine solche von 20 bis 30% oder weniger
ergaben. Auch Flexners Bericht aus
Amerika, der durch die Serumbehandlung
die Mortalität von 70 auf 25% herab¬
drückte, hat noch keine Entscheidung
gebracht, denn die Mortalität pflegt mit
der Dauer der Epidemie zurückzugehen.
Alle diese Ausführungen sollen uns aber
nicht im geringsten abhalten, die unten
zu schildernde Behandlungsmethode aus¬
zuführen, sie sollen nur einerseits zur
kritischen Beurteilung und andererseits,
was mir das wichtigste scheint, zur
systematischen und vorschriftsmäßigen
Durchführung der Serumbehandlung auf¬
fordern.
Die specifische Serumtherapie
m i t e i n e m hochwertigen Serum muß
heute nächst der jLu mbalpunktion
als die Behandlung der Wahl an¬
gesprochen werden.
Schon in einer Arbeit, die ich im
Jahre 1905 über unsere Erfahrungen an
einem größeren einschlägigen Materiale
schrieb, redete ich der Serumbehand-
1 u n g das Wort und machte vor
Gegenwart 1917.
allen Dingen als erster den Vor¬
schlag, das Serum nach voraufgegange¬
ner Lumbalpunktion in den Wirbelkanal,
also direkt an den Sitz der Krankheit ein¬
zuspritzen 1 ). Diese Anregung wurde von
Joch mann aufgenommen, der dann in
systematischer Weise die Behandlung in
dieser Form durchführte. Etwa gleich¬
zeitig mit Joch mann haben Ko Ile und
Wassermann ein Meningokokkenserum
zu therapeutischen Zwecken hergestellt, in
der Folgezeit haben dann vor allen Dingen
Ruppel in den Höchster Farbwerken,
Flexner in Amerika und Paltauf in
Österreich ein Serum hergestellt. Nament¬
lich das Höchster Serum ist durch Im¬
munisierung mit einem Meningokokken¬
stamme von höchster^Virulenz gewonnen
worden.
Jochmann hält übrigens jedes poly¬
valente Serum, das vom Pferde stammt,
die mit zahlreichen frisch gezüchteten
Stämmen hoch immunisiert sind, für ge¬
eignet.
Es ist hier nicht der Platz, näher auf
die Theorie der Serumwirkung einzugehen.
Der Heileffekt beruht in bakteriotropen,
antitoxischen, baktericiden Fähigkeiten
des Serums. Ich will auch nicht weiter
auf die Entwicklungsstadien der Serum¬
therapie eingehen, sondern nur die Me¬
thode schildern, die nach unserer und
anderer Erfahrung heute als die beste
anzusehen ist. Nach übereinstimmendem
Urteil muß die Serumbehandlung mög¬
lichst frühzeitig Anwendung finden. Das
Serum soll in großen Dosen intralumbal
nach voraufgegangener Lumbalpunktion
gegeben werden. Nach dem Urteile nam¬
hafter Autoren wird durch diese Behand¬
lung die Mortalität wesentlich herab¬
gedrückt, etwa von 70 auf 20%, die
Dauer der Krankheit wird abgekürzt, im
Durchschnitt etwa von fünf Wochen auf
eine bis zwei Wochen, und endlich wird
nach Joch mann die Ausbildung des
Hydrocephalus internus in der Mehrzahl
der Fälle verhindert. Auch diejenigen,
die der Serumbehandlung skeptisch gegen¬
überstehen, werden sich gleichwohl zur
Aaiwendung des Verfahrens bei einer
so gefährlichen Krankheit entschließen
’ können, wenn aus vollster Überzeugung
versichert werden kann, daß niemals,
weder durch die Lumbalpunktion,
noch durch die Einspritzung des
Serums in den Wirbelkanal, Scha¬
den angerichtet werden kann. —
0 M. m. W. 1905, Nr. 36, S. 1733.
381
«jsjovetnbe Die Therapie der Gegenwart 1917.
Gewiß wird derjenige, welcher die Me¬
thode beherrscht, sich leichter und häufiger
zu dem Eingriff entschließen und bessere
Resultate erzielen als der ungeübte. In¬
dessen sind die Handgriffe leicht zu er¬
lernen.
Um Zeit zu gewinnen, wird man schon
der ersten Lumbalpunktion eine Serum¬
injektion folgen lassen. Sollte sich die
Vermutungsdiagnose auf Weichsel-
baumsche Mengingitis nicht bestä¬
tigen, so wird durch die einmalige Serum¬
injektion dem Patienten Schaden nicht
zugefügt. Solange nun die Meningitis¬
symptome sich auf der Höhe halten oder
nicht ganz wesentlich zurückgehen, wird
man täglich die Lumbalpunktion
ausführen und so lange Liquor ab-
la§sen, als das schnelle und reich¬
liche JHervorqueilen der Tropfen
einen Überschuß anzeigt. Sofort im
Anschlüsse daran injiziert man das Serum.
Die zur Lumbalpunktion benutzte Ka¬
nüle wird natürlich auch zur Injektion
des Serums benutzt. Das Serum wird
mit einer sterilen Spritze, am besten der
Luehrschen Glasspritze oder einer „Re¬
kords-Spritze in voller Dosis, das heißt
etwa 20—25 ccm, injiziert. Zu dem
Zwecke muß die Ausflußöffnung der
Spritze mit einem kurzen Stücke sterilen
Gummischlauchs armiert sein, der be¬
quem über die Büchse der Lumbalnadel
gezogen werden kann, oder ein passendes
Ansatzstück enthält. — Luft einzuspritzen
muß natürlich vermieden werden. Die
Injektion darf nicht unter zu starkem
Druck erfolgen, weil die Patienten sonst
zu heftige Schmerzen im Verlaufe des
Ischiadicus haben. Die Einspritzung des
Serums ruft sonst keinerlei unangenehme
Störungen hervor. Ein Überdruck wird
dadurch vermieden, daß man ja vorher
mindestens 20 ccm, wenn nicht die dop¬
pelte Menge — wir haben oft bis 100 ccm
in einer Sitzung abgelassen — entfernt
hat. Nach der Einspritzung wird die
Nadel entfernt und der Kranke am besten
mit dem Kopf etwas tiefer gelegt. Sehr
häufig kann man schon am ersten Tage
nach dem Eingriff einen Rückgang der
Symptome beobachten, oft hält die Besse¬
rung nicht an. Solange daher Kopf¬
schmerzen, Nackensteifigkeit, Fieber und
andere schwere Symptome bestehen, wird
die Lumbalpunktion täglich wiederholt
und täglich eine Serumdosis injiziert.
Ein besonders typischer Fall den ich
schon im Jahre 1908 in der geschilderten
Weise behandelt habe, möge als Paradigma
derMethode dienen und hier angeführt sein.
Ge. Meningitis contagiosa. Aufgenommen am
11. Juni 1908.
Anamnese: Früher nie krank. Venerische In¬
fektion, Potus. Jetzige Erkrankung begann Anfang
Mai. 14 Tage lang mußte er nach jeder Mahlzeit
sofort brechen; zugleich Verstopfung. Auch Nacht¬
schweiß. Vor 14 Tagen Beginn der Kopf¬
schmerzen und Rücken- und Nacken¬
schmerzen.
Status: Gut genährter Mann mit rotem Ge¬
sicht, Schweißtropfen auf der Stirn. Schädel
sehr empfindlich.
Pupillenreaktion prompt.
Augenhintergrund: Pupillenränder beiderseits
unscharf, Gefäße stark injiziert.
Lungen: ohne Befund. — Torax.: ohne Befund.
Puls: 85, voll, gut gespannt, regelmäßig.
Leber: nicht vergrößert. Milz: nicht palpabel.
Haut-, Fußsohlen- und Patellarreflexe lebhaft,
Kernig; Hypästhesie der Bauchhaut.
Verlauf: 14. Juni: Starke Kopf- und Nacken¬
schmerzen; Kernig +, Reflexe sehr lebhaft. Stau¬
ungspapillen deutlich. Lumbalpunktion: hoher
Druck, trüb.
16. Juni: Schlechteres Hörvermögen, Flüstern
links 2t 2 . m, rechts 1*4 ni.
17. Juni: Zeitweise benommen.
2*1. Juni: Völlig benommen.
28. Juni: Wieder klarer, Kopfschmerzen und
Nackensteifigkeit. Puls sehr klein und weich.
Blasses Aussehen.
.2. Juli: Bedeutend besser, der ganze Körper
noch stark druckempfindlich, schwer besinnlich,
nur noch wenig benommen.
3. Juli: Schmiert mit Kot, schreit viel.
4. Juli: Kernig fast verschwunden, Nacken¬
steifigkeit fast ebenso. Gibt derb-humoristische
Antworten.
12. Juli: Geistig frisch, sehr witzig, reinlich.
Stauungspapillen noch deutlich.
14. Juli: Pyelitis.
20. August: Entlassen.
Aufnahmetag 11. Juni 1908.
Lurnbal-Punktion: c 2 c ° ni
25
ccm
5 25 25 25 25 25
Tropf, ccm ccm ccm ccm ccm
25 100 120
ccm ccm ccm
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liSS'Siil:
382
Die Therapie der Gegenwart 1917,
November
Meningitis contagiosa
Datum
Lumbalpunkt
Seruminjektion
, Sensorium usw.
13. Juni . .
25 ccm
Schmerzen im Nacken, Kernig + keine
Ausfallserscheinungen. Reflexe gestei-
gert. Babinski. +.
14. Juni . .
Heftigere Kopf- und Nackenschmerzen.
Keine Ausfallserscheinungen. Stau¬
ungspapillen.
16. Juni . .
17. Juni . .
-
Jetzt verschlechtertes Hörvermögen..
Verworren, geringe Delirien, noch kon¬
zentrierbar. Gehör schlecht, Sensibilität
intakt.
18. Juni . .
-f 25 ccni
trübe Flüssigkeit
Phantasiert, geht aus dem Bett.
19. Juni . .
-f- 25 ccm trüb
Status idem. .
20. Juni . .
25 ccm
Antimeningitisserum
25 ccm
{
21. Juni . .
25 ccm
Stark benommen, schwer konzentrierbar,
wenig Kopf-, stärke Nackenschmerzen.
Urin ins Bett.
22. Juni . .
25 ccm
2200 Leuk.
Blutserum: 25 ccm
Leib gespannt, druckempfindlich.
23. Juni . .
25 ccm
1800. Leuk.
Antimeningitisserum
25 ccm
Kopf und Nacken frei beweglich.
24. Juni . .
25 ccm
Antimeningitisserum
Bedeutend klarer, prompte Antworten.
25. Juni . .
26. Juni . .
1900 Leuk.
25 ccm
Vernünftig. Befolgt Aufforderung
prompt.
25 ccm bedeutend
klarer 1200 Leuk.
. Antimeningitisserum
25 ccm
Keine Nackensteifigkeit. Kernig und
fast—, wenig Kopfschmerzen. Viel klarer,
rechnet prompt. Versteht und befolgt
27. Juni . .
Aufforderungen. Keine Ausfallserschei¬
nungen. Erinnert sich an alles.
Mehr Kopfschmerzen, sonst Stat. idem.
Abends sehr heftige Nacken- und Kopf¬
28. Juni . .
|
25 ccm, 2400 Leuk.
Antimeningitisserum
3 /2°/oo Alb.'
kulturell —
25 ccm
schmerzen, Puls kaum zu fühlen, Stuhl
ins Bett.
29. Juni . .
\
100 ccm
Antimenginitisserum
Starke Steifigkeit, Kernig stärker. Sto߬
1300 Leuk.
l%o Alb.
25 ccm
weises Aufschreien. Schon fixierbar.
Stuhl ins Bett.
30. Juni . .
120 ccm trüb
Reagiert auf heftige Nadelstiche nur lang¬
1
1. Juli . .
1800 Leuk.
•
|
sam," auf Zuruf gar nicht. Befolgt laute
Aufforderung richtig und prompt. Rohe
Kraft wesentlich herabgesetzt. Urin ins
Bett.
Weniger benommen. Urin, Stuhl ins Bett.
2. Juli . .
3. Juli . .
4. Juli . .
6. Juli . . |
!
Kernig besser. Schwer besinnlich, doch
fixierbar, fast gut. Stuhl ins Bett.
Phantasiert zuweilen. Schmiert mit Kot.
Schwer konzentrierbar. Körperlicher Be¬
fund bedeutend besser.
Körperliche Symptome stark zurückge¬
gangen. Lücken im Gedächtnis. Schwer
besinnlich.
8. Juli . .
12. Juli . .
i
\
|
Schmiert mit Kot.
Geistig frisch und rege, witzig. Stauungs¬
papillen noch deutlich.
Der Fall beweist, daß häufig wiederholte
Lumbalpunktion einerseits und Serumin¬
jektion andererseits gut vertragen werden
und zweifellos dem Patienten , nützen.
Auch das Fieber verdient für die Indika¬
tionsstellung der Seruminjektion Beach¬
tung. Mindestens solange die Temperatur
nicht zur Norm abgefallen ist, besteht die
Infektion fort und fordert zur Fort¬
setzung der Serumeinspritzung auf. Zwar
kann wohl mal die häufig wiederholte
Seruminjektion zu anaphylaktischen Er¬
scheinungen führen. Wir haben aber uns
dadurch nicht abhalten lassen, die Serum¬
einspritzungen unbeschränkt oft, wie es
die Schwere des Falles erforderte, zu
wiederholen, und.haben es nicht zu be¬
reuen gehabt. Sind die Erscheinungen
merklich im Rückgänge, so kann man
statt täglicher Punktion einen Tag .über-
November ' Die Therapie der
schlagen. Der mitgeteilte Fall lehrt aber
meines Erachtens, daß man auch noch
nach Eintritt eines Hydrocephalus durch
Punktion mit nachfolgender Serumein¬
spritzung Erfolge erzielen kann, denn der
Umstand, daß am 19. Krankheitstage
100 ccm Liquor abgelassen werden konnte,
beweist meines Erachtens einwandfrei
den Eintritt eines Hydrocephalus. Gleich¬
wohl trat noch Heilung ein, und zwar ver¬
hältnismäßig schnell. Ohne dem Einzel¬
fall eine übertriebene und allgemeine Be¬
deutung beimessen zu wollen, möchte ich
doch auf diese Beobachtung Wert legen.
Vielleicht ist der günstige Ausgang nur
auf die gerade im Beginne des Hydro¬
cephalus wiederholten ausgiebigen Lum¬
balpunktionen zurückzuführen.
Hat sich erst einmal ein chronischer
Hydrocephalus ausgebildet, so wird
man allerdings auf völlige Wiederher¬
stellung kaum noch hoffen können.
In neuester Zeit haben sich auch an¬
dere Autoren (Munk, Mühsam und An¬
dere) für die häufig unter Umständen täg¬
lich zu wiederholende Lumbalpunktion
und für das Ablassen größerer Mengen
von Liquor ausgesprochen. Diesem Vor¬
schläge sind in der Besprechung Bedenken
entgegengebracht worden. Man hat auf
die Gefahr der Blutung in das Gehirn
nach solchen Maßnahmen hingewiesen.
Es ist nun nicht ohne* weiteres zu be¬
haupten, daß eine bei der Sektion ge¬
fundene Blutung mit Sicherheit auf die
vorhergegangene Lumbalpunktion zurück¬
zuführen ist. Zweifellos kann auch spon-'
tan eine Blutung auftreten. Aber zuge¬
geben, daß durch eine übermäßige Ent¬
ziehung von Liquor ein Vakuum im Ge¬
hirn erzeugt und ein Blutgefäß dadurch
zum Bersten gebracht werden kann, so
wird man dieser Gefahr Vorbeugen kön¬
nen, wenn man nur soviel und solange
Liquor abläßt, als die Tropfen unter
offenbarem Druck schnell und reichlich
abfließen. Die entleerte Menge wird
immer reichlich sein. Wi r sahen niemals
eine Schädigung.
Auf die sonstige Behandlung der Ge¬
nickstarrekranken, soweit sie nicht ein¬
gangs schon kurz gestreift ist, näher ein¬
zugehen, erübrigt sich, namentlich was
die eigentliche Krankenpflege anlangt.
Nur zwei Punkte seien hier noch berührt.
Es ist von verschiedenen Forschern
angegeben worden, daß Urotropin — es
wird in größeren Dosen zu 4—6 g ge¬
geben — zur Abspaltung des Hexame¬
Gegenwart 1917. " 383
thylentetramins in die Spinalflüssigkeit
führt und auf diese Weise eine gewisse
desinfizierende Wirkung ausüben kann.
Aus diesem Grunde wende 1 man in der
angegebenen Dosis das Mittel neben der
Serumbehandlung an, in der Erwägung,
nichts unterlassen zu dürfen, was die
furchtbare Krankheit günstig beeinflussen
kann.
Die größte Aufmerksamkeit endlich
ist der Ernährung des Patienten zuzu¬
wenden. Es ist schon eben darauf hinge¬
wiesen worden, wie sehr nicht nur durch
die verminderte Eßlust und gehemmte
Nahrungsaufnahme die Kräfte des Pa¬
tienten konsumiert werden. Zweifellos
tritt auch durch den Infektionsprozeß an
den Meningen selbst eine, ich muß sagen
für die Meningitis in manchen Fällen
charakteristische Kachexie ein. Nach
dem heutigen Stand unserer Kenntnisse
darf man wohl annehmen, daß diese durch
eine Einwirkung auf die Hypophyse
(Simmonds, D. m. W. 1916, Nr. 7) be¬
dingt ist.
Diese Ernährungsstörungen geben uns
also alle Veranlassung, mit größtem Nach¬
drucke für eine ausreichende Nahrungs¬
zufuhr zu sorgen.
Die Behandlung läßt sich also in den
Schlu ßsatz zusammenfassen: frühzei¬
tige, täglich ausgeführte Lumbal¬
punktion mit folgender Serumein¬
spritzung, große Dosen von Urotro¬
pin, ausgiebige Ernährung.
Wir haben uns bislang mit der Be¬
handlung der contagiösen oder epidemi-
•schen Meningitis (Weichselbaum), der
sogenannten Genickstarre, beschäftigt.
Es liegt auf der Hand, daß auch die
Formen • von Meningitis anderer Ätio¬
logie, z. B. die Pneumokokkenmeningitis,
zweckmäßigerweise mit Lumbalpunktion
behandelt werden muß. Man wird ferner
die Pneumokokkenmeningitis in der oben
geschilderten Weise durch intralumbale
Injektion von „Pneumokokken“-
serum Zu beeinflussen suchen. Man wird
endlich sich des Optochins, dessen heil¬
same Wirkung bei Pneumonie als sicher¬
gestellt gelten kann, bedienen. Mit Rück¬
sicht auf die geringeren Intoxikations¬
erscheinungen auf das Gesicht und Gehör
wird man den Salicylester des Optochins
in Dosen bis zu 2 g täglich verordnen.
Da Morgenrot neuerdings das Opto-
chin auch gegen die Meningokokken¬
meningitis $ empfiehlt, so mag damit
immerhin ein Versuch gemacht werden.
384 -• Die Therapie der Gegenwart 1917. November
Über Neohormonal.
Von Professor Dr. G. Zuelzer-Berlin.
Im Jahre 1908 wurde das Peristaltik¬
hormon als ein neues Mittel zurspecifischen
Anregung der Darmtätigkeit von mir in
Gemeinschaft mitDohrn und Marxerbe¬
schrieben 1 ) und unter dem Namen Hor¬
monal zur Behandlung der chronischen
Verstopfung und akuten. Darmlähmung
in die Therapie eingeführt. Seither hat
die Anwendungsweise desselben natur¬
gemäß einige Änderungen und Erweite¬
rungen erfahren. Es hat sich, wie weiter
unten auszuführen sein wird, gezeigt, daß
mit Erhöhung der Dosis die Resultate
zuverlässiger werden, sodäß beispiels¬
weise bei der chronischen Verstopfung
die Heilungserfolge, die früher allgemein
mit etwa 70% angegeben wurden, heute
ganz bedeutend höher gewertet werden
können. Das Indikationsgebiet hat eben¬
falls an Ausdehnung gewonnen. Wenn
trotzdem das Hormonal heute noch nicht
Allgemeingut der Ärzte geworden ist,
so liegt das daran, daß, nachdem dasselbe
auf Grund zahlreicher übereinstimmend
günstiger Resultate bereits im Begriffe
war, es zu werden, nachdem bereits
12 000 Injektionen ohne jede nennens¬
werte schädliche Nebenwirkung ausge¬
führt worden waren, eine Nummer des
Präparats infolge eines fabrikatorischen
Versehens, das durch die damalige Dar¬
stellungstechnik ermöglicht war, durch
Albumosen verunreinigt wurde. Die
Folge war, daß bei der intravenösen In¬
jektion dieses albumosenhaltigen Prä¬
parats Kollapse auftraten, welche natur¬
gemäß die Ärzte außerordentlich be¬
unruhigten.
Dieses sehr bedauerliche Ereignis
wurde, nachdem die Ursache der Kollapse
festgestellt war, der Anlaß einer ver¬
besserten Darstellung des Hormonais.
Das verbesserte Präparat wird mit dem
Namen Neohormonal bezeichnet.
Bei dieser Darstellungsweise ist jedes
Eindringen von Albumosen unmöglich
gemacht. Außerdem habe ich seit der
Zeit die Präparate dauernd kontrolliert
und jedesmal vor der Abgabe klinisch ge¬
prüft, sodaß alle Garantien dafür ge¬
geben sind, daß nur noch ein Hormonal
in den Handel kommt, das ohne Gefahr
injiziert werden kann. Die intravenöse
Injektion stellt somit heute eine Therapie
dar, welche ohne jede schädfiche Nach-
0 B. kl. W. 1908, Nr. 46.
Wirkung in der Sprechstunde angewendet
werden kann, r— Wenn ich in einer meiner
ersten Arbeiten über das Hormonal eine
nach der Einspritzung auftretende,
schnell vorübergehende Temperatur¬
erhöhung als ein notwendiges specifisches
Hormonfieber annahm, so war dies zwei¬
fellos ein Irrtum. Es waren eben in den
ersten Präparaten noch Spuren von Bei¬
mengungen, welche diese, wenn auch ganz
belanglose Temperaturerhöhung hervor¬
riefen. In den letzten Jahren, in denen
ich viele Hunderte von intravenösen Hor¬
monalinjektionen (und zwar zumeist in
Mengen von 40 ccip) ausgeführt habe,
habe ich auch nicht ein einzigesmal mehr
auch nur die geringste Temperaturerhö¬
hung danach gesehen. Nur nach intra¬
muskulärer Injektion beobachtet man
hier und da einen Temperaturanstieg um
wenige Zehntel Grade. Es ist wohl an¬
zunehmen, daß derselbe so zustande
kommt, daß durch eine größere Flüssig¬
keitsinjektion in den Muskel etwas Mus¬
kelsubstanz gequetscht wird, zur Resorp¬
tion kommt und so die Temperatur¬
erhöhung bewirkt.
Wenn schon oben betont wurde, daß
die zu Kollapsen führende Blutdruck¬
senkung (in der einen Präparatnummer)
nur durch die beigemengten Albumosen
verursacht war, so bedarf es doch des
ausdrücklichen Hinweises, daß das Hor¬
monal an sich keine überhaupt nennens¬
werte Blutdrucksenkung verursacht, und
daß vor allem die während der Injektion
auftretende geringfügige Senkung die In¬
jektion nicht überdauert. Im Gegenteil,
gar nicht so selten wirkt das Hormonal
geradezu blutdrucksteigernd, da am
Schlüsse der Injektion der Puls kräftiger,
der Blutdruck höher ist, als zu Beginn.
Ich habe eine Zeitlang bei allen intra¬
venösen Hormonalinjektionen gleich¬
zeitig am anderen Arme den Blutdruck
während der Injektion dauernd kontrol¬
lieren lassen und gefunden, daß bei lang¬
samen Injektionen der Blutdruck wäh¬
rend der ersten 10—20 ccm durchschnitt¬
lich um 10—15 mm Hg absinkt; es ist
dies der Zeitpunkt, während dessen Kopf
und Gesicht lebhaft gerötet sind (und
vermutlich die Darmdurchblutung ihre
Höhe erreicht). Während der Injektion
der restlichen 15—20 ccm — meist ist
jetzt das Hitzegefühl im Kopfe schon ge¬
schwunden -— bleibt entweder der Blut-
November Die Therapie* der Gegenwart 1917. 385
druck stehen oder erhöht sich bereits oder
übersteigt den Anfangsblutdruck um
5—10 mm. Die Injektion'von 40 ccm
nimmt etwa fünf bis zehn Minuten in An¬
spruch, die Schnelligkeit richtet sich nach
dem Puls und wird so reguliert, daß keine
nennenswerte Pulsbeschleunigung ein-
tritt. Auch Dencks 1 ) hat ähnliche Blut-
druckkontrollen angestellt und beobachtet,
daß die intravenöse Injektion regelmäßig
von einer geringen Blutdrucksteigerung
gefolgt ist.
Schon diese Untersuchungsresultate
widerlegen die seinerzeit von Dittler
und Mohr hauptsächlich auf Grund an¬
fechtbarer Tierversuche aufgestellte Be¬
hauptung, daß die peristaltikanregende
Wirkung des Hormonals nicht eine spe-
cifische primäre Hormonwirkung sei,
sondern eine sekundäre, durch die Blut¬
drucksenkung hervorgerufene Wirkung.
Nun könnte man sich wohl allenfalls vor¬
stellen, daß eine während des Tierver¬
suchs auftretende Peristaltik mit einer
etwaigen kurz vorher oder gleichzeitig
beobachteten Blutdrucksenkung ursäch¬
lich in Zusammenhang steht; ganz un¬
möglich aber erscheint die Vorstellung,
daß eine wochen-, monate- oder gar jahre¬
anhaltende Dauerwirkung — und solche
sind Hunderte von Malen bei chronischer
Verstopfung einwandfrei beobachtet wor¬
den — auf eine einmalige Blutdrucksen¬
kung zurückgeführt werden könne. Selbst
für die akute, peristaltikanregende Wir¬
kung bei postoperativen Darmlähmungen,
die doch immerhin sechs bis acht Stunden
nach der Einspritzung sichtbar in die Er¬
scheinung zu treten pflegt, ist obige
Vorstellung ganz unhaltbar. Denn ganz
allgemein ist das Befinden der Kranken
schon in der Zwischenzeit durch das be¬
ginnende Weicherwerden des Leibes oft
nennenswert gebessert, was mit einer
anhaltenden Blutdrucksenkung nicht gut
vereinbar wäre. Auf die phantastischen
Annahmen Popielskis, welcher in allen
möglichen Gewebsextrakten, also auch
in der Milz, aus der das Hormonal dar¬
gestellt wird, einen blutdrucksenkenden
Körper, Vasodilatin, gefunden haben will,
und der diesem die Hormonalwirkung
zuschreibt, braucht wohl heute nicht
mehr näher eingegangen zu werden, um
so weniger, als Weiland durch pharma¬
kologische Versuche am isolierten* Darm
und am lebenden Tiere weitgehende Un¬
terschiede zwischen dem Hormonal und
i) D. Zschr. f. Chir. B. 132, S. 65.
dem Vasodilatin festgestellt hat. (Arch.
f. d. ges. Physol. Bd. 147.)
Ich habe bereits in meiner ersten Mit¬
teilung darauf hingewiesen, daß das Peri-
stalt'ikhormon der specifische, normaler¬
weise die Peristaltik anregende Reizstoff
ist. Er wird, wie aus meinen Unter¬
suchungen mit Dohrn und Marxer 1 )
hervorgeht, in der Magenschleimhaut zu¬
gleich mit den Verdauungsfermenten des
Magens produziert, wie es denn aus einem
nüchternen Magen nicht erhalten werden
kann. In der Milz scheint sein Haupt¬
aufstapelungsort zu sein, von dem aus
als Abgabeort und Regulator die Darm¬
peristaltik angeregt,, wird. Mächtle 2 )
stützte die Hypothese dieser neuen
Milzfunktion durch Beobachtungen, daß
nach gelegentlichen Milzexstirpationen
Störungen der Darmfunktion aufgetreten
seien. Arthur Meyer 3 ) hat auf der Bar-
denheuerschen Klinik die Hypothese
geradezu klinisch-experimentell bewiesen.
Er stellte zunächst aus der Literatur eine
erhebliche Reihe von Fällen zusammen,
aus denen hervorging, daß nach Splen-
ektomien von an sich gesunden Milzen
(z. B. nach traumatischen Zerreißungen
der Milz) auffallend häufig Darmatonien
beobachtet werden, ohne daß für diese
Erscheinungen eine Spur von Peritonitis
hätte verantwortlich gemacht werden
können. In den meisten Fällen schwand
die Darmatomie allmählich spontan und
zwar höchstwahrscheinlich dadurch, daß
ein anderes Organ für die Aufstapelung
des peristaltischen Hormons vicariiernd
eintrat. In drei eigenen Fällen von trau¬
matischer Milzruptur, die nach der Splen-
ektomie bei sonst glattem Verlauf einen
auffallenden Meteorismus zeigten, hatte
die intravenöse Injektion von je 20 ccm
Hormonal einen eklatanten Erfolg. Unter
reichlichem Windabgange schwand die
Auftreibung des Leibes in wenigen Stun¬
den und blieb beseitigt. Planmäßig aus¬
geführte Reihenuntersuchungen an splen-
ektomierten Tieren bestätigten die Beob¬
achtungen am Menschen. Interessant
war das Verhalten der freigelegten Milz
bei vier milztragenden Kaninchen unter
dem Einfluß der Hormonalinjektion.
Es war deutlich zu konstatieren, wie sich
das vorher schlaffe Organ sehr bald mit
größeren Blutmengen füllte und im Mo¬
ment danach die Peristaltik in Gang kam.
1 ) B. kl. W. 1908, Nr. 46.
2 ) Ther. Mh. Nov. 1911.
:J ) Zbl. f. d. Grenzgeb. d. Med. u. Chir. 1914
Januar.
49
386 Die Therapie der
Die vorliegenden tierexperimentellen
Erfahrungen erklären ohne Schwierigkeit
die, wie hier gleich bemerkt werden möge,
kaum je versagenden Hormonalwirkung
bei postoperativer Darmlähmung 1 ). Nicht
ohne weiteres erklären sie die Dauer¬
wirkung bei chronischer Obstipation, die
in einem hohen Prozentsätze der Fälle
und nicht selten sich über Jahre er¬
streckend zu beobachten ist. Saar 2 ) hat
die Dauerwirkung sehr hübsch folgender¬
maßen charakterisiert: Es sei, als wenn¬
ein zum Stillstände gekommenes Pendel
durch einen einmaligen Anstoß wieder seine
geregelte Tätigkeit aufgenommen hätte.
In die physiologische Pathologie übersetzt
würde sich das von Saar gebrauchte Bild
etwa folgendermaßen erklären lassen. Die
weitaus häufigste Ursache der chronischen
Verstopfung wird allgemein darin ge¬
sehen, daß so viele Menschen, in erster
Linie die Frauen, aus mannigfachen Ur¬
sachen, z. B. aus Schamgefühl oder Zeit¬
mangel, dem normalen Stuhldrange sehr
häufig nicht sofort nachgeben, den Stuhl¬
reiz also gewaltsam unterdrücken und so
allmählich die Reizschwelle erhöhen. Mit
anderen Worten: die normalerweise pro¬
duzierte und von der Milz abgegebene
Menge des Peristaltikhormons muß nach
mehr oder minder langer Zeit sich als
ungenügend erweisen, einen bis zu der
durch die künstliche Hemmung erhöhten
Reizschwelle wirksamen Reiz auf die
Erfolgsorgane (Darmmuskulatur) auszu¬
lösen. Die Folge ist eine andauernde Ver¬
stopfung, die um so stärker werden muß,
je länger der Kranke inadäquate, also die
Peristaltikhormonbildung nicht specifisch
anregende Abführmittel zur Beseitigung
seines ihm lästigen Zustandes einnimmt.
Injiziert man nunmehr eine sehr große
Menge des specifischen Hormonais, so
werden mit einemmal die Erfolgsorgane
mit dem specifischen Reizstoff über¬
schwemmt, die Reizschwelle wird durch
den physiologischen Reiz erreicht und
die Darmperistaltik in physiologischer
Weise wieder ausgelöst. Es ist durchaus
erklärlich, daß dadurch, um mit Saar
zu reden, das Pendel der Darmbewegung
wieder angestoßen ist, daß die Reiz¬
schwelle bis auf weiteres für den physio¬
logischen Reiz erreichbar, 'herabgesetzt
bleibt.
Die oben erwähnten Versuche von
Arthur Meyer lassen neben dieser Wir¬
kungsweise des Hormonais auch noch die
Gegenwart 1917. November
Möglichkeit einer specifischen Beeinflus¬
sung der hormonalpröduzierenden Drü¬
sen, das heißt die Möglichkeit einer ge¬
steigerten Hormonalproduktion nach der
Einspritzung zu. Analog nämlich, wie
sich das vorher schlaffe Milzorgan sehr
bald nach der Hormonalinjektion mit
größeren Blutmengen füllt/ darf man woht
auch vermuten, daß die die hormonal¬
produzierenden Drüsen tragende Magen¬
schleimhaut ebenfalls stärker durchblutet
und damit die Drüsensekretion specifisch
angeregt wird. Diese Annahme würde
die Tatsache erklären, daß bei chronischer
Obstipation- nicht selten mehrere Tage
nach der Injektion vergehen bis der Stuhl¬
gang ein spontaner, regelmäßiger gewor¬
den ist: die das Peristaltikhormon pro¬
duzierenden Zellen der Magendrüsen haben
eben einige Tage gebraucht, um ihre volle
Aktivität wieder zu erlangen. Herab¬
setzung also der Reizschwelle, die durch.
unvernünftige Lebensweise heraufgesetzt
war, und Steigerung oder Aktivierung
der Hormonproduktion, die durch die
künstlichen Abführmittel auf ein rela¬
tives Mindestmaß gekommen war, das
sind höchstwahrscheinlich die Ursachen
der Dauerwirkungen der Hormonalin¬
jektion.
Wie man sich auch zu meiner Auf¬
fassung von der specifischen Hormon¬
wirkung des Hormonais stellen mag, tat¬
sächlich übt, um einen anderen Autor 1 ),,
zu zitieren, das Mittel, sowohl im Tier¬
experiment als auch beim Menschen, eine
mächtig peristaltikanregende Wirkung
aus und zwar sowohl bei intravenöser wie
intramuskulärer Applikation. Daher bil¬
den eine Indikation für das Neohor¬
monal in erster Linie alle Fälle von akute r
Darmparese, die man am häufigsten als
postoperative, seltener als reflektorische
bei Nierensteinen usw. beobachtet.
Aber nicht nur der paralytische post¬
operative Ileus, der, wie weiter unten aus¬
geführt wird, fast mit absoluter Sicher¬
heit durch eine rechtzeitige Hormonal¬
injektion zu vermeiden ist, auch der all¬
mählich oder plötzlich auftretende Darm¬
verschluß, der drohende oder der ausge¬
brochene Okklusionsileus bilden eine In-,
dikation für die Hormonalinjektion. Es
ist auch für den erfahrensten Kliniker
nicht immer einfach, oft vollkommen un¬
möglich, im Augenblicke zu entscheiden,
ob im gegebenen Falle, wenn , der Stuhl
seit Tagen sistiert, der Leib möglicher-
x ) S. Dencks, 1. c. S. 74 des Sonderabdrucks.
2 ) M. Kl. 1910, Nr. 11.
x ) Dencks, 1. c.
November
387
Die Therapie der Gegenwart 1917.
weise schon aufgetrieben ist, ob eine ein¬
fache Koprostase oder eine chronische
Darmverengung zum völligen Verschlüsse
geführt hat, oder ob ein Volvulus vor¬
liegt. Aus naheliegenden Gründen kann
häufig die Röntgenuntersuchung nicht
mehr zur diagnostischen Entscheidung
herangezogen werden. In allen solchen
Fällen, in denen der Allgemeinzustand
kein sofortiges operatives Eingreifen ver¬
langt, in denen auch der Chirurg erst
durch Anwendung innerer Mittel eine
Klärung der Sachlage herbeizuführen ver¬
sucht, ist eine sofortige Anwendung des
Hormonais geboten. Nicht ganz selten
erlebt man es, daß in solchen Fällen die
für den nächsten Tag bereits angesetzte
Operation überflüssig wurde, weil ent¬
weder eine schwere Koprostase oder auch
selbst ein leichter Volvulus (unter Zu¬
hilfenahme einer zweckentsprechenden
Lagerung des Kranken während des Ein¬
setzen der stärkeren Peristaltik) behoben
wurden. Eine Kontraindikation, die viel¬
leicht daringesehen werden könnte, daßdie
starke Hormonalperistaltik, die an der
Darmstenose eine Hemmung erfährt, da¬
selbst etwa zu einer Ruptur des Darmes
führen könnte, besteht nicht, denn so-
sowohl die klinische Erfahrung, wie be¬
sondere, von mir ausgeführte Tierversuche
mit experimentellem Ileus haben mit
Sicherheit dargetan, daß auch die stärkste
Hormonalperistaltik an dem Orte der
Infarcierung des Darmes haltmacht und
trotz der Brüchigkeit der Darmwand nie
zur Perforation führt. Also selbst bei
einem unerkannten Strangulationsileus
kann die Hormonalinjektion nie Schaden
stiften. Wohl aber kann sie auch hier
erheblichen Nutzen bringen. Einmal kann
die durch die Hormonalwirkung akzen¬
tuierte Darmsteifung zur schnelleren Er¬
kennung des Sitzes des Hindernisses bei¬
tragen; wichtiger ist aber noch das andere
Moment, daß die beim Ileus oft mehr
oder minder schnell erlahmende Peri¬
staltik durch das Hormonal im Gang
erhalten bleibt; hat doch Bircher über¬
haupt für alle Darmoperationen eine
prophylaktische, vor der Operation vor¬
zunehmende Hormonalinjektion emp¬
fohlen.'
Trotz der Selbstverständlichkeit der
Forderung sei nochmals betont, daß die
Hormonalinjektion niemals die opera¬
tive Indikation zeitlich beeinflussen
soll; nur dann, aber dann auch mit abso¬
luter Sicherheit, kann ihre völlige Un¬
schädlichkeit garantiert werden mit der
Aussicht auf eine oft kaum mehr er¬
wartete Hilfe.
Durch über hundert Publikationen
sichergestellt ist die Dauerwirkung des
Hormonais bei chronischer Obsti¬
pation, die sich auf Jahre hinaus er¬
streckenkann. Mir selbst sind eine Reihe
von Fällen bekannt, in denen nach einer
Hormonalinjektion drei, vier undfünf Jahre
hindurch die Patienten regelmäßig spon¬
tanen Stuhl gehabt haben, die vorher
ebenso regelmäßig ihre Abführmittel ge¬
nommen hatten. Bei der Häufigkeit der
chronischen Verstopfung bildet also diese
quantitativ das Hauptindikationsgebiet
für das Hormonal. Es braucht kaum her¬
vorgehoben zu werden, daß die spontane
Regelung des Stuhles — auch wenn die¬
selbe nur ein halbes oder ein Jahr anhält—
für den Gesamtorganismus des Kranken
außerordentlich viel bedeutet. Ganz ab¬
gesehen von dem psychischen Einfluß,
den bei Stuhlhypochondern das normale
Funktionieren des Darmes ausübt, ist es
sicherlich für das somatische Verhalten
des Organismus nicht gleichgültig, daß
die Schleimhaut des Darmes mit ihrem
gewaltigen Drüsenkomplex nicht täglich
durch die Abführmittel mehr oder min¬
der gereizt und mißhandelt wird. Wir
wissen durch die Pawlowschen und an¬
deren Untersuchungen, wie die normale
Drüsenfunktion der einzelnen Darm¬
abschnitte und die Funktion der ge¬
samten Verdauungsorgane sich wechsel¬
seitig beeinflussen. Wir können es dem¬
gemäß objektiv verstehen, daß die durch
Hormonal geheilten Personen häufig die
Angabe machen, daß sie sich viel gesund-
hafter und leistungsfähiger fühlen als
früher.
Was die Art derV er Stopfung anbe¬
langt, für deren Behandlung das Hor¬
monal geeignet ist, so scheint es mir, wie
ich schon gelegentlich einmal hervorge¬
hoben habe, zweckmäßig, gerade auf der
Grundläge der specifischen Hormonal¬
therapie eine neue Einteilung dieses
mannigfaltigen Krankheitsbildes vorzu¬
nehmen. Bei den verschiedenartigen Er¬
krankungen anderer Organe mehren sich
seit längerer Zeit die Bestrebungen, sie
nach den funktionellen Störungen einzu¬
teilen. Die nach den obigen Ausführungen
wohl nicht mehr zweifelhafte specifische
Wirkung des Hormonais gewährt ohne
weiteres die Möglichkeit einer solchen
funktionellen Haupteinteilung in Ver¬
stopfungen, die auf das Hormonal rea¬
gieren und in solche, die nicht reagieren.
49*
388
November
Die Therapie der
In die erstere ^ Gruppe gehören alle die¬
jenigen Fälle, bei denen die hormonprodu-
zierenden Zellen noch vorhanden sind
und wieder zur Funktion gebracht wer¬
den können; die zweite Gruppe umfaßt
diejenigen Fälle, in denen die specifischen
Zellen nicht mehr zur Funktion gebracht
werden können. Bevor diese Einteilung
durchgeführt werden kann, bedarf es
systematischer Untersuchungen in großem
Umfange. Hier soll nur auf das häufige
Zusammenvorkommen von Achylia ga-
strica und Versagen derHormonalwirkung
hingewiesen werden. Wie sorgfältig die
Beobachtungen in solchen Fällen durch¬
geführt werden müssen, erhellt daraus,
daß in manchen Fällen von scheinbarer
Achylie, in denen das Hormonal wirksam
war, sich bei späterer Untersuchung Salz¬
säure im Magensafte fand, also nur eine
Heterochylie vorlag.
Aus der Hauptgruppe der hormon¬
produzierenden Verstopften bedürfen die
spastischen Formen einer besonderen Be¬
sprechung. Die Ruhr, welche von
L. Borchardt 1 ) und mir 2 ) als eine mit
Verstopfung einhergehende Colitis spa-
stica acutissima bezeichnet wurde, zeigt in
eklatanterWeise, wie durch das Hormonal
(neben anderer Wirkungsweise) die un¬
koordinierten spastischen Darmcontrac-
tionen in eine regelmäßige, stuhlfördernde
Peristaltik umgewandelt werden. Die
gleiche Beobachtung kann man bei der
nach überstandener akuter Ruhr fort¬
bestehenden spastischen Verstopfung
machen. Je nach der Schwere des Falles
gelingt es, für mehr *oder minder lange
Zeit, unter Zuhilfenahme von Atropin
oder Belladonna die quälenden Zustände
zu beseitigen. Die ausgezeichneten Erfolge
der Hormonaltherapie bei der akuten
Ruhr, die schnelle Besserung des Allge¬
meinzustandes, der Temperaturabfall, die
Pulsverlangsamung usw. sind nicht nur
durch die cft gewaltigen Stuhlentleerungen
zu erklären; die durch das Hormonal
bewirkte bessere Durchblutung der Darm¬
wand, die so ermöglichte schnellere Her¬
ausschaffung der Ruhrtoxine sind sicher
von mitbestimmendem Einfluß.
Eine unter den Kriegsverhältnissen
sehr häufige Form der Verstopfung, die
durch das Hormonal günstig beeinflußt
wird, ist die von Crämer unter dem
Namen Dyspepsia intestinalis flatu-
1 en ta beschriebene Darmatonie. Die daran
leidenden Kranken fühlen sich meist gar
Gegenwart 1917.
nicht verstopft, da sie am Tage mehr¬
fache, aber stets ungenügende Entlee¬
rungen zäher, lettiger, stinkender Stuhl¬
massen haben.; das Colon descendens,
besonders das S Romanum, ist stets mit
Stuhlmassen erfüllt. Auch hier können
Hilfsmittel wie Einläufe und Belladonna
in Anbetracht der Kompliziertheit des
Krankheitsbildes nicht entbehrt werden.
Diese Form der Retention von Kotmassen
leitet über zu der paradoxen Ver¬
stopfung, die ebenfalls infolge der Kriegs¬
ernährung außerordentlich häufig ist. Sie
äußert sich in häufigen diarrhöischen Ent¬
leerungen (die in den letzten Monaten
sicherlich nicht selten den Verdacht einer
akuten ruhrartigen Enteritis erweckt ha¬
ben), zwischen welchen, wie sich bei genau¬
erem Fragen meist herausstellt, harte, feste
Stuhlmassen entleert werden; die Unter¬
suchung ergibt eine erhebliche Füllung
des Dickdarmes. In solchen Fällen hat
das Hormonal jahrelang bestehende
scheinbare Diarrhöen beseitigen können:
Das Hormonal bewirkt eine Regulie¬
rung zu normaler Darmperistaltik. Daher
ist es klar, daß in allen den Fällen von
Gallensteinen und Gallenblasener¬
krankung, in denen man gewöhnlich eine
Karlsbader Kur verordnet, das Hor¬
monal indiziert ist. Der regelmäßige Ab¬
lauf der Duodenalperistalitik muß nach
allem, was wir heute über die cholagoge
Wirkung wissen als das beste Cholagogum
angesehen werden. Überall also dort, wo
keine chirurgische Indikation .vorliegt,
ist bei Erkrankung der Gallenblase das
Hormonal indiziert. Ich habe durch
meinen Assistenten Rosenbaum (1914) 1 )
einige Fälle von außerordentlichem Heil¬
erfolg bei Gallensteinen mit lang an¬
dauerndem Ikterus veröffentlichen lassen,
in denen sechs bis acht Tage nach der
Hormonalinjektion der Ikterus verschwun¬
den war und die Koliken aufhörten. Seit¬
her, habe ich noch drei derartige Fälle
beobachtet. In dem einen war die 64jäh-
rige Patientin seit über drei Monaten
ikterisch. Acht Tage nach der Injektion
wurde der Urin hell, bald darauf war der
Hautikterus verschwunden.
Eine ernsthafte Kontraindikation gegen
die Anwendung des Hormonais bei Gallen¬
steinen dürfte kaum bestehen. Daß bei
schweren, mit Entzündung einhergehenden
Verwachsungen der Gallenblase während
der Injektion daselbst stärkere Schmerzen
auftreten können, ist infolge der Zerrung
1 ) D. in. W. 1916, Nr. 46.
2 ) D. m. W. 1917, Nr. 1.
x ) Dissertation Berlin 1914.
November
389
Die Therapie der Gegenwart 1917.
V
durch die Duodenalperistaltik erklärlich
und habe ich mehrfach beobachtet. Nach
der Injektion hörten die Schmerzen stets
auf.
Was die Dosierung des Hormonais
anbelangt, so wurde in den ersten Jahren
so mancher Erfolg dadurch unmöglich,
daß die injizierte Menge*zu gering war.
Die anfängliche Dosis betrug 15, später
20 ccm sowohl für die Behandlung der
chronischen Obstipation, wie für die Be¬
seitigung der akuten Darmlähmung. Die
theoretischen Betrachtungen lassen schon
annehmen, daß eine Differenzierung in
bezug auf die Menge geboten ist. Nach
meinen Erfahrungen, die mit denen von
Dencks und anderen Autoren weit¬
gehend übereinstimmen, dürfte folgende
Dosierung und Anwendungsweise geboten
sein: „In leichten und mittelschweren
Fällen von Darmparese kann das Neo¬
hormonal intramuskulär injiziert werden 1 ).
Die Menge soll zunächst 20 ccm betragen.
Ist nach etwa sechs bis zwölf Stunden
keine ausreichende Wirkung zu ver¬
merken, so wird die Dosis wiederholt und
diesmal eventuell intravenös appliziert.
In allen Fällen, in denen es sich be¬
reits um vorgeschrittene Parese des
Darmes handelt, und in denen eine mög¬
lichst schnelle Wirkung des Mittels wün¬
schenswert ist, soll intravenös injiziert
werden. Das Präparat ist dann vorher
leicht zu erwärmen. Das Quantum soll
beim Erwachsenen zunächst 20 ccm be¬
tragen. Tritt nach etwa vier bis sechs
Stunden keine genügende Wirkung ein,
so ist die Dosis zu wiederholen. In be¬
sonders schweren Fällen, in denen un¬
bedingt eine schleunige Wirkung erzielt
werden soll, ist sogleich ein Quantum
von 30—40 ccm intravenös zu injizieren.
Bei ungenügender Wirkung ist diese
Dosis nach sechs bis zwölf Stunden um
weitere 20—40 ccm zu erhöhen. Die
Neohormonalwirkung ist durch andere
Maßnahmen, wie Klistiere, Hitzebehand¬
lung usw., zu unterstützen.
In verzweifelt schweren Fällen von
Darmparalyse ist Neohormonal mit Physo¬
stigmin oder Atropin in hohen Dosen zu
kombinieren.“
Bei der chronischen Obstipation bin
ich von den kleineren Dosen, die eventuell
nur intramuskulär injiziert werden kön¬
nen, ganz zurückgekommen. Zweifellos
kann man damit zwar — und dafür spre¬
chen ja zahlreiche literarische Berichte —
x ) Zitiert nach Denck, I. c. S. 73.
in vielen Fällen gute Resultate erzielen,
aber es läßt sich meines Erachtens nicht
vorausbestimme'n, in welchen Fällen das
der Fall sein wird. Dencks söhlägt nun
vor, wenn sich nach einigen Tagen her-,
ausstellt, daß die Wirkung ungenügend
war, eine neuerliche größere intravenöse
Injektion anzuschließen. Für die Privat¬
praxis scheint es mir jedoch richtiger,
gleich von vornherein den sicheren Weg
zu üben und die Behandlung mit einer
intravenösen Injektion von zirka 35 bis
40 ccm zu beginnen und den Rest des
Inhalts der beiden Flaschen, etwa 5 ccm
intramuskulär zu injizieren. Diese kleine
intramuskuläre Injektion (in die Nates
oder die Außenseite des Oberschenkels)
ist nicht weiter schmerzhaft und bietet
den Vorteil einer langsameren Nach¬
wirkung von Hormonal, nachdem die
Hauptmasse durch direktes Eindringen
in die Blutbahn seine akute Wirkung
ausgeübt hat.,
Da das Hormonal, wie oben ausein¬
andergesetzt, nur in physiologischer Breite
auf die Darmperistaltik wirkt und keine
abführende Wirkung im gewöhnlichen
Sinn ausübt, dürfen die Widerstände, die
die neuentfachte Peristaltik zu über¬
winden hat, keine abnorm großen sein.
Um dies zu erreichen, wurde laut der dem
Hormonal beigefügten Vorschrift bisher
nach der Injektion ein Abführmittel (Ri¬
cinus, Senna, Sagrada) gereicht. Auf
Grund vieler Erfahrungen, in denen bei
sehr schweren Verstopfungsformen diese
Abführmittel nach der Injektion ver¬
sagten, erschien es mir zweckmäßiger,
das Schiebemittel bereits vorher anzu¬
wenden, das Hormonal auf den bereits
von übermäßigen Kotmassen befreiten
Darm wirken zu lassen. Die erhebliche
prozentuale Steigerung der Erfolge bis
auf zirka 90% empfiehlt diese methodi¬
sche Änderung. Läßt nach einem an¬
fänglichen Erfolge spontaner Stuhlerzeu¬
gung im Laufe der nächsten Wochen die
Hormonalwirkung nach, so ist durch eine
zweite gleiche Injektion fast stets noch
ein dauernder Erfolg zu erzielen.
Es braucht kaum besonders erwähnt
zu werden, daß bei der akuten postope¬
rativen Darmparese, bei der ja nebenbei
meist schon aus äußeren Gründen der
Darm ziemlich leer ist, ein Schiebemittel
nicht indiziert, meist überhaupt auch gar
nicht anwendbar ist.
Was die Technik derintravenösen
Injektion anbelangt, so glaube ich nur
deshalb darauf eingehen zu dürfen, weil
39Ö , Die Therapie der Gegenwart 1917. November
noch vielfach das Vorurteil besteht, die in¬
travenöse Injektion so großer Flüssigkeits¬
mengen stelle eine nur in der Klinik
ausführbare Operation dar. Dies ist
tatsächlich nicht der Fall, die Hormonal¬
injektion ist ohne jede Assistenz in der
Sprechstunde ausführbar. Zur Stauung
der Cubitalvene am Arme benutze ich die
Reklinghausensche Manschette; ein
Glas-T-Stück, das an einem Schenkel
den Manschettenschlauch trägt, ist am
zweiten mit einem Gebläse und am dritten
mit einem langen Schlauch armiert. Wäh¬
rend der Arzt die Manschette aufbläst,
klemmt Patient mit der freien Hand den
fangen Gummischlauch ab. Im Augen¬
blicke, wo die Kanüle sicher in die Vene
gekommen ist, läßt der Patient den
Gummischlauch los und die Vene ist frei.
Ich benutze eine 50-ccm-Rekordspritze,
die mit einem bajonettartigen Ansätze,
der für die Nadel paßt, versehen ist.
(Siehe Abbildung.) Dieser Ansatz ermög¬
licht es, die Nadel während der Injektion
geradlinig in der Vene zu halten, und man
vermeidet das bei der schrägen Haltung
der Nadel oft unvermeidliche Durch¬
stoßen der Venen. Außerdem erlaubt sie,
die Spritze während der durchschnittlich
fünf bis höchstens zehn Minuten währen¬
den Injektion aufzustützen.
Die Injektion erfolgt in einem Tempo,
das ganz individuell von dem Verhalten
des Pulses des Patienten geboten ist. Mit
der linken Hand kann sich der Arzt —
wenn keine sichtbare Pulsation der Bra-
chialis besteht — davon überzeugen, daß
keine nennenswerte Pulsbeschleunigung
auftritt, gegebenenfalls braucht die In¬
jektion nur eine viertel bis halbe Minute
sistiert zu werden. Um eine psychische
Pulsbeschleunigung zu vermeiden, emp¬
fiehlt es sich, den Patienten durch ein
indifferentes Gespräch abzulenken.' Zu
Beginn der Injektion tritt eine starke
Rötung des Gesichtes (die reflektorisch
mit der Darmhyperämie parallel geht)
auf. Es ist deshalb zweckmäßig, den Pa¬
tienten vor Beginn der Injektion eine
große kalte Kompresse auf Kopf und Ge¬
sicht zu legen.
Patient kann unmittelbar nach der
Injektion nach Hause gehen. Temperatur¬
steigerungen oder irgendwelche anderen
Störungen im Allgemeinbefinden habe
ich, abgesehen von einer seltenen stär¬
keren lokalen Belästigung durch die kleine
intramuskuläre Injektion bei dem Neo¬
hormonal nicht mehr beobachtet.
Aus dem Sanatorium Dr. Kohnstamm, Königstein i. T.
Quinckesches Ödem mit epileptischen Anfällen.
Von Dr. Susanne Rosenfeld.
Da Fälle dieser Art nur ganz vereinzelt
beschrieben sind, dürfte die Mitteilung des
nachstehenden Falles angebracht sein. —
Der Patient wurde unserem Sanatorium
von Herrn Sanitätsrat Dr. Mannheimer
(Frankfurt a. M.) überwiesen, dem wir
auch die sorgfältig beobachtete und auf¬
genommene Vorgeschichte verdanken.
Patient ist Kaufmann, 45 Jahre alt, kinderlos
verheiratet, geschäftlich besonders in der letzten
Zeit sehr angestrengt tätig, Eltern blutsverwandt,
schwere erbliche Belastung mit Krankheiten des
Nervensystems und mit Gicht. In der Jugend
keine wesentliche Erkrankung, auch keine Syphilis.
Vor 25 Jahren Gelenkrheumatismus, auch in
der letzten Zeit noch zuweilen Schmerzen in der
linken Großzehe, vielleicht gichtischer Natur, und
Muskelschmerzen. Er litt viele Jahre lang an
Quinckeschem Ödem auch des Larynx. Im
Jahre 1907 nahm er dagegen 9 Monate lang täglich
3 bis 4 g Natrium salicylicum. Dabei blieben
die Ödeme bis Oktober 1916 weg. Sie zeigten
sich erst wieder, nachdem am 15. Oktober 1916
der erste epileptische Anfall aufgetreten war.
Schon 10 Monate vorher waren Absencen vor¬
gekommen, die mehrere Minuten lang dauerten
und wie echt epileptische ohne Zuckungen aus¬
gesehen haben müssen. Der Anfall vom 15. Okto¬
ber 1916 wurde ärztlich beobachtet: Beginn mit
gurgelndem Schrei, Bewußtlosigkeit, Zungenbiß,
Krämpfe, halbstündliche Dauer, danach Amnesie,
Erschöpfung, Zerschlagenheit, Temperaturstei¬
gerung und sehr heftige Rückenschmerzen.
Seit 18. Oktober 1916, wie gesagt, Quinckesches
Oedem, zuerst der Hohlhände. Er nahm 2 Monate
lang Salicyl, trotzdem kamen die Ödeme
immer wieder. Am 27. Dezember 1916 während
4 Stunden drei Anfälle mit Zungenbiß, heftigsten
'Schmerzen im Rücken und in mehreren Gelenken,
geringere Temperatursteigerung als das erstemal,
nur diesmal geringe Spuren von Eiweiß im Urin.
Am 13. Januar 1917 mehrere Absencen. Am
16. Januar 1917 Aufnahme ins Sanatorium Dr.
Kohnstamm.
Patient klagt über Schlaflosigkeit, Schwäche,
heftige Rückenschmerzen, so daß er geht, wie wenn
November ■ Die Therapie der
er einen Hexenschuß hätte. Die körperliche
Untersuchung ergibt nichts Besonderes: Narben
von den letzten Zungenbissen; dorsale Kyphose,
lumbalfe Lordose; die Wülste der Musculi rhom-
boidei springen vor, sind aber nicht druckempfind¬
lich; ein Hinweis auf die Rückenschmerzen, die
von der Wirbelsäule nach vorn hin ausstrahlen,
wird nicht gefunden. Spärlich bronchitische Ge¬
räusche. Blutdruck Riva Rocci: 140. Urin frei
von krankhaften Bestandteilen. In 100 ccm Blut
werden 2,2 mgr. Harnsäure nachgewiesen, also ein
normaler, für Gicht nicht in Betracht kommender
Befund. Die Lumbalpunktion ergab normale
Verhältnisse, also keinerlei Hinweis auf eine
Meningitis serosa, die von v. Rad und Ull-
mann als Ursache epileptiformer Anfälle bei
Quincke schein Ödem in Betracht • gezogen
wurde (vergl. unten).
Die Behandlung ging einmal von der
Absicht aus, dem überanstrengten und
erregten Patienten Ruhe zu schaffen,,
welcher Anzeige durch ausgiebige Frei¬
luftliegekur in der damals klaren, kalten
Winterluft Rechnung getragen wurde.
Diätetisch war der vorher fast ausschlie߬
lichen Fleischdiät entgegenzuwirken. Pa¬
tient wurde zu einer fleischarmen, haupt¬
sächlich aus Vegetabilien bestehenden Er¬
nährung genötigt und erzogen. Angesichts
der Möglichkeit, daß man der Ödem¬
neigung durch Änderung der osmotischen
Verhältnisse der Körpersäfte entgegen¬
treten könne, wurde jeder Salzzusatz zu
den Speisen , vermieden, so daß Patient,
der vorher nur stark gesalzene Nahrung
zu sich genommen hatte, salzarm ernährt
wurde. Gleichzeitig wurde damit der
antiepileptischen Heilanzeige Rechnung,
getragen. Aus demselben Grunde erhielt
Patient täglich erst 3 später 2 Gramm
BrNa; das ganze Quantum wurde vor dem
Schlafengehen verabreicht, da die epilepti-
formen'Anfälle meist nachts auftraten,
und um gleichzeitig auf den Schlaf zu
wirken. Vormittags nahm er Luftbäder.
Der Erfolg der gesamten Änderung
der Leberisverhältnisse war, daß sich so¬
fort Schlaf, Allgemeinbefinden, Aussehen,
Kräftezustand und Stimmung besserten.
Ödeme, große und kleine epileptische An¬
fälle kamen seit'Beginn der drei Monate
in Anspruch nehmenden Behandlung bis
zum Tag dieser Niederschrift (30. August
1917) nicht mehr vor. Die Rücken-
schmerzen verminderten sich schnell, sind
aber bis auf den heutigen Tag nicht völlig
beseitigt.
Der Erfolg dürfte außer auf die all¬
gemeine Änderung der Lebensverhält¬
nisse auf die fleisch- und salzarme Er¬
nährung und die Brombehandlung zu¬
rückzuführen sein.
Gegenwart 1917. ' 391
Der erste Fall unserer Art ist der bei
v. Rad zitierte von Ullmann (Archiv für
Schiffs- und • Tropenhygiene 1889, III).
Cassirer erwähnt in seinen ,»Vasomoto¬
risch-tropischen Neurosen“ (Berlin 1901)
nur diesen Fall. Binswanger macht —
nach v. Rad — auf das Vorkommen.kurz
dauernder Anfälle von ödematösen Schwel¬
lungen bei Epilepsie aufmerksam („Die
Epilepsie“, Wien 1899).
Bei dem Patienten v. Rads („Ein Bei¬
trag zur Kasuistik des akuten umschrie¬
benen Ödems“, Münch, med. Wschr. 1902,
Nr. 8) traten die Ödeme auf, nachdem
3 1 J 2 Monate vorher sich zum erstenmal
epileptische Insulte eingestellt hatten.
Hervorzuheben ist bei seinem Fall die im
Anfang bestehende Pulsverlangsa¬
mung mit Irregularität. Auch dieser
Kranke hatte früher öfter an Rheumatis¬
mus gelitten, seine Schwindelanfälle wur¬
den durch Brom günstig beeinflußt, die
Ödeme waren noch nach Jahren unver¬
ändert. Später wurde bei ihm ein Medi¬
astinaltumor festgestellt. — Der Kranke
Stehrs (Münch, med. Wschr. 1917, Nr. 29)
ist ein Psychopath, bei dem die Quincke-
schen Ödeme sich einstellten, nachdem
als Kriegsfolge die bis dahin bevorzugte
reichliche Milch- und Butterkost weg¬
gefallen war. Mit dem Ödem einher ging
ein urticariaartiges Exanthem; ein epi¬
leptischer Anfall mit Temperatursteige¬
rung' wurde beobachtet; auch Pulsver¬
langsamung war hier vorhanden. Auf
die Ödeme der Kehlkopfschleimhaut war
Morphium subcutan von günstiger Wir¬
kung. Die Morgentemperatur war mei¬
stens höher als die Abendtemperatur
parallel mit der Exacerbation der Ödeme,
die in der Nacht beziehungsweise in den
Morgenstunden statthatte. Chinin scheint
hier entschieden günstig gewirkt zu haben;
auch wird der Nutzen der Freiluftliegekur
und der vegetarischen Ernährung hervor¬
gehoben. Eine auslösende Rolle des
Fleischeiweißes und des Kochsalzes wird
angenommen. — Stehr weist auf die
Ähnlichkeit des Quincke sehen Ödems
mit anaphylaktischen Zuständen hin. Der
günstigen Wirkung des Morphiums in
seinem" Fall stellt er die Beobachtung von
Roux zur Seite, dem es gelang, die
Serumanaphylaxie zu umgehen, als er in
Äthernarkose reinjicierte.
Was bei Stehr das Morphium, das
leistete bei v. Rad und bei uns als
Sedativum offenbar das Brom.
Die nächstliegende Erklärung der epi¬
leptischen Anfälle wäre die Annahme.
392
November
Die Therapie der Gegenwart 1917.
eines akuten, circumscripten Hirnödems,
wie wir sie beim Quincke sehen Ödem
in der Peripherie sehen. Die Muskel¬
schmerzen-unseres Patienten bleiben un¬
aufgeklärt. #
Es wird Sache künftiger Beobachter
sein,' zu entscheiden, wie weit Fleisch-
und Salzzufuhr und deren Entziehung in
Verbindung mit Brombehandlung in der
Über das Peptolysin,
Von Dr. F. W. Hopmann, Spezialarzt für
Das Peptolysin ist eine Verbindung
von Calciumphosphat mit Erepsin. Es
wird durch wiederholte Ausfällung und
Anreicherung aus dem wäßrigen Extrakt
der Dünndarmschleimhaut von tierärzt¬
lich untersuchten, gesunden Schlacht¬
tieren mit Calciumphosphat gewonnen.
Das Erepsin ist bekanntlich ein Fer¬
ment, welches im Jahre 1901 von 0. Cohn¬
heim in der Dünndarmschleimhaut von
Tieren gefunden wurde und später von
Hamburger und IJeckma im mensch¬
lichen Darme sicher nachgewiesen wurde.
Nach Cohnheim spaltet das Erepsin
die Albumosen und Peptone, von den
. ungespaltenen Eiweißkörpern nur das Ca¬
sein und die Protamine bis zu krystalli-
nischen Endprodukten. Es wirkt nur
langsam auf die Albumosen und die vorhin
genannten Eiweißkörper, dagegen spaltet '
es die Peptone außerordentlich schnell
wie siedende Säuren auf. Die für das
Erepsin günstigste Reaktion ist die unge¬
fähr neutrale, die im Dünndarme herrscht.
Um nun das Peptolysin auf Erepsin¬
wirkung zu prüfen, habe ich die Biuret-
probe nach Cohnheim angewandt.
Die Probe beruht auf der Eigenschaft
des Erepsins, in kurzer Zeit Magenpeptone
in krystallinische Endprodukte aufzu¬
spalten, so daß die Biuretreaktion ver¬
schwindet, das heißt also, daß nach Zu¬
satz von Lauge und Kupfersulphat keine
Rosafärbung, sondern eine Weißfärbung
auftritt.
Cohn heim geht so vor, daß er aus
Fleischpulver durch achttägige Verdau¬
ung mit Pepsinsalzsäure eine Lösung her¬
stellt, welche die Produkte der Magen¬
verdauung, also Albumosen und Pep¬
tone, enthält. Die Lösung wird neu¬
tralisiert und soweit verdünnt, daß 1 ccm
0,0015 g N enthält. Zu dieser Lösung
wird Erepsin zugesetzt, die Mischung
24 Stunden in den Brutschrank ge¬
setzt. Nach 24 Stunden werden die
Pathologie des Quincke sehen Ödems
eine Rolle spielt. Jedenfalls wird es des
Versuches wert sein, schwerere Fälle von
Quinekeschem Ödem, gegen das wir
keinerlei wirksames Mittel bisher besaßen,
mit Brom und salzarmer Diät, auch wenn
keine Epilepsie dabei ist, zu behandeln.
Unser Fall ist bis zum heutigen Tage
beschwerdefrei geblieben.
ein Erepsinpräparat.
Magen- und Darmkrankheiten in Köln.
Albumosen mit etwas Essigsäure und
Kochsalz unter Erwärmen ausgefällt, im
Filtrat nach Zusatz von Lauge und ein
bis zwei Tropfen Kupfersulfatlösung
geprüft, bei welcher Menge von Erepsin¬
zusatz die Biuretreaktion verschwindet.
Da bei der N-Bestimmung der Lösung
auch der Albumosen N mitbestimmt
wird, so habe ich es vorgezogen, vor der
Erepsinverdauung die Albumosen auszu¬
fällen und zwar durch absoluten Alkohol.
Zur Darstellung der Peptonlösung bin
ich in folgender Weise vorgegangen: Zirka
2 g Pepton Witte, welches in der Haupt¬
sache aus Albumosen und nur wenig
Pepton besteht, werden in drei Liter 1 %
Salzsäurelösung aufgelöst, dazu werden
10 g frisches Pepsinpulver zugesetzt und
gut durchgerührt. Das Ganze bleibt drei
Tage im Brutschränke bei 37°. Nach drei¬
tägiger Verdauung wird mit gesättigter
Sodalösung neutralisiert und in großer
Abdampfschale auf dem Wasserbade ein¬
gedampft. Nach 24 Stunden wird von
dem entstandenen Niederschlage ab¬
filtriert, das Filtrat dann weiter bis zur
Syrupkonsistenz eingedampft. Nach Ab¬
kühlung wird der Syrup mit 200 ccm ab¬
solutem Alkohol ausgezogen, abfiltriert.
Dem Filtrat werden 200 ccm Aqua
destillata zugesetzt; dann wird einge¬
dampft bis der Alkohol verjagt ist, auf
500 ccm mit Aqua destillata aufgefüllt.
5 ccm dieser Lösung werden einer N-
Bestimmung nach Kjeldal unterworfen
und das Ganze soweit verdünnt, daß 1 ccm
der Lösung 0,001 g N enthält.
Ich habe nun folgende Versuche an¬
gestellt:
1. Prüfung des trockenen Pulvers.
Zu je 2 ccm Peptonlösung werden
0,1—0,3—0,5—0,7—1,0 g des Pulvers zu¬
gesetzt, 24 Stunden in den Brutschrank
gesetzt, von Zeit zu Zeit umgeschüttelt.
Nach 24 Stunden wird filtriert und die
Biuretreaktion in der Weise angestellt,
393
November v Die Therapie der Gegenwart1917.
daß zu jedem Reagenzglase fünf Tropfen
starker Natronlauge und zwei Tropfen
1 %iger Kupfersulphatlösung zugesetzt
werden. Dann wird umgeschüttelt.
0,1
0,3
0,5
0,7
1,0
rosa
rosa
rosa
rosa
rosa
Bei allen fünf Filtraten tritt Rosa¬
färbung auf, eine verdauende Wirkung ist
also nicht aufgetreten.
2. Leichte Alkalisierung
der Mischung.
Zu denselben Mischungsverhältnissen
wie unter 1. wird je ein Tropfen gesättigter
Sodalösung zugesetzt und 24 Stunden in
den Brutschrank gesetzt.
In allen fünf Fällen tritt Rosafärbung
auf, eine Wirkung ist also nicht einge¬
treten.
3. Auflösung in Salzsäure.
0,5 g Peptolysin werden in 100 ccm
1 %iger Salzsäure aufgelöst. Von der Lö¬
sung werden 1 ccnr, 2 ccm, 3 ccm, 4 ccm
zu je 2 ccm der Peptonlösung zugesetzt,
dann mit halbgesättigter Sodalösung sorg¬
fältig neutralisiert, 24 Stunden in den
Brutschrank gestellt, dann filtriert und
die Biuretreaktion angestellt.
1,2 2,0 3,0 4,0
_j_ _l_ _l_ _j_
weiß weiß weiß weiß
Es tritt also schon bei 1,0 ccm eine
vollständige Vernichtung der Biuret¬
reaktion ein, d'as heißt 0,005 g Peptolysin
haben 2 ccm der Peptonlösung verdaut.
Ein zweiter Versuch, bei dem die Pro¬
ben nur drei Stunden im Brutschränke
belassen wurden, gab dasselbe Resultat.
4. Vergleich des Peptolysin mit
dem einfach ausgefällten Calcium¬
erepsinpräparat.
Das Peptolysin ist ein durch ein be¬
sonderes Verfahren angereichertes Cal¬
ciumerepsinpräparat; ein Vergleich des
Peptolysin mit dem einfach ausgefällten
Präparat ergab folgendes Resultat:
0,5 g einfach ausgefälltes Calcium-
erepsinpulver werden in 100 ccm 1 %iger
Salzsäure gelöst und nun wird in der¬
selben Weise verfahren wie vorhin.
1,0 2,0 3,0 4,0
— — _j_ _|_
rosa rosa weiß weiß
Erst bei 3 ccm Zusatz der Erepsin¬
lösung tritt Weißfärbung auf,, also 0,015 g
dieses Präparats ' verdauen 2 ccm der
Peptonlösung. Das Peptolysin ist also ]
dreimal so stark wie das einfach ausge¬
fällte Calciumerepsinpräparat.
5. Wirkung der Salzsäure auf
Erepsin.
Wir haben vorhin gesehen, daß das
Peptolysin erst nach Zusatz von Salz¬
säure wirksam wird. Es waf nun wichtig,
festzustellen, welche Wirkung die Salz¬
säure auf das freie, nicht an Calciumsalze
gebundene Erepsin hat. Ich habe mir
aus wäßrigem menschlichen Faecesextrakt
in folgender Weise ein Erepsinpräparat
hergestellt:
60 ccm Stuhlfiltrat werden mit 100ccm
absoluten Alkohol vermischt, nach einer
Stunde wird der Niederschlag abfiltriert,
das Filter bei Zimmertemperatur ge¬
trocknet, das Filter samt Rückstand in
60 ccm Wasser verrieben und nach einiger
Zeit abfiltriert. ’ Von diesem Filtrat
werden 5,0, 7,0, 9,0, 12,0, 15,0, 20,0 mit
je 2 ccm Peptonlösung in Reagenzröhr¬
chen gebracht. Nach dreistündigem Auf¬
enthalt im Brutschränke wird abgekühlt,
mit Wasser auf gleiche Menge gebracht
und die Biuretreaktion angestellt.
5,0 7,0 9,0 12,0 15,0 20,0
Die ersten fünf Proben sind deutlich
rosa gefärbt, erst bei der sechsten Probe
tritt Weißfärbung auf.
Von demselben Stuhlfiltrat werden
abermals 60,0 ccm mit 100,0 ccm Alkohol
absolutum vermischt, filtriert, das Filter
mit Rückstand nun jedoch mit 40,0 ccm
1 %iger Salzsäure verrieben und der Wir¬
kung der Salzsäure drei Stunden ausge¬
setzt, dann wird abfiltriert, mit etwas
Wasser nachgewaschen, mit Sodalösung
genau neutralisiert, auf 60,0 ccm gebracht.
Von dieser Lösung werden abermals
5,0, 7,0, 9,0, 12,0, 15,0, 20,0 mit je 2 ccm
Peptonlösung versetzt, drei Stunden in
den Brutschrank gebracht, abgekühlt,
auf gleiche Menge gebracht und die
Biuretreaktion angestellt.
5,0 7,0 9,0 12,0 15,0 20,0
— — — — _l_ _l_
Es tritt in diesem Falle schon bei der
fünften Probe eine Weißfärbung auf.
Wir sehen also, daß durch den drei¬
stündigen Aufenthalt des Erepsins in
1 %iger Salzsäure eine Aktivierung des
Erepsins eingetreten ist. Es ist das eine
physiologisch wichtige Tatsache. Unter
I normalen Verhältnissen kann die Magen-
50
' .November
394
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Salzsäure ihre aktivierende Wirkung so¬
wohl auf das im Pylorusmagen entstehende
als auch teilweise auf das Dünndarm¬
erepsin ausüben.
6. Wirkung des Chlorcalciums auf
Erepsin.
Bei der Wirkung der Salzsäure auf
Peptolysin entsteht Chlorcalcium. Es
war nun wichtig, festzustellen, welche
Wirkung das Chlorcalcium auf Erepsin hat.
Ich habe in derselben Weise wie vorhin
mir eine Erepsinlösung hergestellt, von
derselben 1,0, 2,0, 3,0, 5,0, 10,0, 15,0, 20,0
mit je 2 ccm Peptonlösung versetzt. Nach
der Verdauung sind bei der Biuretprobe
die vier ersten Proben deutlich rosa ge¬
färbt, erst bei ■ der fünften Probe tritt
Weißfärbung auf.
Bei einer zweiten Reihe dieser Erepsin¬
lösung werden wieder je 2 ccm Pepton¬
lösung und noch jedesmal vier Tropfen
einer 50%igen Calciumlösung zugesetzt.
Nach der Verdauung wird abfiltriert
und nun die Biuretreaktion angestellt.
Auch bei diesem Versuche tritt in der
fünften Probe Weißfärbung auf.
Bei einer dritten Versuchsreihe werden
zu der Erepsinmischung jedesmal acht
Tropfen Calciumlösung zugesetzt. ^ In
diesem Versuche tritt bei der fünften
Probe eine Rosafärbung auf.
Also bei schwachem Zusatze von Cal¬
cium (etwa 1 %) tritt keine Beeinflussung
der Erepsinwirkung auf, aber schon bei
2% Calcium ist eine deutliche Verschlech¬
terung der Wirkung nachweisbar.
Aus dieser Tatsache folgert sich die
Notwendigkeit, bei der Herstellung eines
Calciumerepsinpräparats an geringe Cal¬
ciummengen große Erepsinmengen zu
binden. Bei dem Peptolysin ist diese For¬
derung durch ein -besonderes Anreiche¬
rungsverfahren erfüllt.
Um ein Erepsindefizit, wie es etwa
durch eine Verschiebung der positiven
Reaktion vom ersten auf das dritte bis
fünfte Röhrchen angezeigt wird (siehe
meine Arbeit: Zur Prüfung der Faeces
auf Erepsin in der M. m. W. 1917, Nr. 24),
auszugleichen, genügen nach meiner
Schätzung etwa 1 bis 3 g Peptolysin
dreimal täglich. Es entsteht dabei eine
Chlorcalciummenge, welche 1 % im all¬
gemeinen nicht überschreitet.
Wenn man dieselbe Wirkung mit dem
einfach ausgefällten Calciumerepsin er¬
zielen will, braucht man die dreifache
Menge und es entsteht die dreifache
Menge Chlorcalcium, sodaß bei einer ge¬
wöhnlichen Mahlzeit, besonders bei ver¬
stärkter Motilität des Magens^ wie sie
gerade bei Dünndarmkatarrhen häufig
vorkommt, die Schädlichkeitsgrenze von
2% leicht erreicht oder überschritten
wird.
Es geht daraus hervor, daß das Pepto¬
lysin dem einfach, ausgefällten Calcium¬
erepsin gegenüber nicht zu . unter¬
schätzende Vorzüge hat.
7. Das Peptolysin als Medikament.
Eine arzneiliche Anwendung wird das
Peptolysin finden bei allen mit Erepsin¬
defizit einhergehenden Erkrankungen des.
Dünndarms. Ich nehme Bezug auf meine
in der M. m. W. 1917, Nr. 24 (Zur Prü¬
fung der Faeces ^auf Erepsin) nieder¬
gelegten Ergebnisse. Es kommen zu¬
nächst die mit Erepsindefizit einher¬
gehenden chronischen Dünndarmkatarrhe
in Betracht. * Gerade die Zusammen¬
setzung des Präparats aus Erepsin und
Calciumsalzen scheint zur Behandlung
dieser Erkrankung besonders günstig zu
sein. Ich zitiere hier Boas. In seinem
Buche über Darmkrankheiten sagt er,
nachdem er über die Erfolge mit neuen
und neuesten Mitteln beim chronischen
Dünndarmkatarrh ein sehr skeptisches
Urteil gefällt hat:. ,,Dagegen müssen wir
■hier eines Mittels gedenken, welches mit
der absoluten Unschädlichkeit einen ge¬
wissen Nutzen verbindet, das ist der
Kalk.“
Wie aus der vorhin erwähnten Arbeit
hervorgeht, kommt auch bei einer Reihe
von Erkrankungen, bei denen durch un¬
sere bisherigen Untersuchungsmethoden
keine erhebliche Erkrankung des Dünn¬
darms nachzuweisen ist, ein Erepsin¬
defizit vor. Das sind vor allem einige an¬
scheinend nervöse Erkrankungen: Gastri¬
sche Krisen nach Lues, Bleikolik, Base¬
dow, ferner, und das scheint mir der
wichtigste Punkt zu sein, das Ulcus
ventriculi chronicum. Bei allen diesen
Erkrankungen ist von einer Reihe von
Forschern eine vom Darm ausgehende
Autointoxikation als ursächliches Mo¬
ment in Anspruch genommen worden.
Als Dosierung würde sich empfehlen:
dreimal 1 bis 3 g Peptolysin nach dem
Essen. Wenn man sich nicht überzeugt
hat, daß der Magen genügend Salzsäure
produziert, ist das Pulver in 200 ccm
y 2 % iger Salzsäure (40 Tropfen Acidum
hydrochloricum dil. auf 1 Glas Wasser)
aufzulösen.
395
November
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Zur Frühdiagnose
Von Oberarzt Dr.
Die wirksamste Bekämpfung jeder
Epidemie ist die möglichst frühzeitige
Erkennung der ersten Erkrankungen.
Dies gilt ganz besonders für die jüngste
Kriegsseuche, das Fleckfieber.
In den folgenden Ausführungen soll
versucht werden, eine kurze Zusammen¬
stellung der für die Frühdiagnose des
Fleckfiebers wesentlichen Krankheitser¬
scheinungen zu geben. Nach unseren
Beobachtungen treten, besonders im Be¬
ginn einer Epidemie, eine ganze Reihe
ohne jedes Exanthem verlaufender Fälle
auf, die zum Teil sq leicht sind, daß man
gar nicht an eine so schwere Infektion
denkt. Diese zuweilen sogar ambulanten
Fälle bilden natürlich eine enorme Ge¬
fahr; bei genauen Nachforschungen wird
man nicht selten noch später feststellen
können, wie diesen vereinzelten, anschei¬
nend ziemlich harmlosen Erkrankungen
das explosionsartige Auftreten zahlreicher
Infektionen gefolgt ist. Ich sah Fälle,
die überhaupt nicht, oder nur gering
fieberten, und wochenlang unter der
Diagnose Rheumatismus usw. geführt
wurden.
Auf der Höhe der Epidemie scheinen
diese Fälle äußerst selten zu sein.
Worauf gründet sich nun die Früh¬
diagnose des Fleckfiebers? Die verschie¬
denen Symptome sind oft nicht so aus¬
gesprochen, um als einzelne eine sichere
Diagnose zu ermöglichen, ihr Zusammen¬
treffen ist aber äußerst verdächtig. j
Die Leute erkranken meist ziemlich
plötzlich unter hohem Fieber und starken
Kopfschmerzen. Die Anamnese zeigt
meist, daß sie sich schon einige Tage matt
und abgeschlagen gefühlt haben. Die
offenbar sehr heftigen Kopfschmerzen
stehen häufig im Mittelpunkt der Be¬
schwerden. Daneben ergibt die Unter¬
suchung neben einer Milzschwellung eine
wechselstarke, aber nie ganz fehlende ent¬
zündliche Veränderung der meisten
Schleimhäute. Die Augenbindehaut ist
entzündlich gerötet, die trockene Zunge
zeigt einen weißen Belag, der Spitze und
Ränder frei läßt. Meist besteht eine
Laryngitis mit oft äußerst quälenden
Reizhustenanfällen, die zuweilen den Be¬
ginn der klinischen Erscheinungen bilden
Können. Regelmäßig findet sich eine
Bronchitis mit zähem, schwer zu ex-
pektorierendem Sputum, häufig eine
Bronchopneumonie, die in Fleckfieber-
des Fleckfiebers.
W. Perls-München.
gegenden als äußerst verdächtig ange¬
sehen werden muß. Auch die Darm¬
schleimhaut # ist alteriert, zuweilen be¬
stehen fast unstillbare Durchfälle, oft auch
nur Unregelmäßigkeiten im Stuhlgang,
abwechselnd Durchfälle und Verstopfung.
Die Erscheinungen seitens der Meningen
treten in der Regel erst später auf, .doch
zeigen auch manche Fälle gleich zu Be¬
ginn Nackensteife, Kernig usw. Bei
diesen prognostisch meist ungünstigen
Erkrankungen besteht auch gleich zu Be¬
ginn die schwere Benommenheit, die das
Bild der Fleckfieberpatienten auf der
Höhe der Erkrankung so charakteristisch
gestaltet.
Von psychischen Störungen waren,
hier bereits am dritten Tage ein schwerer
-Verwirrungszustand. Der Patient ent¬
floh nachts, nur mit einem Hemde be¬
kleidet, fand in einem benachbarten
Hause Aufnahme und schlief dort fest
ein. Am Nachmittage kehrte mit dem
Erwachen Bewußtsein und Erinnerung
zurück. Das Ereignis hatte bei dem
45 jährigen Manne keine üblen Folgen auf
den Krankheitsprozeß.
Am dritten Tage des Fiebers beob¬
achteten wir oft eine Art Frühexanthem,
das, besonders bei Ungezieferstichen und
Kratzeffekten sehr leicht übersehen wer¬
den kann. Es besteht in ungefähr hirse¬
korngroßen, blaßrot gefärbten, gering,
aber deutlich infiltrierten Flecken; auf
Druck verschwindet die Rötung, um beim
Nachlassen desselben sofort wieder auf¬
zutreten. Diese Flecken^treten verein¬
zelt an den seitlichen Partien des Bauches,
seltener auch an den Armen auf. Sie ver¬
schwinden .nach ein bis zwei Tagen, wo¬
rauf das bleibende Exanthem auftritt.
Es zeigt mehr rosarote, dichtere, teilweis
confluierende bis linsengroße Flecken, die
den ganzen Rumpf und die Extremitäten
bedecken/ .Das Frühexanthem ist sehr
charakteristisch und hat uns qft zur Er¬
härtung der klinischen Diagnose schon
vor der serologischen Untersuchung ge¬
dient.
Sehr typisch ist meist auch die Fieber¬
kurve; bei einiger Übung im Lesen der¬
selben kann man häufig auch nach dem
Abklingen aller klinischen Erscheinungen
einen überstandenen Flecktyphus dia¬
gnostizieren. Die Kurve hat etwas eigen¬
tümlich Abgerissenes, fast Zusammen¬
hangloses/st grob schematisch gesprochen
50*
396
November
Die Therapie der
eine Art Mittelding zwischen Recurrens
und Typhus abdominalis. Diese schein¬
bare Ähnlichkeit kann sehr verhängnis¬
voll werden, wenn man bedenkt, daß das
Fleckfieber ganz unter dem Bilde eines
atypischen Unterleibstyphus verlaufen
kann und im Felde gibt es bei den
zahlreihen Impfungen kaum einen typi¬
schen Typhus. Ferner findet sich nicht
selten in der Inkubationszeit des Fleck¬
fiebers oder in der Rekonvaleszenz ein
Rückfallfieber, so daß es auch für den
Geübten zuweilen- im Anfänge ganz un¬
möglich wird, zu entscheiden, ob der
Fieberanstieg einen neuen Anfall oder den
Beginn eines Fleckfiebers bedeutet. —
Bei dem Recurrens in der Rekonvaleszenz
muß man wohl annehmen, daß die lange
zurückliegende Infektion erst durch die
allgemeine Widerstandsunfähigkeit mani¬
fest geworden ist. —
Ganz allgemein müssen wir vor der
Diagnose atypischer Recurrens oder aty¬
pischer Typhus abdominalis bei negativem,
bakteriologischem Befunde warnen. Bei
uns waren fast alle diese Fälle echtes
Fleckfieber.
Wie die Kurven zeigen, beginnt die
eigentliche Erkrankung häufig mit einer
leichten abendlichen Temperatursteige¬
rung, die nächste Temperatur morgens ist
normal, um am Abend kritisch bis zu 39
oder 40° anzusteigen, oder es finden sich
auch einige Tage zuvor leichte Tempera¬
tursteigerungen. (Kurve 1.) Nach dem
Anstieg schwankt die Kurve zwischen 39
und 40 bis 41 °, meist beträgt die morgend¬
liche Remission mindestens 1 °, doch ge¬
hören auch pseudokritische Abfälle durch¬
aus zur Regel; nicht selten kann eine
derartige Kurve wie zwei aneinander¬
gesetzte Recurrensanfälle imponieren.
(Kurve 3.) Gegen Ende des Fiebers,
meist am zehnten bis elften Tage findet
sich häufig eine kurze Continua, das
Fieber fällt dann in den günstigsten
Fällen am Ende der zweiten Woche kri¬
tisch oder in schneller Staffelung ab.
Damit tritt auch in der Regel eine be¬
deutende, subjektive Besserung ein. Sel¬
tener dauert das Fieber drei Wochen.
Dieser Fiebertypus findet sich auch
bei sonst ungewöhnlich und ohne jedes
Exanthem verlaufenden Fällen; anderer¬
seits gibt es auch, wie bereits erwähnt,
fast afebrile Formen.
Einen entscheidenden Fortschritt be¬
deutete es bei dieser Sachlage, daß es
Weil und Felix gelang, eine serologische
Reaktion für ein bestehendes oder über¬
Gegenwart 1917.
standenes Fleckfieber zu finden. Mag die
theoretische Grundlage der Agglutination
des Proteus durch das Serum von Fleck¬
fieberkranken auch noch nicht völlig
geklärt sein, so bedeutet es doch für den
Praktiker eine Erlösung, seine so folgen¬
schwere Diagnose, durch eine nach zahl¬
losen Erfahrungen außerordentlich zu¬
verlässige öbjektive Untersuchung be¬
stätigen zu können. Dagegen verschwin¬
det die (Tatsache, daß der Weil-Felix
auch sonst einmal, wie bei der Urämie,
positiv sein kann oder daß er bei den
schwersten Fällen, bei uns einmal, negativ
ist. Ein ,,klinisch einwandfreier Typhus
abdominalis“ bei positivem Weil-Felix
existiert nach unseren Erfahrungen nicht.
Meist wird angenommen, daß der Weil-
Felix erst am fünften Tage positiv wird,
wir sahen ihn heute schon am vierten,
einmal jedenfalls sogar am dritten Tage
des Fiebers.
Über die stets ernst zu stellende Prog¬
nose sei hier nur gesagt, daß sie außer¬
ordentlich schwankt nach dem Alter des
Patienten und der Schwere der Epidemie.
Besondere Vorsicht fordert auch die Zeit
der meist sehr schweren und langwierigen
Rekonvaleszenz. Todesfälle an akuter
Herzschwäche, ähnlich wie bei der Di¬
phtherie, scheinen nicht so selten zu sein.
Die Übertragung findet nach allge¬
meiner Anschauung nur durch die Kleider¬
laus statt. Ihre Bekämpfung im Felde
ist nicht immer leicht. Bei dem großen
Zudrang zu den Feldlazaretten kann die
Förderung auf gründliche Entlausung vor
der Aufnahme zuweilen eine Unmöglich¬
keit bedeuten. Eine einmal verlauste und
dazu überbelegte Station läusefrei zu be¬
kommen, ist eine lange und schwierige
Arbeit mit einer Fülle von Fehlerquellen,
besonders bei Verwundeten mit großen
Schienenverbänden. Hier dürfte es ratio¬
neller sein, durch Schaffung einer völlig
getrennten sauberen Abteilung die Mög¬
lichkeit zu geben, den einzelnen unter
allen notwendigen Kautelen zu verlegen.
Zusammenfassend wäre also folgendes
zu sagen:
1. Es gibt Fleckfieberfälle ohne jedes
Exanthem mit völlig atypischen, sehr
leichten Krankheitserscheinungen.
2. Diese Fälle scheinen besonders"
häufig im Beginn einer Epidemie aufzu¬
treten.
3. Die Weil-Felixsche Reaktion ist
in diesen Fällen regelmäßig positiv und
daher von ausschlaggebender Bedeutung.
November
Die Therapie der Gegenwart 1917.
397
4. Klinische Früherscheinungen sind:
Conjunctivitis; trockene dick weißlich be¬
legte Zunge, Spitze und Ränder frei;
Laryngitis (Reizhustenanfälle!); Bron¬
chitis (Bronchopneumonie!); wechselnde,
schwer zu beeinflussende Störungen der
Darmfunktion; Frühexanthem!
5. Vom dritten Fiebertage an ist. mit
serologischen Untersuchungen zu begin¬
nen.
6. Die Diagnose atypischer Typhus
abdominalis (Paratyphus) und atypischer
Recurrens ist nur nach sicherem Aus¬
schluß von Fleckfieber (auch serologisch!)
zu stellen. Fälle von vorausgegangenem,
bakteriologisch-positivem Recurrens mar
chen von dieser Regel durchaus keine
Ausnahme (häufige Doppelinfektion!).
7. Klinisch abgeheilte Fälle von
Fleckfieber sind häufig noch nachträglich
an der typischen Kurve, der schweren
Rekonvaleszenz, und dem positiven Weil-
Felix zu erkennen. Diese Tatsache ist,
abgesehen von der Möglichkeit, die In¬
fektionsquelle zu finden, deshalb äußerst
wichtig, weil der Fleckfieberkranke noch
in drei bis vier Wochen nach der Ent¬
fieberung als infektiös gilt.
Fall 1. Sehr typische Kurve mit Vorzacke,
Continua am 10 und 11. Tag. Kritische Ent¬
fieberung am 13 Tag. Zuerst typischer Recurrens.
1. Anfall 9. bis 12 Januar, 2 Anfall 23. bis
25 Januar. Starke Kopfschmerzen und Glieder¬
schmerzen. Zeitweis benommen. Am 23 Februar
erneuter Fieberanstieg. Starke Kopf- und Glieder¬
schmerzen. Schwer benommen. Läßt rnter sich
gehen. Bronchitis. Kein Exanthem. W.-F.: +-
Fall 2. Typische Kurve mit dem prognostisch
ungünstigem Totenkreuz (!) am 9. Tag. (Tem¬
peraturabfall bei Pulsbeschleunigung) — Seit
längerer Zeit rheumatische Beschwerden.
9. März. Heftige Kopfschmerzen und Glieder¬
schmerzen. Kein pathologischer Befund.
11. März. Heftige Kopfschmerzen und Glieder¬
schmerzen. Milz : perkutorisch vergrößert. Lunge:
1. h. u. leichte Bronchopneumonie!
13. März. Äußerst heftige Kopfschmerzen.
Stechen 1. h. u. Zunge: trocken, dich weiß be¬
legt, Spitze und Ränder frei. Mesogastrium leicht
druckempfindlich.
15. März. Conjunctivitis! Leichte Durchfälle!
Sehr heftige Kopfschmerzen. Sensorium frei.
W. F.: -t .
16. März. Zahlreiche rosarote, hirsekorn bis
über linsengroße, leicht infiltrierte Flecken, teil¬
weis confluierend diffus über Abdomen und Ex¬
tremitäten verteilt, besonders zahlreich an den
Streckseiten beider Vorderarme: Exanthem.
18. März. Völlig benommen. Phantasiert stark.
Schlechter Allgemeinzustand.
21.-März. Exitus letalis.
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Fall 3. Beschwerden: Starke Kopfschmerzen.
Mattigkeit, Appetitlosigkeit. Typischer Zungen
belag. Kein Exanthem. Die Kurve ähnelt zwei
aneinandergesetzten Recurrensanfällen. W. F.: -+.
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Fall 4. Atypische Kurve, Kein Exanthem.
Bronchitis. Rheumatische Beschwerden. Schwere
und langwierige Rekonvaleszenz mit häufigen
Temperatursteigerungen. W. F.: -f Ty. abd : —
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Bücherbesprechungen.
Prof. Norbert R. v. Ortrier. Klinische
Symptomatologie innerer Krank¬
heiten. Erster Band, erster Teil:
Bauchschmerzen (schmerzhafte Bauch¬
affektionen). Berlin-Wien 1917. Urban
& Schwarzenberg. 432 S. Preis geh.
15 M.
Das vorliegende Werk bespricht in
erschöpfender Weise Diagnostik und Pa¬
thogenese aller mit Schmerz einhergehen¬
den Bauchaffektionen, das heißt so ziem¬
lich alle wichtigen Erkrankungen des
Magen-Darmkanals, der Leber, der -Milz,
des Bauchfells und des Pankreas, sowie
der Nieren und der Blase. Es setzt alle
Einzelsymptome zu dem Schmerz in
Beziehung, an den es das ganze Tatsachen¬
material der Ätiologie und der Differential¬
diagnostik anschließt. Indem Verf. also die
gesamte klinische Symptomatologie zur
398
Die Therapie der Gegenwart 1917.
November
Darstellung bringt, erweitert er sein Werk
zur gewissermaßen kritisch-kasuistischen
Übersicht über die Klinik der Unterleibs¬
organe. Zur klinischen Vollständigkeit
fehlt nur die Heranziehung therapeuti¬
scher Gesichtspunkte, die ganz vereinzelt
leicht angedeutet werden. Der Verfasser
hat offenbar die diagnostische Analyse
nicht durch die Einbeziehung therapeu¬
tischer Wirkungen abkürzen wollen. Es
läge ja nichts näher, als z. B. bei den hef¬
tigen diffusen Bauchschmerzen mit Shock,
sei es mit, sei es ohne Ileus; darauf hinzu¬
weisen, daß auch die vollkommenste
Diagnostik im Einzelfall oft nicht über
Vermutungen hinwegkommt und daß die
Laparotomie, wie sie das in höchster Ge¬
fahr schwebende Leben rettet, oft auch
erst mit Sicherheit die Ursachen des Ileus
aufdecken kann. So wird'ja heutzutage
in der Praxis bei Bauchschmerzen mit
drohendem Kollaps meist schnell laparo-
tomiert, gewöhnlich nicht zum Schaden
der Kranken. Es muß freilich zugegeben
werden, und Verf. bringt selbst mehr¬
fache Beispiele hierfür, daß nicht in jedem
Falle die Operation die Bestätigung des
erwarteten Befundes gebracht hat und
daß mancher Eingriff sich als überflüssig
herausstellt. Verf. vertieft sich mit liebe¬
vollster Vollständigkeit und in eingehender
Analyse in alle Ursachen, welche zu
Schmerzen führen könnten, und führt alle
Möglichkeiten an, durch die es gelingt,
die verschiedenen Ursachen voneinander
zu scheiden. Die allgemeinen Bauch¬
schmerzen, die Magen-, Gallen-, Nieren¬
schmerzen, die in der Gegend des Appen¬
dix und des Romanum, wie die in den
Hypochondrien, im Meso- und Hypo¬
gastrium, werden in jeder nur möglichen
Beziehung erörtert. Die Vollständigkeit
ist eine so überraschend große, daß sie
dem Leser einen vollkommenen Über¬
blick über die Pathologie der besproche¬
nen Organe verschafft, gerade wie sie von
der ganz außerordentlichen klinischen
Erfahrung des Verfassers reiches Zeugnis
ablegt. Darin scheint mir der Hauptwert
des originellen Werkes zu liegen, daß es
den Leser zur selbständigen Durchden-
kung der pathogenetischen Probleme an¬
regt und daß es gewissermaßen im Geiste
der hippokratischen Medizin sich auf die
Verwertung eingehendster Krankenbeob¬
achtung aufbaut. Die Lektüre des Buches
ist sehr anziehend, wenn sie auch an die
Aufmerksamkeit nicht geringe Ansprüche
stellt. Dem Leser wird die Ausbeute zahl¬
reicher Krankengeschichten dargeboten
und es wird ihm gezeigt,, wie sich in der
Analyse des Wissenden die anscheinend
verworrenenFäden zum kunstvollen Netze
der richtigen Diagnose zusammenfinden.
Wer viel gesehen hat, wird mit Freuden
viel Selbsterlebtes wiederfinden; dem An¬
fänger wird Ortners Buch die fehlende
Erfahrung gleichsam ersetzen und ihn
zur selbständigen Diagnostik schwerer
Krankheitszustände befähigen. Wer die
Hilfsmittel der ärztlichen Beobachtung
in Ortners Sinn ausschöpft, wird jeden¬
falls vor therapeutischer Übereilung be¬
wahrt bleiben. Deswegen darf das Buch
nicht nur inneren Ärzten, sondern ganz
besonders den chirurgisch interessierten
Kollegen bestens empfohlen werden. Es
wird zweifellos zur ^Vertiefung ärztlichen
Wissens und Könnens erheblich beitragen.
G. Klemperer.
Dr. Georg Schlomer, Leitfaden der kli¬
nischen Psychiatrie. München 1917,
Müller & Steinicke. 228 S. Preis geb.
M 3,80.
Wer von der Studienzeit eine gewisse
Kenntnis psychiatrischer Dinge bewahrt
und sie durch gelegentliche Berührung
mit Geistesgestörten aufgefrischt hat, fühlt
oft das lebhafte Bedürfnis, sich über die
Fortschritte der Psychiatrie auf dem lau¬
fenden zu erhalten. Nicht selten hatte
der Fernerstehende den Eindruck, daß es
sich mehr um eine Neuordnung des alten
Wissensstoffes, um Neuetikettierung der
Krankheitsbilder, als um neue Auffassungen
und Erkenntnisse handelte. Wem blieb
auch die Zeit, die bändereichen Werke
von Kräpelin zu studieren, dessen Arbeit
die psychiatrische Neuordnung wesent¬
lich zu danken ist! Da wird vielen ein
kleiner Grundriß gerade recht kommen,
der es unternimmt, den Anfänger in die
Eigenart psychiatrischer Diagnostik und
in die grundlegenden Tatsachen der psy¬
chiatrischen Klinik einzuführen. Hier
haben wir in leichtfaßlicher, sehr präziser
Form die Hauptformen des Irreseins nach
der Kräpelinschen Lehre, vielleicht in
etwas schematischer Abgrenzung, aber doch
klar und praktisch sehr brauchbar dar¬
gestellt. Nachdem ein allgemeiner Teil
die Art der Untersuchung Geisteskranker
nach der körperlichen und der psychischen
Seite geschildert hat, bringt der spezielle
Teil in 14 Abschnitten die diagnostisch-
kasuistische Beschreibung der folgenden
Zustände: manisch - depressives Irresein,
Dementia paralytica, Dementia praecox, In¬
toxikationspsychosen, Infektionspsychosen,
Erkrankungen des Rückbildungsalters,
November
Die Therapie der Gegenwart 1917.
399
Epilepsie, psychopathische Konstitution, Pa¬
ranoia, angeborenen Schwachsinn, thyreo¬
genes Irresein,. Geistesstörungen bei Hirn¬
verletzung, syphilitische Geistesstörung,
psychische Störungen bei organischen
Nervenkrankheiten. Jedes Kapitel bringt
ein anschaulich beschriebenes Zustands¬
bild, dann die Analyse, der die klinischen
Daten über Anamnese, Verlauf, Diagnose
und eventuelle Therapie folgen. Am
Schluß des Ganzen werden die wichtigsten
Gesetzesbestimmungen wiedergegeben und
kurz kommentiert. Das kleine Büchlein
enthält in sehr anregender Form eine
anregende Fülle wissenswerter und nütz¬
licher Kenntnisse. Wie ich es selbst mit
wirklichem Nutzen durchstudiert habe,
möchte ich es auch den Kollegen aufs
beste empfehlen. G. Klemperer.
A. Most (Breslau). Chirurgie der
Lymphgefäße und der Lymph-
drüsen. Neue deutsche Chirurgie,
Bd. 24. Stuttgart, F. Enke. Mit 36 Ab¬
bildungen. XVII und 402 Seiten.
Das groß angelegte Werk zerfällt in
zwei Hauptabschnitte. Im ersten, theo¬
retischen Teil, werden die Anatomie,
Physiologie und Pathologie besprochen.
Naturgemäß füllt der zweite Teil, der die
Klinik der Lymphgefäßerkrankungen
umfaßt, den Hauptteil des Buches aus.
Eingehende Bearbeitung haben die mo¬
dernen Behandlungsmethoden der Lymph¬
gefäßtuberkulose erfahren. Ein ausführ¬
liches Literaturverzeichnis bildet den
Schluß des wertvollen Buches, dessen
Ausstattung vom Verlage in mustergül¬
tiger Weise erfolgt ist. Hayward.
Erich Sonntag. Die Wassermannsche
Reaktion in ihrer serologischen
Technik und klinischen Bedeu¬
tung. Berlin 1917, Julius Springer,
VI und 191 Seiten. ' -
Verfasser, Assistent an der Chirurgi¬
schen Universitätsklinik in Leipzig, hat
sich seit einer Reihe von Jahren mit der
Technik der Wassermannschen Reaktion
befaßt und gibt in der vorliegenden Mono¬
graphie seine reichen Erfahrungen wieder.
- Aber nicht nur die Bedeutung der Wasser¬
mannschen Reaktion für die Chirurgie
wird gewürdigt, sondern es werden an
Hand eines umfassenden Literaturstu¬
diums die Einzelheiten der Technik ge¬
schildert und theoretische Fragen aus¬
führlich besprochen. Ihren Hauptwert
erhält die Arbeit durch die geschickt ge¬
wählten Beispiele der chirurgischen Klinik,
und damit wird auch dem Praktiker, dem
die Zeit fehlt, Einsicht in die gewaltig
angewachsene Literatur zu nehmen, ein
vorzüglicher Ratgeber in die Hand ge¬
geben.
Hayward.
Pick, Gottlieb, Die Zukunft des
Ärztestandes und der Ausbau
des Gesundheitswesens. Wien-
Berlin 1917. Urban & Schwarzenberg.
2 M.
Der in Aussig als Gemeindearzt wir¬
kende Verfasser weist in den zehn Kapiteln
die Wege der Erneuerung der Volkskraft
nach dem Kriege; wenn es auch öster¬
reichisch gefärbte Verhältnisse und Nöte
sind, von denen Pick ausgeht, so sind,
doch manche Erörterungen auch für uns
Reichsdeutsche von hohem Wert und
Interesse. So wird z. B. der Widerspruch
des Verfassers gegen eine stärkere Bureau-
kratisierung unseres Standes, wie sie
der österreichischen Verwaltung vor¬
schwebt, auch bei uns lebhaft unter¬
stützt werden. Wir empfehlen das
anregend und frisch geschriebene Werk
aufs angelegentlichste.
B. Laquer (Wiesbaden).
Referate.
Über einen seltenen Fall von Aneurys¬
ma der Carotis interna berichtet Pribram.
Ein Granatsplitter, durch das rechte Ohr
eingedrungen, verletzte die Carotis ober¬
halb der Teilungsstelle. Der Splitter
steckte in der Höhe des Angulus mandi-
bulae dicht am Pharynx. Es bestand rechts¬
seitige Parese des Facialis in allen Ästen,
des Glossopharyngeus und Hypoglossus.
Unterhalb des Ohrläppchens pulsierende
Geschwulst tastbar. Acht Tage später
entstand rechts von der Uvula walnu߬
großer, bläulich-roter Tumor, der in den
nächsten Tagen zunahm und heftige
Beschwerden machte; Aussehen wie beim
retropharyngealen Absceß. Pulsation und
Schwirren. Die Carotis communis wurde
nach Möglichkeit bis oberhalb der Tei¬
lungsstelle freigelegt und durch isolierte
Abklemmungen die ausschließliche Ver¬
letzung der Carotis interna festgestellt.
Diese wurde ligiert. Vorübergehend er¬
weiterte sich die Pupille der anderen
(linken) Seite, aber diese Erscheinung und
400
Die Therapie der Gegenwart 1917.
November
die Lähmungen verschwanden fast voll¬
ständig; der Tumor ganz; der Patient.ist
als geheilt anzusehen.
Zwei andere Fälle, bei denen die
Carotis oberhalb der Teilungsstelle ver¬
letzt worden war, ein Aneurysma bestand,
und (da sowohl externa wie interna ge--,
troffen waren) die Carotis communis ligiert
wurde, verliefen tödlich. Es stellten
sich nach der Operation Lähmungserschei¬
nungen auf der entgegengesetzten Körper¬
seite ein, und die Obduktion ergab in
beiden Fällen auf der verletzten Seite einen
Erweichungsherd im Großhirn.
Hage.mann (Marburg).
(Arch. f. klin. Chir. Bd, 103, H. 4, S. 630.)
Bedrohliche Herzschwäche in¬
folge okkulter Blutungen sah Schmidt.
Bei der Diagnose des Ulcus duodeni spielt
der Nachweis einer okkulten Blutung eine
wesentliche Rolle. Wenn solche kleinen
Blutungen häufig auftreten, so kann es zu
Anämien und Schwächezuständen kom¬
men, die ätiologisch nicht ohne weiteres
vom Arzt erkannt werden, wenn sonstige
Symptome fehlen; denn bekanntlich gibt
es Ulcera des Magens und Duodenums,
die den Trägern geringe oder sogar gar
keine Beschwerden machen. Schmidt be¬
richtet von einem 60jährigen Patienten,
bei dem er bei der ersten Untersuchung
nur allgemeine Nervensymptome fest¬
stellen konnte. Insbesondere wurden
Organbeschwerden, wie Erbrechen, Leib¬
schmerzen usw., in Abrede gestellt. Bei
diesem Kranken stellten sich bald darauf
schwere Schwindel- und Ohnmachts¬
anfälle ein, sodaß er andauernd zu Bett
liegen mußte. Sowie er sich erheben wollte,
traten die Symptome immer wieder auf.
Der Kranke sah sehr anämisch aus und
es ließ sich nur eine Bradykardie nach-
weisen. Nach den Berichten der Ange¬
hörigen soll er mehreremal rötlichen
Mageninhalt erbrochen haben. Es ge¬
lang nun im Stuhl der Blutnachweis, und
Schmidt nahm deshalb die bedrohliche
Herzschwächeerscheinung als Folge einer
inneren Blutung an. Nach der Unter¬
suchung war ein Ulcus duodeni das wahr¬
scheinlichste. Es wurde eine Gastro¬
enterostomie gemacht, nach der sich der
Patient völlig wieder erholte.
Dünner.
(M. m. W. 1917 Nr. 19.)
Klinische und experimentelle Studien
über die Chiningewöhnung des mensch¬
lichen Körpers und die scheinbare Chinin¬
festigkeit der Malariaplasmodien hat
Teich mann gemacht, die wohl imstande
sind, uns den Modus der Chininfestigkeit
verständlich zu machen. Teich mann
sieht die Ursache für die Chininfestigkeit
in der langen Ausdehnung der prophy¬
laktischen und besonders der dann unter
den besonderen Verhältnissen erforder¬
lichen', über Wochen und Monate aus¬
gedehnten therapeutischen Anwendung
des Chinins, welche zu einer Chinin¬
gewöhnung des Körpers und damit zu
einer Herabsetzung, wenn nicht in ein¬
zelnen Fällen sogar zu einer Aufhebung
der specifischen Chininwirkung führen
muß. Das Chinin ist ein Pflanzenalkaloid.
Es ist eine bekannte Tatsache, daß länger
dauernder Gebrauch dieser Stoffe eine
Veränderung in der,) Reaktion des mensch¬
lichen Körpers gegen das aufgenommene
Alkaloid herbeiführt. Während im An¬
fang zur Erzielung einer gewissen Wirkung
kleinste Mengen ausreichen, müssen diese
bei länger dauerndem Gebrauch mehr und
mehr gesteigert werden, um einen ge¬
wünschten Effekt hervorzurufen, sodaß
durch die fortschreitende Gewöhnung
schließlich einmalige Mengen einverleibt
werden müssen, welche auf den. nicht
giftgewöhnten Körper tödlich wirken
würden. Diese Tatsache ist besonders be¬
kannt, bei Morphium, Opium, Cocain
und anderen. Diese veränderte Reaktion
des Körpers beruht nur zum Teil auf
einer Gewöhnung der Körperzellen an
das betreffende Gift. Die Hauptsache ist
die, daß bestimmte Zellgruppen und
Organe • unter dem dauernden toxischen
Reiz befähigt werden, allmählich immer
größere Mengen des betreffenden Stoffes
zu verankern und abzubauen, sodaß
auch von der steigenden Giftmenge immer
nur kleine, das Leben nicht gefährdende
Mengen in den Kreislauf und damit zu
ungehindertem Zutritt zu- empfindlichen
.Organen kommen. Teich mann hat nun,
um ein Bild zu erhalten, inwieweit man
mit der Wirksamkeit der verabfolgten
therapeutischen Dosen rechnen kann, bei
einer großen Zahl der Patienten Blut und
Harn, zum Teil fortlaufend, auf Chinin
untersucht. Die chiningewöhntenKranken
zeigten zunächst sowohl bei der intravenö¬
sen wie bei innerlicher Darreichung meist
nur geringe und kurzdauernde Intoxika¬
tionserscheinungen (Chininrausch), wäh¬
rend diese bei Chininnichtgewöhnten oft
einen hohen Grad erreichten. Die Ergeb¬
nisse seiner Untersuchungen lassen sich
folgendermaßen zusammenfassen: 1. Im
Blute chiningewöhnter Leute ist nach
401
November Die Therapie der
einem bestimmten Zeitraum Chinin nicht
mehr oder nur in kleinsten Mengen nach¬
weisbar, während im Blute der zweiten
Gruppe noch deutliche, bestimmt größere
Mengen vorhanden sind. 2. Die Kontrolle
der Ausscheidung des Chinins durch den
Urin ergibt, daß bei Chiningewöhnten'
eine auffällig geringere Menge durch den
Urin abgesondert wird, die Ausscheidung
später einsetzt und viel früher beendet
ist als bei Chininnichtgewöhnten. 3. Fort¬
laufende Kontrolle der Chininausschei¬
dung im Verlaufe einer internen Chinin¬
kur bei demselben Kranken zeigt, daß von
Tag zu Tag die Menge des durch den
Harn ausgeschiedenen Chinins geringer
wird und daß schließlich bei einzelnen
tageweise Chinin überhaupt nicht mehr
zur Ausscheidung kommt. 4. Durch all¬
mähliche Steigerung der Dosen im Ver¬
laufe einer Kur gelingt es, die Ausschei¬
dung durch den Harn annähernd auf der
gleichen Höhe zu halten. Diese Befunde
lassen nach Teich mann nur eine IJeu-
tung zu: Führt man einem nicht an Chinin
gewöhnten Körper solches zu, so circuliert
die Hauptmenge im Blut oder wird nur
so lose an Zellgruppen gebunden, daß ein
großer Teil unzersetzt den Blut- und
Lymphstrom passiert und so die speci-
fische Chininwirkung entfalten kann. Da¬
her der reichliche Befund im Blute gegen¬
über Chiningewöhnten, das frühere Ein- •
setzen, die größere Menge und die längere
Dauer der Ausscheidung. Demgegenüber
ist der chiningewöhnte Organismus fähig
geworden, eine, gewisse Menge des auf¬
genommenen Chinins aufzufangen und
abzubauen, sodaß nur ein Teil des ein¬
geführten Chinins als solches zirkuliert
und wirksam ist ; während der andere Teil
zerstört und in veränderter Form aus¬
geschieden wird. Diese Fähigkeit steigt
unter fortgesetzter Chininzufuhr dauernd
an. Für die Erzielung einer keimtötenden
Wirkung muß im Blute eine gewisse Kon¬
zentration des Chinins vorhanden sein.
Die Chininfestigkeit der Malariaplasmo¬
dien ist nur eine scheinbare. Die Para¬
siten selbst sind wohl chininempfindlich,
aber die zu freier Wirkung kommenden
Chininmengen sind so unzureichend, daß
die Abtötung der Krankheitskeime nicht
erfolgen kann. Man muß deshalb die
Chinindosen im Verlaufe einer Kur all¬
mählich etwas steigern. Das Behandlungs¬
schema würde dann unter Zugrundelegen
des jetzt üblichen Tablettengewichtes von
0,3 g lauten: Hauptkur: drei Tage vier
Tabletten = 1,2 g, drei Tage fünf Tablet¬
Gegenwart 1917.
ten — 1,5 g, vier Tage sechs Tabletten
= 1,8. Die Nachkur beginnt dann mit
der zuletzt gegebenen Höchstdosi?, welche
entweder beizubehalten ist öder parallel
den längeren Intervallen absinken kann.
Einen anderen Weg müssen wir bei
chiningewöhnten Kranken einschlagen r
um den unsere Heilbestrebungen stören¬
den Einfluß der veränderten Reaktion
des Organismus zu beseitigen. Die an
dem veränderten Ausscheidungsmodus
kenntliche Chiningewöhnung klingt im
Laufe mehrerer Wochen wieder ab. Es
treten dann wieder annähernd normale
Ausscheidungsverhältnisse ein, welche sich
allerdings schneller als bei Chininnicht¬
gewöhnten von neuem verschlechtern.
Man geht daher dazu über, diese Patienten
nach einer Chininpause von zwei bis vier
Wochen, welche sich empirisch als aus¬
reichend erwiesen hat, mit intermittie¬
renden Kuren zu behandeln. Das Schema
lautet: Zwei bis vier Wochen Chininpause,
entsprechend dem größeren oder gerin¬
geren Grade der Chiningewöhnung. Zehn
Tage Chininkur, und zwar drei Tage 1,2 g,
drei Tage 1,5 g und vier Tage 1,8 g. Pause
von acht Tagen. Zehn Tage Chininkur
wie oben. (Pause von zehn bis zwölf
Tagen. Zehn Tage Chininkur wie oben.)
Nachkur nach Nocht und dann noch
sechs Wochen an zwei aufeinanderfolgen¬
den Tagen jeder Woche 1,2 g.
Dünner.
(D. m. W. 1917, Nr. 35.)
Die Ergebnisse ihrer Fleckfieberstudien
teilen V. Kollert und A. Finger mit: Am
Tage vor dem Fieberanstieg ist gelegent¬
lich eine auffällige Blässe der Kranken
bemerkenswert. — Wie,bei allen anderen
epidemischen Krankheiten beobachtet
man auch beim Fleckfieber viele atypische
Fälle. Die Wahrscheinlichkeitsdiagnose
ist gelegentlich nur aus der Eruierung
der Infektionsquelle zu stellen. — Der
Nachweis der vermehrten Lädierbarkeit
der Hautgefäße ist, wenn das Exanthem
durch andere Hautveränderungen über¬
deckt oder aber bereits geschwunden ist,
von großer praktischer Bedeutung. — Der
Agglutinationstiter des Serums gegen
Typhus bleibt bei der Mehrzahl der
Kranken unverändert. Bei einer Minder¬
zahl treten geringgradige Schwankungen
auf, die auf verschiedene Ursachen zu¬
rückzuführen sein dürften. — Am Auge
wurden häufig etwas träge Lichtreaktion
der Pupillen, gelegentlich anfallsweise auf¬
tretende reflektorische Pupillenstarre, ve¬
nöse Stase am Augenhintergrund und
51
402 Die Therapie der Gegenwart 1917. - Növember
wechselnde Anisokorien beobachtet. —■
Die Lumbalflüssigkeit steht oft unter er¬
höhtem Drucke. Die Lumbalpunktion
wirkt vorübergehend für die Kranken
sehr wohltätig. Die Meningen werden im
Verlaufe des Fleckfiebers für Jod nicht
durchlässig. — Der Pulsdruck ist während
der Fieberperiode sehr herabgesetzt und
bessert sich in günstig verlaufenden Fällen
mit dem Temperaturabfalle. Die Beob¬
achtung des Pulsdrucks gibt dem Arzt
die wichtigsten Hinweise für die Wertung
der Schwere des Falles. — Die Funktions¬
prüfung der Nieten mittels Jodkalium
ergibt rasch vorübergehende, aber gele¬
gentlich sehr schwere Störungen. — Das
Studium der Löwischen und Csepai-
schen Reaktion weist in einer Reihe von
Fällen auf eine Stoffwechselstörung hin,
die vermutlich mit dem Adrenajsystem
in Zusammenhang stehen dürfte. — Die
Gerinnungsfähigkeit des Bluts ist herab¬
gesetzt. — Die wichtigsten Störungen im
Bereiche des Nervensystems sind: Fibril¬
läre Zuckungen einzelner Muskelgruppen,
tonische Krämpfe, meningeale Reiz¬
erscheinungen. In der psychischen Sphäre
werden Katalepsie und amentiaähnliche
Zustände beobachtet.
Hetsch (Berlin).
(Beitr. z. KHn. d. Infektionskr. u. z. Iinmunit.-.
Forsch. Bd. 6, H. 1—2.)
Wieting liefert eine sehr ausführ¬
liche Arbeit über die Pathogenese und
Klinik der Gasbacilleninfektion. Thera¬
peutisch unterscheidet er die Vorbeugung,
die Behandlung der ausgebrochenen In¬
fektion und die Nachbehandlung. Die
erste Vorbeugung besteht in der ener¬
gischen Bekämpfung von Shock- und
Kollapszuständen; die Wunde ist dann
aktiv vorbeugend zu versorgen, indem
sie gesäubert und ausgeräumt wird, dann
mit guter Zugangsmöglichkeit absolut
ruhigzustellen, aber nicht in Gips, da
hier die Wundüberwachung nicht gründ¬
lich genug sein könne. Der Verband
besteht aus locker eingelegtem Mull,
darüber Okklusivverband; aus diesem
soll ein Gummirohr (im Wundbereich ge¬
locht, im Verbandbereich ungelocht) in
Schornsteinst^llung herausragen. Der
Mullstoff wird mit antiseptischer Flüssig¬
keit dreistündlich durch dieses Rohr ge¬
tränkt. Verfasser gebraucht die Dakin-
Carrellsche Lösung, aber auch andere
Antiseptica erfüllen den Zweck. Die Aus¬
einanderhaltung der Wundränder ist
wichtig.
Bei bestehender Gasbacilienin-
fektion beseitige man alles abgestorbene
und absterbende Gewebe, schaffe gut
offene Wundverhältnisse und gute Durch¬
blutung, vermeide jeden Blutverlust, ent¬
leere das Gewebe von Gas und Toxinen.
Bei Durchschüssen wird die große Musku¬
latur mit starker Schere von Ein- und
Ausschußöffnung her gespalten, möglichst
werden die beiden Öffnungen mitein¬
ander verbunden. Haut- und Muskel¬
ränder werden bis ins Gesunde hinein
ausgeschnitten, blutende Gefäße gut un¬
terbunden. Bei Steckschüssen wird der
Wundkanal erweitert-— die Fascien quer
gespalten — und das Geschoß entfernt.
Manchmal sind Gegenöffnungen nötig.
Bei Fällen mit progredienter Nekrose ist
energisches Eingreifen geboten: Es wer¬
den lange Incisionen gesetzt, Muskeln
werden in den Interstitien bis dorthin
isoliert, wo Gasknistern und Ödem nach¬
weisbar sind; Unterminierung, Excisionen
nach Bedarf, Offenhaltung der Wunde.
Schwere toxische Erscheinungen sind In¬
dikation zur sofortigen hohen Absetzung.
Ebenso schwere Trümmerfrakturen (be¬
sonders des Knies und Oberschenkels) mit
Gasinfektion. • Bei Amputationen ist auf
Blutsparung großes. Gewicht zu legen,
Chloroformnarkose ist zu vermeiden. Hohe
Amputationen zieht Verfasser der Ex¬
artikulation vor. Wegen der in diesen
Fällen meist dringenden vitalen Indi¬
kation empfiehlt Verfasser die lineäre
Amputation.
In der Nachbehandlung müssen
die Wunden gut zugänglich sein, muß
jeder Druck vermieden werden. Ständige
Überwachung ist nötig; bei Neuerschei¬
nungen des Prozesses: Einscjineiden, Aus¬
schneiden, Abflußschaffen. Absolute Ruhe
des Gliedes, auch bei Verbandwechsel, ist
geboten, ,,offene Wundbehandlung“ bei
noch bestehender Entzündung nicht an¬
gebracht.
Neben der chirurgischen Behandlung
hat Verfasser mit guter Wirkung Lein-
samenkataplasmen bei Gasphlegmonen
angewandt. Einige wenige therapeutische
Erfolge glaubt er der Anwendung des
Rauschbrandserums zuschreiben zu kön¬
nen.
Verfasser verlangt Absonderung der
Gasphlegmonekranken und strengste lang¬
andauernde Desinfektion der für sie ge¬
brauchten Instrumente, besonders der
Injektions- und Infusionsnadeln.
Hagemann (Marburg).
(D. Ztschr. f. Chir. Bd. 141, Heft 1/2.)
November
Die Therapie der Gegenwart 1917.
403
Zur operativen Behandlung der Knie¬
gelenksteife nach langdauernder Ruhig¬
stellung schreibt Payr; unter Hinweis
auf eine frühere Arbeit über die Patho¬
genese und pathologische Anatomie der
Kniegelenkversteifung wird in der vor¬
liegenden-Arbeit vor allem die operative
Behandlung besprochen. Man findet eine
Trias von Veränderungen: Erstens die
Contractur zusammen mit fibröser De¬
generation und Atrophie des Quadriceps.
Zweitens eine Einengung und fixierende
Umhüllung des Recessus suprapatellaris.
Drittens eine Schrumpfung und Ver¬
dickung des Tractus iliotibialis. Da¬
neben besteht naturgemäß ein mehr oder
minder erheblicher Elastizitätsverlust
an den übrigen Weichteilen. Neben
dieser Einteilung nach pathologisch-ana¬
tomischen Gesichtspunkten kann man
die Fälle noch vom klinischen Standpunkt
aus klassifizieren. Demnach unterscheidet
man: erstens leichte Fälle, bei denen die
Muskelbäuche der Vasti verhältnismäßig
gut erhalten sind. Über den Recessus
gibt ein Röntgenbild mit Sauerstoff¬
füllung des Kniegelenks Aufschluß. Zwei¬
tens schwerere Fälle, in denen der Re¬
cessus vollkommen verödet ist, und end¬
lich drittens ganz schwere Fälle, bei
denen tiefe Narben in die Streckmusku¬
latur hineinreichen, neben den unter 1
und 2 beschriebenen Veränderungen. Für
die erste Gruppe genügt eine Excision
der Schwielen in der Umgebung des
Recessus. Bei Gruppe 2 und 3 muß zu¬
nächst der ganze Streckapparat von
einem langen äußeren Bogenschnitt aus
freigelegt, Patella und Recessus besichtigt
und die Kniescheibe aus ihren Verwach¬
sungen gelöst werden. Dann wird der
muskuläre Streckapparat freigelegt und
die Intermedins-Insertion durchtrennt, so
daß der Recessus dem Auge zugänglich
wird. Nunmehr wird der Tractus ilio¬
tibialis gelöst. Falls erforderlich, wird
jetzt die Quadricepssehne plastisch ver¬
längert und der Sartorius überpflanzt.
Ist die Kniescheibe mit der Unterlage
fest verwachsen, so muß noch zur blutigen
Gelenkmobilisierung mit Interposition von
Fascie geschritten werden. Die inter¬
essante, durch instruktive Abbildungen
belegte Arbeit beweist, in welcher Weise
jeder einzelne Fall besonders studiert
werden muß.
(Zbl. f. Chir. 1917, Nr. 36.) Hay ward.
Über den Einfluß der Strahlen¬
therapie auf die Krebsheilung ver¬
breitet sich Krömer (Greifswald). Wenn
nun auch in der letzten Zeit über dieses
Thema recht viel veröffentlicht wurde,
so ist es doch auch für den Praktiker
von Bedeutung, die Ansichten mehrerer
Kliniker zu lesen, die sich oft diametral
gegenüberstehen, um für die Beratung
seiner Klientel einige Richtlinien zu ge¬
winnen. Krömer nimmt im Gegensatz
zur Freiburger und Münchener Klinik,
welche nur für eine Bestrahlung sind,
einen vermittelnden Standpunkt ein, d. h.
erst operieren, dann bestrahlen. Wie sind
die Erfolge? Der Begriff der Dauerheilung
muß festgehalten werden; nach einem
fünfjährigen Intervall kein Rezidiv. So¬
weit es noch möglich ist, muß jeder Fa
so radikal als möglich operiert werden;
hierdurch kann natürlich die primäre
Mortalitätsziffer sehr hoch sein. Um die
Rezidive nach Kräften zu verhindern,
muß mit der Strahlentherapie baldigst
begonnen werden. Es darf ja nicht ver¬
gessen werden, daß klinisches Wohl¬
befinden sich nicht immer mit Rezidiv¬
freiheit deckt. Besonders bei Narben¬
rezidiven und sekundären Scheidenknoten
kann mit dieser Behandlungsweise recht
viel Gutes geleistet werden. Ein Mi߬
erfolg tritt meist bei den Fällen ein, in
denen es zu einer Vermehrung der Krebs¬
zellen auf dem Peri- und Endoneuriüm
kommt. Hier muß der Praktiker gegen
die so schwer quälenden bohrenden und
ziehenden Schmerzen mit internen Mitteln
ankämpfen. Krömer erklärt, daß ihm
Morphium- und Epiduralinjektionen auf
die Dauer wenig geholfen haben; am
besten bewährte sich Aspirin mit Opiaten
von steigender Konzentration; in der
letzten Zeit wurden auch Versuche mit
Vaccineuin gemacht; ein abschließendes
Urteil kann noch nicht gegeben werden.
Der Kampf gegen das Carcinom ist
äußerst schwer, der symptomatischen
Behandlung bleibt leider noch ein weites
Feld. 'Pulvermacher (Charlottenburg).
(Mschr. f. Gebh. 1917, Okt.)
Zur Diagnose und Therapie eini¬
ger wichtiger Kriegsseuchen bringt
G. Holler einen Beitrag, in dem er speziell
auf die Reaktion der Leukocyten im Blut
und die Wirkung der Deuteroalbumose
(Merck) eingeht. Das Ausklingen in
Lymphocytosen ist allen Infektionskrank¬
heiten eigen, während z. B. die Splenopenie
für Abdominaltyphus, Eosinophilie zur
Zeit der Fieberperiode für Scharlach und
Blättern, das Einsetzen einer Eosinophilie
51*
404
Die Therapie der Gegenwart 1917.
November
erst in der Rekonvaleszenz für Fleckfieber
charakteristisch ist. Von dem Erfahrenen
können die Unterschiede in der Reaktion
der Leukocyten bei den verschiedenen
Infektionsprozessen mit Vorteil diagno¬
stisch verwertet werden, besonders <bei
Infektionen, deren- Erreger noch nicht
bekannt ist (z. B. Fleckfieber).
Die Deuteroalbumose gehört (ebenso
wie Blutkohle und Urotropin) zu den¬
jenigen Mitteln, die der Autor bei der Be¬
handlung der Kriegsseuchen nicht mehr
entbehren möchte. Ihre therapeutischen
Leistungen stehen außer Frage, aber die
Art, wie die letzteren bedingt werden,
ist noch dunkel. Wahrscheinlich wird der
Körper durch die Einverleibung von
Deuteroalbumosen (wie überhaupt körper¬
fremder Substanzen) zur Absonderung'
besonderer Schutzstoffe angeregt. Der
Erfolg beruht sicherlich nicht auf einer
Scheinwirkung (Kollaps, Lähmung des
Temperaturcentrums usw.), sondern auf
einer Zerstörung der Infektionserreger
selbst. Intravenöse Injektionen von
Merckscher Deuteroalbumose wirken bei
verschiedenen Kriegsseuchen heilend. Der
Erfolg ist aber wesentlich von der rich¬
tigen Herstellung der Lösungen, der rich¬
tigen intravenösen Injektion und dem
Eifer des Arztes und des Pflegepersonals
abhängig.
H et sch (Berlin).
(Beitr. z. Kün. d. Infektionskr. u. z. Immunit.-
forsch. Bd.6, H. 1—2.)
Ferdinand Winkler erzielte bei der
Behandlung des Lupus erythematodes über¬
raschende Erfolge mit einer Kombination
von Chinin (dreimal täglich 0,3 bis
dreimal täglich 1,0) mit Aufpinselungen
von Dichloräthylen auf die einzelnen
Lupusscheiben. Iwan Bloch (Berlin).
(Denn. W. 1917, Nr. 5, S. 120.)
Über einen recht eigenartigen Fall
von durch Diphtheriebacillen hervorge¬
rufener eitriger Meningitis berichtet
Sterling (Warschau). Ein acht Jahre
altes Kind wurde in der Scharlachrekon¬
valeszenz (50. Krankheitstag) mit Mastoi¬
ditis und Otitis purulenta der linken Seite
eingeliefert. Aus dem Ohreiter wird der
Diphtheriebacillus in Reinkultur erhalten
und Serum (2000 I.-E.) gegeben. In den
nächsten Tagen rechts gleichfalls Otitis
und Mastoiditis mit gleichem bakteriologi¬
schen Befunde; noch einmal 3000 I.-E. ge¬
geben. Links wird etwa am 60. Krankheits¬
tage die Trepanation des Warzenfortsatzes
n£>tig. Fünf Tage später tritt typische
Meningitis auf, die in weiteren fünf Tagen
zum Exitus führt. Die Sektion ergab
eitrige, vorwiegend basale Meningitis und
einen großen Absceß im linken Temporal¬
lappen, die beide deutlich vom Ohre aus¬
gingen, wie durch die Anwesenheit einer
etwa linsengroßen Öffnung im oberen
Teile des linken Felsenbeines zur Genüge
dargetan wurde. Eiter ergab bakteriolo¬
gisch Reinkultur von Diphtheriebacillen,
die- im Tierversuche als wenig virulent
sich erwiesen. Aus den Nieren wurden
diphtherieähnliche gramnegative Bacillen
erhalten. Des weiteren weist Sterling
auf die große Häufigkeit des Diphtherie¬
bacillenbefundes bei Scharlach »hin, der
besonders oft (auch ohne klinische Er¬
scheinungen) in der Nase auftritt, sowie
auf das verhältnismäßig häufige Vor¬
kommen diphtherischer Otitiden. Die
verbreitete Meinung, daß das Auftreten
des Diphtheriebacillus im Beginne des
Scharlachs eine besonders schwere Kom¬
plikation darstelle, konnte Verfasser nicht
bestätigen, verlangt aber, wie selbstver¬
ständlich, *die Anwendung des Serums in
jedem Falle, in dem die Bacillen vor¬
handen sind; er glaubt auch, daß der
Scharlach, der nach einer mit Serum be¬
handelten Diphtherie auftritt, viel leichter
verläuft, als nach nicht mit Serum ge¬
spritzten Fällen. (Wenn man systema¬
tisch bei allen wegen Masern, Scharlach-
Diphtherie usw. eingelieferten Kindern
Nasen und Ohren .auf Diphtheriebacillen
untersucht, so findet man, wie Referent
in einer in dieser Zeitschrift erschienenen
Spezialuntersuchung nachweisen konnte,
in einem sehr großen Teile der Nasen und
bei nicht wenigen Otitiden einen positiven
Befund, wegen dessen Bewertung und
Bedeutung auf diese Arbeit verwiesen
werden kann.)
Waetzoldt.
(B. kl. W. 1917, Nr. 21.)
Für die Ätiologie der Nachtblindheit
(Hemeralopie) gibt Jess (Gießen) auf
Grund von Kriegserfahrungen eine neue
Theorie. Er fand bei allen untersuchten
Nachtblinden eine deutliche Einschrän¬
kung des Gesichtsfeldes für Gelb, während
die mehrfach beschriebene Einschränkung
für Blau weniger konstant war. /Erfah¬
rungsgemäß ist die Einschränkung der
Blaugelbgrenzen, dLe bis zu vollständiger
Blaugelbblindheit führen kann, ein Zei¬
chen eines ödematösen Prozesses der Re¬
tina selbst, wie er bei zahlreichen Erkran¬
kungen der Retina vorkommt.
November
Die Therapie der Gegenwart 1917.
405
Die Ansicht, 'daß nun die Erklärung der
Hemeralopie durch Retinalödem auch, was
man von vornherein nicht annehmen möch¬
te, für die sogenannte essentielle oftepide-
. misch auftretende Form der Erkrankung
gilt, wird besonders auch durch die Beob¬
achtung gestützt, daß bei einer Epidemie
von Ödemzuständen während einer Hun¬
gersnot der galizischen Bevölkerung im
Jahre 1915 häufig neben Xerosis und
Ulcus corneae Hemeralopie auftrat. Da
nun kein Grund vorliegen kann, in diesen
Fällen ein Retinalödem auszuschließen, j
so wird auch hier als lokale Ursache der
Hemeralopie ein solches anzunehmen sein,
welches, auf ernährungstoxischer Basis
entstanden, die Funktion der Stäbchen,
Zapfen und des Pigmentepithels geschä¬
digt hat. In einigen sehr schweren Fällen
von essentieller Hemeralopie konnte Jess
das Retinalödem sogar beobachten und ,
sein Verschwinden beim Schwinden der
Beschwerden feststellen, wenn er auch |
darauf aufmerksam macht, daß es wegen
seiner außerordentlichen Zartheit in den
meisten Fällen der ophthalmoskopischen
Erkennung entgehen wird. In anderen
Fällen, besonders bei Blendungsring¬
skotom, das wohl auf ein kollateralesödem
um den Verbrennungsherd zurückzu¬
führen ist, gelang übrigens nebenher der
Nachweis einer typischen Hemeralopie.
Die Prognose der erworbenen Hemeralopie
wird demnach davon abhängen, ob die
Schädigung der Retina reparabel ist oder
nicht. Ein epidemisches Auftreten der
Erkrankung unter Soldaten wurde nie
beobachtet, doch empfiehlt Jess, in dieser
Hinsicht nicht zu sorglos zu sein und -
schon im Interesse der Vermeidung spä¬
terer Rentenansprüche jeden auf Hemera¬
lopie verdächtigen Soldaten einer speziali-
stischen Untersuchung zuzuführen. (Es
wäre recht interessant, bei eventuell wieder
'auftretenden Ernährungsödemen auf das
Vorhandensein von Retinalödem bezie¬
hungsweise Hemeralopie zu untersuchen.
Ref.) Waetzoldt.
(D. m. W. 1917, Nr. 22.)
Die Lehre von der Paralyse im Lichte
neuer Forschungsergebnisse behandelt ein
Aufsatz Raeckes. Die Befunde No-
guchis, dem als erster der Spirochäten¬
nachweis im Paralytikergehirn glückte,
nötigen zu einer Revision unserer An¬
schauungen vom Wesen der Paralyse.
Durch die Entdeckung von Spirochäten¬
nestern in der Großhirnrinde, die Jahnel
später regelmäßig darstellen konnte, ist
der Begriff der Metalues hinfällig ge¬
worden. Meningen, Ganglienzellen sowie
Markscheiden können Sitz der Spiro¬
chätenerkrankung sein. Von Anfang an
werden die verschiedenen Teile des Cen-
tradnervensystems wahllos ergriffen. Exsu¬
dative Entzündungen der Meningen,
Gummiknötchen der Hirnrinde und Mark¬
scheidendegenerationen nach vorangegan¬
gener Gliawucherung sind das anato¬
mische Substrat der Paralyse. Nichts
weist auf eine Toxinschädigung hin,
überall sind es die direkten Wirkungen
der Spirochäte, die die paralytische Er¬
krankung bedingen.
Die klinischen Erscheinungen der Pa¬
ralyse entsprechen — es ist dies ein
weiterer Fortschritt der Paralysefor¬
schung — der jeweiligen Ausbreitung
des anatomischen Prozesses. Besonders
überzeugend sind in diesem Sinne die
Befunde bei atypischen Verlaufs¬
formen. Entwickelt sich der ‘ Prozeß
primär an den Rückenmarksleisten und
werden die hinteren Wurzeln in Mitleiden¬
schaft gezogen, so entsteht das Bild der
Tabes mit Spätbeteiligung des Cerebrums
(Tabo-Paralyse). Ist die motorische Re¬
gion Sitz der Spirochäteninvasion, so be¬
ginnt die Paralyse mit Krampfanfällen
und Lähmungen. Wird der Hinterhaupt¬
lappen primär befallen, so eröffnen Seh¬
störungen, in anderen Fällen wiederum
Aphasien, Apraxien, Agnosien oder Cere¬
bellarerscheinungen das klinische Bild.
Die Beteiligung der Psyche an den ge¬
schilderten Herderscheinungen ist im ein¬
zelnen wechselnd. Die für das Leiden
charakteristische psychische Beeinträchti¬
gung kann sich von vornherein mit den
körperlichen Erscheinungen kombinieren,
diesen vorangehen oder folgen.
Da psychische Defekte einen gewissen
Umfang der Spirochätenausbreitung vor¬
aussetzen, so kommen bei gesicherter
Diagnose thera peutische Maßnahmen
wohl immer zu spät. Verf. ist der
Ansicht, daß die in einer Anzahl der
Beobachtungen der Paralyse voraus¬
gehenden allgemeinen neurasthenischen
Zeichen unter gleichzeitiger Kontrolle
der Lumbalflüssigkeit möglicherweise eine
Frühdiagnose zu lassen.
L. Jacobsohn (Charlottenburg).
(Arch. f. Psych. 1916, Heft 3.)
Salomon schreibt über die operative
Behandlung von Schußverletzungen
peripherer Nerven. Als Indikation zur
Operation gilt vollständige motorische
406
Die Therapie der Gegenwart 1917.
November
Lähmung mit kompletter Entartungs¬
reaktion ohne Besserung nach sechs bis
acht Wochen. Oft mußte wegen bestehen¬
der Knochenfisteln zu einem späteren
Termin operiert werden, aber Spätopera¬
tionen gefährden den Erfolg. Bei Ab¬
schüssen ist die Prognose schlechter als
bei Verletzungen mit erhaltener Conti-
nuität des Nerven.
Verfasser hat unter 32 Operationen
sechs Plastiken ausgeführt, bevorzugt aber
wegen der unsicheren plastischen Metho¬
den die direkte Naht, die mit allen Mitteln
(Dehnung des Nerven, Beugestellung der
Gelenke) anzustreben ist. Operiert wurde
stets in Allgemeinnarkose ohne Blutleere
— gegen die Blutungen heiße Kochsalz¬
oder Kocher-Fonio - Lösungen, vorüber¬
gehende Tamponade. Bei spindelförmigen
Narben wurde stets reseziert. War es
zweifelhaft, ob die Neurolyse oder die
Resektion angebracht sei, so wurde die
Narbe längs gespalten, nach normalen
Fasern gesucht und die elektrische Prü¬
fung mit der Reizelektrode angewendet.
Nimmt man an, daß der Nerv selbst
narbig verändert ist, so soll' er nicht in
seine einzelnen Bahnen, die sich schwer
zusammennähen lassen, aufgespalten, son¬
dern partiell reseziert werden. Zur exak¬
ten topographischen Vereinigung bei der
Naht wurden vor der Resektion in der
normalen Lage des Nerven an korre¬
spondierenden Stellen Nähte angelegt.
Bei Neurolysen wurden Muskelnarben
möglichst mit entfernt. Innere Neuro¬
lysen nach Stoffel sind nur bei intra¬
neuralen Narben notwendig.
Bei den Nähten ist es wichtig, daß die
Nahtstelle vor groben Verwachsungen und
mechanischem Druck geschützt wird, aber
Einbettung ist nicht unbedingt nötig, da
auch ohne sie guter Erfolg erzielt wurde
und die freien Fett- und Fascienlappen zu
starken Schrumpfungen und Verwach¬
sungen führen können. Fascien- und
Hautnaht muß sehr weit sein, genaue
Blutstillung ist nötig, aber Tamponade
und Drainage möglichst zu vermeiden.
Als Nachbehandlung Hyperämie, Mas¬
sage, Elektrisieren; besonders soll durch
Bewegungen, Schienen, Bandagen den
Contracturen entgegengearbeitet werden.
Die Nachbehandlung soll fortgesetzt wer¬
den, bis die einsetzenden Bewegungen
eine gewisse Kraft gewonnen haben.
Die. Nähte gaben befriedigende Resul¬
tate: Unter 20 Nähten 13 Erfolge, d. h.
mindestens Teilwiederherstellung der Mo¬
tilität. Bei sechs Nähten war der Erfolg
nach einem Jahre unsicher, bei einer
bestand sicherer Mißerfolg. Die ersten
Bewegungen stellten sich meist nach vier
bis fünf Monaten ein. Bei vier Patienten
kehrten alle motorischen Funktionen wie¬
der, und zwar nach einer Radialisplastik
(E ding er),'einer Plexus-, einer Radialis-
und einer Peroneusnaht. ,
Bei zehn Neurolysen waren zwei Mi߬
erfolge, in den anderen Fällen Erfolge
verschiedenen Grades. In den Fällen mit
Mißerfolg wäre wohl eine Resektion ge¬
eignet gewesen.
Die Sensibilität kehrte später wieder
als die Motilität.
Hagemann (Marburg).
(Arch. f. klin. Chir. Bd. 109, H. 1, S. 150.) •
Unter welchen- 1 Bedingungen Psy¬
chosen und Neurosen eine Indika¬
tion zur künstlichen Unterbrechung
der Schwangerschaft abgeben, erörtert
Siemerling an Hand einer reichen Kasu¬
istik. Während der Schwangerschaft kom¬
men hauptsächlich die melancholischen
Depressionszustände zur ärztlichen Beob¬
achtung, wobei die echten Melancholien
von den Situationsmelancholien streng zu
trennen sind. Von den Neurosen geben
Epilepsie und Hysterie das hauptsächliche
Material ab; für den Praktiker ist es sehr
wichtig, zu wissen, daß in der ersten Hälfte
der Schwangerschaft sehr schwere Anfälle
mit Aufhebung des Bewußtseins Vor¬
kommen, deren Klassifizierung, ob Epi¬
lepsie oder Eklampsie vorliegt, mit den
größten Schwierigkeiten verknüpft ist.
Wenn nun auch zugegeben werden muß,
daß durch die Hyperemesis gravidarum
und der ihr folgenden Neuritis ein so
schwerer Zustand hervorgerufen werden
kann, der zum Eingriffe zwingt, da das
Bild einer äußerst bedrohlichen Toxikose
nicht zu verkennen ist, so veranlassen
reine Psychosen und Neurosen sehr selten
einen künstlichen Abort. Gegenüber an¬
deren Krankheiten gibt es keinen scharf¬
umschriebenen Symptomenkomplex. Nur
eine im Verein mit anderen Ärzten durch¬
geführte Beobachtung — meist in einer
Anstalt — wird eine einwandfreie Indika¬
tion abgeben. Erst wenn die schwerste
Gefahr für das Leben der Schwangeren
'vorliegt, darf eingeschritten werden.
Pulvermacher (Charlottenburg).
(Mschr. f. Geburtsh. 1917, Okt.)
Über sterilisierende Operationen
an den Tuben berichtet Nürnberger
im Anschluß an zwei Fälle aus der Mün-
November
Die Therapie der Gegenwart 1917. 407
chener Klinik, wo die erste Operation
einen Mißerfolg ergab, die zweite auf
Grund genauer mikroskopischer Unter¬
suchungen 'der exstirpierten Tuben eine
ausreichende Erklärung für den Fehl¬
schlag lieferte. Da es hier durch die
Atrophie der Muskulatur nach einer dop¬
pelten. Unterbindung zu einer Lockerung
der Fäden und so zu einer Restitution
des Tubenlumens gekommen war, so
können als sichere Methoden nur folgende
bezeichnet werden: 1. keilförmige Exci-
sion der Tuben, 2. doppelte -Unterbin¬
dung und Durchschneidung mit nach¬
folgender Versenkung der Stümpfe in
das Peritoneum, und 3. die Einnähung
der Tuben in den Leistenkanal; natürlich
ist auch die Sterilisierung durch Bestrah¬
lung zu erwägen. Neben den Fällen, in
denen eine dauernde Sterilität am Platze
ist, kann man auch nur eine zeitliche er¬
reichen wollen, wenn* wie z. B. bei
Tuben erst eine Aufbesserung des Zu¬
standes abgewartet werden soll. Leider
ist es- bis jetzt noch nicht gelungen, eine
solche Sterilisationsmethode zu finden.
Es muß deshalb die strengste Indikation
für diesen Eingriff gestellt werden, da ja
die Wichtigkeit einer Steigerung der Ge¬
burtenzahl vollends erst nach dem Kriege
nicht nur in nationaler, sondern auch in
sozialer und volkswirtschaftlicher Hin¬
sicht im allgemeinen anerkannt wird.
Nach Nürnberger hat ja der Krieg eine
geburtshilfliche Disziplin, die soziale Ge¬
burtshilfe, ins Leben gerufen.
Pulver mach er (Charlottenburg).
(Sml. kl. Vortr. N. F. 1917, Nr. 731, 734.)
Therapeutischer Meinungsaustausch.
Die Wertschätzung der Malzextrakte.
Von G. Klemperer.
In einem vor kurzem im Aufträge des
Kaiserlichen Gesundheitsamts veröffent¬
lichten Gutachten über „Kriegsmehl, Mehl¬
nährpräparate und Krankendiät“ habe ich
gesagt, daß die viel verordneten und be¬
liebten Malzextrakte in Wirklichkeit über¬
flüssig sind.
Gegen diesen Ausspruch haben sich
Prof. Johannes Müller [Düsseldorf 1 )] und
Geheimrat v. Noorden 2 ) in kritischen
Besprechungen gewendet, auf die ich kurz
ein gehen möchte. Beide Autoren betonen
den appetitanregenden Einfluß des Malz¬
extrakts, durch den es weit über seinen
eigentlichen Nährwert in der Krankendiät
nutzbringend wirke, v. Noorden stellt
„als sein persönliches, auf 25jähriger,
breiter Erfahrung in der praktischen Er¬
nährungstherapie fußendes Urteil den Satz
hh\, daß unser gutes altes Malzextrakt
durchaus das Vertrauen rechtfertigt, das
ihm Generationen deutscher Ärzte und
Kranker entgegenbrachte“. Daß das Malz¬
extrakt bei den Ärzten beliebt sei, habe
ich selbst hervorgehoben; es kam mir
aber darauf an, den Ärzten klarzumachen,
daß sie ihren Kranken in keiner Weise
schadeten, wenn sie für Kriegsdauer da¬
rauf verzichteten. Ich schrieb selbst, daß
das Malzextrakt nützliche Eigenschaften
habe, „die durch den würzigen Geschmack
J ) M. m. W. Nr. 36.
2 ) Th. M. Heft 9.
des Malzes noch wertvoller werden“,
aber diese Eigenschaften erschienen mir
keinesfalfs ausreichend, um für die Malz¬
fabrikation die Bereitstellung von Gerste
zu rechtfertigen, welche der Ernährung
gesunder Menschen entzogen werden sollte.
Müller wie v. Noorden sind selbst der
Meinung, daß das Malz als eigentliches
Nahrungsmittel neben den vorhandenen
Kohlehydraten nicht notwendig sei; sie
verlangen es nur als „Zukost“, beziehungs¬
weise alsAnregungsmittel fürSchwache und
Kranke. Die Erfahrung lehrt aber, daß es
sehr gut in der Krankenernährung auch
ohne dies Hilfsmittel geht. Ich kann mich
wohl auf ebenso lange und ebenso breite
Erfahrung in der praktischen Ernährungs¬
therapie berufen wie mein verehrter Kollege
v. No orden, und gerade auf Grund
meiner Erfahrung bin ich zu dem Resul¬
tat gekommen, daß das Malzextrakt voll¬
kommen entbehrlich ist. In meinem
Krankenhaus wird es niemals verordnet,
und wir haben sowohl bei den Rekon¬
valeszenten wie bei den Tuberkulösen
auch noch in letzter Zeit ausgezeichnete
Gewichtszunahmen. Auch in der Privat¬
praxis habe ich kaum jemals Malzextrakt
gegeben. Die Anregung des Appetits für
Gebäck, Mehlspeisen und Suppen ist auf
vielerlei Weise möglich, auch wenn man
auf -Malzextrakt verzichtet. Ich glaube
also, daß Noorden im Unrecht ist, wenn
408
Die Therapie der' Gegenwart 1917. November
er mein Urteil über den Wert des Malz¬
extrakts als sachlich unrichtig bezeichnet
Im übrigen muß liervorgehoben werden,
daß es der ausgesprochene Zweck meines
Aufsatzes war, die durch den Krieg ver¬
änderte Situation des Nährmittelmarktes
und die Möglichkeit der Krankenversor¬
gung auch unter den Kriegsverhältnissen
ins rechte Licht zu setzen. Der Aufsatz
bezog sich nur auf die Kriegsverhältnisse.
v Im Frieden wird sicherlich wieder Malz¬
extrakt zur Genüge vorhanden sein und
jeder mag es nach Belieben verordnen.
Nur soH es auch dann niemand für
notwendig oder gar für unentbehrlich
erklären. Ich persönlich kann in meiner
kritischen Würdigung des Malzextrakts
auch qiclit . durch die Rücksicht auf
„unsere ganze hochentwickelte Malzextrakt¬
industrie“ wankend gemacht werden,
welche Noorden durch meine Kritik
ernstlich gefährdet erachtet. Die Er¬
fahrung beweist, daß der zur Einschrän¬
kung mahnende Kritiker gegenüber der
Luxusindustrie stets ein Prediger in der
Wüste bleibt. Mein Urteil über künst¬
liche Nährpräparate habe ich vor mehr
als 20 Jahren literarisch festgelegt, ich glaube
also keineswegs der Mahnung zu bedürfen,
„vorsichtiger und bedachter“ zu sein.
Meinerseits glaube ich, daß wir bei der Be¬
ratung von Behörden in Krieg und Frieden
uns auf den Standpunkt der ärztlichen
Sachverständigen beschränken sollen;
die Abwägung der volkswirtschaftlichen
Gesichtspunkte gegenüber den medizini¬
schen'steht der Behörde'zu. In Wirklich¬
keit decken * sich zürn Glück für unsern
Fall beide Standpunkte; auch Noorden
gibt zu, daß es für die Kriegszeit nicht rat¬
sam scheinen mag, Rohstoff zum Her¬
stellen von Malzextrakt freizugeben.
Zur mechanischen Behandlung der chronischen Obstipation.
Von San.-Rat Dr. Karl Gerson-Schlachtensee.
Bekanntlich sterben hin und wieder Men¬
schen während der Defäkation eines plötz¬
lichen Todes. Es handelt sich dabei meist
um ältere Leute mit Arteriosklerose und
chronischer Obstipation. Sie suchen die
harten Faeces kraft ihrer Bauchpresse
herauszuzwängen und steigern hierdurch
den Blutdruck im Gehirn oft so stark, daß
ein größeres Gefäß birst. Blutung und Tod
sind die Folge. Trotz aller Warnungen der
Ärzte, durch Abführmittel für leichten
Stuhl zu sorgen und beim Stuhlgang nicht
zu pressen, bleiben die Patienten bei ihrer
alten Gewohnheit, weil die Abführmittel
oft nur eine Zeitlang helfen. Dies ist
besonders bei Arteriosklerotikern der Fall,
deren Darmdrüsen und Peristaltik in¬
folge mangelnder Zirkulation unregel¬
mäßig funktionieren. Die Arteriosklerose
der Darmgefäße macht oft Verstopfung,
letztere nötigt zur Bauchpresse. Da so
-die Wirkung der Bauchpresse in manchen
Fällen chronischer Obstipation nicht
immer zu vermeiden ist, erscheint es
wünschenswert, sie wenigstens möglichst
abzuschwächen und dadurch ungefähr¬
licher zu gestalten. Zu diesem Zwecke
hat sich folgendes Verfahren bewährt:
Im Begriffe zu defäzieren,
schnaubt der Kranke mit dem
Schnupftuche die Nase, so zwar,
daß er einige kräftige Exspira¬
tionsstöße abwechselnd links und
rechts durch die Nase'treibt. Bleibt
die Wirkung nach den ersten drei Ex¬
spirationsstößen aus, so wartet man kurze
Zeit und wird dann bei erneuten Ver¬
suchen gewöhnlich Erfolg haben. Man
fühlt dann bei jedem Schnauben einen
Druck auf den Mastdarm, der den Sphinc-
ter ani erschlaffen läßt und die Kotsäule
in Bewegung setzt. Man.setzt das Schnau¬
ben aus, sobald die Defäkation in Gang
gekommen ist. Diese Art der Bauch¬
presse ist deshalb ungefährlicher, weil
durch die Nasenexspiration gewissermaßen
ein Luftventil geschaffen wird, das den
Blutdruck im Gehirne abschwächt. Die
Exspirationsstöße sollen nicht stärker
sein, als bei gewöhnlichem Schnauben
der Nase. Diese Bauchpresse ist aber
auch wirksamer, weil sie in einzelnen
Stößen wirkt, die den Mastdarm di¬
rekt erschüttern. Die Wirkung der
Exspirationsstöße auf den Mastdarm
erfolgt nur im Sitzen bei der Absicht zu
defäzieren. Auch der Inhaber eines
normalen Stuhlganges kann die Wirk¬
samkeit des Verfahrens erproben. Ob
das Schnaubverfahren in allen
Fällen von chronischer Obstipation
zum Ziele führt, muß weitere Erfahrung
lehren; in vielen wird es gewiß nicht
versagen.
Für die Redaktion verantwortlich Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer in Berlin. Verlag von Urban & Schwarzenberg
in Berlin und Wien. Gedruckt bei Julius Sittenfeld, Hofbuchdrucker., in Berlin W8.
Die Therapie der Gegenwart
herausgegeben von
58. Jahrgang Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer 12. Heft
Neueste Folge. XIX. Jahrg. BERLIN Dezember 1917
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Die Therapie der Gegenwart erscheint zu Anfang jedes Monats. Abonnementspreis für den
Jahrgang 10 Mark, in Österreich-Ungarn 12 Kronen, Ausland 14 Mark. Einzelne Hefte je 1,50 Mark
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Die Therapie der Gegenwart
q- _ herausgegeben von öeh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer D02emb6r
' In Berlin.
* Nachdruck verboten.
Zur Behandlung von Folgezuständen der Ruhr.
Von Prof. Dr. H. Strauß-Berlin.
Die Zunahme der Dysenterie und
von dysenterieähnlichen Erkrankungen
während der Kriegszeit hat dazu geführt,
daß wir Folgen der Dysenterie häufiger
als frtjher zu sehen bekommen. Glück¬
licherweise ist allerdings die weitaus über¬
wiegende Mehrzahl der Fälle von Dysen¬
terie gutartig verlaufen und es ist auch
nach meinen Beobachtungen eine erheb¬
liche Mortalität fast nur bei Personen über
•60 Jahren oder bei von vornherein ganz
foudroyantem Auftreten der Krankheit zu
verzeichnen gewesen. Infolgedessen ist
ein erfreulicherweise nur kleiner Pro¬
zentsatz der Fälle von Überbleibseln be¬
ziehungsweise von Folgezuständen der
Ruhr betroffen worden. Nimmt man
jedoch die Summe der Erkrankten als
Ganzes, so dürfte die Zahl der an „Rest¬
zuständen“ Leidenden nicht eine absolut
geringe sein. Es sind dies vor allem
die Fälle von „verzögerter Rekonvales¬
zenz“ bei welchen ein chronisch-
diarrhöischer Zustand noch lange zu¬
rückblieb, ferner Fälle von ganz auf¬
fälligem, und zwar nicht bloß durch eine
chronische Colitis zu erklärendem „Ruhr-
Siechtum“ und schließlich Fälle von-
postdyseriterischer, spastisch -hyperalge-
tischer, „erethischer“ Obstipation, die
zuweilen einen sehr quälenden Charakter
darbietet. Ihnen fügt sich eine Gruppe
testierender Gastrodyspepsien an, die
nicht ganz selten, aber doch nur in der
Minderzahl der Fälle (siehe später) eine
Sub- oder Anacidität des Magens erkennen
lassen und schließlich noch eine Gruppe, bei
welcher sich mit auffälliger Hartnäckig¬
keit eine quälende „Rest-Proctitis“ er¬
halten hat. Von organischen Stenosen
habe ich jedoch bis jetzt nur einen ein¬
zigen Fall zu sehen bekommen, und zwar
saß die Stenose am der Flexura lienalis
coli. Neben diesen „Restzuständen“,
welche jedoch keineswegs alle Möglich¬
keiten erschöpfen, sind noch die Stö¬
rungen zu berücksichtigen, welche als
Fernwirkungen der Ruhr, so beson¬
ders auf das Herz, das Nervensystem
und die Gelenke — Ödeme habe ich nur
zweimal ausgeprägt, dagegen zweimal links¬
seitige Venenthrombosen gesehen — zu
betrachten sind. Gerade wegen. der.
Hartnäckigkeit, welche clie „Rest¬
zustände“ der Dysenterie den thera¬
peutischen Maßnahmen vielfach ent¬
gegensetzen, verdienen die vorliegenden
Zustände ein besonderes Interesse und es
sind infolgedessen in der letzten Zeit —
zum Teil im Zusammenhänge mit einem
'in dieser Zeitschrift erschienenen Artikel,
in welchem ich ätiologische Fragen er¬
örtert habe — mehrere Anfragen an mich
gelangt, die sich auf die Therapie dieser
quälenden Zustände beziehen. Von diesen
möchte ich jedoch hier nur zwei — wie
mir scheint, besonders wichtige — Fragen
zum Gegenstand einer Betrachtung
machen, nämlich die Frage eines chirur¬
gischen Eingriffes und die Frage der
Lokalbehandlung und diesen einige
Bemerkungen über Störungen der
Magen- und Dünndarmverdauung
vom Standpunkte der Therapie anfügen.
Bei der Erörterung der beiden Haupt¬
fragen möchte ich mich jedoch nicht bloß
von den Erfahrungen leiten lassen, die ich
bei „chronisch gewordenen“ Felddysente¬
rien zu machen Gelegenheit hatte, sondern
auch von denjenigen, die ich in Friedens¬
zeiten bei der Behandlung schwerer, der
Therapie hartnäckigen Widerstand lei¬
stender, Formen von chronischer blutig¬
eitriger Colitis gewonnen habe. Ist doch
die „Friedensform“ dieser Erkrankung
unabhärfgig von der Frage ihrer Ätio¬
logie der „Kriegsform“ in vielen Punkten
klinisch so ähnlich, daß die therapeuti¬
schen Gesichtspunkte an vielen Stellen
engste Berührung zeigen.
A. Chirurgische Behandlung.
Ein chirurgisches Vorgehen kommt
überhaupt nur bei solchen Fällen in Be¬
tracht, bei welchen eine lange Zeit regel¬
recht durchgeführte interne Behandlung
— siehe über diese unter anderem die
Ausführungen von G. Klemperer und
52
410
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Dezember
Dünner in der Dezembernummer 1915
dieser Zeitschrift — zu keinem Erfolge
geführt hat. Für ein chirurgisches Vor¬
gehen kommen bekanntlich drei Opera¬
tionen in Frage:
1. Die Appendicostomie (1902 von
Weir eingeführt).
2. Die Anlegung einer Cöcalfistel (von
Fol et 1885 eingeführt).
3. Die Anlegung eines Anus praeter¬
naturalis.
Von diesen Operationen ist die sub 1
genannte die leichteste. Sie unterscheidet
sich aber von den sub 2 und 3 genannten
dadurch, daß bei ihr keine Fernhaltung
des Kotes von den erkrankten Darm¬
partien stattfindet. Die Fernhaltung
selbst wird bei der sub 3 genannten Ope¬
ration vollkommen, bei der sub 2 ge¬
nannten nur teilweise erreicht. Alle drei
Operationen geben jedoch in gleicher
Weise Gelegenheit zu einer Bespülung
der erkrankten Darmpartien von oben
her. Ich selbst verfüge über vier mit
Appendicostomie behandelte Fälle. Unter
diesen ist bei zwei Fällen ein guter Erfolg
eingetreten, in zwei, weiteren blieb der¬
selbe aber aus und in einem dieser Fälle
mußte später ein Anus praeternaturalis
angelegt werden. In einem Falle, in wel¬
chem die Ausführung einer Appendi¬
costomie versucht wurde, gelang dieselbe
wegen Obliteration des Wurmfortsatzes
nicht. Grundsätzlich habe ich mich früher 1 )
einer der sub 2 und 3 genannten radi¬
kalen Operationen — insbesondere der
Anlegung eines Anus praeternaturalis —
mehr zugeneigt, weil ich in der Fern¬
haltung des Kotes von der erkrankten
Schleimhaut die erstrebenswerteste Wir¬
kung der Operation suchte. Ich verfüge
über neun hierher gehörige, Beobach¬
tungen und würde über eine erheblich
größere Anzahl verfügen, wenn ich nicht
in den letzten Jahren mit der Empfehlung
dieser Operationen etwas zurückhaltender
geworden wäre. Ich mußte nämlich in
vier Fällen die traurige Erfahrung
machen, daß die betreffenden Pa¬
tienten dem operativen Eingriffe
gegenüber eine verminderte Wi¬
derstandskraft darboten, so daß
im Anschluß an die Operation' in
den nächsten Tagen ein Exitus
eintrat. Von den genannten vier Pa¬
tienten waren drei zur Zeit der Operation
noch in gutem Ernährungszustände und
es mußte als Todesursache ein plötzliches
Versagen der Herztätigkeit ange¬
nommen werden, da keine Zeichen von
Peritonitis gefunden wurden. Dreimal er¬
folgte der Tod schon einige Tage — einmal
allerdings erst 14 Tage *— nach der Ope¬
ration. Drei von diesen Fällen stammten
aus der Friedenszeit. Einer der Fälle
betraf eine chronisch gewordene Feld¬
dysenterie 1 ). Es scheint also die Colitis
ulcerosa dysenterischen und nichtdysente¬
rischen Ursprungs eine besondere Wi¬
derstandslosigkeit gegenüber dem
Acte der breiten Eröffnung zu besitzen.
Mit Rücksicht auf diese wenig ermun¬
ternden Erfahrungen möchte ich mich
deshalb bezüglich der Wahl der Operation
im Gegensätze zu früher jetzt doch zu¬
nächst mehr für die Appendicosto¬
mie als die weniger gefährliche Ope¬
ration entscheiden, trotzdem diese hin¬
sichtlich ihrer Wirkung a priori gegen¬
über der breiten Eröffnung des Coecums
zurücksteht und möchte die breite Er¬
öffnung erst später in Betracht ziehen.-
Ich halte es aber von Wert, daß gerade
die vorliegende Frage auch von an¬
deren Seiten diskutiert wird, da es
sich möglicherweise in meinen Erfahrun¬
gen um einen Zufall gehandelt hat. Von
anderer Seite finde ich nur bei de Quer¬
vain 2 ) einen ähnliche Gedankengang an
der Hand der Feststellungen von Mum-
mery (siehe später) entwickelt. Soweit
Erfahrungen aus dem deutschen Sprach¬
gebiete mitgeteilt sind, fand ich, daß
unter 34 operativ behandelten Fällen
aus der Zusammenstellung von Nehr-
korn 3 ) fünf im Anschlüsse an die Ope¬
ration gestorben sind, und zwar teils
an Erschöpfung, teils an Perforationsperi¬
tonitis, Blutung, Pneumonie oder innerer
Incarceration. Allerdings ist nicht zu er¬
sehen, ob dieser Exitus direkt im An¬
schluß an die Operation eintrat. Ferner
bemerkt Zweig 4 ) bei der Besprechung
von sieben durch Colostomie operierten
Fällen, daß drei Fälle gestorben sind, und
zwar je einer an Pneumonie, Ileus und an
unstillbaren erst nach der Operation auf¬
getretenen Diarrhöen. Er betrachtet in¬
folgedessen die Colostomie als einen
,,durchaus nicht unbedenklichen Eingriff,
*) Anmerkung: Ein weiterer gleichartiger Fall,
welcher den Schwiegersohn eines Kollegen betraf,
ist mir durch mündliche Mitteilung bekannt ge¬
worden.
2 ) de Quervain Erg. d. Chir. u. Orthop. 1912,
Bd. 4.
3 ) Nehrkorn, Mitt. Grenzgeb. 1913, Bd. 12.
4 ) Zweig, Wiener k. k. Gesellschaft der Ärzte
(Referat in W. kl. W. 1912, Nr. 19).
*) H. Strauß, B. kl. W. 1910, Nr. 28.
Dezember
Die Therapie der Gegenwart 1917.
411
der nur für diejenigen Fälle reserviert
werden soll, welche durch innere Behand¬
lung nicht gebessert werden können“.
Auch H. Schlesinger 1 ), der von zwei
colostomierten Fällen einen an postope¬
rativer Peritonitis verlor, nennt die Co-
lostomie ,,durchaus keine gefahrlose“
Operation.
Bezüglich der Schluß-Ergebnisse
der breiten Eröffnung des Coecum lehrt
eine Statistik von A. Schmidt 2 ), daß von
18 Operierten sechs Fälle geheilt, sechs
Fälle gebessert, zwei ungebessert und drei
gestorben sind, während von einem Falle
der Ausgang unbekannt blieb (achtmal
war ein Cöcalafter angelegt worden, und
zwar viermal mit günstigem Erfolge.)
Dies ergibt ein Verhältnis von zwölf gün¬
stigen und zu fünf ungünstigen Resul¬
taten. Vereinige ich mit dieser Statistik,
die mit wenigen Ausnahmen Fälle mit
breiter Eröffnung des Coecum umfaßt,
meine eigenen Erfahrungen soweit sie sich
auf Colostomie beziehungsweise Anus
praeternaturalis beziehen und Mitteilun¬
gen von Zweig (unter Ausschluß eines
Falles von Ileocöcaltuberkulose) Jolasse 3 )
und von Moszkowicz 4 ), so entfallen auf
40 Fälle 11) Heilungen und 11
Besserungen. Infast der Hälfte der
Fälle war also ein mangelhafter Er¬
folg oder ein Mißerfolg zu konsta¬
tieren. Diesem Ergebnis entspricht un¬
gefähr auch die Statistik von Nehrkorn.
Dieser sah unter 34 ,,operativ behandel¬
ten“ Fällen — die überwiegende Mehr¬
zahl dieser Fälle bezieht sich auf
Colostomien — 20mal Heilung, sechsmal
Besserung und dreimal blieb ein Erfolg
aus. Allerdings betont A. Schmidt, daß
bei dieser Statistik sechs Fälle, über deren
späteren Verlauf nichts zu ermitteln war,
in der Rubrik ,,Heilung“ eingereiht sind.
Auch in einer den Cöcalafter betreffenden
Statistik von Mummery — dieselbe ist
mir im Originale nicht zugänglich ge¬
wesen — finden sich nach de Quer¬
vain (l.c.) 22% Todesfälle nach Cöcal¬
after angegeben.
Was die Erfolge der Appendicosto-
mie betrifft, so fand Mummery 5 ) bei
x ) H. Schlesinger, Die Indikationen zu
chirurgischen Eingriffen bei inneren Erkrankungen.
2. Aufl. Jena 1910. Fischer.
2 ) A. Schmidt, 1. Homburger Tagung für
Verdauungs-und Stoffwechselkrankheiten 1914.
3 ) Jolasse, Veröffentlichungen der Hambur-
gische Staatskrankenhäuser 1912. Von den Fällen
von Jolasse ist FallV als im Endergebnis unüber¬
sichtlich nicht mitverwertet.
4 ) Moskowicz, Diskussion zu Zweig 1. c.
5 ) Mummery. Br. med. J. 1910, 1. Okt.
einer Zusammenstellung von 20 Fällen
13mal eine Heilung, dreimal eine Besse¬
rung, viermal keine Besserung. Von meinen
vier Fällen von Appendicostomie zeigten
nur zwei einen Dauererfolg. Von zwei
Fällen von Fuld 1 ) wurde einer geheilt,
einer gebessert. Auf 26 Fälle würden also
20 Heilungen oder Besserungen entfallen.
Allerdings blieb nach de Quervain nur
achtmal unter 18 Fällen von Mummery
ein Rezidiv aus. Dagegen trat unter
125’Fällen einer Statistik von Tuttle 2 ),
bei welchen wegen Amöbencolitis die Ap¬
pendicostomie ausgeführt worden war,
nur einmal im Anschluß an die Opera¬
tion ein Exitus auf, und zwar an Miliar¬
tuberkulose. Bei der Beurteilung dieser
Ergebnisse ist allerdings zu berücksich¬
tigen, daß die mit Appendicostomie be¬
handelten vielfach von vornherein leichter
waren als die Colostomierten. Das Ope¬
rationsrisiko an sich ist aber bei der
Appendicostomie sicher geringer. Trotz¬
dem wird man bei der Indikationsstel¬
lung der Operation nicht nach diesen Ge¬
sichtspunkten allein verfahren, so sehr
man auch in leichteren Fällen die Appen-
dipostomie bevorzugen wird. • Den Zeit¬
punkt für die Operation anzugeben, ist
leider im konkreten Falle sehr schwer
und hängt von der individuellen Beurtei¬
lung des einzelnen Falles ab. Sieht man
doch gar nicht allzu selten auch bei ganz
schweren Fällen auch noch nach Monaten
weitgehende Besserungen zum mindesten
eine Intermittenz der Erscheinungen
ohne Garantie auftreten.
B. Lokalbehandlung.
Was die Anwendung der Lokal¬
therapie betrifft, so habe ich mich mit
zunehmender Erfahrung immer mehr da¬
von überzeugt, daß sie in der Mehrzahl
der Fälle auch von chronisch gewordener
Dysenterie der inneren Behandlung nicht
überlegen ist. Langdauernde Bettruhe
mit zartejr Diät und Anwendung von
adstringierenden Medikamenten per os
scheinen mir nicht bloß für die akuten
Fälle — vergleiche hierüber meine Aus¬
führungen in dieser Zeitschrift im Jahre
1914 (Novemberheft) — , sondern auch
für die chronisch gewordenen Fälle von
grundsätzlicher Bedeutung. Meines Er¬
achtens wird die Bedeutung der Lokal¬
therapie an vielen Stellen auch zurzeit
noch zu hoch eingeschätzt. Jedenfalls
haben sich zahlreiche Fälle der chronisch-
x ) Fuld, B. kl. W. 1914, Nr. 46.
2 ) Tuttle, New York med. J. 1907, Mai.
52 *
412
Die Therapie der Gegenwart 1917.
, Dezember
diarrhöischen Form meiner Beobachtung
gegenüber der Lokaltherapie nicht nur
refraktär verhalten, sondern es mußte
in einer nicht geringen'Zahl dieser Fälle
die Lolcaltherapie sogar wegen der Emp¬
findlichkeit der Patienten eingeschränkt
oder gänzlich aufgegefeen werden. Das
war sogar bei Tanninkonzentrationen von
1 °/ 00 und bei Argentumkonzentrationen
von 1 / 5 °/ 00 wiederholt nötig. Speziell habe
ich wie verschiedene andere Autoren,
so z.B. Boas 1 ), Kauffmann 2 ) gesehen,
daß stark konzentrierte Mittel zuweilen
die Schleimabscheidung steigern, so daß
ich für die Lokalbehandlung immer mehr
zu einer geringeren Konzentration der be¬
nutzten Mittel übergegangen bin. Ganz
allgemein gewann ich den Eindruck, daß
die Lokaltherapie vorwiegend für
die auf das Rectum und allenfalls
auch den Anfangsteil der Flexur
begrenzten Erkrankungen Aussich¬
ten bietet. Dies nimmt nicht wunder,
wenn man bedenkt, daß bei Prozessen, die
weiter hinauf reichen, stets ein Wieder¬
aufflackern des Prozesses durch das von
oben herabfließende, bakterielle und che¬
mische Noxen enthaltende, Sekret erzeugt
wird. Aus diesem Grunde habe ich seit
einiger Zeit die Lokalbehandlung auf die
nach dem Ergebnisse der procto-sigmo-
skopischen Untersuchung vorwiegend im
Rectum und im Anfangsteil der Flexur
lokalisierten Formen beschränkt. Damit
will ich jedoch keineswegs sagen, daß ich
ein grundsätzlicher Gegner einer Klystier¬
behandlung bei allen Formen wäre, bei
welchen die Veränderungen über das
Rectum und die Flexur hinaufreichen 3 ).
In vielen Fällen dieser Art wirkt die Ent¬
fernung stagnierender Sekrete durch milde
Reinigungsklystiere (wie z. B. mit einem
Weinglas Kalkwasser auf 1 1 Wasser von
40° Celsius oder mit warmem Kamillen¬
tee) recht günstig. Da, wo solche Klystiere
aber Schmerzen erzeugten, habe ich auch
auf sie verzichtet. Ferner habe ich bei
adstringierenden Klystieren nach vor¬
herigem Reinigungsklystier bei Anwen-
1 ) Boas, Diagnostik und Therapie der Darm¬
krankheiten. Leipzig, Thieme. Seite 248.
2 ) Kauffmann, Verhandlungen des , War¬
schauer Kongresses 1916, Aussprache.
3 ) Anmerkung: Jüngst sah ich in einem Falle
von chronischer ulceröser Kolitis (Frau von
35 Jahren), welcher schon in sehr entkräftetem
Zustande auf meine Krankenabteilung kam, bei
der Sektion massenhafte kleine Ulcera im Colon
ascendens, transversum und descendens, während
der Prozeß in der Flexura sigmoidea und im Rec¬
tum durch die Behandlung gebessert war.
.düng von Tannin die Konzentration von
*4%, und bei Anwendung von Argentum
nitricum die Konzentration von 1 l2°loo nie“
überschritten und meist noch- geringere
Konzentrationen gewählt. Auch von der.
Jodoformbehandlung sei es in der von.
van der Scheer 1 ) geübten oder in der
neuerdings von Moszkowski 2 ) empfoh¬
lenen Form habe ich keine deutlichen
Erfolge beobachten können; trotzdem
ich die Jodoformbehandlung in der einen
oder anderen Form in mehr als einem
Dutzend von Fällen durchgeführt habe.
Dagegen habe ich bei den im Rectum
lokalisierten Prozessen — und die Zahl
dieser „Residual-Proctitiden“ ist nach
meinen Erfahrungen keine ganz geringe —
von kleinen Bleibeklystieren (von
50 bis 100 ccm) gern Gebrauch gemacht
und habe hierzu je nach der vorhandenen
Indikation Bolus alba, Tierkohle, Bolusal-
Tierkohle, Collargol (%%), Ichthyol
(%%), Gelatine (5%) mit oder ohne Zu¬
satz von Liquor ferri sesquichlorati (1 bis
2%) gewählt. Ferner habe ich nicht selten
auch die von A. Schmidt 3 ) und Anderen
empfohlenen Dermatol-Gummi arabicum-
Aufschwemmimg in der Form benutzt,
daß ich einen halben Teelöffel Dermatol
mit einem Eßlöffel Mucilago-Gummi-
arabici und vier Eßlöffel Wasser ver¬
mengen ließ. Bei starker Diarrhöeneigung
mit Tenesmus schienen mir Stärkemehl-
Opium-Klystiere (15 Tropfen Tct. Opii in
100 ccm Stärkemehlabkochung) den
Opiumsuppositorien überlegen zu sein.
Bei der Lokalisation des Testierenden
Krankheitsprozesses in den distalen Am¬
pullenteilen, dem „Collum“ ampullae, habe
ich zuweilen auch von der lokalen Appli¬
kation kleiner, das heißt etwa 2 ccm be¬
tragender, Mengen von stärker wirkenden
Medikamente, wie z. B. von Ichthyol 1:5
bis 1:2 mit oder ohne Zusatz von Anästhesin
(0,2) oder Extractum Belladonnae 0,03
oder von Protargol 2 bis 5% mit Zusatz
von Alypin (0,5%) mittels der Oidtmann-
schen Glycerinspritze Vorteile gesehen.
Auch in Form von „Riesensuppositorien“,
wie ich sie seinerzeit durch Unna 4 ) in
dieser Zeitschrift habe beschreiben lassen,
habe ich in Fällen der vorliegenden Art
oft adstringierende Medikamente verab¬
folgt. Ließ sich als Quelle der lästigen
x ) van der Scheer, zitiert nach Wegele,
Therapie der Magen-Darmkrankheiten. 4. Auf!.
Jena, Fischer.
2 ) Moszkowski (B. kl. W. 1916, Nr. 5).
3 ) A. Schmidt, Klinik der Darmkrankheiten.
Wiesbaden, J. F. Bergmann. S. 336.
4 ) Unna Ther. d. Gegenw. 1910. H. 6.
Dezember . Die Therapie der Gegenwart 1917. 413
Dauerbeschwerden eine hartnäckige Proc-
titis „sphincterica“ nachweisen, so war
oft eine Applikation der zuletzt genannten
Medikamente mittels der seinerzeit von
mir angegebenen „Sphincterenspritze“ 1 )
mit nur seitlich gelegenen Öffnungen
wirksam. In Fällen von Proctitis ampul-
laris beziehungsweise ,,Colli“ erwies sich
nicht selten eine Trockenbehandlung
der feuchten Behandlung überlegen. Gegen
die Trockenbehandlung kann man aller¬
dings mit Recht einwenden, daß dieselbe
eine besondere Einführung des Rectoskops
erforderlich macht, welche das Verfahren
für den Arzt und Patienten unbequem
macht. Infolgedessen habe ich neuerdings
für die im Rectum lokalisierten Prozesse
die Pulverbehandlung auf direktem Wege
unter Benutzung eines von mir kon¬
struierten „Rectalinsufflators“ 2 ) ange¬
wandt, welcher nicht nur den Patienten
weniger belästigt, als dies für das größere
Rectoskop zutriff, sondern auch von einem
halbwegs gebildeten und gut eingearbei¬
teten Pflegepersonal benutzt werden kann.
Dasselbe besteht aus einem kleinen Metall-
tubus mit Mandrin, einem Pulverbehälter und
einem Gebläse. Man führt den erwärmten gut
eingefetteten Tubus mit Mandrin ein, zieht den
letzteren zurück und fügt den Pulverbehälter ein.
Alsdann bläst man das Pulyer in der Weise ein,
daß man den Tubus allmählich von der Ampulle
gegen den Anus herauszieht. Zwei Stunden vor
der Applikation verabfolgt man ein Rcinigungs-
klvstier und direkt vor der Pulvereinblasung gibt
man 15 Tropfen Opiumtinktur.
Als Pulvermischungen haben sich mir
Dermatol oder Tannin mit Bolus oder
Talcum venetianum im Verhältnis 1:5
oder Tierkohle beziehungsweise Bolusal-
Tierkohle bewährt. Bei Blutungstendenz
habe ich Renoform (1:5) und da, wo eine
Anregung der Überhäutung notwendig
erschien, Pellidol mit Bolus alba (1:20)
benutzt. Bei Schmerzen wirkte ein ent¬
sprechender Zusatz von Anästhesin oder
von Orthoform oft günstig.
0 H. Strauß, Die Procto-Sigmoskopie. Leip¬
zig, Thieme. S. 41.
2 ) Derselbe wird von dem Medizin. Warenhaus
Berlin, Karlstraße 31, hergestellt.
C. Magen - und Dünndarmstörungen
als Objekte der Therapie. -
Ebenso wie die -Frage der Lökalbe-
handlung von einer genauen Lokalunter¬
suchung gefördert werden kann, ver¬
mag die letztere auch für die Art der 'Er¬
nährungsbehandlung von Bedeutung
zu werden. W. Schlesinger 1 ) und Por-
ges 2 ) haben seinerzeit darauf hingewiesen,
daß Rekonvaleszenten von Dysenterie in
ihrem Stuhle häufig Reste von unver¬
dauten Nahrungsmitteln erkennen lassen
und daß eine Anacidität des Magen¬
saftes bei chronisch gewordenen Dysen¬
terien nicht selten sei. Roubitschek
und Läufer 3 ) haben Achylia gasti'ica oder
ausgeprägte Subacidität in etwa der
Hälfte der Fälle gefunden und Schrö¬
der 4 ) hat neuerdings unter 27 Fällen
von chronisch gewordener Ruhr 18 mal
Achylie feststellen können. Wie ich seiner¬
zeit an anderer Stelle mitgeteilt habe,
habe ich selbst 5 ) im ersten Kriegsjahre
unter zwölf chronisch gewordenen Fällen
achtmal Achylie beobachten können und
habe damals die Auffassung geäußert,
daß eine primäre sekretorische Insuffizienz
des Magens ein Chronischwerden der
Dysenterie sowie von dysenterieähnlichen
Darmerkrankungen begünstigt. In der
Zwischenzeit bin ich’ in die. Lage ge¬
kommen, über ein weit größeres Beob-
achtungsmateriaL von chronisch gewor¬
denen Dysenterien zu verfügen und von
einem großen Teil der betreffenden Fälle
Befunde über die Sekretionsverhältnisse
des Magens und über die Dünndarm-
Verdauung (mittels Probe-Darmdiät) zu
gewinnen. Bei den betreffenden Unter¬
suchungen, die an 82 Fällen von chroni¬
scher Dysenterie ausgeführt sind, hat sich
jedoch nicht das gleiche Resultat wie bei den
früheren Untersuchungen ergeben. Denn
es konnte unter diesen 82 Fällen nur
neunmal Achylie festgestellt werden
nnd 15mal lagen die Werte'für die Gesamt¬
acidität sogar über 65. Die Achylie ist
also bei' den chronischen Fällen an¬
scheinend doch nicht so häufig als
es bis nach den bisherigen Unter¬
suchungen den Eindruck machte.
Dasselbe gilt auch für ausgeprägte Herab¬
setzungen der peptischen Funktion des
Dünndarmes. So war eine saure in-
4 ) Schlesinger (W. m. W. 1915, Nr. 10).
2 ) Porges (W. m. W. 1915, Nr. 17).
’ 3 ) Roubitschek und Läufer (Ther. Mh. 1915,
Nr. 6).
4 ) Schröder (D. m. W. 1917, Nr. 37).
5 ) H. Strauß (Zschr. f. ärztl. Fortbildg. 1916,
Nr. 1).
414
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Dezember
testinale Gärungsdyspepsie (über 2 cm
Gas im Röhrchen) nur viermal, das heißt
in etwa 5 % der Fälle zu beobachten. Häu¬
figer war dagegen der Befund von jodo-
philen Sproßpilzen, die 32mal, das heißt
in über einem Drittel der Fälle zu finden
waren. Dem entsprach auch die Beob¬
achtung, daß die Reaktion der Stühle
sehr häufig sauer war. Trifft man doch die
jodophilen Sproßpilze weit seltener bei
neutraler als bei saurer Reaktion der
Faeces. Eine geringe Vermehrung der
Stärkereste und der Fetttröpfchen im
Stuhle war gleichfalls in einer großen
Zahl von Fällen zu konstatieren. Viel
seltener war dagegen eine geringgradige
Vermehrung der Muskelfasern im Stuhle
zu beobachten. Da aber die Übergänge
zwischen „geringer Vermehrung“ und
„normalem Befunde“ fließende sind, so
möchte ich auf genaue Zahlenangaben ver¬
zichten und mich auf die Bemerkung be¬
schränken, daß gröbere Störungen auf
diesen Gebieten selten waren. Aus diesen
Befunden darf man jedenfalls schließen-,
daß in der überwiegenden Mehrzahl
der Fälle von chronischer. Dysen¬
terie die Funktion des Dünndar¬
mes nicht oder nur in geringem
Grade gestört ist. Nach dem Berichte
von Kauffmann (1. c.) scheinen Dünn¬
darmstörungen in der Hallenser Klinik
allerdings häufiger beobachtet worden
zu ' sein. Eine spezielle Rücksicht¬
nahme auf eine Magen- oder Dünn¬
darmstörung ist also nur in denjenigen
Fällen notwendig, in welchen das Vor¬
handensein einer Störung durch ad hoc
angestellte Untersuchung nach gewiesen
ist. Für den Rest der Fälle genügt die
Durchführung einer zarten ganz allge¬
mein auf Darmschonung berechneten
Diät, auf die allerdings stets besonderer
Wert zu legen ist.
Aus der I. med. Abteilung des städtischen Krankenhauses Moabit in Berlin
(Geh. Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer).
Plethysmographische Untersuchungen bei Tropfenherzen.
Von Lasar Dünner.
Die Klagen vieler jugendlicher, in
der Entwicklung stehender Individuen
über schnelle Ermüdbarkeit, Herzstiche,
Atemnot usw. nach körperlichen An¬
strengungen finden durch das von F.
Kraus zuerst beschriebene Tropfenherz 1 )
ihre Erklärung. Man versteht darunter
eine abnorme Kleinheit des Herzens, die
besonders bei der Röntgenuntersuchung
auffällt. Das Herz ist schmal und hängt
wie ein Tropfen zu beiden Seiten der
Wirbelsäule im Thorax; die linke Herz¬
silhouette überragt entgegen der Norm
die Wirbelsäule nur wenig. Die Aorta ist
in diesen Fällen häufig sehr schmal.
Man faßt das Tropfenherz als Teilerschei¬
nung einer konstitutionellen Schwäche
beziehungsweise Minderwertigkeit auf.
Die Träger haben einen paralytischen
Habitus. Dementsprechend handelt es
sich nicht etwa um Atrophie, sondern
um Hypoplasie des Cor, wie bereits
vor Kraus Pathologen betont haben.
Die Erfahrung hat nun gelehrt, daß
der Träger eines Tropfenherzens ent¬
weder spontan oder durch syste¬
matische Trainierung leistungsfähig wer¬
den kann. Es wächst sich also bei ihm
das Herz aus beziehungsweise es hyper-
trophiert. Fehlt aber jede irgendwie grö-
a ) Literatur siehe bei Kraus, D. m.W. 1917,
Nr. 37.
ßere körperliche Betätigung, so kann das
Herz klein bleiben. Freilich haben der¬
artige Menschen keinerlei Beschwerden,
so lange sie ruhig leben. Besonders
trifft das für Leute mit sitzender Be¬
schäftigung zu, die beruflich keine Stra¬
pazen zu leisten haben. Bei ihnen be¬
steht für das Herz gar nicht die
Notwendigkeit, größer und kräftiger
zu werden. So kommt es denn, daß bei
diesen Individuen mit paralytischem Habi¬
tus sich das Tropfenherz aus der Puber¬
tätszeit in das spätere Alter erhält. Es
ist nun ohne weiteres verständlich, daß
derartige Menschen mit Tropfenherz
schnell versagen, wenn sie entgegen ihrer
bisherigen Lebensgewohnheit sich körper¬
lich betätigen sollen. Die Einberufungen
aller Stände in den verschiedenen Alters¬
klassen, die jetzt erfolgen, geben öfter
Gelegenheit zu Beobachtungen an Sol¬
daten mit Tropfenherzen. In den Publi¬
kationen über herzkranke Soldaten hat
man verschiedentlich das Tropfenherz
abgehandelt. Man ist zu der Überzeugung
gekommen, daß die Träger keineswegs als
Neurastheniker oder Simulanten anzu¬
sehen sind, sondern daß sie tatsächlich
körperlich minderwertig und schweren
Strapazen nicht ohne weiteres gewachsen
sind. Zu dieser Anschauung wird man
wohl vornehmlich durch die anatomischen
Dezember
Die Therapie der Gegenwart 1917,
415
Verhältnisse veranlaßt, indem man sich
vorstellt, daß ein kleines Herz nicht
dasselbe zu leisten vermag wie ein
normal großes. Sicherlich spielen aber
hier quantitative Unterschiede eine Rolle.
Das geht .ja schon daraus hervor, daß
viele Tropfenherzen, die systematisch ge¬
übt werden, vollwertig werden können.
Es kommt für uns vor allem darauf an,
über das Anatomische hinaus die Funk¬
tion des Tropfenherzens objektiv zu
messen. Hierzu dürfte die Plethysmo¬
graphie nach Weber besonders berufen
sein. Weber selbst hat in Nr. 1 dieser
Zeitschrift im vergangenen Jahre die
Prinzipien seiner Methode klargelegt.
Nachdem ich mich von der Brauchbar¬
keit der Plethysmographie zur Funktions¬
prüfung des Herzens überzeugt hatte, 1 )
wandte ich die Methode auch bei Tropfen¬
herzen an. Ich fand dazu Gelegenheit
an Patienten des Krankenhauses Moabit,
besonders aber an vielen Rekruten, die
Herrn Geheimrat Klemperer zur fach¬
ärztlichen Begutachtung zugesandt wur¬
den. Die untersuchten Rekruten waren
vorwiegend jüngere Männer, daneben
aber auch ältere Personen, die man zum
Teil früher wegen allgemeiner Körper¬
schwäche als nichttauglich befunden
hatte. Unter ihnen findet man nicht
selten Leute mit Tropfenherzen, die jetzt
als Soldaten zum erstenmal in ihrem
Leben größere körperliche Anstrengungen
zu bewältigen haben, die für sie bisher
nicht in Betracht kamen und an die sie j
sich freiwillig durch Turnen und Sport
nicht gewöhnt haben.
T. Als Ausdruck der Unzulänglichkeit
der Herzfunktion findet sich bei Tropfen¬
herzen eine umgekehrte Kurve, das
heißt also die peripheren Gefäße erwei¬
tern sich nicht wie normalerweise bei
Ausführung einer körperlichen Arbeit,
sondern sie kontrahieren sich. Die Kurve j
geht unter die Horizontale. Solche um¬
gekehrte Kurven finden sich, wie ich
an anderer Stelle ausgeführt habe, bei
stark geschwächten Herzen. Ich persön¬
lich sah die umgekehrte Kurve beim
Tropfenherz nur einmal, bei einem
20jährigen Manne, dessen Kurve die
Fig. 1 darstellt (siehe Figur). Weber hat
diese umgekehrte Kurve bei der Mehrzahl
seiner Fälle gefunden. Wenn bei meinem
Material die träge Kurve (siehe später)
vorherrschend ist, so sehe ich darin keinen
prinzipiellen Widerspruch zu den Ergeb-
x ) Dünner, B. kl. W. 1917 Nr. 24 und Zschr.
f. klin. M. Band 85, Heft 1 u. 2.
nissen Webers, sondern vielmehr eine
Ergänzung, die die schon bekannte Tat¬
sache bestätigt, daß nicht alle Tropfen-
--
Fig. 1. *) Armkurve. **) Atmungskurve.
herzen in ihrer Funktion gleichmäßig
geschädigt sind, sondern daß es hier
Übergänge von schlechter Funktion bis
zur (erworbenen) Funktionstüchtigkeit gibt.
2. Bei einer zweiten Gruppe ergibt die
Plethysmographie eine Kurve mit trä¬
gem Abfall. Dieser Kurventyp ist nach
unseren bisherigen Erfahrungen charakte¬
ristisch entweder für eine Schwäche des
rechten Ventrikels oder für Hypertrophie
des linken Ventrikels infolge von Klappen¬
fehlern, bei denen ja eine Rückstauung
Fig. 2. *) Armkurve. **) Atmungskurve.
33 jäluiget* Soldat, der aus dem Felde wegen
Herzbeschwerden zurückgeschickt wird. Nach
Abschluß der Fußbewegungen (von X bis I) sinkt
die Kurve langsam zur Horizontalen zurück.
zum rechten Ventrikel besteht. Letzten
Endes wird also die träge Kurve bei dieser
Art von Hypertrophie erklärt durch eine
Insuffizienz der rechten Kammer, die
nach Abschluß der Arbeit die große Menge
Blut, die ihr aus der Peripherie zufließt,
nicht so schnell weiter zu transportieren
vermag, deshalb sinkt die Kurve nur lang¬
sam. (Fig. 2.) Für die träge Kurve beim
Tropfenherz trifft nach meiner Mei-
416
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Dezember
nung als Erklärung die Minderwertig¬
keit des rechten Ventrikels zu. Zu dieser
Anschauung veranlaßt mich zunächst die
schon physiologischerweise bestehende
Ünterlegenheit ' der Muskulatur der
rechten Kammer gegenüber der des
linken Ventrikels,, die beim Tropfenherz
sicherlich noch stärker ausgesprochen ist.
Dazu kommt, daß der Rauminhalt der
rechten Kammer beim Tropfenherz
kleiner ist. Es muß andererseits beim
Tropfenherz, das eine träge Kurve hat,
eine relativ gute Beschaffenheit des
linken Ventrikels bestehen, denn sonst
könnte nicht der Anstieg der Kurve beim
Ausführen der Arbeit möglich sein. Wäre
der linke Herzabschnitf auch insuffizient,
so würde die umgekehrte Kurve resul¬
tieren; und wenn eine reine Hypertrophie
der linken Kammer*— ohne Klappen¬
fehler vorläge, so erwarten wir eine nach¬
träglich ansteigende Kurve, auf die wir
als Kurventyp bei Tropfenherz noch
zurückkommen werden.
Alles in allem fasse ich die träge Kurve
bei Tropfenherz, sofern es nicht durch
Klappenfehler kompliziert ist, als Aus¬
druck einer rechtsseitigen Schwäche auf.
Die Beschwerden der Leute finden durch
diese Analyse der Plethysmographiekurve
wohl auch ihre Erklärung; denn es ist
klar, daß das Überangebot von Blut, das
der rechten Kammer zugemutet wird,
eine erhöhte Spannung und Druck ausübt,
die sich in Herzstichen und Atemnot doku¬
mentieren. Diese Symptome werden
selbstverständlich noch intensiver werden,
wenn das Herz infolge langdauernder
Anstrengung ermüdet wird. In diesem
Sinne sprechen einige Fälle, bei denen ich
bei der ersten Untersuchung eine nur
wenig träge Kurve fand; nachdem der
betreffende Kranke durch Armstoßen er¬
müdet war, fiel die Kurve vollkommen
träge aus.
In diesem Zusammenhänge möchte ich
einen Fall von Tropfenherz erwähnen,
den ich bei einem 19jährigen jungen
Manne (Zivilist) mit leichten Basedow¬
symptomen fand, um derentwillen er das
Krankenhaus aufsuchte. Klinisch sowohl
wie röntgenologisch konnte das Tropfen¬
herz festgestellt werden. Auch hier war
der Abfall der plethysmographischen
Kurve träge. Die Kurve fiel nach einem
anderthalbstündigen Spaziergange, nach
dem der Patient über Herzstiche klagte,
noch wesentlich langsamer zur Horizon¬
talen zurück. Ich muß es vorläufig unent¬
schieden lassen, ob bei diesem Falle der
Basedow an der Gestaltung der Kurve
beigetragen hat; denn wir wissen vorläufig
noch nichts Genaueres über die Plethys¬
mographie bei Basedow.
3. Es kommen bei Tropfenherz Kurven
mit nachträglichem Anstieg vor, das
heißt die Kurve geht nicht sofort nach
Sistieren der körperlichen Arbeit zur Aus¬
gangslinie zurück, sondern steigt noch
eine Weile an, um dann erst umzukehren.
Sie findet sich bei ausgesprochener
Hypertrophie des linken Ventrikels. Tat¬
sächlich konnte durch ein Röntgenbild in
solchen Fällen—Web er verfügt über der¬
artige Beobachtungen, während mir bis¬
her die nachträglich ansteigende Kurve
bei Tropfenherzen noch nicht begegnet
ist —ein hypertrophischer linker Ventrikel
festgestellt werden. Er weist daraufhin,
daß diese Hypertrophie einen günstigen
Vorgang darstellt, durch den das Herz be¬
sonders leistungsfähig wird. Allem An¬
scheine nach ist in dem von W e b e r beschrie¬
benen Falle die Hypertrophie und Er¬
starkung auf den linken Herzabschnitt
allein beschränkt geblieben oder die rechte
Kammer hat zum mindesten mit der
linken nicht gleichen Schritt gehalten,
da die beigegebene Kurve einen trägen
Abfall zeigt, der nach meinen obigen Aus¬
führungen für eine Insuffizienz der rechten
Kammer spricht. Vermutlich entwickelt
sich diese Hypertrophie besonders bei
Leuten, die ihr Herz durch Sport zu trai¬
nieren sich bemühen. So günstig an und
für sich eine Kräftigung des linken Ven¬
trikels für das Herz ist, so darf man an¬
derseits nicht außer acht lassen, wie sich
der rechte Ventrikel dabei verhält. Ist
auch er imstande, zu hypertrophieren, so
ist das für den Körper und die Blutver¬
teilung vorteilhaft. Bleibt er aber zurück,
so werden die Stauungserscheinungen in
ihm noch stärker werden, weil durch den
hypertrophischen linken Ventrikel ja noch
weit mehr Blut während der Arbeit in die
Peripherie geworfen wird als durch den
nicht hypertrophierten. In dieser Be¬
ziehung müssen wir noch weitere Erfah¬
rungen sammeln.
4. Schließlich konstatierte ich bei
Tropfenherz eine normale Kurve, die
sowohl im ausgeruhten Zustande der be¬
treffenden Person wie auch nach Ermü¬
dung eintrat. Solche Fälle sind freilich
selten. Um das Zustandekommen der
normalen Kurve zu verstehen, muß man
annehmen, daß trotz der Kleinheit des
Herzens die Muskulatur kräftig genug ist,
um eine physiologische Blutverteilung zu
Dezember
Die Therapie der Gegenwart 1917.
417
bewerkstelligen. Diese Herzen sind also
nicht minderwertig. So hatte eine junge
Arbeiterin, bei der ich eine normale Kurve
aufnahm, keine Beschwerden. Das
Tropfenherz wurde bei ihr als Neben¬
befund bei einer Röntgenaufnahme wegen
Fig. 3. *) Armkurve. **) Atmungskurve.
Rippenquetschung festgestellt. (Fig. 3.)
Ein zweiter Fall, den ich plethysmogra¬
phisch prüfte, betraf einen jungen, schwer
neurasthenischen Leutnant.
Man muß aber mit dem definitiven
Urteil ,,normale Kurve“ bei Tropfenherz
vorsichtig sein; es ist erforderlich, daß
man den Patienten im ausgeruhten Zu¬
stand und nach dosierter Arbeit (Arm¬
stoßen bis zur Ermüdung) untersucht,
denn es kann Vorkommen, daß man zu¬
erst eine normale und dann eine träge
Kurve erhält. Im ausgeruhten Zustand
findet man dann eine Kurve, die der
Fig. 3 ähnelt und nach Armstoßen eine
solche, die der Fig. 2 entspricht. Nach
den früher gemachten Ausführungen ist
ein solches Verhalten durchaus verständ¬
lich, denn ich habe einleitend darauf
hingewiesen, daß viele Träger von Trop¬
fenherz bei gewöhnlicher, nicht sonder¬
lich anstrengender Tätigkeit sich wohl¬
fühlen und erst Beschwerden bekommen,
wenn ihnen größere körperliche Aufgaben
gestellt werden.
Zusammenfassung: Man hat bisher
vielfach den Standpunkt vertreten, daß
das Tropfenherz — als Symptom von
konstitutioneller Schwäche — eine kör¬
perliche Minderwertigkeit für den Träger
bedeutet. Meine Untersuchungen haben
nun gelehrt, daß das für einen großen Teil
der Fälle tatsächlich zutrifft. Die ple¬
thysmographischen Untersuchungen haben
aber auch gezeigt, daß die Insuffizienz
des Herzens nicht bei allen den gleichen
Grad besitzt; neben Menschen mit um¬
gekehrter Kurve treffen wir auch solche
mit träger Kurve, aus der man nur eine
verminderte Kraft des Herzens schließen
kann. Außerdem gibt es Tropfenherzen,
die als funktionstüchtig zu betrachten
sind. Und schließlich ist ein Tropfenherz
imstande, zu hypertrophieren, so daß es
für den Betreffenden ebenso leistungs¬
fähig ist wie ein normal großes Cor. Diese
letzte Erscheinung ist schon bekannt;
Kraus hat immer betont, daß einTrop-
fenherz sich auswachsen kann.
Unter meinen Fällen waren auch ein¬
zelne Personen, die die bekannten Klagen
vorbrachten und die zwar kein aus¬
gesprochenes Tropfenherz, aber auch kein
normal großes Herz hatten. Bei ihnen
ergab die plethysmographische Funktions¬
prüfung eine träge Kurve. Dieser Befund
ist an sich nicht nicht verwunderlich.
Jedenfalls zeigen diese Beobachtungen,
daß zwischen den extremen Tropfen :> und
normal figurierten Herzen fließende Über¬
gänge bestehen und daß für die Beurtei¬
lung der Leistungsfähigkeit eines kleinen
Herzens eine Funktionsbestimmung er¬
forderlich ist.
Es wäre nun für unsere Anschau¬
ung von Bedeutung, wenn man jugend¬
liche Individuen mit Tropfenherz im Ver¬
laufe längerer Zeit plethysmographisch
kontrollieren und den Einfluß des Trai-
nierens auf die plethysmographische Kurve
verfolgen könnte. Auf die Weise wird
man dann feststellen: 1. welche Anstren¬
gungen man diesen Individuen, ohne
ihnen zu schaden, zumuten darf, und
2. ob wirklich die langsame Gewöhnung
an körperliche Arbeit eine Kräftigung
des Herzens bewirkt, wie wir bisher an¬
genommen haben. Daß diese zweite
Möglichkeit besteht, zeigen Leute mit
Tropfenherz, die nach einer gewissen Zeit
des Trainierens keine wesentlichen Kla¬
gen mehr Vorbringen. Man wußte bisher
nicht, ob es sich dabei um eine Gewöhnung
an die Strapazen handelt, bei der dieHerz-
muskulatur unverändert bleibt, oder ob
das Myokard durch die Übung erst voll¬
wertig wird. Die gewiß nicht kleine Zahl
von jungen Leuten mit Tropfenherz, die
jetzt zum Militär eingezogen werden,
bietet Gelegenheit genug, diese Aufgabe,
die militärisch und für die Friedenspraxis
wichtig ist, zu lösen.
53
418
Die Therapie der - Gegenwart“ 1917.
Dezember
Was die militärische Verwendbar¬
keit der Soldaten mitTropfenherz betrifft,
so richten wir unser Urteil nach dem Aus¬
fall der plethysmographischen Prüfung.
Leute mit normaler oder nachträglich an¬
steigender Kurve sind als k. v. anzusehen.
Bei träger Kurve und noch viel mehr bei
umgekehrter. Kurve empfiehlt sich nach
anfänglicher Schonung und Rücksicht¬
nahme beim Exerzieren und bei Mär^,
sehen eine allmählich immer mehr sich
steigernde Gewöhnung an den Dienst,
durch die man eine Erstarkung des Her¬
zens erhoffen kann.
Aus dem Städtischen Krankenhaus Moabit (Abteilung des Herrn Heheimrat Klemperer).
Hömorrhagische Diathese (essentielle Thrombopenie)
durch Milzexstirpation geheilt.
Von Dr. Elisabeth Benecke, Assistenzärztin.
Als bekannt voraussetzen möchte ich
die 1915 in der Berliner klinischen
Wochenschrift erschienenen. Publikatio¬
nen von Frank über „essentielle Throm¬
bopenie“ und „Aleukie“, mit welchen
Namen er verschiedene Grade des Morbus
Werlhofii bezeichnet, ebenso möchte ich
erinnern an meine Publikation in der dies¬
jährigen Januarnummer der Therapie der
Gegenwart über schwere Anämien mit
hämorrhagischen Diathesen, in welcher
an der Hand von drei Fällen die von
Frank in seinen oben zitierten Arbeiten
bewiesenen Theorien über die Bedeutung
der Blutplättchen eine weitere Stütze
finden. — Frank trennt die essentielle
von der sekundären Purpura, er findet
in einer Reihe von Fällen der essentiellen
Purpura als Ursache der Krankheits¬
erscheinungen die herabgesetzte Plätt¬
chenzahl. Er unterscheidet leichtere und
schwerverlaufende Purpura, akut und
chronisch, letztere mit Remissionen ver¬
laufende Fälle. Bei den leichteren ist die
Zahl der Plättchen nur erheblich ver¬
mindert, bei den chronischen intermittie¬
renden Formen steigt nach Ablauf der
Attacke die Menge der Blutplättchen
wieder an, bleibt aber meist weit unter
der Norm (300 000 bis 350 000). In den
anfallfreien Zeiten enthüllt die weiter¬
bestehende Minderzahl der Plättchen nur
zu deutlich die Scheingenesung. Viele
der akut verlaufenden Fälle sind höchst¬
wahrscheinlich eine nur einmal beob¬
achtete Attacke im Verlaufe der chroni¬
schen Krankheit, in der Anamnese solcher
Fälle wird viel zu wenig auf frühere Nei¬
gung zu Kontusionsblutungen, Nasen¬
bluten, übermäßigen Menstruations¬
blutungen und dergleichen gefahndet.
Neben gleich zu Anfang schwer auftreten¬
den Attacken können andererseits die
Anfälle auch milder verlaufen, so daß der
Patient Jahr für Jahr einen neuen Anfall
erlebt, ohne wesentlich geschwächt zu sein.
Doch läßt sich nie Vorhersagen, ob es nicht
doch einmal bei einem dieser Anfälle zu
heftigsten schwer anämisierenden Blutun¬
genkommt. Nach Frankscheinen die Fälle
von kontinuierlicher Purpura von besonders
heftigenBlutverlusten verschont zu bleiben.
Daß die Thrombocyten für die Ge¬
rinnung des Blutes, für die Thromben¬
bildung von ausschlaggebender Bedeu¬
tung sind, steht fest. Eine wichtige Frage
erhebt sich in bezug auf die Ursache des
Schwindens der Plättchen. Frank glaubt,
daß es sich dabei um eine Schädigung des
Knochenmarks handle, durch welche
Knochenmarkszellelemente weniger ge¬
bildet werden. Da nun die Plättchen den
Megakaryocyten des Knochenmarks ent¬
stammen, so ist ihre Spärlichkeit zu er¬
klären dadurch, daß die Knochenmarks¬
riesenzellen am Schwunde der Zellelemente
teilnehmen oder daß sie durch die Wu¬
cherung unreifer Zellen' (Myelo- und
Lymphoblasten) verdrängt werden be¬
ziehungsweise sich aus den Stammzellen
nicht mehr differenzieren. Für die von
Frank als Aleukie bezeichnete schwerste
Form der Purpura haben wir durch die
Sektion unserer Fälle Franks Erklärung
bestätigt gefunden. Frank selbst aber
scheint zu zweifeln, daß dies die einzige
Möglichkeit des Thrombocytenschwundes
sei und sagt: „Viel schwieriger läßt sich
eine Vorstellung davon gewinnen, in wel¬
cher Weise die Megakaryocyten bei der
kontinuierlichen Purpura beteiligt
sind. Das morphologische Blutbild ist
normal, und es weist sonst nichts auf eine
gröbere Erkrankung der blutbereitenden
Organe hin. Entweder findet also eine
mangelhafte Bildung nur dieser Zellen im
Knochenmarke statt, oder die Abschnü¬
rung der Blutplättchen unterbleibt. Auch
der Gedanke, daß es sich um rapide
Zerstörung der Plättchen im Orga¬
nismus handelt, ist nicht ganz von der
Hand zu weisen.“
Dezember
Die Therapie der Gegenwart 1917.
419
Eppinger hatte durch histologische
Untersuchungen das Pulpagewebe der
Milz als Untergangs- und Zerstörungs¬
stelle der Erythrocyten bei perniziöser
Anämie erkannt und schlug daher 1913
dieJVlilzexstirpationbei dieser Erkrankung
vor. Dann konnten Klemperer und
Hirschfeld in demselben Jahre (Ther.
d. Gegenw.) zeigen, daß nach Milz¬
exstirpation eine Überschwemmung des
Blutes mit kernhaltigen roten Blutkörper¬
chen und solchen mit granulaartigen Kern¬
resten, sogenannten Jollykörpern, ja, so¬
gar eine Polycytämie auftritt. Auf eine
Vermehrung der Plättchen ist dabei nicht
hingewiesen, standen sie doch damals
noch nicht im Vordergründe des hämato-
logischen Interesses. 1916 folgte Kaz-
nelson mit seiner Publikation in der
W. kl. W. über das ,,Verschwinden der
hämorrhagischen Diathese bei einem Falle
von essentieller Thrombopenie nach Milz¬
exstirpation“. Am 29. Juni 1916 wurde eine
Frau mit schwerster Epistaxis in die Klinik
gebracht. Zahlreiche Suffusionen und
petechiale Blutungen bedeckten die Haut.
Die Frau hatte jahrelang an starkem
Nasenbluten, seit ihjem 15. Jahre auch
an starken Menstruationsblutungen ge¬
litten. Im 15. Lebensjahre hatte sie einen
Anfall stärkster Genital-, Nasen-, Zahn¬
fleisch- und Hautblutungen. Seit 1910
nach einer Entbindung stets heftigste
Menstruationsblutungen, später wieder
eine Attacke heftigster Hämorrhagien wie
auch jetzt bei der Aufnahme in die Klinik.
Neben allen Erscheinungen schwerer Anä¬
mie, die im Laufe der nächsten Tage
noch Zunahmen, fanden sich im ccm
Blut nur 200 Plättchen, fast aus¬
schließlich Riesenformen. Die Blut¬
gerinnungszeit war normal, jedoch fehlt
die Retraction des* Blutkuchens als Zei¬
chen der fehlenden Plättchen. Eine
einzige pathologische Organveränderung
ergibt die genauere Untersuchung der
Patientin, den Milztumor. Da die hämo¬
lytische Funktion der Milz anatomisch
bewiesen ist, so glaubte Kaznelson die
Thrombopenie auf eine abnorm starke
Thrombolyse in der Milz zurückführen zu
dürfen, um so mehr, als das Vorhanden¬
sein der Riesenplättchen für eine Über¬
produktion der Plättchen sprach. Der
Milztumor der essentiellen Thrombopenie
ist nach Kaznelsonin Analogie zu stellen
mit dem Milztumor der hämolytischen
Anämie, und es ist anzunehmen, daß es
sich in diesem Fall um splenogene throm-
bolytische Purpura handelte. Die Milz¬
exstirpation wurde ausgeführt. Am zwei¬
ten Tage nach der Operation fiel beim
Einstich in die Fingerbeere auf, daß nur
schwer ein einziger Blutstropfen zu er¬
halten war, während früher weit mehr als
genug Blut kam. Die Zahl der Thrombo-
cyten war von 300 vor der Operation auf
weit mehr als 1 / 2 Million pro Kubikmilli¬
meter gestiegen. Die Neigung zu Blu¬
tungen war vollkommen verschwunden,
14 Tage nach der Operation hatte die
Frau keine Blutflecken mehr auf der Haut
und nach vier Wochen bot sie immer noch
das Bild völliger Genesung. — Im Milz¬
ausstriche fanden sich reichlich Blutplätt¬
chen neben Erythrocytentrümmern. —
Im folgenden berichte ich über einen
neuen Fall von schwerer Anämie durch
hämorrhagische Diathese, welche ebenfalls
durch Milzexstirpation geheilt worden ist.
Schon in meiner Publikation im Januar
habe ich erwähnt, daß wir bei dem einen
unserer Patienten jdiie Milzexstirpation in
. Erwägung gezogen hatten, und daß wir
nur deshalb davon Abstand genommen
haben, weil unter Solarsonbehandlung
eine wesentliche Besserung zu beobachten
war.
Der neue Fall betrifft eine Patientin,. die be¬
reits schon einmal im Sommer 1914 in unserem
Krankenhause behandelt worden war. Sie wollte
damals wegen starker, lange anhaltender Men¬
struationsblutungen den Arzt aufsuchen, brach
auf der Straße ohnmächtig zusammen und wurde
auf die chirurgische Abteilung unseres Kranken¬
hauses gebracht. Da sie vaginal blutete, kolla¬
biert war und in ihrer Aufregung dem sie aus¬
fragenden Arzt irrtümlich angab, die Regel sei
vorher eine Zeitlang ausgeblieben, da ferner die
Punktion des Douglas Blut ergab, wurde wegen
Verdachts auf Extrauteringravidität laparoto-
miert. Es fand sich aber weder Bauchschwanger¬
schaft noch innere Blutung. Die Heilung verlief
ungestört, und nach drei Wochen wurde Patientin
zur Behandlung ihrer Anämie auf die innere
Station verlegt. Sie erschien damals — als ein
Fall von sekundärer Anämie und wurde mit
Eisenelarson behandelt; ihr Hämoglobingehalt
besserte sich von 35% auf 50% innerhalb vier
Wochen. Die Patientin nahm an Gewicht 4 kg
zu und wurde auf ihren eigenen Wunsch ge¬
bessert entlassen.
Am 28. März 1917 wurde dieselbe Luise K-,
nunmehr 20 Jahre alt, wieder auf die chirurgische
Abteilung unseres Krankenhauses aufgenommen
wegen starker Menstruationsblutungen. Sie gab
an, aus demselben Grund in der Zwischenzeit
bereits noch dreimal mehrere Wochen lang in
anderen Krankenhäusern gelegen zu haben. Sie
war extrem blaß. Außer einer Schwellung beider
Adnexe und einem kleinen Uterus fand sich nichts
fesonderes an den Genitalien. Aus diesem Be-
Bunde waren die starken Blutungen nicht zu er¬
klären. Die Patientin wurde diesmal ohne wei¬
teres auf die innere Abteilung verlegt. Bei der
Untersuchung fanden wir neben allen Zeichen
schwerer Anämie sehr ausgedehnte blauviolette
Flecke an beiden Beinen; am Herzen das übliche
53*
420
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Dezember
anämische, systolische Geräusch. Die Knochen
waren nicht druckschmerzhaft. Leber und Milz
waren nicht palpabel.. Patientin gab an, wieder¬
holt sehr starke Menstruatinnsblutungen gehabt
zu haben, die sie völlig erschöpften, häufig auch
noch an Nasenbluten gelitten zu haben. Ihre
jetzige Menstruation bestand seit dem 15. März,
also bereits volle 13 Tage, und hielt noch drei
Tage an. Der Blutstatus ergab 30% Hämo¬
globin nach Sahli, 2 104:100 Erythrocyten,
3200 Leukocyten, 47 891 Plättchen im Kubik¬
millimeter. Patientin wurde zunächst mit Solar-
soninjektionen behandelt, da wir mit dieser Medi¬
kation in unserem letzten Fall ein so gutes
Resultat erzielt hatten. Außerdem bekam sie
dreimal täglich einen Teelöffel Liquor ferr. alb.
Am 12. April traten die Menses wieder auf. Von
Anfang an gab ich der Patientin dreimal 15Tropfen
Extract. Hydrast. täglich, doch ohne Erfolg, so
daß wir uns wegen der profusen Blutung schon
am nächsten Tage genötigt sahen, 15 ccm 3%iges
Coagulen intravenös zu geben. Die Blutung ließ
nach und hörte am 15. April ganz auf. Unter
erneuter Solarson- und Eisenbehandlung erholte
sich die Patientin weiter, so daß sie neben guter
Gewichtszunahme am 26. April 30% Hämoglobin,
3 408 000 Erythrocyten, 4400 Leukocyten, aber
wieder nur 38 370 Plättchen hatte; es konnte
also auch in diesem Falle nur von einer Schein¬
besserung gesprochen werden. Am 27. Mai setzten
dann die Menses wieder ein und dauerten un¬
unterbrochen 19 Tage lang. Kein Extractum
Hydrastis, kein Ergotin, nicht einmal zweimalige
intravenöse Coaguleninfusionen halfen. Es kam
noch Nasenbluten hinzu, und schließlich war die
Patientin so ausgeblutet und erschöpft, daß sie
wiederholt kollabierte. Dazu stiegen die Tem¬
peraturen bis über 38°, während sie sonst höch¬
stens bis 37,4° gekommen war. Schließlich
sistierten bei der ausgebluteten Patientin die
Menses von selbst. Sie war aber nicht nur körper¬
lich, sondern auch psychisch äußerst elend, weinte
viel, war ängstlich und des Lebens überdrüssig.
Zwei Tage nach Sistieren der Menses hatte sie
25% Hämoglobin, 1 252 000 Erythrocyten, 3000
Leukocyten, 38 420 Plättchen. Wir hätten ihr
längst gern durch die Milzexstirpation zu helfen
versucht, doch war sie noch nicht 21 Jahre alt,
und der Vater wollte seine Einwilligung zur Ope¬
ration nicht geben. Wir fristeten ihr das Leben
durch gute Pflege, Ernährung und fortgesetzte
Solarsoninjektionen, bis sie das 21. Lebensjahr
vollendet hatte und nun als mündiges Mädchen
selbst die Zustimmung zur Operation geben konnte.
Am 4. Juli hatte sie 2 156 000 Erythrocyten neben
66 053 Plättchen. Am 13. Juli wurde die Milz¬
exstirpation von Herrn Stabsarzt Dr. Mühsam
ausgeführt. Die Operation verlief ohne den ge¬
ringsten Blutverlust. Die Milz war sehr blutreich,
mäßig vergrößert, wog 260 g und maß 11:10:6 cm.
Auf dem frischen nach Mai Grünwald-
Giemsa gefärbten Abstriche fand ich zahlreichste
Plättchen und Mengen von Leukocyten und
großen mononucleären Zeilen. Die pathologisch¬
anatomische Untersuchung (Geheimrat Ben da)
ergab: Starke Blutinfiltration der Wände der
Pulparäume, dagegen Enge und Kompression der
Pulparäume. Hyperplasie der Malpighischen Kör¬
perchen. Im Gewebe reichlich Leukocyten, Lym-
phocyten, Plättchen. Am dritten Tage nach der
Operation fand ich bei der Patientin 3 250 000
Erythrocyten, 11 030 Leukocyten (82,7 % neutro¬
phile Leukocyten, 6,1% große mononucleäre und
Übergangsformen, 8,3% Lymphocyten, 1,8%
eosinophile Leukocyten) und 344 076 Plättchen.
Die Heilung verlief glatt. Am 20. Juli, also eine
Woche nach der Operation, war der Blutabstrich
überschwemmt von Plättchen. Nur ganz wenig
Blut trat aus dem Einstich in die Fingerbeere,
während sie früher leicht und lange aus der Ein¬
stichwunde blutete. Es fanden sich heute auch
zupi ersten und einzigen Male Normoblasten unter
den Erythrocyten, während sonst die Erythro¬
cyten stets sowohl morphologisch wie tinktoriell
nichts Pathologisches aufgewiesen hatten. Am
28. Juli hatte die Patientin 42% Hämoglobin,
3 580 000 Erythrocyten, 7400 Leukocyten,
1 783 514 Plättchen. Am 11. August hatte sie
rund eine Million Plättchen. Am 4. September
hatte sie 48% Hämoglobin, 3 920 000 Erythro¬
cyten, 7400 Leukocyten, 664 000 Plättchen. Am
8. September traten die Menses auf. Ich gab mit
Absicht kein Hämostypticum. Sie verliefen in
normaler Stärke und dauerten nur zwei Tage.
Am 14. September entließen wir die Patientin
auf ihren eigenen Wunsch. Sie hatte 52% Hämo¬
globin, 4 176 000 Erythrocyten, 4900 Leukocyten,
577 800 Plättchen. Sie nahm noch am selben Tage
eine Stelle als Dienstmädchen an und stellte sich
am 7. Oktober nochmals bei uns vor, frisch und
wohl aussehend, mit einer von uns konstatierten
Gewichtszunahme von 4 kg.
Nach dem Befund in der Milz, ferner
aber auch nach dem infolge der Milz¬
exstirpation eingetretenen Umschwung
handelt es sich bei unserer Patientin wie
in dem von Kaznelson beschriebenen
Fall um eine splenogene essentielle
Thrombopenie.
In meiner letzten Publikation habe
ich die Ursache der Thrombopenie im
Knochenmarke vermutet und anatomisch
bewiesen. Von der Milz ging die Schädi¬
gung aus, welche das Knochenmark in
der Bildung der Blutplättchen hemmte.'
In jenen Fällen waren wir also berechtigt,
von Amyelie (Aleukie) zu sprechen. Im
Gegensatz hierzu möchte ich in dem
neuen Falle darauf hinweisen, daß hier
die Milz nicht durch Fernwirkung aufs
Knochenmark die Thrombocytenbildung
hemmte, sondern im Sinne von Eppinger
und Kaznelson selbst thrombolytisch
wirkte, dafür sprachen die Massen von
Plättchen im Milzabstrich; außerdem
fanden sich reichlich Leukocyten und
jene großen blassen mononucleären Zellen,
die als Makrophagen als Vernichter der
Plättchen angesehen werden. Daß die
Knochenmarksfunktion nicht gehemmt
war, dafür scheint mir auch die nur
einmal beobachtete geringe Normo-
blastose zu sprechen. Es brauchte also
gar keine Überfunktion des Knochen¬
marks einzusetzen. Übrigens hat • die
Entscheidung, ob die Ursache der Hämor-
rhagien auf einer thrombolytischen Funk¬
tion der Milz oder auf einer von der Milz
ausgehenden Schädigung des Knochen¬
marks beruht, auf die Therapie keinen
r
Dezember Die Therapie der Gegenwart 1917. 42 i
Einfluß. In jedem Falle ist die Milz- Fälleftirden Gynäkologen, der sie viel-
exstirpätion indiziert. Der weitere Ver- leicht häufiger zu sehen bekommt, therä-
lauf unseres Falles wird zeigen, ob wir es peutische und diagnostische Rätsel be-
mit einer wirklichen Heilung oder nur deuten und deshalb empfehlen, bei allen
mit einer Remission zu tun haben. - nicht zu erklärenden Genitalblutungen
Der Fall gibt aber noch zu einer der Frau das diagnostische Augenmerk
weiteren Bemerkung Veranlassung. Die auch auf die Blutuntersuchung zu
Patientin kam zuerst wegen ihrer Vaginal- richten und eventuell einen hämato-;
blutungen in gynäkologische Beobach- logisch geschulten inneren Arzt zu Rate
tung. Ich möchte annehmen, daß solche zu ziehen.
Aus dem chemischen Laboratorium des Krankenhauses Moabit
(Vorstand: Prof. Dr. Jacoby).
Versuche zurOtosklerosenbehandlung auf ätiologischer Grundlage.
(Vorläufige Mitteilung.)
Von Dr. Franz Kobrak, fachärztlicher Berater des Krankenhauses.
Die örtliche Therapie der Otosklerose ein. Nicht daß man daraus auf eine speci-
(Lufteinblasung, Trommelfellmassage fische Erkrankung des endokrinen Sy-
usw.) ist scheinbar zuweilen von Erfolg stems schließen dürfte; die Annahme einer
begleitet, obwohl diese Therapie mehr Gleichgewichtsstörung des Systems in
symptomatischen als ätiologischen Ge- solchen Zeiten der Labilität würde zur
sichtspunkten gerecht wird. Durch zahl- Erklärung genügen, daß Drüsen, die für
reiche pathologisch-anatomische For- Knochenaufbau und Knochenernährung
schungen ist die Otosklerose als Spongio- (Kalkstoffwechsel, Phosphörstoffwechsel)
sierung der Labyrinthkapsel erkannt mit zu sorgen haben, vorübergehend oder bei
der charakteristischen Neigung zu früh- besonders Disponierten dauernd und zu¬
zeitiger Stapesankylose und ferner mit nehmend versagen. Hierbei sei jedoch
einer gewissen Disposition zu intercur- der mit dem Kalkstoffwechsel in . Zu¬
renten Tubenerkrankungen. Man kann sammenhang. gebrachten Epithelkörper¬
sich vorstellen, daß die Trommelfell- chen gedacht. Gegen die Spongiosierung
massage vorübergehend auf die Stapes- (Osteoporose) wäre daher nicht nur eine
fixation, die Lufteinblasung auf Tuben- protrahierte reichliche Kalkzufuhr
Verstopfungen einwirkt, man darf sich indiziert, besonders in Zeiten, wie der
aber nicht der Täuschung hingeben, da- Gravidität, in denen eine physiologische
mit ätiologische Therapie zu treiben. Ver- Abwanderung des mütterlichen Kalkes
suche ätiologischer Therapie sind in lang- zum Ei stattfindet, sondern gleichzeitig
dauernder Phosphordarreichung zu er- eine Unterstützung des erkrankten Orga-
blicken, wie sie Siebenmann empfohlen nismus dahin, den zugeführten Kalk auch
hat, der die otosklerotische Knochen- zweckmäßig zu retinieren durch Dar¬
erkrankung der Labyrinthkapsel für eine reichung jener Blutdrüsen, am besten
normalerweise im Felsenbein aus- Blutdrüsenhormone, die in dem Einzel¬
bleibende Wachstumsphase hält, falle besonders in Betracht kommen. Es
Diese Hypothese würde auf einen Zu- ist nicht ausgeschlossen daß eine ein-
sammenhang der Otosklerose mit den das gehende individuelle und familiäre Ana-
Knochenwachstum beeinflussenden Tei- mnese,eine individuelle oder familiäre
len des endokrinen Systems (Thymus) hin- Disposition zur Erkrankung einer be¬
führen, ohne daß man, bei dem Ab- stimmten oder einiger Drüsen in den Vor-
hängigkeitsverhältnis der einzelnen Blut- dergrund treten lassen wird,
drüsen voneinander, eine einzelne Blut- Vier bisher über dreiviertel Jahre mit
drüse ohne weiteres in den Vordergrund Kalk und Phosphor fast dauernd behan-
stellen darf. Den Geschlechtsdrüsen müs- delte Otosklerosen (drei weiblich, eine
sen wir gleichfalls unsere Beachtung männlich) — ohne örtliche Therapie! —
schenken, bei der Häufigkeit des Otoskle- , zeigten eher eine Besserung, keinesfalls
rosebeginnes zur Zeit der Pubertät, der eine Verschlechterung des Gehörs, zudem
Gravidität, des Puerperiums, der Lacta- scheinbar eine günstige Beeinflussung der
tion, des Klimakteriums. . In den Ent- subjektiven Geräusche. Solche Ergeb¬
wicklungskrisen (innersekretorischen Kri- nisse sind beachtenswert, aber selbstver-
sen?) setzt die Otosklerose mit Vorliebe ständlich nicht beweisend, schon im Hin-
Dezember
422 Die Therapie der
blick auf die Möglichkeit eines spontanen
Stillstandes des Krankheitsprozesses.
Allein mit Phosphor sahen Siebenmann
und Andere auch ermutigende Resultate.
Zur Illustrierung der Annahme einer
Wirksamkeit der Kalktherapie bei Oto¬
sklerose möchte ich Stoffwechselversuche
mitteilen, die Herr Prof. Jacoby liebens¬
würdigerweise ausgearbeitet und ausge¬
führt hat.
Fräulein W. Otosklerosis incipiens dextra,
progressa sinistra*
I. Untersuchungsreihe: Vorperiode, Haupt¬
periode, Nachperiode, je dreitägig, Kost kalkarm,
in der Hauptperiode dreimal täglich 1 g Calcium
lacticum.
Urin¬
ausscheidung
in drei Tagen
Faeces¬
ausscheidung
in drei Tagen
5. bis 7. Januar
Vorperiode
0,2989 g CaO
8,424 g CaO
8. bis 10. Januar
Hauptperiode
mit 9 g Calc. lact.
0,7252 g CaO
11,528 g CaO
11. bis 13. Januar
Nachperiode
0,4166 g CaO
6,612 g CaO
In drei Tagen Vorperiode sind 8,424, in sechs
Tagen also etwa 16,848 g CaO durch die Faeces
ausgeschieden, in sechs Tagen Haupt- und Nach¬
periode 18,140 g, in Haupt- und Nachperiode zu¬
sammen mehr als in der doppelten Vorperiode
18,140—16,848 - 1,292 g.
In der Haupt- und Nachperiode wurde im
Urin mehr CaO ausgeschieden als in der doppelten
Vorperiode: 0,5440 g.
Demnach wurde in der Haupt- und Nach¬
periode in Faeces und Urin mehr als in der kalk¬
armen Vorperiode ausgeschieden 1,292 + 0,5440
= 1,836 g CaO.
Zugeführt in Haupt-
u. Nachperiode
mehr als in der
kalkarmen Kost
der Vorperiode . 9 g Calc. lact. = 2,25 g CaO
Ausgeschieden in
Haupt-und Nach¬
periode mehr als
in der kalkarmen
Vorperiode(Faeces
u. Urin)._ 1,836 g CaO
angesetzt 0,414 g CaO
Nach der I. Versuchsreihe wurde in zwei
Wochen 20 g Oophorin eingenommen. Danach
II. Versuchsreihe.
Urin¬
ausscheidung
in drei Tagen
Faeces¬
ausscheidung
in drei Tagen
12. bis 14. Februar
Vorperiode 1
0,4765 g CaO
9,620 g CaO
15. bis 17. Februar
Hauptperiode
mit 9 g Calc. lact.
0,6602 g CaO
7,872 g Cap
18. bis 20. Februar
Nachperiode
0,3885 g CaO
5,730 g CaO
Gegenwart 1917.
Faeces: doppelte (auf sechs Tage berechnete)
Vorperiode 19,24 g CaO, Haupt- und Nachperiode
13,602 ausgeschieden, d. h. weniger als in der
Vorperiode 19,240— 13,602 = 5,638 g.
Urin in Haupt- und Nachperiode mehr als
in der doppelten Vorperiode ausgeschieden:
1,0487 — 0,9530 = 0,0957 g CaO.
Demnach wurde in Haupt- und Nachperiode
weniger CaO als in der doppelten Vorperiode aus¬
geschieden 5,638 — 0,0957 = 5,5423 g CaO.
Zugeführt in Haupt-
und Nachperiode
mehr als in der
kalkarmen Kost
der Vorperiode . 9 g Calc. lact. = 2,25 g CaO
Weniger ausgeschie¬
den in Haupt- und
Nachperiode, ge¬
genüber der Vor¬
periode, d. h. an¬
gesetzt . . 5,54 g CaO
d. h. 3,29 g CaO
mehr angesetzt als durch besondere Kalkgaben
zugeführt.
In der zweiten Versuchsreihe —
nach Oophorin! — wurde das acht¬
fache retiniert von der in der ersten
Versuchsreihe berechneten retinierten
CaO-Menge (3,29:0,414 g CaO)!
Dieser Fall W., wie ein zweiter Fall L.
scheiden im Urin normale, geringe CaO-
Werte aus, so daß man nicht an patho¬
logische Calcarurie denken kann. Viel¬
leicht liegen höhere Urinkalkwerte weiter
zurück, müssen vielleicht in einer präoto-
sklerotischen Phase erfaßt werden, in der
der Knochenabbau der Labyrinthkapsel
noch im Werden ist, ähnlich den bei Rha-
chitis erhobenen Stoffwechselbefunden in
einer vor Manifestwerden der Krankheits¬
erscheinungen liegenden Krankheits¬
periode (Orgler und Birk). Serien¬
weise Urinuntersuchung der Nach¬
kommen von stark mit Otosklerose be¬
lasteten Familien zurzeit noch nicht
manifester Otosklerose wäre ins Auge
zu fassen! Ferner weitere systematische
Kalkstoffwechselversuche mit Un¬
terstützung verschiedener endokriner
Drüsen, analog unseren Versuchen in
zwei Reihen, ohne und mit Blutdrüsen¬
darreichung. Unser Fall sagt ja zunächst
nur soviel, daß man mit Oophorin die
Kalkretention wesentlich verbessern
konnte, ohne hierin schon ein Stigma der
Otosklerose feststellen zu können. Thera¬
peutische Versuche kombinierter Kalk-
und Blutdrüsengaben über lange Zeit hin
müßten die Stoffwechselresultate ergän¬
zen. Als Experimentum crucis endlich
kämen Tierversuche, eventuell bei
der Katze, in Betracht, die zu erforschen
hätten, ob Kalkentziehung (kalkarme
Kost), vielleicht besonders bei tragenden
Dezember
Die Therapie der Gegenwart 1917.
423
Tieren und solchen, deren endokrines Sy¬
stem geschädigt ist (zB. Epithelkörperchen¬
exstirpation) am Labyrinthknochen oder
anderen (ruhenden) Knochen Spongiosie-
rung hervorruft. Interessant wäre auch die
regelmäßige autoptische Untersuchung an¬
derer Knochen von Otöskleroseleichen
(z.B. Sternum) auf Spongiosierungsherde.
Über Pellidol und Azodolen und ihre Anwendung als
Keratoplastika zur schnellen Epithelisierung von Wundflächen.
Von Dr. A. Blumenthal, Frauenarzt in Stuttgart.
Wie vielleicht mancher Kollege, so
habe auch ich mich gewundert über die
verhältnismäßig seltene Anwendung der
von der A.-G. Kalle 6c Co., Biebrich, her¬
gestellten ausgezeichneten Epithelisie¬
rungsmittel Pellidol und Azodolen in der
Behandlung von Wunddefekten usw. bei
unseren Verwundeten in den Kriegs- und
Reservelazaretten. Es mag dies haupt¬
sächlich daran liegen, daß die Präparate
wohl in einzelnen Armeekorps zur Wund¬
behandlung zugelassen, aber nicht etats¬
mäßig, so daß sie von vielen Sanitäts-
äm'tern nicht vorrätig gehalten und ge¬
liefert werden. Deshalb möchte ich in
kurzen Worten nach langjährigen Erfah¬
rungen mit diesen Mitteln die Herren
Kollegen zu Hause und im Felde beson¬
ders dringlich darauf aufmerksam machen.
Die näheren Angaben über die che¬
misch-physikalischen Eigenschaften, so¬
wie die pharmakologischen und physio¬
logischen klinischen Untersuchungen der
beiden Präparate unterlasse ich im Hin¬
blick auf die von der Firma Kalle 6c Co.
herausgegebene und kostenlos versandte
Spezialliteratur ,,Pharmazeutische Pro¬
dukte“ (Sommer 1912) und Nachtrag dazu
,,Pellidol und Azodolen“, welche außer¬
dem alle beachtenswerte klinische Spezial¬
literatur enthält.
Meine Beobachtungen erstrecken sich,
wie es eben meine Spezialpraxis als
Frauenarzt mit sich bringt, besonders auf
Fälle von Pruritus, Intertrigo, Ekzeme,
Ulcerationen und Erosionen der Portio
usw., sind aber derartig gut und er¬
mutigend, daß sie mich veranlaßten, an
dieser Stelle darauf hinzuweisen,, diese
Präparate in möglichst weitgehendem
Maße bei unseren Verwundeten anzu¬
wenden, um auch diesen die Segnungen
einer um so rascheren Heilung zuteil wer¬
den zu lassen. Im folgenden kommt be¬
sonders Pellidol in Betracht, in den Fällen
aber, wo auch eine trocknende und anti¬
septische Wirkung erzielt werden sollte,
wurde das Azodolen genommen.
Pellidol ist das Diacetylderivat des
Amidoazotoluols (dieses wieder ist eine
chemische Komponente des Biebricher
Scharlachs R med.). Im Handel als bla߬
gelbrotes Pulver, das löslich ist in Ölen,
Fetten, Vaselinen, Alkohol, Äther, Chloro¬
form und anderem, nicht löslich aber in
Wasser. Im Gegensatz zu dem früheren
Scharlachrot und Amidoazotoluol be¬
ziehungsweise deren Salben ist die Pel¬
lidolsalbe, wie sie jetzt verwendet wird
(2 %ig) vollständig in der Grundlage ge¬
löst, braucht also nur einen kleineren Pro¬
zentgehalt.
Azodolen ist eine Verbindung mit
Jodeiweiß (Jodoien) und enthält zirka
30% Jod.
Die Anwendung geschieht in Form
von Salbe, Öl oder Pulver, letzteres 5%
mit Bolus oder Talcum venetum. Als
bekannt darf ich wohl voraussetzen die
epithelisierende Wirkung, die vermutlich
auf Chemotaxis zurückzuführen ist. Die
Nachteile der früheren Präparate, wie
Reizerscheinungen und Färben sind jetzt
vollständig vermieden. Eine Verein¬
fachung gegenüber der früheren Methode
ist, daß es nicht mehr notwendig wird,
außerdem mit indifferenten Salben die
Wundflächen zu behandeln.
Indikationen sind in erster Linie gra¬
nulierende Wundflächen, Epitheldefekte,
auch von größerer Ausdehnung, Pruritus,
Intertrigo, Verbrennungen und derglei¬
chen, Decubitus, Ulcera nach Röntgen¬
bestrahlung, speziell für Gynäkologen die
Verwendung von Tampons mit Pellidol
bei Erosionen, Ulcera, Cervixkatarrhen
usw. Auch bei Vulvitis und Reizzuständen
des Introitus vaginae.
Die häufigste Anwendung war in
meiner Praxis bei Erosionen, Ulcera und
Pruritus. Gerade solche Fälle, wo oft
monatelange Ätzungen mit Ichthyol,
Chlorzink usw. lange nicht zum Ziele
führten, zeigten bei Pellidolbehandlung
meist schon nach kurzer Zeit deutliche
Tendenz zur Heilung. Neue Epithel¬
inseln entstanden, die Reizerscheinungen
ließen rasch nach und damit die Empfind¬
lichkeit und die Schmerzen, so daß die
Patientinnen sich williger der Behandlung
424
.Die Therapie der Gegenwart 1917.
Dezember
unterwarfen. Oft recht große > Ulcera- wechselte ich auch hier mit Puder oder
tiqnen bei Prölapsen, Senkungen usw. Salbenbehandlung,
überhäuteten sich rasch unter der Be- Zahlreiche * Fälle von Ulcus varicosum
handlung und heilten sicher aus. Zur cruris ünd beginnende Ulcera konnten in
Technik bemerke ich folgendes: kurzer Zeit zum Ausheilen gebracht wer-
Ich nahm immer das Entenschnabel- den, trotzdem die Patientinnen nicht
speculum; um die Portio recht Übersicht- 1 immer die Behandlung durch kurgemäßes
lieh 'freizulegen, wischte mit irgendeiner Liegen unterstützen gönnten oder wollten,
antiseptischen Lösung ab und legte dann Auch hier rasche Überhäutung, Zurück¬
einen mit 2 %igem Pellidol oder Azodolen- gehen der entzündlichen Erscheinungen
salbe bestrichenen Vaginaltampon vor usw. Je nach dem wurden auch diese
die Pörtio, der dann bis zum anderen Fälle mit Puder oder Salbe behandelt. Ich
Abend liegen blieb. Tags darauf wurde ließ den ersten Verband oft zwei bis drei
dann gleich ein neuer Tampon eingelegt. Tage liegen und wechselte dann erst.
Unter den recht zahlreichen Fällen Reizungen beobachtete ich mit den neuen
von Pruritus, die teilweise schon monate- Präparaten nicht mehr, im Gegensätze
lang vorher mit allem möglichen behan- zu den früheren Scharlachpräparaten, bei
delt wurden und oft mit Ekzemen usw. denen Reizerscheinungen häufiger waren,
kompliziert waren, ist ein besonders be- so daß man gezwungen war, abwechselnd
merkenswerter Fall. Es handelt sich um Scharlachsalbe und Borsalbe zu verwen-
eine Gravida am Ende der Schwanger- den. • Soll der Verband mal länger liegen
Schaft. Der Fall war besonders quälend und gut decken, so ist zweckmäßig das
durch Jückreiz intensivster Art, außer- im Nachtrag über ,,Pellidöl und Azo^
dem bestand Intertrigo und. ein großes dolen“ von Kalle & Co. angeführte Rezept
Ekzem, das bis an den Nabel herauf- zu verwenden:
reichte und die Innenfläche des Ober- Rp. Pellidol s. Azodolen 2 fl
Schenkels bis zu zweiDrittel ergriffen hatte. Pasta Zinci ad 100fl
Patientin konnte kaum sitzen und war m. f. ungt.
wirklich ganz am Ende ihrer Geduld und Bei allen diesen Fällen also ist das
Kräfte. Auch hier war wie immer ein Gemeinsame zu beobachten: Rasches
schöner Erfolg nach energischer Pellidol- Zurückgehen der Reizerscheinungen, so-
behandlung zu verzeichnen. Nach zirka wie Trocknen der nässenden Stellen, Lö-
dreiwöchentiger Behandlung war die sung von eventuellen Krusten, Milderung
Patientin vollständig hergestellt und auch des Juckreizes, rasche Bildung von neuem
später nach der Entbindung hat sich vollwertigen Gewebe. Dieses neue Epithel
nichts mehr gezeigt. Ich ließ hier nach ist, wie Dr. Schmieden (Zbl. f. Chir.
jedesmaligem Einreiben eine dünne 1908, Nr. 6) mikroskopisch nachweisen
Schicht Gaze oder Watte auflegen, manch- konnte, kräftig und wie die normale Ober¬
mal auch pudern mit Pellidolpulver. haut. Alle Schichten sind darin nach-
Nebenbei möchte ich noch FällevonHy- weisbar.
perhydrosis besonders der Achsel erwäh- So bezeichnet auch P. Sick (Chirur-
nen, bei denensowohl mit Pulver und Salbe gische Abteilung des Diakonissenhauses
gute und rasche Erfolge zu sehen waren. Leipzig) in seiner Arbeit in der D. m. W.
Bei korpulenten Patientinnen hatte 1912, Nr. 45, schon das nicht färbende
ich Gelegenheit, die häufig auftretende Pellidol als die zurzeit wohl beste Aus-
Intertrigo an verschiedenen Körperteilen gäbe der Scharlachsalbe mit ihren be-
mit Pellidol zu behandeln. Auch hier kannten Anzeigen.
wieder rasche volle Heilungen. Bei stark Diese kurze Zusammenfassung möge
ausgeprägten Fällen konnte ich bemerken, genügen, um den Anstoß zu geben, mög-
wie die Risse sehr rasch sich schlossen und liehst viele geeignete Fälle unserer Ver-
die Haut wieder fest und Widerstands- wundeten mit Pellidol und Azodolen zu
fähiger wurde. Je nach der Art der Fälle, behandeln.
Zusammenfassende Übersicht.
Ärztliche Anteilnahme an der sozialen Hygiene.
Neuere Arbeiten besprochen von Dr. J. Waldschmidt (Berlin).
Prof. Dr. Krautwig, welcher die tische Medizin bestehende Krankenpflege-
Wohlfahrtsschule in Köln im Anschlüsse schule ins Leben gerufen hat, sucht in
an die bei der dortigen Akademie für prak- seinem neuerlich erschienenen Aufsatze:
Dezember
Die Therapie der Gegenwart, 1917.
425
„Die soziale Hygiene im Dienste
der Wohlfahrt“ sein Vorgehen zu be¬
gründen,. Zweck und Ziel derartiger Ein¬
richtungen zu kennzeichnen. Einleitend
hebt Verfasser die Wichtigkeit der Wohl¬
fahrtspflege sowohl hinsichtlich der. Be¬
kämpfung von gesundheitlichen, sozialen
und sittlichen Schäden als auch zur För¬
derung körperlicher und geistiger Ge¬
sundheit hervor; er will sie nicht nur auf
Nächstenliebe zurückgeführt wissen, son¬
dern erblickt darin den Ausdruck gemein¬
bürgerlichen Verantwor.tlichkeitsgefühls,
das „sich bewußt ist, nicht nur eine gute,
sondern auch eine nützliche und unerlä߬
liche Arbeit für das Volkswohl“ zu leisten.
Gesetzlich geregelte Fürsorge und frei¬
willige Wohlfahrtspflege, welche nicht
auf gesetzlichen Verpflichtungen beruht,
sondern eine freiwillige Mehrleistung be¬
hördlicher und privater Organisationen
darstellt, müssen freundnachbarlich Zu¬
sammenwirken. Die zu treffenden Ma߬
nahmen sollen, wie eine Denkschrift des
Königlich sächsischen Ministeriums des
Innern betont, einheitlich alle in Betracht
kommenden Gebiete . sozialer Fürsorge
umfassen, ob es sich dabei um die Für¬
sorge für Schwangere, Tuberkulöse oder
Krüppel oder um den Schutz der Mütter,
Säuglinge, Kleinkinder oder gar um Woh¬
nungspflege handelt. Um eine solche
soziale Tätigkeit aber ausüben zu können,
bedarf es der nötigen Ausbildung. Diese
muß sorgfältig auf praktische Berufs¬
arbeit gerichtet sein. Es besteht nun
zwar eine Reihe von Frauenschulen, in
welchen ihrem Programme gemäß soziale
Berufsarbeiterinnen und soziale Hilfs¬
kräfte für das Gesamtgebiet sozialer Ar¬
beit ausgebildet werden; auch sind be¬
kanntlich Frauenhochschulen gegründet,
welche praktische Ausbildung in einem
Spezialgebiete der Wohlfahrtspflege vor¬
aussetzen; endlich gibt es an verschie¬
denen Orten Ausbildungsstätten für einen
bestimmten Zweig sozialer Medizin, wie
z. B. in der Säuglingspflege. Die Kölner
Wohlfahrtsschule aber hat sich ihre Ziele
weitergesteckt, sie nimmt Schülerinnen
auf, welche bereits ein Jahr in der staat¬
lichen Krankenpflegeschule ausgebildet
sind, um sie in die soziale Berufstätigkeit
theoretisch und praktisch einzuführen.
Ein vorgesehener Jahreskursus gilt der
allgemeinen Krankheitslehre, der Sani-
täts- und Medizinalgesetzgebung, der all¬
gemeinen Hygiene (Ernährung, Wohnung,
Körperpflege, ansteckende Krankheiten)
sowie der sozialen Hygiene (Fürsorge für
Wöchnerinnen* Säuglinge, Kleinkinder-,
Schulkinder, Tuberkulöse, Krüppel, Trin T
ker, Geschlechtskranke). Dabei wird das
soziale Recht* Armen- und Waisenpflege',
sowie Wohlfahrtspflege in Stadt und Land
berücksichtigt. In Sonderkursen sind
sodann Jugendpflege und Jugendfürsorge,
auch Hauswirtschaftslehre vorgesehen.
Bei alledem bleibt aber das Hauptaugen¬
merk auf die praktische Ausbildung ge¬
richtet. Die also ausgebildeten Berufs¬
arbeiterinnen werden, sofern es sich um
große Städte handelt, in einem Fürsorge¬
amte zusammengefaßt; von hier aus wird
ihresehr spezialisierte Fürsorgetätigkeit ge¬
regelt und einer Zersplitterung der Kräfte
somit vorgebeugt. Von Zeitzu Zeit, etwa
halbjährlich, werden, wie dies in Hamburg
üblich ist, die Säuglingspflegerinnen, Tu¬
berkulosefürsorgeschwestern, Trinkerfür-
sörgerinnen, Gemeindeschwestern und As¬
sistenten der Gewerbeinspektion zu einer
gemeinschaftlichen Konferenz berufen,
um so persönliche Fühlung miteinander
zu nehmen und Einzelfälle und Vor¬
kommnisse einander bekannt zu geben.
In ländlichen Bezirken liegen die Dinge
einfacher, hier wird man 'zweckmäßiger¬
weise nach Düsseldorfer Muster Kreisfür¬
sorgerinnen für größere Bezirke mit ört¬
lich eingesetzten Helferinnen anstellen.
Um den diesbezüglichen Einrichtungen
einen kräftigen Rückhalt zu bieten, ist der
Vorschlag gemacht worden: ein Kreisfür¬
sorgegesetz anzustreben und staatliche
Fürsorgeämter unter Leitung des Kreis¬
arztes einzurichten, um so zum mindesten
eine obligatorische Säuglings- und Mütter¬
fürsorge neben solcher Tuberkulosenfür¬
sorge zu erhalten.
Zur Frage der Kreisfürsorgeämter
äußerte sich der jüngst verstorbene Geh.
Reg.- und Med.-Rat Prof. Dr. Roth
(Potsdam) dahin, daß solche Kreisfür¬
sorge- oder Kreiswohlfahrtsämter von
größter Wichtigkeit für die Volkswohl¬
fahrt seien. Landrat oder Bürgermeister
seien als Vorsitzende zu bestellen, ihnen
habe der Kreisarzt als technischer Beirat
zur Seite zu stehen, welch letzterem die
eigentliche Leitung der Fürsorgeämter
anheimfallen müsse. Das Fürsorgeamt
soll Auskunft und Rat auf allen sozial¬
hygienischen Gebieten erteilen, Belehrung
für Mütter wie für die heranwachsende
Jugend bieten. Neben dem Kreisarzt
sollen Kreis- oder Kommunalfürsorge¬
ärzte tätig sein, während die eigentliche
Fürsorgearbeit angestellten Fürsorgerin¬
nen überlassen bleibt. Es erübrige sich,
54
'426 Die Therapie der Gegenwart 1917.
ein Fürsorgegesetz zu erlassen, da nach
dem bisher durch private Organisationen
Erreichten die freie Liebestätigkeit auf
keinen Fall unterbunden werden dürfe.
Der Kreisarzt aber als berufener Vertreter
der öffentlichen Gesundheitspflege habe
das Recht und die Pflicht, die in Frage
stehende Tätigkeit zu überwachen und
für ihre weitere Ausbildung Sorge zu
tragen; dafür sei er entsprechend zu hono¬
rieren. Als Träger dieser Maßnahmen
haben Kreis und Gemeinde zu gelten, da
sie das erste und allerwesentlichste Inter¬
esse daran haben, daß ihnen die Wohl¬
taten solcher Institutionen zuteil werden.
Es handele sich aber darum, geeignete,
das ist hinreichend vorgebildete Ärzte
und Schwestern zu haben.
Wie für die Ausbildung der Schwe¬
stern oder Fürsorgerinnen nach obigen
Ausführungen Krautwig eintritt, so be¬
spricht in eingehenden Erörterungen
Stadtrat Dr. Gottstein in Charlotten¬
burg in einem jüngst erschienenen Auf¬
sätze den Unterricht der Ärzte in der
sozialen Medizin und sozialen Hy¬
giene. Es dürfte keinem Zweifel unter¬
liegen, daß der sozialen Hygiene eine er¬
höhte Bedeutung beizumessen ist und
ihre Daseinsberechtigung anerkannt wer¬
den muß, wiewohl ihre Selbständigkeit
mancherseits noch bestritten wird. Die
soziale Medizin wird der individuellen
Medizin, wie der Sozialarzt dem Heilarzt
gegenübergestellt. ,,Der Arzt am Kran¬
kenbette stellt Diagnosen und Augen¬
blicksprognosen; der Sozialarzt langfri¬
stige Prognosen, er hat die Gesundheit
des Einzelfalls in seinen Beziehungen als
Abkömmling früherer und Erzeuger spä¬
terer Geschlechter zu würdigen, als einen
Durchgangspunkt der Generationen, des¬
sen Gesundheit von der Vergangenheit be¬
einflußt wird und die Zukunft beein¬
flußt“. — Hinsichtlich des Unterrichts
verlangt Verfasser eine strikte Trennung
der Ärzte von den Studierenden. Für
diese wird es möglich sein, das Wesent¬
lichste der einschlägigen Fragen in den
Vorlesungen über Hygiene, den Mutter-
und Säuglingsschutz in der Kinderklinik,
Beurteilung und Begutachtung von Be¬
rufserkrankungen, Unfällen usw. in den
einzelnen Kliniken zu erfahren. An den
Universitäten, an welchen die soziale
Hygiene als besonderes Fach gelehrt wird,
finden Ärzte wie Studierende im höheren
Semester das Nötige zur weiteren Ausbil¬
dung. — Bisher bestehen fünferlei der¬
artige bemerkenswerte Schöpfungen: in
Dezember
Köln uftd Düsseldorf bestehen Kurse für
Schulgesundheitspflege, Säuglingsfür-.
sorge, Gewerbehygiene, Sozialversiche¬
rungswesen neben klinischen und patho¬
logisch-anatomischen Vorlesungen und
Demonstrationen an den dortigen Akade¬
mien. — Ferner: vom 1. bis 13. Dezember
1913 ist vom Ministerium des Innern^ver¬
anlaßt durch einige hierzü berufene Ärzte
in Berlin, ein Fortbildungskursus für
Ärzte abgehalten, der sich über die Arbei¬
terversicherung, Gewerbehygiene, Arbei¬
terschutz, allgemeine Gesundheitspflege
und Fürsorge verbreitete, die Besichti¬
gung von Fabriken und Wohlfahrtsein¬
richtungen vorsah; eine Wiederholung hat
wegen des Krieges nicht statthaben kön¬
nen. — In Wien ist bereits im Jahre 1911
ein Seminar für soziale Medizin ins Leben
gerufen, welches als Vortragsgegenstände
Medizinalstatistik, Gewerbehygiene, Ge-
werbekrankheiten, soziale Versicherung,
Volksseuchen gewählt hat.—Ähnliches ist
1913 in München entstanden, während in
Berlin außer obigemFortbildungskursus be¬
reits seit 1906 „Zyklen“ von Verwaltungs¬
beamten und Ärzten abgehalten wurden,
worin vornehmlich die Gutachtertätigkeit
zu ihrem Rechte kam und Besichtigungen
mannigfacher Art vorgenommen wurden.
Die Vorträge galten in erster Linie dem
Arbeiterschutz mit seinen gesetzlichen und
privaten Maßnahmen, der Armenpflege
und dem Rettungswesen, sie sahen aber
auch ebenso das Heilverfahren in der
Invalidenversicherung wie die Fürsorge
für die Säuglinge und die Jugend vor.
Diese Ausbildungs- oder Fortbildungs¬
methoden können indes, so wertvoll sie
im einzelnen sein mögen, dem effektiven
Bedürfnisse auf dem weiten Gebiete der
sozialen Hygiene nicht gerecht werden.
Es gilt hier eine Lücke auszufüllen, welche
die Ausbildung eines Spezialarztes vor¬
sieht, und die also gedacht ist: nach Be¬
endigung des Studiums, gegebenenfalls
innerhalb des praktischen Jahres soll der
junge Mediziner eine vier- bis. sechsmona¬
tige Ausbildung in einer größeren Univer¬
sitätsstadt erfahren, die gute kommunale
Einrichtungen aufzuweisen hat, die sie
auch willens ist, zu Lehrzwecken zur Ver¬
fügung zu stellen. Vorerst dürften zwei
bis drei Schulen genügen. Der Lehrgang
hat vorzusehen: Vorlesungen über medi¬
zinische Statistik, Biometrie, soziale Pa¬
thologie, Seuchenlehre; Gesundheitsfür¬
sorge (Tuberkulose, Säuglings- und Klein¬
kinderschutz, Schulgesundheitspflege,
Wohnungswesen, Gewerbehygiene, Ras-
Dezember Die Therapie der Gegenwart 1917. 427
senhygiene); Krankenfürsorge, (Armen¬
kranke, Krankenhauswesen, Kranken-
beförderung und Rettungswesen, Für¬
sorge für Kriegsbeschädigte, Krüppel,
Blinde, Taubstumme, Älkoholkranke, Ge¬
schlechtskranke). Auch soll das Versiche¬
rungswesen jeder Art. geeignete Berück¬
sichtigung finden, und endlich staatliche
und Standesorganisationen ausführlich
behandelt, wie auch allgemeine Verwal¬
tungslehre getrieben werden.
Es wird sich Gelegenheit bieten, auf
diese Ausführungen des näheren zurück¬
zukommen und zu prüfen, ob und inwie¬
fern die Vorschläge zu verwirklichen sind.
Es will uns scheinen, als ob der öffent¬
lichen Gesundheitspflege, also der sozialen
Medizin, naturgemäß eine immer größere
Beachtung, ein weiterer Ausbau zuteil
werden muß’; das hierzu geeignet vor¬
gebildete Kräfte nötig sind, bedarf ebenso
wenig der Erörterung; es fragt sich nur,
auf welche Weise die Vorbildung statt¬
zuhaben hat, und da dürfte prima vista
die soziale Hygiene als Teil der allge¬
Refe
Akute Appendicitis nach Mumps hat
Findel zweimal gesehen; Orchitis nach
Mumps kommt bekanntlich oft vor.
Dahingegen gehören die hier beschrie¬
benen Fälle der Blinddarmentzün¬
dung zu den Seltenheiten. Bei dem
ersten Kranken bestand ein Parotitis
epidemica, die einen normalen Ver¬
lauf nahm. Am Tage der Abfieberung
entwickelte sich das typische Bild der
Appendicitis. Bei der Operation war ein
durch, eine Striktur verengter und mit
Eiter erfüllter Wurmfortsatz, in dem
Staphylokokken nachweisbar waren, vor¬
handen. In der Rekonvaleszenz ist eine
zehn Tage nach der Operation auftretende
Angina bemerkenswert. — Bei dem zwei¬
ten Falle handelte es sich um einen Ar¬
mierungssoldaten, bei welchem etwa drei
Wochen nach der Parotitis die Appendi¬
citis einsetzte. Hier wurde die Laparo¬
tomie erst im Stadium der Absceßbildung
vorgenommen. Der Eiter enthielt eben¬
falls Staphylokokken. In der Rekon¬
valeszenz trat ein Mumpsrezidiv und ein
peritonsillärer Absceß auf. Hayward.
(Zbl. f. Chir. 1917, Nr. 30.)
Aus dem Städtischen Krankenhause
Stettin berichtet Kalb über die supra¬
symphysäre Cystostomie. Die Zahl der
meinen Hygiene anzusprechen sein, und
als solcher seine Stellung behaupten
können. Man wird sodann dem Kreisarzt
als dem Wächter der öffentlichen Ge¬
sundheitspflege die erforderlichen Kennt¬
nisse auf dem einschlägigen Gebiet ab¬
fordern und ihn so bestellen müssen, daß
er auch in der Lage ist, den an an ihn ge¬
stellten, vielverzweigten Ansprüchen ge¬
recht zu werden, und mit den ihm beige¬
gebenen Hilfsorganen: Kreishilfsärzten,
Berufsfürsorgerinnen, in seinem Bezirke
wirkliche Gesundheitspflege zu üben, und
zwar theoretisch wie praktisch. Die Aus¬
bildung von Spezialärzten auf sozial¬
hygienischem Gebiete kommt erst in
zweiter Linie in Betracht. Das wichtige
Kapitel der Berufsarbeiterinnen ist mit
dem Ausbau der Fürsorgestellen bereits
in ein Stadium gerückt, daß man in An¬
betracht der Kürze der Zeit sehr wohl zu¬
frieden sein darf; ein Vorgehen, wie es
von Köln mitgeteilt wird, ist unbedingt
der Nachahmung wert.
(D. Vrtljschr. f. Gesdhtspfl. 1917 H. 2, 3, 9.)
rate,
Todesfälle, welche nach der Prostatekto¬
mie beobachtet werden, ist im allgemeinen
größer als angenommen wird. So be¬
richten einzelne Autoren über 26, 30 .ja
sogar 35%. Die Sterblichkeit ist nicht so
sehr der Operation selbst zur Last zu
legen, als vielmehr den postoperativen
Komplikationen von seiten des Herzens,
Gefäßsystems und der Lungen. Wenn es
darum schon notwendig ist, die operative
Indikation möglichst einzuschränken, so
weisen doch diese Zahlen darauf hin, daß
die Gesamtresultate noch viel zu wünschen
übrig lassen. Eine Palliativoperation, wie
die' suprasymphysäre Cystostomie, er¬
scheint unter diesen Umständen durch¬
aus berechtigt zu sein; entweder, daß man
sie nur. als Voroperation betrachtet, um
durch Behandlung der Blase die Gefahren
der eigentlichen Operation herabzu¬
drücken, oder, daß sie überhaupt einen
Dauerzustand darstellt. Die von Kalb
angewendete Methode der kleinen Fistel
mit Einlegung eines Pezzerkatheters läßt
dies durchaus zu. Er berichtet über
36 Fälle ohne Todesfall, in denen das ge¬
wünschte Resultat erzielt wurde. Neben
der Prostatahyperthrophie kommt die
Cystostomie in Frage bei schweren Stö¬
rungen der Blasenentleerung infolge von
organischen Nervenerkrankungen, bei der
54*
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Dezember
428
Retention infolge maligner Tumoren und
als Voroperation bei der plastischen Be¬
seitigung ausgedehnter Harnröhren-
defekte. ✓ Ha y ward.
(D. Zschr. f. Chir. Bd. 140 H.3/4.)
. Zur Behandlung der Hydrocele haben
sich Wederhake folgende Verfahren be¬
währt: 1. Fenstermethode. Aus einem
kleinen Schnitt über dem äußeren Leisten¬
ringe wird die Hydrocele luxiert und dann
aus der Cooperschen Fascie ein rundes
Stück von etwa Markstück Größe exci-
diert. Dann wird der Testis an seine Stelle
zurückgebrächt und die kleine Haut¬
wunde vernäht. Bei der zweiten Methode,
der Kochsalzmethode, wird die Hydro¬
cele punktiert und, nachdem die gesamte
Flüssigkeitausgelaufen ist, x / 2 bis 3 ccm
einer 10%igen Kochsalzlösung einge¬
spritzt. Die Stichmethode besteht darin,
daß nach Anästhesierung des oberen
und unteren Pols der Hydrocele durch
einen Einstich mit einem scharfen Skal¬
pell oben und unten die Flüssigkeit ent¬
leert wird. Dieses letztere Verfahren wird
hauptsächlich bei älteren Leuten ange¬
wendet. Hayward.
(Zbl. f. Chir. 1917, Nr. 37.)
Hyperextensionsbehinderung, ein Früh¬
symptom der tuberkulösen Coxitis, be¬
schreibt Loeffler. Die Bedeutung einer
rechtzeitigen Diagnose der tuberkulösen
Hüftgelenkentzündung namentlich beim
Kind ist e^pe ganz außerordentliche.
Dies trifft um so mehr zu, als die ersten
Zeichen oft sehr unbestimmte sind. Mehr
wie die Angabe, daß das Kind leicht er¬
müdet und. zeitweise hinkt, pflegt von
den Eltern nicht gemacht zu werden. In
diesem Stadium, welches der Behandlung
so außerordentlich günstig ist, wird eine
Beschränkung der Beweglichkeit aktiv
und passiv kaum je angetroffen; für solche
Fälle hat sich dem Verfasser folgendes
Verfahren bewährt: Das Kind wird in
Bauchlage gebracht und mit der einen
Hand das gesunde Bein im Sinne der
Hyperextension nach oben gehoben und
mit der anderen Hand das Becken flach
auf den Tisch niedergedrückt. Unter die¬
sen Umständen ist eine Überstreckung
von 25 bis 30 Grad leicht möglich. Ist die
Hüfte jedoch erkrankt, dann ist die ge¬
ringste Hyperextension vollkommen aus¬
geschlossen. Hayward.
(Zbl. f. Chir. 1917, Nr. 38.)
Über die Anwendung der Hypophysen¬
extrakte in der Geburtshilfe berichtet
v. Fekete; es gibt streng einzuhaltende
Indikationen, wie auch Kontraindika¬
tionen. Das Hauptanwendungsgebiet ist
bei der zurzeit eingetretenen Geburt,
wobei die Wirkung in der Austreibungs¬
periode besser ist als in der der Eröffnung,
besonders bei Mehrgebärenden. Zur
Überwindung von Hindernissen sind diese
Wehen ungeeignet. Bei einer Fehlgeburt
kann nur im Verein mit anderen Mitteln
das Extrakt eingespritzt werden, wobei
es schließlich zu einer künstlichen Be¬
endigung kommen muß. Verboten ist das
Präparat zu gebrauchen, wenn ein Mi߬
verhältnis zwischen vorliegendem Teil
und Beckeneingang und eine unzweck¬
mäßige Einstellung des Kopfes vorliegt
(Gefahr der Uterusruptur!). Größte Vor¬
sicht ist geboten wegen der auf die Frucht
ausgeübten (Asphyxie) und der in der
Placentarperiode (Contractioh des inneren
Muttermundes) vorkommenden Nach¬
wirkung. Nach verabreichter Injektion
soll die Geburt bis zu Ende beobachtet
und die Kreißende unter ständiger ärzt¬
licher Aufsicht gehalten werden.
Pulvermacher (Charlottenburg).
(Mschr. f. Geburtsh. 1917, November.)
Kriegschirurgische Erfahrungen, ins¬
besondere über die Anwendung der
Dakin-Lösung und über die Häufigkeit
des Auftretens von Gasphlegmone be¬
richtet Busch. Er lobt die Dakin-
Lösung, die bei den großen Granat¬
verletzungen prinzipiell als Antisepti¬
kum verwandt wurde. Nach deren An¬
wendung sahen die Wunden bald frischer
aus, der üble- Geruch verschwand, die
Granulationen bekamen ein gesünderes
Aussehen. Verfasser hat keinen Tetanus¬
fall beobachtet, dagegen entwickelten sich
bei 1,2 % der gesamten Granatverletzun¬
gen bösartige Gasphlegmonen. Zur
Verhütung mache man ausgiebige Exci-
sionen und Incisionen bei jeder Granat¬
splitterverletzung und nachfolgende Ver¬
bände mit der Natriumhypochlorid-
(Dakin-)Lösung. Wo dies frühzeitig
systematisch durchgeführt werden kann,
treten Gasphlegmonen nicht auf. Wenn
dies nicht möglich ist, mache man breite
Incisionen, drainiere und fülle die Wunde
mit der Dakin-Lösung. , Tritt dann die
Infektion doch auf, so kann sie wirksam
bekämpft werden. In zwölf Fällen von
schon manifesten Gasphlegmonen, die
mit radikalen Excisionen und der Dakin-
Lösung frühzeitig behandelt werden konn¬
ten, wurden die Patienten geheilt.
Schlechte Resultate zeitigten dagegen im
allgemeinen Fälle ausgedehnter Gasphleg-
Dezember
Die Therapie der Gegenwart 1917.,
4?9
.monen, bei denen die Excision nicht mehr
vollkommen angängig war und als Ersatz
Incisionen weit ins Gesunde gemacht
wurden. Mit Kataplasmen hatte Ver¬
fasser keinen, guten Erfolg. Bei Schädel¬
verletzten soll die Wundversorgung
zweckmäßig erst im Feldlazarett (nicht
schon auf dem Hauptverbandplätze) ge¬
schehen, da drei Wochen Ruhe nach der
.Operation meist unerläßlich sind. Alle
Schädelschüsse sollen grundsätzlich chi¬
rurgisch behandelt werden. Zur Entfer¬
nung von Splittern eignet sich gut das
Ausspritzen der Gehirnwunde mit Wasser¬
stoffsuperoxyd. Gehirnwunden sollen
nicht in der Tiefe tamponiert, Schädel¬
wunden nicht primär verschlossen werden.
Bei Hämatothorax, wenn keine größeren
Lungenzerreißungen vorhanden sind, soll
die Punktion möglichst vier bis sechs Tage
nach dem Brustschuß ausgeführt wer¬
den. Nachblutungen wurden bei dem
Verfahren nicht beobachtet. Bei den
grundsätzlich frühzeitig erfolgenden Ope¬
rationen nach Bauchschüssen hat Ver¬
fasser durch intravenöse tröpfchenweise
eingeführte Kochsalzinfusionen (eventuell
zwei bis drei Tage lang und mit Zusatz
von anderen Medikamenten, wie z. B.
Coffein) in der Shockbekämpfung die
besten Erfolge erzielt: kein Patient kolla¬
bierte. Gelenkwunden sollen nach der
Versorgung gleich durch Naht geschlossen
werden, um sekundäre Infektionen zu ver¬
hüten. Campherphenolinjektionen haben
sich bei Gelenkeiterungen gut bewährt.
Hagemann (Marburg).
(Arch.f. klin. Chir. Bd. 109, H. 1, S.65.)
Die Frage der Kriegsparalyse und
Dienstbeschädigung erörtert Weber.
Es ist zu entscheiden, ob eine Paralyse
durch Kriegsereignisse — körperliche oder
seelische Strapazen, Verwundungen und
andere Traumata — hervorgerufen oder
verschlimmert werden kann. Weygandt
hat seinerzeit sein Material von Paralysen
der Feldzugsteilnehmer statistisch darauf
geprüft, ob es in bezug auf Beginn,
Symptome oder Verlauf sich durchschnitt¬
lich von den Friedensparalysen unter¬
scheidet. Und er kommt zu dem Resultat,
daß die Paralyse der Feldzugsteilnehmer
im Durchschnitt schneller und schwerer
verläuft und rascher zum Tode führt als
die Paralyse der Friedensverhältnisse.
Auf Grund seiner Feststellung ist dann
Weygandt zu dem Schluß gekommen,
daß es eine Kriegsparalyse gibt, nicht
etwa in dem Sinne, daß jede bei einem
Kriegsteilnehmer auftretende Paralyse
jetzt ohne weiteres als Folge des Kriegs¬
dienstes und als entschädigungspflichtig
angesehen werde, sondern man soll sich
durch die Tatsache, daß jede Paralyse
die. Folge einer syphilitischen Infektion
ist, nicht bestimmen lassen, nun ohne
weitere Prüfung die Frage der Dienst¬
beschädigung zu verneinen, sondern soll
jeden Fall noch einmal besonders prüfen.
Nach der Friedenspraxis kann man sagen,
daß ein ursächlicher Zusammenhang zwi¬
schen Unfall und Paralyse wahrschein¬
lich ist bei schwerer Gewalteinwirkung
oder starkem psychischen Shock, bei
nicht zu langer Zwischenzeit zwischen
Unfall und Ausbruch der Paralyse, ab¬
gekürztem Verlauf der Paralyse, Beson¬
derheiten im anatomisch-mikroskopischen
Befunde. Nicht alle diese Bedingungen
müssen gleichzeitig erfüllt sein, sondern
ihre Kombination muß so sein, daß sie
eine deutliche Besonderheit des Krank¬
heitsbildes darstellt, die auf eine weitere
Ursache neben der luetischen Infektion
hinweist. Wenn dann vor dem Unfall
keine Paralysesymptome bestanden, dann
muß die Paralyse als Unfallfolge an¬
gesehen werden; bestanden schon solche
Symptome, so ist Verschlimmerung der
Paralyse durch den Unfall anzunehmen.
Weber tritt dafür ein, daß man bei der
Beurteilung der Dienstbeschädigung der
Kriegsparalysen die eben angeführten
Grundsätze der Unfallversicherungspraxis
des Friedens anwenden soll. Es kommt
also bei der Dienstbeschädigungsfrage der
Paralysen bei Soldaten hauptsächlich auf
zwei Punkte an: die Art der als Dienstbe¬
schädigung angesprochenen Erlebnisse auf
der einen, Symptome, Verlauf und patho¬
logisch anatomischeVeränderungen auf der
anderen Seite. Auf Grund dieser Anschau^
ungen hat Weber besondere Leitsätze
aufgestellt: 1. Die progressive Paralyse
ist in allen Fällen eine Folgeerscheinung
der Syphilis, auch wenn in einzelnen
Fällen eine syphilitische Infektion nicht
bekannt wird. Aber sie ist nicht eine
Teilerscheinung oder „Verschlimmerung“
der gewöhnlichen Syphilis, sondern eine
besondere Neuerkrankung. Unter Um¬
ständen kann angenommen werden, daß
ein als Dienstbeschädigung aufzufassen¬
des äußeres Ereignis das paralytische
Leiden hervorgerufen hat und daß es ohne
diese Dienstbeschädigung überhaupt nicht
oder erst viel später entstanden wäre.
2. Folgende Umstände sprechen für eine
solche Annahme: a) Vor Einwirkung der
Dienstbeschädigung waren keinerlei auf
430
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Dezember
Paralyse verdächtige Symptome bekannt
(Verhalten der Pupillen, Unsicherheit
beim Gehen, Schwindel-, Öhnmachts-
oder Krampfanfälle, Veränderungen der
Sprache, der Schrift, des geistigen Ver¬
haltens in beruflicher und ethischer Hin¬
sicht). b) Die als Dienstbeschädigung zu
bezeichnende. Ursache kann bestehen in
einer schweren. Verletzung des Schädels
oder Gehirns, Gehirnerschütterung, schwe¬
rer Allgemeinerkrankung (konsumierende
-Darmkränkheiten, starke Blutverluste),
in länger oder wiederholt einwirkenden
Strapazen körperlicher (Märsche, Erkäl¬
tungen, Durchnässungen, strahlende
Hitze) oder seelicher Art (geistige An¬
spannung, Todesangst, Schreck bei Ver¬
schüttung usw.). Diese letzteren Momente
(körperliche und seelische Strapazen) kom¬
men beim gewöhnlichen Friedensdienst
nicht in Betracht; auch im Kriegsdienst
muß man längere Dauer oder besondere
Ereignisse nachweisen können, c) Soll
die Entstehung einer Paralyse durch ein
als Dienstbeschädigung aufzufässendes
einmaliges Ereignis (Verwundung usw.)
angenommen werden, so muß zwischen
Dienstbeschädigung und erster Feststel¬
lung paralytischer Symptone ein an¬
gemessener Zwischenraum liegen (ein Mo¬
nat bis zwei Jahre); wenn unmittelbar
nach der Verletzung * schon deutliche
paralytische Symptome festgestellt wer¬
den, bestand die Paralyse gewöhnlich
schon vorher, d) Durch Dienstbeschädi¬
gung hervorgerufene Paralysen zeigen
häufig Abweichungen vom Durchschnitt:
Sehr jugendliches Alter des Erkrankten
(unter 35 Jahre), kurze Inkubationszeit
zwischen syphilitischer Infektion und Aus¬
bruch der Paralyse (unter 6 Jahren), sehr
heftige oder atypische Symptome, rapider
Verlauf mit raschem, körperlichem und
geistigem Verfall und Tod (Krankheits¬
dauer unter einem Jahr), Fehlen der
Pateliarreflexe schon bei Beginn der Er¬
krankung, atypischer Sektionsbefund.
4. Bestand eine Paralyse sicher schon vor
den als Dienstbeschädigung anzusprechen¬
den Ereignissen, so ist Verschlimmerung
der Erkrankung durch Dienstbeschädi¬
gung anzunehmen, wenn die unter 3b
oder 3d angedeuteten Voraussetzungen
zutreffen. 5. Oft sind im Beginn einer
Paralyse die klassischen körperlichen und
psychischen Symptome noch nicht oder
nur undeutlich vorhanden und der Blut-
Wassermann noch negativ, während die
Wassermann-Reaktion der Rückenmarks¬
flüssigkeit schon positiv ist. Bei Verdacht
auf progressive Paralyse und sonst nega¬
tiven Befunden muß also: immer Lumbal¬
punktion gemacht werden. Dünner.
• (D: m. W. 1917, Nr. 34.)
Zur makroskopischen * Diagnose
der Leukocytose und der Leukämie im.
Blute gibt Hans Hirschfeld ein ein¬
faches Verfahren an. Bringt man einige
Tropfen Blut in ein mit gewöhnlichem
Wasser gefülltes Reagenzglas, so tritt
sehr schnell eine völlige Lösung der Blut¬
körperchen ein und man erhält eine voll¬
kommen durchsichtige, rote Flüssigkeit.
Ist aber das Blut sehr leukocytenreich,
so bleibt es trübe und undurchsichtig,
weil sich die Leukocyten nicht auflösen,
sondern nur quellen. Nach längerem
'Stehen ballen sich die Leukocyten zu
großen, wolkigen Bildungen zusammen,
die sich allmählich zu Boden senken.
Diese Reaktion ist bei höheren Leuko-
cytenwerten deutlicher als die nach Zu¬
satz von Kalilauge. Zweitens gibt Hirsch¬
feld eine neue Reaktion zur Unterschei¬
dung von lymphatischer und myeloider
Leukämie an. Bekanntlich dient die
Oxydasereaktion zur Unterscheidung von
Zellen myeloider und lymphatischer Her¬
kunft. Mischt man gleiche Teile einer
1 %igen a-Naphthollösung, die mit 1 %
Kalilauge versetzt ist, mit einer l%igen
wäßrigen Lösung von Dimethylparaphe-
nylendiamin, so entsteht nach längerer
Zeit eine Blaufärbung (Indophenolblau¬
synthese). Die Abkömmlinge des mye¬
loischen Apparates, die neutrophilen
Leukocyten, die eosinophilen Elemente
und die Mastzellen, sowie auch die Mono-
cyten beschleunigen nun diese Reaktion.
Legt man vorher in Formol oder Alkohol
fixierte Blutabstriche in das genannte
Farbgemisch, so färben sich in den ge¬
nannten Zellen zahlreiche Granula blau.
In Lymphocyten/kann man dagegen nie¬
mals. blaue Körnchen auf diese Weise dar¬
stellen. Es gelingt nun, wie Hirschfeld an
einer größeren Anzahl von Fällen feststellen
konnte, diese Reaktion auch makro¬
skopisch anzustellen. Wenn man einige
Tropfen Blut einer myeloischen Leukämie
in Wasser auflöst und nun vorsichtig das
obengenannte, zur mikroskopischen Oxy¬
dasereaktion dienende Gemisch über¬
schichtet, so tritt an der Berührungsstelie
momentan ein blauer Ring auf, der sehr
schnell tief dunkel wird. Allmählich färbt
sich die ganze überschichtete Flüssigkeit
tief blau. Bei der lymphatischen Leuk¬
ämie dagegen versagt die Reaktion, es
tritt keine Blaufärbung auf. Natürlich
Dezember
Die Therapie der Gegenwart 1917.
431
erhält man auch bei stärkeren Leuko-
cytosen eine Blaufärbung, wenn auch von
geringerer Intensität. Eine sichere Unter¬
scheidung von Leukocytose und myeloi¬
scher Leukämie ist also auf diese Weise
nicht möglich. Fällt aber diese Reaktion
bei einem Blute, das mit Wasser verdünnt,
trübe bleibt, negativ aus, so.liegt mit Be¬
stimmtheit eine lymphatische Leukämie
vor. Dünner.
(D. m. W. 1917, Nr. 26.)
Einen Beitrag zur Lues congenita gibt
Hübner. Verfasser fand bei Erbsyphilis
eine Beteiligung des Nervensystems und
der inneren Organe bis zu 74%. Imbe-
cillität und Idiotie findet sich in 10 %
der syphilitischen, über die ersten Lebens¬
jahre hinauskommenden Kinder. Der
syphilitische Schwachsinn hat in Über¬
einstimmung mit dem erhobenen autop-
tischen Befund meist eine progressive
Tendenz. Die Dementia praecox hat keine
Beziehung zur Erbsyphilis, ebenso ist
nicht erwiesen, daß die Syphilis im Kindes¬
alter zur Neurasthenie, Hysterie oder
Neuropathie disponiert. Es werden ferner
zwei Fälle angeführt, bei denen die here¬
ditäre Tabes spät (mit 27 bzw. 28 Jahren)
in die Erscheinung trat. Das Kapitel der
ererbten Nervensyphilis ist noch wenig
geklärt, da bis vor kurzem der Nachweis
der Syphilis fast nur auf dem Wege der
Anamnese möglich war.
Leo jacobsohn (Charlottenburg).
(Arch. f. Psych. 1917, H. 1.)
Frank (Breslau), dem wir bekanntlich
die Aufstellung der krankheitsbegriffe der
Aleukla splenica verdanken (vergl. diese
Zeitschrift Aprilheft) berichtet neuerdings
über seine Erfahrungen in bezug auf Milz¬
bestrahlung und Milzexstirpation bei Sple-
nopathien, oder wie er sie nennt, sple-
nogenen Leuko-Mye.lotoxikosen be¬
richtet.. Es kommt dem Verfasser be¬
sonders darauf an, zu beweisen, daß der
Milztumor eine Hemmungswirkung auf
das Knochenmark auszuüben vermag und
auf diese Weise die Reduktion der farb¬
losen Elemente des Blutes hervorbringt.
Angeregt war diese Vorstellung durch den
Erfolg isolierter Milzbestrahlung bei mye¬
loischer Leukämie, durch welche in einem
mit farblosen Knochenmarkselementen
überschwemmten Blute Senkungen bis zu
leukopenischen Werten erzeugt werden.
Danach läßt sich annehmen, daß eine in
bestimmter Weise erkrankte Milz die
gleiche Fernwirkung auf den leukoplasti-
schen Knochenmarksapparat ausüben
kann, wie das durch die Strahlen beein¬
flußte leukämische Organ. Es gelingt
"Frank, dafür Beweise zu erbringen. Es
ist auch praktisch wichtig, diesen Dingen
nachzugehen, wird doch bei der Be¬
sprechung der Therapie Banti-artiger
Krankheitsbilder häufig zur Röntgen¬
bestrahlung der Milz geraten, in der An¬
sicht, daß es sich, wenn auch der Erfolg
kein großer ist, doch um einen harmlosen
therapeutischen Eingriff handelt. Es
handelt sich bei den von Frank be¬
strahlten fünf Fällen stets um Patienten
mit Milztumor, mäßiger Anämie, Leuko¬
penie, wobei gerade die Zahl der neutro¬
philen wesentlich herabgesetzt ist, x und
Thrombopenie. Bei zwei Patienten wird
später, als die Bestrahlung sich als zum
mindesten nutzlos erwies, die Milz exstir-
piert. Bei allen Patienten tritt nach der
Bestrahlung ein Leukocytensturz ein, und
auch die Zahl der Plättchen fällt oder
wird doch wenigstens nicht merklich
größer. Die Bestrahlung hatte sogar den
Erfolg, daß das Fallen der Leukocyten-
werte noch drei bis vier Wochen nach der
Bestrahlung anhielt. In einem Falle ge¬
nügte eine Applikation von 60x in zwei
Tagen, um zu bewirken, daß die Leuko-
cyten von 3700 in 14 Tagen auf 1200
fielen, in einem anderen Falle sanken sie
von 1200 auf 590. Beteiligt sind an diesen
Senkungen vor allen die neutrophilen
Zellen. Die Röntgenstrahlen schei¬
nen also eine anormale Milzfunk¬
tion zu stärkster Entfaltung zu
bringen. Der Leukocytensturz erfolgt
nicht, explosionsartig, daß also nicht an
eine durch die Röntgenbestrahlung aus¬
gelöste intrasplenische Leukolyse zu den¬
ken ist, sondern er vollzieht sich langsam
in Wochen. Das starre Nebeneinander
von Neutropenie und Milzschwellung läßt
sich mit Hilfe der strahlenden Energie-in
ein kausales Nacheinander auflösen. Wenn
die bestrahlte Milz im Laufe weniger
Wochen auf das weiße Blutbild so deletär
einwirkt; so bereitet es keine Schwierig¬
keiten, anzunehmen, daß die Leukopenie,
die schon vorher bestand, als Ausdruck
einer von der Milz aufs Knochenmark aus¬
gehende Fernwirkung anzusehen ist. In
I dieser Annahme bestärkt der Effekt der
I Exstirpation. Derselbe Patient, der
wochenlang vor der Operation nur 200
neutrophile Zellen im Kubikmillimeter
j aufwies, hat sechs Stunden nach der Ope-
| ration 3100 mit 85 % neutrophilen. Die
Plättchen steigen krisenhaft nach der
Exstirpation bis auf den weit über de*
432 . Die Therapie der
Norm liegenden Wert 450 000 von 68 000.
Es zeigt sich darin nach Frank, daß nur
eine schwere Hemmung der Ausfuhr und
der Bildung farbloser Knochenmarks¬
elemente vorlag. Bei dem anderen Falle
beträgt die Gesamtleukocytenzahl sechs
Stunden nach der Operation 13 000 mit
95 % polymorphkernigen gegenüber 1500
mit 66 % vor der Operation. Solche Bei¬
spiele sind aus der Literatur bekannt,
Klemperer-Mühsam sahen nach Milz¬
exstirpation wegen Banti 35 000, Ble¬
cher 50 000, Umber 43 OOCf Blutleuko-
cyten. — Als diejenigen Elemente, an
welche die Fernwirkung der Milz auf den
leukoblastischen Apparat des Knochen¬
marks gebunden ist, sei es, daß sie leuko-
myelotoxische Stoffe secernieren oder bei
ihrem Zerfalle freiwerden lassen, bezeich¬
net Frank die Reticulo- und Venensinus-
endothelien, jene großen Zellen mit blas¬
sem bläschenförmigen Kern, die auch als
Makrophagen tätig sind. Diese Zellen
lassen bei der Kala-Azar und beim Typhus
abdominales in der Milz eine starke
Wucherung erkennen. Im Tierexperiment
zerfallen unter Milzbestrahlung die kleinen
Lymphocyten in der Milz, ihre Trümmer
werden von den Makrophagen aufgenom¬
men, die sich in konzentrischer Schicht
in Haufen an Stelle der ursprünglichen
Follikel finden. Beim Typhus geht das¬
selbe wahrscheinlich unter Einwirkung
des Typhusbacillengiftes, bei der Kala-
Azar unter Einwirkung des protozoären
Parasiten, bei der Lymphogranulomatose
unter Einwirkung ihres unbekannten Er¬
regers vor sich. Milzbestrahlung ist als
gefährlich anzusehen, da sie durch die
Leukopenie die Widerstandskraft gegen
septische Infektionen schwächt, durch
Thrombopenie die Neigung zu Blutungen
verstärkt. Die Milzexstirpation der Milz¬
tumoren mit Leukopenie und Thrombo¬
penie ist die Therapie der Wahl. (Siehe
meinen Aufsatz über hämorrhagische
Diathese in dieser Zeitschrift.)
E. Benecke.
(B. kl. W. 1917, Nr. 24.)
Für die Errichtung von Nervenheil-
stätten in großem Maßstabe tritt Sonnen¬
berger ein. Verfasser weist mit Recht
darauf hin, daß die ärztliche Versorgung
von gewissen Nervenkranken in Irren¬
anstalten, Krankenhäusern, Sanatorien
und Erholungsheimen bisher unzulänglich
war. Die von Forel und Möbius be¬
gründeten Nervenheilstätten, welche allein
eine rationelle Unterbringung und Be¬
handlung bestimmter Nervenpatienten er¬
Gegenwart 1917. Dezember
möglichen und auf dem Prinzip der Ar¬
beitstherapie aufgebaut sind, stellen so¬
wohl vom klinischen und sozialen, als
auch vom Standpunkte der Zweckmäßig¬
keit und Humanität eine dringende For¬
derung der Gegenwart dar. Da die Ner¬
venheilstätten für das Volks wohl von
nicht geringerer Bedeutung sind als die
Lungenheilstätten, sind sie auch im Hin¬
blick auf die steigende Zahl der Kriegs¬
nervenkranken alsbald in großem Um¬
fang zu errichten. Die für den Bau und
den Unterhalt der Nervenheilstätten er¬
forderlichen Mittel sind von den Kranken¬
kassen, Berufsgenossenschaften, Landes¬
versicherungen sowie durch private Wohl¬
tätigkeit aufzubringen. L. Jacobsohn.
(M. Kl. 1916, Nr. 16 u. 18.) .
Die spastische Pylorusstenose, über
die Boas Mitteilung macht,,besteht nach
der Auffassung der maßgebenden Autoren
darin, daß sich bald langsamer, bald
schneller die Symptome einer hoch¬
gradigen, mit mehr oder weniger großer
Stagnation, Schmerzen, Erbrechen, Auf¬
stoßen einhergehenden Motilitätsstörung
geltend machen, um unter dem Ein¬
flüsse einer zweckentsprechenden Diät
schneller oder langsamer nicht etwa bloß
zurückzugehen, sondern unter Nachlaß
aller subjektiven Erscheinungen völlig zu
verschwinden. Ursache dieser spastischen
Stenose sind Erosionen, Fissuren oder ein
Pylorusulcus. Nach einiger Zeit können
die Beschwerden wieder auftreten und
ebenso auch wieder verschwinden. Unter
Umständen kann sich aus der spastischen
Pylorusstenose eine echte narbige Pylorus¬
stenose entwickeln. Kuß maul nahm als
Wesen der spastischen Pylorusstenose
einen reflektorischen Pylorusverschluß an.
Inzwischen hat man aber durch Biopsien
gelernt, daß keine Spur von Stenose vor¬
liegt. Mit dem sogenannten Pylorus-
spasmus hat die spastische Pylorusstenose
nichts zu tun. Der Pylorusspasmus be¬
steht in einem pälpablen, ebenso schnell
fühlbaren wie verschwindenden Krampf¬
tumor des Pylorus. Der Pylorus fühlt
sich als brettharter, sogar knorplig-harter
Tumor an, um bei längerer Palpation
plötzlich in wenigen Minuten der normalen
Konsistenz des Pylorus Platz zu machen.
Außerdem ist das Auftreten und Schwin¬
den dieses Krampftumors schmerzlos.
Man muß nach Boas folgern, daß zwi¬
schen spastischer Pylorusstenose und
Pylorusspasmus streng geschieden wird.
Bei der spastischen Pylorusstenose macht
das Geschwür am Pylorus als solches
Dezember Die Therapie der
keine Stenose. Es muß da irgendein Mo¬
ment hinzukommen, das die Stenose¬
erseheinungen verursacht. Die entzünd¬
liche Schwellung des Pylorusabschnittes
in Verbindung mit dem Geschwür erklärt
das Auftreten einer sich ebenso schnell
entwickelnden wie mit der Heilung des
Ulcus abklingenden Mageninhaltsstauung
völlig. Der Name ,spastische Pylorus¬
stenose“ ist aus diesem Grunde auch nicht
sehr zweckmäßig. Deshalb empfiehlt
Boas: Pyloritis ulcerosa. Die Diagnose
der Pyloritis ulcerosa wird hauptsächlich
gestellt durch den Nachweis von okkulten
Blutungen, der wiederholt gelingen muß.
Das Blut verschwindet allmählich, wenn
das Ulcus ausheilt, völlig aus dem Stuhl;
auch findet bei dieser nie eine so schnelle
Retablierung der Motilitätsstörung statt
wie bei der sogenannten spastischen
Form. Es ist zwar nicht zu leugnen, daß
bei der narbigen Pylorusstenose Besse¬
rungen der Motilität unter dem Einflüsse
rationeller Behandlung zu konstatieren
sind, aber man überzeugt sich leicht, daß
im Gegensatz zu der Pyloritis ulcerosa
der Magen sich gegen- wachsende Be¬
lastungen sofort insuffizient erweist. Was
die ulceröse Form der Pylorusstenose
*(das heißt Pylorusstenose-j-floridem Ul¬
cus) betrifft, so unterscheidet sich diese
von den anderen dadurch, daß die ok¬
kulten Blutungen bei zweckentsprechen¬
der Behandlung zwar allmählich schwin¬
den, die Stenoseerscheinungen in unge¬
fähr gleichem Umfange bestehen bleiben.
Schwieriger ist die Unterscheidung der
Pyloritis ulcerosa gegenüber der carcino-
niatösen Pylorusstenose. Erstens gelingt
die Unterscheidung, wenn das okkulte
Blut persistiert, bei Carcinomen unab¬
hängig von der Diät, zweitens kommt bei
Pyloruscarcinomen eine Verbesserung der
Magenmotilität nie oder doch nur in den
ganz seltenen Fällen von nekrotischem
Zerfall des Tumors vor. Dazu kommt
noch für die Differentialdiagnose die Rönt¬
genuntersuchung in Frage, der allerdings
Boas nicht sehr das Wort redet.
(D. m. W. 1917, Nr. 26.) Dünner.
Koch hat in einer Arbeit ,,Zur Über¬
tragung des Erregers des europäischen
Rückfallfiebers (Febris .recurrens) durch
die Kleiderlaus“ über Untersuchungen
berichtet, die er an einer großen Zahl von
rumänischen Kriegsgefangenen bei ge¬
häuftem Auftreten der Febris recurrens
angestellt hat. Es kam ihm vornehmlich
darauf an," festzustellen, wer der wirk- j
Gegenwart T917. ‘ 433
liehe Überträger des Erregers des euro¬
päischen Rückfallfiebers sei und .wie die
Infektion unter natürlichen Verhältnissen
zustande komme. Dabei war von vorn¬
herein auszuschließen, daß Rattenläuse
bei der natürlichen Infektion des Men¬
schen mit der Spirochaeta Obermeieri in
Frage kommen*. n Br ließ Kranken, die mit
der Diagnose Fe®ris recurrens eingeliefert
wurden, bei der Säuberung Läuse ent¬
nehmen. Die Technik der mikroskopi¬
schen Untersuchung war ziemlich einfach.
Eine oder mehrere Läuse des betreffenden
Kranken wurden zwischen zwei Objekt¬
trägern zerquetscht, der ausgepreßte
Leibesinhalt mit einem Tröpfchen Burri-
tusche in üblicher Weise mit der Kante
des Objektträgers zu einer dünnen Schicht
ausgestrichen. Der Nachweis der Spiro¬
chäten in der Laus glückte ihm bet 26%
der Fälle. Bei einem Manne konnte sogar .
die Diagnose Rückfallfieber eher aus
seinen Läusen als aus seinem Blute ge¬
stellt werden. Geringer war die Ausbeute
bei den als gesund befundenen Gefan¬
genen, die einer Entlausungsanstalt über¬
wiesen und längere Zeit beobachtet wur¬
den. Von 13 Leuten wurden nur in einem
Falle in einer Laus vereinzelte Spiro¬
chäten entdeckt. Nicht nur die Läuse der
fiebernden, sondern auch die der niclit-
fiebernden Patienten waren spirochäten¬
haltig. Es war von Wichtigkeit, fastzu-
stellen, ob das Vorhandensein von Spiro¬
chäten in der Laus lediglich eine Folge
des Saugens am Recurrenskranken ist
oder ob die Spirochäten sich in der Laus
vermehren oder sogar eine Entwickelung
durchmachen müssen. Nach der Zahl
und Anordnung, die man im Tusche¬
präparat antrifft, unterscheidet Koch
drei Gruppen: 1. die Einzelspirochäte in
der bekannten spiraligen Form, 2. Zöpfe
und Nester, 3. Knäuel und Konvolute.
Daraus schließt Koch, daß in der Kleider¬
laus eine Vermehrung des Erregers des
europäischen Rückfallfiebers stattfindet.
Die Laus ist demnach nicht nur Überträger,
sondern ein echtes Wirtstier der Recurrens
Obermeieri. Er hält es für nicht ausge¬
schlossen, daß auch noch andere blut¬
saugende Parasiten des Menschen, z. B.
Wanzen, zur Verbreitung der Spiro¬
chäten beitragen. Koch ließ je zwei aus-
. gehungerte Wanzen an zwei Leuten, die
beide fieberten und in deren Blut wenige
Stunden vorher Spirochäten nachge¬
wiesen waren, saugen. Alle vier Wanzen
enthielten in ihrem Leibesinhalte Re-
I currensspirochäten, so wie man sie in
55 ,
Dezember
434 Die Therapie der
einem Blutpräparat sielit. Durch die
Ermittelung des Wirtstieres und eigent-
• liehen Überträgers des europäischen Rück-
fallfiebers ist die Bekämpfung dieser In¬
fektionskrankheit auf eine feste Basis ge¬
stellt und der Weg, den die Prophylaxe
einschlagen muß, klar vorgezeichnet. Es
müssen die Mannschaften läusefrei ge¬
halten werden, denn ein verlauster, fie¬
bernder Recurrenspatient stellt für die
übrigen Kranken des Lazaretts eine
große Gefahr dar. Tatsächlich sind ja
auch Lazarettinfektionen gar nicht selten.
Gefangene, die z. B. wegen einer Ver¬
wundung oder eines anderen Leidens in
ein Feldlazarett aufgenommen wurden,
würden dadurch angesteckt, daß sie von
den infizierten Läusen eines in demselben
Zimmer liegenden Recurrenskranken ge¬
bissen wurden. Dünner.
(D. m. W. 1917, Nr. 34.)
Ausgehend von der Behandlung er¬
nährungsgestörter Säuglinge mit Eiwei߬
milch, die ja eine mit Casein angereicherte
Milch darstellt und auch bei langwierigen
fieberhaften Dickdarmkatarrhen älterer
Kinder sich sehr bewährt hat, kam
Rosenhaupt, geführt durch die große
Ähnlichkeit des Krankheitsbildes, dazu,
eine Behandlung der Ruhr mit Casein zu
versuchen. Es wurde das durch Lab¬
zusatz aus 1 1 Milch gewonnene Casein
unter Zusatz von 10 bis 20 g Zucker täglich
gegeben und gern genommen. Der Erfolg
begann sofort mit Aufhören der peristal¬
tischen Unruhe, dem nach ein bis zwei
Tagen das Schwinden von Blut und
Schleim aus den Stühlen, Absinken des
Fiebers und Festwerden der Stühle folg¬
ten, unabhängig von der Art des Er¬
regers. Medikamente wurden sonst nicht
gegeben, auch war die Diät die übliche,
jedoch wurde Milch auch zur Zubereitung
der Speisen streng vermieden, da dann
sofort Rückfälle auftraten, ebenso wie
auch nach zu frühem Weglassen des Ca¬
seins. Die Erklärung der Erscheinung ist
nicht ganz einfach, wenn man nicht eine
Umstimmung der Darmflora annehmen
will, worüber der Verfasser Untersuchun¬
gen noch nicht anstellen konnte.
Waetzoldt.
(D. m. W. 1917, Nr. 22.)
Finsterer beschreibt seine opera¬
tive Behandlung der habituellen
Schulterluxation. Aus Leichenversuchen
glaubt der Verfasser als feststehend er¬
achten zu können, daß das Einreißen der
vorderen Kapsel wand zur Entstehung
der Schulterluxation unbedingt erforder-
Gegenwart 1917.
I lieh ist. Bei der traumatischen Luxation
gibt es einen queren Kapselriß, dessen
Ränder sich nach der Reposition anein--
anderlegen, oft aber so, daß sich Binde¬
gewebe dazwischen legt, das, Widerstands-.
unfähig, bei der habituellen Luxation all¬
mählich gedehnt wird. In den sieben
Fällen des Verfassers spielen Knochen¬
verletzungen keine Rolle, allerdings fand
. keine breite Gelenkeröffnung statt, so
daß möglicherweise kleine Knochen¬
schädigungen übersehen wurden. Nur
in einem von den sieben Fällen kann die
habituelle Luxation auf fehlende Fixa¬
tion des Armes nach dem Trauma zurück¬
geführt werden. Die Operations¬
methode des Verfassers will durch ein
um den vorderen Anteil der Gelenkpfanne
schleifenförmig gelegtes Band den Kopf
am Austritte, verhindern und hierdurch
den Erfolg ohne Gelenkeröffnung sichern.
Operation in Plexusanästhesie. Bei aus¬
wärts rotiertem Oberarme wird zunächst
die Sehne des M. pectoralis maior nahe
ihrem Ansätze am Oberarme durchtrennt.
Durch geeigneten Zug an diesem Muskel
und am M. coracobrachialis kann man dann
aus dem gemeinsamen Kopfe des
kurzen Biceps und des coracobra¬
chialis (besonders mit dessen sehnigem
Anteil) einen Lappen schneiden, der.
der ganzen Breite und der halben Dicke
des Pectoralis entspricht., Der Lappen,
mit dem Proc. coracoideus in Zusammen¬
hang bleibend, wird nach oben geschlagen,
an seiner Spitze starke Seidennaht mit
lang bleibenden Fäden. Bei relativ enger
Achsellücke wird die Sehne des Lahis-
simus dorsi eingekerbt, dann die vordere
Wunde provisorisch bedeckt. Bei stark
adduziertem erhobenen Oberarm Frei¬
legung des hinteren Randes des Deltoideus,
der nach Spaltung der Fascie zwischen
ihm und dem Tricepsstumpf vom Triceps
getrennt und stark nach vorn gezogen
wird. Der laterale Tricepskopf wird
eventuell entsprechend dem Humerus-
ansatze leicht eingekerbt. An den Faden¬
enden wird der Lappen durch die hintere
Achsellücke gezogen und mit der wunden
Fläche der Gelenkkapsel breit angelegt.
Die Fadenenden werden durch den langen
Tricepskopf unmittelbar an der Gelenk¬
pfanne gestochen, der Arm fast bis zum
rechten Winkel abduziert, das Ende des
Lappens mit der Umgebung vernäht, der
Deltoideus an den Triceps fixiert, die
durchtrennte Pectoralissehne, der aus¬
einandergedrängte Deltoideus vernäht. In
zwei von den sieben Fällen wurde die
Dezember
Die Therapie der Gegenwart 1917.
435
Methode noch in Kombination mit einem
hinteren Lappen aus dem Deltoideus an¬
gewandt.
Alle sieben 1 Fälle sind während vier
bis zwölf Monate geheilt geblieben. Da
sie alle zu den wirklich habituellen Luxa¬
tionen gehörten, bei denen die Verren¬
kungen sehr häufig und meist bei ganz
gewöhnlichen Bewegungen, aufgetreten
waren, so hofft der Verfasser auf Dauer¬
erfolg. Hagemann (Marburg a. L.)
(D. Zschr. f. Chir. Bd. 141, H. 5/6, S. 354.)
Bei ihren Untersuchungen über Skor¬
but und seine Beziehungen zu den
hämorrhagischen Diathesen kom¬
men Saxl und Melka zu der Auffassung,
daß Skorbut mit den hämorrhagischen
Diathesen, zu welchen er wegen angeb¬
licher Gefäßschädigungen und der damit
verbundenen Blutaustritte auf geringe
Reize von Morawitz und anderen Auto¬
ren gerechnet wird, nichts zu tun hat.’
Die beobachteten 85 Kranken stammten
aus einer Massenepidemie unter russi¬
schen Gefangenen, welche in den ersten
Tagen nach ihrer Gefangennahme skorbut¬
krank gefunden wurden. Die Ernährung
der Leute war sehr reichhaltig gewesen,
dazu war es Frühjahr, wo frische Lebens¬
mittel die konservierten ersetzen. Das
Krankheitsbild begann mit Tibialgien,
Schmerzen im Munde, dann Blutungen
aus dem Munde und auf die Haut, dazu
Kopfschmerz und Schwindel. Objektiv
-fiel zunächst die außerordentliche Blässe,
auch der Schleimhäute, auf. Das Zahn¬
fleisch zeigte Schwellungen, rot bis
schließlich blaurot, die den Eindruck pro¬
liferativer derber, später fungusartiger
Geschwülste machten, anfänglich am
äußeren Kieferrande saßen und später
auf den inneren Rand Übergriffen, und
die Zähne mauerartig, zuweilen sie ganz
verhüllend, umgaben. Später traten se¬
kundäre Geschwüre im Mund auf. Nur
die erkrankten Gewebspartien bluten
leicht, die übrige Mundschleimhaut nicht.
Zuweilen trat geschwüriger Zerfall der
Geschwulst ein, öfter ging sie nach zwei
bis drei Wochen zurück. In den Ge¬
schwüren fand sich Bacillus fusiformis
und Vincentsche Spirilen in Reinkultur.
Einige Fälle blieben frei von Zahnfleisch¬
veränderungen. Als zweites Symptom
fanden sich Hämorrhagien in die Haut
und das Unterhautzellgewebe, fast aus¬
nahmslos nur an den Beinen, auch bei
den bettlägerigen Patienten, nur zweimal
am Arme, sonst blieb die übrige Haut frei.
Diese Hautblutungen standen um die
Haarfollikel und confluierten häufig zu
flächenhaften Blutungen. Auch imMuskei
und Periost kamen hämorrhagische In¬
filtrate vor. Eine Lungenblütung, zwei¬
mal Hämatothorax und vier Darm¬
blutungen wurden beobachtet, bei der
Sektion des Hämatothorax fänden sich
zahlreiche Ecchymosen der serösen Häute,
bei der der Darmbluter ausgedehnte pig¬
mentierte Narben im Darme. - Es bestand
hohes Fieber von septischem Verlaufe,
relative Lymphocytose bei leichter Leuko-
cytose und anfangs normale, später er¬
höhte BlutplättchenzahL(Gegensatz
den von mir beschriebenen echten Fällen zu
hämorrhagischer Diathese). Die Therapie
besteht neben Calciumsalzen, Zufuhr von
Säuren, Diät hauptsächlich in Mund¬
pflege. 1. Die Zahnfleischblutungen ließen
deutlich erkennen, daß sie nicht das Pri¬
märe sind und sicher nicht der Ausdruck
allgemeiner Gefäßschädigung. 2. Blu¬
tungen aus Kontusionen, Stichen, Punk¬
tionseinstichen, Venenpunktionen wurden
nicht beobachtet,, nicht einmal nach
Exstirpationdes kranken Zahnfleisches.
3. Die Hautblutungen zeigten bestimmte
Lokalisation und wurden ohne Nach¬
blutungen resorbiert. 4. Bei allgemeiner
Gefäßschädigung ist exsudative Diathese
' zu erwarten, die nicht beobachtet wurde.
5. Die Zahl der Blutplättchen ist normal.
— Es fehlen also alle Charakteristica der
hämorrhagischen Diathese, die allge¬
meine Gefäßschädigung voraussetzt. Es
handelt sich nur um lokale Gewebs- und
Gefäßschädigungen (nach neueren For¬
schungen steht im Mittelpunkte der
hämorrhagischen Diathese der Plättchen¬
mangel, nicht die allgemeine Gefäßschädi¬
gung. Ref.). Jedenfalls hat der Skorbut
nicht mehr als Paradigma einer echten
hämorrhagischen Diathese zu gelten. Dies
ist wichtig für die Therapie.
(M. Kl. 1917, Nr. 37.) E. Benecke.
Über einen Fall von doppelseitiger
Speicheldrüsenschwellung, der die Ab¬
hängigkeit dieser Erkrankung von endo¬
krinen Störungen zeigen soll, schreibt
Baumstark. Es handelt sich um eine
Frau, die viel an Kopfschmerzen und
Circulationsstörungen früher litt, bei der
sich außerdem Symptome von Myxödem
entwickelten. Die Menses waren unregel¬
mäßig, die Achsel- und Schamhaare fehl¬
ten, das Kopfhaargingaus; die Nägel waren-
sehr weich, die Haut trocken, besonders an
den Wangen und an der Stirn verdickt.
An den Hüften bestand keine auffallende
Fettablagerung. Bei dieser Frau wurde
55*
436 ' . Die Therapie der Gegenwart 1917. Dezember
nun wegen des Ödems die Implantation
einer von einer Strumaexstirpation' stam¬
menden Schilddrüse in das rechte. Schien¬
bein vorgenommen. Der Eingriff hatte
auf den gesamten Zustand eine günstige
Einwirkung. Patientin wurde heiterer
gestimmt, die Allgemeinbeschwerden
ließen nach, die Menses wurden regel¬
mäßiger, die Symptome von Haut und
Haar ließen nach, und die Achsel- und
Schamhaare wuchsen sehr bald nach der
Operation. Die Patientin soll nach der
Operation einige Zentimeter gewachsen
sein. Am Tage nach der Operation soll
ohne jede Fieberbewegung eine Anschwel¬
lung der Gegend der Ohr- und Submaxil-
larspeiclieldrüsen eingesetzt haben.
Baumstark sieht in diesem Falle den
Beweis für den kausalen Zusammenhang
zwischen der Funktion eines endokrinen
Organes und der Kopfspeicheldrüsen¬
schwellung. Die Auffassung der Kopf¬
speicheldrüsenschwellung als Folge einer
Hyper- respektive Dysfunktion der
eingepflanzten Schilddrüse war für ihn
Veranlassung, nach anderen Zeichen eines
Hyper- beziehungsweise Dysthyreoidis-
mus zu suchen; freilich ohne Erfolg.
Wenige Röntgenbestrahlungen der ver¬
größerten Drüsen verringerten die Hyper¬
plasie und die gleichzeitig bestehende
Salivation wesentlich. Dünner.
(M. m. W. 1917, Nr. 26.)
Behandlung der Thymushyperplasie
mit Röntgenstrahlen war der Gegenstand
von Demonstrationen, welche Birk (Kiel)
auf der Kriegstagung für Kinderheilkunde
in Leipzig machte. Status thymicolym-
phaticus und einfache Thymushyperplasie
sind etwas* grundsätzlich Verschiedenes.
Bei dem ersten handelt es sich um eine
Systemerkrankung, bei der auch Milz,
Zungengrund- und Darmfollikel hyper¬
plastisch sind, die außerdem in engen
Beziehungen zur Ernährung steht, nicht
angeboren vorkommt und bei der ein
etwaiger Tod ein Herztod ist. Bei der
einfachen Thymushyperplasie hat man es
mit einer isolierten, stets schon im fötalen
Leben entstandenen, daher also ange¬
borenen Vergrößerung der Thymusdrüse
zu tun. Das konstitutionelle Moment spielt
ebensowenig eine Rolle wie die Ernährung,
und der Tod ist hier ein typischer Er¬
stickungstod, dadurch begünstigt, daß
die Luftröhre schon in ihrer fötalen An¬
lage durch den Druck der hyperplastischen
Thymus geschädigt wurde. Demgemäß ist
auch die Behandlung eine verschiedene.
Beim Status thym. lymph. kommt nur
eine Ernährungsbehandlung in Frage,
während bei der. Thymushyperplasie ent¬
weder chirurgisch oder mit Röntgen¬
strahlen eingegriffen werden muß. Die
besten Ergebnisse liefert die Bestrahlung.
Sie wurde von Birk in fünf Fällen an¬
gewendet. Stets erfolgte eine schnelle
klinische Heilung, mit der Hand in Hand
eine Verkleinerung der Drüse im Röntgen¬
bild ging. Einzelne Fälle wurden bis ins
fünfte Lebensjahr weiterbeobachtet, und
bis auf einen, bei dem eine Regeneration
erfolgte, war die Heilung auch von Dauer.
Schädigungen durch die Röntgenstrahlen
wurden nicht beobachtet. — Die Diagnose
der Thymushyperplasie stützt sich auf
die drei Hauptsymptome des Stridors, der
Thymusdämpfung und des Thymusschat¬
tens auf der Röntgenplatte.- Es finden
sich weiter im klinischen Bild Erstickungs¬
anfälle, Dysphagie und vor allem eine
Lymphocytose. Einmal wurde auch ein
familiäres Vorkommen der Thymushyper¬
plasie beobachtet. (Off. Bericht.)
Die Frage des Zusammenhangs von
Myelitis und Tollwutschutzimpfung er¬
örtert A. Pfeiffer (Warschau) bei der
Mitteilung eines' schwer, aber glücklich
verlaufenen Krankheitsfalls, der mit
völliger Lähmung der unteren Extremi¬
täten sowie von Blase und Mastdarm ein¬
herging. Es handelte sich, offenbar um
einen Fall jener atypischen Lyssaerkran¬
kungen, wie sie in seltenen Fällen als eine
direkte Folge der Wutschutzimpfung auch
anderweit beobachtet worden sind (Ka¬
ninchenlyssa). Die Annahme, daß es sich
um eine durch die Schutzimpfung ab¬
geschwächte echte Lyssaerkrankung ge¬
handelt habe, wäre durch nichts gerecht¬
fertigt. Der Fall lehrt, daß die Tollwut¬
impfung nicht immer ein gleichgültiger
Eingriff ist. Die Indikation zu dieser
Behandlung muß also immer mit Bedacht
gestellt werden. Wenn aber ein erheb¬
licher Verdacht der Lyssainfektion be¬
steht oder gar die Tollwut des verletzen¬
den Tieres durch die Untersuchung des
Gehirns sichergestellt ist, darf uns die
Möglichkeit solcher sehr seltener und fast
stets gutartig verlaufender Erkrankungen
nicht, hindern, die Gebissenen sogleich in
specifische Behandlung zu geben.
Hetsch (Berlin).
(Beitr. z. Klin. d. Infektionskr. u. z. Immunit.-
forsch. Bd. 6, H. 1—2.)
In einem Sammelreferat über Tuber¬
kulose faßt H. Much (Hamburg) seine aus
seinen früheren Schriften bekannten An¬
sichten über Tuberkuloseentstehung und
437
Dezember _ Die Therapie
heilung zusammen unter besonderer Be¬
rücksichtigung der Kriegsverhältnisse. Das
häufig beobachtete Aufflammen der Tu¬
berkulose bei Soldaten im Felde und auch
in der Garnison ist auf eine Abnahme der
Immunität zurückzuführen, die auf die
schwächenden äußeren Lebensbedingun¬
gen (Überanstrengung, zeitweilig schlechte
Ernährung, Durchnässung, Abkühlung,
mangelhafter Schlaf und dergleichen)
zurückzuführen ist, namentlich wenn letz¬
tere längere Zeit einwirken. Es kommt
dann zu Summationen, denen die Abwehr¬
kräfte nicht standhalten können. Bei
zielsicherer Immunitätsprüfung mit Hilfe
der Partialantigene läßt sich bei einem
auffallenden Prozentsatz der Kranken ein
völliges Fehlen aller Immunkräfte fest¬
stellen. Eine wiederholte Partialanti¬
körperprüfung gibt sehr wertvolle pro¬
gnostische Anzeichen. Der Autor emp¬
fiehlt eine möglichst weitgehende Heran¬
ziehung dieser Untersuchungsart und in
Rücksicht auf die Bedeutung der Kriegs¬
tuberkulose die Einführung besonderer
militärärztlicher Kurse.
Hetsch (Berlin).
(Erg. d. Hyg., Bakt., Immunitätsforsch. u. exp.
Ther., herausgeg. v. W. Weichardt, Bd. 2,
1917.)
Den Zusammenhang von Typhus und
Nervensystem behandelt G. Stertz. Auf
Grund seiner Erfahrungen in einem Ty¬
phusgenesungsheim ist Verfasset der Über¬
zeugung, daß die Mehrzahl der funktionell
nervösen Symptome nach Typhus eine
organische Grundlage haben. Wenn auch
Sektionsbefunde nicht allzu reichlich sind,
so sprechen die klinischen Erscheinungen
für multiple kleine Encephalitisherde mit
wenig Neigung zur Einsghmelzung des be¬
fallenen Gewebes. Wo umfangreiche Ner-
venausfallserscheinungen beobachtet wer¬
den, handelt es sich um apoplektische oder
embolische Herde. Wie andere, Nerven¬
gifte zeigt auch das Typhustoxin eine
ausgesprochene Prädilektion. Befallen
wird am häufigsten der Ulnaris, Peroneus,
Cutaneus femor. later, und N. acusticus,
fast nie der Medianus, Radialis und Facia¬
lis. Von anderer Komplikation ist Tetanie
sowie Basedow zu erwähnen. Echte Ty¬
phusepilepsie ist äußerst selten, dagegen
kann der Typhus bei bestehender epilep¬
tischer Anlage als auslösendes Moment
wirken, oder die Häufigkeit der Epilepsie¬
anfälle vermehren.
Nervenkomplikationen entwickeln sich
vorwiegend im akuten Stadium des Ty¬
phus. Selten treten sie wie die periphere
Gegenwart 1917.
Neuritis während der Rekonvaleszenz auf.
Die Prognose ist im allgemeinen günstig.
Die Schwere der Nervenbegleiterscheinun-
gen steht im direkten Verhältnis zur
Schwere der Infektion. Da die Typhus¬
schutzimpfung außer dem verhütenden
auch einen infektionsmildernden Einfluß
hat, ist zu erwarten, daß mit der allge¬
meinen Anwendung der Schutzimpfung
die Zahl und Schwere der Nervenkompli¬
kationen abnehmen wird. Typhusbacillen¬
träger zeigen keine besondere Disposition
zu nachträglichen Nervenstörungen.
Leo Jacobsohn (Charlottenburg).
(Mschr. f. Psych. 1917, Beiheft 1.)
Über die Typhusschutzimpfung und
ihre Erfolge gibt G. Seiffert ein ein¬
gehendes Übersichtsbild. Er bespricht
zunächst die der Typhusimpfung zu¬
grundeliegenden Immunitätsgesetze, dann
die Herstellung und Bewertung der ver¬
schiedenen Impfstoffe, die Methodik der
Impfung, die Impfreakti.onen und Kom¬
plikationen und das Anwendungsgebiet
der Impfung, die Veränderung des Se¬
rums nach der Impfung, die bisherigen
statistischen Erfahrungen über ihre Wir¬
kung, die Veränderungen, die das Krank¬
heitsbild des Typhus infolge der Schutz-
t impfungen erfährt, und die Schwierig¬
keiten, die der Diagno§£ durch die voran¬
gegangene Impfung bereitet werden.
Die lokalen\ und allgemeinen Reak¬
tionen, die nach den heute in der deut¬
schen Armee durchgeführten mehrfachen
Typhusschutzimpfungen auftreten, ver¬
laufen im allgemeinen viel milder, als dies
früher z. B. bei den Impfungen während
des südwestafrikanischen Feldzuges und
auch bei den Impfungen in der englischen
Armee der Fall war. Dieser mildere Ver¬
lauf ist in erster Linie wohl der zweck¬
mäßigeren Herstellung des Impfstoffes,
vor allem der schonenderen Abtötung der
Bacillen (bei niedrigerer Temperatur) zu
danken. Anaphylaktische Erscheinungen
sind, nicht zu befürchten. Die Impfung
kann unbedenklich auch bei akut Ge¬
fährdeten, ja sogar bei schon Infizierten
vorgenommen werden. In letzterem Falle
wird die Erkrankung durch die Impfung
vielleicht früher manifest, das Reaktions¬
fieber kann dann in das Typhusfieber
direkt übergehen. Daß eine Typhus¬
erkrankung lediglich durch die Impfung
hervorgerufen werden kann, ist ausge¬
schlossen. Bleibende Schädigungen der
Gesundheit sind bei den nach Millionen
zählenden Typhusimpfungen bisher ein¬
wandfrei nicht erwiesen worden, auch
438
Die Therapie
der Gegenwart 1917..
Dezember
kein einziger Todesfall, der allein auf die
Impfung zurückzuführen wäre. Bei Per¬
sonen, die an sich schon krank sind oder
,in der Rekonvaleszenz nach einer schwe¬
ren Krankheit stehen, soll nicht geimpft
werden. Die Impfung ist namentlich
bedenklich bei schwereren Herzfehlern,
stärkerer Arteriosklerose, bei Nierenkrank¬
heiten,bei manifesterTuberkulose. Frauen
sollen während der Menses und in den
letzten Wochen der Schwangerschaft nicht
geimpft werden. Kinder müssen ent¬
sprechend geringere Impfstoffdosen er¬
halten. Das Blutbild zeigt nach der
Impfung ähnliche Veränderungen (Leuko¬
penie) wie beim Typhus. Die Dauer des
durch die Impfungen erzielten Impf¬
schutzes ist.auf etwa y 2 Jahr anzunehmen;
nach Ablauf dieser Zeit ist, wenn weitere
Infektionsgefahr besteht, die Impfung zu
wiederholen.
Wenn auch ein absoluter Impfschutz
im Einzelfalle nicht immer erzielt wird,
zeigt die Statistik doch durchweg, daß
durch die Schutzimpfung auf die Typhus¬
morbidität und -mortalität ein günstiger
Einfluß ausgeübt wird. Die Zahl der Er¬
krankungen wird gemindert, die Schwere
der Erkrankung nimmt offenkundig ab
und die Sterblichkeit sinkt erheblich. Die
Befürchtung, daß. die Geimpften, wenn
sie infiziert werden, ohne zu erkranken,
häufiger zu unerkannten . Dauerausschei¬
dern werden könnten, ist nicht begründet.
-Wenn Geimpfte an Typhus erkranken,
so finden sich bei ihnen alle für Typhus
charakteristischen Symptome wieder, die
in der toxischen Wirkung der Typhus¬
bacillen ihre Ursache haben, aber in ab¬
geschwächter, oft verwischter Form. Die
Herabsetzung der toxischen Wirksamkeit
der Bacillen ist in erster Linie der Grund
für die Milderung des Krankheitsver¬
laufes. Die Impfung hat zweifellos die
Typhusdiagnose erschwert, besonders auch‘
den Nachweis der Typhusbacillen im Blute.
Bei richtiger Benutzung der verschiedenen
diagnostischen Hilfsmittel wird aber trotz¬
dem die Erkennung der Krankheit in den
meisten Fällen nicht allzu schwer sein.
Hetsch (Berlin).
(Beitr. z. Klin. d. Inf.-Krkh. u. z. Immun.-F.
Bd. V, H. 2.)
In einer Arbeit: der Bruchsack im
Dienste derTransplantation,erinnert der be¬
kannte holländische Chirurg Lanz daran,
daß die neuerdings von verschiedenen
Seiten empfohlene Verwendung des
Bruchsackes zur Transplantation schon
im Jahre 1892 von ihm angegeben worden
ist und auch experimentell studiert wurde.
Aus . den Tierversuchen ergab sich, daß
der homöoplastisch transplantierte Bruch¬
sack nur als Leitmembran für das Epithel
dient; als solcher bleibt er nicht sitzen.
Auch autoplastische Transplantationen
hat Lanz schon vorgenommen, ohne daß
ihm hierbei ein Unterschied gegenüber
den homöoplastischen Verpflanzungen
aufgefallen wäre. Hayward.
(Zbl. f. Chir. 1917, Nr. 34.)
Catgut sparende Unterbindungen be¬
schreibt Perthes. Die Hälfte der Catgut¬
mengen, welche bei einer Unterbindung
zur Verwendung kommen, kann gespart
werden, wenn man von einem langen
Faden, dessen eines Ende man um den'
eigenen Finger oder um eine besondere
Rolle geführt hat, stets nur an dem
anderen Ende knüpft. Einzelheiten des
praktischen Verfahrens sind nur durch die
dem Original beigegebenen Abbildungen
zu ersehen. * Hayward.
(Zentralbl. f. Chir. 1917, Nr. 29.)
Therapeutischer Meinungsaustausch.
Salvarsan und Tabes.
Von Leo Jacobsohn-Charlottenburg.
Auch überzeugte Salvarsananhänger
müssen heute nach achtjähriger erschöp¬
fender Anwendung des Ehrlichschen
Mittels zugeben, daß die Wirkung des
Salvarsansauf die Metalues nicht einwand¬
frei erwiesen ist. Einige als geheilt geltende
Paralytiker haben bereits das Zeitliche
gesegnet, und von Besserungen und
Heilungen der Tabes mit Salvarsan ist es
in den letzten Jahren recht still geworden.
In einem Zeitpunkt, in dem das Inter¬
esse des ärztlichen Praktikers an der
Salvarsantherapie der Tabes und Para¬
lyse sichtlich nachzulassen beginnt, tritt
W. Treupel 1 ) mit einem Artikel vor
die Öffentlichkeit, in dem er einer unein¬
geschränkten Salvarsananwendung das
Wort redet und bezüglich der Tabes zu
dem Schlüsse gelangt: Nach unseren Er¬
fahrungen ist somit eine unseren heutigen
Anforderungen an eine specifische Be¬
handlung gerecht werdende Kur bei Tabes
nicht nur empfehlenswert, sondern ge¬
radezu geboten, da hierdurch, soweit es
j ) Der Einfluß des Salvarsans auf den Verlauf
der Tabes und Paralyse (B. kl. W. 1917, Nr. 39).
Dezember
Die Therapie der Gegenwart 1917.
439
sich bis jetzt beurteilen läßt, dauernde
Besserung erzielt werden kann. Unter <
specif ischer Behandlung versteht Treupel
eine hochdosierte Salvarsantherapie.
Wer es unternimmt, in einer noch
nicht geklärten Frage von großer prak¬
tischer Bedeutung bindende therapeu¬
tische Grundsätze aufzustellen, und dazu
in so autoritativer Weise, wie es Treupel
getan hat, von dem wird man ein quanti-
• tativ genügendes Krankenmaterial, ge¬
naueste Krankenbeobaohtung und Mit¬
teilung ausführlicher Befunde verlangen
können.
Diesen elementaren Forderungen trägt
die Arbeit Treupels in keiner Weise
Rechnung. Die dürftige Zahl von sieben
Beobachtungen, aus denen Treupel die
Berechtigung einer uneingeschränkten An¬
wendung des Salvarsans bei Tabes her¬
leitet, schrumpft von vornherein auf drei
Fälle zusammen, denn von den ersten
vier Patienten wird neben Liquorbefunden
'nur die Tatsache mitgeteilt, daß sie sich
der weiteren Behandlung entzogen haben
und „unseres Wissens wenigstens nicht
gestorben sind“. Also ein recht anspruchs¬
loses Resultat der angewandten Behand¬
lung.
Wie steht es nun mit den drei anderen
Fällen?
Bei Fall 1 werden anamnestisch lanzinierende
Schmerzen, „allgemeine Mattigkeit, Schweißaus-
bruch und Unlust zu jeder Betätigung“ angeführt.
Die Untersuchung ergibt gut reagierende Pupillen,
Verlust der Patillar- ubd Achillesreflexe, stark posi¬
tiven Romberg. Angaben über Sensibilität, Ataxie,
Gang, Augenhintergrund usw. werden nicht ge¬
macht. Nach wiederholten Salvarsangaben wird
zehn Monate später eine Besserung des Liquors in
bezug auf Zellzahl und Nonnesche Reaktion kon¬
statiert, ebenso Aufhören derlanzinierenden Schmer¬
zen sowie der subjektiven Erscheinungen. Diese
Besserung hielt noch anderthalb Jahre an. Seitdem
ist Patient aus der Behandlung fortgeblieben. Auch
von ihm wird berichtet, „wie uns bekannt/ fühlt
er sich noch heute wohl und geht seinem Berufe
vollarbeitsfähig nach“.
Fall 2. Subjektiv: Schwächegefühl in den
Beinen, keine lanzinierenden Schmerzen, nach der
letzten Schmierkur sind die Gelenke freier ge¬
worden (?). Objektiv: Pupillenstarre, starker Würg¬
reflex, Patellarreflexe fehlen, „Babinsky“ ange¬
deutet, Sensibilität ungestört. Der Erfolg der Be¬
handlung bestand darin, „daß der Kranke noch
nach einem Jahre das Empfinden hatte, die Ge¬
lenke seien freier geworden, während die Schwäche
noch anhielt. Der Liquor zeigte Besserung, wie
Fall 1. Auch dieser Patient entzog sich nach einem
Jahre der weiteren Behandlung, doch erfahren'wir,
daß er bis heute berufsfähig geblieben ist, woraus
Verfasser den Schluß zieht, daß eine Verschlimme¬
rung des Zustandes zum mindesten nicht erfolgt ist,
ja allem Anschein nach die Erkrankung zu einem
gewissen Stillstände gekommen ist; notabene,
ohne den Fall seit drei Jahren untersucht zu haben.
Fall 3. Subjektiv: Kopfschmerz, Kribbelgefühl,
Mattigkeit und Unlust zur Arbeit. Objektiv: Pu-
pillenst'arre, Opththalmoplegia interna (?), Facialis-
parese rechts, Abweichen der Zunge nach links.
Patellarreflexe schwach, Achillesreflexe —, Fu߬
sohlenreflexe (welche?) +, keine Ataxie, Romberg
angedeutet. Nach Salvarsanbehandlung war ein
Jahr später eine subjektive Besserung vorhanden,
während das Kribbelgefühl noch anhielt. Ein
Schlußbefund wird ebensowenig wie bei den anderen
beiden Fällen gegeben.
Das sind die Unterlagen, auf denen
Treupel die Salvarsanbehandlung der
Tabes aufbaut. Abgesehen davon, daß
bei Fall 1 Lues spinalis nicht aus¬
geschlossen werden kann, bleibt als Be¬
handlungserfolg, abgesehen von der auf
direkte Arsenwirkung zu beziehenden
Hebung des Allgemeinbefindens, die Er¬
haltung der Arbeitsfähigkeit für einige
Jahre. Dabei handelt es sich um Initial¬
fälle, drei an der Zahl.
Ja weiß denn der Verfasser des betref¬
fenden Artikels nichts von Remissionen
und jahrelangen Stillständen im Verlauf
der Tabes? Ist ihm unbekannt, daß auch
die unbehandelte Tabes eine beträchtliche
Rückbildungstendenz zeigt, daß Brechr
krisen sistieren, Schmerzen nachlassen,
Blasenstörungen aufhören, Gelenksschwel¬
lungen zurückgehen, tabische Fußge¬
schwüre heilen können? Das sollte in
erster Linie berücksichtigen, wer es unter¬
nimmt, über-Erfolg und Nichterfolg der
Tabesbehandlung zu schreiben.
Was die Wirksamkeit des Salvarsans
anbetrifft, so haben wir bei der nicht
kleinen Zahl von Tabeskranken, die in
den drei ersten Jahren nach Einführung
des Ehrlichschen Mittels auf der Inneren
Abteilung des Städtischen Krankenhauses
Moabit (Geh. Rat Klemperer) regel¬
mäßig mit Salvarsan behandelt wurden,
uns von einer über die natürlichen Krank¬
heitsschwankungen hinausgehenden Sal-
varsanwirkung- nicht überzeugen können.
Und wenn Treupel in seinen Beob¬
achtungen die Erhaltung der Berufsfähig¬
keit zum Maßstab des Behandlungs¬
erfolges machen will, so wird ihm jeder
Praktiker eine Anzahl von Tabeskranken
zeigen können, die selbst im ataktischen
Stadium als Schwerarbeiter Jahre hin¬
durch voll erwerbsfähig geblieben sind.
Wie die Dinge heute liegen, macht sich
der Arzt keiner Unterlassung schuldig,
der bei der Tabesbehandlung prinzipiell
von der Anwendung des Salvarsans ab¬
sieht.
Die Therapie der Gegenwart 1917.
Dezember
Über Leukogen.
Von Dr. med. A. Gehring-Sayda, Erzgeb.
Unter der Bezeichnung,Leukogen stel¬
len die Höchster Farbwerke eine Vaccine
her, welche aus einer Emulsion abge¬
töteter Staphylokokken besteht. Das üb¬
liche vörrätiggehaltene Leukogenist einGe-
menge gleicher Teile von Staphylococcus
albus, Staphylococcus citreus und Staphy-
lococcus aureus; doch fertigt die Firma
auf Verlangen auch sogenannte Autovac¬
cine aus eingesandten, einem einzelnen Ei¬
terherd entnommenen Kulturen an, wenn
es gilt, einen speziellen Fall von hartnäcki¬
ger Eiterung nach der Methode der Vac¬
cinebehandlung specifisch zu beeinflussen.
Die fertige Vaccine ist genau dosiert,
das heißt, sie enthält im Kubikzentimeter
eine genau bestimmte Anzahl abgetöteter
Keime und zwar gibt es Packungen zu .
25, 50, 75, 100 und 500 Millionen pro
Kubikzentimeter.
Indiziertist das Leukogen bei allen chro¬
nischen und akuten Staphylokokkener¬
krankungen,namentlich Furunkulose,Oste¬
omyelitis, Sycosis und ähnlichen; appli¬
ziert wird es am besten intramuskulär und |
in steigender Dosis, beginnend mit 25—50
Millionen Keimen bei Erwachsenen.
Ich selbst litt nun seit fünf Jahren an einer
außerordentlich hartnäckigen, schmerzhaften und
quälenden eitrigen Entzündung der Lymphdriisen
der rechten Achselhöhle, die ich mir seinerzeit
durch eine berufliche Infektion zugezogen hatte.
Es kam zur Bildung einer großen Anzahl von
Drüsenabscessen, die indes nicht neben-, sondern
in längeren oder kürzeren Pausen nacheinander
auftraten und die immer wieder incidiert werden
mußten, um nur einigermaßen Erleichterung zu
bekommen. Waren wirklich einmal ein paar
Wochen vergangen, ohne daß neue Abscesse sich
bildeten, begann sich allmählich die malträtierte
Höhle etwas zu erholen und ich selbst wieder
etwas aufzuatmen, so tauchte eines Abends plötz¬
lich eine kleine wunde Stelle in der Achsel auf
und längstens acht Tage später hatte ich wieder
mein altes Leiden. Durch die zahllosen, zum Teil
sehr tiefen Incisionen und die ihnen folgende
Narbenbildung war nach und nach das ganze
Weichteilpolster der Achselhöhle ein wüstes, zer-
pfliigtes und zerrissenes Gelände geworden, aus
dem unter den scheußlichsten Schmerzen immer
wieder neue Beulen mit tiefsitzendem Eiterkern
geboren wurden. Ob diese Beulen ihren Ursprung,
wie im Anfang, immer wieder aus neuen oder
halbausgeeiterten Lymphdriisen nahmen oder ob
es tiefsitzende Schweißdriisenabscesse waren,
vermochte niemand mehr zu entscheiden; jeden¬
falls hätte man denken sollen, daß einmal auch
das dichteste Lymphdriisennetz durch ,,Aus¬
eiterung“ auf diese Art zur Ruhe hätte kommen
müssen. Leider war dem aber nicht so; fünf Jahre
quälte ich mich mit der Sache ab und ließ natür¬
lich nichts unversucht. Neben der chirurgischen
Behandlung wurden heiße und kalte Umschläge,
feuchte, Alkohol- und Salben-Verbände, Bäder
lind Heißluftkasten, Ruhe und Bewegung,, kurz,
alles Denkbare versucht. —- Ohne Erfolg.
Es versteht sich von selbst, daß mich
das Leiden in meiner ärztlichen Tätig¬
keit außerordentlich behinderte und daß
ich sie oft nur unter den scheußlichsten
Schmerzen, wochenlang aber, auch gar
nicht ausüben konnte. Nach einer deut¬
lichen Verschlimmerung in der Zeit von
.Weihnachten 1916 bis Juni 1917, sechs
Monate, während deren es zirka 20 neue
Incisionen in die geschändete Achsel¬
höhle setzte, begann ich, durch eine An¬
zeige in einer ärztlichen Zeitschrift auf¬
merksam gemacht, mit einer Injektions¬
kur von Leukogen, das mir die Höchster
Farbwerke zu diesem Zwecke bereit¬
willigst in, der Form der üblichen poly¬
valenten Misch vaccine zur Verfügung
stellten. Ich fing an mit einer Injektion
von 25 Millionen in die (rlutaealgegend,
spritzte die weiteren Dosen aber, da die
Injektionsstelle zur Selbstbehandlung hier
bequemer lag, abwechselnd rechts und
links in den Musculus quadriceps femoris
ein und stieg von 25 auf 50, 75, 100, 200,
300, 500, 700, 800 und 1000 Millionen
Keime in drei bis viertägigen Inter¬
vallen. Abgesehen von leichter Abge-
schlagenheit und Müdigkeit, verspürte
ich keinerlei unangenehme Reaktion wäh¬
rend der ganzen sechswöchigen Kur nach
den Einspritzungen, wohl aber hatte ich
das Ergebnis, daß der Eiterungsprozeß
offener Drüsen deutlich abgekürzt wurde
und daß vereinzelte neue Abscesse, die
sich noch bildeten, gar nicht zu stärkerer
Entwickelung kamen, kurz, daß die
Achselhöhle ausheilte und bis heute, vier
Monate nach beendeter Kur, auch gesund
geblieben ist. Es müßte ein merkwürdiger
Zufall sein, wenn nach so langer Zeit
plötzlich von selbst der ganze Prozeß nur
durch die nebenher weitergehende chir¬
urgische Behandlung, die sich in nichts
von 0er früheren unterschied, zur Aus¬
heilung gekommen wäre; ich bin in diesem
Falle davon überzeugt, daß ich die so
lange ersehnte Wirkung der Leukogenkur
zu verdanken habe und empfehle in ähn¬
lichen hartnäckigen Fällen, die Arzt wie
Patienten gleichermaßen zur Verzweif¬
lung bringen können, einen therapeuti¬
schen Versuch mit Leukogen zu machen,
zumal ich seitdem auch von Furunkeln,
die früher immer wieder da und dort auf¬
traten, verschont geblieben bin.
Für die Redaktion verantwortlich Geh.Med.-Rat Prof. Dr. G. Klemperer in Berlin. Verlag von Urb an & Schwarzenberg
in Berlin und Wien. Gedruckt bei Julius Sittenfeld, Hofbuchdrucker., in Berlin W8.
Inhaltsverzeichnis.
A. Originalarbeiten. Seite
Prof. Dr. H. Strauß (Berlin): Zur Behandlung von Folgezuständen der
Ruhr. Mit i Abbildung.409
Aus dev I. medizinischen Abteilung des Städtischen Kvcmhenhauses Moabit in Berlin.
Dr. Lasar Dünner: Plethysmographische Untersuchungen bei Tropfen¬
herzen. Mit 3 Abbildungen .414
Aus dem Städtischen Krankenhaus Moabit in Berlin.
Dr. Elisabet Benecke: Hämorrhagische Diathese (essentielle Thrombo-
‘ penie) durch Milzexstirpation geheilt ..4*8
Aus dem chemischen Laboratorium des Krankenhauses Moabit-Berlin.
Dr. Franz Kobrak: Versuche zur Otosklerosenbehandlung auf ätiolo¬
gischer Grundlage.4 21
For*Sprung umstehend
CHOLOGEN
...
NUCLEOGEN
,niiiiiuiiiiuimiiiiituimiiliii.. m
CHININ-
NUCLEOGEN
I.—. . ..
EUSEMIN
.....IW—..—.I
(Tablettac Hjrdrurijrrl cJblorat. compo*. Glaser).
Hervorragende langjährige Erfolge
bei 'der Behandlung der Chole-
lithiasis nach Dr. Robert Glaser
Eisennucleinat mit Arsen (
Jede Tablette enthalt
Fe. 0,008, P. <or*an. geb.) 0,004, A*. 0,0012
Eisennucleinat mit Arsen und Chinin
Jede Tablette enthalt
Fe. 0,008, P.lorg.geb.) O,0O4, A«. 0,0012, Chinin 0,01
Im Autoclaven sterilisierte
Cocain-Suprarenin-Lösung.
^<*a!e.s LolcalanJisth^ilcum
SuraiiuiQQUiiiufflminnraiimiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiinramminiiiffimmiiinFRfi^i
UROSEMIN
mm ......
KAKODYL
—.. .
PHAGOCYTIN
Im Autoclaven sterilisierte Harnsäure*
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Im Autoclaven sterilisierte
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Wundflächen . ...• 423
B. Zusammenfassende Übersicht.
Ärztliche Anteilnahme an der sozialen Hygiene. Neuere Arbeiten, be¬
sprochen von Dr. J. Waldschmidt (Berlin).. 424
C. Referate. (Referat- und Sachregister siehe umstehend) * . . 427
*
D. Therapeutischer Meinungsaustausch.
Dr. Leo Jacobsohn (Charlottenburg): Salvarsan und Tabes.438
Dr. A. Gehring (Sayda): Über Leukogen.440
Titelblatt und\Jahresinhaltsverzeichnis.
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Therapie der Gegenwart. Anzeigen.
12. Heft
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■
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liehen Arsenwasser: f
■ ■ !
angezeigt.
Ausgezeichnete Heilwirkung
:: Beste Bekömmlichkeit :s
Das Wasser wird von den Kindern gerne genommen.
Man verlange das kleine Handbuch
„Die Arsentherapie mit der Dürkheimer Maxquelle“
(für die Ärzteschaft bearbeitet) sowie Probemengen und
Trinkvorschrift kostenlos und portofrei von der
Arsenheilquellen-Gesellschaft m. b. H.
Bad Dürkheim, Direktion Wiesbaden.
Prospekte über das Bad Dürkheim versendet der
Bad- und Salinenverein A.-G. Bad Dürkheim.
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Inhaltsverzeichnis III
Appendicitis nach Mumps, S. 427.
Azodolen (A. Blumenthal),. S. 423.
Cystostomie (Kalb), S. 427.
"Dakin-Lösung (Busch), S. 428.
Folgezustände der Ruhr (H. Strauß), S. 409.
Hämorrhagische Diathese (E. Benecke), S, 418.
Hydrocele (Wederhakei, S. 428.
Hyperextensionsbehandlung (Loeffler), S. 428.
Hypophysenextrakte (v. Fekete), S. 428.
Kriegschirurgische Erfahrungen (Busch), S. 428.
Kriegsparalyse (Weber), S. 429,
Leukocvtose (H. Hirschfeld), S. 430.
Leukämie (H. Hirschfeld), S. 430.
Leukogen (A. Gehring), S. 440.
Lues congenita (Hübner), S. 431.
Milzbestrahlung und Milzexstirpation (Frank); S. 431.
Milzexstirpation (E. Benecke), S.418
Nervenheilstätten (Sonnenberger), S. 432.
Otosklerosenbehandlung (F. Kobrak), S. 421.
Pellidol (A. Blumenthal), S. 423.
Plethysmographische Untersuchungen (L. Dünner),
S. 414.
Pylorusstenose (Boas), S. 432.
Rückfallfieber (Koch), S. 433.
Ruhr (Rosenhaupt), S. 434.
: Salvarsan und Tabes (L. Jacobsohn), S. 438.
Schulterluxation (Finsterer), S. 434.
I Soziale Hygiene (J. Waldschmidt), S. 424.
j Skorbut (Saxl und Melka), S. 435.
j Speicheldrüsenschwellung (Baumstark), S. 435.
Thrombopenie, essentielle (E. Benecke), S. 418.
i Thymushyperplasie (Birk), S. 436.
| Tollwutschutzimpfung (A. Pfeiffer), S. 436.
I Tropfenherzen (L. Dünner), S. 414.
j Tuberkulose (H. Much), S. 436.
j Typhus und Nervensystem (G. Stcrtz), S. 437.
j Typhusschutzimpfung (G. Seiffert), S. 437.
j Transplantation (Lanz), S. 438.
i Unterbindungen, Catgut sparende (Perthes),
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„Zur Kenntnis des Climacterium virile“, Neurologisches Zcntralblatt Nr. 14/1916. Prof.
Dr. Posn er, (Berlin): „Geschlechtliche Potenz und innere Sekretion“, Th er. d. G. Nr. 8/1916
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Berlin-Lankwitz.
Bremen.
Bublitz, Pom.
Diedenbergen.
Diedenhofen, Lothr.
Diez a. d. Lahn.
Dietzenbach, Hessen.
Düsseldorf.
Elbing.
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Geilenkirchen, Kr. Aachen.
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Ottweiler, Rhld.
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Ruhla, Thür.
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Schirgiswalde, Reg.-Bez.
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Schönebeck a. d. Elbe.
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Selb, Bayern.
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I Steinigtwolmsdorf.
Straßburg i. Eis.
Teltow, Brdbg.
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apparat, sowie auch bei Typhus und Bazillenträgern.
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der Frau. Sexuelle Störungen bei Fettsucht und
anderen Stoffwechselkrankheiten. Klimakterische
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menorrhoe, Neurasthenie, Hypochondrie. Wirkt
gefäßerweiternd bei Arteriosklerose.
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